suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1740
Der Körper gilt in der Soziologie als vernachlässigtes Thema. Ein Blick in die klassischen und zeitgenössischen soziologischen Theorien zeigt, daß er, wenn er nicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, so doch allenfalls eine marginale Rolle spielt oder ihm sein baldiges Verschwinden prophezeit wird. Das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein. Wir erleben zur Zeit eine veritable Renaissance des Körpers: Tätowierungen, Piercing, Branding, Diäten, plastische Chirurgie und andere Körperpraktiken steigern sich zu einem wahren Körperkult, der sich vor allem in den Massenmedien widerspiegelt. Obwohl sich inzwischen eine schier unübersehbare Flut interdisziplinärer Publi kationen diesen Phänomenen widmet, fuhrt die deutschsprachige Soziologie des Körpers noch immer ein Schattendasein. Der vorliegende Band möchte einen Beitrag dazu leisten, den Körper in den Mittelpunkt soziologischer Aufmerksamkeit zu rücken. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Rolle des Körpers in der gegenwärtigen Gesellschaft, die aus verschiedenen Per spektiven beleuchtet wird. Dabei geht es sowohl um theoretische als auch empirische Zugänge; es geht um Körper und Kommunikation, Körper und Sport, Körper im Internet, um Männer und Frauen, um Behinderung, Eßstörungen und um Körperprothesen. Markus Schroer ist Heisenberg-Stipendiat der DFG und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt. Im Suhrkamp Verlag erschien von ihm: Das Individuum der Gesellschaß (stw 1509).
Soziologie des Körpers Herausgegeben von Markus Schroer
Suhrkamp
Für Hannah und Rosa
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie http://dnb.ddb.de suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1740 Erste Auflage 2005 © SuhrkampVerlag Frankfurt am Main 1005 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öfTendichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Hummer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos VerlagsgeSeilschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt ISBN 3-518-29340-0 1 2 3 4 5 6 -
10 09 08 07 06 05
Inhalt
Einleitung Markus Schwer Zur Soziologie des Körpers
Theoretische Zugänge Peter Fuchs Die Form des Körpers Gabriele Klein Das Theater des Körpers Zur Performanz des Körperlichen Hubert Knoblauch Kulturkörper Die Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie Gesa Lindemann Die Verkörperung des Sozialen Theoriekonstruktionen und empirische Forschungsperspektiven Gerd Nollmann Individualisierung und ungleiche Strukturierung des Körpers Ein weberianischer Blick auf den kulturellen Wandel körperbezogener Deutungen Jürgen Raab / Hans-Georg Soeffner Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen
48
73
92
114
139 166
Spezielle Körper - Der Körper und seine Beziehungsfelder Zygmunt Bauman Politischer Körper und Staatskörper in der flüssig-modernen Konsumentengesellschart Christiane Funken Der Körper im Internet
189 215
Martina Low Die Rache des Körpers über den Raum? Über Henri Lefebvres Utopie und Geschlechterverhältnisse am Strand 241 Michael Meuser Frauenkörper — Männerkörper Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz 271 Arbeit am Körper Karl-Heinrich Bette Risikokörper und Abenteuersport Robert Gugutzer Der Körper als Identitätsmedium: Eßstörungen Ronald Hitzler IAnne Honer Körperkontrolle Formen des sozialen Umgangs mit physischen Befindlichkeiten Werner Schneider Der Prothesen-Körper als gesellschaftliches Grenzproblem . . . Über die Autoren
295 323
356 371 108
Markus Schroer Einleitung Zur Soziologie des Körpers
i. Die Soziologie entdeckt den Körper Es ist nicht länger zu übersehen: Die Soziologie hat den Körper (für sich) entdeckt. Eine Vielzahl von Sammelbänden, Tagungen und Forschungsberichten zeugt vom anhaltenden Interesse dem Körper gegenüber. Damit vollzieht sich ein bedeutender Wandel, gehört doch der Körper zu einer langen Liste von Themen,' von denen gesagt wird, sie seien von der Soziologie vernachlässigt worden. Noch 1997 notiert beispielsweise Trutz von Trotha (1997, S. 27), daß die Soziologie »bis heute weitgehend eine Wissenschaft ohne den menschlichen Körper« sei. Und in der Tat gibt ein Blick in die Geschichte des Faches schnell darüber Aufschluß, daß der Körper bisher nicht im Mittelpunkt soziologischer Aufmerksamkeit gestanden hat. Das heißt allerdings im Umkehrschluß nicht, daß er keinerlei Berücksichtigung im soziologischen Denken gefunden hätte. Eine entsprechende Suchbewegung fördert durchaus Ergebnisse zu Tage. Dazu zählen etwa Robert Hertz' Studie über »die Vbrherrschaft der rechten Hand« aus dem Jahre 1909 (Hertz 2000), Marcel Mauss' Fragment gebliebene Arbeit über die »Techniken des Körpers« aus dem Jahre 1936 (Mauss 1975), Georg Simmeis »Soziologie der Sinne« von 1907 (Simmel 1993) und Norbert Elias' Studie über den »Prozeß der Zivilisation« aus den 30er Jahren (Elias 1976). Wenngleich es sich bei diesen Arbeiten eher um vereinzelte Fundstücke handelt als um den Versuch einer systematischen Erfassung des Körpers und seiner Rolle 1 Beklagt wird z. B. die mangelnde Erforschung der Gewalt durch die Soziologie (von Trotha 1997. S. 10). Ahnliches gilt auch fiir die »Soziologie des Krieges, die insgesamt ein schändlich vernachlässigtes Gebiet der Soziologie ist, und für die Soziologie der Judenvernichrung, die es gerade in Deutschland bis heute schwer hat« (von Trotha 1997, S. 36). Ebenso wird moniert, daß Sterben und Tod von den meisten Soziologen nicht als Thema angesehen wird, das eine systematische Bedeutung fiir die Soziologie hat (vgl. Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995). Darüber hinaus wird auch der Raum zu den vernachlässigten Kategorien soziologischer Theoriebildung (vgl. Low 2001; Schroer 2005) gezählt.
für die Gesellschaft, so wird doch immerhin klar, daß der Körper zwar nie ein zentrales, aber auch kein völlig vernachlässigtes Thema der Soziologie (vgl. Kaufmann 1999, S. 287; Willems/Kautt 1999, S. 298; Hahn/Meuser 2002 a, S. j)1 darstellt. Diese Einschätzung ist vor allem dann plausibel, wenn man die Grenzen der Soziologie nicht zu eng zieht, ethnologische und kulturanthropologische ebenso wie Arbeiten der philosophischen Anthropologie von Mary Douglas, Claude Levi-Strauss, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner hinzunimmt. Ihre Plausibilität verstärkt sich sogar noch, je näher man in die Gegenwart vorrückt. Kommt bei einigen der frühen Arbeiten zum Körper noch der Verdacht auf, daß die Soziologie womöglich selbst zum Opfer der kulturellen Parzellierung des Körpers geworden ist, weil sie, wenn sie sich überhaupt mit dem Körper befaßt, es zumeist einige wenige, bevorzugt behandelte Körperteile sind, die primär Berücksichtung finden,3 so ist in den neueren Arbeiten gewissermaßen der gesamte Körper Thema,4 wird der Körper als unhintergehbare Größe für die Erklärung des Sozialen angeführt. Spätestens mit den Arbeiten von Erving GofTman, Michel Foucault5 und Pierre Bourdieu handelt es sich um deutlich mehr als nur eine implizite Berücksichtigung des Körpers, die man bereits bei einigen Klassikern wie Karl Marx und Friedrich Engels, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim, George Herbert Mead, Alfred Schütz und Talcott Parsons vorfinden kann (vgl. Bertholet 1983; Gugutzer 2004, S. 19fr.). Goffmaji, Bourdieu und Foucault werden zu Recht bereits als »Klassiker der Körpersoziologie« (Koppetsch 2000b, S. 9; Gugutzer 2004, S. 45) bezeichnet.6 Sie haben maßgeblichen Einfluß auf die 2 Vgl. dazu auch den Beitrag von Hubert Knoblauch in diesem Band. 3 In Georg Simmeis »Soziologie der Sinnex (Simmel 1993) ist es vor allem das Auge, dem eine besondere, vergesellschaftende Bedeutung zugesprochen wird. 4 Daneben gibt es Arbeiten, die sich explizit den bisher eher vernachlässigten Körperteilen und Körpersinnen widmen, um ein Gegengewicht zur primären Behandlung des Auges und des Visuellen zu schaffen (vgl. Benthien/Wulf 2001). Auch in der fiktionaJen Literatur, in der die Dominanz des Auges und des Sehens ebenso anzutreffen ist, gibt es Versuche einer Rehabilitierung der stiefmütterlich behandelten Körperorgane und Sinne. So hat etwa Patrick Süskind mit seinem Roman »Das Parfüm« (2000) das Riechen und Marcel Beyer mit seinem Roman »Flughunde« (1996) das Hören in den Mittelpunkt gestellt. 5 Zur Verknüpfung der Perspektiven von Goffman und Foucault vgl. Reuter (2003). 6 Bei Bourdieu (1991, S. 26) heißt es programmatisch: »Soziologie muß zur Kenntnis nehmen, daß menschliche Wesen zugleich biologische Individuen und soziale Ak-
Ausarbeitung einer Soziologie des Körpers, die vor allem in den angelsächsischen Ländern in Angriff genommen worden ist. Dabei geht es dezidiert darum, der Vernachlässigung des Körpers ein Ende zu machen, ihn nicht mehr bloß als implizite Kategorie mitzufuhren, sondern in das Zentrum soziologischer Theorie und Forschung zu stellen. Als Initialzündung dieser Anstrengung kann Bryan S. Turners Buch von 1984, »The Body and Society« (Turner 1996), angesehen werden. Es folgen die zentralen Arbeiten »The Body« (Featherstone/ Hepworth/Turner 1991), »The Body and Social Theory« (Shilling 1993), »Body Matters« (Scott/Morgan 1993), »The Body Social« (Synnott 1993) und »Body Modification« (Featherstone 2000).7 Seit 1995 geben Mike Featherstone und Bryan S. Turner die Zeitschrift »Body and Society« heraus. Auch in Deutschland ist das wachsende Interesse belegbar: 1994 widmet sich die Zeitschrift »Ästhetik & Kommunikation« dem Thema »Körper-Antikörper«, 1995 bringt das »Kursbuch« eine »Verteidigung des Körpers« heraus, 1997 berichtet ein »SPIEGEL-speciai« über die »Lust am Leib«, 1998 titelt »du. Die Zeitschrift der Kultur«: »Hautnah. Bilder und Geschichten vom Körper« und 1999 nimmt sich »Psychologie & Gesellschaftskritik« des Themas an. 1998 kommt es zur Gründung des Arbeitskreises »Soziologie des Körpers« innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 2001 verleiht die Körber-Stiftung den Deutschen Studienpreis für die Beantwortung der Frage: »Wie viel Körper braucht der Mensch?« (von Randow 2001) und mit den Sammelbänden »Körper und Status« (Koppetsch 2000a) und »Körperrepräsentationen« (Hahn/Meuser 2002b) sind zwei zentrale Publikationen erschienen, die die Etablierung einer Soziologie des Körpers weiter vorantreiben sollen. Seit 2004 schließlich liegt endlich auch die erste Einführung in die Soziologie des Körpers (Gugutzer 2004) vor.8 teure sind, die in ihrer und durch ihre Beziehungen zu einem sozialen Raum oder, besser, zu Feldern als solchen konstituiert werden. Als biologisch individuierte Körper sind sie, wie physische Gegenstände, örtlich gebunden |...] und nehmen einen Platz ein.« Kaum zu überschätzen ist bei Bourdieus Auffassung des Körpers der Einfluß Merleau-Pontys, für den Handeln immer schon leibliches Handeln ist. 7 Gewissermaßen als Vorläufer dieser Anstrengungen können die von Jonathan Benthall und Ted Polhemus bereits in den 70er Jahren herausgegebenen Sammelbände angesehen werden (vgl. Benthall/Polhemus 1975 und Polhemus 1978). 8 Wichtige Anregungen erhält die soziologische Beschäftigung mit dem Körper vor allem von anthropologischer Seite, vgl. Kamper/Rinner (1976), Kamper/Wulf (1982), Kamper/Wulf (1984).
Nach einer langen Zeit der Randständigkeit hat der Körper also inzwischen durchaus Konjunktur und ist zu einem regelrechten Modethema avanciert. Nach einem »linguistic turn«, einem »cultural turn« und einem »geographical turn« erscheint die Soziologie nunmehr einen »somatic turn« zu erleben. Dabei ist allerdings nicht davon auszugehen, daß sich das Thema durch innertheoretische Debatten aufgedrängt hätte. Vielmehr folgt die Soziologie einem Trend, der sie von außen erreicht. Sie reagiert dabei nicht zuletzt auf ein insbesondere durch die Medien forciertes Thema, dem sich auch einige Nachbardisziplinen nicht länger entziehen können (vgl. Imhof 1983; Schreiner/Schnitzler 1992; Lorenz 2000).9 Spätestens seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts berichten Zeitschriften und Magazine in regelmäßigen Abständen vom »Kult um den Körper«, der an immer neuen Phänomenen und Praktiken sich ablesen lasse. Von Schönheitsoperationen über Tätowierungen bis hin zu radikalen Körpermodifizierungen wird immer wieder über die Möglichkeit körperlicher Veränderungen berichtet. Längst hat sich auch die Soziologie dieser Thematiken angenommen (vgl. Hahn 2000b; Koppetsch 2000c; Degele 2004; Breyvogel 2004; Fritscher 1996; Featherstone 2000), so daß von einer »defizitären Forschungslage« (Abraham 2002, S. 15) eigentlich nicht länger gesprochen werden kann. Die neue Berücksichtigung der Körper-Themen aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Thema inzwischen zwar behandelt wird, aber noch immer weit davon entfernt ist, eine zentrale Rolle in der Allgemeinen Soziologie einzunehmen. Vielmehr steht zu befurchten, daß das Thema in einer neuen Bindestrichsoziologie abgehandelt wird, damit aber auch gewissermaßen entsorgt zu werden droht. Denn es ist ja keineswegs so, als ginge mit der Beförderung eines Themas zur Bindestrichsoziologie auch seine nachhaltige Etablierung einher. Eher kann man umgekehrt den Eindruck haben, daß damit einem Nischendasein Vorschub geleistet wird und die Anstrengungen zum Erliegen kommen, den jeweiligen Gegenstand in den Mittelpunkt allgemeinsoziologischer Arbeiten zu stellen. Mit 9 Auch in der Kunst ist ein wachsendes Interesse am Körper nachweisbar. Ausstellungen wie »Fremdkörper - fremde Körper. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen« 1999 in Dresden, »Der anagrammatische Körper und seine mediale Konstruktion« im Karlsruher ZKM im Jahre 2000 zeugen davon. Vgl. auch die zweibändige Ausgabe der Zeitschrift »Kunsrforum International« mit dem Titel »Die Zukunft des Körpers« (Rotzer 1996).
der Etablierung einer neuen Speziellen Soziologie jedenfalls ist nicht schon automatisch das Ziel erreicht, den Körper zu einer zentralen Kategorie der Soziologie insgesamt werden zu lassen. Genau darauf aber zielen die ambitionierten Versuche unter den bisherigen Beiträgen zu einer Soziologie des Körpers. Stellvertretend für viele vertritt Wolfram Fischer die These, daß »Körper und Leib zentrale Gegebenheiten und Konstrukte sind. Sie gehören deshalb nicht in eine der beliebig zu erweiternden Spezialsoziologien (etwa: >Körper-Soziologie<), sondern ihre Analyse trägt zur Antwort auf die soziologische Kernfrage bei, wie Sozialität und Gesellschaft konstituiert werden.« (Fischer 2003, S. 10) Wenn der Körper nicht einer Spezialbehandlung unterzogen werden soll, dann muß er vor allem dort Eingang finden, wo sein Fehlen sich am nachhaltigsten bemerkbar macht: in der Handlungstheorie (vgl. Joas 1992, S. 245fr.; Kaufmann 1999, S. 286f.).10 Denn während es für Strukturtheorien noch erwartbar sein mag, daß der Körper keine Berücksichtigung findet, ist die Absenz des Körpers in Handlungstheorien um so überraschender. Ausgerechnet dort, wo man nicht müde wird gegen konkurrierende Theorieangebote auf den Menschen zu verweisen, hat man es mit geradezu leiblosen Akteuren zu tun. Auf dem Weg zur Etablierung des Körpers auch in der Allgemeinen Soziologie scheint es nicht unwichtig, sich Aufschluß über die Gründe für die bisherige Benachteiligung zu verschaffen. Sie können über die möglichen Widerstände aufklären, die der Berücksichtigung des Körpers im Wege gestanden haben und womöglich noch immer stehen.
2. Gründe für die Randständigkeit des Körpers in der Soziologie Die Gründe für die »absent presence« (Shilling 1993, S. 19) des Körpers in der Soziologie sind vielfältig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich vier meines Erachtens zentrale Gründe herausgreifen. Als Grund für die Vernachlässigung des Körpers im soziologischen 10 Mit Anthony Giddens* Theorie der Strukturierung (1992) liegt zweifellos eine der ganz wenigen Ausnahmen einer Handlungstheorie vor, die den Körper systematisch miteinbezieht.
Denken ist erstens das Bemühen der Soziologie um Autonomie anzuführen. Die Soziologie konstituiert sich als Disziplin durch wiederholt vorgenommene »Unabhängigkeitserklärungen« (Stichweh 2003, S. 93) gegenüber anderen Disziplinen. Mit der Annahme, daß sich gesellschaftliche Strukturen nicht auf die biologische Ausstattung der Spezies zurückfuhren lassen, deren Sozialsysteme die Soziologie untersucht, emanzipiert sich die Soziologie beispielsweise nachhaltig und erfolgreich von der Biologie. Damit aber wird der Körper, gerade dort, wo die Autonomie des Sozialen betont wird und der Leitsatz gilt, daß Soziales nur aus Sozialem zu erklären ist, in der Umwelt sozialer Systeme verortet. Eine Thematisierung des Körpers ist dadurch zwar keineswegs ausgeschlossen, seine nachrangige Bedeutung aber festgeschrieben. Dagegen findet dort, wo Sozialwissenschaft als Menschenwissenschaft betrieben werden soll, die andere Wissenschaften gerade nicht aus-, sondern einschließt, der Körper wie selbstverständlich Berücksichtigung (vgl. Elias 1976). Das läßt sich in ähnlicher Weise auch an den Arbeiten Michel Foucaults und Pierre Bourdieus beobachten, denen es nicht um eine enge Abgrenzung, sondern um eine fruchtbare Zusammenfiihrung der einzelnen Sozialwissenschaften zu tun ist. In beiden Werken steht der Körper im Mittelpunkt. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die Berücksichtigung des Körpers zumeist mit einer Öffnung der Soziologie hin zu anderen Disziplinen einhergeht. Als zentraler Grund für die Nichtthematisierung des Körpers ist zweitens die Dominanz des cartesianischen Denkens anzuführen, was in der Literatur zur Soziologie des Körpers von verschiedenen Seiten betont wird: »Das in den Sozialwissenschaften allenthalben präsente kartesianische und kryptokartesianische Denken jedenfalls, das Sozialität eher in den Köpfen ihrer Mitglieder verortet, hat den Blick auf die verkörperte Gesellschaft und den vergesellschafteten Körper lange verstellt.« (LoenhofT 1999, S. 73) Ähnlich formuliert Corrigan (1997, S. 147): »Descartes' motto was >I think, therefore I am< - not >I eat, drink, sleep and have sex, therefore I am«. The human subject was to be found not in the body, but in the mind.« Auch Turner (1992, S. 23) beklagt den rationalistischen Bias soziologischer Theorie »which has until recently treated the social actor as adisembodied rational agent«. Und von Trotha (1997, S. 27) spricht in diesem Zusammenhang von der »kognitiv-rationalistischen Verkürzung der Subjektivität«. Die Soziologie neigt in der Tat zu der
Annahme, daß sich Gesellschaft (vor allem) in den Köpfen ihrer Mitglieder abspiek. Sie folgt darin einer langen Tradition: »Gesellschaft ist in unserem Bewußtsein, nicht in unsern Körpern. Das jedenfalls läßt sich aus Jahrhunderten religiöser, philosophischer und pädagogischer Praxis folgern. Wir stellen uns die öffentliche Ordnung dualistisch vor, als herrsche der Geist über die Materie oder die Vernunft über die Sinne. Nach dieser Auffassung sind unsere Körper die willenlosen Diener der moralischen und intellektuellen Ordnung. Wir sollen unsere Körper disziplinieren, um etwas Hervorragendes zu leisten, um in den Himmel zu kommen, um brav in einem Hörsaal sitzen zu können und die frohe Botschaft der Soziologie zu hören« (O'Neill 1990, S. 14). Die Soziologie thematisiert zwar unter den Begriffen Disziplinierung und soziale Kontrolle die hier angesprochene Zurichtung des Körpers zum funktionierenden Rädchen im Getriebe, führt den Körper aber dennoch nicht als zentrale Kategorie des Sozialen in ihre Theorien ein. Als weitere Erklärung für die Vernachlässigung des Körperthemas ließe sich drittens anfuhren, daß die Soziologie mit ihrer Aussparung der körperlichen Dimension des Sozialen der realen Entwicklung einer zunehmend körperlos funktionierenden Gesellschaft folgt,11 die dem Körper als Kompensation für seine generelle Bedeutungslosigkeit mit dem Sport eine Art Reservat zuweist, in dem allein er noch eine Rolle zu spielen vermag: »Der Sport«, so Luhmann (1984, S- 337)» »präsentiert den nirgendwo sonst mehr so recht in Anspruch genommenen Körper.« Als Theorie reagiert die Systemtheorie auf dieses dem Körper zugewiesene, eingeschränkte Bedeutungsfeld, indem sie ihn auch selbst vor allem in diesem Kontext behandelt (vgl. Bette 1999). Die These von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Körpers stützt sich aber vor allem auch auf den Zivilisationsprozeß, der sich insgesamt als eine Geschichte der sukzessiven Verdrängung des Körpers verstehen läßt und auf den technologischen Fortschritt, der den Körper zunehmend in den Hintergrund drängt. Auch der unter dem Begriff Tertiarisierung laufende Wandel der Erwerbsarbeit hat den Körper nachhaltig entlastet. Harte körperliche Arbeit wird - zumindest in den wesdichen Industrienationen - immer seltener. Damit wird der Körper freigesetzt für andere Betätigungen, die dem Körper zugleich auch eine andere Bedeutung zuweisen. : 1 »Der Weg zur Moderne zeichnet sich dadurch aus, daß der größte Teil dessen, was in der Welt vorkommt, entkörperlicht wird.« (Stichweh 1995, S. 177). 13
Statt der Arbeit mit dem Körper haben wir es heute verstärkt mit der Arbeit am Körper zu tun.12 Nur vor dem Hintergrund dieser in der Soziologie durchaus verbreiteten Annahme ist zu verstehen, daß die Thematisierung des Körpers auch außerhalb der Sphäre des Sports als »Wiederkehr« (Kamper/Wulf 1982) gefeiert werden konnte.13 Da gerade die Systemtheorie an der Vernachlässigung des Körpers durchaus ihren Anteil hat, ist um so erstaunlicher, daß Luhmann andererseits von der »Eigenrelevanz des Körpers« (Luhmann 1984, S. 338) spricht und konzediert: »Jede noch so unwahrscheinliche Ausdifferenzierung spezifischer Funktionsbereiche muß auf die Tatsache rückbezogen bleiben, daß Menschen in körperlicher Existenz zusammenleben, sich sehen, hören, berühren können. Noch so geistvolle, fast immateriell gelenkte Systeme, wie Wirtschaft oder Recht oder Forschung können nicht ganz davon abheben.« (Ebd., S. 337) Freilich bleibt diese Einsicht Postulat, ohne Folgen für die Theorieanlage, die Interaktion im Grunde für eine primitive Stufe der Systementwicklung hält.14 Viertens hat meines Erachtens die auf die Erklärung sozialen Wan-
12 Vgl. dazu den Bettrag von Gabriele Klein in diesem Band. 13 Bette (1987, S. 600) vertritt statt dessen die These einer »gleichzeitigen Steigerung von Körperverdrängung und Körperaufwertung im Rahmen der modernen Gesel schaft«, die in ihrem beinahe dialektischen Zuschnitt nicht von ungefähr an Horkheimer und Adornos These von der »Haßliebe gegen den Körper« erinnert, die alle neuere Kultur färbe. Das Körperliche sei in der Zivilisation, so Horkheimer und Adorno, gleichzeitig -Gegenstand von Anziehung und Widerwillen« (Horkheimer/Adorno 1971, S. 208). 14 Einem Bericht Sergio Benvenutos (1999, S. 225) zufolge äußerte sich Luhmann bei einem Besuch Neapels wie folgt über Italien: »Bei euch herrscht eine Gesellschaftlichkeit außerhalb der Institutionen vor. Im Gegensatz zu den Deutschen habt ihr kein Vertrauen in die formalen Mechanismen, die ordnungsgemäßen Anträge, die bürokratische Korrektheit. Um irgend etwas zu bekommen, auch wenn es sich um die kleinste Bescheinigung handelt, benötigt ihr ein kompliziertes Netz persönlicher Beziehungen. Ihr bezahlt also einen hohen Preis: ihr verschwendet viel Zeit für zwischenmenschliche Transaktionen. Wenn hingegen die Mehrheit den formellen Regeln folgt, führt dies zu einer großen Ersparnis an Zeit und Energie.« Bei der Betrachtung einer »interaktionsnah gebauten Gesellschaft« fallen dem ehemaligen Verwaltungsbeamten, dem Organisationssoziologen und Systemtheoretiker nur Nachteile ein. Das Gelingen von Komplexitätsreduktion dient als Maßstab für erfolgte Entwicklung. Der durch die Einhaltung formeller Regeln bedingte Zeitaufwand gerät dabei allerdings aus dem Blick.
dels konzentrierte Soziologie den Körper — ähnlich wie den Raum (vgl. Schroer 2005) - deshalb nicht in ihre Überlegungen mit einbezogen, weil dieser als unveränderliche Gegebenheit galt. Für diese These spricht, daß sowohl Körper als auch Raum gerade in dem Augenblick in den Aufmerksamkeitskegel der Soziologie geraten, als sie gerade nicht mehr als fraglos Gegebenes behandelt werden, sondern in den Bann alternativer Umgestaltung (vgl. Bette 1999, S. 215) geraten. Paradoxerweise bieten sich beide Kategorien dennoch immer wieder an, um zu ontologisch gegebenen, natürlichen Größen stilisiert zu werden. Ich komme weiter unten darauf noch zu sprechen. Daß der Körper deshalb nicht behandelt worden sei, weil er sich außer in Ausnahmefällen wie etwa Krankheit nicht bemerkbar macht (vgl. Gugutzer 2004, S. 12), ist dagegen stark zu bezweifeln, wie der Blick auf beliebig gewählte Alltagssituationen verdeutlichen kann: Student Robert K. traut sich nach langem Zögern im Seminar doch mal etwas zu sagen, legt sich die Worte immer wieder im Kopf zurecht und als seine Wortmeldung vom Seminarleiter endlich registriert wird, spielt ihm seine Zunge einen Streich, er verhaspelt sich und - traut sich nie wieder etwas zu sagen; der Autofahrer Hans B. versichert dem freundlich dreinblickenden Beamten in Uniform, daß er keineswegs Alkohol getrunken habe, obwohl er gerade direkt vom Münchner Oktoberfest kommt, verrät sich aber, weil ob der dreisten Lüge sein Äb/>/puterrot anläuft; die Friseurin Petra W. legt am Abend erschöpft die Beine hoch, weil sie durch das viele Stehen während der Arbeit im Friseursalon ermüdet sind und schmerzen; in einem der seltenen Momente absoluter Stille im Konzertsaal, in dem nicht einmal das obligatorische Husten zu hören ist, knurrt Sabine F. lautstark der Magen, ohne daß sie dagegen etwas unternehmen könnte; Facharbeiter Walter J. drängelt mit zahlreichen anderen Wartenden um einen Platz in der U-Bahn, wobei man ihm mehrfach auf die Füße tritt. Ein Blick auf die Uhr zeigt Annette L, daß sie die »Beine in die Hand nehmen« muß, wenn sie den letzten Zug noch erreichen will. Glücklich angekommen, sinkt sie ermattet auf einen der freien Sitze nieder, völlig außer Atem und mit rasendem Herzen. Mit anderen Worten: Es gibt tagtäglich eine Fülle von Situationen, in denen sich der Körper bemerkbar macht - meist ebenso ungewollt wie unpassend. Der Körper macht sich dabei vor allem als Widerstand bemerkbar, als Störfaktor gewissermaßen. Er erinnert seinen Träger immer wieder schmerzlich daran, daß er nicht »Herr IS
im eigenen Haus« ist, seinen Körper nicht vollständig kontrollieren kann.15 In ihm ist zudem aufbewahrt und an ihm wird erkennbar, was »wir« vielleicht schon längst nicht mehr wahrhaben, deshalb abstreifen wollen und verdrängt haben. Er funktioniert gewissermaßen als Gedächtnis unserer Selbst, auf das wir nur bedingt Zugriff haben. Er offenbart Dinge vor anderen, die wirfreiwilligeigentlich nie preisgegeben würden. Deshalb ist er im Grunde ein eher unzuverlässiger Partner des Selbst: der Körper als Verräter.
3. Auslösende Faktoren für eine Thematisierung des Körpers Die Gründe für das mangelnde Interesse dem Körper gegenüber enthalten, positiv gewendet, bereits einige der Gründe für das inzwischen ausgeprägte Interesse am Körper. Oder anders formuliert: Daß der Körper in den Fokus soziologischer Aufmerksamkeit gerät, hat 1) mit einer neuen Offenheit der Soziologie gegenüber anderen Fächern zu tun, die man als Zeichen ihrer Reife ansehen könnte, 2) mit der Kritik am cartesianischen Denken und rationalistischen Paradigma und 3) der Beobachtung, daß der Körper keineswegs eine zu vernachlässigende Größe ist, die durch den allgemeinen Fortschritt, die Ausweitung der Technik und eine weitgehend körperlose Form der Arbeit ohnehin dem Untergang geweiht ist. Ganz im Gegenteil zeigt sich, daß wir selbst in digitalen Räumen auf unseren Körper nicht verzichten können.16 Die »Abschiebung« des Körpers in die Bereiche Sport und Medizin, die gewissermaßen als Gegenmaßnahme zu seiner allgemeinen Vernachlässigung den Körper in den Mittelpunkt rücken, erscheint nicht mehr länger plausibel. Der Körper läßt sich offenbar nicht in eigens für ihn vorgesehene Reservate abdrängen. Entgegen allen Abschiebungs- und Marginalisierungsversuchen wird heute vielmehr auf die Allpräsenz des Körpers hingewiesen, die allein in der Sprache stets bewahrt blieb: Wir zeigen Fingerspitzengefühly drücken jemandem die Daumen, können bestimmte Zeitgenossen nicht riechen, ge15 Dadurch ist gerade der Körper für den unberechenbaren Verlauf von Interaktionen verantwordich. Vgl. dazu Dreitzel 1983, Kieserling 1999, S. 140, und den Beitrag von Jürgen Raab und Hans-Georg SoerTner in diesem Band. 16 Vgl. dazu den Beitrag von Christiane Funken in diesem Band. 16
raten in Situationen, in denen kein Auge trocken bleibt, betreiben Dinge, die Hand und Fuß haben, schreiben Texte mit Herzblut fühlen Prüflingen auf den Zahn, tragen unsere Haut zu Markte; etwas ist uns über die Leber gelaufen, während uns anderes an die Nieren geht, uns fällt ein Stein vom Herzen, wir nehmen etwas auf die leichte Schulter, halten etwas im Kopf nicht aus oder für andere denselben hin, haben die Nase voll, leihen jemandem unser Ohr, verschreiben uns einer Sache mit Haut und Haaren usw. Jenseits dieses semantischen Reservoirs an Körperpräsenz sehe ich vor allem im Individualisierungsprozeß den entscheidenden Faktor, ohne den eine verstärkte Thematisierung des Körpers nicht denkbar erscheint.
4. Zur Individualisierung des Körpers zwischen Selbstgestaltung und Fremdbestimmung Mit Individualisierung meine ich zum einen den historischen Prozeß der Individualisierung, der zu Beginn der Renaissance einsetzt. Im Zuge dieses Prozesses erscheint Gesundheit nicht mehr länger als göttliche Gabe, sondern als durch individuelle Lebensführung erlangbares Gut. Die »Gleichsetzung von irdischem Leben mit Leben schlechthin« hatte zur Folge, daß der Körper »einen unerhörten Schub an Aufwertung erfuhr, denn irdisches Leben ist für uns heutige nun einmal quantitativ wie qualitativ engstens mit dem körperlichen Zustand verbunden. Nun lohnt es sich und wurde sinnvoll, in den Körper zu investieren.« (Imhof 1983, S. 19)17 Zum anderen meine ich die in den 80er und 90er Jahren des zo. Jahrhunderts geführte Individualisierungsdebatte, die die Konjunktur des Themas, mit der wir es aktuell zu tun haben, eingeleitet hat (vgl. Beck 1983). War der Körper in der soziologischen Theorie lange Zeit über nur als unterdrückter, kontrollierter und disziplinierter Körper anwesend, so haben wir es nun mit einem sich seiner selbst annehmenden Körper zu tun, der nicht mehr nur als Opfer, sondern auch als Initiator gesellschaftlicher Prozesse auftritt. Im Vordergrund steht nicht mehr länger eine Perspektive, die allein die Beeinflussung des Körpers 17 Gesundheit läßt sich insofern definieren als »permanente Auseinandersetzung mit seinem Körper und basiert auf den Fähigkeiten, seinen Körper wahrzunehmen, zu spüren, zu erleben und mit ihm einfühlsam und sensibel umzugehen« (Bründel/Hurrelmann 1999, S. iz6). 17
durch die Gesellschaft zum Thema hat, sondern mehr und mehr auch eine, die den Anteil des Körpers an der Konstitution, der Aufrechterhaltung und Veränderung der Gesellschaft thematisiert wissen will. Damit scheint endlich eingelöst, was schon bei Berger und Luckmann (1980, S. i93f.) wie folgt auf den Punkt gebracht wird: »Auch die Art, wie der Organismus tätig ist - Expressivität, Gang, Gestik - trägt den Stempel der Gesellschaftsstruktur. Die Möglichkeit einer Soziologie des Körpers, die damit auftaucht, können wir hier nicht verfolgen. Das Entscheidende ist, daß die Gesellschaft dem Organismus Grenzen setzt - wie der Organismus der Gesellschaft.« Es scheint mir unstrittig zu sein, daß sich die Soziologie zunächst vor allem für den ersten Aspekt interessiert hat. Die Thematisierung des Körpers beginnt - und endet auch oft - mit der Analyse der Prägung des Körpers durch die Gesellschaft.18 Damit ist für viele auch heute noch der genuin soziologische Anteil an der Thematisierung des Körpers bezeichnet.19 Die Berücksichtigung des zweiten Aspekts wird zwar immer wieder aufs neue angemahnt, oft aber dennoch nicht umgesetzt.20 Allerdings würde man die Geschichte der Individualisierung unnötig verkürzen und vereinseitigen, wollte man erst die Betonung der zweiten Perspektive als Folge der Individualisierung verstehen. Vielmehr zählt gerade die Geschichte der Disziplinierung des Körpers zur Geschichte der Individualisierung, verstanden als negative Individualisierung (vgl. Schroer 2001a, S. 156°.), hinzu. Was sich zu18 Auch in eher beiläufigen Bemerkungen kommt diese Perspektive zum Tragen. So heißt es beispielsweise in Richard Sennctts Studie über den flexiblen Menschen (Sennett 2000, S. 88 f.): »Rodney Everts (...] ist Jamaikaner, kam mit zehn Jahren nach Boston und arbeitete sich auf die traditionelle Art vom Lehrling über den Bäckermeister zum Vorarbeiter hoch. Dieser Weg steht für zwanzig Jahre Kampf. [...] Die Zeichen des Kampfes sind an seinem Körper abzulesen, er hat starkes Übergewicht, er ist ein sogenannter >Angstesser«.« Allerdings hat gerade Sennett ein von der Körpersoziologie wenig beachtetes Buch vorgelegt, in dem die These materialreich entfaltet wird, »daß urbane Räume weithin durch die Weise Gestalt annehmen, wie die Menschen ihren eigenen Körper erfahren« (Sennett 1997. S. 456). 19 Wie selbstverständlich heißt es bei Anthony Giddens (1999, S. 147), der das Körperthema in die 2. Auflage seines Lehrbuchs »Soziologie- aufnahm: »Die Soziologie des Körpers befaßt sich mit den sozialen Einflüssen auf unseren Körper.« 20 Zur Einlösung des zweiten Aspekts vgl. den Beitrag von Gesa Lindemann in diesem Band.
nächst wie die Kehrseite des Individualisierungsprozesses liest, ist selbst Produkt der Individualisierung. Koch bevor die Individuen auf die Idee kommen, ihre Individualität an ihrem Körper festmachen zu wollen, bedienen sich polizeiliche Ermittlungen des Körpers und seiner spezifischen Merkmale als Ausweis des Individuums (vgl. Küchenhoff 1988; Stichweh 1995, S. 180). In diesem Sinne wird der Körper zu einem zentralen Gegenstand in Michel Foucaults Arbeiten und in diesem Sinne schreibt Foucault die Geschichte der Individualisierung als eine Geschichte der systematischen, immer lückenloseren und umfassenderen Erfassung des Individuums zwecks seiner besseren Kontrolle und Überwachung. An den neuesten Vorschlägen zur Erfassung und einwandfreien Identifizierung der Körper mittels biometrischer Verfahren im Namen der Sicherheit wird nur zu deutlich, daß diese Geschichte der Individualisierung keineswegs zum Erliegen gekommen ist, so, als habe eine positiv konnotierte Individualisierung die negative abgelöst. Der leidende und bedrohte Körper ist keineswegs durch einen befreiten und erlösten Körper, einen happy body, ersetzt worden. Spätestens an der Engführung des Individualisierungsthemas auf den Körper wird vielmehr klar, daß Individualisierung nichts mit Freiheitszuwachs zu tun hat, sondern mit einem Wandel der für ihn verantwortlichen Kontrollinstanzen (vgl. Boltanski 1976, S. 170). Der Übergang von der Fremd- zur Selbstkontrolle ist vor allem am Umgang mit dem Körper ablesbar. Dabei geraten die Individuen in die paradoxe Situation zugleich Subjekt und Objekt der Kontrolle und Überwachung zu sein.21
In Don DeLillos Roman »Körperzeit« (2.001) gibt es eine ebenso komprimierte wie treffende Beschreibung dieses Vorgangs: »Tag für Tag arbeitete sie hart an ihrem Körper. Es galt immer, Zustände zu erreichen, die frühere Extreme überschritten. Sie konnte eine Sache bis zum unerträglichen Äußersten dehnen, gemessen mit Atem oder Kraft oder Zeitdauer oder Willensstärke, und dann beschließen, die Grenze noch weiter hinauszuschieben. Ich glaube, du erschaffst dir deine eigene kleine totalitäre Gesellschart, hatte Rey einmal festgestellt, in der du uneingeschränkter Diktator bist und unterdrücktes Volk.« (DeLillo zooi, S. 6$f.) 19
5- Der Körper — ein unvollendetes Projekt? Wenn Individualisierung unter anderem meint, daß der einzelne aus einer Vielzahl von Instanzen endassen wird, die ihm vorgegeben haben, wie er zu leben hat, nunmehr freigesetzt ist und anhand eigener Entscheidungen nicht mehr ein Leben abieben, sondern eine Biographie zu gestalten hat, dann bedeutet die Individualisierung des Körpers vor allem, daß nicht einmal mehr der Körper als Faktum einfach hinzunehmen ist, sondern verändert werden kann. Neu daran ist, daß »die Verantwortung für die Entwicklung des Körpers und sein äußeres Erscheinungsbild direkt in die Hände seines Besitzers« (Giddens 1993, S. 43) gelegt wird. Und um diese Aufgabe bewältigen zu können, steht gleich eine ganze Armada von Ratgebern bereit, die bei der Pflege, dem Erhalt und der Verbesserung des Körpers behilflich sein sollen. Dankbar greifen die mit ihrem Besitz allein gelassenen Individuen die Ratschläge auf, denn die schlechte Nachricht der Individualisierung des Körpers besagt, daß alle als solche definierte Unzulänglichkeiten des Körpers als individuelles Versagen zugerechnet werden.22 Rund um das Thema Gesundheit, Fitneß und Wellness ist deshalb ein gewaltiger Markt entstanden. Der »Körperboom« ernährt eine komplette, nach ihm benannte Industrie. Der Vielzahl der Angebote ist dabei immer wieder die Botschaft zu entnehmen: »Der Körper - nie war er so wertvoll wie heute!« Und deshalb ergehen die zahllosen Ratschläge, wie mit ihm zu verfahren sei. Wir sind geradezu von Instanzen umstellt, die uns sagen wollen, wie mit diesem neu erworbenen Eigentum umzugehen sei. Dabei ist zu beachten, daß es ein langer Weg war, bis der Körper als »unser erstes und unbedingtes Eigentum« (Simmel 199z, S. 421) gelten konnte: »Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wird der Körper immer mehr als ökonomischer Wert betrachtet. Ein Gesundheitsbewußtsein entsteht. Der Körper wird zum Besitz, etwas, daß man hat und nicht mehr ist.« (Low 2001, S. 117)23 Und auf das, was man hat, gilt es zu 22 In diesem Sinne argumentiert auch Jean Baudrillard (1981), der den Körper als Konsumgegenstand analysiert: »Wenn Sie Ihrem Körper keine Dienste erweisen, wenn Sie sich der Nachlässigkeit schuldig machen, werden Sie dafür bestraft werden. [...] alles, woran Sie leiden,« ist »selbstverschuldet durch Ihre Unverantwortlichkeit Ihnen selbst gegenüber.« (Ebd., S. 96) 23 Bei einigen ins Esoterische weisenden Körperpraktiken gewinnt man den Eindruck, daß die Geschichte gewissermaßen zurückgeschraubt werden soll, indem 20
achten. Den Körper als Besitz gilt es zu bewahren, zu schonen und zu pflegen.24 Die Gestaltbarkeit des Körpers (vgl. Hitzler 2002) ist dabei allerdings nicht mit einer uneingeschränkten Verfügungsgewalt über den Körper zu verwechseln: »Der Körper, den wir erleben, ist nie wirklich und zur Gänze der unsere, ebensowenig die Art und Weise, in der wir ihn erleben. Die Körpererfahrung jedes einzelnen als Quelle, Organ und Stütze jeder Kultur ist vollständig von den anderen und der Gesellschaft durchdrungen.« (Bernard 1980, S. 119)25 Es scheint aber gerade »die generelle Nichtverfugbarkeit des eigenen Körpers« (Bette 1999, S. 136), die die Anstrengungen erhöhen, permanent auf ihn einzuwirken: »Die Möglichkeit einer Gestaltbarkeit des eigenen Körpers vermittelt die Illusion von Kontrolle über das eigene Leben.« (Stahr 2000) Die auf den Körper bezogenen Anstrengungen der Gestaltung und Kontrolle26 scheinen dabei das ursprüngliche Verhältnis zum Körper wiederhergestellt werden soll: Man will keinen Körper haben, sondern ein Körper sein, »eins werden mit ihm« und damit die durch das Besitzverhältnis entstandene Distanz zu ihm wieder einziehen. Jenseits der für Plessner (1975) unaufhebbaren Differenz zwischen Leib sein und Körper haben wird aber auch innerhalb der Philosophie diese Differenz einzuziehen versucht durch die Präferiening des Seins: »Als lebendige Subjekte haben wir nicht, sondern sind wir Körper, lebende Organismen.« (List 1998, S. 79) 24 Der Sklave dagegen hatte keinen Körper, sondern war Körper - und nichts «titer: »Da der Sklave kein Rechtssubjekt war, hatte er theoretisch keinerlei Recht auf seinen Körper. Die Möglichkeit für den Sklavenbesitzer, diesen Körper zu verkaufen oder zu verleihen, blieb immer bestehen.« (Galsterer 1983, S. 34) Daß es überhaupt ein Bewußtsein von einem eigenen, individuellen Körper gibt, ist keineswegs selbstverständlich, sondern Ergebnis der sich auf den Körper beziehenden Diskurse im Laufe der Jahrhunderte, wie Philipp Sarasin (2001) im Detail nachgezeichnet hat. Daß der einzelne unter Bedingungen extremer Exklusion wieder ganz und gar auf den Körper zurückgeworfen sein kann, erinnert nicht zufällig an die Existenz des Sklaven oder des »Leibeigenen«, mit dem Unterschied freilich, daß heute nicht nur wieder die Versklavung in großem Umfang stattfindet, sondern auch der einzelne selbst Teile seines Körpers auf dem Markt des Organhandels feilbieten kann, im Sinne einer extremen physischen Selbstausbeutung. Inklusionsbereich und Exklusionsbereich der Gesellschaft scheinen sich nicht zuletzt dadurch zu unterscheiden, daß Inkludierte danach streben, ihren Körper zu fühlen und zu erfahren, während Exkludierte ganz und gar auf ihren Körper zurückgeworfen sind (vgl. dazu Luhmann 1995, Schroer 2001b). Zur Frage des Eigentums vgl. auch Boullion 1999. 25 Vgl. auch: »Die völlige Beherrschung des Körpers durch das Bewußtsein oder die Gesellschaft ist allemal Utopie.« (Hahn/Jacob 1994, S. 152) 26 Vgl. dazu den Beitrag von Anne Honer und Ronald Hitzler in diesem Band.
durchaus etwas mit dem erlahmenden Glauben an den Einfluß des Individuums auf die Gestaltung und Veränderungsmöglichkeit von politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun zu haben. Insofern gilt der Körper gewissermaßen als letzter Fluchtpunkt, der die schmerzhafte Einsicht in die mangelnde Beeinflußbarkeit von Makrophänomenen ein wenig zu kompensieren vermag.27 Er hat den unschätzbaren Vorteil, daß an ihm die Anstrengungen und Investitionen für jedermann (und für einen selbst) sichtbar sind. Deshalb gilt der Körper als Ausweis »persönlicher Identität: dieser Körper ist der meine und nicht der des anderen, ich bin genau dieses Individuum, das sich durch seine körperliche Verpackung auszeichnet« (Kaufmann 1996, S. 32). Somit erscheint der Körper geradezu als »Garant unserer Individualität« (Field 1978, S. 256).28
6. »Was sich nicht wegkommunizieren läßt«: Der Körper als Kontingenzbewältiger, Realitätsanker und Garant des Konkreten Die Wiederentdeckung des Körpers erfolgt nicht zufällig parallel zur Wiederentdeckung des Raums als Thema der Sozialwissenschaften (vgl. Low 2001). Beiden vernachlässigten Kategorien haftet etwas schlicht Gegebenes und damit Selbstverständliches an. Raum und Körper scheinen ganz einfach »da« zu sein. So heißt es sowohl: »Dem Raum können wir nicht entkommen« (Meyrowitz 1997, S. 176) als auch: »Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muß seinen Körper dabeihaben.« (Goffman 1994, S. 152) Der Raum ebenso wie der Körper sind also unausweichlich. Sie gehören zu den Dingen, die »sich nicht wegkommunizieren lassen« (Gumbrecht 1999). Es ist diese unterstellte Unausweichlichkeit des Körpers und des Raums, ihre offensichtliche Gegebenheit, die dazu fuhren, in ihm den rettenden Anker im Meer der Kontingenzen sehen zu wollen. Der Körper dient gewissermaßen als Antidot gegen das von der Postmoderne verkündete »Ende der Eindeutigkeit« 27 Vgl.: »Wenn nichts mehr definitiv Sinn macht, ist der Körper die vielleicht letzte Instanz, die Sinn auf eine überzeugende Weise auf sich ziehen kann.« (Berte 1999. S. 164) 28 Schon für Durkheim (1981, S. 366) stellt der Körper einen »Individualisierungsfaktor« par excellence dar.
(Bauman 1995a). Er ist es, der in einem individualisierten Leben fiir einen letzten Rest von Kontinuität29 und Verläßlichkeit sorgt. Dies macht ihn zu einer der wenigen Konstanten im Leben des individualisierten Einzelnen, dem — von allen verlassen (Frauen, Kinder, Freunde, Kollegen) — immerhin der eigene Körper bleibt. Die neue Hinwendung zu Raum und Körper30 erfolgt keineswegs als separates und kontexdoses Einzelphänomen, sondern als Teil einer Entwicklung, die eine gewisse Abkehr von konstruktivistischen und eine Hinwendung zu materialistischen und naturalistischen Ansätzen mit sich bringt. Es hat den Anschein, als gäbe es durch die von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Diskursivierung vertretenen Abstraktionen und die dadurch ausgelösten Verunsicherungen einen neuen Bedarf am Greifbaren, Materiellen und Konkreten, dem Evidenten, der durch den Verweis auf den Körper gegeben zu sein scheint.31 Der Körper gilt als »greifbarste[r] Beweis fiir das Reale (man ist schließlich da, mit Haut und Haaren, Gegenstand physischer Empfindungen)« (Kaufmann 1996, S. 31 ff). Es entsteht der Eindruck, daß man nach der Beschäftigung mit der Rede über den Körper sich nun endlich ihm selbst zuzuwenden habe — in einer Art Neuauflage des Rufs »Zu den Sachen selbst!« Obwohl der *somatic turn« einerseits nicht zuletzt eine Folge des »cultural turn« in den Sozialwissenschaften ist, so scheint das neue Interesse am Körper doch andererseits auch mit einem »natural turn« einherzugehen: »Die Phänomene der Körperaufwertung zeigen [...], daß komplexe Gesellschaften einen gesteigerten Natüriichkeitsbedarf haben.« (Rittner 1983, S. 236) Der Natürlichkeitsbedarf entsteht gerade dort, wo die Einsicht sich längst verbreitet hat, daß es Natur nicht gibt: Gerade »der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzig sinnliche Manifestation der >Person<, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur und doch gibt es an ihm kein einziges bloß >physisches< Mal« (Bourdieu 1982, S. 310).32 Mit dieser Einsicht beginnt die Aus29 Vgl.: »Nur der menschliche Körper stellt noch eine sichtbares Moment von Kontinuität dar und zeigt die kumulative Wirkung der Anstrengungen, sich selbst zu konstituieren - er erscheint als der einzige konstante Faktor unter den proteischen und unberechenbaren Identitäten: das materiell fassbare Substrat, das alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Identitäten beinhaltet, trägt und ausfuhrt.« (Bauman 1995b, S. 229) jo Vgl. dazu den Beitrag von Martina Low in diesem Band. ji Vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Fuchs in diesem Band. 32 Ähnlich heißt es bei Merleau-Ponty 1966, S. 224: »Es geht schlechterdings nicht 23
einandersetzung mit dem Körper in den Sozialwissenschaften schon bei Marcel Mauss - und doch hat sich die Beschäftigung mit dem Körper offenbar immer neuer Naturalisierungsversuche zu erwehren. Trotz dieser Zurechnungen aber - der Körper als Realitätsgarantie, Kontingenzbewältiger und Ausweis des Konkreten - unterliegt selbstverständlich auch der Körper den Kontingenzen und Uneindeutigkeiten, wird auch er zu etwas gerade nicht mehr länger Selbstverständlichem, unterliegt auch er der Auflösungsdynamik der Moderne, als dessen Gegenmittel er oft in Stellung gebracht wird.33 Damit aber ist seine Funktion in Frage gestellt, als Konkretes inmitten des Abstrakten, als Festes und Geschlossenes in Zeiten allgemeiner Verflüssigung und Öffnung zu gelten. Wenn aber der Körper selbst den Verflüssigungstendenzen unterliegt, dann gilt es zu fragen, was wir eigentlich unter Körper noch verstehen wollen.
7. Worüber reden wir, wenn wir vom Körper reden, oder: Was ist der Körper? Stellt man die Frage, was der Körper ist, so wird man zunächst auf die generelle Aussage verweisen können, daß jeder materielle Gegenstand als Körper bezeichnet werden kann. Körper ist alles das, was einen meßbaren Raum ausfüllt. Im mathematischen Sinne gilt jedes dreidimensionale Gebilde als Körper. Folgerichtig listet der DUDEN unter dem Stichwort >Körper< eine ganze Reihe von Körpern auf, die wir aus unserem Alltag kennen: Beleuchtungskörper, Feuerwerkskörper, Flugkörper, Fremdkörper, Heizkörper, Himmelskörper, Hohlkörper, Knallkörper, Schwimmkörper, Sprengkörper. Körper stellen »ein ringsum begrenztes Gebilde« dar (DUDEN) und kommen damit einer Auffassung des Raums sehr nahe, die diesen als Behälter definiert (vgl. Low 1999, Schroer 2003). Raum wie Körper sind demnach nach Außen hin geschlossen und können aufgefüllt werden. Damit wird ein Körperinneres klar von einem Körperäußeren unterschiean, beim Menschen eine erste Schicht von >natürlich< genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte Schicht der geistigen oder KulturWelt unterscheiden zu wollen.« 3 3 Etwas ähnliches hat wohl auch Jean Clam (2000, S. 250) im Blick, wenn er lapidar notiert: »Wie alles andere in der modernen Gesellschaft haben Körper keinen Halt.« 24
den. Mit dieser Vorstellung setzt sich ein Körperbild durch, das den Körper als eine gegenüber seiner Umwelt abgeschlossene Einheit denkt. Diese auch heute noch immer verbreitete Körpervorstellung ist allerdings alles andere als selbstverständlich, sondern Resultat des mit dem Zeitalter der Aufklärung einsetzenden Rationalisierungsprozesses (vgl. Benthien 2001, S. 39). Im antiken Griechenland gab es dagegen noch gar keinen Begriff für den Körper als Ganzes. Es gibt lediglich Bezeichnungen für verschiedene Teile des Körpers oder Aspekte der Körperlichkeit. >Demas< steht für die Gestalt oder die Statur, >eidos< meint den sichtbaren Aspekt, >chros< bezeichnet die äuß Umhüllung, die Haut. Allein das Wort >soma< steht für die Gesamt heit des Körpers, meint aber ursprünglich den toten Körper, also den Leichnam (vgl. Vernant 1989, S. 21 f.). Insofern ist es keineswegs selbstverständlich, den Körper als eine Einheit zu begreifen, »dem das Bewußtsein, das Denken oder der Geist als ein anderes System gegenübersteht« (Hahn 2000b, S. 353).34 Die heutige Situation scheint mir vor allem davon geprägt zu sein, den Körper gewissermaßen als letztverbleibende Einheit gegen die mit dem gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß einhergehenden Auflösungsprozesse setzen zu wollen, während andererseits kulturelle Praktiken und mediale Darstellungen des Körpers von der Faszination zeugen, die Einheit des Körpers nicht als ein für allemal biologisch festgelegt zu erachten, sondern gerade seine Grenzen in Frage zu stellen. Ich komme weiter unten noch darauf zu sprechen. An dieser Stelle sollen diese Hinweise nur deutlich machen, daß die Antwort auf die Frage, was der Körper sei, nur lauten kann: Das, was in den verschiedenen Zeitaltern, Gesellschaften und Kulturen darunter verstanden wurde und wird. Insofern lauten die Fragen, mit denen sich eine Soziologie des Körpers zu beschäftigen hätte: Auf welche Weise wird der Körper sozial und kulturell konstruiert? Wie wird über ihn kommuniziert? Wie und von wem wird er beobachtet? Welche Unterschiede gibt es dabei im zeitlichen und kulturellen Vergleich festzustellen? Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit der Körper Aufmerksamkeit erlangt? Welche Funktion erfüllt die Rede über den Körper? Was sagt eine Körperorientierung bzw. -Vernachlässigung über die jeweilige Gesellschaft aus? 34 Die Vorstellung vom Körper als Ganzheit korrespondiert zudem nicht mit der Tatsache, daß wir »eine Erfahrung unseres ganzen Körpers [...] nicht gewinnen« (Mead 1973, S. 178) können. 25
Die ontologischc Fragestellung Was ist der Körper? läuft dagegen Gefahr, zu einer Substantialisierung und Essentialisierung des Körpers beizutragen (vgl. Gugutzer 2004, S. 153), mit der die schon von Mauss vorgegebene Einsicht untergraben zu werden droht, daß es den Körper jenseits seiner kulturellen und sozialen Modellierungen gar nicht gibt. Was dem Gehenden oder Schwimmenden als natürlich erscheint, ist in Wahrheit Ergebnis kultureller Techniken, die sich in ihn eingeschrieben haben. Jeder, der sich entschließt, eine neue Sportart oder ein Musikinstrument zu erlernen, wird - im buchstäblichen Sinne - schmerzlich daran erinnert, wie wenig natürliche Voraussetzungen er mitbringt, um diese Sportart ausüben oder dieses Instrument spielen zu können und wie mühsam und langwierig es ist, es trotz aller Widrigkeiten und Widerstände des Körpers dennoch zu schaffen. Der Erfolg ist freilich keineswegs garantiert: Wer über 30 Jahre alt ist und bei dem Versuch eine SMS zu schreiben je einem Jugendlichen bei dieser Tätigkeit zugesehen hat, der wird angesichts der extrem verschiedenen Geschwindigkeiten, die dabei zu beobachten sind - frustriert feststellen, daß seine Finger für diese Art der Kommunikation schlicht und einfach nicht (mehr) geeignet sind. Ob nun aber erfolgreich oder nicht: Der Körper befindet sich in der zwiespältigen Rolle, zugleich Quelle des Widerstands als auch Instrument beim Erlernen neuer Fertigkeiten zu sein. Die ontologische Frage nach dem Körper scheint selbst noch Ausdruck des Bedürfnisses zu sein, ein Jenseits der Beobachtung, des Diskurses, der Konstruktion annehmen zu wollen, das all diesen Operationen vorausgeht. Der Körper bietet sich dafür - ähnlich wie der Raum - in ganz besonderer Weise an.35
35 Hinsichtlich des Raums läßt sich dies zum Beispiel auch daran erkennen, daß eine gewisse Distanz gegenüber den Konstruktionsannahmen bis weit in das Lager des Konstruktivismus hineinreicht. Rudolf Stichweh (zooj, S. 95) etwa kritisiert die mangelnde Aussagekraft der Rede über die soziale Konstruktion sozialer Tatbe stände, um daraufhin von der »Exteriorität oder Externalität«, ja von einer »Trans zendentalität von Raum und Zeit« zu sprechen. 26
8. Felder der Thematisierung des Körpers Körper im Einsatz - Körper, Politik und Protestbewegungen Der Körperbezug des Politischen ergibt sich zunächst daraus, daß der Aufbau und das Funktionieren politischer Gemeinwesen in den klassischen Texten der politischen Philosophie - von Aristoteles bis Thomas Hobbes - immer wieder mit dem Funktionieren des menschlichen Körpers verglichen wird. In neuerer Zeit haben wir es dagegen weniger mit der Politik als Körper als vielmehr mit dem Körper des Politikers zu tun. Körperliche Merkmale der politischen Akteure werden spätestens seit dem unaufhaltsamen Ausbau einer Mediengesellschaft nicht mehr als Nebensächlichkeiten behandelt, sondern zu zentralen Komponenten des politischen Lebens. Auf die äußerlichen Merkmale wird größter Wert gelegt. Ob Bart, Brille, Haartracht, Körperumfang, Kleider, Gang, Mimik — all das ist nicht nur relevant und berichtenswert, sondern mitunter auch wahlentscheidend.36 Da wird es zur elementaren Frage, ob der deutsche Bundeskanzler seine Haare färbt oder nicht und der Kandidat für das Amt des deutschen Präsidenten im Rollstuhl sitzt oder nicht. Ebenso werden von der wechselnden Körperfülle des deutschen Außenministers regelmäßig Rückschlüsse auf seine momentane private Situation zu ziehen versucht. Körperlichen Unterschieden wird darüber hinaus auch gerne symbolischer Wert zugesprochen. Das Zusammentreffen des klein und hager wirkenden Lothar de Maiziere mit dem korpulenten deutschen Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl während der Verhandlungen über die »deutsche Einheit« wurde als Symbol für die Begegnung zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten genommen. Der »Kniefall« Willy Brandts wäre ein Beispiel für die symbolische Kraft körperorientierter Handlungen. Aufgrund dieser Bedeutung des Körpers für die Übermittlung politischer Botschaften lassen sich Berufspolitiker in diesen Fragen inzwischen längst ebenso beraten wie in Fragen der Außenpolitik. In dem vom amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf übernommenen Fernsehduell zwischen dem amtierenden Kanzler Gerhard 36 So soll etwa Richard Nixon die Präsidentschaftswahlen von i960 gegen J. F. Kennedy nur aufgrund von dessen erfolgreicherer Medienpräsenz (knapp) verloren haben. 17
Schröder und seinem Herausforderer Edmund Stoiber beispielsweise sollte dem Zuschauer nichts verborgen bleiben: Kein Blick, kein Zucken, kein Versprecher blieb von den Augen (sie!) der Kameras unbemerkt. Jede Geste, jede Miene wird ins Bild gerückt und zur Interpretation freigegeben. Die Kamera filmt nicht einfach passiv diese zum »Showdown« stilisierte Begegnung politischer Rivalen ab, sondern macht mit Großaufnahmen und Zoom aufmerksam auf Gesten und Mienenspiel, an denen die Sicherheit oder Unsicherheit, Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit, Kompetenz oder Inkompetenz des Kandidaten und des Amtsinhabers abzulesen sein soll. Der Politiker unterliegt dieser besonderen visuellen Überwachung ebenso wie er sie für seine Zwecke auszunutzen versteht. Er inszeniert sich seinerseits als glaubwürdig, kompetent und souverän, die Lage stets beherrschend für die Kameras und erwartet, daß die Darstellung beim Zuschauer auch entsprechend >rüberkommt<.37 Aber nicht nur auf dem Feld der Berufspolitik ist der Körper im Einsatz. Auch auf dem Feld des politischen Protests hat er stets eine bedeutende Rolle gespielt: »Von den plebejischen Aufständen in Rom bis zu den 6 8er-Unruhen an den Hochschulen und den heutigen Anti-Atomkriegs-Protesten hat der menschliche Körper die Sprache und selbst den Text bereitgestellt für jeden politischen Protest und seine Konfrontation mit jenen Behörden, die die Inhumanität des Politischen verwalten.« (O'Neill 1990, S. 48) Insbesondere bei den Protestaktionen der sogenannten neuen sozialen Bewegungen (vgl. Schroer 1995; 1997) stehen körperliche Belange im Vordergrund. »Der am meisten gefürchtete Schaden«, so eine Beobachtung Zygmunt Baumans (1995b, S. 235), scheint »derjenige, der durch Eindringen in die Haut oder Berührung mit ihr zur Vergiftung oder Verstümmelung des Körpers führen kann (in jüngster Zeit haben jeweils solche Ereignisse die größte Panik verursacht, bei denen es um Rinderwahnsinn, Salmonellen in Eiern, Krabben, die mit vergifteten Algen gefüttert wurden, die Versenkung von giftigem Müll ging - wobei die Intensität der Angst mit der Bedeutung des Körpers für die Selbstkonstituierung korreliert und weniger mit der statistischen Bedeutung der Ereignisse und dem Ausmaß des möglichen 37 Dabei setzen Politiker auch gerne selbst ihren Körper ein. So warb der damalige Ost-Pfarrer Thomas Krüger im Bundestagswahlkampf 1994 nackt auf Plakaten der SPD mit dem Satz: »Eine ehrliche Haut*.
Schadens)«.38 Gewissermaßen als Antwort auf die Bedrohung des Körpers geht es bei Demonstrationen nicht zuletzt um die Versammlung möglichst vieler Körper, die »die Ernsthaftigkeit, ja Lebensbedrohlichkeit der Risiken« zu beweisen scheinen (Luhmann 1991, S. 151). Der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer hatte die Lektion der neuen Protestbewegungen gelernt, als er - die spektakulären Aktionen etwa von Greenpeace imitierend - mit einem beherzten Sprung in den Rhein auf dessen wiedererlangte Sauberkeit hinweisen wollte. Es ist also im einen (Berufspolitiker) wie im anderen Fall (Protestbewegungen) der Einsatz des Körpers, der die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit einer politischen Botschaft zu vermitteln vermag. Diese Bedeutung des Körpers verweist auf die hohe Bedeutung, die der Anwesenheit noch immer zugesprochen wird - gerade in Zeiten zunehmender Möglichkeiten der Kommunikation unter Abwesenden. Nicht allein die Zusage von monetären Soforthilfeprogrammen, sondern auch die Anwesenheit des Bundeskanzlers Schröder während der Flutkatastrophe 2002 in den betroffenen Gebieten und die entsprechenden Bilder in den Medien scheinen diesem die Wiederwahl ermöglicht zu haben. Der enge Zusammenhang zwischen Politik und Körper zeigt, daß der Körper als eine Art Aufmerksamkeitsgenerator fungiert. Wer etwas erreichen will, muß seinen Körper einsetzen. Kämpfende Leiber — Der Körper, die Gewalt und der Krieg Einen weiteren Anteil an der Thematisierung des Körpers hat die neuere Gewaltsoziologie. Folgt man Trutz von Trotha (1997) so hat sich die bisherige Gewaltsoziologie eher als eine Soziologie der Ursachen der Gewalt betätigt, den Bedingungen nachgespürt, die zur Anwendung von Gewalt fuhren können, sich aber nicht mit der Gewalt selbst auseinandergesetzt. So lange dies der Fall war, so lange war auch der Körper in der Gewaltsoziologie gewissermaßen nicht anwesend. In der neueren, »innovativen Gewaltforschung« dagegen 38 Die Sorge um den Körperkwn unter diesen Bedingungen schnell zu einem »Kleinkrieg gegen den eigenen Körper« umschlagen. »Hinter der Furcht vor den äußeren Giften lauert die Angst vor dem eigenen Körper, der diesen Stoffen Eintritt in die eigenen Organe gewähren könnte. Damit wird der Körper zum entscheidenden Feind.« (Bopp 1987, S. 63) 29
kommt es - jenseits der Thematisierung der Ursachen der Gewalt zur Konzentration auf die Gewalt selbst und damit auf den Körper. Die neuere Gewaltsoziologie folgt mit dieser Gewichtsverlagerung der allgemeinen Umstellung von den Warum- zu den Wie-Fragen. Theoretisch angeleitet wird diese Variante der Gewaltforschung vor allem durch die Theorie der Gewalt von Heinrich Popitz (1992, S. 43ff.), die die physische Gewalt in den Mittelpunkt stellt. Entgegen den Versuchen, den Gewaltbegriff weit zu fassen, indem Formen von struktureller oder symbolischer Gewalt hinzugenommen werden (vgl. Schroer 2000), versteht Popitz unter Gewalt eine »Machtaktion, die zur absichdichen körperlichen Verletzung anderer führt« (Popitz 1992, S. 48). An diese Definition von Gewalt anschließend rücken Gewaltforscher wie etwa Wolfgang Sofsky den Körper in den Mittelpunkt ihrer Gewaltanalysen (vgl. Sofsky 1996). Dabei kann auf eine ganze Reihe aktueller Gewaltexzesse Bezug genommen werden. Weist der Entwicklungspfad kriegerischer Auseinandersetzungen auf den zunehmenden Einsatz von Waffen, die es ermöglichen, den jeweiligen Gegner auch über weite Entfernungen hinweg treffen zu können, so stehen wir aktuell vor dem Phänomen wiederkehrender, geradezu archaisch anmutender Gewalt von Körper zu Körper. Konnte Popitz noch feststellen: »Gekämpft wird zunehmend ohne Körperkontakt« (Popitz 1992, S. 72), so sind wir heute Zeugen einer Wiederkehr körpernaher Gewaltakte: »Der Exzeß sucht die Nähe zum Opfer.« (Sofsky 1996, S. 81) Während Sofsky (1996, S. 182) einerseits - ähnlich wie Popitz (1992, S. 74f.) - die mit der Entwicklung der Distanzwaffen einhergehende »innere Teilnahmslosigkeit« der Täter beschreibt, hebt er andererseits hervor, daß mit zunehmender Mechanisierung der Massaker »die sinnliche Genugtuung schwindet«. Damit legt er gewissermaßen den Finger in die Wunde: Konnte man bisher die Entwicklung der Distanzwaffen auch als Entlastung der Gewalttäter begreifen, so wird unter diesem Blickwinkel klar, daß sie auch um ein sinnliches Erlebnis gebracht werden: »Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, menschliche Greueltaten bedürften der sozialen Entfernung und der Dehumanisierung des Opfers. Als könnten Menschen nur Lebewesen quälen und abschlachten, welche sie nicht als ihre Artgenossen ansehen. Der Verlauf des Massakers beweist das Gegenteil. Wo es irgend geht, verrichtet der Mörder Handarbeit auf kurze Distanz. Er will den Tod arbeiten, will den Körper bluten und der Todesangst ins Auge sehen.« (Sofsky 1996, S. 181) 30
Gewalterfahrung erinnert aber vor allem auch daran, daß der Körper nicht abkoppelbar ist vom »Rest« der Person (Popitz 1992, S. 45). Gerade »der Körper im Schmerz« (Scarry 1992) unterstreicht die These, daß wir nicht nur einen Körper haben, sondern auch Körper sind. Wir können während einer an unserem Körper verübten Folter eben nicht unseren Körper aus der Distanz heraus betrachten, so als ließe er sich vorübergehend ausschalten. Geschlechterkörper - der Körper in den
Gender-Studies
Die Geschlechterforschung ist eine der treibenden Kräfte beim Aufbau einer Soziologie des Körpers. Gerade in diesem Feld wird die für die Körpersoziologie grundlegende Frage diskutiert, inwieweit der Körper als natürlich gegeben oder als kulturell erzeugt zu gelten hat. Im Alltag ist die Vorstellung noch immer weit verbreitet, die lange Zeit über auch in der Wissenschaft gegolten hat und kaum hinterfragt wurde: Es gibt Frauen und Männer. Der Hinweis auf den Unterschied der körperlichen Merkmale von Männern und Frauen verleiht der Unterscheidung eine scheinbar unhinterfragbare Evidenz.39 Man kommt entweder als Mann oder als Frau zur Welt und bleibt während der je individuellen Lebensspanne auch Angehöriger entweder des einen oder des anderen Geschlechts. Eine Konversion oder gar ein Switchen zwischen den beiden Geschlechtern scheint undenkbar. Gerade im Bereich der Geschlechterforschung ist die Soziologie ihrem Ruf gerecht geworden, eine »Lehre vom zweiten Blick« (vgl. Luhmann 1981, S. 170) zu sein, indem sie fragt: Ist die Unterscheidung von Mann und Frau wirklich so evident, wie es den Anschein hat? Der berühmten Einsicht Simone de Beauvoirs (1990, S. 265) folgend - »Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es« - , haben Feministinnen sich zunehmend gegen die Auffassung gewehrt, daß das Geschlecht als biologisch bedingt und damit von jedem Individuum als unhinterfragbares und unabänderliches Schicksal hintunehmen ist. Ganz im Gegenteil geht es im feministischen Diskurs darum herauszuarbeiten, daß es sich beim Geschlecht um eine sociale Konstruktion handelt. Die Idee vom konstruierten Geschlecht weiter verfolgend und die vom biologischen Geschlecht beibehaltend, 19 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Meuser in diesem Band.
etabliert sich in der Geschlechterforschung die Unterscheidung von sex und gender. Während sex für das biologische Geschlecht steht und damit auf Frauen- und M'inncr körper verweist, bezeichnet gender das soziale Geschlecht und verweist damit auf das Frau- bzw. ManiMH». Die amerikanische Philosophin Judith Butler löst in ihren für die Geschlechterforschung folgenreichen Arbeiten »Das Unbehagen der Geschlechter« (Butler 1991) und »Körper von Gewicht« (Butler 1997) diese nach einem Kompromiß zwischen Naturalismus und Konstruktivismus aussehende Unterscheidung von sex und gender durch die These auf, daß nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht eine Konstruktion ist. Damit ist die Vorstellung eines natürlich gegebenen Geschlechts, dem erst anschließend die verschiedenen Identitäten und Rollenmuster übergestülpt und aufgenötigt werden, nachhaltig desavouiert. Statt mit der Natur als Erklärungskategorie zu argumentieren, wird der Hinweis auf die Natur im Geschlechterdiskurs in einer an Foucault geschulten »kritischen Genealogie« (Butler 1991, S. 9) seines scheinbar wissenschaftlich-neutralen Charakters beraubt und als Kategorie entlarvt, in der sich politische Interessen und soziale Machtverhältnisse niederschlagen. Mit dieser Herangehensweise steht Butler für eine Perspektive, die nicht danach fragj, was der Körper ist, sondern sich dafür interessiert, wie Geschlechterkörper hergestellt werden. Als eigentlicher Clou ihrer Argumentation erweist sich dabei die Annahme eines umgekehrten Bedingungsverhältnisses wie in der traditionellen Sichtweise: Es gibt keinen der diskursiven Herstellung des Geschlechts vorgelagerten natürlichen, diskursunabhängigen, materiellen Körper, der gewissermaßen erst anschließend mit Diskursen überzogen wird. Vielmehr ist bereits der materielle Körper »vollständig erfüllt mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht« (Butler 1997, S. 55). Sex bzw. das biologische Geschlecht ist also immer schon gender bzw. das soziale Geschlecht. Wenn überhaupt, dann ist nicht gender als das Resultat von sex zu verstehen, sondern genau umgekehrt sex als das Ergebnis von gender. Einen außerhalb seiner gesellschaftlichen Konstituierung und Zurichtung stehenden Geschlechterkörper gibt es nach dieser Auffassung also nicht.40 40 Natürlich ist diese radikale Auffassung Butlers nicht ohne Widerspruch gehlieben. Barbara Duden u.v.a. haben sich vehement gegen die Annahme einer vollständigen Diskursivierung des Körpers bzw. »Entkörperung der Geschlechter« (vgl. Duden 1993) ausgesprochen.
Für eine Soziologie des Körpers ist das Feld der Geschlechterforschung m.E. gerade deshalb so ergiebig, weil hier die verschiedenen Theorien über den Körper zusammenlaufen und die elementaren Fragen einer Soziologie des Körpers gestellt werden. Formbare Körper - Sport als Körper-Event Im Sport ist die Thematisierung des Körpers gewissermaßen zu Hause. Hier hat man es mit einem Feld zu tun, das definitiv nicht vom Körper abstrahieren zu können scheint. Anders als in anderen Zusammenhängen, aus denen er (vorübergehend?) verbannt schien, war er hier immer anwesend und unübersehbar. Schließlich läßt sich Sport definieren als »geregelte Manipulation des Körpers« (Bourdieu 1992, S. 206). Dennoch gibt es auch auf diesem Feld eine erstaunliche Anzahl von Arbeiten, die sich der Organisation des Sports, seiner Vereinsstruktur, den verschiedenen Sportarten usw. widmen, den Körper dabei aber nur am Rande berücksichtigen.41 In der sich formierenden Freizeitgesellschaft kommt dem Körper allerdings eine so überragende Bedeutung für die Erhaltung der Gesundheit des Körpers zu, daß auch die Sportsoziologie sich des Körpers verstärkt angenommen hat. Gerade vor dem Hintergrund steigender Kosten bei der Prävention und Bekämpfung von Krankheiten, erreicht der Sport als gesundheitsfördernde Maßnahme einen hohen Stellenwert: »Unsportlichkeit wird geradezu zu einem gesellschaftlichen Stigma.« (Prahl 2002, S. 211) Insofern ist »das fieberhafte Interesse, das wir dem Körper entgegenbringen [...] mitnichten spontan und frei, es gehorcht gesellschaftlichen Geboten, etwa dem Gebot, auf seine >Linie< zu achten, nicht aus der >Form< zu gehen, dem Gebot des Orgasmus usw.« (Lipovetsky 1995, S. 88f.) Im engen Verbund mit der Medizin arbeitet der Sport am Bild des ewig jung aussehenden, gesund und fit bleibenden Körpers, dem Alter und Tod nichts anhaben können, wenn sein Besitzer sich nur regelmäßig den Strapazen des Fitneßstudios unterzieht. Der dadurch erreichte Zustand des Körpers - Ausdauer, deudich verstärkter Muskelaufbau und sogenannte »Waschbrettbäuche« - soll sich dabei als Kapital erweisen, um damit in anderen Bereichen entsprechende Gewinne erzielen zu können. Dabei ist vor allem an beruflichen Erfolg und an die Steigerung 41 Immerhin aber ist in der Sportsoziologie bereits 1908 von der »Körperkultur« (Hessen 1908, S. 78) die Rede, zu der der Sport ausdrücklich hinzugezählt wird. 33
sexueller Akte aufgrund der Erhöhung körperlicher Attraktivität zu denken. Neben diesem instrumentellen Umgang ist aktuell auch ein Umgang mit dem Körper zu beobachten, der zu einem tiefgreifenden Wandel dessen fahrt, was unter Sport verstanden werden kann. Nichc mehr der gesunde Körper ist hier noch das Ziel der Turnvater Jahnschen »körperlichen Ertüchtigung«, sondern der ultimative Kick, das Risiko, die Herausforderung, der riskierte und »aufs Spiel gesetzte Körper« (Alkemeyer u.a. 2003). Beim Erlebnissport beispielsweise steht die permanente Grenzüberschreitung im Vordergrund42 und dies im zweifachen Sinne: Auf der einen Seite verlassen einzelne Sportarten die ihnen zugewiesenen Räume und auf der anderen Seite werden ständig neue Belastungsgrenzen des Körpers erprobt. Dabei zeigt sich, daß wir es im Bereich der Körperpraktiken mit ähnlichen Machbarkeitsphantasien zu tun bekommen, wie im Hinblick auf den Glauben an die Beherrschbarkeit der natürlichen Umwelt, der Technologien usw. Ebenso wie in diesem Fall Unfälle und Katastrophen an die Unmöglichkeit der totalen Beherrschbarkeit erinnern, zeigt auch der Körper die Grenzen seiner Belastbarkeit43 auf- etwa dann, wenn unter der mit Hilfe von Drogen erreichten Fitneß das Immunsystem der Profisporder zusammenbricht. Arbeit am Körper/Kampf dem Körper - Diäten, Schönheitsoperationen und Body Modification Michel Foucaults dreibändiges Werk »Sexualität und Wahrheit« (Foucault 1977; 1986a; 1986b) hat noch einmal deutlich werden lassen, daß das Einwirken auf den Körper nicht erst ein Phänomen der Moderne ist. Vielmehr werden bereits in der Antike Empfehlungen ausgesprochen, wie mit dem Körper zu verfahren ist. Im Laufe der Zeit steigert sich die »hygienische Aufmerksamkeit der Menschen sich selbst gegenüber« allerdings derart, daß das bürgerliche Subjekt schließlich vor allem »mit der dauernden, regelmäßigen Observierung seines Körpers beschäftigt« ist: »die Verantwortung, die es für sich hat, erstreckt sich nicht länger nur auf die Reinheit der Seele, die Lauterkeit seiner Absichten oder die Treue seiner Pflichterfüllung, sondern auch aufsein physisches Wohlergehen.« (Sarasin 42 Vgl. dazu den Beitrag von Karl-Heinrich Bette in diesem Band. 43 Vgl. dazu den Beitrag von Roben Gugutzer in diesem Band. 34
2001, S. 22)44 Die »Sorge um den Körper« (Goffman 1986, S. 192; Shusterman 1994) ist insofern keineswegs neu, hat aber in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts einen noch immer anhaltenden, enormen Aufschub erlebt. Ob Diäten, Fitneßtrainings und Schönheitsoperationen, ob Body-Building, Tattoos oder Piercing, ob Branding, Cutting oder Stretching45 - jede dieser sehr verschiedenen Körperpraktiken vermittelt die Botschaft, daß der Körper, so wie er ist, nicht mehr hingenommen, nicht mehr als Schicksal akzeptiert werden muß, sondern verändert werden kann, zur Option geworden ist.46 Der Körper erscheint nicht mehr länger als biologische Gegebenheit, mit der man alternativlos zu leben hat. Vielmehr wird es möglich, ihn neu zu gestalten, zu verändern und zu erweitern. Dabei wird man im einzelnen zu unterscheiden haben - wobei die Grenzen oft fließend sein dürften - zwischen Körperpraktiken, die den Körper im Sinne einer Revolte gegen das Altern und den Tod möglichst lange erhalten, den Körper perfektionieren wollen im Dienste eines bestimmten Schönheitsideals, ihn modifizieren zum Zwecke der Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Jugend-)Szene47 oder ihn malträtieren und dabei den Umgang mit dem Körper wie eine Gegenbewegung zum »Schönheitsterror« aussehen lassen.48 Während die Maßnahmen der Erhaltung und Perfektionierung den schönen, 44 »Every morning, we do various things to our body in order to present it as an acceptable body for those wc will meet mroughout the day.« (Corrigan 1997, S. 151) 45 Unter Stretching versteht man Gewebedehnungen, unter Cutting Gewebeschnitte und unter Branding das Einbrennen von Mustern auf die Haut. Da diese Praktiken auf Vorbilder bei Urvölkern und in »primitiven« Kulturen verweisen, werden die Anhänger dieser Praktiken auch die »Modern Primitives« genannt. 46 Vgl. dazu auch den Beitrag von Werner Schneider in diesem Band. 47 Bei Durkhcim (1981, S. 318) heißt es über die Tätowierung: »Die beste Art, sich und anderen zu beweisen, daß man ein und derselben Gruppe angehört, ist eben, sich auf den Körper ein Erkennungszeichen einzuprägen.« 48 Natürlich sind auch andere Einteilungen vorstellbar: Shusterman (1994, S. I46f.) unterscheidet zwischen »solchen somatischen Praktiken, die sich auf die äußere Erscheinungsform des Körpers, auf seine wahrnehmbare äußere Form, konzentrieren, und solchen, bei denen im Vordergrund steht, wie der Körper von innen her empfunden wird, also die Qualität des Körpererlebens.« Zu der ersten Kategorie, die er »Somatik der Darstellung« nennt, zählt er Kosmetik, plastische Chirurgie und Bodybuilding. Zur zweiten, »Somatik des Erlebens« genannten Kategorie zählt er »Yoga und andere Disziplinen der Übung des Körperbewußtseins«. Myers (1992, S. 267) unterscheidet zwischen den Kategorien tempomry (»can be washed off, dusted away, or simply lifted off the body«) und permanent (»result in indelible 35
durchtrainierten und gesunden Körper zum Ziele haben, geht es in den Körpermodifizierungen und -manipulationen der Jugendszenen um eine radikale Abkehr von diesen Idealen bis hin zu selbstzerstörerischen Praktiken. Wo es so sehr auf die Körperhüllen ankommt, wie in unserer (post) modernen Gesellschaft, auf ihre Makellosigkeit, ihre faltenlose Glätte und Straffheit, wächst offenbar der unwiderstehliche Wunsch, durch diese körperliche Hülle hindurchzudringen, sie aufzureißen, um zu sehen, was dahinter verborgen ist.49 Je mehr Körper mittels der Schönheitschirurgie standardisiert werden, desto mehr Faszination erlebt vor diesem Hintergrund die Abweichung. Die Individuen befinden sich auch hier in dem Dilemma zwischen dem Willen zur Individuierung und zur Zugehörigkeit. Sie wollen Attribute am Körper, die sie von anderen unterscheiden und sie wollen zugleich das ablegen, was sie absondert. Obwohl die Körpermodifikationen Folge der Individualisierung sind und als Ausdruck von Individualität gelten sollen, arbeiten sie zugleich auch dem Gegenteil zu: einer zunehmenden Konformität des äußeren Erscheinungsbildes. Die Arbeit am Körper ist dabei nicht allein als Mittel gedacht, um andere Ziele zu erreichen: einen guten Job, einen ansprechenden Partner etc. Vielmehr kann die Arbeit am Körper auch ganz und gar selbstbezüglich werden, so daß das Ziel der Körperbetätigung schlicht die Körperbetätigung ist. Ist der gestählte und durchtrainierte Körper Jedoch einmal hergestellt, läßt er sich dann freilich für die verschiedensten Dinge nutzen. Er ist gleichsam ein latent vorhandenes, jeder Zeit einsetzbares, mobiles Kapital, das sich offensichtlicher als soziales und kulturelles Kapital zum Einsatz bringen läßt. Es ist somit die adäquate Kapitalform in einer Kultur der Sichtbarkeit. Die Konzentration auf den Körper paßt zu einer Gesellschaft, in der man glaubt, nicht mehr durch die alten Tugenden wie Fleiß, Leistung und Vitamin B es »zu etwas zu bringen«, sondern durch zufällig sich ergebende Konstellationen. In den Körper wird investiert, weil man es keineswegs für ausgeschlossen hält, plötzlich entdeckt zu werden (vgl. Neckel 1999). Man hält sich bereit für diesen Augenmarkings on die surface of the body«). Robert Schulze-Estor (2000, S. 4)) schlägt die Kategorien soft, hard und extreme vor. 49 Einem Wunsch, dem nicht zuletzt in zahlreichen, auf die Sezierung von Körpern spezialisierten Krimis, die sich in immer neuen Varianten der Schilderung von Körpermartern überbieten, entsprochen wird. 36
blick, der die große Wende bringen könnte. Der Körper befindet sich in der Zwischenzeit gewissermaßen in Lauerstellung.
Distinkte Körper - Körper, Klasse und soziale Ungleichheit Den Körper als Kapital einzusetzen, steht Bourdieu zufolge nicht jedem Individuum frei. Die Art und Weise des Umgangs mit dem Körper ist vielmehr von seiner jeweiligen Klassenzugehörigkeit abhängig. Von Geburt an prägen Ernährungsweisen, Erziehungsstile usw. den einzelnen nicht nur kognitiv, sondern leibhaftig. Seine Erfahrungen und Erlebnisse schreiben sich gewissermaßen in seinen Körper ein. Dem Körper sieht man seine Prägung durch die soziale Klasse, aus der er stammt, an. Bis in die kleinsten Gesten hinein verrät der Körper die Herkunft seines Trägers. Der einzelne hat einen Habitus erworben, dem gemäß sich seine Vorlieben und Fähigkeiten gestalten. Die Wahl bestimmter Getränke, Speisen und Sportarten, die Vorliebe für bestimmte Musikstile, bestimmte Literaten oder Epochen der Kunstgeschichte etwa sind keineswegs Ausdruck eines individuell zurechenbaren Geschmacks, sondern Ausdruck eines Klassengeschmacks. Gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam wählt der einzelne aufgrund seines Habitus genau das aus, was sich als kompatibel und passend zu seinem Habitus erweist, so daß es nach Bourdieu kaum zu irritierenden Berührungen oder gar Konfrontationen zwischen den Klassen kommt. (Vgl. Bourdieu 1982, S. 305ff.) Die intensive Beschäftigung mit dem Körper wird dabei als typische Erscheinung von Wohlstandsgesellschaften interpretiert. Der Zeitaufwand für Körperpflege gilt als Luxusphänomen (Boltanski 1976, S. 156ff.), dem nur wenige nachgehen können. Für diese These spricht zunächst einiges. Denn die entsprechenden Angebote der Wellnessund Fitneßindustrie sind durchaus kostenintensiv und deshalb nicht von jedermann nutzbar. Darüber hinaus erfolgt die intensive Beschäftigung mit dem Körper vor allem in der Freizeit, über die nicht jeder im Übermaß verfügt. Gerade aufgrund dieser verschiedenen Zugänge zu den Angeboten der Körperindustrie dienen körperliche Unterschiede zur Markierung sozialer Differenzierungen: »Der Körper ist [...] in derselben Weise wie all die anderen technischen Dinge, deren Besitz den Platz des Individuums in der Klassenhierarchie bezeichnet, durch seine Farbe (bleich, gebräunt), durch seinen Bau 37
(schlaff und weich oder fest und muskulös), durch sein Volumen (beleibt oder schlank, untersetzt oder hochgewachsen), durch Weite, Form und Geschwindigkeit seiner Bewegungen im Raum (linkisch oder anmutig) ein Statussymbol.« (Ebd. 1976, S. 170) Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, wie sehr der Körper gerade von marginalisierten Gruppen benutzt wird, um zu Wohlstand zu gelangen oder auch nur auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Zudem zeigt der Blick auf die verschiedenen Formen der Körperpraktiken, daß einige davon geradezu kostenneutral ausgeübt werden können. Entscheidend für eine Soziologie sozialer Ungleichheit, die den Körper berücksichtigt,50 ist, daß nicht zuletzt das körperliche Erscheinungsbild über Erfolg oder Mißerfolg im Beruf und in der Freizeit (mit)entscheidet.51 Die Liste der Felder, in denen auf den Körper Bezug genommen wird, ließe sich beliebig erweitern - um die Medizin und vor allem die Reproduktionsmedizin, Religion, Wirtschaft, Erziehungssystem, Medien u. v. m. Die Biotechnologien beispielsweise betreiben inzwischen das Geschäft der Sozialwissenschaften: Sie haben den Glauben an den Körper als Naturprodukt nachhaltiger und effektiver erschüttert als die sozialwissenschaftliche Botschaft von der gesellschaftlichen Konstruktion es je vermocht hätte. Und die Medien haben einen kaum zu unterschätzenden Einfluß auf die Präsenz des Körpers. Sie spielen eine enorme Rolle bei der Verbreitung des aktuellen Körperbildes: Gesund, fit und schön hat er zu sein. Die Präsenz des Körpers in den bisher genannten Feldern wird zudem durch den Einfluß der Medien um ein vielfaches gesteigert. Es sind die Medien, die den Körper des Politikers in den Vordergrund rücken, Gewaltphänomene anhand des Körpers zeigen und über Körperpraktiken der konventionellen und ausgefallenen Art massiv berichten. Körper und Medien sind beinahe symbiotisch aufeinander bezogen. Für den vorliegenden Zusammenhang soll die Auflistung und Er50 Vgl. dazu den Beitrag von Gerd Nollmann in diesem Band. 51 In diesem Sinne notiert schon Siegfried Kracauer in seiner Studie über die Angestellten (Kracauer 1975, S. 25) »Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schbnk zu erhalten.« 38
läuterung der genannten Felder dennoch genügen, um deutlich zu machen, in wie vielen Kontexten der Körper mittlerweile Berücksichtigung findet. Der eigentliche Anspruch der Soziologie des Körpers allerdings, nicht nur die Vergesellschaftung des Körpers, sondern auch eine Verkörperlichung der Gesellschaft zu etablieren, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Völlig zu Recht schreibt deshalb Ellen Kuhlmann (2004, S. 71): »Will es die Soziologie nicht dabei belassen, die disziplinaren Perspektiven auf den Körper zu ergänzen, sondern ihre Theorien vom Körper aus weiterentwickeln, bleibt noch einiges zu tun.« Dabei gilt es zu bedenken, daß die allgemeine Berücksichtigung des Körpers für die Soziologie in der Tat eine »Herausforderung« darstellt. Denn immerhin will die Soziologie des Körpers von ihrem Selbstanspruch her dazu beitragen, tief in die Soziologie eingelassene Gegensätze wie etwa den zwischen Individuum und Gesellschaft überwinden zu wollen. Von diesem Ziel scheint sie derzeit noch weit entfernt zu sein. Statt einer Überwindung bestehender Paradigmen und Dichotomien scheinen wir es bisher eher mit einer Einordnung des Körperthemas in die bestehenden Paradigmen zu tun zu haben. In den bisher vorliegenden Ansätzen zeigt sich weniger ein Aufbrechen verkrusteter Fronten als vielmehr die Übertragung der bereits bestehenden konkurrierenden Ansätze auf das Feld des Körpers. Die theoretische Erfassung des Körpers läßt sich in phänomenologische, handlungstheoretische, struktural istische, System theoretische Ansätze usw. einteilen. Dabei werden Grundlinien der Argumentation sichtbar, die es erlauben würden, von gefährlichen, gefährdeten und riskanten Körpern sprechen zu können (vgl. Schroer 2001a). Während die vom Ordnungsproblem ausgehenden soziologischen Theorien den Körper und seine Bedürfnisse hinsichtlich seiner Gefahren für den Bestand der sozialen Ordnung einer Gesellschaft thematisieren (vgl. Turner 1984), also einen gefahrlichen Körper im Blick haben, geht es auf der Gegenseite um die Abrichtung und Zurichtung, die Disziplinierung und Kontrolle des Körpers, der insofern als stets gefährdeter Körper erscheint. Zwischen diesen beiden Positionen vermittelt eine dritte Position, die nicht nur vom Einfluß des Körpers auf die Gesellschaft und vice versa handelt, sondern den Körper als dasjenige in Erscheinung treten läßt, das die Instanzen, auf die der Körper ebenso Einfluß hat wie sie auf ihn, allererst herzustellen in der Lage ist. Der in diesem Feld thematisierte Körper kann des39
halb als riskanter Körper beschrieben werden, weil die von ihm konstituierten sozialen Arrangements und Beziehungen sowohl gefährdend als auch als gefährlich auf den Körper zurückwirken können. Anders als andere bisher erschienene Sammelbände zur Körpersoziologie ist der vorliegende nicht auf eine bestimmte Thematik festgelegt. Vielmehr will er einen Überblick über die Soziologie des Körpers geben, theoretische Zugänge ebenso präsentieren wie empirische. Dabei soll gerade die Fülle möglicher Zugänge zum Thema Körper dokumentiert werden. Entgegen der sich hartnäckig haltenden Meinung, die Soziologie stecke so lange noch in den Kinderschuhen, wie sie sich auf keine einheidiche Theorie und Methodik geeinigt hat, wird im vorliegenden Fall die Multiperspektivität der Soziologie gerade umgekehrt für eine Stärke des Faches gehalten.
Literatur Abraham, Anke (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag. Wiesbaden. Alkemeyer, Thomas u.a. (Hg.) (2003): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz. Baudrillard, Jean (1981): Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper, in: Claudia Gehrke (Hg.), Ich habe einen Körper. München, 93-128. Bauman, Zygmunt (1995 a): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt am Main. Bauman, Zygmunt (1995 b): Ansichten der Postmoderne. Hamburg. Beauvoir, Simone de (1990): Das andere Geschlecht. Reinbek bei Hamburg. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt-Sonderband 2. Göttingen, 35-74. Benthall, Jonathan/Ted Polhemus (Hg.) (1975): The Body as a Medium of Expression. London. Benthien, Claudia (220Oi): Haue. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg. Benthien, Claudia/Christoph Wulf (Hg.) (2001): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg. Benvenuto, Sergio (1999): Neapel, in: Stefan Bollmann (Red.), Kursbuch Stadt. Staddeben und Stadtkultur an der Jahrtausendwende. Stuttgart, 221-243. 40
Berger, Peter L./Thomas Luckmann (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main. Bernard, Michel (1980): Der menschliche Körper und seine gesellschaftliche Bedeutung. Phänomen, Phantasma, Mythos. Bad Homburg. Berthelot, Jean-Michel (1986): Sociological discourse and the body, in: Theory, Culture & Society 3, 155-164. Bette, Karl-Heinrich (1987): Wo ist der Körper?, in: Dirk Baecker u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Festschrift zum 60. Geburtstag von Niklas Luhmann. Frankfurt am Main, 600-628. Bette, Karl-Heinrich (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin/New York. Bette, Karl-Heinrich (1999): Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main. Beyer, Marcel (1996): Flughunde. Roman. Frankfurt am Main. Boltanski, Luc (1976): Die soziale Verwendung des Körpers, in: Dietmar Kamper/Volker Rittner (Hg.), Zur Geschichte des Körpers. Perspektiven der Anthropologie. München/Wien, 138-183. Bopp, Jörg (1987): Die Tyrannei des Körpers, in: Kursbuch, Heft 88, 4966. 3oulüon, Hardy (1999): Mein Körper - wessen Eigentum, in: Hans-Günther Homfeldt (Hg.), »Sozialer Brennpunkt« Körper. Körpertheoretische und -praktische Grundlagen für die Soziale Arbeit. Hohengehren, 8-16. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurt am Main/New York, 25-34. Bourdieu, Pierre (1992): Programm für eine Soziologie des Sports, in: Ders., Rede und Antwort. Frankfurt am Main, 193-207. Breyvogel, Wilfried (Hg.) (2004): Tattoos. Veganismus. Einfuhrung in jugendkulturelle Szenen. Wiesbaden. Bründel, Heidrun/Klaus Hurrelmann (1999): Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. Stuttgart/Berlin/Köln. Buder, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Buder, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main. Clam, Jean (2000): Lösung vom Status. Eine Indeterminationssoziologie des Körpers, in: Cornelia Koppetsch (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz, 237-266. Corrigan, P. (1997): The sociology of consumption. An introduction. London u.a. 4»
Degele, Nina (2004): Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Wiesbaden. DeLillo, Don (2001): Körperzeit. Roman. Köln. Douglas, Mary (1981): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main. Dreitzel, Hans Peter (1983): Der Körper als Medium der Kommunikation, in: Arthur E. Imhof, Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München. 179-196. Drolshagen, Ebba, D. (1993): Perfekt ist nicht genug. Zur Konjunktur der Körperbilder, in: Ruthard Sräblein (Hg.), Moral. Erkundungen über einen strapazierten Begriff. Bühl-Moos. Duden, Barbara (1993): Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 2, 24-33. Durkheim, Emile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt am Main. Featherstone, Mike (Hg.) (2000): Body Modification. London u. a. Featherstone, Mike/Mike Hepworth/Bryan S. Turner (Hg.) (1991): The Body. Social Process and Cultural Theory. London u. a. Feldmann, Klaus/Werner Fuchs-Heinritz (Hg.) (1995): Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des Todes. Frankfurt am Main. Field, David (1978): Der Körper als Träger des Sdbst, in: Kurt Hammerich/ Michael Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen, 244-264.
Fischer, Wolfram (2003): Körper und Zwischenleiblichkeit als Quelle und Produkt von Sozialität, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 9-31. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1986a): Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main. Foucault, Michel (1986b): Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um sich. Frankfurt am Main. Fritscher, Wolfgang (1996): (Post)moderne Tätowierungen. Zur Individualisierung einer unrevidierbaren Selbststigmatisierung^ in: Kultursoziologie 5» 17-37Galsterer, Hartmut (1983): >Mens sana in corpore sano< - Der Mensch und 41
sein Körper in römischer Zeit, in: Arthur E. Imhof (Hg.), Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München, 31-45. Giddens, Anthony (1992): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New York. Giddens, Anthony (1993): Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main. Giddens, Anthony (1999): Soziologie. Graz/Wien. Goffman, Erving (1986): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main. Goffman, Erving (1994): Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main/ New York. Gugutzer, Robert (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld. Gumbrecht, Hans Ulrich (1999): Was sich nicht wegkommunizieren läßt, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht. Frankfurt am Main, 329-341. Hahn, Alois (2000a): Handschrift und Tätowierung, in: Ders. (Hg.), Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt am Main, 367-386. Hahn, Alois (2000b): Kann der Körper ehrlich sein?, in: Ders. (Hg.), Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt am Main, 353-366. Hahn, Alois/Rüdiger Jacob (1994): Der Körper als soziales Bedeutungssystem, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? Frankfurt am Main, 146-188. Hahn, Cornelia/Michael Meuser (2002a): Zur Einfuhrung. Soziale Repräsentation des Körpers - Körperliche Repräsentation des Sozialen, in: Dies. (H^.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz, 7-16. Hahn, Cornelia/Michael Meuser (Hg.) (2002b): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz. Hertz, Robert (2000): Die Vorherrschaft der rechten Hand. Eine Studie über religiöse Polarität, in: Cornelia Koppetsch (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz, 267-292. Hessen, Robert (1908): Der Sport. Frankfurt am Main. Hitzler, Ronald (2002): Der Körper als Gegenstand der Gestaltung. Über physische Konsequenzen der Bastelexistenz, in: Cornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz, 71-85. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1971): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main. Imhof, Arthur E. (1983): Einleitung des Herausgebers, in: Ders. (Hg.) Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München, 13-30. 43
Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main. Kamper. Dietmar/Volker Rittner (Hg.) (1976): Zur Geschichte des Körpers. Perspektiven der Anthropologie. München/Wien. Kamper, Dietmar/Christoph Wulf (Hg.) (1982): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main. Kamper, Dietmar/Christoph Wulf (Hg.) (1984): Der andere Körper. Berlin. Kaufmann, Jean-Claude (1996): Frauenkörper- Männerblicke. Konstanz. Kaufmann, Jean-Claude (1999): Mit Leib und Seele. Theorie der Haushaltstätigkeit. Konstanz. Kieserling, Andr£ (1999): Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main. Klein, Gabriele (2003): Die Theatralität des Politischen, in: Armin Nassehi/ Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Baden-Baden, 605-618. Koppetsch, Cornelia (Hg.) (2000a): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz. Koppetsch, Cornelia (2000b): Körper und Status. Zur Soziologie körperlicher Attraktivität, in: Dies. (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz, 7-15. Koppetsch, Cornelia (2000c): Die Verkörperung des schönen Selbst. Zur Statusrelevanz von Attraktivität, in: Dies. (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz, 99-124. Kracauer, Siegfried (1971): Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt am Main. Küchenhoff, Joachim (1988): Der Leib als Statthalter des Individuums, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität. München, 385420. Kuhlmann, Ellen (2004): Die Entdeckung der Körper - eine Herausforderung für die Soziologie, in: Soziologische Revue 27, 69-79. Lipovetsky, Gilles (1995): Narziß oder die Leere. Sechs Kapitel über die unaufhörliche Gegenwart. Hamburg. List, Elisabeth (1998): Der Körper, wir selber, in: du. Die Zeitschrift der Kultur, Heft 4, 78-79. Loenhoff. Jens (1999): Zum angloamerikanischen Diskurs über Körper und Sinne, in: Hans-Günther Homfeldt (Hg.), »Sozialer Brennpunkt« Körper. Körpertheoretische und -praktische Grundlagen. Hohengehren, 71-84. Low, Martin (1999): Einheitsphantasmen und zerstückelte Leiber. Offene und geschlossene Körpervorstellungen, in: Hans-Günther Homfeldt (Hg.), »Sozialer Brennpunkt« Körper. Körpertheoretische und -praktische Grundlagen. Hohengehren, 62-70. Low, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main. Lorenz, Maren (2000): Leibhaftige Vergangenheit. Einfuhrung in die Körpergeschichte. Tübingen. 44
Luhmann, Niklas (1981): Unverständliche Wissenschaft. Probleme einer theorieeigenen Sprache, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3. Opladen, 170-177.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main. Luhmann, Niklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991. Luhmann, Niklas (1995): Inklusion und Exklusion, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen, 237-264. Mauss, Marcel (1975): Die Techniken des Körpers, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2. München, 199-220. Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Meyrowitz, Joshua (1997): Das generalisierte Anderswo, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main, 176-191. Myers, J. (1992): Nonmainstream body modification. Genital piercing, branding, burning and cutting, in: Journal of Contemporary Ethnography 21, 267-306. Neckel, Sighard (1999): Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle, in: Leviathan 27, Heft 2, 145-165. O'Neill, John (1990): Die fünf Körper. Medikalisierte Gesellschaft und Vergesellschaftung des Leibes. München. Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York. Polhemus, Ted (Hg.) (1978): The Body Reader. Social Aspeas of the Human Body. New York. Popitz, Heinrich (1992 [2., stark erweiterte Ausgabe]): Phänomene der Macht. Tübingen. Prahl, Hans-Werner (2002): Soziologie der Freizeit. Paderborn, München/ Wien/Zürich. Randow, Gero von (2001): Wie viel Körper braucht der Mensch?. Hamburg. Reuter, Julia (2003): Der Körper als Seismograph gesellschaftlicher (Un-) Ordnung, in: Kriminologisches Journal 35, 201-211. Rittner, Volker (1983): Zur Soziologie körperbetonter sozialer Systeme, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25, Opladen, 232-255. Rotzer, Florian (Hg.) (1996): Die Zukunft des Körpers I & IL Kunstforum International Bd. 132 und 133. Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main. 45
Scarry, Eliane (1992): Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt am Main. Schreiner, Klaus/Norbert Schnitzler (Hg.) (1992): Gepeinigt, begehrt, vergessen: Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München. Schroer, Markus (1995): Neue Soziale Bewegungen. In: Georg Kneer/Klaus Kraemer/Armin Nassehi (Hg.), Soziologie. Zugänge zur Gesellschaft, Bd. 2: Spezielle Soziologien. Münster/Hamburg, 188-202. Schroer, Markus (1997): Kampf um Lebenschancen. Zur R\s\kobtobachtung der Risikobewegungen in der Risikogesellschafi, in: Toru Hijikata/Armin Nassehi (Hg.), Riskante Strategien. Beiträge zur Soziologie des Risikos. Opladen, 109-140. Schroer, Markus (2000): Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltanalyse, in: Leviathan 28, Heft 4, 434-451. Schroer, Markus (2001a): Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt am Main. Schroer, Markus (2001b): Die im Dunkeln sieht man doch, in: Mittelweg 36, Jg. 10, Heft 5, 33-47. Schroer, Markus (2003): Körper und Raum - Grenzgänge, in: Leviathan 31, Heft 3, 401-416. Schroer, Markus (2005): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt am Main (im Erscheinen). Schulze-Estor, Robert (2000): Body Modification am Ende des 20. Jahrhunderts. Möglichkeiten, Erklärungsmodelle und soziologische Relevanz (unveröffentlichte Diplomarbeit). Scott, Sue/David Morgan (Hg.) (1993): Body Matters. Essays on the sociology of the body. London/Washington D. C. Sennett, Richard (1997): Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der wesdichen Zivilisation. Frankfurt am Main. Sennen, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory. London u.a. Shusterman, Richard (1994): Die Sorge um den Körper in der heutigen Kultur, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt am Main, 241-277. Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main. Simmel, Georg (1993): Soziologie der Sinne, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. II, Gesamtausgabe Bd. 8. Frankfurt am Main, 276292. Sofsky, Wolfgang (1996): Traktat über die Gewalt. Frankfurt am Main. Stahr, Ingeborg (2000): Frauen-Körper-Identität im Kontext gesellschaftli46
eher Modernisierung, in: Doris Janshen (Hg.), Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung. Frankfurt am Main/New York, 81-105. Stichweh, Rudolf (1995): Der Körper des Fremden, in: Michael Hagner (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrosität. Götringen, 174-186. Stichweh, Rudolf (2003): Raum und moderne Gesellschaft. Aspekt der sozialen Kontrolle des Raums, in: Thomas Krämer-Badoni/Klaus Kuhm (Hg.), Die Gesellschaft und ihr Raum. Raum als Gegenstand der Soziologie. Opladen, 93-102. Süskind, Patrick (2000): Das Parfüm. Roman. Zürich. Synnott, Anthony (1993): The Body Social. Symbolism, Seif and Society. London/New York. Trotha, Trutz von (1997): Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderband 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen, 9-56. Turner, Bryan S. (1991): Regulating Bodies. Essays in Mcdical Sociology. London. Turner, Bryan S. (1996): The Body and Society. Explorations in Social Theory. London. Vernant, Jean-Pierre (1989): Dim Body, Dazzling Body, in: Michel Feher (Hg.), Fragments of a History of the Human Body. New York, 18-47. Willems, Herbert/York Kautt (1999): Korporalität und Medialität. Identitäteninszenierungen in der Werbung, in: Herbert Willems/Alois Hahn (Hg.), Identität und Moderne. Frankfun am Main, 298-362.
47
Peter Fuchs Die Form des Körpers »»Die Seele« ohne den Körper brächte nur Kalauer hervor und Theorien.« Paul Val^ry Der Körper des Menschen ist in gewisser Weise super-evident. In vielerlei Hinsichten hat man sich zwar an das Auflösungsvermögen der Wissenschaft gewöhnt, aber der Körper in seiner phänomenalen Einund Nachdrücklichkeit ist, so scheint es, nicht wegdiskutierbar.' Er ist zweifelsfrei, wie die Soziologie weiß, in seinen Erscheinungsformen sozial konditionierbar,2 aber als schiere Tatsache, als Faktum par excellence ist er die originäre Gegebenheit, die so etwas wie konditionierbaren Weltkontakt überhaupt erst ermöglicht.3 Er war es, er ist es, er wird es sein. Die Frage ist nur, ob man mit dieser Behauptung über die Deskription dessen, was dem vorausgesetzten Körper sozial zustößt, welchen Zumutungen er ausgesetzt ist, wie er sich auf Akzeptanz hintrimmt, sehr weit hinauskommt. Deskription ist nicht Theorie. Sie ist der mitunter magere Effekt der Vorstellung, daß es etwas gebe (da draußen, dem Beobachter gegenüber) mit einem Sein, das sich manchmal schlecht, manchmal recht beschreiben ließe - zum Beispiel den Körper als etwas, das man zwar beobachten kann, das aber in gewissen Hinsichten jeder Beobachtung zuvor ist und deswegen auch einen seltsamen Primat hat gegenüber jeder möglichen Kognition.4
i Vgl. zu dieser Schein-Evidenz Nassehi 2003, S. 222f. 2 Vgl. zur sozialen Vermittelheit des Körpers für viele (Bette 1989; Butler 1991, 1995; Senne« 1997). Als spannende Erzählungen einer anderen Körpergeschichte vgl. die Aufsätze in Hagner (1995) und Lachmund (1997). 3 Siehe zum Gegenwärtig-Werden der Welt am Körper (allerdings im Kontext impliziten Wissens) Polany 1985. S. 23f. 4 So auch Nietzsche, wenn er sagt, daß das Bewußtsein gegenüber dem Leibe ein zweitrangiges, ein Phänomen der Zweit-Wichtigkeit sei. Das Geistige sei abgeleitet. Es »ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten.« Nietzsche (1980, S. 285). So ähnlich argumentiert auch Vico (1979, S. 53), wenn er sagt, daß es kein körperfreies Denken gebe, eine Behauptung, die man im Duktus unserer Überlegungen umkehren könnce: Es gibt keinen denkfreien Körper.
48
Die soziologische Systemtheorie muß jedoch auf Grund ihrer eigenen Prämissen in diesem Primat eine epistemologische Blockade vermuten. Diese Theorie setzt (wenn auch in raffiniert zirkulären Verquickungen) die Operation der Beobachtung primär an. Der Körper des Menschen ist deshalb fiir sie beobachteter Körper. Und die Operation der Beobachtung vollzieht sich sinnförmig} Ein provokativer Ausdruck dafür ist: »Das Bewußtsein wohnt nicht im Körper, sondern der Körper wohnt im Bewußtsein.«6 Darüber hinaus ließe sich formulieren: Dieser Körper ist sozial designierter Körper, und er ist nichts jenseits der Designation. Oder besser: Ob er etwas ist, wenn er nicht beobachtet wird, ist schlicht unerheblich, weil ein Satz, der dies behauptet, nichts weiter ist als sinnförmige Beobachtung, nichts weiter als eine verweisende Selektion, absolut immanentes Moment, wie man auch sagen könnte, eines unabschließbaren Textes, der durch Sinnsysteme (psychisch und sozial) inszeniert wird.7 Der Körper des Menschen >ist< seine Beobachtung, und wenn jemand behauptet, er sei mehr als dies, hat er recht und unrecht zur gleichen Zeit - recht insofern, als Beobachtung immer auch Informationsraffung8 ist, Reduktion des Wahrnehmbaren auf Unterscheidung und Bezeichnung; unrecht insofern, als beobachtende Systeme ausschließlich als informarionsrafTende, also beobachtende Systeme beobachtbar sind. Wer von der Beobachtung auf die andere Seite der Nichtbeobachtung will, müßte die Grenze zum Präsignikativen überschreiten,9 die Sinnform verlassen können, und das hieße, daß er -
5 Diesem Unterschied zollt etwa die Leib/Körper-Unterscheidung Tribut. Vgl. Schmitz (1966; 1992). In diesem Text reden wir aber nahezu durchweg vom Körper. Der Grund dafür ist, daß ein begrifflicher Zugang gesucht wird, der Bewußtsein und Sozialsystcme gleicherweise betrifft. Es geht also nicht vordringlich um die bewußte Konstitution des Körpers als Leib. 6 Nishida (1989, S. 77). Siehe als modernere Version Johnson (1987). 7 Ohne Beobachtung zu beobachten, wäre der Versuch, alles, was ist, zu löschen. »Wir erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie wieder zusammenfugen. Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen.« Spencer-Brown (1997, S. xviii). 8 Siehe zum Grundgedanken der Informationsraffung Günther (1969, S. ifF.). 9 Vgl. Ditterich/Kaehr (1979. S. 386). 49
zurückkreuzend - nichts zu berichten hätte.10 Der Körper ist insofern fiir Sinn-Systeme alles andere als super-evident. Die folgenden Überlegungen stellen sich diesem Befund.
I.
Der Körper des Menschen ist beobachteter Körper. Er ist schlicht nichts anderes als seine Beobachtung.11 Wenn man das sagt, behauptet man, daß er eine bestimme Form hat, nämlich die einer operativ eingesetzten Bezeichnung, die kombiniert ist mit einer Unterscheidung. Der Körper läßt sich nicht nennen, ohne daß die Nennung selbst einen Unterschied etabliert zu anderen Markierungen, wobei seit Saussure gilt, daß jede Markierung das, wofür sie gehalten wird, nur ist in der Differenz zu anderen Bezeichnungen. Die Markierung, die das Spiel einer unendlichen Sinn-Differentialität eröffnet, wird durch die Bezeichnung erzeugt und ist zugleich der Effekt der Differenz, oder, wie man seit edichen Dekaden sagen kann: der Effekt der dißerance}1 Damit ist für soziologische Fragestellungen (unter Verzicht auf philosophische Abzweigmöglichkeiten) nur gesagt, daß jede Operation der Beobachtung, sei sie bewußt, sei sie sozial, die >Identität< dessen, was sie beobachtet, in der Form des Nachtrags, in der Form der Differenz von Identität und Differenz ermittelt, daß sie also nicht etwas aufgreifen kann, das ist, sondern nur anschließen kann an das, was sie selbst als gegeben konstruiert. Daraus folgt, daß der Körper für soziale und bewußte Systeme gerade nicht ist, was er war und was er sein wird. Er ist statt dessen wie alle Ausdrücke, die bewußt und sozial fungieren, polyvalent. Er gleitet, wenn man so will, durch vielfältige Sinnzuweisungsmöglichkeiten, deren De-Arbitrarisierung nur im Kontext soziokultureller Evolution nachvollziehbar wird: als Einschränkung (bzw. Begünstigung)
10 Die Nuer setzen fiir das nicht Bezeichenbare die Bezeichnung »kwoth« (also eben eine Bezeichnung) ein. Vgl. dazu Schäfer (1999, S. 161). Im übrigen sind auch Bezeichnungen wie >Spüren< nichts weiter als Bezeichnungen. 11 Sicher kann man sagen: daß er mehr ist als nur dies und sich irgendwie anders als sinnfbrmig zur Geltung bringen kann, aber hier geht es darum, daß dies gesagt und gedacht (also beobachtet) wird. 12 Siehe dazu bündig Derrida (1988). 50
sozialer und dadurch auch bewußter Plausibilitäten.13 Sogar die Rede von dem einen Körper, um nur ein Beispiel zu nennen, ist alles andere als ubiquitär überzeugend. Für das antike Griechenland war der Körper als soma (Leichnam) ein Singular, der die Form der Seelenverlassenheit (des Ausfalls vitaler Dynamik) bezeichnete.14 Ansonsten erscheint er als Einheit nur unter wechselnden, aspekt-orientierten Gesichtspunkten. Die Glieder des Körpers heißen gyia, wenn es um die Bewegung geht, milea in Hinsicht auf die Kraft. Demos ist eher das Wort für die Statur, chrös eine Bezeichnung, die sich auf den Rand des Körpers, auf seine Umhüllung bezieht.15 Die Leib/ Seele-Unterscheidung, die erst sehr viel später prominente Leitunterscheidung wird, ist noch nicht präsent, der Körper noch nicht als Organisation von Organen, also als Organismus, der in Juxtaposition zur Psyche steht, aurgefaßt. Der Körper des Menschen ist kein Totum, er ist Diversifikation}** Erst auf langen Wegen wird das Schema Leib/Seele (Körper/ Geist) so ausgearbeitet, daß die Schemaseiten je für sich eigentümliche Weltzustände bezeichnen, die zwar in schwieriger Komplizenschaft aufeinander bezogen sind, aber eben nicht dasselbe bedeuten. Die Behauptung der Differenz (bei zugleich bestehendem, sozusagen kompliziertem Verhältnis) wirft bis heute die philosophische Frage nach der Einheit der Differenz (bzw. nach dem Zusammenspiel der Differenzseiten oder gar nach der Löschung der Differenz) auf. Soziologisch gesehen, mag die Semantik dieser Differenz sich gesteigerten Kontrollbedürfnissen unter Bedingungen hoher sozialer Komplexität verdanken: Nur ein Körper, der nicht Geist (heute: nicht Bewußtsein) ist, vollzieht die >höheren< Befehle, die sozial zurechenbar sind, also die Attribution von Verantwortlichkeiten für spezifisches Handeln ermöglichen.u Der Körper ist Vollzugsorgan einer höheren In13 Siehe als Überblick Böhme (1996;, der zeigt, daß die Referenz auf den Körper keineswegs evolutionär stillsteht. 14 Auf Begriffe wie Psycho-Somatik (und familienähnliche Wörter) wird damit ein sehr schräges Licht geworren. 15 Vgl. Hahn/Jacob (1994, S. 147) (unter Bezug auf Vemant). \6 Daß er ein Ganzes, eine Einheit sei, ist zunächst auch weder phänomenologisch noch vom Alltagserleben her evident. Siehe zum Argument Hahn/Jacob (1994, S. 15of.) Siehe auch für die Nachwirkung des Motivs der Mehrleibigkeit (Zweileibigkeit) Bachtin (1969). 17 Marx, weber, Elias, Foucault sind Kronzeugen für diesen KontroU- und Zivilisationsgedanken. Vgl. Hahn/Jacob (1994, S. 15z). 51
stanz, eine Maschine, die allerdings, wie in der Neuzeit mehr und mehr thematisierbar, aus dem Ruder laufen kann, Eigen-Sinn entfaltet, die Bewußtsein und soziale Systeme zu sabotieren in der Lage ist, ja sogar (denkt man an das weite Feld systemischer Therapie) in der Form von Symptomen, die sie (irgendwie) zuwegebringt, Kommunikation und Bewußtsein zu umgehen scheint. Die Maschine >dämonisiert< sich, aber sie ist gleichwohl noch Maschine-im-Gegenüber der Seele, des Geistes, des Bewußtseins. Man kann diese äußerst komplexe Entwicklung abkürzen, wenn man schlicht festhält, daß die Differenz Leib/Seele (Körper/Geist) zunächst auch von der soziologischen Systemtheorie aufgegriffen und behauptet wird.18 Sie ist ja schon von ihrem Ausgangspunkt (man müßte formulieren: ihrem Ausgangs-Schied) her, der System/Umwelt-Differenz, so angelegt, daß die Bereiche Körper, psychisches System und Sozialsystem entlang dieser Schlüsselunterscheidung aufgeordnet werden. Sie sind situiert in einem Verhältnis der, wenn man so sagen darf, Umweltigkeit füreinander, wobei das Bewußtsein und das Soziale ausgezeichnet sind als Sinn-Systeme, die über die Operation der Beobachtung verfügen, wohingegen der Körper (als Umwelt beider Systeme) nicht eigentlich als System begriffen wird, sondern als eine Art hyperzyklischer >Verschmierung< verschiedener und verschieden wirkender Systeme. Der Körper ist das, worauf das Bewußtsein und das Sozialsystem referieren können, aber diese Referenz erreicht nicht den Körper, der nur als Zeichen, als unterschiedenes Sinnmoment bezeichnet wird.19 So kann man zum Beispiel sagen, daß das Bewußtsein und soziale Systeme durch strukturelle Kopplung in ein Verhältnis wechselseitiger Irritationsmöglichkeiten gebracht werden, insofern sie beide beobachtende, Sinn in Anspruch nehmende Systeme sind, daß aber der Körper weder Bewußtsein noch Sozialsysteme anders denn als bezeichneter (eben durch diese 18 Dieses >zunächst< soll signalisieren, daß die Idee konditionierter Koproduktion diese Differenz unterläuft. Sie wird nicht in diesem Aufsatz thematisiert. Siehe aber Fuchs (2002a). 19 Man könnte einwenden, daß Körperzustände wie etwa Schmerzen oder Gefühle sich direkt als Irritationsquelle auswirken, aber das Argument ist hier: in der Registratur durch ein sinnförmig operierendes System und nicht als ein System, dem eigene Beobachtungsoperationen unterstellt werden könnten. Es ist nichts als eine Metapher, wenn man äußert, der Körper sage einem etwas, oder er müsse verstanden werden. Die Organe schreien nicht, wenn sie sich bemerkbar machen. Vgl. zu diesem Bild Kaeser (1997). 52
Systeme beobachteter) Körper irritieren kann, also nur in der Form kompletter Alterität, als Bezug oder Bezugnahme in einer nicht-körperlichen Operativität. Er ist selbst kein Beobachter. Der Körper bleibt für beobachtende Sinnsysteme das Signifikat eines Signifikanten, der das Zeichen nicht sprengt, weil das Signifikat Moment des Zeichens (nicht Moment einer wie auch immer gearteten Sinnexternität) ist; er kursiert als unterscheidungsgestützte Markierung in der geschlossenen Autopoiesis sowohl des Bewußtseins als auch des Sozialsystems und ist in dieser Hinsicht unaufhebbar sinn-immanent. Um so auffälliger ist es, daß er - wiewohl nur in dieser Form ansteuerbar - als Referenz unausweichbar erscheint. Er kann nicht weggedacht, nicht wegkommuniziert werden. Die Bezeichnung des Körpers ist in alle Operationen psychischer und sozialer Systeme eingebaut, sei es, daß er genannt wird, sei es, daß er als Conditio sine qua non schlechterdings vorausgesetzt ist. Man käme mithin nicht weiter, wenn man diese Nennung (Markierung) oder diese operative Vorausgesetztheit zum Anlaß nähme, den Körper des Menschen (nach so vielen Prozessen der De-Ontologisierung und Dekonstruktion) zu re-ontologisieren, ihn als originäre Präsenz aufzufassen, die dann wieder nur (wie immer auch subtil) beschrieben werden könnte. Der für die Systemtheorie typische Weg ist die Konstruktion des Problems, im Blick auf das die Nennung des Körpers und seine operative Vorausgesetztheit, die Begünstigung seiner präsentischen Evidenz als Lösung gedeutet werden kann, die mit anderen Problemlösungen vergleichbar ist.
2.
Zunächst ist wichtig, daß das Bewußtsein offenkundig keine körperlichen Eigenschaften hat.20 Es imponiert ersichdich nicht durch sein Gewicht, seine Masse, seine Ausdehnung. Es ist nicht isolierbar wie ein Präparat, das man ausstellen könnte. Es nimmt keinen Raum ein. Man kann dann zwar noch sagen, daß alle Bewußtseinszustände Körperzustände seien,21 aber man sagt damit auch, daß das Bewußtsein selbst nicht umstandslos mit diesen Körperzuständen zu identifizieren ist. Es muß, wenn man so will, sich denken, daß es an einen 20 Vgl. eingehender Fuchs (2003a). 21 Vgl. James (1920, S. 5). Siehe ferner Fuchs (2003b). 53
Körper geknüpft ist, und es kann dies nur denken, wenn ihm gesagt wurde, daß es sich so verhält.22 Es ist (in der Sprache der neueren Systemtheorie) die autopoietische Verkettung von Beobachtungen, die sich dem wahrnehmungsbasierten psychischen System einschreiben. Als autopoietisches System kann es nichts in sich hineinnehmen, nichts an sich entdecken, was nicht es selbst ist. Dabei ist die Subjektstellung, in die das Bewußtsein als »es< einrückt, zusätzlich irreführend. Das Bewußtsein ist kein Ding, das im Rahmen unserer Sprache ein Subjekt sein könnte, das sein Prädikat beherrscht. Es ist nicht >Es<.23 Man könnte insofern notieren: Et ist >UnjektBewußtsein< (der sehr deutsch ist) steht ein für eine spezifische, zeitbasierte Operativität, die keine andere Einheit hat als die Form ihrer Operationen. So beobachtet, hat das Bewußtsein keine Identität, keinen Dreh- und Angelpunkt, um den es gravitiert oder in den es sich einhakt, keine Stelle, von der es sich wie von einem cor et punctus aus selbst seine Einheit repräsentieren könnte. Ebendies kennzeichnet die Form der Autopoiesis. Wenn der menschliche Körper in dieser nicht-körperlichen Autopoiesis mitspielt, läßt sich fragen, wie er -obwohl vom Spiel als >Ding<, als >Etwas< ausgeschlossen - dennoch ins Spiel kommt. Ein erster Hinweis für eine Antwort findet sich darin, daß das Bewußtsein als System von Beobachtungsverknüpfungen nicht identisch ist mit dem System der Organisation von Wahrnehmung.23 Das Bewußtsein operiert, wie man sagen könnte, im Medium der Wahrnehmungen, die 22 Siehe zu diesem Argument Fuchs (1998). 23 Deswegen wäre es schön, diese Überlegungen ließen sich japanisch niederschreiben. 24 Vgl. zu einer Theorie des Unjekts Fuchs (2001). 25 Entsprechende Intuitionen finden sich bei Sigmund Freud: Das Bewußtsein ist »ein [...] Sinnesorgan [...] zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten. Nach dem Grundgedanken unseres schematischen Versuchs können wir die Bewußtseinswahrnehmung nur als die eigene Leistung eines besonderen Systems auffassen, für welches sich die Abkürzungsbezeichnung Bw empfiehlt. Dies System denken wir uns in seinen mechanischen Charakteren ähnlich wie die Wahrnehmungssysteme W, also erregbar durch Qualitäten, und unfähig, die Spur von Veränderungen zu bewahren, also ohne Gedächtnis. Der psychische Apparat, der mit dem Sinnesorgan der W-Systcme der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für das Sinnesorgan des Bw, dessen teleologische Rechtfertigung in diesem Verhältnisse ruht.« (1986, S.62of.) 54
die Gegenwart des Systems ausmachen und in einem fort - kaum aufgetaucht - auch schon wieder zerfallen.26 Die Wahrnehmungen sind kompakt, lassen wenig Analyseschärfe zu, und sie können nicht negiert werden.27 Vor allem aber sind Wahrnehmungen die Kontaktebene, auf der das psychische System Beziehungen zum Körper unterhält oder zu unterhaken scheint. Man kann den Eindruck gewinnen, daß es eine Art >Online-Registratur< von Körperzuständen betreibt.28 Allerdings sind Wahrnehmungen Resultate der Externalisierungsleistungen des neuronalen Systems, das- indem es Wahrnehmbarkeit herstellt - selbst nicht wahrgenommen wird.29 Wahrnehmungen nehmen die Körperprozesse, durch die sie erzeugt werden, nicht wahr. »Das Lebewesen bezieht aus dem Milieu, was es in den Stand setzt, so zu handeln, als existierte dieses Milieu nicht«, formuliert Paul Vahfry.30 In analoger Darstellung: Das psychische System nimmt wahr, weil es nicht wahrnimmt, wie es wahrnehmen kann. Es hat keinen Zugriff auf das Milieu (die neuronale Umwelt), auf die Prozesse, die ihm die Welt, wenn man so will, Einstellen« als eine begehbare, ertastbare, riechbare, hörbare, sichtbare Welt, in der auch der 16 Siehe als Ausgangstext Heider (1926). Vgl. zur Anwendung in der modernen Systemtheorie für viele Texte Luhmann (1986; 1991). Siehe auch Fuchs (1994; 2002b). 17 Vgl. Luhmann {1984, S. 561). 28 Damasio formuliert (1997, S. looff): »Das Wesen von Traurigkeit oder Fröhlichkeit ist die kombinierte Wahrnehmung bestimmter Körperzustände und der mit ihnen in Juxtaposition befindlichen Gedanken - welcher Art sie auch immer sein mögen - , ergänzt durch eine Veränderung des Denkprozesses im Hinblick auf Stil und Effizienz« und setzt damit voraus, Wahrnehmung sei die Wahrnehmung von Körperzuständen. 29 Und selbst nichts wahrnimmt. 30 Valery (1989, S. 313). Und mit direktem Körperbezug: »Der Körper hat etwas Doppeldeutiges. Er ist, was wir von uns selbst sehen. Was wir ständig an uns gebunden empfinden. Aber auch, was wir nicht sehen und niemals sehen werden.« (Ebd., S. 317) In phänomenologisch komplexer Weise formuliert Merleau-Ponty (1994, S. 191) die vertrackten Verhältnisse: »Das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt, während er gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als berührbarer zu ihnen hinabsteigt und sie als berührender alle beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt.« 55
Körper hoch bruchstückhaft und seltsam >verschmiert< als ein Ensemble von Aspekten31 (und gerade nicht: als zu besichtigende Totalität) erscheint. Er taucht aber nicht als er selbst auf, als das externe Körperding, von dem jemand unmittelbare Kunde haben könnte, sondern als Projektion, die im Falle sinnbasierter psychischer Organisation die Form von Sinn annimmt, die Form also der verweisenden Selektion. Wir nehmen nicht >Etwas< wahr, sondern >Erwas< als >Dies oder Das<. Wir riechen >unseren Schweißs schmecken >mit unserer Zunges sehen >unsere Hände<, spüren >unseren Magens hören >unsere Stimme<.32 Dabei ist es nicht nötig, daß all dies dezidiert bezeichnet wird, es ist zuhanden als >Dies oder Das« des Körpers, das problemlos in Anspruch genommen wird, es sei denn, es gibt eine Störung, die zur dezidierten Bezeichnung, also zur Beobachtung zwingt.33 Beobachtungen dieses Typs (Bezeichnung-Unterscheidung) konstituieren das Bewußtsein, woraus sich eine Kaskade von Informationsverlusten ergibt: Die Wahrnehmung ist, um eine Metapher von Freud aufzugreifen, die Projektion einer Oberfläche, die ihre »Projiziertheit< und den Projektor nicht mitregistrieren kann.34 Und das Bewußtsein reduziert das Projizierte der Wahrnehmung auf Unterscheidungen und Bezeichnungen und erzeugt dabei, wenn man so sagen darf, einen Überhang des Nicht-Bezeichneten. Seine Autopoiesis ist im Blick auf die Kompaktheit der Wahrnehmung >asketisch<, oder (in einem schnellen Seitenblick auf William James) >fransenfrei<. Das Bewußtsein, heißt das auch, >reitet< Wahrnehmungen auf, es nutzt sie als Medium, aber es nimmt nicht selbst wahr. Als System verkettet es Bezeichnungen (Beobachtungen). Die Frage ist, was das Bewußtsein bezeichnet, wenn es den Körper bezeichnet, obwohl es ihn selbst nicht wahrnimmt. Mit welcher Unterscheidung oder welchen Unterscheidungen supercodiert es das Medium der Wahrnehmung, wenn es um den Körper geht? Wie 31 Die im genauen Sinne A-spekte, Weg-Sichten sind. 32 All dies würde nicht gelten für sinnfrei operierende Koncexte wie Säuglinge, Infusorien, Schnabeltiere. 3 3 Siehe zu diesem Störungsgedanken (schweigende versus schreiende Organe) Kaeser (1997). Und noch einmal Valery (1989, S. 305): »Der größte Teil des Körpers spricht nur, um zu leiden. Jedwedes Organ, das sich meldet, ist auch schon störungsverdächtig. Glückliche Stille der Maschinen, die gut laufen.« 34 Vgl. Freud (1986, Bd. XIII, S. 246). Siehe auch Balzer (1995, S. 38). 56
unterscheidet sich das Bewußtsein in seiner eigenen Operativität von dem, was es als Körper, Leib oder Fleisch zu bezeichnen vermag? 3-
Eine erste Antwort steckt schon in der Frage selbst: Das Bewußtsein unterscheidet sich in sich selbst, indem es sich von Körper, Leib oder Fleisch unterscheidet. Wenn es sich bezeichnet, bezeichnet es nicht den Körper, sondern sich selbst im Unterschied zu ihm, und wenn es den Körper bezeichnet, dann markiert es ihn in Differenz zu sich selbst. In klassisch cartesischer Diktion: Es markiert sich als unausgedehnt, als Nicht-Ding, als Nicht-Körper (res cogitans) in Differenz zu Ausgedehntem, Dinghaftem, Körperlichem (res extensa).35 Das Konzept sinnbasierter Autopoiesis vorausgesetzt, nimmt es diese Markierung »intern« vor, das heißt auch, daß die andere Seite der Unterscheidung zwar Externes meint, aber dies Externe nur intern (auf der Innenseite der Unterscheidung) bezeichnet. Es handelt sich also um einen re-entry der Unterscheidung des Systems in diese Unterscheidung, woraus sich ebenfalls ergibt, daß das Bewußtsein keinen Kontakt aufnehmen kann mit seinem Ur-Sprung, mit dem Zuvor seiner internen Selbst-Unterscheidung, mit der sozusagen faktischen« Differenz oder (je nach Gusto) »faktischem Einheit von Körper und Bewußtsein.36 35 Im Unterschied zu Descartes meinen wir hier nicht einen ontologischen Unterschied, zwei Weisen des Seins, sondern gehen (wie immer) vom Beobachter aus, der diese Unterscheidung benutzt. Deshalb ist es nicht notwendig, einen Ort der Koinzidenz zweier Seinsverschiedenheiten, von res cogitans und res extensa zu finden und etwa wie Descartes die »Zirbeldrüse« als diesen Ort aufzufassen. Vgl. Waldenfels (2000, S. 19). j6 Phänomenologisch gesehen: »Ich, das reduzierte »Menschen-Ich« (»psychophysischc Ich«), bin also konstituiert als Glied der Welt<, mit dem mannigfaltigen >Außer-mir<, aber ich selbst in meiner >Seele< konstituiere das alles und trage es intentional in mir. Sollte es sich gar zeigen lassen, daß alles als Eigenheitliches Konstituierte, also auch die reduzierte »Welt« zum konkreten Wesen des konstituierenden Subjekts als unabtrennbar innere Bestimmung gehört, so fände sich in der Selbstexplikation des Ich seine eigenheitliche »Welt« als »drinnen«, und andererseits fände das Ich, geradehin seine Welt durchlaufend, sich selbst als Glied ihrer >Äußerlichkeiten< und schiede zwischen sich und »Außenwelt«.« Husserl (1992, S. ICI) 57
Wenn das Bewußtsein intern zwischen sich und dem Körper auf diese Weise unterscheidet, kann es sich auf zwei Quellen stützen, die diese Unterscheidung nahelegen. Einmal wird es im sozialen Oktroi der sinnhaft verfugbaren Welt mit dem Zeichen >Körper< (und all seinen Äquivalenten, Ableitungen, Spielarten) vertraut gemacht.3' Und dann: Das Einfallstor für diese >Introjektion< sind einzig und allein: Wahrnehmungen, die das Medium für die Einschreibungen von Beobachtungen darstellen. Wahrnehmungen sind aber Externalisierungsleistungen des neuronalen Systems, wobei das Wort (!) Externalisierung schon die Referenz auf Raum, auf eine räumliche Welt, in der Innen und Außen unterscheidbar sind, mitfuhrt.38 Man kann das genauer sehen, wenn man darauf achtet, daß Wahrnehmung immer gegenwärtig ist und nicht ausgreifen kann in die Zukunft oder Vergangenheit. Wahrnehmungen konstituieren, was man Präsens und Präsenz nennt. Sie sind immer unmittelbar, kompakt, deswegen, wie wir gesagt haben, kaum analyse- bzw. negationsfähig.39 Das gilt auch für die Wahrnehmung des Körpers: Er ist aktuelles Raumding, ein >Volumen<, das eine Stelle einnimmt (besetzt), an der zur gleichen Zeit nichts anderes sein kann, und er kann (für die Wahrnehmung) diese Stelle verlassen, um dann (und in jedem Moment) an einer anderen Stelle so zu sein, daß die vorherigen Stellen, an denen er sich befand, durch andere Körper oder Dinge (oder durch eine >Leere<) ausgefüllt werden.40 Das Bewußtsein ist demgegenüber ein »Zeitbewirtschaftungssystems das mit nicht wiederbesetzbaren Zeitstellen umgehen können muß, also nicht Volumina (Gedankendinge) hin und her rückt, sondern Bezeichnungen37 Genauer: Es existierte nicht ohne diesen Oktroi. 38 Diese Verdoppelung formuliert auch Merleau-Ponry (1994. S. 180): »Wir behaupten also, daß unser Leib ein zweiblättriges Wesen ist, auf der einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt er sie; und wir stellen fest, da es offensichtlich so ist, daß er diese zwei Eigenschaften in sich vereinigt, und daß seine doppelte Zugehörigkeit zur Ordnung des >Objekts< und des »Subjekts* uns zur Entdeckung ganz unerwarteter Beziehungen zwischen diesen beiden Ordnungen fuhrt.« 39 Vgl. noch einmal Luhmann (1984, S. 561). 40 Vgl. zu dieser Raumtheorie (mit dem Pendant einer Zeittheorie, bei der die Zeitsteilen die Körper und die Dinge unbeobachtbar verlassen) Luhmann (2000, S. I52ff.). Vgl. zum phänomenologischen Befund, der den reinen Leib als »absolute örtlichkeit«, den reinen Körper als »relative ördichkeit«, hier auf Hermann Schmitz referierend: Gugutzer (2002, S.90IT.). 58
im-Rahmen-von-Unterscheidungen in die Form einer differance-technisch ermöglichten Sequenz bringt. Es ist diese Sequentialität.41 Sequentialität, das bedeutet auf den ersten Blick, daß das Bewußtsein die kompakte, weitgehend lückenfreie Präsenz der Wahrnehmung in die Form von einander folgenden, aufeinander bezogenen Ereignissen bringen, sie also temporalisieren oder >eventualisieren< können muß. Das Mittel dazu ist die scharfe Reduktion der Wahrnehmungsgegenwart auf Beobachtungen (Bezeichnungen, Unterscheidungen), die sich seriatim verketten lassen und zwar in der Form eines unaufhörlichen Aufschubs/Nachtrags (der differance), mit dem das Entstehen von >Zeitinseln<, die Möglichkeit einer durchgehaltenen schieren Gegenwart ausgeschlossen wird. Die Wahrnehmung, die eine Enbloc-Appräsentation ist, wird beobachtungstechnisch diskontinuiert. Diskontinuierung ist die Bedingung der Möglichkeit von Sequentialität. Sie ist nur möglich, wenn es einem System gelingt, den Kompakdärm, dem es ausgesetzt ist, zu digitalisieren, ihn zu >durchlüften< mit Intervallen, mit denen es ein Element, das eben dadurch entsteht, separiert von nächsten Elementen, die selbst nur als Elemente fungieren können, wenn mit ihnen dasselbe geschieht.42 Diese Trennung ist offensichdich beschreibbar als ein Moment der Verräumlichung (Intervall, Lücke, Durchschuß, Separation etc.), ein Vorgang, der damit zu tun hat, daß wir (ganz aristotelisch) die Zeit nach dem Raum bemessen. Die üblicherweise zu schnell gestellte Frage ist dann die nach dem, was >im< Intervall, was in der Lücke geschieht, eine Frage, die der Strategie der Verräumlichung schon aufsitzt. Man müßte sich, wenn man so fragt, ein Modell gebildet haben, in dem das Bewußtsein viele minimale Absencen haben kann, und tatsächlich ist es leicht, auf diese Idee zu verfallen, wenn man Sequentialisierung als Erzeugung einer Reihe von gleichartigen Elementen auffaßt, die durch (zeitliche) Abstände (!) getrennt sind: ein Gedanke, noch ein Ge41 Die dann wieder die Metaphorik der Verräumlichung aufruft, die Lücke, das Intervall, das Element. Siehe dazu auch Fuchs (2001). »Wir müßten ebenso bereitwillig wie von einem Bewußtsein des Blauen oder des Kalten, von einem Bewußtsein des Und, des Wenn, des Aber und des Durch sprechen. Dennoch tun wir das nicht«, formuliert James (1920, S. 161). James unterscheidet (S. 158) Ruhestellen des Bewußtseins (substanzartig) und transitive Bestandteile. 42 Siehe zu dieser Durchlüftungsthese (aeration) im Blick auf Schrift und die Lesbarkeit der Schrift, Saenger (2000). Vgl. ferner Saenger (1982; 1990). Siehe auch Chartier (1989, S. 125fr.). 59
'•''• '' '" l :
(Antopaütii dei Btwofitscms)
Abbildung \A danke (G, - G2 - G, . . . GJ. 44 Weiter kommt man vielleicht, wenn man prüft, wie die Autopoiesis des Bewußtseins zu dieser Verräumlichung kommt, obgleich sie nur Zeit zur Verfügung hat und nicht selbst Räume (Stellen) besetzt.45
43 Die Abbildung versucht die Verhältnisse in einem ungeeigneten, weil räumlichen Medium zu simulieren. Elemente entstehen durch Einbau von Intervallen und Intervalle durch Elemente, so daß am Ende schwer zu unterscheiden ist, was das Element, was das Intervall ist. Es scheint mir bezeichnend zu sein, daß die Darstellung einem multistabilen Kippbild gleicht. Vgl. Kruse (1988). 44 Die Zählung ist sinnlos, wenn man davon ausgeht, daß es gar keine singulären, damit auch keine Anfangs- oder Endereignisse geben kann, wenn Autopoiesis gedacht wird. Hier geht es nur darum, die »Intervalle« in ihrer Scheinplausibilität zu zeigen. 45 Daß dabei die Entwicklung einer lückendurchschossenen Schrift ebenfalls eine entscheidende Rolle spielte, habe ich angedeutet. Genauer ausgeführt, findet sich diese Überiegung in Fuchs (2001). 60
4Die These war, daß das Bewußtsein als autopoietisches System sich dem Medium der Wahrnehmungen >einschreibt<. Das heißt, wenn man die Form/Medium-Unterscheidung zugrunde legt, daß es eine Differenzierung-in-demselben darstellt. Oder anders ausgedrückt: Bewußtsein ist nichts ohne Wahrnehmung. Es ist beobachtungstechnisch spezifizierte (designierte oder dezidierte) Wahrnehmung. Ebendeshalb ist es so schwer, sich wahrnehmungsfreies Bewußtsein vorzustellen, also Bewußtsein ohne Körper.46 Im Grunde geht es darum, daß das, was als elementare Einheit des Bewußtseins reproduziert wird (sagen wir: Gedanken, Vorstellungen), selbst wahrgenommen werden muß und daß es deswegen um die Externalisierungsleistung des neuronalen Systems, das Wahrnehmungen ermöglicht, nicht herumkommt.47 Es vollzieht die Verräumlichung der Wahrnehmung mit, fährt nolens volens in der >Spur< der Externalisierungs- und Lokalisierungsleistungen des neuronalen Systems. Seine basale Selbstreferenz ist geknüpft an die laufend mitinszenierte Fremdreferenz, die die Gedanken/Vorstellungen exponiert, vor-stellt, sie >outet< - als etwas.48 Ohne diese Funktion des >Äußerns< würde es nichts haben, womit es sich beobachten könnte. Es würde seiner selbst nicht ansichtig, wäre nichts als schiere Operativität. Bewußtsein, so lautet die klassische Formulierung, ist immer Bewußtsein von etwas, und das heißt: immer schon spatialisiert. Bezogen auf die Operationen des Systems bedeutet dies, daß sie auf der einen Seite kompakt, opak, nicht negierbar, nicht analysierbar sind, insofern sie Wahrnehmung in Anspruch nehmen, daß sie aber auf der anderen Seite als Momente der differance-basierten Zeit der 46 Instruktiv ist an der Brain-in-the-vat-Diskussion, daß ein minimales Körperding da sein muß: eben das Gehirn. 47 Jedenfalls fällt es sehr schwer, sich nicht wahrgenommene Gedanken zu denken. Das erklärt auch die Schwierigkeit, Computern ein Bewußtsein zu unterstellen. Sie operieren nicht im Meditun der Wahrnehmung. Sie prozessieren Informationen, die nicht zugleich (!) Wahrnehmungen sind. 48 Ein alter Topos. Im platonischen Sophistes (2 37a-e) liest man: legein = legein ti Sagen ist Etwas Sagen. Parmenides weist als erster auf die Intentionalität des Denkens hin (döxai - dokounta -Annehmen/Angenommenes). Vgl. Thanassas (1997, S. 45f.). Vor Brentano und Husserl findet sich der Topos komplex ausgearbeitet bei Hegel. Siehe dazu Kress (1996, S. 3 3ff.)- Vgl. auch zum Topos, daß das Denken das Außen denkt und sich nicht selbst erreicht, Foucault (1971, S. 39of.). 61
Beobachtungsverkettung nicht Wahrnehmung sind, insofern sie nicht Wahrnehmungen prozessieren, sondern eben: Beobachtungen, die aber ohne Wahrnehmung nicht zustande kämen. Das Bewußtsein oszilliert, wenn man so sagen darf, zwischen diesen beiden Positionen, zwischen der verräumlichenden (ent-äußernden) Wahrnehmung, die es in Anspruch nehmen muß, um überhaupt >gegenwärtig< zu sein (und sich seiner selbst gewärtig), und der hoch abstrakten Autopoiesis, die es als System begründen. Das erklärt auch die Selbstunterscheidung des Bewußtseins, die wir oben diskutiert haben: Es unterscheidet, wie sich jetzt formulieren läßt, die spatialisierende Wahrnehmung, der es sich einschreibt, von der Enträumlichung (Verzeitlichung), durch die es konstituiert ist. Diese Differenz wirkt als Differenz und nicht selbst als Raum, dem Intervalle eingefügt werden. Die Lücke >zwischen< ist der metaphorische Ausdruck für das Wirken dieser Differenz.49 Da das Medium, das das Bewußtsein nutzt, Wahrnehmungen sind, die dem >Raum<, dem Volumen des Körpers entstammen (seinen Raum, sein Volumen erzeugen), springt der Körper in der Weise einer dehiscence auf.50 »Das Bewußtsein findet ihn [den Körper, P. F.] alle mal wieder), wenn ein Gedanke zu Ende geht. Er ist die gemeinsame Grenze - jeglichen Gedankens. Er ist Anfang, Ursprungsort; Kapazität oder gefühlter Implex. Wenn ich ihn isolieren und ihn nennen muß, wofern ich das überhaupt kann - dann deshalb, weil in seiner Existenz Abweichungen und Schwankungen auftreten. Stets ist er näher an allen nur Möglichen als alles nur Mögliche.«51 Aber das Bewußtsein findet den Körper, indem es ihn in der Differenz zu sich (zum Nicht-Körper) bezeichnet}2 Diese Bezeichnung (und ihre ungezählten Derivate) aber hat es nicht von sich. Sie stammt aus der kompletten Alterität sozialer Systeme. 49 In diesem Sinne ist auch der Ausdruck >differance< metaphorisch, wenn man ihn als Aufschub oder Nachtrag begreift, der ja gerade nichts aufschiebt oder nachträgt. 50 Vgl. schon mit Bezug auf den Körper, den Schmerz, den Organismus, die »dehiscence« Lacan (1991, S. 66). 51 Valery (1989. S. 336) (Kursivierung im Original). J2 Ein instruktiver Sonderfall, der hier nicht diskutiert werden kann, ist dann die Musik. Vgl. Fuchs (1987; 1992a; 1996). Siehe dazu, daß Musik über den Körper schädliche Direkrzugriffe auf die Seele oder den Geist habe, Wolf (1797). 62
5Es ist zunächst nicht unwichtig, sich zu verdeutlichen, daß Kommunikation als elementare Einheit sozialer Systeme so wenig wie das Bewußtsein einen Körper, ein Volumen, eine Ausdehnung und räumliche Erstreckung hat. Man kann sie nicht wiegen oder sonst irgendwie ausmessen. Sie ist nicht lokalisierbar. Sie-ist, um parallel zur Diskussion des Bewußtseins zu argumentieren, >Unjekt<. Man kann sie nicht wahrnehmen, oder in anderen Worten: Sie ist Moment eines autopoietischen (deswegen zeitbasierten) Systems, in dessen Umwelt Ausgedehntes, Räumliches vorkommen kann, das aber, wenn es kommunikativ bezeichnet wird, alle diese Eigenschaften nicht mehr aufweist, sondern die Form von Sinn annimmt, die Form selektiver Verweisung.53 In genauer Parallellage zur Form des Bewußtseins gilt dann, daß auch ftir Kommunikation der menschliche Körper nur sinnförmig markiert werden kann, aber nicht: irgendwie geartetes Moment der Autopoiesis sozialer Systeme ist. Das gestattet es, sich (erneut in Parallelage zur Erörterung des Bewußtseins) die Frage zu stellen, wie ftir Kommunikation der Körper ins Spiel kommt, wiewohl er als Körper nicht im Spiel ist. Wenn sich Kommunikation bestimmen läßt als Liaison von Information, Mitteilung und Verstehen,54 dann ist recht schnell zu sehen, daß das Moment der Ent-Äußerung, der >Materialisierung< von Kommunikation an die Selektion der Mitteilung geknüpft ist. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Selektion ist, daß in einen opaken (irgendwie eingerahmten oder abgeschotteten) Zusammenhang die Differenz von Information und Mitteilung hineinprojiziert werden kann. Es muß, wenn man so will, etwas geben (oder als Anlaß für diese Annahme genommen werden), das intern mit sich selbst umgelen kann, aber diese Internität intransparent hält - für jeden denkbaren Beobachter. Benötigt wird ein >Umhülltes<, das einerseits verbirgt, NZS es denkt, andererseits Äußerungen produziert, die nahelegen, zu intersteilen, daß es in dem >Umhüllten< zu Prozessen des selbstrefeentiellen Umgangs mit Fremdreferentiellem kommt. ; J Man könnte also die Unterscheidung Descartes' zwischen res extensa und res cogitans erweitern, indem man den rebus extensis zweierlei Unausgedehntheiten gegenüberstellt: res cogitans und res communicativa. ;4 Vgl. zu den folgenden Überlegungen das Kapitel über Kommunikation in Luhmann (1984).
63
Von der Kommunikation her gesehen, erzwingt dies die Konstruk tion nicht nur einer Mitteilung, sondern die eines Mitteilenden.55 Kommunikation >flaggt< sich aus, indem sie von Moment zu Moment Mitteilende entwirft, denen Mitteilungshandeln zugeschrieben wird, das in den opak-kompakten Tiefen eines in transparenten Zusammenhanges ermittelt wird.56 Kommunikation wäre nicht erforderlich, wenn das, was das Bewußtsein tut, für sie unmittelbar, unter Umgehung von Intransparenz, also ohne doppelte Kontingenz zuganglich wäre.57 Kurz: Die >Hülle< des Körpers ist unvermeidbar, wenn Kommunikation Mitteilende entwirft, sei es, daß die Körper unmittelbar präsent sind wie in der Interaktion, sei es, daß auf Körper, die schreiben, geschrieben haben, zugerechnet wird.58 Umgekehrt (und deswegen) kommt das Bewußtsein nicht umhin, wenn es mit Kommunikation Kontakt unterhält, die Spur des Körpers, die es in der Differenz von Wahrnehmungsmedium/Beobachtungsform (Körper/Bewußtsein) mitregistriert, sozial konfirmiert zu finden. Die Unterscheidung, die es in sich selbst von sich selbst macht, wird von Kommunikation bestätigt, die - wie das Bewußtsein - körperfrei ist, aber den Körper als Garanten der Intransparenz (also zur Konstitution der eigenen Grenze) benötigt. Dies ist (wie das Wort >umgekehrt< signalisiert) ein klassischer Fall konditionierter Koproduktion* der sich sprachlich kaum auflösen läßt: Die Selbstunterscheidung des Bewußtseins setzt Zeichengebrauch in Form der Beobachtung voraus, die intern von der Wahrnehmung des Körpers unterschieden wird; aber der Zeichengebrauch setzt Kommunikation voraus als ein nicht-privates Medium, das dem Bewußtsein seine interne Unterscheidungsmöglichkeit überhaupt erst realisierbar macht. Schon deshalb ist es kaum möglich, sich Bewußtsein vor der Evolution von Kommunikation zu denken oder Kommunikation vor der 55 Der nicht ein Mensch sein muß. Vgl. dazu Fuchs (1997). 56 Siehe zu dieser genialen Metapher Luhmann (1984, S. 226). 57 Deswegen ist es für mich immer wieder ein Vergnügen, wenn in den weitsichtigen Science-fiction-Romanen etwa von Karl-Heinz Schcer Mutanten auftreten, die Telepathie beherrschen, aber diese Funktion in einem fort blockieren müssen, wenn Kommunikation angesagt ist. 58 Es ist daran zu erinnern, daß sich selbst der Gott materialisieren muß, im Dombusch oder als Christus, aber immer: irgendwie. Im übrigen muß der Körper nicht immer menschlich sein. Es genügt, daß einem undurchdringlichen Volumen interner Umgang mit sich selbst unterstellt werden kann. Anders würde die Ventriloquistik nicht funktionieren. Vgl. auch Fuchs (1991). 64
Evolution von Bewußtsein. Die Koproduzenten sind ohne einander nichts. Ihre >Verzweiung< ist Artefakt von Beobachtern. Entscheidend ist, daß der Körper (vorzugsweise der menschliche) auf beiden Seiten (im Ko-) als beobachteter (bezeichneter) Körper auftaucht, immer auf der Außenseite der Unterscheidung, die die Bezeichnung des Systems (Sozialsystem hier, Bewußtsein dort) auf der Innenseite erzwingt. Er ist also immer und konstitutiv im Spiel als kompakte, voluminöse Garantie von Intransparenz, die aber nicht als Volumen wirkt, sondern als beobachteter Gegenhalt der zeitbasierten Autopoiesis jener Systeme - super-evident in dem Sinne, daß seine Löschung das Bewußtsein und das Sozialsystem tilgen würde. Von daher ist klar, daß das, was als Bewußtsein oder Sozialsystem jeweils zustande kommt, davon abhängt, wie der Körper beobachtet wird.
6. Zur Beobachtung des Körpers ist unendlich viel gesagt worden, und noch immer scheint das mutmaßende Reden über ihn kein Ende zu nehmen.59 Unter solchen Umständen kann man die exponentielle Vermehrung und Amplifikation der Kommunikation über Körper selbst als Krisensymptom nehmen. Diese Vermutung liegt schon deshalb nahe, weil die Systemtheorie im Theoriestück des symbiotischen Mechanismus die Auffassung vertritt, daß Sozialsysteme, insbesondere die Funktionssysteme der Gesellschaft, mit der Zunahme ihres Abstraktionsgrades einerseits immer weniger auf Körper angewiesen sind, andererseits aber in Krisenlagen die Möglichkeit vorhalten, Körperreferenzen zu aktualisieren.60 Der Körper dient als Möglichkeit der De-Abstraktion. In der Wissenschaft wäre (der Rekurs auf) Wahrnehmung ein solcher Mechanismus, in der Wirtschaft körperliche Bedürfnisse, in der Politik Gewalt gegen Körper, im Intimsystem Sexualität, in der Religion vielleicht Sterblichkeit und in der Kunst nervöse Irritabilität. Für unsere Überlegungen ist aber maßgebend, daß die Krisenlage, die in der Gesellschaft zur Augmentation des Redens und Schreibens 59 Vgl. nur die Bände 132/133 der Zeitschrift »Kunstforum« (1996). Siehe auch die Beiträge in Funk/Brück (1999). 60 Siehe schon früh Luhmann (1974).
65
über den Körper und zu seiner unentwegten Präsentation und Modifikation fahrt, gerade nicht eine soziale Krisenlage zu sein scheint. Die Gesellschaft hat niemals Probleme damit, daß Kommunikation stattfindet, denn sie ist nichts weiter als deren unentwegte Reproduktion.61 Die Funktionssysteme der Gesellschaft können, weil sie je spezifische Kommunikationsformen nutzen, in Probleme der Dysfunktionalisierung bzw. der Entdifferenzierung geraten, kaum aber die Gesellschaft, für die jede Art von Kommunikation nur relevant ist, weil sie Kommunikation stimuliert, unbekümmert um das, worüber sie handelt oder durch welchen Umweltlärm sie ausgelöst wird. Deswegen könnte man sich mit dem Gedanken befreunden, daß die Proliferation der Kommunikation über Körper (und/oder anhand von Körpern, die sich speziell fiir Kommunikationszwecke ausstatten, mitunter gar: deformieren62) ein Anzeichen dafür ist, daß die entscheidende Umwelt der Gesellschaft (eben: Bewußtsein) auf eine sozial induzierte Gefahrenlage stößt, die dazu fahrt, daß psychische Systeme sich durch Kommunikation über Körper faszinieren lassen.
Die Annahme ist, daß unter der Ägide funktionaler Differenzierung des Gesellschaftsystems jede denkbare Einheitsformel, mit der empirisches Bewußtsein sich als spezifisch identisch erfahren könnte, gesprengt wird.63 Die Gesellschaft wird, um es mit einem Ausdruck von Gotthard Günther zu sagen, polykontextural.** Sie ist nicht mehr reduzierbar auf einen Zusammenhang mit einem Punkt der Repräsentation ebendieses Zusammenhangs, sondern sie ist heterarch, hyperkomplex, polykontextural.65 Ihre Einheit ist nur noch Kommunikation selbst, also ihr Operationsmodus, aber nicht eine Idee, eine Kosmologie, eine Theologie, ein irgendwie den Zusammenhang garantierender, legaler Super-Beobachter. Das Bewußtsein, das mit dieser Form der Gesellschaft ko-variiert, wird deswegen nicht einfach beansprucht, sondern hat es mit V/^fo^-Beanspruchungen zu tun, 61 Im übrigen werden in der Umwelt des Systems ungeheure Mengen an Körpern erzeugt, die sicherstellen, daß übergenug Leben und Bewußtsein zur Verfügung stehen. 61 Siehe dazu, daß die Sinnform von Körpern in Anspruch genommen werden kann, Johnson {1987). 63 Siehe als Fallsrudie die Arbeit über Japan in Fuchs (1995). 64 Siehe etwa Günther {1979). 65 Vgl. Fuchs (1992b). 66
die keinen Gegenhalt in einer orientierenden Einheit haben, durch die sich die schiere Vielheit der Beanspruchungen als Mannigfaltigkeit eines Kontextes beschreiben ließe. Modernes Bewußtsein ist, um es mit der Romantik zu sagen, fragmentarisierty ohne daß sich die Fragmente zu einem Objekt zusammenfugen ließen, das sich in sich selbst seiner selbst vergewissern könnte.66 Unter diesen Umständen ist es zu erwarten,67 daß Strategien der De-fragmentarisierung gesucht werden, und in genau dieser Hinsicht bietet sich die (scheinbare) Super-Evidenz des Körpers an. Er wird (auch und vor allem soziologisch) als dasjenige gehandelt, worin oder woran sich Bewußtseine singularisieren, sich individualisieren, gerade weil das Bewußtsein selbst alles andere als singulär oder individuell ist, da alles, was es denken kann, sozial vor-gedacht, sozial angeliefert worden ist. Es liegt dann nahe, auf den Körper auszuweichen, der die Einheit der Vielfalt markiert, das Unauslöschbare, das wie ein inviolate level funktioniert, von dem her sich das einzelne menschliche Bewußtsein als einzeln Identisches beschreiben kann, von dem her aber auch die großen Themen der Geburt, des Todes, des Begehrens organisiert werden, die im Gegensatz stehen zur Abstraktion der Funktionssysteme und den Körper als ens realissimum erscheinen lassen. Da aber der menschliche Körper, wie wir gezeigt haben, beobachteter Körper ist und da die Sinnzuweisungen, die sich auf ihn beziehen, nur sozial organisiert werden können (auch im Falle des beobachtenden Bewußtseins), kann dieser Körper nicht aus der Fragmentarisierung herausgenommen werden, die durch funktionale Differenzierung bezeichnet ist.68 Das eine Bewußtsein thront nicht mehr in dem einen Körper, der garantiert, daß es das < w Bewußtsein ist, sondern: Polykontexturales Bewußtsein erzeugt sich den polykontextu66 Es ist ilso kein selbst-repräscntatives System, das ein Element enthalten müßte, das alle anderen Elemente des Systems vollständig repräsentieren könnte. Siehe Royce (1901). Vgl. auch einen Aufsatz von Maraldo (1990), der leider nur in japanischer Sprache erschienen ist (in: Shizuteru 1990) und deshalb von mir nach der englischen Manuskriptfassung zitiert wird. 67 Zumindest unter der Bedingung einer europäisch geprägten Einheitssemantik ces Bewußtseins. 68 Sehr prägnant läßt sich dieser Vorgang an Systemen des body-processing vorführen, die zwar das Körperliche am Körper hervorheben und ausnutzen, dies aber nach Sinnprinzipien tun, die sozial (und nicht körperlich) ausgehandelt werden. Siehe dazu grundlegend Bette (1999, S. 5 8 ff.)67
ralen Körper. Dieses Bewußtsein hat keine eineindeutige Residenz mehr, die aus Fleisch, Blut, Nerven zusammengesetzt ist. Er >gleitet< in den Sinnbezügen, die ihm offeriert werden, einerseits als Indifferenz gegenüber Sinn (als Produzent von Ereignissen, die selbst weder als Kommunikation noch als Bewußtsein begriffen werden können),69 andererseits als sinnhafter (differentieller) Aufgriff ebendieser Indifferenz, die für Sinnsysteme niemals Indifferenz sein kann, sondern nur: Differenz. Der Körper ist in der Moderne nicht nur immer anders beobachtbar (und immer anders von wo andersher), sondern auch diese Beobachtungen selbst sind gegenbeobachtbar. Die Semantik des einen Körpers ist unmöglich geworden.70 Bezieht man diese Überlegung zurück auf die Selbstunterscheidung des Bewußtseins, auf diesen re-entry der Innen/Außen-Differenz im System, dann ist die Außenseite der internen Bezeichnung >Bewußtsein< (nämlich Körper) uneindeutig geworden, polykontextural wie die Form der Gesellschaft selbst, und aus demselben Grund ist auch das eine, das identitäre Bewußtsein nicht mehr ein-sinnig, sondern viel-sinnig. Es ist nicht mehr einfach ES. Unter dieser Voraussetzung leuchtet es ein, daß im Transit von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft der eine identitätsorientierende Körper gesucht wird (in unaufhörlichem Reden) und genau damit (in diesem unaufhörlichen Reden) zur Sinnverfügungsmasse wird, die die Suche nach dem Körper sabotiert. Diese Sabotage hat längst begonnen, und deswegen könnte es interessant sein, zu beobachten, welche Sinnmutanten dem variety-pool der Gesellschaft als funktionale Äquivalente des Körpers entnommen werden. Das müßte ja so etwas Paradoxes sein wie unkörperliche Körper.
69 Das ist das, was Hahn {1999, S. 68), als »Ich-Fremdheit unseres Leibes« thematisiert. 70 Fast so, als wären wir auf die aspekthafte, zerlegende Semantik der frühen Antike zurückgefallen - vielleicht mit dem Unterschied, daß auch der entseelte Körper nicht mehr die Leiche (das soma) ist. 68
Literatur Bachtin, M. (1969): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München. Balzer, W. (1995): Überlegungen zur »psychischen Oberfläche« des psychoanalytischen Prozesses, in: Jahrbuch für Psychoanalyse 35, 34-64. Bette, K.-H. (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie der modernen Körperlichkeit. Berlin/New York. Bette, K.-H. (1999) Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main. Böhme, H. (1996) Gefühle, in: C. Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch der Historischen Anthropologie. München, 525-548. Buder, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Butler, J. (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin. Chartier, R. (1989): The Practica! Impact of Writing, in: Ders. (Hg.). A History of Private Life, III, Passions of the Renaissance. Cambridge (Mass.). Damasio, A R (1997)' Descartes* Irrtum. Fühlen, denken und das menschliche Gehirn, München/Leipzig. Derrida, J. (1988): Die differance, in: Ders., Randgänge der Philosophie. Wien. Ditterich, J./R. Kaehr (1979): Einübung in eine andere Lektüre. Diagramm einer Rekonstruktion der Güntherschen Theorie der Negativsprachen, Philosophisches Jahrbuch, 2, 86. Foucault, M. (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main. Freud, S. (1986): Gesammelte Werke. Bd. 11, III und XIII. Frankfurt am Main. Fuchs, P. (1987): Vom Zeitzauber der Musik. Eine Diskussionsanregung, in: D. Baecker u.a. (Hg.), Theorie als Passion. Frankfurt am Main, 214-237. Fuchs, P. (1991): Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologia Internarionalis, Heft 1, Bd. 29, 1-30. Fuchs, P. (1992a): Die soziale Funktion der Musik, in: W. Lipp (Hg.), Gesellschaft und Musik. Wege zur Musiksoziologie, in: Sociologia Internationalis, Beiheft 1,67-86. Fuchs, P. (1992b): Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt am Main. Fuchs, P. (1994): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, in: Ders./ A Göbel (Hg.), Der Mensch - Das Medium der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 15-39. Fuchs, P. (1995): Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien. Frankfurt am Main. Fuchs, P. (1996): Musik und Systemtheorie- Ein Problemaufriß, in: Tobias Richtsteig/Uwe Hager/Nina Polaschegg (Hg.), Diskurse zur gegenwärtigen Musikkultur. Regensburg, 49-55. 69
Fuchs, P. (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme, Jg. 3, Heft 1, 57-79. Fuchs, P. (1998): Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins. Frankfurt am Main. Fuchs, P. (2001): Die Metapher des Systems. Studie zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer unterscheiden lasse. Weilerswist. Fuchs, P. (2002a): Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewußtsein, in: Ver-Schiede der Kultur, Aufsätze zur Kippe kulturanthropologischen Nachdenkens (hg. von der Arbeitsgruppe »menschen formen« am Institut für Soziologie der freien Universität Berlin). Marburg. Fuchs, P. (2002b): Die Beobachtung der Form/Medium-Unterscheidung, in: J. Brauns (Hg.), Form und Medium. Weimar 2002, 71-83. Fuchs, P. (2003a): Der Sinn der Beobachtung. Bielefeld. Fuchs, P. (2003b): Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? Ms. Travenbrück. Funk, J./Brück, C. (Hg.) (1999): Körper-Konzepte. Tübingen. Gugutzer, R. (2002): Leib, Körper, Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Opladen. Günther, G. (1969): Bewußtsein als InformationsrafTer, in: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften 10. Günther, G. (1979): Life as Poly-Contexturality, in: Ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. II. Hamburg, 283-306. Hagner, M. (1995): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrosität. Göttingen. Hahn, A./R. Jacob (1994): Der Körper als soziales Bedeutungssystem, in: P. Fuchs/A. Göbel (Hg.), Der Mensch - Das Medium der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 146-188. Hahn, A. (1999): Eigenes durch Fremdes. Warum wir anderen unsere Identität verdanken?, in: J.Huber/M. Keller (Hg.), Konstruktionen, Sichtbarkeiten, Interventionen 8. Wien/New York, 61-87. Heider, F. (1926): Ding und Medium, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1, 109-157. Husserl, E. (1992): Canesische Meditationen, in: Ders., Gesammelte Schriften (hg. von Elisabeth Ströker), Bd. 8. Hamburg. James, W. (1920): Psychologie. Leipzig. Johnson, M. (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago/London. Kaeser, E. (1997): Medium und Materie. Für ein komplementaristisches Konzept des menschlichen Körpers, in: Philosophia Naturalis, Bd. 34, Heft 2, 327-362. 70
Kress, A. (1996): Reflexion als Erfahrung. Hegels Phänomenologie der Subjektivität, Würzburg. Kruse, P. (1988): Stabilität- Instabilität- Multistabilität. Selbstorganisation und Selbstreferentialität in kognitiven Systemen, in: DelfinXI, Jg. 6, Heft 3, 35-57Kunstforum (1996): Die Zukunft des Körpers. Bde. 132 und 133. Lacan, J. (1991): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichrunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: J. Lacan, Schriften I (in deutscher Sprache hg. von N. Haas/H.-J. Metzger). Weinheim/Berlin, 61-70. Lachmund, J Ü997): Der abgehorchte Körper. Zur historischen Soziologie der medizinischen Untersuchung. Opladen. Luhmann, N. (1974): Symbiotische Mechanismen, in: O. Rammstedr (Hg.), Gewaltverhältnisse und die Ohnmacht der Kritik. Frankfurt am Main, 107-131.
Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main. Luhmann, N. (1986): Das Medium der Kunst, in: Delfin 4, 6-15. Luhmann, N. (1991): Das Kind als Medium der Erziehung, in: Zeitschrift für Pädagogik 37, Heft 1, 19-40. Luhmann, N. (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen. Maraldo, J. (1990): Self-Mirroring and Self-Awareness: Dedekind, Royce and Nishida. Unveröff. Ms. Merleau-Ponty, M. (1994): Das Sichtbare und das Unsichtbare. München. Nassehi, A. (2003): Geklonte Debatten. Über die Zeichenparadoxie der menschlichen (Körper-)Natur, die Theologie des Humangenoms und die Ästhetik seiner Erscheinung, in: O. Jahraus/N. Ort (Hg.), Theorie - Prozeß - Selbstreferenz, Systemtheorie und transdisziplinäre Theoriebildung. Konstanz, 219-238. Nietzsche, F. (1980): Nachgelassene Fragmente, in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (hg. von G. Colli/M. Montinari), Bd. 10. München/Berlin/New York. Nishida, K. (1989 [Tokio 1924]): Über das Gute. Eine Philosophie der reinen Erfahrung, Frankfurt am Main. Polany, M. (1985 [1966: The Tacid Dimension. New York]): Implizites Wissen. Frankfurt am Main. Royce, J. ([1901] 1959): The World and the Individual. First Series. New York. Saenger, P. (1982): Silent Reading: Its Impact on Late Medieval Script and Society, in: Viator 13, 367-414. Saenger, P. (1990): The Separation of Words and the Order of Words. The Genesis of Medieval Reading, in: Scrinura e Civilta 14, 49-74. 71
Saenger, P. (2000): On Space between Words: The Origins of Silent Reading, Interview mit Jill Kitson, 4. 1. 2000, Radio National, lingua franca. Schäfer, A. (1999): Unbestimmte Transzendenz. Bildungsethnologische Betrachtungen zum Anderen des Selbst. Opladen. Schmitz, H. (1966): System der Philosophie, Bd. II, 1. Teil, Der Leib. Bonn. Schmitz, H. (1992): Leib und Gefühl. Paderborn. Sennen, R. (1997): Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt am Main. Shizuteru, U. (Hg.) (1990): Nishida Tetsugaku e no toi (Questioning Nishida's Philosophy). Tokio. Spencer-Brown, G. (1997): Gesetze der Form. Lübeck. Thanassas, P. (1997): Die erste »zweite Fahrt«. Sein des Seienden und Erscheinen der Welt bei Parmenides. München. VaJeiy, P. (1989): Cahiers/Hefte, Bd. 3. Frankfurt am Main. Vico, G. (1979): Über die älteste Weisheit der Italier, wie sie zu erheben ist aus den Ursprüngen der lateinischen Sprache. München. Waidenfels, B. (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main. Wolf, S.J. (1797): Beweis, daß das Walzen eine Hauptquelle der Schwäche des Körpers und des Geistes unserer Generation sey. Halle.
Gabriele Klein Das Theater des Körpers Zur Performanz des Körperlichen
Der Körper hat schon einige Konjunkturzyklen durchlebt. Seit nunmehr fast 30 Jahren befindet sich der Diskurs um den Körper in einer Phase des Aufschwungs. Bereits 1982 verkündeten Dietmar Kamper und Christoph Wulf programmatisch eine »Wiederkehr des Körpers« (1982), Ende der 1980er behauptete der Sportwissenschafder KarlHeinz Bette eine Aufwertung des Körpers (1989), und schließlich konstatierte die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen 1997: »So viel Körper war nie«. Freilich gab es auch immer Gegenstimmen, die das »Schwinden der Sinne« (Kamper/Wulf 1984) oder die »Zerstörung der Sinnlichkeit« (Nitschke 1981), so zwei Buchtitel, anmahnten oder, ganz dem Diktum Horkheimers und Adornos folgten, das ja bekanntlich lautet: »Der Körper ist nicht mehr zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird« (Horkheimer/Adorno 1971, S. 209). Der Leib erscheint hier als Erinnerung, als Gedächtnisspur, der Körper als das Unterlegene, Ausgebeutete. Aus dieser Perspektive wirkt auch der in allen Wissenschaftsdisziplinen, aber auch in der medialen Öffentlichkeit seit den i98oern anschwellende Diskurs um den Körper wie ein letzter Aufschrei vor dessen endgültigem Verschwinden in die abstrakten Welten virtueller und digitaler Räume. Der Körper also: Einerseits Zufluchtsort und Utopie, andererseits Mythos und Erinnerung. Man könnte hier fragen: Hat der Körper, der ja - so die gängige Position der Soziologie - die Materialität des Subjektes ist bzw. darstellt, gar keine Gegenwart? Die Konjunkturen von Körperaufwertung und Körperabwertung, von Wiederkehr und Verschwinden meinen nicht ein historisches Mehr oder Weniger von Körper-Haben oder Körper-Sein. Vielmehr markieren diese Zyklen metaphorisch die Aktualisierung jener historischen Diskursfiguren des Körpers in Wissenschaft, Kunst und Medien, die schon immer kulturkritische Positionen der Moderne begleitet haben. Denn in der Moderne stehen sich zwei antagonistische Körperkonzepte gegenüber, die den Körper in das Spannungsfeld zwi73
sehen Natur und Technologie einbetten (vgl. Klein 2001): Während z.B. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Lebensreform-, Körperkultur-, Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung der Körper als Natur und als solche als Ort gesellschaftlicher Utopie gedacht war, diskutierten und ästhetisierten z.B. die Futuristen eher die technologischen Aspekte des Körpers und situierten ihn an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. An der jüngeren Aufwertung des Körpers hat sich auch die deutschsprachige Soziologie - etwas später als die Kulturwissenschaften und etwas unwilliger als die angelsächsische Soziologie - beteiligt. Mittlerweile liegt eine stattliche Anzahl von jüngeren Buchpublikationen vor, die im wesendichen eine Perspektive auf den Körper werfen und auf verschiedene Weise den Zusammenhang von Körper und sozialen Kontexten herstellen wollen (Abraham 2002; Beer 2002; Gugutzer 2002; Hahn/Meuser 2002; Koppetsch 2000; Randow 2001; Rieger 2002; Sarasin 2001). Auffällig ist dabei, daß zumeist von dem Körper als einer singulären Kategorie die Rede ist und dies in einer historischen Phase, in der die Soziologie mit der Pluralisierung ihrer Begriffe wie z.B. Identität oder Geschlecht befaßt ist. Zudem taucht der Körper in der Soziologie vor allem auf der Ebene der Repräsentation auf, indem er als Materialisierung von Geschlecht und sozialem Status, als Träger sozialer Zeichen, als Medium der Selbstinszenierung vorgestellt wird. Wird der Körper als Objekt oder Gegenstand sozialer Repräsentation verstanden, dann vollzieht sich der Körperdiskurs auf der für die Theorie der Moderne charakteristischen Folie des Verhältnisses von Natur und Kultur: der Körper, verstanden als eine Synthese aus biologischem Geschlecht, psychischer Struktur und physischer Erscheinung, wird als sozial geformt interpretiert. Als solcher repräsentiert er die jeweiligen Ordnungsmuster des Sozialen und fungiert als Reproduktionsinstrument sozialer Macht. Erst in jüngerer Zeit ist auch in der Soziologie eine Körperdebatte entfacht, die Körper nicht nur als Produkt oder Instrument, sondern auch als Produzenten des Sozialen, als Agens oder Subjekt der Wirklichkeitsgenerierung verstanden wissen will. Erstaunlicherweise ist diese Perspektive keineswegs neu, sondern jene, die bereits von einigen Pionieren der soziologischen Körpertheorie formuliert wurde. Machttheoretiker des Körpers wie Norbert Elias, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault haben nicht nur auf die enge Verwobenheit 74
körperlicher Praxen mit sozialen Ordnungen aufmerksam gemacht, sondern auch den generierenden und produktiven Anteil der Körper an der Etablierung und Aktualisierung von Machtgefugen herausgearbeitet. Auf einer mikrotheoretischen Ebene wurde Entsprechendes von George H. Mead und Erving Goffman geleistet, indem sie, entgegen der von Max Weber eingeführten gängigen individualistisch-teleologischen Deutung sozialen Handelns die Körperlichkeit des Handelns selbst in den Mittelpunkt rückten. Der Körper erscheint hier nicht als zwangsläufiger Bestandteil sozialer Interaktion, sondern als deren unhintergehbare Basis, er wird als handelnder Organismus (Mead) und damit als Agent von Wirklichkeitsgenerierung gedacht. In der Tradition dieser Denkmodelle stehend, beschäftigt sich dieser Text mit der Performanz des Körperlichen. Ausgehend von der These, daß >Körper< ein soziales und historisches Konzept ist, das erst in der Performanz sozial wirksam wird, fragt der Text nach dem Verhältnis von Körperdiskurs und Körperpraxis und zielt darauf ab, Verkörperung als generatives Prinzip von sozialer und kultureller Praxis vorzustellen. Der Text handelt also, mit Pierre Bourdieu gesprochen, vom Praktisch-Werden des Körpers, anders formuliert: Vom Wirksam Werden des Körpers in der Praxis, von der Performanz des Körperlichen. Wie kann der Körper als Bedeutungsträger in der Praxis sozial wirksam werden? Um eine performativitätstheoretische Perspektive auf den Körper zu entwickeln, sollen in einem ersten Schritt jene Körperkonzepte skizziert werden, wie sie vor allem in dem 1995 eingerichteten DFGSchwerpunktprogramm (SPP) »Theatralität« herausgearbeitet wurden. Denn das SPP war von der Ausgangsthese geleitet, daß sich die Gegenwartskultur in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung konstituiert und hierbei die historischen, kulturellen und sozialen Formen der Körperverwendung von grundlegender Bedeutung seien.1 Die Frage der Performanz des Körperlichen spielte hiervon daher eine prominente Rolle. Beispielhaft an der Figur des Fitneßkörpers soll dann das Verhältnis von Körperdiskurs und Körperpraxis, das heißt: das Praktisch-Werden des Körperkonzeptes veranschaulicht werden. 1 Die Autorin war mit dem Projekt »Korporalität und Urbanität« an dem SPP Theatralität beteiligt, vgl. z.B. Gabriele Klein/Malte Friedrich (1003) und Gabriele Klein (2003). 75
Der theatrale Körper Aus den Veröffendichungen der in dem SPP Theatralität versammelten Projekte - diese finden sich vor allem in dem Sammelband des 2. Jahrescolloquiums »Verkörperung« (Fischer-Lichte u.a. 2001) - lassen sich vor allem zwei Körperkonzepte herausfiltern: der phänomenale Körper und der semiotische Körper. Es sind Körperkonzepte, die mitunter als Synonyme der Begriffspaare Körper und Leib, Körper-Sein und Körper-Haben verstanden werden und von daher die antagonistischen Diskursfiguren des Körpers in der Moderne fortschreiben. Der semiotische Körper meint den Körper als Bedeutungsträger, der phänomenale Körper die leibliche Präsenz, Leiblichkeit, Leibliches-in-der-Welt-Sein. Diese beiden Körper-Konzepte lassen sich einreihen in die aktuelle Körper-Leib-Debatte, die durch phänomenologische und anthropologische Ansätze auf der einen Seite und poststrukturalistische Positionen auf der anderen Seite geprägt ist. Wie hier eine Diskussion um die Vermittlung der beiden Körperkonzepte noch aussteht (vgl. Klein 2004), sind auch die Konzepte des phänomenalen und des semiotischen Körpers noch nicht in das Theatralitätskonzept eingebettet. Das historische Verhältnis zwischen dem phänomenalen und dem semiotischen Körper hat Erika Fischer-Lichte untersucht. Sie beschreibt den historischen Wandel im Beziehungsgefuge zwischen dem phänomenalen und dem semiotischen Körper in ihrem Buch »Theater im Prozeß der Zivilisation« (2000). Demnach ging mit der Herausbildung des Literaturtheaters im 18. Jahrhundert eine Transformation des phänomenalen Körpers des Schauspielers in einen Zeichenkörper einher. In der Theorie und Praxis der Schauspielkunst ging es nicht mehr darum, daß die Schauspieler ihre Leiblichkeit, ihren sinnlichen Körper zur Geltung brachten, sondern ihren Körper zum Bedeutungsträger einer literarischen Vorlage transformierten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe sich in der Theatertheorie, angeregt durch die Schauspieltheorie des Soziologen Georg Simmel, und in der künsderischen Praxis durch die Performancekunst der 1960er Jahre dieses Verhältnis von phänomenalem und semiotischem Körper wieder umgekehrt: Seitdem sei von einem Zusammenwirken von phänomenalem und semiotischem Körper die Rede. Das heißt, praxeologisch formuliert: Der semiotische Körper braucht den phänomenalen Körper, um überhaupt zur Erscheinung 76
zu kommen. An dieser Formulierung wird bereits ein Problem deutlich: Wie wird der Körper leibliche Praxis? Und: Ist dieser Vorgang theatral zu nennen? Mit diesen Fragen ist, aus der Perspektive konstruktivistischer und poststrukturalistischer Körperkonzepte, ein Problem benannt: Wie wird ein soziales Konzept >Wirklichkeit< und das heißt aus soziologischer Perspektive: soziale Praxis und individuelle Erfahrung? Eine Verlagerung vom semiotischen zum phänomenalen Körper konstatiert auch Dieter Mersch (2001; 2002), wenn er drei Grundformen des Körper-Spiels in der avantgardistischen Kunst seit den 1960er Jahren herausarbeitet: Während für die gestische MaJerei des Action Painting der Körper als Schriftzug erkennbar werde, der Körper also als Zeichen fungiere, thematisierten Happening und Aktionskunst den phänomenalen Körper. Mersch beschreibt diese Kunst als Ereignis, das auf einer »leiblichen Präsentation« (2001, S. 79) beruht, interpretiert aber den Körper hier noch als Träger der künsderischen Darstellung. Seine Funktion als Darstellungsmedium wandelt sich, so Mersch, erst in und mit den feministischen Performances der 1970er Jahre. Die Präsenz des Körpers werde zur symbolischen Manifestation von Selbsterfahrung, der phänomenale Körper zum Agent der Darstellung. Diese drei heuristisch zu unterscheidenden Grundformen markieren die Verlagerung des semiotischen Körpers hin zum phänomenalen Körper, vom Körper als Zeichen zur leiblichen Präsenz. Diese Yerleiblichung« des Körpers in der Performancekunst charakterisiert Mersch als eine »immanente Radikalisierung« (ebd.), die von dem Körper als Zeichenspur, als Markierung im Bild über die Medialität der Körper zur gelebten Präsenz verläuft, und einen Verlust an Distanz zum »leiblichen In-der-Welt-Sein« bedeutet, wie es Merleau-Ponty (1965) formuliert hat. Die Literatur- und Musikwissenschaften fokussieren weniger das Verhältnis zwischen dem phänomenalen und semiotischen Körper. Hier steht hingegen das Konzept des semiotischen Körpers im Mittelpunkt, geht es doch um die Frage des Verhältnisses von Körper und Text, von Körper und Stimme oder von Körper, Text und Klang. Die Figur des Zeichenkörpers wird hier vor allem unter dem Aspekt einer Verkörperung des Zeichens, verstanden als eine Materialisierung des Zeichens thematisiert. In der Literaturwissenschaft scheint das Thema »Körper« vor allem dann interessant zu werden, wenn diese sich zur Kultur- und Me77
dienwissenschaft öffnet. So konstatieren beispielsweise Caroline Pross und Gerald Wildgruber (2001) die strukturelle Unmöglichkeit einer direkten Bezugnahme des Themas Körper für eine Theorie des (literarischen) Textes. Diese strukturelle Unmöglichkeit könne nur aufgehoben werden durch eine Überwindung der bisher als unhinterfragt geltenden Opposition zwischen der literarischen Kultur von Texten und Monumenten und der theatralen, der Bewegung des Körpers geschuldeten Theorie des Performativen. Um dies zu leisten, sei nicht nur eine Hinwendung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft notwendig, wie sie Gerhard Neumann in der Einleitung zu dem Sammelband »Szenographien« (2000, S. 13) vorschlägt, sondern mit ihr eine Bindung des inszenatorischen Aktes an die Schrift. Die zentrale These lautet hier, daß das Konzept der Theatralität nicht nur auf den phänomenalen Körper, auf dessen Präsenz beruhen und mit der »materiellen Dynamik der Repräsentation« verknüpft sein könne, sondern der Text selbst als Bühne sprachlicher Performanz begriffen werden müsse. Diese These provoziert einen Begriff des semiotischen Körpers, der vom Humanen gelöst ist. Verkörperung meint hier die »Wirklichkeit setzende, vermittelnde und instruierende Arbeit der Sprache und des Textes« (Pross/Wildgruber 2001), die Materialisierung des Zeichens in der Praxis und als Praxis. In der Literaturtheorie hat der Körper dann Konjunktur, wenn der Text nicht als Produkt, sondern als Prozeß verstanden wird. Es liegt nahe, daß auch in der Musikwissenschaft der Körperbegriff nicht nur auf den humanen Körper bezogen ist. Zwar geht es hier auch um die Frage, ob der Körper des Musikers bei der Interpretation von Musik ein Transformator zwischen Schrift und Klang ist. Aber auch hier erhält vor allem die Frage nach der Materialisierung des Zeichens eine besondere Aufmerksamkeit, wenn beispielsweise Michael Malkiewicz (2001) nach dem Einfluß des Körpers auf die Musikpartitur fragt oder wenn der Noten-Text als KörperSchrift verstanden wird und aus dieser Sicht ein neuer transliteraler Gestus des Textes entsteht (Zenck/Fichte/Kirchert 2001). Auch hier veranschaulicht die Diskussion um die Bedeutung des Körpers die notwendige Erweiterung der Musikwissenschaft um eine kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive. Auch die sozial- und theaterwissenschaftlichen Zugänge richten ihr Augenmerk vor allem auf den Körper als Bedeutungsträger. Sie
thematisieren die Frage, wie der Körper zur Darstellung kommt und bearbeiten dies aus verschiedenen Perspektiven: Zum einen geht es um den Körper als Darstellungsmittel (Raab/Grunert/Lustig 2001), um den Körper als Darstellungsobjekt und Ausstellungsstück (Laux/ Renner/Schütz u.a. 2001) oder schließlich um den Körper als Agent oder Akteur der Inszenierung (Fischer-Lichte 2001, S. 18; Kröll 2001).
Der Körper als Träger von Bedeutung inszeniert sich diesen kulturwissenschaftlichen Ansätzen zufolge in dreifacher Position: als Medium oder Instrument, als Produkt und schließlich als Produzent von Wirklichkeit. In diese drei Positionen gelangt er durch einen als theatral zu kennzeichnenden Prozeß. Dieser theatrale Prozeß soll im folgenden als ein Vorgang der Bedeutungsproduktion verstanden werden. Er setzt auf der Ebene des Körpers, so die nun auszuführende These, dort ein, wo die diskursive Konstruktion des Körpers zur Praxis der Verkörperung wird. Diese These ist ausgehend von einem diskurstheoretischen Körperkonzept entwickelt, stellt aber die Frage, wie ein Körperkonzept Praxis, d.h. erfahrbar und als essentiell geglaubt wird.
Diskursfiguren des Körpers in der Moderne Daß der Körper zum Bedeutungsträger erklärt wird, ist kein spezifisches Phänomen der Moderne. Thomas Laqueur (1992) hat gezeigt, daß die Semantisierung des Körpers vielmehr ein Strukturprinzip des Sozialen ist. Was sich verändert, sind die Kontexte, die Diskursmuster des Sozialen, in die die Figuren des Körpers eingebettet werden. Die Verorrung des Körpers als Mittel, Objekt oder Agent von Darstellung rekurriert auf den für die Moderne charakteristischen binären Oppositionen, in diesem Fall vor allem auf die Dichotomie von Subjekt und Objekt, auf das Verhältnis von Körper und Geist, von Körper und Selbst, von Körper und Identität. Der Körper ist hier in ein Hierarchie- und Machtverhältnis gesetzt. Entsprechend der Darstellungsfunktion zeigt sich das Machtverhältnis in unterschiedlicher Weise. So ist der Körper als Darstellungsmittel in ein instrumentelles Verhältnis zum Selbst gesetzt:2 das Ich 2 Vgl. dazu auch Ronald Hitzler (1002).
verfügt über den Körper, nutzt ihn zur Inszenierung des Selbst oder zur Repräsentation einer Idee, Weltanschauung oder des sozialen Status. Die Figur des Körpers als Darstellungsobjekt formuliert ein noch deutlicheres Herrschartsverhältnis: Der Körper ist, um es radikal zu formulieren, Opfer von Inszenierungsstrategien, er verfugt nicht über Eigeninitiative, der Körper wird eingesetzt. Die Figur, die den Körper als Ausstellungsstück beschreibt, unterteilt zudem den Körper in ein Innen und ein Außen. Ausstellungsstück ist die Körperhülle, oder in der Begrifflichkeit von Richard Sennett: der öffentliche Körper (1986), also jener Körper, der überhaupt erst in der Moderne mit der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit die historische Bühne betrat. Den Körper als Agenten5 oder als »Handlungssubjekt« (Gebauer 2004) von Inszenierungen vorzustellen, wirft hingegen eine gegenteilige Problematik auf. Dem Körper eine Subjektposition zuzugestehen, provoziert die Frage nach dessen Handlungskompetenz oder umfassender: nach einer Praxis des Körpers. Wie also wird der Körper als Bedeutungsträger in der Praxis sozial wirksam? Anders formuliert: Wie kann der Körper ein inszenatorisches Moment von Praxis werden?
Körper: Die Produktion des Produzenten Wenn man Theatralität als ein immanentes Prinzip von Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis versteht und es als ein Konzept begreift, mit dem sich die Praxis der Bedeutungsproduktion (Neumann/Pross/Wildgruber 2000, S. 13) beschreiben läßt, dann stellt sich die Frage, wie >Praxis< entsteht und welche Rolle der Körper in ihr spielt. Folgt man den oben dargelegten Konzepten, dann liegt die These nahe, daß sowohl der phänomenale als.auch der semiotische Körper am Prozeß der Bedeutungsproduktion, umfassender formuliert: am kulturellen Prozeß beteiligt sind. Radikaler gesprochen: Das Theatralitätskonzept stellt den Körper als eine zentrale Kategorie von Kulturtheorie vor. Körper ist sowohl generatives Element von kultureller Praxis als auch Bedeutungsträger in der Praxis. Wie läßt sich diese Doppelfunktion des Körpers theoretisch herleiten? Und welche Rolle spielt die aus soziologischer Perspektive 3 Vgl. dazu auch Michael Meuser (2002). 80
relevante, aber im Konzept der Theatralität wenig berücksichtigte Frage nach dem Verhältnis des Körpers zur Macht? Es gibt einige Soziologen, die den Körper nicht nur als einen wesendichen Bedeutungsträger in der Praxis beschrieben haben, sondern ihn in der doppelten Funktion als Bedeutungsträger und als generatives Element von kultureller und sozialer Praxis theoretisch positioniert und in ein Verhältnis zur Macht gestellt haben. Dazu zählen an prominenter Stelle Autoren wie Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Sie betonen - auf unterschiedliche Weise - die Doppelgesichtigkeit des Körpers, nämlich Praxis zu produzieren und durch Praxis produziert zu sein, zugleich Produzent und Effekt von Praxis zu sein. Elias (1976) fokussiert die Formierung der Psycho- und Affekthaushalte. Dem in einem interdependenten Gefüge von Figurationen entstandenen »Psychohaushalt« unterstellt er ein generatives Prinzip. Triebkontrolle und Affektregulierung sind nicht nur Effekt sondern auch Voraussetzung für Kultur und Zivilisation. Elias hat den Körper nicht substanziell, sondern relational definiert. Körper existieren für Elias nur in Figurationen, also in ihren Bezügen zueinander. >Körper< sind für Elias keine singulare Kategorie, sondern nur im Plural sinnvoll beschreibbar. Foucauks Körpertheorie (1981) wendet sich ebenfalls gegen die fiir eine kritische Theorie der Moderne charakteristische Repressionsthese des Körpers. Sein Interesse richtet sich nicht darauf, ein Herrschaftsverhältnis zum Körper zu formulieren. Vielmehr geht es ihm darum, Körper als Effekt von Machttechnologien vorzustellen und zugleich diesen Körper als Produktionsbedingung von Macht zu begründen. In der Zeit, in der das Literaturtheater sich durchzusetzen beginnt und mit ihm die Vormachtstellung des semiotischen Körpers im Theater, konstatiert Foucault eine »Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht« (ebd., S. 174). Ebenso wie Elias die Zivilisierung des Körpers als einen notwendigen Baustein von Kulturproduktion begreift, versteht Foucault die Disziplinierung der Körper als einen Produktionsmechanismus des Sozialen. Der Körper ist der Effekt und zugleich der Produzent einer Ökonomie der Macht. Bourdieu schließlich charakterisiert mit der Theorie des Habitus die Einschreibungspraxis in die Körper ebenfalls als einen, Konventionen aktualisierenden und sie stabilisierenden Vorgang. Der Körper erscheint hier als eine dem Sozialen entsprechende und dieses
grindlegend ordnende Struktur. Bourdieu hat den Gedanken stark gemacht, daß >Körper< nicht abstrakt in Erscheinung treten können, sondern immer nur als habitualisierte, daß heißt, aus soziologischer Perspektive, als materialisierte Gestalt von Geschlecht, Klasse, Ethnie und Bildung. Die Semantisierung des Körpers meint aus dieser Perspektive die Sichtbarkeit sozialer Differenz. Erst ihre Materialisicrung liefert die Möglichkeit einer Essentialisierung des Sozialen. Wie bereits Elias und Foucault setzt auch Bourdieus Theorie des Körpers den Körper nicht als gegeben voraus. Auch er beschreibt ihn als einen Prozeß sozialer Konstruktion und Inszenierung und diesen als einen Effekt von Macht. Nur als Effekt von Macht kann der Körper zum Bedeutungsträger und zugleich in einer Art »performativer Magie« (Bourdieu 1990, S. 88) zum Produzenten von Praxis werden. Das In-Erscheinung-Treten des Körpers bedeutet aus diesen soziologischen Perspektiven immer ein Wirksam-Werden von Macht. Und genau hier liegt der Macht-Aspekt der Performativität des Körpers. >Körpen werden, wie die Theorien von Elias, Foucault und Bourdieu zeigen, als zivilisierte Gestalt, als diskursives Konstrukt oder als habitualisiertes Muster des Sozialen gemacht. Die Performativität des Körpers korrespondiert damit unmittelbar mit einer Theatralität der Macht: Denn in dem In-Szene-Setzen des Körpers besteht der theatrale Aspekt von Bio-Macht. Wie aber wird der Körper in Szene gesetzt? Wie wird er Praxis und als Praxis sozial wirksam?
Die Performativität des Körpers Für die Frage, wie der Körper als Bedeutungsträger in der Praxis wirksam wird, also wie er Agent von Praxis wird, erweist sich das Konzept der Performativität als hilfreich, besonders dann, wenn >Körper< nicht substantiell oder essentialistisch verstanden wird, sondern als eine Diskursfigur, die erst in der Performanz >wirklich<, das heißt sinnlich erfahrbar und sozial wirksam wird. Mit dem Konzept der Performativität rückt ein Begriff des Körpers in den Hintergrund, der >Körper< als materielle Vergegenwärtigung eines authentischen Sinns versteht. Mit ihm wird auch die Eindimensionalität eines konstruktivistischen Körper-Konzeptes augenfällig. Mit dem Performativitätskonzept wird vielmehr ein Begriff des Kör82
pers relevant, der ihn als Agens einer Wirklichkeitsgenerierung vorstellt - ohne allerdings zwangsläufig einen phänomenalen Körper zu Grunde zu legen. Ganz im Gegenteil: >Körper< ist aus der Perspektive einer poststrukturalistischen Performativitätstheorie in der Nachfolge Judith Buders weder essentiell oder substantiell gegeben noch primär als ein >eigener<, >ganzer< oder zerstückelten (Benthien/Wulf 2001) Raum der Selbst-Erfahrung beschreibbar. Vielmehr lautet die These, daß der diskursiv hergestellte Körper erst in der Performanz als essentieller Erfahrungsraum hergestellt wird. Erst der Glaube an die Wirklichkeit >Körper< und dessen Einzigartigkeit, erst die >IUusio< (Bourdieu) des eigenen Körpers als Identität, erst die Imagination des Körpers als Ganzheit (Lacan), läßt den Körper zum Ort der Wirklichkeitsüberprüfung werden. Hier liegt vielleicht auch der Grund dafür, daß der Körper, ob in der Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder im Kampf für >Freie Sexualität« in den 1970er Jahren, zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Utopien werden konnte. Dieser Glaube entsteht über die Essentialisierung und Ontologisierung des Körpers, die, folgt man Bourdieu, verschiedene Einsetzungsriten (1990) benötigt. Erst dieser Vorgang schafft die Illusio des Körpers als Essenz und aktualisiert den Glauben an den Körper als Ding, als Objekt, als Bedeutungsträger oder als Natur. Das instrumenteile und reflexive Verhältnis zum eigenen Körper, die Empfindung eines Körper-Habens, ist demnach das Produkt eines Wirklich-Werdens von Körperfiguren der Moderne. Wenn Theatralität die Praxis der Bedeurungsproduktion meint, dann läßt sich Performativität als eine Strategie beschreiben, über die Prozesse der Bedeutungsproduktion wirklichkeitskonstituierende Kraft erlangen können. Verkörperung wäre demnach der Modus der Generierung von Praxis, die Semantisierung des Körpers wäre ihr Effekt.
Der Fitneßkörper: Die performative Kraft der Bild-Körper Der Fitneßkörper ist ein Bild-Körper, nicht ein Körper, den Menschen haben oder sind. Der Fitneßkörper als diskursives Konstrukt entsteht im Kontext des Übergangs von den, wie Michel Serres meint, >harten< zu den >sanften< Technologien. >Harte< Technologien 83
sind jene Werkzeuge, von denen die Menschheit seit jeher Gebrauch macht, also alles vom Steinwerkzeug bis zur Atombombe. >Sanfte< Technologien hingegen sind informationeller Natur. Sie sind keineswegs historisch neu, so daß sich keine lineare Entwicklung von harten zu sanften Technologien unterstellen läßt. Sie sind älter, als es heutige Debatten um die Mediengesellschart gern glauben wollen und - wie beispielsweise die Schrift - an zivilisatorischen Prozessen encscheidend beteiligt. >Harte< Technologien besitzen Macht über das >Harte«, beuten es aus, sanfte« Technologien entsprechend über das >Sanfte<. Der Körper als materielle Gestalt gilt in unserer Kultur als das >Harte<, als >Materie<, das Gedächtnis beispielsweise als das >Sanfte<, das Ideelle. Der Übergang von den >harten< zu den >sanften< Technologien wird aus soziologischer Perspektive gern linear und evolutionär als der Transfer von der Industriegesellschaft zur Mediengesellschaft bezeichnet. Mit der Transformation der sozialen Strukturkategorie von Arbeit (in der Industriegesellschaft) zu Kommunikation (in der Mediengesellschaft) verändert sich auch der Diskurs um den Körper und mit diesem die alltäglichen Techniken, den Körper zu gebrauchen. In der Industriegesellschaft war der Körper an Körpermaschinen, die harten Technologien, gekoppelt, die Leistungsstärke und physische Kraft des Körpers, die in bestimmten vorgegebenen Zeiteinheiten vollbracht werden mußten, waren notwendig für die ökonomische Produktivität des Systems. Zeitgleich mit der Produktion von Arbeitskörpern entsteht eine Paradoxie, bindet doch der Diskurs der Moderne die Konstitution des Subjekts an die Vorstellung einer Unversehrtheit, Einmaligkeit, Natürlichkeit und Authentizität des individuellen Körpers. Der Glaube an die unwiederbringliche Besonderheit des einzelnen Körpers ist das weltanschauliche Pendant, um den Arbeitskörper auch tatsächlich produktiv werden zu lassen: Erst der Glaube, daß der Mensch sich für sich selbst (für ein besseres Leben im Jenseits oder Diesseits) körperlich verausgabt, schafft den Rahmen dafür, Arbeit am und mit dem Körper auch tatsächlich leben zu wollen. Zudem war die Aufmerksamkeit für die Gewährleistung der im Kontext der Menschenwürde mitgedachten Unversehrtheit des Körpers schon immer klassenspezifisch und auch ethnisch differenziert. Der Körperdiskurs der Moderne ist ein Diskurs über Körper im Plural, über 84
geschlechts-, klassenspezifisch und ethnisch differenzierte Körper. Auch in dieser Diskurspraxis zeigt sich die Relationali tat von Körpern im Kontext von Macht. Mit der Medialisierung der Kommunikation und der Globalisierung der Wirtschaft verliert in den nachindustriellen Gesellschaften der physische Körper für Arbeitsprozesse an Bedeutung. Die Arbeit in der Mediengesellschaft befördert sanfte Technologien und erfordert nicht primär physische Kraft, sondern eher die Fähigkeit, Bewegungsarmut aushalten zu können bei einem gleichzeitig hohen Einsatz von mentaler Arbeitsleistung. Der Verlust der sozialen Bedeutung des Arbeitskörpers bringt den Körper also nicht zum Verschwinden, wie die zivilisations- und kulturkritisch inspirierte Diskussion unterstellt - und dementsprechend die Geschichte des Körpers als eine Geschichte des Verlusts beschreibt. Vielmehr fand eine Verschiebung zwischen den sozialen Feldern statt, in denen der Arbeitskörper bedeutsam und sozial wirksam wird. Denn in den Diskursen der Nachmoderne taucht der Arbeitskörper wieder auf im Feld der Freizeit, wo nun - zur Kompensation oder zur Reproduktion der eigenen Leistungsfähigkeit, für das eigene Wohlbefinden oder das äußere Erscheinungsbild - jene physische Arbeit geleistet wird, die sich einst in der Arbeitswelt vollzog. Und genau in dieser alltäglichen Arbeit am eigenen Körper, die als ein individuelles Muß verstanden wird, aber eine soziale Pflicht ist, liegt das performative Moment. Erst in dieser Performanz der Arbeit am und mit dem Körper als einer alltäglichen Selbsttechnologie wird der Diskurs um den Fitneßkörper zur >Wirklichkeit<, indem das Bild des Fitneßkörpers erfahren und diese Arbeit als individuelles Bedürfnis geglaubt wird. Die Fitneßwelle, die in Deutschland mit der Trimm-Trab-Bewegung in den 1970er Jahren einsetzte, korrespondiert mit dem Übergang zur Mediengesellschaft. Man könnte in Anlehnung an Michel Foucault sagen: Die Fitneßwelle bereitete die Körper auf die neuen Anforderungen der Mediengesellschaft vor, indem sie den Körper der Freizeit - als Pendant zum Körper der Arbeit - zum Fitneßkörper disziplinierte. Der Fitneßkörper ist demnach eine Synthese aus Arbeits- und Freizeitkörper der Industriegesellschaft. Die Mediengesellschaft als Bildgesellschaft benötigt und produziert einen Körper, dessen Physis vor allem zur öffendichen Inszenierung und sozialen Positionierung von Interesse ist und dessen Äußeres und Inneres ge85
pflegt und >gereinigt< werden muß. Der Fitneßkörper ist ein makelloser, gepflegter und gestylter Körper: Als Bild-Körper ist er ein museal isierter Körper, geeignet zur Mumifizierung von Jugendlichkeit. Die Ästhetisierung des Körpers, die keineswegs erst, wie manche beklagen, mit der Postmoderne eingesetzt hat, sondern schon immer die Kunstgeschichte des Körpers und die Geschichte der, um es mit Bourdieu zu sagen, sozial legitimierten« Körper, also das Körpermodell der >höheren< Gesellschaftsklassen geprägt hat, ist beim Fitneßkörper ein alltägliches Geschäft geworden. Und dies bedeutet Arbeit, und zwar Arbeit mit und an >harten< Technologien in der Freizeit: Die Körpermaschinen sind in die Fitneßstudios verlegt worden. Aber: Bei der alltäglichen Herstellung des Fitneßkörpers wird nicht mehr wie beim Arbeitskörper - mit dem Körper, sondern an dem Körper gearbeitet. Der Fitneßkörper ist nicht das Mittel, sondern erst das artifizielle Produkt von Arbeit. Zeitgleich mit der Produktion des Fitneßkörpers wird das Gedächtnis, das als etwas Individuelles und Subjektives gilt, nach außen verlagert. Bereits der Buchdruck, aber verstärkt die digitalen und Bildmedien haben ein kollektives Gedächtnis produziert und das Individuum von seiner Gedächtnisleistung befreit. Das Gedächtnis, von dem zwar behauptet wird, es sei im Körper beherbergt, von dem aber niemand weiß, wo eigendich, ist zu einem dem Subjekt äußerlichen Gegenstand geworden. Dieser Vorgang läßt sich als ein Prozeß der Ausbeutung des >Sanften< durch >sanfte< Technologien beschreiben. Vielleicht liefert diese Veräußerung des Gedächtnisses in Bilder und digitale Codes die Voraussetzung dafür, den Körper als Visitenkarte des Selbst anzusehen und ihn in den Mittelpunkt der Subjektkonstitution zu stellen. Die Kollektionen der wichtigen Modehäuser treiben die Bildlichkeit des Körpers als ein Medium der Selbstthematisierung auf die Spitze: der nackte Körper wird zum Kleid, die Brust zum sichtbaren Bestandteil des Schnitts. Mit dem Fitneßkörper wurde die Sorge um sich selbst zur Sorge um den eigenen Körper. Denn es ist der Körper, an dem sich, wie an keinem anderen >Gegenstand<, die Intensität der Aufmerksamkeit und Sorgfalt für das eigene Leben zeigt. Die Körperdisziplinierung wirkt hier nicht mehr von außen, über äußere Zwänge, sondern, wie es Gilles Deleuze (1993, S. 254-260) in seiner Skizze einer Kontrollgesellschaft in Abgrenzung zu Foucaults Diziplinargesellschaft angedeutet hat, über die freiwillige und lustvolle Selbstkontrolle des 86
eigenen Körpers. Und diese Selbstkontrolle läßt sich als ein performativer Akt beschreiben, der sich nicht über ein einmaliges Initiationsritual vollzieht, sondern ein permanent sich vollziehender Vorgang ist. Im Unterschied zu Ritualen, die beispielsweise, wie die Jugendweihe, den Jugendkörper zum Erwachsenenkörper in einem einmaligen Akt werden lassen, muß der Fitneßkörper über und in körperlichen Performanzen ständig neu hergestellt und neu erfahren werden. Die Performanz des Körperlichen thematisiert nicht einen Vorgang der Überformung oder Verformung, der Manipulation eines qua Natur gegebenen Körpers. Vielmehr wird in diesem performativen Akt selbst der Körper als »Gegenstands als Objekt der Gestaltung und Ästhetisierung erst hervorgebracht und die Struktur des Begehrens erst gebildet. Dem Gelingen oder Scheitern der Performanz kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Gelingt die Performanz - und dazu ist ein ritueller Rahmen, eine Sinnwelt erforderlich (Schiefifelin 1996) - , dann hat sich die Figur des Fitneßkörpers in die Strukturen des Begehrens eingeschrieben. Auf diese Weise wird der Fitneßkörper als Ordnungsfigur, als Sinnstifter, als konventionalisiertes Medium sozial wirksam. Der Körper ist im Netzwerk der Machttechnologien entsprechend erfolgreich positioniert. Es gibt derzeic viele Möglichkeiten, den Körper als ästhetisiertes Objekt, als Bild herzustellen: Piercing, Branding, Tattoos, Body Modification, Fitneß- und Muskeltrainings, Diäten, Schönheitsoperationen oder diverse Sportarten. Der Fitneßkörper zielt nicht auf die Formung der Hülle, sondern nahezu auf alle Körperteile und -funktionen. Der makellose Fitneßkörper ist nicht nur das entsprechende Äquivalent zur Gesellschaft der Bilder. Er selbst ist ein Bild-Körper, dessen Identitätsversprechen trügerisch ist, kann doch im performativen Akt das Bild immer verfehlt werden. Zygmunt Bauman hat auf das trügerische Identitätsversprechen des Körperkults aufmerksam gemacht. Das >Machen< des Fitneßkörpers wäre demnach nicht ein Garant von Identität, sondern Fluchtversuche, die in der permanenten Verfehlung des Bildes bestehen. Der Fitneßkörper läßt sich demnach nicht als Gegenstand von Identität verstehen, sondern als Abwesenheit von Gegenständlichkeit, als Alterität. Diese These hat Dietmar Kamper (1999) in einem seiner letzten Aufsätze stark gemacht. Hier hat er die Wiederkehr des Körpers, die er noch einige Jahre zuvor verkündet hatte, als einen nicht-körperlichen Vorgang beschrieben. Die Wiederkehr des Körpers fände, so 87
sein Resümee, im Bilde, im Imaginären statt. Die Körper verschwänden, die Bilder dominierten. Es gebe selbst eine Dominanz der Bildlichkeit der Körper über die Körperlichkeit der Bilder. Deshalb sei nicht der Körper, sondern das Verhältnis von Körper und Bild das zentrale Thema einer Theorie des Körpers. Aus dieser Perspektive erscheinen Bildproduktionen und Selbsttechnologien des Körpers als mediale und performative Normalisierungsstrategien, bei denen die Grenze zwischen humanen und virtuellen Körpern längst überschritten ist. Denn mit dem gestaltbaren Körper ist ein Körper-Bild entworfen, daß eine grenzenlos scheinende Möglichkeit des Entwerfens und Zusammensetzens zeichnet. Cut V mix als neue Körpertechnik. Cut V mix nennt die Popmusik die Verfahren der technologischen Produktion von Musik. Eingeführt wurde diese Technik durch das DJ-ing im HipHop in den 1970er Jahren, just zu jener Zeit, in der auch die Fitneßgesellschaft ihre Geburtsstunde erlebte. Die Technik des Schneidens, Mixens und Scratchens wurde in den 1990er Jahren übernommen und populär durch die elektronisch produzierte Musik des Techno. Cut 'n Mix bedeutet, Schallplatten zugleich auf zwei Plattentellern abzuspielen, und die Musik durch Schneiden, Mixen und Scratchen so zu manipulieren, daß eine neue Musik entsteht. Eine Musik, die nur in diesem Moment existiert, die immer wieder neu entsteht, immer wieder neu erfunden werden und gemacht werden muß. Eine Musik, die sich von der Aura des Originals längst verabschiedet hat und ein besonderes Verhältnis zur Musikgeschichte entwickelt, indem sie sie einfach sampelt. Sie ist ein technologisch hergestellter Stilmix und erst als solcher etwas Besonderes, Einmaliges, Unwiederbringliches. Die alltäglichen Strategien des Körpers der Nachmoderne bedienen sich dieser Technik des Cut V mix. Arbeit am Körper: das ist das permanente Herstellen im Sinne eines Neuzusammensetzens des Körperlichen.
Literatur braham, Anke (2002): Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag. Opladen. eer, Bettina (2002): Körperkonzepte, interethnische Beziehungen, Rassismustheorien. Berlin. enthien, Claudia/Christoph Wulf (Hg.) (2001): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek. ette, Karl-Heinz (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin. <>urdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien. iovenschen, Silvia (1997): So viel Körper war nie, in: Die Zeit, 47, 631T. )eleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Ders., Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main, 254-260. Llias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt am Main. : ischer-Lichte, Erika (2000): Theater im Prozeß der Zivilisation. Tübingen und Basel. ? ischer-Lichte, Erika (2001): Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), 11-25. :
ischer-Lichte, Erika/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.) (2001): Verkörperung. Tübingen-Basel. : oucault, Michel (1981): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. ^ebauer, Gunter (2004): Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper, Identität. Eine phänomenologischsoziologische Untersuchung zur personalen Identität. Opladen. Kahn, Kornelia/Michael Meuser (Hg.) (2002): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz. Hitzler, Ronald (2002): Der Körper als Gegenstand der Gestaltung. Über physische Konsequenzen der Bastelexistenz, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz, 71-85. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno (1971 [1947I): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main. Kamper, Dietmar/Christoph Wulf (Hg.) (1982): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main. 89
Kamper, Dietmar/Christoph Wulf (Hg.) (1984): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main. Kamper, Dietmar (1999): BilderKörper X KörperBilder, in: Julika Funk/Cornelia Brück (Hg.), Körper-Konzepte. Tübingen, 19-24. Klein, Gabriele (2001): Der Körper als Erfindung, in: Gero von Randow (Hg.), Wie viel Körper braucht der Mensch? Hamburg, 54-62. Klein, Gabriele (2003): Die Theatralität des Politischen, in: Armin Nassem/ Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Sonderband 14 der Sozialen Welt«. Baden-Baden, 605-618. Klein, Gabriele (2004): Bewegung denken. Ein soziologischer Entwurf, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld. Klein, Gabriele/Malte Friedrich (2003): 1s this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt am Main. Koppetsch, Cornelia (Hg.) (2000): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz. Kröll, Katrin (2001): Körperbegabung versus Verkörperung. Das Verhältnis von Körper und Geist im frühneuzeidichen Jahrmarktspektakel, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2 0 0 ] , 29-52.
Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main. Laux, Lothar/Karl-Heinz Renner/Astrid Schütz/u.a. (2001): Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit. Von Self-Monitoring zur Persönlichkeitsdarstellung, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001, 239-255. Malkiewicz, Michael (2001): Zur Verkörperung des Kastraten im Musiknotat. Die >Stimme des Kastraten< in den Opern von Wolfgang Amadeus Mozart, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/MatthiasWarstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001, 309-313Merleau-Ponty, Maurice (1965): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Mersch, Dieter (2001): Körper zeigen, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001, 75-89. Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura: Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main. Meuser, Michael (2002): Körper und Sozialität. Zur handlungstheoretischen Fundierung einer Soziologie des Körpers, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Tübingen-Basel 2001, 19-44. Neumann, Gerhard/Caroline Pross/Gerhard Wildgruber (Hg.) (2000): Szenographien. Theatralität als Modell der Literaturwissenschaft. Freiburg. Nicschke, Bernd (1981): Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Frankfurt am Main. Pross, Caroline/Gerald Wildgruber (2001): Mimik im Spiegel der Sprache, 90
in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001, 53-73. Raab, Jürgen/Manfred Griinert/Sylvia Lustig (2001): Der Körper als Darstellungsmittel. Die theatrale Inszenierung von Politik am Beispiel Benito Musselinis, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001,171-198. Randow. Gero von (Hg.) (2001): Wie viel Körper braucht der Mensch? Hamburg. Rieger, Stefan (2002): Die .Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst. Frankfurt am Main. Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1725-1914. Frankfurt am Main. Schieffelin, Edward (1996): On Failure and Performance. Throwing the Medium Out of theSeance, in: Carol Laderman/Marina Roseman (Hg.), The Performance of Healing. London, 59-89. Sennett, Richard (1986): Ende und Verfall des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main. Zenck, Martin/Tobias Fichte/Kay-Uwe Kirchert (2001): Gestisches Tempo. Die Verkörperung der Zeit in der Musik - Grenzen des Körpers und seine Überschreitungen, in: Erika Fischer-Lichte/Chrisrian Horn/Matthias Warstat (Hg.), Tübingen-Basel 2001. 345-368.
Hubert Knoblauch Kulturkörper Die Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie * 1. Der Körper und die Soziologie In den letzten Dekaden scheint der Körper eine regelrechte Konjunktur zu erleben: der Feminismus, die sexuelle Revolution, Body Art, verschiedene Körpertherapien, der Sportismus, aber auch die rasanten Gesundheitsmoden machen den Körper immer ausdrücklicher zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Vielfach wird dabei die Auffassung vertreten, der von der judäochrisdichen Tradition vermeintlich ignorierte Köper werde damit gleichsam rehabilitiert und helfe, die rationalistische Schlagseite der modernen Kultur zu korrigieren. Der ohnehin als Speerspitze der Rationalisierung geltenden Wissenschaft wird dabei vorgeworfen, den Körper weithin mißachtet zu haben. Wo sie ihn betrachtet habe, sei er zugleich zum Gegenstand einer ihm fremden Analyse geworden, die ihn eher unterworfen als untersucht habe. Immerhin betrachtet der vorliegende Sammelband die Nichtbehandlung des Körpers keineswegs als Faktum, sondern als Frage. Denn in der Tat kann man sich fragen, ob denn der Körper tatsächlich so stiefmütterlich behandelt wurde, wie dies oft behauptet wird. Werfen wir einen Blick auf die Körpersoziologie. Hier lassen sich mehrere Phasen der Behandlung des Körpers unterscheiden. Schon die klassische Soziologie entwickelte das, was Jean-Marie Bertholet als eine »sociologie implicite du corps« bezeichnet.' Eine solche »implizite Soziologie des Körpers« findet er schon bei Engels, bei Freud und bei Durkheim. Le Breton macht eine zweite Phase aus, in der der Körper zwar nicht insgesamt betrachtet wird, wohl aber Einzelheiten des Körpers (Le Breton 1992, S. 18 ff.). Analysen dieser Art fin* Dieser Beitrag stellt eine Ausarbeitung und Weiterfiihrung von Knoblauch (1999) dar. 1 Bertholet (1983) versteht darunter eine Soziologie, die den Körper nicht vernachlässigt, aber auch eine Reihe anderer Aspekte untersucht. 92
den sich etwa bei Simmel, der sich mit dem Austausch von Blicken, mit den Sinnen und mit dem Gesicht beschäftigt hat. Von besonderer Bedeutung dürfte hier auch die Analyse der Bevorzugung der rechten Hand sein, die Robert Hertz schon im Jahre 1909 veröffentlicht hat.2 Anhand von ethnologischem Material zeigt er auf, daß die starke Tendenz zur Rechtshändigkeit nicht allein aus physiologischen Ursachen erklärt werden kann. Sie werde vielmehr durch die kulturelle Ungleichheit der beiden Körperhälften verständlich, die ihrerseits die Dualität von Sakralem und Profanem auf den Körper übertrage. Diese punktuelle Körpersoziologie reißt bekanntlich nicht mit Hertz ab. Marcel Mauss schafft mit seinen »Techniken des Körpers« von 1936 einen der wichtigsten Klassiker der Körpersoziologie, in dem er sehr anschaulich macht, wie schon die grundlegendsten körperlichen Verhaltensweisen (z.B. gehen oder schwimmen) als kulturelle Muster angesehen und von den einzelnen erlernt werden müssen.3 Um diese Zeit sind wir in Deutschland Zeugen einer recht umfassenden theoretischen Entwicklung: der philosophischen Anthropologie. Diese ist Zwar nur bedingt in der Soziologie angesiedelt (etwa durch die Arbeiten Plessners und Gehlens4), die aber auch bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus auf die Soziologie ausstrahlt.5 Plessner (1970) war es ja auch, der die mittlerweile kanonische Zweiseitigkeit des Körpers herausgestellt hat: Wir haben nicht nur einen Körper, wir sind auch ein Körper. Noch in den 1930er Jahren erschien Norbert Elias' monumentaler (lange übersehener) »Prozeß der Zivilisation«, der sich auf eine Weise mit der geschichtlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Formung des Körpers beschäftigte, wie sie für die gegenwärtige Geschichte des Körpers prägend geworden ist.6 In den Vereinigten Staaten erscheint 1941 die faszinierende Arbeit von David Efron über die Gesten-Kultur jüdischer und italienisch2 In der deutschen Übersetzung von Huberr Knoblauch vgl. Hertz (2000). 3 Vgl. Mauss (1978); diesem Text gingen schon in den 1920er Jahren andere Arbeiten von Mauss über Gcfühlsausdrücke und Trauerverhalten voran. 4 Es sollte übrigens betont werden, daß gerade mit Blick auf den Körper die Grenze zwischen Anthropologie und Soziologie auch in der Durkheimschen Tradition fließend war. Noch Goffman war ja u.a. Schüler des Anthropologen Birdwhistell, der sich mit der körperlichen Kommunikation beschäftigt hat. 5 Ein sehr eindrückliches Beispiel dieser Ausstrahlung ist etwa Schelsky (1955). 6 Ein gutes Beispiel fiir eine gegenwärtige Körpergeschichte in dieser Tradition (die eine diskursanalytische Linie verfolgt) ist die Arbeit von Sarasin (2001). 93
stämmiger Amerikaner, im Jahr danach die berühmte Foto-Studie von Gregory Bateson und Margaret Mead (1942) und 1947 der systematische Vergleich von Körperhaltungen LaBarres (1947), der deutlich den Spuren von Marcel Mauss folgt. Das gilt auch für eine Reihe von Untersuchungen aus den i95oern, die von Kluckhohn, Hall und Hewes unternommen wurden und sich vor allem mit dem interkulturellen Vergleich von Körperfertigkeiten beschäftigen.7 Ohne große zeidiche Brüche beginnen dann die Arbeiten von Birdwhistell und Goffman, Foucault, Douglas, Bourdieu. Diese Autoren bilden auch den Grundstock für die vor allem von Großbritannien ausgehende Ausbildung einer eigenen Bindestrich-Soziologie, die sich mit dem Körper beschäftigt.8 Auch wenn der Körper immer nur punktuell die Aufmerksamkeit der Soziologie erheischte, so sind die Punkte doch so prominent, daß man von Ignoranz diesem Thema gegenüber kaum sprechen kann. Der Körper ist zwar kein zentrales, er ist aber auch kein ignoriertes Thema der Soziologie. Wie ich im folgenden Teil zeigen werde, gilt dies auch für die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie. Während die radikalkonstruktivistischen Ansätze den Körper lediglich als Thema des Wissens betrachten, ist er im davon zu unterscheidenden sozialkonstruktivistischen Ansatz ein integrierter Bestandteil eines dialektischen Konstruktionsprozesses. Körper, Bewußtsein und Gesellschaft bilden die drei Momente dieser Dialektik. Im dritten Teil werde ich mich zuerst mit dem Verhältnis des Bewußtseins zum Körper beschäftigen. Der Körper tritt hier nicht nur als ein explizites und implizites Wissenselement, als Gegenstand von Diskursen und Legitimationen auf. Es soll auch kurz skizziert werden, wie Bewußtsein und Körper in der Habitualisierung eine Verbindung eingehen, die man als Inkorporation des Wissens bezeichnen könnte. Im vierten Teil möchte ich dann die Gegenrichtung ansprechen, nämlich die Extemalisierung des Wissens durch den Körper, die in der Kommunikation vonstatten geht. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Grenze zwischen Verhalten und Handeln angesprochen, die aber, wie ich zeigen möchte, selbst Gegenstand han7 Eine ganz vorzügliche Übersicht über diese im Spannungsfeld von physiologischer Universalität und kultureller Relativität angesiedelten Arbeiten, die bis hin zu den Untersuchungen Ekmans reicht, bietet der Sammelband von Polhemus (1978). 8 Zu nennen sind hier insbesondere Featherstone (1982), Turner (1984) oder Shilling (1993)94
delnder Gestaltung, der Konstruktion ist. Diese Konstruktion ist allerdings kein neues Phänomen. Wie abschließend mit dem Begriff des Kulturkörpers deudich gemacht werden soll, sind Körper durch Inkorporation und Externalisierung Teile und Träger von Kultur, die durch sie und die für sie spezifische Hybridität erst zu einer gegenständlichen Kultur werden kann.
2. Die gesellschaftliche Konstruktion des Körpers Wie nun verhält sich die Wissenssoziologie zum Körper? Aufgrund ihrer vermeintlichen »kognitivistischen Schlagseite« wird gerade ihr ja immer wieder vorgeworfen, sie hätte den Körper sträflich vernachlässigt. Doch auch dieses Bild trügt. Schon die Körpersoziologie eines Hertz oder Mauss steht unzweifelhaft in der Tradition der Durkheimschen Wissenssoziologie (vgl. Durkheim und Mauss 1993). Einer der Begründer der deutschen Wissenssoziologie, Max Scheler, hat sich im Rahmen seiner philosophischen Anthropologie intensiv mit körperlichen Phänomenen auseinandergesetzt. Die Verbindung zur philosophischen Anthropologie reicht noch bis zur neueren Wissenssoziologie, deren Bedeutsamkeit nicht nur von Plessner hervorgehoben wurde.9 Ein guter Teil dieser Wissenssoziologie basiert selbst und ausdrücklich auf Befunden der philosophischen Anthropologie, die sehr unmittelbar mit deren Beobachtungen über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers verbunden sind (Weltoffenheit, Instinktarmut etc.).10 Auch die Phänomenologie, die zweite Säule der neueren Wissenssoziologie, ist keineswegs körperfeindlich. Unter dem Titel des Leibes (also dem Aspekt des Körpers, der wir sind) hat sich schon Husserl mit dem Thema befaßt. Vor allem Merleau-Ponty hat diese phänomenologischen Analysen fortgeführt, die in den 1970er und 1980er Jahren einen kleinen Boom erlebten.11 9 Siehe z.B. Helmuth Plcssners Vorwort zu Berger und Luckmanns deutscher Ausgabe der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (1970). 10 Vgl. Berger und Luckmann (1970, S. 49fr. ). Bedeutsam ist aber auch die anthropologische Wende, die schon Schütz vollzogen hat. Das wird sehr gründlich rekonstruiert von Srubar (1988). 11 Vgl. Merleau-Ponty (1945). Ausdruck des Booms ist u.a. eine Reihe von Arbeiten zum Leib, wie sie in der Reihe »Übergänge« vom Fink-Verlag verlegt wurde. 95
Innerhalb der neueren Wissenssoziologie war der Körper indessen selten ausdrücklich zum Thema gemacht worden.12 Gleichsam von außen, vor allem aus der Soziologie der Geschlechter, ist sie dann damit konfrontiert worden, daß ihre Grundthese auf den Körper angewandt wurde: Die soziale Konstruktion des Geschlechts (als eines geschlechtlichen Körpers). Ebensowenig wie das (biologische) Geschlecht wird auch der Körper nicht mehr als auferlegtes Schicksal erlebt, er wird bewußt gestaltet: Bodybuilding oder plastische Chirurgie verändern die Körpergestalt, Schminken, Tätowieren oder Schmuck seine äußere Erscheinung, künsdiche Befruchtung, Erhaltung und andere medizinische Wunderwerke seine Haltbarkeit, und über allem webt und schwebt die leichte zweite Haut, also die Kleidung, die ohnehin ausschließlich Werk der Kultur einer Gesellschaft ist. Im Cyborg schließlich finde die Konstruierbarkeit des Körpers seine gegenwärtige Krönung.13 Diese »konstruktivistische« Vorstellung schlägt sich mittlerweile selbst in populären Büchern nieder.14 Daß der Körper Gegenstand von gesellschaftlichen Konstruktionen ist, steht in Zeiten von Transsexualität, künstlicher Befruchtung, Schön heitschirurgie und genetischer Manipulation also außer Zweifel. Die Frage, die sich stellt, lautet: In welchem Maße läßt sich der Körper ko struieren, was sind die Grenzen der Konstruktion, und was ist der Körper? Um diese Fragen anzugehen, ist es sinnvoll, verschiedene Vorstellungen dessen zu unterscheiden, was wir unter sozialer Konstruktion verstehen können. In groben Zügen lassen sich drei sehr unterschiedliche Positionen ausmachen.15 (i) Eine Position läßt sich dadurch 12 Eine erwähnenswerte Ausnahme stellen die Arbeiten von Anne Honer dar, die sich seit Beginn der 1980er Jahre mit Bodybuilding und anderen körperlichen Phänomenen beschäftigte. Vgl. Honer (1985). 13 Zu den vielfältigen und begrifflich unscharfen Verwendungen des Begriffes der sozialen Konstruktion vgl. Hacking (1999). 14 Ein Beispiel ist das Comic-artig gestaltete Einfuhrungsbuch von Cavallaro (1997). 15 Bei dieser Dreiteilung handelt es sich um sehr grundlegende erkenntnistheoretische Unterschiede zwischen den drei Positionen. Ich muß betonen, daß sich gerade bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Konstruktion des Körpers auch sehr unterschiedliche Blickwinkel finden lassen: sie kann aus der subjektiven Perspektive, als Interaktionsprozess oder als institutioneller »Tatbestand betrachtet werden. Alle diese Positionen sind im Begriff der sozialen Konstruktion impliziert, wie ich ihn hier verwende. Nähere Ausfuhrungen zu diesen Blickwinkeln finden sich in Knoblauch (2002). 96
harakterisieren, daß sie den Körper gleichsam als das Imaginäre der iesellschaft ansieht: Der Körper ist, was er ist, nur im Diskurs — oder n der Kommunikation. (2) In der Systemtheorie stellt der Körper ls Organismus ein eigenständiges System dar, das sich vom Sozialen rie vom Psychischen durch völlig anders geartete Operationen untercheidet. Weil sich das Soziale durch die Operation der Kommuni:ation auszeichnet, spielt der Körper nur insofern eine Rolle, als er ozusagen Gegenstand der Kommunikation ist. Sozial also existiert uch hier der Körper nur als in der Kommunikation Thematisieres.16 So unterschiedlich der Begriff des Diskurses, der aus der Tradition *oucaults stammt, und der der Kommunikation, der an dieser Stelle m Sinne der Luhmannschen Systemtheorie verwendet wird, auch ;ein mögen: Beide Positionen vertreten eine Form der radikalen Konitruktion des Körpers. Der Körper führe keine Existenz außerhalb ier Diskurse, die über ihn gefuhrt werden. Er sei vielmehr und ausschließlich das Ergebnis einer Bezeichnungspraxis, einer Kommunikation. (3) Die radikalkonstruktivistische Position, die im Englischen auch treffender als Sozialkonstruktionismusx7 bezeichnet wird, unterscheidet sich in mehrerlei Hinsichten von dem, was seit Berger und Luckmann (1966) Sozialkonstruktivismus heißt. Zwar vertritt auch dieser Ajisatz dezidiert die Auffassung, daß die Gesellschaft, ja die gesamte Wirklichkeit eine gesellschaftliche Konstruktion sei. Insofern die Konstruktion wie die durch Institutionalisierung verfestigten Konstrukte aber auf dem Handeln einzelner basierten, stehe sie in einem systematischen Zusammenhang mit dem Bewußtsein - ein Zusammenhang, der unter dem Begriff der Lebenswelt thematisiert wird. Das Bewußtsein wird jedoch keineswegs als eine abgeschlossene, lediglich indirekt ans Soziale geknüpfte Größe verstanden, wie dies zu Zeiten einer rein phänomenologischen Begründung der Wissenssoziologie vorgestellt wurde. Die Konstruktionsprozesse des Sozialen sind nicht nur systematisch mit den Konstitutionsprozessen des Bewußtseins verknüpft. Sie stehen auch in einem mehr oder weniger eindeutigen Zusammenhang mit dem Körper bzw. als vom Be16 Etwas differenzierter ausgedrückt bei Luhmann (1984, S. 334}: »Die Differenz von Körperlichkeit und Unkörperlichkeit hat (zumindest für unser heutiges Gesellschaftssystem) keine soziale Relevanz.« 17 Am ausdrücklichsten geschieht dies bei Gergen (1985). 97
wußtsein erfahrener Körper: dem Leib. Der menschliche Körper bildet auch nicht einfach nur den Rahmen für die gesellschaftliche Konstruktion. Die menschliche Körperlichkeit ist vielmehr ebenso konstitutiv für die menschliche Gesellschaft wie des Menschen Bewußtsein. Schon der bloße Umstand, daß Menschen aJs Einzelwesen auftreten und identifiziert werden, ist dem Körper zu verdanken, wie dies etwa Durkheim (1968, S. 386) betont: »II faut un faaeur d'individuation, c'est le corps qui joue ce röle«: Der Mensch ist individuiert, weil er einen Körper hat. Das Bewußtsein erweist sich dabei auf eine komplexe Weise mit dem menschlichen Organismus verknüpft: Wie Luckmann im Anschluß an die philosophische Anthropologie gezeigt hat, basiert die Intentionalität des Bewußtseins, die Intersubjektivität ermöglicht, auf den Wahrnehmungsmöglichkeiten des biologischen Organismus, die sie erst transzendieren muß, um die spezifisch menschlichen Eigenheiten zu entwickeln.18 Und was die Weisen des sozialen Handelns angeht, so wird die Auffassung Meads und des daran anschließenden symbolischen Interaktionismus geteilt, daß sie auf den basalen von Reiz-Reaktionsmuster geprägten Verhaltensformen aufbauen. Die für die Soziologie wesentliche Differenz von Verhalten und Handeln wird aus dieser Perspektive zu einem fließenden Übergang. Im Sozialkonstruktivismus bilden Körper, Bewußtsein und Gesellschaft keine disparaten Einheiten oder gar Systeme, die lediglich mit Schnittstellen oder »strukturellen Koppelungen« verknüpft wären. Sie können vielmehr als Momente eines dialektischen Prozesses angesehen werden, deren Inhalte und Formen durch diesen Prozeß selbst verändert werden. Bewußtsein wird zur Identität, die gleichmit Teil einer sich aus anderen Identitäten konstituierten Gesellschaft wird.19 Und auch der Körper unterliegt dem dialektischen Prozeß. In diesem Prozeß lassen sich grob zwei Richtungen identifizieren, die ich in den folgenden zwei Kapiteln erläutern möchte. Dabei sollte betont werden, daß die Aufteilung in zwei Richtungen nicht als ontologisch angesehen werden sollte, sondern lediglich ein Darstellungsmittel ist. 18 Vgl. dazu Luckmann (1991). 19 Diese Argumentacionslinie verfolgt natürlich auch Merleau-Ponty (1945), wenn auch auf eine andere Weise: Er ist der Auffassung, daß Materie, Leben und Geist drei »Realitätsordnungen« darstellen, die vom Leib getragen werden.
98
3. Verkörpertes Wissen Die Annahme einer Grenze zwischen Leib haben und Leib sein, zwischen Körper und Leib, zwischen Verhalten und Handeln hat zu verschiedenen Theorien dieses Verhältnisses geführt, die von der Annahme völliger biologischer Determination (etwa in der Soziobiologie) über Elaborationsmodelle bis hin zu kulturalistischen Theorien reichen.20 Zerfällt der Körper nach diesem Modell cartesianisch in zwei getrennte Bereiche, so wird hier die Auffassung vertreten, daß diese zwei Bereiche nicht als ontologische Gegebenheiten auftreten, sondern selbst Gegenstand sozialer Konstruktionen darstellen. Schon die von Plessner herausgestellte Unterscheidung zwischen dem Leib-Sein und Leib-Haben darf also keineswegs als Trennung zweier Bereiche angesehen werden, sondern als Unterscheidung zweier Aspekte, deren Beziehung man sich dialektisch vorstellen kann. Das dialektische Verhältnis zwischen beiden Aspekten wird zum einen durch die expliziten »Körperdiskurse« bestimmt, die das Selbstverhältnis, die Thematisierung des Körpers und die institutionalisierte Behandlung des menschlichen Körpers umfassen. Man könnte hier auch von explizitem Körperwissen reden: Die Art der »Sorge um sich«, beispielsweise in der Ausfuhrung sexueller Akte wurde ja von Foucault - etwa in »Überwachen und Strafen« (Foucault 1977) - schon sehr deutlich herausgestellt. Foucault war es auch, der den institutionellen Umgang mit dem Körper eindrücklich geschildert hat, der zur Individuierung in der Moderne geführt hat. Man sollte deswegen auch zwischen spezialisiertem Körperwissen der Experten (deren Expertise selbst wieder Legitimationen und Macht erfordert) und dem expliziten alltäglichen Körperwissen unterscheiden. Aufgrund der von Foucault beschriebenen Prozesse ist dieses alltägliche explizite Körperwissen vermutlich zu großen Teilen als »gesunkenes Kulturgut« aus den massiv verbreiteten Elementen des Körperwissens der Experten zusammengesetzt. Dennoch sollte man nicht übersehen, daß auch eine Reihe schwach legitimierter Experten des Körperwissens (mit unterschiedlichen ganzheitlichen Lehren) Einfluß auf das alltägliche Körperwissen ausüben. 10 Ein biologisch deterministisches Modell schlägt etwa Wilson (1978) vor. Häufiger sind jedoch Elaborat ionsmodelle, die davon ausgehen, daß die menschliche Natur unvollständig sei und einer sozial konstruierten Ordnung bedürfe, die verschiedene Formen annehmen könne. Vgl. dazu Harre\ Clarke und De Carlo (1985). 99
Die alternativen Körperlehren beruhen ihrerseits auf einem recht breiten Wissen darüber, wie der Körper gesellschaftlich thematisiert wurde. In der Regel besteht dieses Wissen aus einer Art veralltäglichter Kulturkritik, die sich gegen die als chrisdich verstandene Körperfeindlichkeit wendet. Neben diesen alternativen Legitimationen des Körperwissens besteht natürlich nach wie vor ein recht breites cartesianisches Legitimationssystem, das von den legitimen Experten (von der Sportwissenschaft bis zur Medizin) vertreten wird. Über dieses explizite Körperwissen gibt es mittlerweile viele detaillierte Untersuchungen, so daß wir es hier nicht gesondert ausführen müssen (vgl. dazu Fehrer 1989). Eine weitere Form des gesellschafdichen Umgangs mit dem Körper geschieht in Gestalt körperlicher Kommunikation. Der Körper ist nicht nur ein Thema von Interaktion, er ist selbst ein Medium der Kommunikation. Der Körper ist jedoch nicht nur als etwas präsent, was man auch notfalls (als kommunizierend) beobachten könnte. Der Körper ist daneben als Sinngebilde für die Handelnden selbst präsent. (Als Sinngebilde sollten wir denn auch eigentlich immer vom Leib reden.21) Wissenssoziologisch beachtenswert ist hier vor allem das implizite, unausgesprochene Körper wissen. Dabei handelt es sich um Wissen das sozusagen in den Körper eingeschrieben ist. Diese Form des Wissens ist der Wissenssoziologie keineswegs unbekannt, die hier an die phänomenologischen Analysen anschließt. Bei Husserl (1977» §§ 41 und 52fr.) erscheint der Körper einmal auf der Ebene der gelebten Erfahrung unserer eigenen Verkörperung. Auf der Ebene der Idnaesthetischen Erfahrung begründet sich die Evidenz der Aktualität, die das Feld der Handlung kennzeichnet, die subjektiven Aktivitäten in der gelebten Gegenwart offen steht. Die Erfahrung der Reflexivität des Körpers stellt sich deswegen ein, weil meine Erfahrungen meiner eigenen Bewegungen innerlich als Kinaesthesie erfahren werden sowie als eine Bewegung von etwas, das draußen in der Welt geschieht. Schließlich verleiht erst die Ver21 Das Verhältnis ist natürlich etwas vertrackter. In der Tradition von Schütz können wir das Bewußtsein keineswegs als ein bloß »mentales« Phänomen mehr ansehen, sondern beziehen den Leib, sofern er eben Sinngebilde ist, mit ein. Zu diesem leiblichen Bewußtsein gehören dann vermutlich auch Phänomene wie das »body image« und das Körperschema, die beide wohl auf der Ebene erworbenen lebensweldichen Grundwissens anzusiedeln sind.
körperung der Erfahrung der ursprünglichen Erfahrung des Selbst primordiale Evidenz und macht sie zum Zentrum der räumlichen Strukturen der Lebenswelt. Deswegen rechnen auch Schütz und Luckmann (1979) den Körper zum elementaren unausgesprochenen lebensweltlichen Grundwisseny das alle anderen Wissensformen fundiert: Die indexikalen Verweise des hinten, vorne, oben, unten, links und rechts sind ja ebenso unmittelbar an den Körper gebunden wie die Erfahrung der Zeit.22 Der Körper bildet, wie Schütz immer wieder betont, den Nullpunkt des Koordinatensystems der Lebenswelt. Schließlich stellt er auch den Ausgangspunkt (und das Ziel) einer jeden Interaktion und der sie fundierenden Intersubjektivität.23 Daneben haben Schütz und Luckmann in den Strukturen der Lebenswelt eine besondere Form des unausgesprochenen Wissens identifiziert, die sie Fertigkeiten nennen. Als Fertigkeiten bezeichnen sie die »auf die Grundelemente des gewohnheitsmäßigen Funktionierens des Körpers aufgestufte gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewegung« (Schütz und Luckmann 1979, S. 140). Die Fertigkeiten und das mit ihnen verbundene implizite Wissen sind für uns von besonderem Interesse, weil sie die Verbindung zwischen Körper, Bewußtsein und Gesellschaft auf eine besondere Weise aufzeigen. Gerade bei der Analyse dieser Verbindung erweist sich die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie als besonders fruchtbar. Denn die Theorie enthält nicht nur unterschiedliche Aspekte des Körperwissens. Sie ist auch in der Lage zu analysieren, wie dieses Wissen generiert wird. Die Ausbildung körperlicher Fertigkeiten als Wissenselemente fällt unter die Kategorie der Habitualisierung. Die Ähnlichkeit zu Bourdieus Habitus-Begriff ist dabei keineswegs zufällig. Bourdieu nämlich schließt damit ja explizit an wissenssoziologische Fragestellungen an, die er ausdrücklich mit der Analyse körperlicher Dispositionen verknüpfen will (Knoblauch 2003). Der Habitus ist »Leib gewordene 22 Ob das Wissen um den Tod zu diesem Grundwissen gehört, ist sicherlich umstritten. Auch Schütz' Annahme einer Erfahrung des Gemeinsam-Aherns ist keineswegs unproblematisch. Vgl. Schütz 1972. 23 Die These vom »Nullpunkt des Koordinatensystems« ist keineswegs »monologisch«, wie Loenhoff (2002) behauptet, da sie - wenigstens bei Schütz - unmittelbar mit den Idealisierungen der Reziprozität verknüpft ist und damit notwendig Teil der Intersubjektivität ist.
und Ding gewordene Geschichte« (Bourdieu 1985, S. 69), gleichsam in den Körper eingeschrieben. An anderer Stelle spricht Bourdieu auch von Inkorporation, der Einverleibung kollektiver generativer Schemata und Dispositionen. Um die Bedeutung der Habitualisierung für die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie zu verstehen, muß man wissen, daß sie Teil der Institutionalisierung ist, die selbst wiederum eine tragende Rolle für die Gestaltung sozialer Ordnung in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit einnimmt.24 Die Habitualisierung erfüllt hier eine grundlegende Funktion: Sie beschleunigt die Entscheidung für und die Durchfuhrung von Handlungen, indem sie eine Entlastung von anderen Aufgaben leistet.25 Erst vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns öffnet sich ein Vordergrund für Einfall und Innovation, der sich als so bedeutsam für die menschlichen Kulturen erwiesen hat. Während Gehlen die Funktion der Habitualisierung bestimmt hat, greifen wir auf Schütz, Berger und Luckmann zurück, wenn wir uns fragen, wie ein solcher Habitus zustande kommt.26 Zum einen macht die Routinisierung eine Typisierung der Ereignisse vonnöten, die von der Relevanz anstehender Handlungsaufgaben geleitet wird. Habitualisierung bezieht sich darauf, daß individuelle Handlungsvollzüge, vor allem körperliche Fertigkeiten, zum Gewohnheitwissen werden. Habitualisierung setzt dabei zum einen Typisierung voraus - eine Fähigkeit, der Schütz sehr detaillierte Analysen gewidmet hat (Schütz und Luckmann 1979): Um überhaupt Handlungen wiederholen zu können, müssen wir sie und die für sie als charakteristisch erfahrenen Umstände typisieren können. Neben der Typisierung liegt der Habitualisierung eine weitere Bewußtseinsfähigkeit zugrunde. Phänomenologisch kann man die Routinisierung dadurch beschreiben, daß polythetisch durchgeführte Handlungen, bei denen jeder Schritt überlegt sein will und einzelne Schritte sogar mehrfache Überlegung 24 Ich beziehe mich hier natürlich auf Berger und Luckmann (1966). 25 Eine wichtige Rolle spielt hier zweifellos die Institutionalisierungstheorie von Arnold Gehlen. Nicht unterschätzt werden sollte aber auch der Einfluß von William Graham Sumner, dessen Begriff der »habits« hier sicherlich Pate gestanden hat. 26 Dabei sollte ich betonen, daß bei keinem der genannten Autoren die Habitualisierung im Mittelpunkt steht. Es handelt sich also hier um eine theoretische Rekonstruktion. Ich baue dazu auf früheren Versuchen einer solchen Rekonstruktion auf. Vgl. dazu Knoblauch (1995, S. Ziff.; 1999).
erfordern, in Passivität absinken, so daß wir einen monothetischen Zugriffaufsie haben. Betrachten wir diese Ableitung an einem einfachen Beispiel: die technische Praxis des Autofahrens. Wir erinnern uns, wie wir diese Praxis unter Mühen erlernt haben. Nach und nach haben wir gelernt, die einzelnen Handlungsschritte in der richtigen Reihenfolge sozusagen körperlich feinmechanisch zu vollziehen - zuerst zu kuppeln, dann den Gang einzulegen, langsam Gas zu geben, langsam wieder zu entkuppeln usw. Nach jahrelanger Übung jedoch vollziehen wir dieses Handlungsmuster >\vie im Schlaf;. Wir haben den gesamten Ablauf leiblich automatisiert. Nahezu automatisch folgt ein Schritt auf den anderen, und während wir fahren, sind wir in der Lage, gleichzeitig den Verkehr zu beobachten, zu reden, zu rauchen, Musik zu hören usw. Je häufiger wir die Handlung vollziehen, um so mehr explizit entworfene Handlungsschritte werden sedimentiert. Als Ergebnis des Sedimentierungsprozesses (der Typisierungen voraussetzt) greifen wir auf die zahlreichen, polythetischen (einzeln und explizit entworfenen) Handlungsschritte des Autofahrens sozusagen monothetisch (>en bloo und automatisch) zu. Dieser Übergang von der polythetischen Handlung zu ihrem monothetischen Vollzug impliziert zusätzlich die Fähigkeit zur Sedirnentierung, zur Ablagerung typisierter Erfahrungen und Handlungen in den Hintergrund des Bewußtseins (und des Körpers). Die dabei ablaufenden Bewußtseinsprozesse, die phänomenologisch beschrieben wurden, können hier nicht rekonstruiert werden. Zwei Aspekte dieser Sedimentierung sollen lediglich hervorgehoben werden. Zum einen regelt das Relevanzsystem, welche Erlebnisse gewissermaßen synthetisiert werden, so daß aus bestimmten »polythetischen« Erlebniskorn plexen eine zusammengehörige, sinnhafte Erfahrung wird, auf die das Bewußtsein, etwa in der Erinnerung, monothetisch zurückgreifen kann. Dieses Relevanzsystem ist, wie Schütz wiederholt bemerkt, in einem starken Maße >sozial abgeleitet-. Deswegen ist die Ausbildung auch eines individuellen Habitus in gewissem Sinne immer ein Teil eines gesellschaftlichen Wissensvorrats. Wie dies geschieht, haben Berger und Luckmann unter dem Titel der Institutionalisierung ausgeführt: Habitualisierungen verfestigen sich, indem sie interaktiv abgestimmt werden.27 Werden diese inter 27 Ich kann hier nur kurz wiedergeben, was bei Berger und Luckmann sehr genau entfaltet wird. Zu erwähnen ist aber, daß sie bei der Analyse der interaktiven Ab Stimmung auf verschiedene Mechanismen der Intersubjektivität zurückgreifen 10]
aktiv abgestimmten und eingespielten Habitualisierungen (im einfachsten Fall etwa Formen des Begrüßens durch Händeschütteln und ritualisierte Grußformeln) dann tradiert (und möglicherweise legitimiert), dann bilden sie gesellschaftliche Tatsachen, die als solchermaßen verfestigte monothetisch erfaßt und verinnerlicht werden können. Auf diese Weise wird erklärlich, wie die Kultur »verkörpert« wird. Aus diesem Grunde können wir auch von einem Kulturkörper reden.
4. Der kommunikative Körper Die Beschreibung der Entwicklung körperlicher Fertigkeiten veranschaulicht sehr schön die Dialektik zwischen Körper, Bewußtsein und Gesellschaft. Sie zeigt, wie gesellschaftliches Wissen über das Bewußtsein vermittelt so in den Körper eingeschrieben wird, daß es als verkörpertes Wissen rungiert. Dabei zeigt die Theorie der Habitualisierung eigentlich nur eine Richtung dieser Dialektik an, nämlich die Verinnerlichung des Wissens, die Inkorporation. Der Körper ist jedoch nicht nur »Behältnis« von Wissen, er ist auch »Ausdruck« von Wissen.28 Man könnte in diesem Zusammenhang auch von Exkorporation reden. Berger und Luckmann sprechen hier (in alter dialektischer Manier) lieber von Externalisierung. Noch genauer müßte man hier sogar von einer Kommunikation reden. Denn betrachtet man die gängigsten Untersuchungsgegenstände der Körpersoziologie seit Mauss, ja seit Darwin,29 dann erkennt man, daß sie in einem großen Maße basale körperliche Formen der Kommunikation behandelt, wie etwa die Techniken des Körpers (also Fähigkeiten wie Sitzen, Gehen, Stehen), Gesten, körperliche wie sie von Schütz, Cooley und Mead beschrieben wurden. Ich werde darauf etwas später eingehen. 1$ In den Worten von Mary Douglas (1971, S. 387): »The body communicatcs Information for and from the social System in which it is part«. Und sie fährt fort: »It should be seen as mediaring the social Situation in at least three ways. It is itself the field in which a feedback interaction takes place. It is itself available to be given as the proper tender for some of the exchanges which constitute the social Situation. And further, it mediates the social structure by itself becoming its image«. 29 Aus diesem Grunde kann auch Charles Darwin durchaus als ein soziologisch relevanter Denker betrachtet werden (wie Hans-Georg Socffner immer wieder betont). Vgl. Darwin (1986). 104
Etikette, Ausdruck von Gefühlen, Sinneswahrnehmungen, Körperbehandlung, Verzierungen und Manipulationen des Körpers sowie die Bekleidung. Körper sind eben wichtige Medien der Kommunikation. Ontogenetisch bilden sie das erste Medium, mit dem wir kommunizieren. Als kommunikatives Medium ist der Körper der Drehund Angelpunkt, von dem aus unser Verhältnis zur Welt konstruiert wird: die Aktivitäten unserer körperlichen Sinne, das Ausdrucksverhalten in Mimik und Gestik, unsere äußere Erscheinungsweise, die Techniken des Körpers. Diese Medialität ist schon deswegen betonenswert, weil die Ausdrucksformen (und Erfahrungsweisen) des Körpers ja, wie wir gesehen haben, im Prozeß der Habitualisierung selbst soziokulturell geformt wurden, so daß man sagen könnte, daß der Körper als Resonanzboden der Kultur, als Kulturkörper fungiert. Er bildet, so scheint es, die Verkörperung der Dialektik, indem er die verinnnerlichte Außenseite als veräußerlichte Innenseite darstellt. Diese Dialektik ist schon in der Intersubjektivität und den basalen Prozessen der Interaktion angelegt. Intersubjektivität beruht ja u.a. auf der »Generalthese der Reziprozität der Perspektiven«. Diese enthält u.a. die Idealisierung der Austauschbarkeit der körperlichen Standorte: Daß ich in derselben Distanz zu den typisch gleich wahrgenommenen Dingen stehen würde wie die andere Person, wäre ich an ihrer Stelle; dann wären die Dinge, die in seiner Reichweite sind, in meiner Reichweite. Diese Idealisierung ist unmittelbar an die körperliche Verortung des Bewußtseins (also seinen Leib30) gebunden. Auch die zweite Voraussetzung der Intersubjektivität, die Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven, ist mit der Körperlichkeit des Bewußtseins verknüpft. Wie Schütz (1972) mit Verweis auf Cooley (1967) betont, impliziert sie einen Spiegelungs- (»looking glass«-) Effekt. Darunter wird der vor allem in der frühkindlichen Sozialisation sehr anschaulich beobachtbare Vorgang verstanden, bei dem das Kind sein eigenes Handeln durch das körperliche Verhalten der anderen, also etwa der Mutter, »gespiegelt« sehen lernt. Schließlich ist auch Meads (1978) »taking the role of the other«, ja seine gesamte Konzeption der Interaktion, an die genaue Beobachtung körperlicher Abläufe gebunden. Der Körper ist also eine zentrale Voraussetzung 30 Bewußtsein gilt hier als dasjenige, was diese Idealisierung vornimmt. Gerade am Beispiel der Reziprozität der Standorte ist also leicht zu erkennen, daß das Bewußtsein leiblich gefaßt sein muß. 105
zumindest für die unmittelbaren Formen des kommunikativen Handelns.31 Und da Mead diese grundlegenden Abläufe als Kommunikation bezeichnet, können wir hier von einem kommunikativen Körper reden.32 Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Obwohl nämlich der Körper als Medium der Kommunikation fungiert, gilt er keineswegs nur als Resonanzboden der Kultur.33 Vielmehr werden dem Körper noch ganz andere Beweggründe und Kräfte zugeschrieben, zu denen ebenjene Gemütsausdrucksformen, körperliche Haltungen, Gesten und der Austausch von Gesten zählen, die auch die klassischen Themen der Körpersoziologie bilden. Diese Phänomene werden häufig und etwas irreführend als »nonverbale Kommunikation« bezeichnet. Der Begriff der »nonverbalen Kommunikation« stellt jedoch eine denkbar schlechte Charkterisierung des Umstands dar, daß wir es mit im Grunde körperlicher Kommunikation zu tun haben. Denn die Forschung zeigt deutlich, daß die körperliche Kommunikation keineswegs der verbalen untergeordnet ist. (Und bei der verbalen Kommunikation sollte man bedenken, daß sie selbst auf der Stimme basiert, einem ganz und gar körperlichen Phänomen.) Ganz davon abgesehen, daß körperliche Kommunikation kaum mit dem sprachlichen Zeichensystern vergleichbar ist, kann sie diese zwar durchaus (nur) unterstützen. Sie kann aber auch der Sprache entgegenwirken oder eigenständige Bedeutungen entfal31 Häufig wird behauptet, die neuen Kommunikationstechnologien, die die mittelbaren Formen der Kommunikation fördern, trügen zur Entkörperlichung bei. Ich teile diese Auffassung gar nicht, da sie zusätzliche Sinnesmodalitäten in die Kommunikation einfuhren und damit den Wen des Körpers als Medium der Kommunikation fördern. 32 Denn sieht man von körperlichen Funktionen ab, hat das Individuum von sich und seinem Körper nur bedingte Wahrnehmungen. Ihm ist die unmittelbare Erfahrung einer strukturierten und sich wandelnden Umwelt gegeben, zu der wesentlich auch die anderen gehören. Ihre Körper werden wahrgenommen als Ausdrucksfelder von Gefühlen, Stimmungen, Absichten und Zielen, die das eigene Handeln gewissermaßen spiegelbildlich reflektieren. Bin ich mir erst einmal durch Spiegelung im klaren, daß meine Mundbewegung und das Lächeln von Alter ego in einem Zusammenhang stehen, dann können sich regelrechte Sequenzen ausbilden. Dies bildet auch eine wesentliche Voraussetzung der zeichenhaften Kommunikation, die den Körper nicht mehr als Ausdrucksfeld benutzen muß. 33 In einem etwas anderen Zusammenhang formuliert Plessner (1981, S. 75) ^ s o : »Wo (der Körper) symbolisiert, sagt er zu viel, wo er symbolisieren soll, schweigt er und schiebt sich als träger Körper zwischen die geist-seelischen Subjekte.106
ten.34 Zwar ist auch weithin bekannt, daß der Körper auf sehr unterschiedliche Weisen kommuniziert, doch konnte aus der Unterscheidung der verschiedenen Weisen (Kanäle) bislang noch kein sinnvolles Zusammenspiel nachgewiesen werden. Wenn wir mit den kommunikativen Aspekten des Körpers zu tun haben, dann verläuft die Unterscheidung der Beweggründe und Kräfte, die den Körper leiten, endang der Begriffe Verhalten und Handeln, die ja seit Weber konstitutiv sind für die Definition auch der Soziologie. Während dem Handeln eine Bewußtheit zugeschrieben wird, gilt das Verhalten als etwas, das mit der vom Bewußtsein bestenfalls gezügelten Körperlichkeit zu tun hat. (Es ist dann eine Frage der wissenschaftlichen Moden, ob diese Körperlichkeit auf Instinkte, auf neurophysiologische Abläufe, auf Gene u.a. zurückgeführt wird.) Im Grunde stößt man hier auf die alte Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Im Falle des nonverbalen Verhaltens wird dabei die Bewußtheit zur wesentlichen Demarkationslinie. Parallel zur Unterscheidung zwischen Handlung und Verhalten könnte man kommunikatives Handeln von der Kommunikation dadurch unterscheiden, daß nur das erstere ursprünglich mit bewußten Aktivitäten zu tun hat. (Dazu gehören dann natürlich auch die »erlern- und trainierbaren«, habitualisierten, nunmehr automatisch vollzogenen Handlungen.) Eine analoge Unterscheidung finden wir schon bei Alfred Schütz. Er trennte die sogenannten »Ausdruckshandlungen« von »Ausdrucksbewegungen«. Während im ersten Fall ein Mensch mittels des leiblichen Ausdrucks einen Bewußtseinsinhalt nach außen zu projizieren sucht, zeichnen sich Ausdrucksbewegungen dadurch aus, daß sie »nicht in kommunikativer Absicht« erfolgen und daß ihnen jede Intention der Übermittlung von Gedanken fehlt (Schütz 1974, S. i6zf). Schütz weist damit auf den Unterschied zwischen kommunikativen Handlungen und körperlichem Verhalten hin. Damit trifft er dieselbe Unterscheidung, die Argyle zieht, behandelt sie aber auf eine entschieden andere Weise. Denn dieser Unterschied ist für ihn nicht Gegenstand einer jeder Kommunikation vorgängigen, von außen beobachtbaren Differenz. Ganz im Gegenteil: Die Unterschei34 Daneben haben die Elemente der sogenannten nonverbalen Kommunikation einen sehr unterschiedlichen Zeichenstatus: einige können diskrete Bedeutungen annehmen, wie etwa Gesten, andere sind beliebig verkodet, wieder andere haben eine ikonischc Bedeutung. Eine systematische Übersicht bietet Argyle (1996). 107
düng zwischen Verhalten und Handeln liegt nicht außerhalb des Handelns. Aufgrund der fiir menschliches Handeln typischen Reflexivität kann auch das Verhalten selbst zum Teil des Handelns gemacht werden.35 System theoretisch könnte man sagen: Das Verhalten liegt nicht außerhalb des sozialen Interaktionssystems - es wird in diesem System selbst be-handelt.36 Die Beteiligten definieren sozusagen selbst, was sie als Kommunikation auffassen und was nicht. Diese Vorstellung wurde von Goodwin (1986) sehr anschaulich erläutert. In audiovisuell aufgezeichneten Interaktionen zwischen Menschen konnte er zeigen, daß die Frage, was als unwillkürliche Vorgänge des Körpers angesehen wird (Knurren des tMagens, Niesen, Räuspern etc.) erst durch ihre interaktive Behandlung (Ignorieren, Korrekturen etc.) als außerinteraktiv erscheint. Das belegt an einem differenzierten Fall auch Christian Heath (1986). Am Beispiel der von ihm untersuchten ärztlichen Konsultationen zeigt er, wie der Körper als dem ärztlichen Handeln ausgesetztes, verhaltendes Objekt in der Interaktion erst aufgebaut wird. Eine Strategie dazu ist das »attending to disattention«, das vor allem durch den »middle distance look« hergestellt wird. Dabei werden »Erwiderungen« auf die Handlungen des Arztes unterdrückt, sie werden behandelt als hätten sie keine sequentielle Bedeutung und erforderten keine interaktive Behandlung. Dennoch bleibt eine enge Kooperation erhalten: beide produzieren zusammen die Objektivierung: »By not looking at the doctor the patient can appear interactionally, or, better, >communicatively<, disengaged and show an inattention to the articulation of the activity. By turning away the patient can avoid placing the other under any Obligation to respond or interact, and by not watching the activity the patient can display trust and a lack of unreasonable concern in the details of the examination« (Heath 1986, S. 118). Goodwin und Heath bringen hier eine zentrale Auffassung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie zum Ausdruck. Diese bestreitet keineswegs die Differenz zwischen einem Körper und einem Leib. Diese Unterscheidung ist jedoch selbst Teil der gesellschaft35 Das ist natürlich eine besondere Leistung kommunikativen Handelns.
36 Der Grund dafür, daß Interaktionssysteme für die Systemcheorie so schwierig zu behandeln sind, liegt also weniger darin, daß Interaktionen von nichtinteraktiven Verhaltensaspekten »durchsetzt« und die Systeme deswegen nicht »rein« sind, vgl. dazu Kieserling (1999). Er liegt wohl eher darin, daß die Sysremtheorie den Körper als nicht zum System gehörig ausklammert. 108
liehen Konstruktion, in der auch festgelegt wird, ob und wie eine Grenzlinie zwischen beidem gezogen wird. Daß der Körper als eine Grenze erfahren wird, steht also außer Frage; nur wie diese Grenze gezogen wird, ist Gegenstand der gesellschaftlichen Konstruktion.37
5. Kulturkörper Herkömmlich werden die Prozesse der Vermittlung an dieser Grenze nach Art eines Elaborationsmodells gefaßt. So gehen etwa Harre, Clarke und De Carlo (1985) davon aus, daß die biologische Seite des Menschen unvollständig sei und einer sozial konstruierten Ordnung bedürfe, die verschiedene Formen annehmen kann. Zerfällt in diesem Modell der Körper gleichsam in natürliche und soziale Schichten, vertritt Douglas (1986, S. 99) - unter ausdrücklichem Bezug auf den Sozialkonstruktivismus - eine der bisherigen Argumentation angemessenere Vorstellung: Handelnde sind demnach nicht einfach in zwei Körper aufgespalten; Handelnde bestehen vielmehr aus der Interaktion, aus dem »ständigen Austausch zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis«. Damit betont Douglas ebenso wie Plessner, daß der Körper selbst ein Hybrid ist: er ist dinglich und geistig zugleich, Objekt und Subjekt in einem. Nur weil er Hybrid ist, gelingt es uns ja erst, andere Körper als beseelte Subjekte wahrzunehmen, eine Leistung, die nicht nur in animistischen und okkulten Lehren, sondern zuweilen auch in der sozialwissenschaftlichen Theorie über Gebühr strapaziert wird, wie etwa bei Latour (1995). Als Hybrid zerfällt der Körper jedoch nicht in Geist und Ding, er bildet die (in Scheitern und Krankheit durchaus problematische) hybride Einheit. Die hybride Einheit wird durch das gebildet, was hier als Dialektik bezeichnet wurde. Der Begriff der Dialektik ist allerdings höchst 37 Der hier verwendete Begriff der Konstruktion scheint mir vor allem von Wallner (1992) erläutert worden zu sein. Wallner räumt durchaus ein, daß auch die Wissenschaften die Realität, die sie untersuchen, durch ihre Methoden mit konstruieren. Diese von der Wissenschaft konstruierte Realität sei jedoch nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln, in der wir leben (ohne sie wissenschaftlich zu rekonstruieren). Diese Wirklichkeit können wir zwar eigentlich nicht erkennen. Doch müssen wir sie dann ansetzen, wenn wir davon ausgehen, daß die Wirklichkeit, die wir konstruieren, nicht beliebig ist. 109
unscharf. Deswegen habe ich versucht, einige der darunter gefaßten Vorgänge etwas genauer zu fassen. iMit Hilfe der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie lassen sich zum einen die Prozesse der Verkörperung des Wissens analysieren, durch die gesellschaftliches Wissen in den Körper eingeschrieben wird. Zum zweiten läßt sich der Körper auch als Medium der Kommunikation fassen, mit dem die Schaffung von Kultur erst möglich wird. Beides, die Inkorporation ebenso wie die (wenn man so sagen darf) Exkorporation machen den Körper zum Kulturkörper: zum kultivierten und gleichzeitig zum kulturschaffenden Körper. Darüber hinaus ist der Körper aber auch ein Thema der Kommunikation. Aufgrund dieser Thematisierung ist der menschliche Körper - und zwar nicht erst seit der Postmoderne - eine Art reflexives Hybrid: Er thematisiert seine potentielle (durch Konstruktionen elaborierbare) Zweiseitigkeit fortwährend selbst. Und das tut er keineswegs nur als ein Sinnphänomen, etwa im Reden über den Körper, im Diskurs. Die Thematisierung des Körpers erfolgt nicht nur kommunikativ, sie erfolgt auch in körperlicher Weise: Körper werden behandelt, verletzt, manipuliert, geheilt, bewegt, befestigt usw. Was immer mit ihnen gemacht wird, geschieht im Rahmen habitualisierter Handlungsweisen und mittels der kommunikativen Handlungsmuster einer Kultur. Insofern ist auch an der dinglichen Gestaltung des Körpers eine ganze Kultur beteiligt. Sie ist nicht nur daran beteiligt, was in den Körper an Wissen eingeht. Sie ist auch daran beteiligt, was der Körper zum Ausdruck bringt und kommuniziert. Und schließlich bildet sie den Rahmen dessen, wie der Körper selbst behandelt wird. Der Körper, der von uns bewußt bedacht, gezielt und unbedacht behandelt und überlegt oder automatisiert genutzt wird, ist dann etwas, was ich als Kulturkörper bezeichnen würde. In diesem Kulturkörper hallt nicht nur die Kultur wider. In diesem Kulturkörper erkennt sich auch der Körper jeder spezifischen Kultur: Körper, die landwirtschaftlich arbeiten, industrielle Körper, aber auch eben die spätmodernen Körper, die von der Schönheitschirurgie, von der Intensivmedizin oder dem Sportismus auf eine Weise gestaltet werden, die die Hybridität der Körper selbst zu einem Kulturphänomen macht.
Literatur Argyle, Michael (2i996): Bodily Communication. London. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1966 [dt.: Frankfurt am Main 1970]): The Social Construction of Reality. New York. Bertholet, Jean-Marie (1983): Corps et societe*, in: Cahiers internationaux de Sociologie 54. Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und »Klassen«. Frankfurt am Main. Cavallaro, Dani (1997): The Body for Beginners. New York. Cooley, Charles (1967): Human Nature and Social Order. New York. Darwin, Charles (1986 [Stuttgart 1872]): Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Nördlingen. Douglas, Mary (1971): Do dogs laugh? A cross-cultural approach to body symbolism, in: Journal for Psychosomatic Research 15, 387-390. Douglas, Mary (1986): Die zwei Körper, in: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Frankfurt am Main, 99-113. Durkheim, Emile (1968): Les formes elementaires de la vie religieuse. Paris. Durkheim, Emile und Marcel Mauss (1993): Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen, in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis. Frankfurt am Main, 169-256. Featherstone, Mike (1982): The body in consumer culture, in: Theory, Culture and Society 1, 18-33. Fehrer, Michel (1989): Fragments for a History of the Human Body. Part One. New York. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. Gergen, Kenneth J. (1985): Social constructionist inquiry: context and implications, in: Ders./Keith Davis. (Hg.), The Social Construction of the Person. New York. Goodwin, Charles (1986): Gestures as a resource for the Organization of mutual orientation, in: Semiotica 62, 1-2, 29-49. Hacking, Ian (1999): Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Reinbek. Harre\ Ron/David Clarke/Nicola De Carlo (1985): Motives and Mechanisms. London. Heath, Christian (1986): Body movement and speech in medical interacrion. Cambridge. Hertz, Robert (2000): Die Vorherrschaft der rechten Hand. Eine Studie über religiöse Polarität, in: Cornelia Koppetsch (Hg.), Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz, 267-292.
Honcr, Anne (1985): Bodybuilding als Sinnsystem. Elemente, Aspekte und Strukturen, in: Sportwissenschaft 15, 2, 155-169. Husserl, Edmund (1977): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg. Kieserling, Andre (1999): Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main. Knoblauch, Hubert (1995): Kommunikationskultur. Berlin/New York. Knoblauch, Hubert (1999): Verkörpertes Wissen - Die Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie, in: Hermann Schwengel (Hg.), Grenzenlose Gesellschaft. Verhandlungen des Internationalen Soziologiekongresses in Freiburg. PfafTenweiler, 97-99. Knoblauch, Hubert (2002): Die soziale Konstruktion von Körper und Geschlecht. Oder: Was die Soziologie des Körpers von den Transsexuellen lernen kann, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Soziale Repräsentation des Körpers. Konstanz, 117-136. Knoblauch, Hubert (2003): Habitus und Habitualisierung. Zur Komplementarität Bourdieus mit dem Sozialkonstruktivismus, in: Boike Rehbein, Gernot Saalmann, Hermann Schwengel (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz, 187-201. LaBarre, Weston (1947), The culturaJ basis of emotions and gestures, in: Journal of Personality 16, 49-68. Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin. Le Breton, David (1992): La sociologie du corps. Paris. Loenhoff, Jens (2002): Sensomotorische Bedingungen von Kommunikation und Handlung, in: Kornelia Hahn und Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz, 4570.
Luckmann, Thomas (1991 [EA. 1967]): Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main. Mauss, Marcel (1978): Die Techniken des Körpers, in: Soziologie und Anthropologie. Frankfun am Main/Berlin, 199-222. Mead, George Herbert (1978): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main. Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phänomenologie de la perception. Paris. Plessner, Helmuth (1970): Philosophische Anthropologie. Frankfurt am Main. Plessner, Helmuth (1981): Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V. Frankfurt am Main. Polhemus, Ted (1978): Social Aspects of the Human Body. A Reader of Key Texts. Harmondsworth.
Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main. Schelsky, Helmut (1955): Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft. Hamburg. Schütz, Alfred (1972): Gemeinsam musizieren, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Band II. Den Haag, 129-150. Schütz, Alfred (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt am Main. Schütz, Alfred und Thomas Luckmann, (1979): Strukturen der Lebenswelt I. Frankfurt am Main. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory. London. Srubar, Ilja (1988): Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt am Main. Turner, Bryan S. (1984): The Body and Society. Oxford. Wallner, Fritz (1992): Acht Vorlesungen über den konstruktiven Realismus. Wien. Wilson, E. O. (1978): On Human Nature. Cambridge/London.
"3
Gesa Lindemann Die Verkörperung des Sozialen Theoriekonstruktionen und empirische Forschungsperspektiven Im Rahmen der Soziologie lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Perspektiven auf den Körper unterscheiden: Zum einen kann der Körper als Gegenstand der soziologischen Forschung betrachtet und zum anderen auf seine konstitutive Bedeutung für soziale Prozesse hin angesehen werden. Die erstere Perspektive - der Körper als Gegenstand der Soziologie - fuhrt konsequenterweise zu einer weiteren Bindestrich-Soziologie, der Soziologie des Körpers. Eine solche Entwicklung zeichnet sich im deutschsprachigen Raum mit der Etablierung der Arbeitsgemeinschaft »Körper« innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ab, deren Arbeit in mehreren Sammelbänden dokumentiert ist (vgl. etwa Hahn/Meuser 2002). Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist diese Entwicklung weiter vorangeschritten. Dort hat der Körper schon vor längerer Zeit mit »Body and Society« eine eigene Zeitschrift erhalten, in die Beiträge, in denen der Körper eine zentrale Rolle spielt, abgeschoben werden können. Bislang immunisiert sich die allgemeine soziologische Theoriebildung denn auch erfolgreich gegen das Ansinnen, den Körper als konstitutiv für soziale Prozesse zu begreifen, d.h. gegen die zweite der oben genannten Perspektiven.' Das gesellschaftliche Personal, das Soziologen2 vor Augen bekommen, scheint aus Engeln zu bestehen. Denn anders ist es kaum verständlich, warum die Gegenstände soziologischer Forschung fast ausschließlich immateriell konzipiert werden. Zentrale Objekte sind, 1 Eine prominente Ausnahme scheinen die Arbeiten von Pierre Bourdieu darzustellen, der in der Soziologie des Körpers auch zu einem der Hauptbezugsautoren geworden ist. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß Bourdieu die Dimension des leiblich-körperlichen gar nicht thematisiert, vielmehr bildet diese die Leerstelle, den blinden Fleck, seines Habituskonzeptes (vgl. Jäger 2004, Kap. 5)1 Ich verwende abwechselnd ein generalisiertes Femininum und ein generalisiertes Maskulinum. In dieser Diktion kann Weber zu den großen Theoretikerinnen gezählt werden, genauso wie Sappho zu den bedeutenden Dichtern gerechnet wird. 114
z.B., Sinnsysteme (Luhmann) oder sinnhaftes Handeln und werthafte Orientierungen (Weber). Ganz allgemein herscht in der Soziologie eine Vorliebe für Wissen, Sprache und Semantik vor. Darin zeigt sich eine quasimentalistische Bornierung, die es verunmöglicht, systematisch in den Blick zu nehmen, daß es soziale Akteure gibt, die Hunger und Durst haben, die sich ängstigen und die - im Unterschied zu Engeln - maßgeblich auf Technik angewiesen sind, um ihr soziales Leben zu gestalten. Eine Soziologie des Körpers hilft aus dieser Verkürzung nicht heraus. Denn den soziologischen Engeln ist es freigestellt, sich anläßlich irgendeines Bedarfs einen Körper zu konstruieren.3 Der Versuch, die quasimentalistische Bornierung aufzulösen, kann nur gelingen, wenn Verkörperung grundlegend in die Konzeption von Sozialität einbezogen wird. In eine solche Richtung arbeiten zum einen im weitesten Sinn phänomenologisch orientierte Autorinnen4 und zum anderen solche Autoren, die sich auf die pragmatistische Tradition, vor allem auf Mead, berufen.5 Nicht immer ist dabei allerdings deutlich, inwiefern dem Körper eine grundlegende Bedeutung für die Konzeption von Sozialität zukommt. Um herauszuarbeiten, welche Perspektiven sich erschließen, wenn bei der Konzeption von Sozialität der Körper systematisch berücksichtigt und nicht additiv - bei Bedarf- gleichsam drangeklebt wird, möchte ich meine Argumentation in drei Schritten entfalten: Als Ausgangspunkt werde ich eine Sozialitätskonzeption skizzieren, auf die hin die wichtigen gegenwärtigen soziologischen Theorieansätze konvergieren (i). Darauf aufbauend möchte ich eine Theorie des Sozialen formulieren, die maßgeblich den Aspekt des Leibes und des Körpers berücksichtigt. Zu diesem Zweck werde ich auf die Theorie der exzentrischen Positionalität von Helmuth Plessner zurückgreifen (i). Eine solche Neukonzeption <\cs Sozialen führt zu neuartigen empirischen Forschungsperspektiven, die abschließend diskutiert werden. Dabei werde ich vor allem auf das Phänomen der Technik eingehen (3). Im Ergebnis ergibt sich eine 3 Die differenziertesten Auseinandersetzungen um den Körper gibt es bislang im thematischen Rahmen der Geschlechtersoziologie, insbesondere in der Debatte um die »soziale Konstruktion von Geschlecht-. Vgl. hierzu etwa Hirschauer (1993), Landweer (1994) und Lindemann (1993; 1994). 4 In Ansätzen findet sich dies bei Berger.'Luckmann (1980). Für neuere Arbeiten vgl. Lindemann (1996 a; 1996 b), Gugutzer (2002). Jäger {2004) formuliert einen Versuch, die phänomenologische Perspektive mit poststrukturalistischen Ansätzen zu verbinden. 5 Als neuere Arbeit vgl. Rammert (1999). "5
Soziologie, die von der Bornierung auf den engelsgleichen Sinn erlöst ist und auch die physische Realität der Vergesellschaftung systematisch in den Blick nehmen kann.
i. Die konsensuelle Theorie des Sozialen Wenn man sich die abstrakten sozialtheoretischen Grundannahmen soziologischer Theorien vergegenwärtigt, zeigt sich, daß die verschiedenen soziologischen Ansätze auf gemeinsam geteilte Grundannahmen hin konvergieren.6 Diese lassen sich folgendermaßen skizzieren. Konstitutiv ftir Sozialität ist, daß zwischen mindestens zwei Entitäten Ich/ Du bzw. Ego/Alter eine Beziehung besteht, die sich durch eine spezifische Komplexität auszeichnet. Dies ist die praktische Bedingung fiir die Hervorbringung einer spezifisch sozialen Ordnung, die nicht auf das Handeln eines Einzelnen zurückgeführt werden kann. Simmel (1908) hatte dies zuerst formuliert: Er versteht die Wechselwirkung zwischen einem Ich und einem Du als die notwendige Bedingung fiir die Entstehung von etwas qualitativ Neuem, dem Vergesellschaftungsprozeß und den ihn strukturierenden sozialen Formen. Ähnlich versteht Weber (1921-22) soziale Gebilde wie etwa die legitime Ordnung als etwas Drittes, das dem Ich bzw. dem Du im Rahmen sozialer Beziehungen Handlungschancen sichert. Vergleichbare Denkfiguren finden sich auch bei Mead: Er sieht Symbole und den generalisierten Anderen als vermittelnde Momente zwischen Ich und Anderem (vgl. Mead 1924/25; 1934). Luhmann (1984) setzt diese Tradition fort, wenn er im Anschluß an Parsons (1968) das Theorem der doppelten Kontingenz zwischen Alter und Ego zum Ausgangspunkt macht, um die Emergenz eines neuartigen Ordnungstypus herauszuarbeiten: soziale Systeme. Die konsensuelle sozial theoretische Grundannahme besteht darin, die Komplexität der Beziehung zwischen den involvierten Entitäten konstitutiv fiir Sozialität aufzufassen. Um diesen Sachverhalt in seiner Eigenart zu charakterisieren beziehe ich mich aus drei Gründen auf den ErwartungsbegrifF: 1. Der Erwartungsbegriff ermöglicht es, verschiedene Formen des wechselseitigen Aufeinanderbezogenseins voneinander abzugren6 Fiir eine genauere Begründung der Konvergenzthese vgl. Lindemann (2005). Siehe auch die Arbeit von Greshott(i999). 116
zen und trennscharf soziologisch relevante Phänomene zu bestimmen. 2. Der ErwartungsbegrifFist hinsichdich seiner Zuordnung zu einem bestimmten Paradigma neutral, er läßt sich zwanglos sowohl in systemtheoretische als auch in handlungstheoretische Konzepte integrieren. Insofern Erwartungen in Routinen, Praktiken und Wahrnehmungen integriert sind, ist der Erwartungsbegriff auch neutral hinsichtlich einer möglichen Berücksichtigung der körperlich-leiblichen und materialen Dimension sozialer Prozesse. 3. Der Erwartungsbegriff läßt sich gut empirisch operationalisieren. Hinsichdich des ersten Punktes ist das Entscheidende die Differenz zwischen - Erwartungen und - Erwartungs-Erwartungen. Zwei Entitäten, die wahlweise als Ich/Ego und Du/Alter bezeichnet werden können, nehmen die Umwelt gemäß ihrer gegenwärtigen Aktionserfordernisse wahr, d. h., sie nehmen ihre Umwelt aktionsrelativ wahr und agieren entsprechend ihrer Wahrnehmungen. Insofern können Ego und Alter als Selbst bezeichnet werden. Dies beinhaltet: Ego nimmt Alter wahr und entwickelt in der Interaktion Erwartungen bezüglich des weiteren Verhaltensablaufs auf der Seite von Alter. Wenn Alter dies entsprechend tut, kann man davon sprechen, daß Ego und Alter ihr Verhalten aufeinander abstimmen. Dies ist allerdings nicht der soziologisch relevante Sachverhalt. Dieser erfordert eine weitere Steigerung der Beziehungskomplexität. Ego ist ein Selbst, das zwischen sich und seiner Umwelt unterscheidet. Es merkt, was es der Umwelt und was es sich selbst zurechnen muß und kann so zwischen Wahrnehmen und Eigenaktivität unterscheiden und beides miteinander vermitteln. Ego beobachtet Alter als ein Selbst, das seinerseits zwischen Umwelt und Selbst unterscheidet und Wahrnehmen und Eigenaktivität aufeinander abstimmt. Weiterhin erfährt Ego sich als ein Selbst, das in der Umwelt von Alter vorkommt, d. h. als ein Selbst, das von Alter als ein Selbst beobachtet wird, in dessen Umwelt Alter vorkommt. Beide Selbste nehmen also nicht nur das andere Selbst als ein Selbst mit einer Umwelt wahr, sondern als ein Selbst mit einer Umwelt, in der das wahrnehmende Selbst ebenfalls als ein Selbst vorkommt. Dies ermöglicht eine hochkomplexe Form, in der Ego und Alter "7
ihr Verhalten wechselseitig voneinander abhängig machen. Das Verhalten des Gegenüber wird in das eigene Verhalten eingebaut, indem die Beteiligten voneinander erwarten, daß das Gegenüber Erwartungen an sie richtet. Aus der Perspektive von Ego gesprochen: Ego erwartet, daß Alter erwartet, daß Ego das eigene Verhalten vom Verhalten Alters abhängig macht. Das gleiche gilt für Alter entsprechend. Die Beziehung ist demnach dadurch gekennzeichnet, daß Ego und Alter wechselseitig Erwartungs-Erwartungen aneinander richten. In dem Maße, in dem Ego und Alter den Fortgang ihres Verhaltens wechselseitig voneinander abhängig machen, müssen sie notwendigerweise ihre Erwartungs-Erwartungen aufeinander abstimmen. Ego und Alter ermöglichen sich wechselseitig den Fortgang ihres Verhaltens, indem sie ein strukturiertes Geflecht von Erwartungs-Erwartungen ausbilden. Der Terminus »strukturiertes Geflecht von Erwartungs-Erwartungen« dient als Platzhalter. Je nachdem welche theoretische Option im engeren Sinn gewählt wird, kann man an dieser Stelle »soziale Formen« i. S. Simmeis, soziale Gebilde i. S. Webers oder soziale Systeme i. S. Luhmanns einsetzen. Hier kommt es zunächst nur darauf an, daß im Bezug von Ego und Alter aufeinander etwas Drittes entsteht: eine vermittelnde soziale Ordnung. Die Grundannahme, auf die die verschiedenen theoretischen Optionen in der Soziologie konvergieren, läßt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Konstitutiv für Sozialität ist eine Beziehung zwischen mindestens zwei Entitäten, die durch Erwartungs-Erwartungen im Verhältnis von Alter und Ego charakterisiert ist. In dieser Beziehung wird als vermittelndes Drittes ein gültiges Geflecht von Erwartungs-Erwartungen gebildet.
2. Variationen Diese Theorie des Sozialen ist einsichtigerweise nicht als eine integrative Theorie zu verstehen, sie erfaßt lediglich einen impliziten Konsens innerhalb der soziologischen Theoriebildung. Auf der Grundlage einer Rekonstruktion des Konsenses läßt sich zeigen, daß die verschiedenen soziologischen Theorien nicht unvereinbare Paradigmen darstellen, die vielleicht punktuelle Ähnlichkeiten aufweisen.
/ielmehr lassen sich die verschiedenen Theorien als systematische /ariationen der hier explizierten Theorie des Sozialen begreifen. Die sogenannte »Multiparadigmatizität« der soziologischen Theoriebiliung läßt sich dann als systematische Differenzierung einer zwar implizit aber doch allgemein als gültig anerkannten Theorie verstehen, die jeweils unterschiedliche empirische Beobachtungsper»pektiven erschließt. Die dominanten Variationen der konsensuellen Grundannahme gehen dabei so vor, daß die Möglichkeit Sozialität als verkörpert zu denken mehr oder weniger ausgeschlossen wird.
2.1 Unkörperliche Variationen Weber (1921-22) bezeichnet die Ebene der Ego-Alter-Relation als soziale Beziehung zwischen Ich und Du, von der her er soziales Handeln und die Entstehung sozialer Gebilde begreift. Dabei steht für Weber das Verstehen und die Rekonstruktion des Sinns der Handlung im Zentrum. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit von der leiblichen bzw. körperlichen Dimension des Handelns systematisch abgelenkt. Luhmann (1984) eröffnet eine andere Beobachtungsperspektive, denn er legt den Schwerpunkt auf die von der Ego-AlterRelation aus emergierende Ebene sozialer Systeme, die er als sinnprozessierende Systeme begreift. Zur Aufrechterhaltung der Grenzen dieser Sinnsysteme dienen Semantiken und binäre Codes. Hier wird durch die Fokussierung auf die emergente Systemebene mit großer Konsequenz verhindert, daß der Körper in den Blick geraten kann. In beiden Fällen dient in sozialtheoretischer Hinsicht eine dyadische Konstellation als Ausgangspunkt. Aufgrund dieser abstrakten strukturellen Konvergenz, kann man nicht davon sprechen, daß es sich um grundsätzlich andere Paradigmen handelt. Beide Ansätze lassen sich im Rahmen der formalen Struktur der allgemeinen Theorie des Sozialen begreifen. Durch die spezifische Fokussierung auf sinnhafte Phänomene wird allerdings in beiden Fällen, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, die Beobachtung derart begrifflich strukturiert, daß die Dimension des Körpers bzw. des Leibes ausgeblendet wird. Dadurch wird die Beobachtung in einen begrifflichen Rahmen gepreßt, der kaum noch geeignet ist, zentrale Elemente des sozialen Lebens zu erfassen: Dies betrifft erstens das Phänomen, das die leiblich-affektive Zuständlichkeit von Ego oder Alter zu einem wesentlichen Moment bei der Ausgestaltung der Verhaltensabstimmung in 119
sozialen Beziehungen werden kann. Damit eng zusammenhängend blendet eine solche Konzeption von Sozialität die Bedeutung physischer Gewalt bzw. deren Androhung sowie physische Disziplinierung als ein Mittel der Gestaltung sozialer Beziehungen weitgehend aus.7 Drittens schließlich läßt sich im Rahmen einer solchen Sozialitätskonzeption kaum noch begreifen, daß Technik zu einem entscheidenden Medium der Abstimmung zwischen Ego und Alter werden kann. Um eine Sozialitätskonzeption zu entwickeln, die die physischmateriellen Aspekte der Ego-Alter-Konstellation in ihrer konstitutiven Bedeutung fiir die Gestaltung des sozialen Lebens berücksichtigen kann, beziehe ich mich im weiteren auf die Theorie der exzentrischen Positionalität von Helmuth Plessner.8
2.2 Exzentrische Positionalität Plessner (1975) entwickelt in »Die Stufen des Organischen und der Mensch« eine Theorie des Lebendigen, deren Frageperspektive und methodisches Vorgehen sich problemlos mit einer soziologischen Forschung in Einklang bringen läßt. Plessner geht es darum herauszuarbeiten, wie eine begegnende materielle Gegebenheit erscheinen muß, damit sie als ein lebendiges Ding bzw. als ein bewußtseinsbegabtes Ding oder eine Person erscheint. Dabei geht er nicht vom beobachtenden Bewußtsein aus, das eine Welt konstituiert, sondern er stellt die Erscheinung der wahrgenommenen Entitäten in den Mit7 Luhmann entwickelt seine Sozialitätskonzeption abstrakt von doppelter Kontine n z und Kommunikation her und muß sodann additiv »symbiotische Mechanismen* wie »Gewalt« oder »Sexualität« einfuhren, um die Relevanz des körperlichleiblichen fiir soziale Prozesse begreifen zu können. Im Verhältnis dazu ist die hier vorgeschlagene Konzeption von Sozialität begrifflich sparsamer und damit eleganter. 8 Ich werde an dieser Stelle das konkurrierende Angebot des Pragmatismus nicht diskutieren. An anderer Stelle habe ich dargelegt, inwiefern die an Mead anschließende Tradition in sozialtheoretischer Hinsicht in eine dem Analogieschluß ähnliche Sozialitätskonzeption zurückfällt (vgl. Lindemann 2002 a, S. 297ff.). Explizit wird dies in den Mead anschließenden Überlegungen von Vielmetter (1998). Der Rückfall in den Analogieschluß bildet den zentralen theoretischen Nachteil der Meadschen Sozialtheorie im Verhältnis zur Konzeption des Ego-Alter-Verhältnisses, wie es sich ausgehend von Plessner denken läßt. Ansonsten gibt es viele Parallelen zwischen beiden Unternehmungen (vgl. Krüger 1999; 2001).
telpunkt seiner Analyse. Für eine sozialtheoretische Perspektive heißt das, Plessner beginnt nicht mit dem Bewußtsein von Ego, sondern mit dem Bewußtsein von Alter.9 Aufgrund dieses methodischen Ansatzes läßt sich die Argumentation Plessners an die sozialtheoretischen Problemlagen anschließen, die sich bei der Untersuchung der Komplexität von Beziehungskonstellationen ergeben. Insbesondere bietet seine Theorie begriffliche Präzisierungen an, wenn es um die Charakterisierung solcher Konstellationen geht, deren Komplexität durch Erwartungs-Erwartungen geprägt ist. Im Zentrum stehen bei Plessner die Begegnung mit physischen Körpern und die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit eine Begegnung als eine Begegnung mit Alter erfahren wird. Die strukturelle Komplexität, die die Erscheinung eines Alter ego im Rahmen einer Ego/Alter-Beziehung aufweisen muß, entwickelt Plessner als eine Steigerung von Selbstreferentialität, die von der Selbstreferentialität ausgeht, die schon bei der Erscheinung eines Dinges gegeben ist. Ein Ding erscheint als eine Gestalt. Die einzelnen Elemente einer Gestalt werden spontan zu einer Einheit, der Gestalteinheit, zusammengefaßt. Diese Einheit ist aber nicht gleichzusetzen mit der Einheit des Dings selbst. Diese kann nur als etwas beschrieben werden, das in Differenz zur Gestalt ist. Dies ist z. B. die Voraussetzung dafür, daß verschiedene Gestalten zu einer Einheit zusammengefaßt werden können, d. h. die Voraussetzung für Gestaltwandel und Veränderung. Plessner verwendet das Beispiel des Zigarrerauchens. Zunächst hält man sie in der Hand, raucht sie sodann und schließlich bleibt ein Häufchen Asche. Wenn es nur die Gestalteinheit gäbe und nicht die übergreifende Einheit des Dinges, die die beiden gestalthaften Erscheinungen Zigarre und Asche zu einer Einheit vermittelt, wäre es unmöglich zu sagen, daß es sich bei der Asche um die Asche der Zigarre handelt (vgl. Plessner 1975, & 84f). Die Einheit des Dinges ist garantiert, insofern der Einheitspunkt, der die verschiedenen Erscheinungen zur Erscheinung von Etwas macht, in Differenz zur erscheinenden Gestalt ist. Nur wenn die Erscheinung auf etwas bezogen ist, das selbst nicht erscheint, erscheint dieses als etwas, das unabhängig und selbständig ist gegen das Bewußtsein, dem es erscheint. 9 Für eine ausfuhrliche Diskussion der weitergehenden sozialtheoretischen Konsequenzen dieses Ansatzes vgl. Lindemann (1999; 2002a; 2002b).
Dieses Verhältnis bezeichnet Plessner als eines von Kern und eigenschaftstragenden Seiten. Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß der Kern selbst nicht positiv bestimmbar ist, sondern nur als Differenz zur erscheinenden Gestalt aufgefaßt werden kann. Von dieser Differenz her entwickelt Plessner sein Konzept einer Steigerung von Selbstreferentialität. Dinge sind auf eine basale Weise selbstbezüglich. Die gestalthaften Erscheinungen verweisen auf den Kern, der die Eigenschaften hat. Umgekehrt ist dieser Kern aber nicht selbst zugänglich, sondern er fuhrt den Blick um sich herum und präsentiert immer nur neue Erscheinungen, die ihrerseits wieder auf ihn verweisen. Das Lebendige ist dadurch gekennzeichnet, daß diese basale Selbstreferenz gesteigert wird (Plessner 1975, S. 12/ff.). Der Blick, der einem unbelebten Gegenstand begegnet, wird von den eigenschaftstragenden Seiten auf den Kern verwiesen, der seinerseits auf die eigenschaftstragenden Seiten verweist. Aber das unbelebte Ding verweist nicht über sich hinaus. Es bezieht sich nicht von sich her auf seine Umwelt. Das ist der entscheidende Sprung, der die Erscheinung des Lebendigen von der Erscheinung des Unbelebten unterscheidet. Etwas, das als lebendig erscheint, erscheint so, daß es sich selbst von seiner Umwelt abgrenzt und sich, indem es sich abgrenzt zu seiner Umwelt von sich aus in Beziehung setzt. Dadurch gerät das wahrgenommene lebendige Ding in ein eigentümlich komplexes Verhältnis zu dem Körper, der es ist. Der lebendige Körper ist für sich selbst Zweck, er erhält sich als abgegrenzten und organisierten Eigenbereich aufrecht, und zugleich ist der Körper das Mittel, die »Apparatur«, vermittels derer dieser Zweck erreicht wird (vgl. Plessner 1975, S. 186). Auf der Selbstreferentialität des lebendigen Körpers baut eine zweite Steigerung auf: Das Ding, das sich von seiner Umgebung abgrenzt und auf seine Umgebung bezieht, selegiert selbst, wie es sich auf seine Umwelt bezieht. Von jetzt an spricht Plessner davon, daß ein lebendiges Wesen ein Selbst ist. Für ein Selbst wird der Körper zu einem Mittel des Umweltbezuges. Auf dieser Stufe führt er den Leibbegriff ein. Das bewußte Selbst ist ein Körper, aber es hat seinen Körper als seinen Leib und es unterscheidet an sich, d. h. an seinem Leib, verschiedene Weisen, sich auf seine Umwelt zu beziehen. Die klassische Differenzierung ist die von Wahrnehmen und Wirken. Ein lebendiges Selbst, das sein Umfeld wahrnimmt und sich entspre-
chend seiner Wahrnehmung auf das Umfeld bezieht, muß einerseits unterscheiden können zwischen dem, was es wahrnimmt, und seinen eigenen Aktionen und es muß Wahrnehmen und Wirken selbst vermitteln (Plessner 1975, S. 23off.). Diese Stufe bezeichnet Plessner als zentrische Positionalität. Von dieser Stufe der Steigerung der Selbstreferentialität an spricht Plessner davon, daß ein beobachtbarer Körper als ein leibliches Bewußtsein erscheint. Bewußtsein ist ein anderes Wort für eine spezifische Form des Umweltbezuges eines physisch erscheinenden Gegenübers. Plessner begreift Bewußtsein initial als verkörpert, indem er Bewußtsein als Form der Komplexität der Umweltbeziehung physischer Organismen beschreibt. Die Annahme, daß es Bewußtsein gibt, wird mit Bezug auf eine Deutung formuliert. Die Deutung eines materiellen Sachverhalts fuhrt zu der Annahme, daß es sich bei der zu deutenden gestalthaften Erscheinung um ein bewußtes Wesen handelt.10 Die Deutung, ob es sich um ein lebendiges, intelligentes Wesen handelt, das Erfahrungen machen kann, erfolgt unter verschiedenen Voraussetzungen. Wenn ich in ein Zimmer gehe und einen Tiger sehe, kann es sich um einen Stofftiger oder um ein lebendiges Exemplar handeln. Im letzteren Fall stellen sich Fragen, die sinnlos wären, hätte das Gegenüber kein Bewußtsein. Hat er mich gesehen? Hat er Hunger? Wie ist er gestimmt? Wenn ich das Umweltverhältnis des Tigers derart für mich zum Problem mache, gehe ich davon aus, daß er sich selbst merkt (Hunger), daß er die Umwelt merkt (bedauerlicherweise vielleicht auch mich), und ich kann auch vermuten, daß er Erfahrungen mit Menschen gemacht hat (vielleicht hat er gelernt, zwischen Menschen zu unterscheiden, die gefressen werden können und anderen) usw. Schließlich unterstelle ich dem lebendigen Tiger, daß er seinen gespürten eigenen Zustand, die Wahrnehmung der Umwelt und seine Erfahrungen aufeinander abstimmt und entsprechend agiert. Wird er es so tun, daß er auf mich zuspringt, oder bleibt er liegen? Forscher, die mit Tieren experimentieren, sind in der glücklichen Lage, sich mit ihren Interpretationen Zeit lassen zu können. Aber prinzipiell ist das Vorgehen das gleiche. Der Organismus und sein Verhalten werden beobachtet. Beobachtungen werden aufeinander bezogen, und es wird geprüft, ob die Be10 In dieser Perpcktive lassen sich für die Soziologie die Phänomene im Bereich der Biomedizin und der Lebenswissenschaften mit einer neuartigen Präzision erschließen (vgl. Lindemann 2002 a; 2003). 123
obachrungen den Schluß nahelegen, es handelt sich um ein bewußtseinsbegabtes Wesen oder nicht. Auf der Stufe der zentrischen Positionalität kann es einfache Erwartungen geben, die enttäuscht werden und entsprechend modifiziert werden können. Entsprechend kann man auch von intelligentem Verhalten sprechen. Allerdings ist die Umweltbeziehung eines leiblichen Selbst noch nicht so komplex, daß Erwartungs-Erwartungen als Phänomen auftreten können. Das zentrische Selbst geht darin auf, sein Umweltverhältnis hier/jetzt zu gestalten. Der lebendige Körper ist ein Selbst, insofern er sich als Mittel des eigenen Umweltbezuges hat, insofern er sich merkt und an sich selbst verschiedene Weisen des Umweltbezuges unterscheidet und diese aufeinander abstimmt. Aber diese selbstreferentielle Struktur ist sich nicht selbst gegeben. Das Selbst erfaßt sich nicht als ein Selbst, insofern kann sich ein Selbst auch nicht als ein Selbst gegenüber einem anderen Selbst erfahren. Genau das ist aber die Bedingung fiir Erwarrungs-Erwartungen. Dazu ist es erforderlich, daß ein Selbst nicht nur darin aufgeht, seine Umweltbeziehung selbst zu vermitteln, sondern daß es zugleich aus sich herausgesetzt ist. Es ist in Differenz zu sich, insofern es hier/ jetzt etwas wahrnimmt und auf seine Umwelt einwirkt. Es ist darauf bezogen, daß es hier/jetzt ein Selbst ist. Nur wenn das der Fall ist, kann sich ein Selbst als ein Selbst erfassen, das sich gegenüber einem anderen Selbst befindet und dessen Erwartungen als auf es gerichtete Erwartungen erfaßt. Diese weitere Steigerung Selbstreferentialität bezeichnet Plessner als »exzentrische Positionalität«.11 Entitäten, deren Umweltbezug exzentrisch ist, können miteinander in einer Beziehung stehen, die durch Erwartungs-Erwartungen charakterisiert ist. Ich werde solche Entitäten im weiteren als soziale Personen bezeichnen. Eine soziale Person (Alter) erfährt ein Gegenüber als ein anderes personales Selbst (Ego), das Erwartungen hat und sich entsprechend verhält und das darüber hinaus spezifische Erwartungen hinsichdich der Erwartungen Egos an Alter hegt.12 11 Genaugenommen sind die Strukrurmerkmale von exzentrischer Positionalität und doppelter Kontingenz nicht deckungsgleich. Für eine präzisiere Bestimmung vgl. Lindemann (1999; 1002a, Kap. 1 u. 2.; 2002b). 12 Sozialität in dieser Weise zu begreifen, bietet mehrere Vorteile: Zum einen lassen sich auf dieser Grundlage Handlung und Kommunikation sehr viel zwangloser begreifen, als wenn man wie es Luhmann z.B. tut, von unverkörperten Bewußtseinssystemen ausgeht. Bezogen auf den Kommunikationsbegriff Luhmanns ließe sich 124
Abschließend bleibt, ein wichtiges Merkmal der Positionalitätstheorie festzuhalten. Es handelt sich um eine Theorie struktureller Komplexität, die es prinzipiell offen läßt, welche Entitäten überhaupt positional existieren und in welcher Weise sie positional auf ihre Umwelt bezogen sind. Diese Fragen können nur empirisch beantwortet werden.13
3. Leib — Körper - Technik Wenn man Sozialität als Verhältnis verkörperter Personen begreift, wird der Körper nicht als Additivum verstanden, sondern Sozialität wird initial als verkörperte Sozialität begriffen. Unter dieser veränderten sozialtheoretischen Voraussetzung lassen sich die drei oben genannten Verkürzungen beseitigen: Zum einen wird die Zuständlichdas folgendermaßen explizieren: Kommunikation ist eine Form der Auflösung der Situation doppelter Kontingenz. Das Selbst vermittelt nicht mehr nur einfach zwischen Wahrnehmen und Wirken, sondern es stellt in Rechnung, daß die eigenen Selektionen in Gegenwart von Ego stattfinden. Das erscheinende Selbst erscheint so, als würde es in seinen Umweltbezug den Bezug auf Ego eingebaut haben. Es selegiert selbst, wie es sich zeigt und es macht seine sinnliche Präsentation davon abhängig, daß Ego ihm ebenfalls als ein exzentrisches Selbst erscheint, das nicht einfach nur wahrnimmt, sondern zwischen Information und Mitteilung unterscheidet und das verstehen kann. Wenn Ego einem Wesen begegnet, dessen Umweltbcziehung derart komplex ist, stellt das begegnende Wesen die Anforderung, die eigene Umweltbeziehung ebenso komplex zu gestalten. Ego ist mithin ein exzentrisches Selbst, insofern es vom Anderen dazu aufgefordert wird. Im Kontext der Luhmannschen Theorie bleibt immer das Problem, wie ein immaterielles Sinnsystem eine materielle Mitteilung selegiert, um eine Information für andere als etwas zu verstehendes zu präsentieren. Wenn man dagegen das Bewußtsein initial als ein erscheinendes leibliches Bewußtsein begreift, ist die Selektion von Mitteilungshandlungcn zwanglos nachvollziehbar. Ich vermute, daß zur Lösung dieses Problems »strukturelle Kopplung« als Dea ex machina einspringen müßte. Aber dadurch ist das Problem nur benannt, nicht gelöst. Denn es bleibt auch dann eine offene Frage, wie ein immaterielles Sinnsystem und sei es im Sinne struktureller Kopplung auf die Elemente eines physischen Systems zugreifen kann. In Anlehnung an den Sprachgebrauch des Kartesianismus, dessen Traditionslinien Luhmann an diesem Punkt fortschreibt, könnte man von einer zirbeldrüsiologischen Scheinlösung sprechen. 13 Für eine genauere Darlegung des methodischen Ansatzes, der zu dieser Konsequenz führt vgl. Lindemann (2002b). HS
keit und damit auch die affektive Zuständlichkeit sozialer Person« durch die beobachtungsleitende Konstruktion nicht ausgeschlossen Vielmehr wird die leiblich-affektive Zuständlichkeit personaler Ak teure als ein Element berücksichtigt, das für die Ausgestaltung dei Verhaltensabstimmung in sozialen Beziehungen zentral sein kann Zweitens blendet eine solche Konzeption von Sozialität die Bedeu tung physischer Gewalt bzw. deren Androhung, sowie physische D\s ziplinierung als ein iMittel der Gestaltung sozialer Beziehungen nich aus; denn es werden explizit der Körper bzw. der Leib in der Kon zeption berücksichtigt, auf die sich solche Drohungen und Diszipli nierungen sinnvollerweise nur beziehen können. Drittens schließlich läßt sich im Rahmen einer solchen Sozialitätskonzeption auch Tech nik als Medium der Abstimmung zwischen Ego und Alter begreifen Auf den letzten Punkt möchte ich im weiteren ausführlicher einge hen.' 4 Dabei werde ich in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werde icr untersuchen, inwiefern Technik als vermittelndes Medium der Ge staltung sozialer Beziehungen zu begreifen ist. Dies läßt sich unter gliedern in die Analyse des Verhältnisses von Herstellung und Nut zung (3.1) und die Analyse der Techniknutzung selbst (3.2). In einen zweiten Schritt werde ich darauf eingehen, ob und inwiefern der Um gang mit Technik beinhaltet, daß personale Akteure ihrerseits wi< Dinge oder Apparaturen ihres Lebens behandelt werden, da techni sehe Wirkungen nur dann an ihnen ansetzen können (3.3).15 3.1 Die kommunikationsanaloge Verfaßtheit der technischen Vermittlung sozialer Beziehungen Sowohl Werkzeuge als auch einfache und komplexere technische Ar tefakte werden produziert, um benutzt zu werden. Wenn man die; anerkennt, erscheint es fast als eine Trivialität, daß Werkzeuge unc 14 Für eine Bearbeitung der beiden erstgenannten Probleme vgl. Lindemann (1995 r 994? 1996 b) und Jäger (2004). 15 Die Frage, ob und inwiefern Technik selbst als handelnde Emirat zu begreifen is und im Extremfall sogar die Position von Ego oder Alter in sozialen Beziehungei einzunehmen vermag, habe ich an anderer Stelle diskutiert (vgl. Lindemani 2002c). Einen Überblick über die Diskussion hinsichtlich der Handlungsträgei Schaft von Technik bietet der Sammelband »Können Maschinen handeln?« (Ram mert/Schulz-Schaeffer 2002). 126
Technik nur dann vorkommen können, wenn es Entitäten gibt, die sich im Sinne von Erwartungs-Erwartungen aufeinander beziehen. Die Produzentin erwartet mögliche Nutzungserwartungen seitens bestimmter oder anonymer Techniknutzer. Diese Antizipationen sind in die praktische Gestaltung der Technik eingelassen. Der Produzent erwartet z.B. eine Waschmaschinennutzerin mit bestimmten praktischen Erwartungen und gestaltet die Waschmaschine entsprechend. Je offensichtlicher die Technik auf ihren praktischen Gebrauch ausgerichtet ist, um so eher kann eine Nutzerin mit einem allgemeinen Hintergrundwissen auskommen und der Waschmaschine ansehen, wie sie zu benutzen ist. Im Zweifelsfall kann sie versuchen, es durch Versuch und Irrtum herauszubekommen oder aber sie muß die praktische Bedienung mit Hilfe der Bedienungsanleitung erlernen. Wenn man Produktion und Nutzung von Technik in durch Erwartungs-Erwartungen charakterisierten sozialen Beziehungen situiert, ist es hochwahrscheinlich, daß ein Phänomen zu beobachten sein wird, daß aus der Kommunikation bekannt ist.16 Dort bestimmt die verstehende Deutung, d. h. die Rezeption, was als sozial relevante Aussage gelten muß. Weniger die Auswahl einer Information und einer Mitteilung seitens Alter, sondern die verstehende Deutung der Mitteilung durch Ego determiniert, was mitgeteilt worden ist. Etwas Ähnliches ist bei der Rezeption von Technik zu vermuten: Erst die Nutzung legt fest, wofür die Technik produziert worden ist. Ego erwartet, daß Alter Erwartungen auf der Seite von Ego antizipiert hat und nutzt die Technik entsprechend. Der technisch-praktische Sinnvorschlag Alters wird von Ego praktisch verstehend in der Nutzung aufgegriffen. Dies vorausgesetzt ist es wahrscheinlich, daß die Produzenten von Technik immer wieder überrascht sein werden, wie ihre Produkte praktisch interpretiert werden. Die praktische Rezeption ist schon bei Werkzeugen nicht vollständig determiniert. Wofür eine Zange oder ein Hammer gemacht worden sind, ist eine Frage der situativen Rezeption. Ähnliches gilt erst recht für komplexe Techniken. Um ein aktuelles und prominentes Beispiel zu nehmen: Sind zivile Verkehrsflugzeuge Fortbewegungsmittel oder Bomben? Sind Atomkraftwerke eine Technik zur Energieproduktion, oder handelt es sich um eine Art immobiler Atombomben, 16 Ich orientiere mich hier am Kommunikationsbegriff Luhmanns (1984, S. 191 ff). 127
die daraufwarten, gezündet zu werden? Der kreativen Rezeption von Technik sind zwar gewisse technische Grenzen gesetzt. Mit einem Flugzeug kann man z.B. keine Nüsse knacken, aber die praktische Rezeption ist doch weniger limitiert, als die Produzenten und die mei sten Nutzerinnen, die sich an anerkannte generalisierte Nutzungser Wartungen halten, zunächst glauben würden. Wenn über den prakti sehen Sinn der Technik durch ihre Nutzung entschieden wird, muß diese u. U. streng kontrolliert werden. Im Fall der Nutzung von Flug zeugen schließt dies eine ausgiebige Kontrolle des Körpers der Reisenden ein. Dies ist nur ein besonders drastisches Beispiel dafür, daß die Festlegung des praktischen Sinns technischer Artefakte durch ihre kontrollierte Nutzung nur nachvollziehbar ist, wenn Alter (Hersteller) und Ego (Rezipientin) als verkörpert gedacht werden. Technik kann soweit in den Kontext von Kommunikationsbeziehun gen integriert werden, daß sie die Anwesenheit eines der Interaktions partner ersetzt. Dies ist bei einigen Bankgeschäften und Kaufvorgängen der Fall. Im Prinzip ist die Beziehung etwa zwischen Verkäuferin und Käufer als eine Beziehung zu verstehen, die durch ErwartungsErwartungen gekennzeichnet ist. Die Präsentation der Waren erfolgt in der Erwartung der Kauferwartungen potentieller Kunden. Entsprechend erwartet eine Kundin die Erwartungen des Verkäufers, die sich beim Kauf z.B. auf den Empfang von Geld für die erhaltene Ware richten. Diese komplexe Beziehung wird durch Münzautomaten, z.B. ftir Süßigkeiten, Zigaretten oder Getränke, technisch gestaltet. Das Angebot der Ware und der Empfang des Geldes werden durch ein technisches Artefakt, den Automaten, vorgenommen. Der Automat übernimmt dabei aber nicht selbst die Position von Ego oder Alter. Dies wäre dann der Fall, wenn der Käufer davon ausgehen würde, daß er mit dem Einwerfen des Geldes in den Münzschlitz auf die Erwartungen des Automaten reagieren würde. Dies ist mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht der Fall. Für diejenigen, die dies annehmen sollten, ist an den meisten Automaten zumeist extra ein Hinweis angebracht, wer im Fall der Nichdieferung der Ware trotz Bezahlung (Münzeinwurf) verantwortlich zu machen ist. Der Automat übernimmt nicht die Position von Ego oder Alter, sondern er gestaltet eine Ego-Alter-Beziehung auf technische Weise. Die praktische Bewältigung des technischen Umgangs mit dem Automaten erfordert im Prinzip eine Komplexität der Umweltbeziehung des Akteurs, die derjenigen eines einfachen leiblichen Selbst 128
(zentrische Positionalität) entsprechen würde.l7 Man muß lernen, weiche Metallstücke in den Schlitz gesteckt werden und wie man sie hineinstecken muß, damit sie nicht durchfallen. Das letztere erfordert gelegendich ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl. Schließlich muß man bei avancierteren Automaten noch lernen, eine Zeichenfolge (zumeist Zahlen) auf einer Tastatur zu wiederholen, um so den Mechanismus auszulösen, der das Herunterfallen des Gegenstandes in den Herausnahmeschacht bewirkt. Für eine Analyse der praktischen Bewältigung dieser Probleme reicht es aus, das Konzept eines körperlich-leiblichen Selbst zu verwenden, das Erwartungen hinsichtlich des Ablaufs der Geschehnisse entwickeln und entsprechend lernen kann. Auf eine komplexere Form der Umweltbeziehung, wie sie für ein personales Selbst charakteristisch ist, muß erst rekurriert werden, wenn man die soziale Beziehung untersuchen möchte, die durch die Beziehung zum Automaten technisch vermittelt wird. An diesem Punkt zeigt sich der Vorteil einer von der physischen Umweltbeziehung her begriffenen Sozialität, denn dadurch läßt sich die Vermitteltheit sozialer Praxis durch Technik und leibliche Geschicklichkeit erfassen. Wer sich in seiner Beobachtung auf den Sinn sozialer Handlungen oder auf sinnhafte Kommunikationen beschränkt, dem wird diese praktische Dimension des sozialen Lebens prinzipiell entgehen.
5.2 Nutzung von Technik als Vermittlung sozialer Beziehungen Wenn sich die Herstellung und Nutzung von Technik im Sinne der Vermittlung sozialer Beziehungen erschließen läßt, kann man weiterhin fragen, ob nicht auch die Nutzung von Technik selbst im Sinne einer Gestaltung sozialer Beziehungen verstanden werden kann. Dabei kann es sich sowohl um konfliktharte als auch um kooperative Beziehungen handeln. Ein Beispiel für die technische Gestaltung von Konflikten wären technisch vermittelte Täuschungen: Der Bewohner kann z. B. über einen Zeitschaltmechanismus Haus oder Wohnung beleuchten und damit versuchen, trotz Abwesenheit physische Anwesenheit darzustellen. Mit dieser technischen Inszenierung antizipiert 17 Auf ähnliche Phänomene macht Karin Knorr Cetina (1992) bei der Analyse v°n Laborpraktiken aufmerksam. Allerdings fehlt ihr ein Konzept des praktisch 1er" nenden Umweltbezugs, der nicht selbst im Sinne sozialer Handlungen verstärken werden muß. 119
der Bewohner die Erwartung potentieller Einbrecherinnen, daß es unvorteilhaft ist, in ein Haus oder eine Wohnung einzubrechen, deren Bewohner anwesend sind. In Erwartung dieser beleuchtungsanleitenden Erwartung seitens der Bewohner können Einbrecherinnen mit einer eingehenderen Prüfung von Anwesenheit und Abwesenheit reagieren. Dies kann z.B. durch eine regelmäßige Beobachtung der Beleuchtungszeiten erfolgen. Zuviel Gleichmaß kann dann als technisch vorgetäuschte Anwesenheit interpretiert werden. Auf eine solche Antizipation der eigenen Erwartungen kann ein Bewohner mit einer Verfeinerung der technischen Inszenierung reagieren, genauer durch technisch hergestelltes unregelmäßiges An- und Abschalten der Beleuchtung. Hier vermittelt die Benutzung von Technik eine konflikthafte soziale Beziehung. Beide Akteure verwenden bzw. beziehen sich auf Technik zur Gestaltung ihres Konflikts. Die kooperative Nutzung von Technik läßt sich als Vollzug einer Gesamthandlung beschreiben, der die Beteiligung sowohl von mehreren sozialen Personen als auch von Technik erfordert. In diesem Sinn haben Rammert (2003) sowie Rammert und Schulz-Schaeffer (2002a) das Konzept der verteilten Handlungsträgerschaft entwikkelt. Ihre Frage lautet: Welche Entität ist in welcher Weise am Vollzug einer Gesamthandlung beteiligt? Wie der Beitrag der einzelnen Entitäten (personale Akteure, Maschinen etc.) beschaffen ist, soll allein die empirische Analyse entscheiden.18 Das Beispiel, anhand dessen sie ihre Überlegungen entfalten, ist: Wer fliegt das Flugzeug mit Urlaubern von MaJIorca zurück? Im Kontext der hier entwickelten Theorie der technischen Vermitteltheit sozialer Beziehungen wäre auch dies zunächst einmal ein Problem von Herstellung und nutzender Rezeption. Die antizipierten Nutzungserwartungen sehen Passagiere vor, die sich auf die Sitzplätze im Rumpf setzen und Erwartungen von Piloten, die das Flugzeug mit Hilfe des Bodenpersonals steuern. Wenn man annimmt, daß das Flugzeug einer kommerziellen Fluggesellschaft gehört, kommen weitere Nutzungserwartungen hinzu, die sich auf die ökonomische Rentabilität beziehen wie etwa: möglichst niedrige Wartungs- und Unterhaltskosten. Schon in der Produktion ist etwa ein ziviles Verkehrsflugzeug auf 18 Das entscheidende analytische Instrumentarium bildet dabei ein gradualisierter Handlungsbegriff. Sie nehmen ein Kontinuum von Handlungsträgerschart an, das von einem rein mechanischen Bewirken-Können bis hin zu verantwortlichem intentionalem Handeln reicht. Vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer (zoota). 130
eine Nutzung durch eine Vielzahl personaler Akteure angelegt. Deshalb ist es sinnvoll weiterzufragen, ob und inwiefern zwischen diesen nun ihrerseits technisch vermittelte soziale Beziehungen hergestellt werden. Dies ist sehr wahrscheinlich, denn vermutlich fliegt der Flugzeugführer die Maschine, weil er von der Fluggesellschaft dafür bezahlt wird, die ihrerseits das Geld der Urlauber dafür kassiert, sie zum Urlaubsort und wieder zurück zu fliegen. Die Durchfuhrung des Fluges ist über weite Strecken eine rein technische Angelegenheit, die wahlweise von einem Piloten oder einem technischen Artefakt, dem Autopiloten, ausgeführt werden kann. Im letzteren Fall steuert nicht der Pilot die Maschine, sondern diese steuert den Flug. Bei dieser Eigensteuerung der Technik sind durchaus Reaktionen auf Reize von Außen vorgesehen. Aber es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, ein Flugzeug als aus Erfahrung lernendes Gebilde zu begreifen, das Erwartungen ausbildet, die enttäuscht werden können.19 Noch unwahrscheinlicher ist es, daß das Flugzeug selbst die Erwartungen von Bodenpersonal, Piloten und Fluggästen erwartet und sein Verhalten danach ausrichtet. Wenn man nur die technische Bedienung eines Flugzeuges ins Auge faßt, ist es wahrscheinlich, daß die Analyse in vielen Fällen mit der Komplexität der Umweltbeziehung eines körperlich-leiblichen Selbst auskommt. Es wäre dann empirisch zu überprüfen, ob es möglich ist, den Gesamtvorgang nur von dieser Annahme ausgehend zu begreifen. Ich halte das allerdings für eher unwahrscheinlich, da zumindest die Piloten in eine Vielzahl von genuin sozial-kommunikativen Vorgängen involviert sind, die unerläßlich sind, damit das Flugzeug fliegt. Dazu gehören etwa die Verständigung mit dem Bodenpersonal darüber, ob ein Landeplatz vorhanden ist oder nicht usw. In jedem Fall muß das Fliegen eines Flugzeuges aber als ein technisch-sozialer Vorgang bezeichnet werden, zu dem auch die Technik ihren eigenständigen Beitrag leistet.
19 Aus diesem Grund verwende ich den Neologismus »Eigensteuerung«. Von Se.bststeuerung spreche ich aus Gründen der begrifflichen Klarheit erst dann, wenn « plausibel ist, daß eine Entität - egal welche - die Komplexität der Umwcltbeziehung erreicht, die für ein körperlich-leibliches Selbst charakteristisch ist.
j.5 Der dingliche Körper als Ansatzpunkt für wirksame Technik Abschließend möchte ich auf das Problem eingehen, daß ein wirksamer Einsatz von Technik verkörperter Personen bedarf, um an ihnen technisch ansetzen zu können. Diese Möglichkeit sollte von der Anlage einer Sozialtheorie nicht ausgeschlossen werden, da andernfalls die Wirkung vieler technischer Mittel für die soziologische Analyse verdunkelt wird. Dies betrifft zumindest die Wirkung technischer Gewaltmittel und darüber hinaus den gesamte Bereich der biomedizinischen Behandlung von Körpern. Latour hat immer wieder die These vertreten, daß Technik genauso als ein Akteur begriffen werden müsse wie ein Mensch. Eines seiner Beispiele verdient besondere Aufmerksamkeit, da hier zumindest indirekt und von Latour unbemerkt, die physische Wirksamkeit hereinspielt. Latour postuliert: Wenn ein Mann mit einem Gewehr schießt, könne man schlecht sagen, daß nur der Mann gehandelt habe, denn ohne das Gewehr hätte er nicht schießen können. Latour zufolge seien sowohl das Gewehr als auch der Mann gleichermaßen als Aktanten an der Durchführung der Handlung beteiligt (vgl. Latour 1994). Mit dieser auf den Schützen konzentrierten Überlegung nivelliert Latour vollständig die Unterschiedlichkeit des Beitrages, den das körplich-leibliche Selbst und das technische Artefakt zum Erfolg der Handlung beisteuern. Im Sinne des verteilten Handelns könnte man maximal sagen, daß das Gewehr einen entfernungsüberbrückenden Mechanismus beisteuert. Es wählt nicht selbst das Ziel aus, sondern es limitiert allenfalls die Zielauswahl aufgrund technischer Grenzen, z.B. der Reichweite. Neben dieser auf den Schützen bezogenen Diskussion um die Handlungsträgerschaft des Gewehrs erscheint mir ein weiterer Aspekt zumindest ebenso interessant zu sein. Die Nutzung der Technik ist nur dann wirksam, wenn es ein dingliches Objekt gibt, auf das die mechanisch aus dem Gewehrlauf herausgeschleuderte Kugel treffen kann. Genau dieses Problem läßt sich mit dem hier vertretenen Ansatz lösen. Eine verkörperte Person ist nämlich immer auch ein Körperding, in dem das Leben dieses Körper expressiv realisiert ist (vgl. Plessner 1975, S. i86ff.). Auf diese Weise läßt sich begreifen, wie durch das Schießen eine technisch vermittelte soziale Beziehung hergestellt wird. Wenn etwa ein Heckenschütze 132
aus dem Hinterhalt einen beliebigen personalen Akteur erschießt, wird durch diese Aktion auf jeden Fall eine technische Beziehung etabliert. Die Kugel trifft nämlich nur insofern auf die Person, als diese auch eine körperliche Apparatur ihres Lebens ist. Eine Gewehrkugel kann das Funktionieren dieser Apparatur so sehr stören, daß in diesem Körper das Leben nicht mehr expressiv realisiert ist. Wenn es zu medizinischen Rettungsversuchen kommt, so lassen sich auch die dadurch hergestellten Beziehungen zunächst als rein technische Beziehungen begreifen, die direkt den dinglichen Körper einbeziehen, in dem die Lebendigkeit expressiv realisiert ist. Solche Maßnahmen wären etwa die künstliche Beatmung, die Verfrachtung des Körpers auf eine Intensivstation usw. Keine dieser medizinischen Rettungsmaßnahmen behandelt den Körper direkt als eine Person, sondern maximal als eine Apparatur des Lebens.20 Wenn die Apparatur des Lebens zugleich eine Person ist, ist der technische Vollzug der Aktion unauflöslich in ein komplexes soziales Beziehungsgeflecht integriert. Falls der Schuß im Frieden abgegeben wird, war es Mord und der Schießende folglich ein Mörder. Die technische Beziehung erweist sich als eine soziale Beziehung, denn Mord kann es nur geben, wenn es eine anerkannte Norm ist, Menschen nicht zu töten. Diese sichert die allgemeine Erwartung der Erwartung, nicht getötet zu werden, mit der soziale Personen einander begegnen. Weiterhin setzen die medizinisch-technischen Rettungsmaßnahmen voraus, daß es sich um den Körper einer Person handelt, denn nur unter dieser Bedingung werden mehr oder weniger fraglos die personalen und technischen Mittel mobilisiert, um eine Rettung zu erreichen. Die Anwendung und die Wirksamkeit der eingesetzten Technik kann man aber nur dann soziologisch in den Blick bekommen, wenn soziale Personen nicht nur als sinnhaft handelnde Akteure begriffen werden, sondern auch als dingliche Körper bzw. als körperliche Apparaturen ihres Lebens. Eine noch weitergehende Reduktion sozialer Personen, nämlich eine auf das bloß dinghafte, findet sich im Flugzeugbeispiel. Es werden von seiten der Flugzeugbauer nicht nur Nutzungserwartungen seitens der Passagiere erwartet, sondern diese werden im Sinne durch20 Für eine ausführliche Analyse dieses Sachverhalts und eine Kritik an einer naiven soziologischen Kritik an der Verdinglichung der Person durch den medizinischen Umgang mit dem menschlichen Körper vgl. Lindemann (2002a, S. 324fr"., insbesondere S. 528). 133
schnittlich schwerer Körper antizipiert, die in bestimmter Weise im Raum des Flugzeuges verteilt sein werden. Dabei unterscheidet sich eine Anzahl Menschen von einer Tonne Gewicht nicht von einer Tonne Labormäuse oder einer Tonne sonstigen Frachtguts. Soziale Personen werden in der technischen Konstruktion von Flugzeugen auf Körper von Gewicht reduziert und das reicht für bestimmte Konstruktionszwecke vollkommen aus.
4. Zusammenfassung Ausgehend von einer konsensuell geteilten Grundannahme, auf die hin die verschiedenen soziologischen Theorierichtungen konvergieren, lassen sich die verschiedenen konkurrierenden Theorieansätze als systematische Variationen eines geteilten Konsenses begreifen. Auf dieser Grundlage habe ich eine neuartige Variation der sozialtheoretischen Grundannahme entwickelt, die Sozialität prinzipiell als verkörpert versteht. Mit Bezug auf Plessner wurde Verkörperung dabei in einer differenzierten Weise konzipiert. Dies erwies sich als zweckmäßig, denn dadurch wird es möglich, eine ganze Skala von Verkörperungen in Rechnung zu stellen. Diese reicht von bloßer Dinghaftigkeit über einfaches Lebendigsein bis hin zu leiblichem Bewußtsein und Personalität. Dadurch können in einer Perspektive einander konträr entgegenstehende Phänomene in der Konzeption von Sozialität berücksichtigt werden: Zum einen objektivierte Technik und ihre rein technischen Wirkungen und zum anderen leiblich-affektive Erfahrungen. Speziell mit Bezug auf Technik habe ich abschließend einige Forschungsperspektiven diskutiert, die sich aus einem Konzept verkörperter Sozialität ergeben: Wenn Herstellung und Nutzung von Technik im Sinne einer durch Erwartungs-Erwartungen charakterisierten Ego-Alter-Konstellation begriffen werden, muß der Gebrauchssinn der Artefakte von hinten her aufgerollt werden, d.h. von ihrer praktischen Rezeption her. Eine solche Perspektive kann sich nur ergeben, wenn die Ego-Alter-Konstellation als verkörpert gedacht wird. In einer solchen Perspektive kann man weiterhin danach fahnden, wie die Nutzung von Technik soziale Beziehungen vermittelt, wodurch Technik selbst konstitutiv für die Durchfuhrung von Handlungen wird. Ein besonderer Aspekt der leiblich-körperlichen Rezeption von 13+
Technik besteht darin, daß die Komplexität der Umweltbeziehung, die zu deren Rekonstruktion erforderlich ist, nicht die fiir Erwartungs-Erwartungen erforderliche Komplexität der exzentrischen Positionalität haben muß. In vielen Fällen reicht es aus, ein intelligentes lernfähiges Selbst anzunehmen, dessen Umweltbeziehung durch Erwartungen gekennzeichnet ist, die entäuscht werden können. Wenn es darum geht die Wirkung von Technik soziologisch genauer in den Blick zu nehmen, ist es in vielen Fällen vermudich sogar erforderlich, den Körper, an dem Technik praktisch wirksam ansetzt, im Sinne eines mechanischen Gegenstandes von einer gewissen Schwere oder als einfache Apparatur seines Lebens zu begreifen. Wenn man annimmt, daß Verkörperung konstitutiv für Sozialität ist, muß bei der Analyse jedes sozialen Phänomens systematisch gefragt werden, ob und inwiefern das Phänomen ohne den Leib bzw. den Körper Bestand haben kann. Wie Verkörperung eine Rolle spielt und ob sie für eine genaueres Verständnis des Phänomens schnell übergangen werden kann, muß von Fall zu Fall entschieden werden. Es hängt von den Zwecken der Analyse ab, ob und inwiefern dem Sachverhalt der Verkörperung eine zentrale Bedeutung zukommt. Aber in jedem Fall gilt es zu berücksichtigen: Soziale Phänomene sind nicht nur daraufhin zu beobachten, daß personale Akteure in einer durch Erwartungs-Erwartungen charakterisierten Ego-Alter-Konstellation miteinander stehen. Vielmehr müssen soziale Sachverhalte auch systematisch daraufhin beobachtet werden, ob und inwiefern ein Sachverhalt nur dadurch Bestand hat, daß personale Akteure und speziell solche, die Technik nutzen, bloß dinghafte Körper sind, oder eine Apparatur, in der ihr Leben realisiert ist oder ein intelligentes lernfähiges leibliches Selbst.21 Ein solche Variation der konsensuellen Grundannahme verläßt das Feld des engelsgleichen sozialen Sinns und erschließt statt dessen das Soziale systematisch als ein Feld materieller Akteure.
11 Ich habe an anderer Stelle detailliert gezeigt, wie sich dies in ein empirisches soziologisches Forschungsprogramm umsetzen läßt. Vgl. Lindemann (2001a; IOOJ). 135
Literatur Berger, Peter L./Thomas Luckmann (1966/1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Greshoff, Rainer (1999): Notwendigkeit einer »konzeptuellen Revolution in der Soziologie«?, in: österreichische Zeitschrift für Soziologie 24, 6-32. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper und Identicät. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Hahn, Kornelia/Michael Meuser (Hg.) (2002): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz: Universitätsverlag. Hirschauer, Stefan (1993): Die soziale Konstruktion der Transsexualitär, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Husserl, Edmund (1976): Husserliana, 111/1. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Den Haag: NijhorT. Jäger, Ulle (2004): Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, Königstein: Helmer. Knorr Cetina, Karin (1992): The Couch, die Cathedral, and the Laboratory: On the Relationship between Experiment and Laboratory Science, in: Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture. Chicago/London: Universityof Chicago Press. 113-138. Krüger, Hans-Peter (1999): Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 1: Das Spektrum menschlicher Phänomene. Berlin: Akademie. Krüger, Hans-Peter (2001): Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 2: Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage. Berlin: Akademie. Landweer, Hilge (1994): Generativität und Geschlecht, in: Wobbe, Tneresa; Lindemann, Gesa (Hg.), Denksachen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, 147-176. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Latour, Bruno (1994): On Technical Mediation - Philosophy, Sociology, Genealogy, in: Common Knowledge 3, 29-64. Lindemann, Gesa (1993): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt am Main: S. Fischer. Lindemann, Gesa (1994): Die Konstruktion der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Konstruktion, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 115-146. Lindemann, Gesa (1996 a): Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib, in: Anette Barkhaus/Martias Mayer/Neil Roughley/Donatus Thürnau (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, 146-175. Frankfurt am Main.: Suhrkamp. 136
Lindemann, Gesa (1996 b): The Body of Gender Difference, in: European Journal of Women's Studies 3, 341-361. Lindemann, Gesa (1999): Doppelte Kontingenz und reflexive Anthropologie, in: Zeitschrift für Soziologie 28 (3): 165-181. Lindemann, Gesa (2002a): Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin. München: Fink. Lindemann, Gesa (2002b): Kritik der Soziologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50, 227-245. Lindemann, Gesa (2002c): Person, Bewußtsein, Leben und nur-technische Artefakte, in: Werner Rammen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt am Main u.a.: Campus, 79-100. Lindemann, Gesa (2003): Beunruhigende Sicherheiten. Zur Genese des Hirntodkonzepts. Konstanz: Universitätsverlag. Lindemann, Gesa (2005): Theorievergleich und Theorieinnovation. Plädoyer für eine kritisch-systematische Perspektive, in: Uwe Schimank; Rainer Greshoff (Hg.), Was erklärt die Soziologie? Münster: LIT-Verlag (i. V). Luhmann, Nikias (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Nikias (1987): Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Alois Hahn/ Volker Kapp (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 25-94. Luhmann, Nikias (1995): Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 169-188. Mead, George H. (1924-25/1987): Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. I, 299-328. Frankfurt am Main: Suhrkamp Mead, George H. (1934/1967): Mind, Seif, and Society, Chicago. London: Universityof Chicago Press. Parsons, Talcott (1968): Interaction: Social Interaction, in: International Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 7. New York: Macmillan/The Free Press, 429-441. Plessner, Helmurh (3i975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/New York: de Gruyter. Rammen, Werner (1999): Weder festes Faktum noch kontingentes Konstrukt: Natur als Produkt experimenteller Interaktivität, in: Soziale Welt 50, 281-296.
*
Rammert, Werner (2003): Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen, in: T. Christaller/J. Wehner (Hg.), Autonome Maschinen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 289-315. Rammert, Werner/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.) (2002): Können Maschinen 137
handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt am Main u.a.: Campus. Rammen, Werner/Ingo Schulz-Schaeffer (2002a): Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Handeln und technische Abläufe verteilt, in: Dies. (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik. Frankfurt am Main u.a.: Campus, 11-64. Simmel, Georg (1908/1983): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker und Humblot. Spencer Brown, George (1969): Laws of Form. London: Allen and Unwin. Stubar, Ilja (1989): Vom Milieu zur Autopoiesis. Zum Beitrag der Phänomenologie zur soziologischen Begriffsbildung, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 307-331. Vieimetter, Georg (1998): Die Unbestimmtheit des Sozialen. Zur Philosophie der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main u.a.: Campus. >Xeber, Max (1921-22/1980): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr. \lbbbe, Theresa/Gesa Lindemann (Hg.) (1994): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gerd Nollmann Individualisierung und ungleiche Strukturierung des Körpers Ein weberianischer Blick auf den kulturellen Wandel körperbezogener Deutungen i. Der Körper und das Verstehen von Sinn Die soziologische Betrachtung des Körpers beginnt mit der Annahme seiner sinnhaften Gegebenheit. Unabhängig davon, ob der Körper in unserer Wahrnehmung auftaucht oder ob wir über ihn kommunizieren, erscheint er uns stets schon auf sinnhafte, sozial und gesellschaftlich geformte Weise. So gesehen ist der Körper für die Soziologie stets eine Randbedingung sinnhaften Verhaltens. Er hat zwar Einflüsse auf die soziale Welt, die man als Regelmäßigkeit messen kann, so daß der Körper deshalb auch in soziologische Erklärungen nach Max Weber (1980, S. 5 f.) eingehen kann und muß. Aber physische und auch sonstige nicht sinnhafte Regelmäßigkeiten sind stets ergänzungsbedürftig durch sinnhafte Regeln, die menschliches Verhalten verständlich machen (Shilling 1993; Turner 1992). Die entscheidende Frage lautet also nicht, was der Körper soziologisch betrachtet ist. Ebenfalls führt die Feststellung, daß uns der Körper auf sozial konstruierte Weise gegeben sei, allein noch nicht allzu weit. Empirisch weiterführende Fragestellungen erhält erst, wer den Körper als Randbedingung menschlichen Verhaltens mit dem Sozialen verbindet, indem er fragt, wem auf welche Weise in welcher Situation der Körper selektiv zugerechnet wird. Genauer gesagt geht es um die sinnhafte Deutung des Körpers, die sich in sprachlich geformten Aussagen über Gesundheit, Schönheit, Geschlecht usw. manifestiert. Die Soziologie des Körpers muß zeigen, wie genau diese soziale Formung vor sich geht, wie man ihre Selektivität, ihr »Es könnte auch anders sein«, ihre kulturelle Kontingenz also, erforscht. Weber hatte der Soziologie zu diesem Zweck die Bildung von Typen vorgeschlagen. Mit deren Hilfe soll gemessen werden, mit welcher Regelmäßigkeit ein bestimmtes Verhalten tatsächlich abzulaufen pflegt und inwieweit es dem idealen Gehalt des Typs nahe kommt. iJ9
Es geht dabei also um generalisierende und gradationale Betrachtungen, die in der Forschung auch wirklich der empirischen Erfahrungsprobe unterzogen werden. In der empirischen Forschung haben sich bezüglich des Körpers Designs bewährt, die die von den Menschen angegebenen oder durch Wortwahl und Syntax nahe gelegten Gründe für wahrgenommenes Verhalten klassifizieren. Es sind also jene vocabularies ofmotive, die situationstypisch, zu einer bestimmten Zeit von bestimmten Personen für ein bestimmtes Verhalten als typische Darstellung, Rechtfertigung und Plausibilisierung gegeben werden und die schon Mills (1940) im Anschluß an Weber zum Mittelpunkt soziologischer Forschung erklärt hat. In der jüngeren Erforschung der sinnhaften Gegebenheit des Körpers beziehen sich die empirisch wichtigsten Typen, so hat eine umfangreiche Forschung gezeigt, auf die Frage, ob erstens die Gründe für ein Verhalten im Handelnden selbst oder in seiner Umwelt gesehen werden, ob zweitens die Verursachung des Verhaltens auf zeitlich stabile oder aber auf variable Faktoren zurückzufuhren ist und ob drittens schließlich der Handelnde subjektiv in seiner kulturellen Auffassung der Situation in der Lage war, die angestrebten Weltzustände zu kontrollieren (Luhmann 1973; Ders. 1981; Weiner 1979; Ajzen 1991). Wer als Soziologe diese Forschung kritisch betrachtet, kommt fast zwangsläufig zu einer ambivalenten Haltung. Die große Stärke der empirischen Erforschung sozialer Zurechnungen scheint mir darin zu liegen, daß sie vielfältige Probleme der Forschung vergleichbar und auch verständlicher macht. Die Typen kausaler Zurechnung werden auch in der soziologischen Forschung schon in hohem Ausmaß für die Bildung von Hypothesen eingesetzt. So wird etwa angenommen, daß Angehörige niedriger Klassen wohl einen Zusammenhang von mehr Bildung und größeren Lebenschancen sähen, aber nicht daran glaubten, diesen auch selbst kontrollieren zu können. Schüler scheinen mehr oder weniger davon überzeugt zu sein, die Notenvergabe ihrer Lehrer durch Anstrengungen beeinflussen zu können. Mitarbeiter lokalisierten die Gründe für erfolgende oder ausbleibende Beförderungen mehr oder minder in eigenen Leistungen, Talent, glücklichen Umständen oder dem Wohlwollen ihrer Vorgesetzten. Schon der Begriff des »High-Potentials« verdeutlicht den sozialen Sinn einer Kausalvorstellung über die in Karriereturnieren bevorzugten Aspiranten: Der »High-Potential« soll über die Kraft verfugen, aus sich heraus etwas bewegen zu können. Männer neigten habituell 140
eher als Frauen dazu, Erfahrungen in der Berufwelt als Ergebnis eigenen Handelns zu deuten, während Frauen öfter das Wohlwollen anderer oder glückliche Umstände erlebten. Die Stabilität von Intimbeziehungen scheint auch davon bestimmt zu sein, ob Partner gewohnheitsmäßig die geglaubten Ursachen für unerwünschte Zustände eher intern dem Partner als extern der Situation zurechnen. Mitglieder unterer Klassen würden zwar erkennen, daß Rauchen ihre Gesundheit negativ beeinflusse, glaubten aber gleichzeitig, so sehr von Nikotin abhängig zu sein, daß sie das Aufhören nicht kontrollieren könnten. Die deutsche Einheit habe die Vorstellungen der Menschen darüber, ob sie ihren Berufsweg gestalten können, kohortenspezifisch beeinflußt. In wesdichen Gesellschaften würden die Ursachen für Armut und Reichtum auf zeitstabile Weise individualistisch zugerechnet.1 Die Typen der kausalen Zurechnung dienen der Erfassung sozial strukturierter Deutungen. Sie stehen insofern im Einklang mit Webers Überlegungen, als dieser die Soziologie ausdrücklich aufgefordert hat, die Kausalität kultureller Gegenstände als eine Zurechnungsfrage zu betrachten. Diesen Sachverhalt hat Weber in aller Klarheit mit dem kausal deutenden Alltagstheoretiker (die Mutter, die sich fragt, warum sie ihr Kind geschlagen hat) illustriert. Alltägliche Kausalaussagen zeigen, »daß die >gültige< Antwort auf die Frage: weshalb habe ich so gehandelt? ein kategorial geformtes, nur unter Verwendung von Abstraktionen in die Sphäre des demonstrierbaren Urteils zu erhebendes Gebilde darstellt« (Weber 1985, S. 279). Weber (1985, S. 48) unterscheidet bereits verschiedene Richtungen kausaler Deutung, die entweder einer Person individuelle oder konstante Motive zurechnen oder aber externe, also situative, milieuspezifische, sozialisatorische und genetische Faktoren der Verursachung hinzuziehen. Kausalaussagen sind niemals Abbilder einer gegebenen Welt, sondern hochgradig künsdiche Konstrukte sinnhaften Verhaltens. Sie 1 Vgl. zu Bildung Mortimer (1996). Diewald (2001), Mayer (2003), zu Bcrufskirrieren Dunifbn/Duncan (1998), zu Intimbeziehungen Hewstone/Fincham 2002, S. 25 5ff., zu Karriereturnieren Rosenbaum (1984, S. 268f.), zur Wiedervercinigmg DiewaJd u.a. (1996), zum Rauchen Cockerham (2001), zur Zurechnung von Armut und Reichtum Kluegcl/Smith (1986), Mason/Kluegel (2000). Theorien der rationalen Wahl nehmen folgerichtig fast ausnahmslos an, daß die Erwartungen und Bewertungen von Akteuren als Kausalvorstellung, etwa als subjektiv geglaubte Annahme über bestimmte Wahrscheinlichkeiten, gemessen werden können. Vd. Ajzen (1991), Esser (1999).
sind deshalb stets daraufhin zu befragen, wer sie wann mit wem in welcher sozialen Beziehung und zu welchem Thema ausdrückt, denn schon leichte Variationen dieser Variablen ändern Kausalurteile ganz erheblich. Auch in methodischer Hinsicht haben sich diese Typen in der Sozialforschung als vielversprechend erwiesen. Der in der Soziologie bis heute mit großem Abstand häufigste methodische Zugang zu Deutungen erfolgt über Interviews (König 1972; Kaase 1998). Die drei Idealtypen der Zurechnung können dort in standardisierten Skalen der Umfrageforschung abgebildet und dann für quantitative Längsschnittbetrachtungen präpariert werden (Diewald 2001; Diewald u.a. 1996; Mayer 2003). Ein eher qualitativer Zugang zu Zurechnungspräferenzen ergibt sich aus der Auswertung narrativer Interviews, in denen sich die Befragten im Rückblick selbst als Handelnde oder aber eher als Erlebende darstellen (Nassehi 1995). Eine interessante Verbindung von qualitativen und quantitativen Designs verspricht die kontrollierte Interpretation freier Verbalisierungen, in denen mit Hilfe von linguistischen Wortklassen die geglaubten kausalen Zurechnungen freigelegt werden (Fiedler u. a. 1994). Diese Auswertung läßt sich - ähnlich wie in der objektiven Hermeneutik — auch als Expertendiskussion organisieren, die eine objektivierende Auswertung von Texten nach den von ihnen nahe gelegten Deutungsrichtungen anstrebt (Peterson u.a. 1988; Stroebe/Stroebe 1998, S. 209). So weitreichend die Typen kausaler Zurechnung in der Sozialforschung längst eingesetzt werden, so wenig wurde allerdings ihr theoretischer Status für soziologische Erklärungen bisher diskutiert. Die Sozialforschung scheint sich darauf zu verlassen, daß kausale Zurechnungen dem Beobachter das zu betrachtende Verhalten verständlicher machen und sich gut operationalisieren lassen. Auch zeichnet sich die soziologische Verwendung dieser Typen im Vergleich zu der in dieser Hinsicht naiven Psychologie durch eine Reflexion der sozialstrukturellen Bedingtheit kausaler Zurechnungen aus. Sie nimmt Webers Prämisse ernst, daß das sinnhafte Verhalten stets mit bestimmten sozialen Beziehungen und seinen wichtigsten objektiven Einflüssen zu verbinden sei. Das typische Verhalten ist doch, so muß man den meisten Attributionsforschern entgegenhalten, nur dann von Interesse, wenn es in einer signifikanten, etwa durch die Klassenlage bezeichneten Regelmäßigkeit ausgewiesen wird. Soziale Zurechnungen haben nur dann Erklärungswert, wenn »die Chance, daß 142
das Handeln den sinnadäquat erscheinenden Verlauf tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit zu nehmen pflegt«, auch der Erfahrungsprobe unterworfen wird (Weber 1980, S. 5f.). Dazu dienen in der Sozialforschung nicht nur die Klassenlage, sondern auch Ressourcen-, Bildungs-, Geschlechts- und Gesundheitsverteilungen. Nur wenn diese Bedingtheit beachtet wird, hat die Erforschung sozialer Zurechnungen einen soziologischen Wert. Ob die Anforderungen an eine Erklärung im Sinne Webers durch die in der soziologischen Zurechnungsforschung längst üblichen Designs in jeder Hinsicht wirklich zufrieden stellend erfüllt werden, kann ich als Frage an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Deshalb will ich auch nur anmerken, daß es dazu eigentlich erheblichen Diskussionsbedarf gibt. Für meine weitere Diskussion halte ich zunächst nur als im weiteren näher zu erläuternde These fest, daß die Soziologie durch die Erforschung sozialer Zurechnungen bereits über ein reiches Wissen zum kulturellen Wandel von Körperlichkeit verfugt. Im folgenden geht es mir dann auch nicht darum, diesen Diskussionsstand aufzuarbeiten oder gar zu kritisieren. Vielmehr ziele ich nur auf eine beispielhafte, explorative Darlegung einer der wichtigsten Zurechnungserwartungen, die den kulturellen Wandel von Körperlichkeit prägt und die Deutungen der Menschen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr geleitet hat. Diese Erwartung fordert, Weltzustände als Ergebnis eigenen Handelns oder gar eigener Entscheidungen zu betrachten. Sie hat zu Recht als »Individualisierung« in der Soziologie seit Becks (1983; 1986) wegweisenden Publikationen große Aufmerksamkeit erfahren. Diese Regel menschlichen Verhaltens möchte ich auf den Körper beziehen. Inwiefern, so möchte ich fragen, verändert Individualisierung die Betrachtung unseres Körpers? Genauer: Wie verändert sich menschliches Verhalten in bezug auf den Körper, wenn es noch stärker als bereits geschehen individualisiert, also intern zugerechnet wird? Auf den ersten Blick scheinen Individualisierung und Körperlichkeit im Gegensatz zu stehen. Steht der Körper für eine mehr oder minder konstante, sowohl begrenzende als auch ermöglichende Randbedingung menschlichen Verhaltens, scheint Individualisierung eine Freisetzung aus traditionalen Bindungen zu bedeuten. Nach einer bisweilen aufgeregten Diskussion über Wesen und Ausmaß von Individualisierung hat sich jedoch gezeigt, daß diese Entgegensetzung von Freiheit und Zwang, Handlung und Struktur, Sozialstruktur 143
und Lebensstilen sowie Mikro und Makro für die Erforschung von Individualisierung und damit auch für den kulturellen Wandel von Körperlichkeit wenig hilfreich ist (Bourdieu 1970, S. 125; Giddens 1988, S. 226; Esser 1999; Luhmann 1984, S. 398; Schluchter 2000, S. 97; H.-R Müller 1992, S. 3Ö2f.). Statt dessen hat sich eine Perspektive als Minimalkonsens in den Vordergrund gerückt, die das scheinbar übergreifende normative Gebot der Individualisierung als Aufforderung zu empirischer Forschung begreift, die zeigt, in welchen Lebensbereichen sich die Menschen tatsächlich mit welcher Regelmäßigkeit als Entscheidungszentrum ihres Verhaltens deuten (Neckel 1991, S. 171; Nolte u.a. 1997; Zinn 2000; Nollmann/Strasser 2002). Wer folglich den Körper als Gegenstand »individualisierender« sozialer Zurechnungen begreift, wird dementsprechend in der intuitiv einleuchtenden Annahme einer fortschreitenden Individualisierung von Körperlichkeit noch kein zufriedenstellendes Forschungsergebnis sehen, sondern vielmehr eine fruchtbare Ausgangshypothese, vor deren Hintergrund die soziale Strukturierung des Körpers und die Entwicklung von damit verbundenen sozialen Ungleichheiten erst richtig sichtbar werden (Nollmann 2003). Ich möchte im weiteren zwei Forschungszweige ansprechen, die die idealtypische Erforschung von Sinnverstehen so mit modernisierter Körperlichkeit verbinden, wie Weber es der Soziologie als Aufgabe gestellt hat. Dazu stelle ich zunächst zentrale Forschungsergebnisse der interdisziplinären Gesundheitsforschung vor und interpretiere diese als kulturellen Wandel von Körperlichkeit (2). Dann thematisiere ich die Geschlechterforschung (3). Auf erstaunlich ähnliche Weise zeigen die empirischen Forschungsergebnisse beider Bereiche, daß der modernisierte Körper als Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften nur insofern etwas »bedeutet«, als gezeigt werden kann, inwiefern er als physische Randbedingung zu sozial strukturierten Deutungen der physis fuhrt (4). Die Individualisierung und die ungleiche soziale Strukturierung von Körperlichkeit werden folglich nur zusammen in der immer weiter modernisierten, durch den Wandel sozialer Deutungen gekennzeichneten Gesellschaft verständlich.
144
2. Der gesunde Körper
Die interdisziplinäre Gesundheitsforschung hat seit den sechziger Jahren verdeutlicht, daß unser Körper in bisher ungeahntem Ausmaß Ergebnis unseres eigenen Handelns, wenn nicht gar unserer eigenen Entscheidungen ist (vgl. Stroebe 2002). Der gewaltige Aufschwung und Ausbau von Gesundheitsdienstleistungen hat die Deutung von Körperlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten revolutioniert. Kaum ein Tag vergeht ohne die Veröffendichung neuer Forschungsergebnisse, die den Bürger daraufhinweisen, daß er sich selbst als Entscheidungszentrum seines Gesundheitszustandes begreifen muß. Zigaretten, Pommes, Rindfleisch, Cola, Süßigkeiten und Chips erhöhen Mortalitäts- und Morbidität^Wahrscheinlichkeiten (BMFSFJ 2002, S. 359). Wer diese Nahrungsmittel oft konsumiert, wird sich selbst fragen und auch von anderen gefragt werden, ob er nicht seine Gesundheit schädige. Für die Kausalvorstellungen der Menschen heißt das: körperliche Gesundheit wird ein accomplishment, statt ein hinzunehmendes Schicksal zu bleiben (Cockerham 2001, S. 99). Man liest einen Zeitungsartikel über die Krebsgefährdung durch Acrylamid und verliert unweigerlich die Unschuld des Konsumenten, der frittierte Kartoffeln in sich hineinstopft. Erkrankungs#f/ä£/rw werden zu Erkrankungsrisiken (Luhmann 2i993), denn von nun an weiß der Bürger, daß er die Erhöhung der Krankheitswahrscheinlichkeit durch eigenes Handeln hätte vermeiden können. Eine Steigerung verinnerlichter Gesundheitsbetrachtungen liegt damit nahe. »Verinnerlichung« bedeutet dabei aber, so möchte ich sofort klarstellen, keinesfalls, daß der Mensch sich mit seinen Deutungen in sich selbst zurückzieht. Eine solche Annahme wäre offenkundig falsch, und ich will im weiteren keinesfalls Spekulationen über mentale Vorgänge anstellen. Vielmehr geht es darum, daß die Menschen auf habituelle Weise und sozial sichtbar die typischen Gründe für ihr gezeigtes Verhalten immer weniger in externen, unbeeinflußbaren, schicksalhaften Momenten sehen, sondern diese durch eigenes oder fremdes Handeln subjektiv kausal erklären. Nur darum geht es mir bei dem Begriff der Verinnerlichung. Gesundheit hat ihr Erscheinungsbild seit den 60er Jahren vom hinzunehmenden Schicksal, das durch Gebet beeinflußt wird, zum eigenen Geschick stark geändert. Selbst die einst nicht zu entschlüsM5
selnden und unbeeinflußbaren Gene werden heute aus dem Reich der Unantastbarkeit vertrieben. Die schnell fortschreitende Forschung entzaubert den Körper und fuhrt ihn menschlichen Entscheidungen zu. Die Massenmedien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten dieser Sensation gerne angenommen. Fast alles, was wir heute an Wissen, Vorstellungen und Alltagstheorien mit uns tragen, haben wir in den Massenmedien erfahren (Luhmann 1996). Die Botschaft, daß der gesunde Körper nicht ein Geschenk Gottes, sondern ein Ergebnis sozialer und gesellschaftlicher Mechanismen ist, treibt die Einschaltquoten hoch. In der sozialwissenschaftlichen Forschung macht sich dieser Wandel durch einen Wandel der Einstellungen, die in Umfragen und Interviews geäußert werden, bemerkbar. Der Bürger sieht bei Befragung immer mehr die Gesundheitsfrage als individuelle Angelegenheit des Selbst (Crawford 1984). Gleichwohl geht diese Individualisierung von Einstellungen parallel mit einer sozialen Klassenstrukturierung der Gesundheitsdeuturig einher (Cockerham u.a. 1986). Wie seit langem bekannt, kann von den in Umfragen geäußerten Einstellungen nicht einfach oder nur begrenzt nach Hinzunahme weiterer Variablen auf das wirkliche Verhalten geschlossen werden (vgl. Ajzen/Fishbein 1975, S. 17-27; Hage/Meeker 1988, S. 89). Was der Bürger in die Kameras und Mikrophone spricht, beim Telefoninterview angibt oder auf Fragebögen ankreuzt, entspricht seinen wirklichen Handlungsentscheidungen keinesfalls immer und muß genauer präzisiert werden. Die stärkste Variable, die wirkliches, jenseits des Fragebogeninterviews auch durchgehaltenes Gesundheitsverhalten leitet, ist neben der sozialen Schicht- und Berufsgruppenzugehörigkeit der erreichte Bildungsgrad (Statistisches Bundesamt 1998, S. icnff.). Teilt man die erreichten Bildungsgrade in hoch (Fachhochschul- oder Hochschulabschluß), mittel (mitdere Reife, Abitur), niedrig (Hauptschule und abgeschlossene Lehre) und sehr niedrig (Hauptschule oder weniger) ein, zeigt sich eine Abhängigkeit nicht nur des Gesundheitszustandes, sondern auch der subjektiven Einschätzung desselben. Der Körper der sehr niedrig gebildeten Bürger ist dreimal so oft stark übergewichtig im Vergleich zu jenem der sehr hoch gebildeten. Er kommt selten in den Genuß von Früherkennungsmaßnahmen zur Prävention von Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen und Zuckerkrankheit. Je liöher das Bildungsniveau, desto günstiger fällt der wahrgenommene Gesundheitszustand aus. In den niedrigsten Bildungsschichten 146
gaben mehr als ein Fünftel an, daß ihr Gesundheitszustand weniger gut oder schlecht sei. Zudem war jeder siebte Befragte mit dem eigenen Gesundheitszustand unzufrieden. Dazu paßt ein schicht- und bildungsabhängiges Gesundheitsverhalten. Männer mit sehr niedrigem Bildungsgrad rauchen doppelt so häufig wie jene mit hohem Niveau. Interessant ist insbesondere, daß es nur hohen Schichten zu gelingen scheint, die körperliche Abhängigkeit zu besiegen, denn die erfolgreichen Aufgeber stammen zum größten Teil aus der höchsten Bildungsschicht. Auch die sportlichen Aktivitäten zeigen signifikante Unterschiede. Während mehr als zwei Drittel der Männer und Frauen mit niedrigem Bildungsabschluß nicht regelmäßig spordichen Aktivitäten nachgehen, sinkt der Anteil der körperlich weniger Aktiven mit steigendem Bildungsniveau kontinuierlich. Damit stellt sich die Frage, wie sich die Differenz des scheinbar übergreifenden, von allen Bevölkerungsschichten auf Befragung unterstützten Gesundheitsindividualismus einerseits und tatsächlichem, bildungs- und klassenspezifischem Gesundheitsverhalten andererseits erklären läßt. In der Situation wirklicher Handlungsentscheidungen scheinen weitere Aspekte neben die öffentlich geäußerte Einstellung zu treten, die die Intentionen in andere Richtungen lenken. Körperbezogenes Verhalten kann man nicht allein als bildungsund klassenbedingt abqualifizieren. Vielmehr muß ihre strukturelle Erklärung aus Bildungs-, Klassen- und Ressourcenverteilungen durch subjektive Deutungen ergänzt werden, um eine vollständige soziologische Erklärung im Sinne Webers (1980, S. 5f.) zu erreichen (Nollmann/Strasser 2002). Dieser Forderung ist die empirische Forschung in z.T. bemerkenswerter Konvergenz nachgekommen. Sowohl das in der Gesundheitsforschung erfolgreiche health belief model (Sheeran/Abraham 1996) als auch die für die Präzisierung der Einstellungs-/Verhaltensrelation entwickelte Theory ofplanned behavior (Ajzen/Madden 1986) heben hervor, daß wirkliches Handeln davon abhängt, ob die Akteure die zur Situation passenden, subjektiven Gründe parat halten. Subjektives, für wahr gehaltenes Wissen über Kausalzusammenhänge stellt gleichsam die Schienen bereit, auf denen die Menschen von ihren Bewertungen zur sinnhaften Einstellung auf bestimmte Situationstypen und das passende Verhalten geleitet werden, denn nur mit ihrer Hilfe kann man Überlegungen über Konsequenzen des 147
eigenen Verhaltens adäquat berücksichtigen (Ajzen 1991; Bandura I997)-2 So kommt es, daß in der Regel alle Bevölkerungsschichten dem massenmedial vermittelten Gesundheitswunschdenken anhängen, jedoch eine differenzierte Motivstruktur eine gleichmäßige Umsetzung gesunden Körperverhaltens verhindert. Je niedriger die Bildung, die Berufsklasse und die Ressourcenausstattung des Bürgers, desto ungünstiger sind seine Zurechnungsgewohnheiten nach Richtung (intern/extern), Stabilität (stabil/variabel) und Kontrolle (Ja/Nein) für einen gesunden Körper. In der Gesundheitsforschung wird gerade die Frage, ob jemand subjektiv glaubt, über die für ein gesundes Körperverhalten notwendigen Verhaltensweisen überhaupt verfügen zu können, als entscheidender Mikrogrund für klassenspezifische Lebensweisen angesehen (Mirowsky/Ross 1989; Schwarzer 1992). Nur wer auch davon überzeugt ist, seine eigene Kalorienzufuhr tatsächlich unter Kontrolle halten zu können, wird Übergewicht zu vermeiden versuchen (Stroebe/Stroebe 1998, S. 51). Bildung ist dabei wohl der zentrale Transmissionsriemen, der aus dem perzipierten Unvermögen, Weltzustände zu kontrollieren, möglicherweise eine generalisierte, habituelle Zurechnungsgewohnheit macht (Nollmann 2003a). Die Mitglieder niedriger Klassen halten offenbar wenig von Bildung, weil sie davon überzeugt sind, daß sie ihren Berufsweg aller Voraussicht nach durch mehr Bildungsaufwand nicht weiter nach oben fuhren können. Selbst wenn sie einen Kausalzusammenhang von mehr Bildung zu mehr Geld und beruflichem Erfolg sehen, glauben sie nicht an dessen subjektive Kontrollierbarkeit. Erst vor diesem Hintergrund wird es für sie sinnvoll, eine normativ gehaltvolle Einstellung zur Bildungsfrage einzunehmen. Ähnliches scheint auch für klassenspezifische Gesundheitsvorstellungen und Erfolge beim Aufhören mit dem Rauchen zu gelten (Cockerham 2001, S. i95f.; Eiser 1990, S. 126; Eiser/van der Plight 1988, S. 113ff.). Die Aussage »Ich glaube, daß ich so körperlich abhängig von Zigaretten bin, daß ich es nicht schaffen würde, mit dem Rauchen aufzuhören«, wird man mit größerer Wahrscheinlichkeit aus niedrigen Bildungs- und Berufsgruppen hören. Die vieldiskutierte, individualisierende Verinnerlichung der Welt2 Vgl. auch zum Zusammenhang von Einstellungen zum Partner in Intimbeziehungen und dazugehörigen Attributionsweisen den Forschungsüberblick bei Hewstone/Fincham (2002, S. 255fr".)
Betrachtung zeigt folglich auch in bezug auf den gesunden Körper tatsächlich klassenspezifische, sozial strukturierte Ausprägungen. Darin liegt kein Widerspruch in dem Sinne, daß die Forschung einen Fehler gemacht hat. Vielmehr gehören beide Betrachtungen - so widersprüchlich sie auch erscheinen mögen — tatsächlich in soziologischen Erklärungen nach Weber zusammen. Im einen Fall geht es um eine objektive Regelmäßigkeit des Verhaltens, im anderen Fall um die Sinnhaftigkeit des Verhaltens selbst. Eine solche Betrachtung, die sinnhafte und nicht sinnhafte Betrachtungen miteinander verbindet, ist in der Ungleichheitsforschung keineswegs ungewöhnlich, und nicht zuletzt Bourdieu hat für die gelungene Kombination beider Sichrweisen viel Aufmerksamkeit erhalten. So sieht Bourdieu (1987, S. 594) etwa die Regelmäßigkeit, mit der die Mitglieder der unteren Klassen ihren Alltag mit Geschmack am Notwendigen regeln, nicht einfach als Ausdruck ungleicher Ressourcenverteilungen: »Die Praktiken der unteren Klassen lassen sich scheinbar aus den objektiven Bedingungen direkt ableiten [...], haben tatsächlich jedoch ihren Ursprung in der Entscheidung für das Notwendige (>das ist nichts für uns<), d. h. für das, was technisch notwendig, >praktisch< (oder in einer anderen Sprache: funktional) ist (was >halt sein muß<), und für das, was aus ökonomischem und sozialem Zwang die einfachem und >bescheidenen< zu einem >einfachen< und >bescheidenen< Geschmack verurteilt.« Der Habitus bezeichnet den Unterschied zwischen einer statistischen Regelmäßigkeit und einer sinnhaften Regel. Was für den Beo achter unproblematisch und logisch erscheint— wenig Geld bedingt schlichten Konsum -, sieht für die Praxis anders aus. Sie muß ihr Verhalten würdevoll darstellen können und sieht es nicht einfach als Ergebnis mangelnder Ressourcen, sondern als authentische Freude an den einfachen Dingen. Sie will diese Dinge wohl oft selbst und sieh sie nicht nur als Schicksal, rechnet ihr Verhalten also oft auch intern eigenem Handeln, nicht nur extern gesellschaftlichem Zwang zu. Es ist erst diese authentische Selbstdarstellung, die den kausal wirksamen gruppenspezifischen Lebensstil konstituiert. Als wissenschaftlicher Beobachter darf man dieses Verhalten nicht einfach als »strukturbedingt« abqualifizieren, denn dann bleibt es unverstanden. Erst diese Deutung als Wollen der einfachen Dinge repräsentiert das, was Ungleichheit »sozial« macht. 149
Für den Beobachter ist diese Aussage überraschend, zeigt er doch, daß Menschen im Alltag das, was von außen wie ein objektiver Zwang aussieht, selbst als gewollte Entscheidung deuten können. Muß man fragen, ob eine der beiden Perspektiven falsch ist? Nach Weber lautet die Antwort eindeutig: Nein - zumindest so lange es um die Erklärung menschlichen Verhaltens geht, das zunächst nur verständlich gemacht, nicht aber beurteilt werden soll. Diese Deutung der Deutung ist zudem höchst informativ. Man könnte auch erwarten, überall ständig traurige Gesichter anzutreffen, die resigniert die billigen Dinge kaufen. Aber so verhalten sich die Menschen nicht, jedenfalls nicht immer - sofern sich diese Beobachtung generalisieren läßt.
3. Die Körper der Geschlechter Geschlecht ist prima facie eine Angelegenheit von sich unterscheidenden Körpern. Die Zuweisung eines Geschlechts zu einem Körper erfolgt bei der Geburt durch die Sichtung der Geschlechtsteile. Damit scheint der Körper der Geschlechter auf zunächst unproblematische Weise gegeben zu sein. Jedoch haben historische Betrachtungen die kulturelle Kontingenz sämtlicher >vernatürlichter< Geschlechtscharakterisierungen aufgewiesen. Nachdem in einem ersten Schritt Geschlechtsbeschreibungen entlang der Trennlinie von sex und gender aufgespalten wurden, hat der ethnomethodologische Konstruktivismus auch diese Unterscheidung eingezogen, weil sie auf der einen Seite — Sex - für den sozialwissenschaftlichen Beobachter nicht »begehbar« sei.3 Ahnlich wie der Dekonstruktivismus strukturalistische Zwei-Ebenen-Theorien von Oberfläche und Tiefenstruktur hartnäckig kritisiert hat, weil die grundlegende Unterscheidung bei konsequentem Nachfragen kollabiert (vgl. Culler 1987), kritisiert die Ethnomethodologie die Unterscheidung zwischen biologischem Substrat von Geschlecht (sex) und gender als angeblich kulturelle Überformung dieses biologischen Substrats. Ihr gilt bereits die Unterscheidung der Geschlechter mit ihren distinkten, binär codierten Bedeutungszuweisungen selbst als 3 Vgl. den Rückblick und die Einordnung des (de)konstruktivistischen Geschlechterdiskurses in die allgemeine Konstruktivismusdebatre bei Gildemeister (2001) sowie die kritischen Anfragen zur konstruktivistischen Wende in der Ungleichheits- und GeschJechterforschung bei Eickelpasch (2001). 150
sozial konstruiert. Der Körper erscheint ihr immer als bereits vergesellschaftet (vgl. Hirschauer 1993, 1994). Interaktionistische und ethnomethodologische Geschlechterforschung haben den durchweg kulturellen, sozialen und gesellschaftlich konstruierten Charakter von Geschlecht überzeugend herausgearbeitet. Nachdem diese Aufgabe erfolgreich gelöst war, zeigte sich allerdings, daß der Körper der Geschlechter zwar eine universale Randbedingung sinnhaften Verhaltens darstellt, ihre kulturelle Bedeutung jedoch auf eine erstaunlich gebrochene, kontextspezifische Weise erhält (Heintz/Nadai 1998). Die Körper der Geschlechter sind wohl in jeder Situation präsent. Fehlt ihre sinnhafte Evidenz, so weisen ethnomethodisch argumentierende Forscher nach, zeigen sich unverzüglich Risse im sinnhaften Aufbau der sozialen Welt (Hirschauer 1989). Die Akteure sind ganz offenkundig verunsichert, wenn sie einen wahrgenommenen Körper nicht klassifizieren können, und verlangen nach eindeutiger Zuordnung. Damit sind jedoch nur z.T. experimentell herbeigeführte Grenzsituationen bezeichnet. Im Normalfall bleibt die Frage nach der Körperidentität unproblematisch, so daß der Weg frei wird für kontextspezifische, sozial geformte Zurechnungserwartungen, die die Körper der Geschlechter auf bedeutungsvolle Weise erscheinen lassen. Die von Gottschall (2000, S. 287) und weiteren Autorinnen (Pasero 1994, 1995) herausgestellte Gleichzeitigkeit von De-, Re- und Thematisierung von Geschlecht zeigt, daß ehemalige, bloße Ungleichartigkeit, die noch nicht als Ungleichheit des Geschlechts angesehen wurde, nur durch reflexive Thematisierung zu sozialer, weil von Handelnden als solche bewertete Ungleichheit der Geschlechter werden kann. »Thematisierung« meint also die Zurechnung von Ursachen für erlebte Unterordnung auf Geschlecht.4 Das von Gottschall (2000, S. 33) als Ungleichheitsparadox bezeichnete Phänomen, »daß geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen in einer historischen Situation zum Gegenstand sozialer und politischer Auseinandersetzungen werden, in der Frauen nach traditionellen meritokratischen und politischen Kriterien (Bildungsgewinne, berufliche Integration) materielle und rechtliche Angleichun4 H.-P. Müller (199^. S. 286) hat zu Recht das Studium dieses Transformationsprozesses, in dem »aus sozialer Ungleiclwrfrf£«> oder Heterogenitat über einen Bewertungsprozess soziale Ungleich Wertigkeit oder kurz: Ungleichheit entsteht«, als Gegenstand par excellence der Ungleichheitsforschung bezeichnet. 151
gen erreicht und auch Autonomiegewinne in der privaten Lebensführung erzielt haben«, ist ein Beleg dafür, daß soziale Ungleichheit nur verkürzt verstanden wird, wenn sie allein auf die Verteilung von Ressourcen, Berufen und Bildung bezogen wird, denn »offensichtlich entzünden sich soziale Konflikte nicht nur an Verteilungsfragen und Partizipationschancen, sondern auch an der Frage nach der Interpretation von Gleichheit bzw. der Legitimation von bestimmten Formen von Ungleichheit« (ebd., Herv. G. N.). Es kommt eben darauf an, wie die Menschen in ihren Lebensbereichen soziale Unterschiedlichkeit kausal zurechnen. Wer annimmt, daß eine größere Teilhabe von Frauen an Bildung und Arbeitsmarkt die Ungleichheit der Geschlechter abbaut bzw. zu einer De-Thematisierung derselben führen müßte, weil sich die gesamtgesellschafdichen Verteilungsungleichheiten abbauen, übersieht den eigentlichen Beziehungssinn sozialer Ungleichheit. Dieser ergibt sich nicht allein und gleichsam automatisch aus Verteilungsungleichheiten, sondern aus der Notwendigkeit, veränderte soziale Beziehungen zuzurechnen. Gerade weil Frauen heute mehr an Bildungs-, Berufs- und Einkommensressourcen der organisierten Arbeitswelt partizipieren, hat die Thematisierungskrafi ungleicher Geschlechterbeziehungen zu- und nicht abgenommen Zudem unterliegen die Körper der Geschlechter selbst immer mehr einem vom Gesundheitssystem ausgehenden Entscheidungssog. Schwangerschaften sind seit über dreißig Jahren nicht mehr ein Schicksal, sondern ein Ergebnis eigenen Handelns, Entscheidens oder auch selbst zuzurechnender Versäumnisse. In jüngerer Zeit wird das Gelingen der physischen Selbstdarstellung der Frau zum Entscheidungsproblem. Soll sie sich das Fett absaugen oder die Brüste vergrößern lassen? Die stark anschwellende Zahl der Schönheitsoperationen zeigt, daß gerade Frauen den Druck der massenmedial erzeugten Schönheitsideale aushalten müssen. Die kulturelle Einstellung auf den Körper »verinnerlicht« sich damit. Der rasante technologische Wandel der Gesundheitstechnoiogie nimmt diese Internalisierung nicht nur auf, sondern beschleunigt sie auch, indem er neue Optionen mit weiterem Individualisierungsdruck erzeugt. Schon wird es absehbar, daß unzuverlässige Silikonfüllungen in Brüsten durch körpereigenes Fett ersetzt werden können, das sich auf »natürliche« Weise einpaßt. Je raffinierter, verantwortbarer, später auch günstiger Eingriffe in den Körper werden, desto größer wird der Reflexionsdruck. Auch der Körper wird auf diese Weise in das sanfte, gleichwohl ge151
hetzte Wettrennen der Klassen eingebracht, in dem Bourdieu (1987) das zeitgenössische Frankreich gesehen hat. Dieses Rennen der Ungleichen wird spätestens dann in eine weitere, beschleunigte Runde gehen, wenn die Forschung die Geheimnisse des Alterns immer weiter entzaubert und konkrete Maßnahmen für die Verlangsamung und Kontrolle von Alterungsprozessen entwickelt. Der jüngere, individualisierende, den einzelnen auf sich selbst verweisende Wandel von Körper- und Geschlechtereinstellungen kann als exemplarisches Analysebeispiel für die Soziologie sozialer Ungleichheit dienen. Er zeigt, daß soziale, bewertete und für problematisch gehaltene Ungleichheiten nicht in Ungleichverteilungen von Ressourcen, Positionen und Wissen allein ihren allgemeinsten und ursprünglichsten Ort haben. Soziale Ungleichheiten entstehen vielmehr, wenn soziale Beziehungen in den Unsicherheit und Wandel generierenden Entscheidungssog moderner Organisationen geraten und die Frage auf die Tagesordnung gelangt, wie beobachtete Ungleichheit kausal zugerechnet werden soll. Die verstärkte Teilhabe der Frauen an Bildung und Berufswelt bedeutet für ihre mehrfache Vergesellschaftung eine deutliche Verlagerung in diesen organisierten Entscheidungssog, in dem nur noch wenig als natürlich und vieles als auf Entscheidung beruhend erlebt wird. Die moderne Gesellschaft leidet an einem unheilbaren, die Verinnerlichung der Weltbetrachtun beschleunigenden Entscheidungswahn, der in formalen Organisationen seinen Ursprung hat (Nollmann/Strasser 2004). Diese dezisionitis infiziert auch die nichtorganisierte, innergesellschaftliche Umwelt. Alles, was ehedem als natürlich und damit als normativ richtig galt, verdampft, verraucht und hinterläßt eine sich immer weiter aufdrängende Geschlechterthematik, in deren Zentrum die Frage nach der Deutung von Gleichheit und Ungleichheit steht. Das gleichsam »Gemeine« an diesem infektiösen Entscheidungswahn liegt im Auseinanderfallen von Entscheidungszurechnung einerseits und faktischen Wahl- bzw. Gestaltungsmöglichkeiten andererseits. Selbst wenn oder gerade obwohl sich die Deutungen der modernen Männer und Frauen immer mehr als auf zurechenbaren Entscheidungen beruhend sehen, darf man davon ausgehen, daß übergreifende, von Entwicklungen der Berufe, Arbeitsmärkte, Branchen, Konjunkturen, Globalisierung usw. ausgehende Zwänge unverändert wirksam sind. Aber das sieht ja meist nur der wissenschaftliche Beobachter, der immer schon besser informiert ist und vom Praxisdruck endastet in aller i53
Ruhe die objektiven Einflüsse auf kausale Zurechnungen untersuchen kann. Individualisierung der Geschlechter und ihrer Körper besagt folglich nichts über ein echtes Mehr oder Weniger an Gestaltungsmöglichkeiten und Wahlfreiheiten - ganz zu schweigen von einer Auflösung sozialstrukturell bedingter Ungleichheiten - , sondern weist nur darauf hin, daß die entscheidungsorientierte Zurechenbarkeit von Verhalten in jüngeren sozialstrukturellen Umbrüchen immer mehr über den durch Rollentrennungen markierten Rand formaler Arbeitsorganisationen hinausgreift und die sich als individualisiert deutenden Individuen zu immer mehr Selbstrechenschaft über ihre sozialen Beziehungen nötigt.'' Geschlecht bedeutet aus einer sinnverstehenden Perspektive folglich nichts anderes als eine Möglichkeit, aus einem Horizont anderer Möglichkeiten Ursachen fiir menschliche Erfahrungen zuzurechnen. Diese besonders hartnäckige Ursache macht sich gewissermaßen auf der Objektivität des Körpers fest. Ein Mann ist ein Mann, eine Frau eine Frau, und ihre Körper machen das fiir die soziale Welt sichtbar. Soziologische Betrachtungen des Körpers fangen allerdings erst nach dieser unbezweifelbaren Randbedingung menschlichen Verhaltens an, denn die Soziologie möchte nicht die Objektivität des Körpers, sondern die soziale, sachliche und zeitliche Objektivität zugerechneter Bedeutungen des Körpers erforschen. Die habituellen Zurechnungsgewohnheiten der individualisierten Männer und Frauen sind deshalb nach wie vor sozial strukturiert. Ihr explanatory style (Peterson/Seligman/Vaillant 1988) folgt nicht nur kontextspezifischen, sondern auch schichtspezifischen Kriterien (Koppetsch/Burkart 1999, 2001; Koppetsch 2000). Als Geschlechter- und Ungleichheitsforscher neigt man vielleicht dazu, überall »Männer« und »Frauen« mit ihren Körpern zu sehen. Klammert man 5 Vgl. Schroer (2001). Luhmann harte schon 1965 in seiner soziologischen Theorie verfassungsrechtlicher Grundrechte unter dem label Individualisierung \0rgesch\2igen, Freiheit nicht voluntaristisch als (wie auch immer denkbare) Unterbrechung von Zwangskausalitäten auf das individuelle Erleben und Handeln, sondern als bloße Zurechenbarkeit von Handeln auf Persönlichkeiten zu fassen. Freiheit bezeichnet dann nichts anderes als eine Grundbedingung »des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit« (Luhmann 1965, S. 61). Manch eine Ausarbeitung und Widerlegung der Individualisierungsthese hätte auf dieser Basis argumentieren können. 154
allerdings experimentell die sichtbare, für die Wahrnehmung objektive Körperlichkeit der Männer und Frauen aus, zeigt sich sehr wohl, daß tatsächlich lediglich theoretisch in jeder Situation die Ursache der bewerteten Ungleichheit im Mann- oder Frausein gesehen werden kann und auch nur sehr selektiv gesehen wird. Darin zeigt sich, daß Geschlecht etwas ist, das man nicht hat, sondern tut. In der Praxis findet sich eine selektive Kontingenz von Ursachenattributionen auf die Kategorie Geschlecht. Man braucht nur eine theoretische Gegen probe zu machen und sich vorzustellen, wie die Praxis aussähe, wenn die Menschen versuchen würden, die Beweggründe ihres Verhaltens tatsächlich immer im Geschlecht zu sehen. Die Bandbreite der dann noch möglichen Themen wäre stark eingeschränkt und in der sozial, sachlich und zeitlich differenzierten Gesellschaft kaum zu plausibilisieren. Geschlechtszurechnungen sind folglich eine sehr spezielle Deutung sinnhaften Verhaltens, die ein wissenschaftlicher Sekundärhermeneut der primärhermeneutischen Praxis nicht in unrealistischem Maße sorglos unterstellen darf. Etwaige Zurechnungen sozialer Ungleichheit auf Geschlecht folgen vielmehr eigenen Deutungsschemata, die in der dreifachen, je feldspezifischen Vergesellschaftung von Geschlecht erst konstituiert werden: - Daß erstens Partner in Intimbeziehungen wahrgenommene Ungleichheiten auf die ihnen gegenüberstehende Geschlechtersehe zurechnen, ist alles andere als selbstverständlich, wenn nicht sogar eher unwahrscheinlich, weil Intimbeziehungen so sehr mit individualisiertem Beziehungssinn überladen sind, daß eine Zurechnung auf die jeweilige, individualisierte Person (anstelle der Geschlechtskategorie) viel plausibler ist. - Daß speziell weibliche Unterlegene in beruflichen Karriereturnieren (Rosenbaum 1984) in Arbeitsorganisationen zweitens ihre Nicht-Beförderung mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit sich selbst deutend erklären, versteht sich ebenfalls überhaupt nicht von selbst. Im Deutungsmilieu formaler Arbeitsorganisationen bieten sich viele andere Ursachen nicht nur zur Wahl an, sondern werden als gewählte ErklärungsUrsachen sozial unterstützt, wenn nicht gar gefordert und mit unterstellbarem Konsens versehen. - Nur in der Geschlechterpolitik massenmedialer und politischer Öffendichkeiten scheint der Geschlechterdualismus drittens als konfliktgenerierendes Attributionsschema voll auf seine Kosten zu «55
kommen. Beobachtete Ungleichheit der Geschlechter gilt als problematisch und wird in den vielfältigen öffentlichen Konfliktforen — von der Talkshow über die zahllosen daily soaps bis hin zum Bundestag - als Problem thematisiert und bisweilen auch in rechtliche Gleichstellungsnormen transformiert. Das Geschlechterverhältnis stellt trotz seiner in der Deutung varianzlosen Randbedingung derphysis keine homogene, aus einem Guss heraus verständliche soziale Beziehung dar. In einer dynamischen Lebensverlaufsperspektive erscheint Geschlecht von außen zwar als »Masrerstatus« (Krüger 1995, S. 141), der Ungleichheit strukturiert. Diese über die Kontinuität des vergeschlechtlichten Individuums transportierte diachrone Einheit des Lebenslaufes muß sich aber ers mit der synchronen Differenz gesellschaftlicher Felder verbinden. Die sinnharten Deutungsstrukturen sozialer Geschlechterungleichheit finden sich erst dann, wenn geschlechtsbezogene Verteilungen mit Zurechnungserwartungen verbunden werden. Inwiefern kann man nun sagen, daß die Körper der Geschlechter die Ungleichheit von Mann und Frau erklären! Weber (1980, S. 5f.) hat der Soziologie eine klare Anweisung erteilt, wie die Grenzen zwischen dem Sozialen und seinen vielfältigen (physischen, biologischen und sonstigen) Einflüssen auf das jeweils betrachtete sinnhafte Verhalten zu denken und zu handhaben sei. Auf der einen Seite beziehen sich soziologische Aussagen auf die Sinnhaftigkeit menschlichen Verhaltens selbst, insbesondere auf selbst gesetzte Zwecke, Mittel und Werte, aber auch auf externe Beweggründe wie das Schicksal, die Natur, Gott, Vorsehung. Auf der anderen Seite geht es um die kausalen Randbedingungen des Verhaltens, die in der Forschung meist als angebbare Regelmäßigkeit auftreten, mit der ein Verhalten beobachtet wird. Folgt man dieser Grundstruktur einer soziologischen Erklärung (und dazu gibt es, so meine ich, bis heute eigendich keine Alternative), dann stellen die Körper der Geschlechter eine messbare, konstante Regelmäßigkeit dar, die mit verständlichen Typen sinnhaften Verhaltens verbunden werden muß, um eine vollständige soziologische Erklärung abzugeben. Gerade der Körper eignet sich in seiner wahrnehmbaren Objektivität des Geschlechts als Ausgangspunkt. Gerade weil der Unterschied zwischen dem Körper des Mannes und dem Körper der Frau besonders salient ist und auf dann schon kulturelle Weise durch Kleidung, Schmuck, Frisur und Schminke betont is6
wird, können wir präzise erforschen, wie typische Verhaltensweisen, Positionen, Deutungen usw. auf Männer und Frauen verteilt sind.
4. Schlußfolgerung: Soziologie des Körpers, kausale Erklärungen und Sinnverstehen Das Beispiel der Körpersoziologie zeigt, daß sich faktisch in der empirischen Forschung auch in interdisziplinärer Sichtweise eine Perspektive bewährt hat, die Sinnverstehen als Ausgangspunkt nimmt. Stellt man den Blick auf sozial geregeltes Sinnverstehen scharf, geht also nichts von den objektiven Randbedingungen sinnhaften Verhaltens verloren. Daß deshalb der Körper immer auf sozial konstruierte Weise gegeben ist, wie gerade in der Geschlechterforschung hervorgehoben wurde, erscheint daher als Ausgangspunkt, nicht als Ergebnis der Analyse. Interessant wird die Erforschung sinnhaft gegebener Körperlichkeit erst dann, wenn gezeigt werden kann, wie genau sich die soziale Konstruktion des Körpers ändert. Die Soziologie des Körpers hat also die Aufgabe, die Selektivität körperbezogener Deutungen zu demonstrieren, damit nicht nur Kontinuität und Wandel, sondern ihre kulturelle Kontingenz überhaupt deutlich werden. Die zentrale Frage bei der Umsetzung von Webers Forschungsprogramm lautet im Anschluß an diese Überlegungen, welche Idealtypen für die Konstruktion von Daten, Skalen und Fragebögen am besten verwendet werden. Mein Bericht über die empirische Forschung zum gesunden Körper und zum Körper der Geschlechter legt nahe, mit Weber (1985, S. 279; 325fr.) den Begriff der Deutung als sozial strukturierte Zurechnung zu operationalisieren, die typische, von Akteuren habituell in bestimmten Lebensbereichen vorgezeigte, geglaubte und als Plausibilisierung von Erfahrungen hoch gehaltene Beweggründe des Verhaltens zuweist. Schon Weber hat hervorgehoben, daß die Zurechnung von Verhalten in ganz unterschiedliche Richtungen erfolgen kann, und die empirische Forschung ist ihm in dieser Annahme gefolgt. Folglich haben kausale Zurechnungen für soziologische Erklärungen einen doppelten Status. Diese Dopplung ist ihnen nicht gleichsam ontologisch eingeschrieben, sondern ihrerseits Ausdruck der sozialen, sachlichen und zeitlichen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Geht man von einem Gesellschaftstyp aus, in dem Ver157
halten fast ausschließlich unter Face-to-face-Bedingungen stattfindet, ist Kausalität allein ein interaktives Interpretationsinstrument. Mit ihm können Handlungen unter der Bedingung wechselseitiger Anwesenheit verstanden und verknüpft werden. Alter erkennt Egos Absicht und interpretiert sie als Ursache einer Handlung. Die im Rahmen von erlebtem Handeln nicht interpretierbaren Phänomene der sozialen Welt können extern gedeutet werden (Natur, Gott, Schicksal, Magie, Zauber). Was als Ursache und was als Wirkung erschein:, ist durch unmittelbare Erfahrung garantiert. Kausalität kann a\s gegebener Zustand der Welt erlebt werden. In der modernen Gesellschaft wird diese Ordnung jedoch aufgebrochen. Kausale Zurechnungen verlieren ihre interpretative Aufgabe dadurch zwar nicht. Sie gewinnen jedoch einen weiteren, probabilistischen Sinn, der Durkheims (1897) Untersuchung über den Selbstmord - trotz seiner relativ einfachen statistischen Techniken zum Klassiker der Forschung gemacht hat. Die Tatsache, daß wir heute Effekte über Statistiken beobachten, ist ihrerseits Ausdruck gesellschaftlicher Differenzierung in Felder, Sphären, Interaktionsund Organisationstypen usw. (Tyrell 1983). Menschliches Verhalten kann nun auf eine historisch bis dahin ungekannte Weise betrachtet werden. Die Annahme, daß einer bestimmten Ursache eine bestimmte Wirkung folgt, kann und soll oft nur noch in Wahrscheinlichkeitsprozenten angegeben werden. Es werden Aussagen möglich und für politische Zwecke oft erwünscht, die die Primärerfahrung von Akteuren übersteigen und gerade deshalb eine Wissenschaft vom Sinn verstehen erst notwendig machen. Wissenschaft: und statistische Ämter sind von der »practical question par excellence. what to do next« (Garfinkel 1967, S. 12) in ihrer Betrachtung der Wirklichkeit befreit, so daß sich ihre Kausalurteile vom Interaktionsdruck entfernen. Die Motive, die den dabei entstehenden Wahrscheinlichkeiten zugrunde liegen, sind nicht mehr für jeden unmittelbar zugänglich, sondern müssen durch eigene Erhebungen erforscht werden (Erzberger 1998, S. 118), und es ist diese Ausgangslage, die Max Weber zur Konzeption einer soziologischen Erklärung aus Verstehen «««/Erklären, d.h. interpretativer und probabilisti sc her Kausalität, veranlaßt hat. Man muß vor diesem Hintergrund danach fragen, wie Kausalität heute gesellschaftlich konstituiert wird und soziologische Erklärun gen diesen Bedingungen unterwerfen. Es ist wissenschaftstheoretisch
müßig darüber zu streiten, ob Kausalität deterministisch, probabilistisch und/oder interpretativ-verstehend sei. Nach wie vor, so schon immer die soziologische Grundthese, besteht die Gesellschaft nur aus sinnhaftem Verhalten bzw. Kommunikation. Aber in der modernen Gesellschaft bedingen die vielfältigen sozialen Beziehungen (Weber 1980, § 3-17), die die Einheit des Menschen zerteilen, Regelmäßigkeiten, die »von außen« und »von innen« auf die Handlungssituation einwirken. Diese gesellschaftliche Konstitution muß auch die soziologische Betrachtung des Körpers bestimmen. Beim Übergang von Regelmäßigkeiten, Verteilungen und Wahrscheinlichkeiten zu handlungsleitenden Regelstrukturen ändert sich folglich das soziologische Verständnis von Ursache und Wirkung. Nur für die zunächst notwendige Messung von Verteilungen und Regelmäßigkeiten benötigt man das heute gerade in der amerikanischen Soziologie hegemoniale, probabilistische Verständnis von Kausalität (vgl. dazu Goldthorpe 2000, S. i37ff; McKim/Turner 1997; Abbort 1998, S. i64f.). Bei der sich anschJießenden Rekonstruktion sinnhafter Regelstrukturen des Handelns erscheint Kausalität hingegen als praktischer Auslegungsprozess der Handelnden selbst, nicht als wissenschaftliche Freilegung von Notwendigkeit (Luhmann 1970, S. i29f). Kausalität wird dabei zu einer interpretativen, vergleichenden Kategorie, mit der die schon vorliegenden Erfahrungen der Handelnden erfasst werden. In beiden Fällen bleibt nach Weber (1985, S. 178, 271) die Kausalität kultureller Gegenstände eine Zurechnungsfrage, die in ihrer sinnhaften Selektivität und damit auch den Kriterien des wählenden Zugangs beantwortet werden muß. Wer die dazu notwendige doppelte Hermeneutik, das selektive Verstehen des selektiven Verstehens, nicht beachtet, gelangt nicht zu soziologisch kontrollierten Aussagen über moderne Körperlichkeit (Giddens 1976; Kneer/Nassehi 1991; Esser 1999, S. 2iiff.; Hitzler 2001, S. 461 f.). Wer die sinn verstehende Soziologie als eine Wissenschaft begreift, die auf diese Weise objektive und subjektive Zurechnungen miteinander verbindet, kann zentrale Tendenzen des kulturellen Deutungswandels der modernen Gesellschaft auf relativ einfache Weise skizzieren. Obwohl die Forschungsergebnisse nicht immer ein einheidiches Bild zeichnen (Mortimer 1996), spricht einiges dafür, daß die vertikale, horizontale und temporale Differenzierung der Gesellschaft auch die Deutung von Körperlichkeit leitet. »Verinnerlichende« Indivii59
dualisierung und ungleiche soziale Strukturierung gehen dabei Hand in Hand. Dem individuellen Selbst zurechenbar werden menschliche Erfahrungen des Körpers dort gedeutet, wo höhere Bildung und dit höheren Berufsklassen ihre Wirkung entfaltet haben. Gemeinsam r< präsentieren sie die Weltsicht der höheren Etagen formaler Organa sationen, deren Prämisse die Gestaltbarkeit und Kontrollierbarkeil der sozialen Welt ist. Auf ihren Bühnen scheint die interne, an Kon trollierbarkeit glaubende Deutungsneigung von unten nach oben zu zunehmen. Wer eine Arbeitsorganisation leiten möchte, muß ihn Gestaltbarkeit öffentlich authentisch darstellen und vorleben. Di< Mitarbeiter werden oft einfach nur das weiterverfolgen wollen, waj sie immer schon getan haben, und stehen Änderungen nicht seiter feindselig gegenüber. Diese eher defensive Sicht tragen die Menscher aus den unteren Klassen möglicherweise über alle Rollentrennun gen hinweg mit sich als gerade in Bildungs- und Berufsfragen durch gehaltene Deutungspräferenz. Damit scheint sich, so könnte man die empirische Forschungslage interpretieren, trotz aller Differenzierung sozialer Beziehungen in der modernen Gesellschaft eine gewiss< Kontinuität des persönlichen Erwartungsstils sowohl über die Ge nerationen hinweg als auch über so heterogene Felder wie die Beruß weit, Bildungsentscheidungen, Geschlechterrollen und Gesundheits verhalten zu halten (Nollmann 2003a). Es ging mir im Vorhergehenden ausschließlich darum, am Beispk von Geschlecht und Gesundheit zu zeigen, wie körperbezogene Deii tungen in diesem kulturellen Wandel sowohl »von innen« individua lisiert als auch »von außen« sozial ungleich strukturiert werden. Eim weitere Präzisierung des Zusammenhangs zwischen Individualist rung und sozialer Strukturierung des Körpers kann m.E. nur durcl empirische Forschung erreicht werden, die die kulturelle Selektivitä von Deutungen als Zurechnungen sichtbar macht.
Literatur
Abbott, Andrew (1998): The Causal Devolution, in: Sociological Methods •& Research 27, 148-181. Ajzen, Icek (1991): The theory of planned behavior, in: Organizational Beh; vior and Human Decision Processes 50, 179-211. 160
Ajzen, Icek, Martin Fishbein (1975): Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall. Ajzen, Icek, T. J. Madden (1986): Predication of goal-directed behavior: attitudes, intentions, and perceived behavioral control, in: Journal of Experimental Social Psycholog)' 22, 453-474. Bandura, A. (1997): Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Klasse und Schicht?, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2. Göttingen: Schwanz, 35-74. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Berlin. Bourdieu, Pierre (1970): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Cockerham, William C. (8200i): Medical Sociology. Upper Saddle River: Prentice Hall. Cockerham, William C./Gerhard Kunz/Guenther Luschen (1986): Social Stratification and Self-Management of Health, in: Journal of Health and Social Behavior 27, 1-14. Crawford, Robert (1984): A Cultural Account of Health. Control, Release, and the Social Body, in: John McKinley (Hg.), Issues in the Political Economy of Health Care. New York: Tavistock, 60-103. Culler, Jonathan D. (1987): On deconstruction. London: Routledge & Kegan Paul. Diewald, Martin (2001): Unitary Social Science for Causal Understanding. Experiences and Prospects of Life Course Research, in: Canadian Studies in Population 28, 219-248. Diewald, Martin/Johannes Huinink/Jutta Heckhausen (1996): Lebensverläufe und Persönlichkeitsentwicklung im gesellschaftlichen Umbruch, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 219-248. Dunifon, Rachel/Greg J. Duncan (1998): Long-Run Effects of Motivation on Labor-Market Success, in: Social Psycholog)' Quarterly 61, 1, 33-48. Durkheim, Emile (1897): Le Suicide. Etüde de sociologie. Paris: F. Alcan. Eickelpasch, Rolf (2001): Hierarchie und Differenz, in: Claudia Rademacher/Peter Wiechens (Hg.), Geschlecht - Ethnizität - Klasse. Opladen: Leske & Budrich, 53-63. Eiser, J. Richard (1990): Social Judgment. Buckingham: Open University Press. Eiser, J. Richard/J. van der Plight (1988): Attitudes and Decisions. London: Routledge. 161
Erzberger, Christian (1998): Zahlen und Wörter. Die Verbindung quantitativer und qualitativer Daten und Methoden im Forschungsprozess. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen 1: Situationslogik und Handeln. Frankfurt am Main: Campus. Fiedler, Klaus/Gün R. Semin/Catrin Finkenauer (1994): Welchen Spielraum läßt die Sprache für die Attribution?, in: Friedrich Försterling/Joachim Stiensmeier-Pelster (Hg.), Attributionstheorie. Göttingen: Hogrefe, 27-54. Garfinkel, Harold, (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall. Giddens, Anthony (1976): New Rules of Sociological Method. A positive critique of interpretative sociologies. Cambridge: Polity Press. Giddens, Anthony (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus. Gildemeister, Regine (2001): Soziale Konstruktion von Geschlecht. Fallen, Mißverständnisse und Erträge einer Debatte, in: Claudia Rademacher/ Peter Wiechens (Hg.), Geschlecht - Ethnizität - Klasse. Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz, Opladen: Leske & Budrich, 6587. Goldthorpe, John H. (2000): On Sociology. Numbers, Narratives, and the Integration of Research and Theory. Oxford: Oxford University Press. Gottschall, Karin (2000): Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs. Opladen: Leske & Budrich. Hage, J./B. F. Meeker (1988): SociaJ Causality. Winchester, Mass.: Allen & Unwin. Heintz, Bettina/Eva Nadai (1998): Geschlecht und Kontext, in: Zeitschrift für Soziologie 27, 75-93. Hewstone, Miles/Frank Fincham O2002): Attributionstheorie und -forschung: Grundlegende Fragen und Anwendungen, in: Wolfgang Stroebe/Miles Hewstone/Geoffrey M. Stephenson (Hg.), Sozialpsychologie. Eine Einfuhrung. Berlin u.a.: Springer, 215-264. Hirschauer, Stefan (1989): Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 18, 100-118. Hirschauer, Stefan (1993): Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hirschauer, Stefan (1994): Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46, 668692. Hitzler, Ronald (2001): Sinnrekonstruktion. Zum Stand der Diskussion (in) der deutschsprachigen interpretativen Soziologie, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 26, 459-484. 162
Kaase, Max (1998): Datenzugang und Datenschutz, in: Bernhard Schäfers/ Wolfgang Zapf (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen: Leske & Budrich, 101-111. Kluegel, James R/Eliot R. Smith (1986): Beliefs about Inequality. Americans' View what is and what ought to be, New York: De Gruyter. Kneer. Georg/Armin Kassehi (1991): Verstehen des Verstehens, in: Zeitschrift für Soziologie 20, 341-356. König, Rene" (Hg.) (1972): Das Interview. Köln: Kiepenheuer. Koppetsch, Cornelia (Hg.) (2000): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz: UVK. Koppetsch, Cornelia/Günter Burkart (1999): Die Illusion der Emanzipation. Konstanz: UVK. Koppetsch, Cornelia/Günter Burkart (2001): Geschlecht und Liebe, in: Bettina Heinrz (Hg.), Geschlechtersoziologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 431-453Krüger, Helga (1995): Prozessuale Ungleichheit, in: Peter A. Berger/Peter Sopp (Hg.), Alte Ungleichheiten - Neue Spaltungen. Opladen: Leske & Budrich, 133-154. Luhmann, Niklas (1965): Grundrechte als Institution. Berlin: Duncker u. Humblot. Luhmann, Niklas (1970): Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Ders., Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen: Westdeutscher Verlag, 113-136. Luhmann, Niklas (1973): Zurechnung von Beförderungen im öffentlichen Dienst, in: Zeitschrift für Soziologie 2, 326-351. Luhmann, Niklas (1981): Erleben und Handeln, in: Ders., Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, 67-80. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2i993): Risiko und Gefahr, in: Ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag, 131-169. Luhmann, Niklas (M996): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Mason, David S./James R. Kluegel (2000): Marketing Democraq'. Changing Opinion about Inequality and Politics in East Central Europe, Lanham u.a.: Rowman & Littlefield. Mayer, Karl Ulrich (2003): The sociology of the life course and life span psychology — diverging or converging pathways?, in: Ursula M. Staudinger/ Ulman Lindenberger (Hg.), Understanding Human Development: Lifespan Psycholog}' in Exchange with Other Disciplines. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 463-481. 163
McKim, Vaughn, Stephen P. Turner (Hg.) (1997): Causality in Crisis? Statistical Methods and the Search for Causal Knowledge in che Social Sciences. Notre Dame: University of Notre Dame Press. Mills, C. Wright (1940): Situated Actions and Vocabularies of Motive, in: American Sociological Review 5, 904-913. Mirowsky, John, Catherine E. Ross (1989): Social Causes of Psychological Distress. New York: Aldine de Gruyter. Mortimer, Jeylan T. (1996): Social Psychological Aspects of Achievement, in: Alan C. Kerckhoff(Hg.), Generating Social Stratification. Boulder: Westview Press, 17-36. Müller, Hans-Peter (1992): Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nassehi, Armin (1995): Deportation als biographisches Ereignis. Eine biographieanalytische Untersuchung, in: Georg Weber u. a., Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949, Bd. 2. Köln u. a.: Böhlau, 5-412. Neckel, Sighard (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main/New York: Campus. Nollmann, Gerd (2003): Die neue Kultur sozialer Ungleichheit. Mehr, nicht weniger Ungleichheit bestimmt die Moderne, in: Mittelweg 36, Oktober/ November, 12-33. Nollmann, Gerd (2003a}: Warum fällt der Apfel nicht weit vom Stamm? Die Messung subjektiver intergenerationaler Mobilität, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 125-139. Nollmann, Gerd, Hermann Strasser (2002): Individualisierung als Deutungsmuster sozialer Ungleichheit. Zum Problem des Sinnverstehens in der Ungleichheitsforschung, in: österreichische Zeitschrift fiir Soziologie 27, 3-36. Nollmann, Gerd, Hermann Strasser (2004): Die Verinnerlichung der Weltbetrachtung. Zur gesellschaftstheoretischen Einordnung von Individualisierung und reflexiver Modernisierung, in: Dies. (Hg.), ICHs. Individualisierung als Programm und Problem der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus. Nolte, Helmut/Uwe Wilkesmann/Hans Georg TegethofT/Jakob Maetzel/ Christoph Weischer (1997): Kontrolleinscellungen zum Leben und zur Zukunft. Bochum: Fakultät für Sozialwissenschaft, DP 97-06. Pasero, Ursula (1994): Geschlechterforschung revisited, in: Theresa Wobbe/ Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede von Geschlecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 264-296. Pasero, Ursula (1995): Dethematisierung von Geschlecht, in: Dies./Friederike Braun (Hg.), Konstruktion von Geschlecht. Pfaffenweiler: Centaurus, 50-66. 164
Peterson, Christopher/Martin E. P. Seligman/George E. Vaillant (1988): Pessimistic Explanatory Style is a Risk Factor for Physical Illness: A ThirtyFive-Year Longitudinal Study, in: Journal of Personality and Social Psychology 55. 23-27Rosenbaum, James (1984): Career Mobility in a Corporate Hierarchy. Orlando u. a.: Academic Press. Schluchter, Wolfgang (2000): Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber, in: Ders., Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 86-103. Schroer, Markus (2001): Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schwarzer, R. (1992): Self-efficacy in the adoption and maintenance of health behaviors: Theoretical approaches and a new model, in: Ders. (Hg.), Selfefficacy: Thought control of action. Washington, DC: Hemisphere, 217141.
Sheeran, R, C. Abraham (1996): The health belief model, in: M. Conner/PNorman (Hg.), Predicting health behavior. Buckingham: Open University Press, 21-61. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory. London: Sage. Statistisches Bundesamt (Hg.) (1998): Gesundheitsbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Stroebe, Wolfgang (2002): Gesundheitspsychologie - eine sozialpsychologische Perspektive, in: Ders. u.a. (Hg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung. Wien: Springer, 579-621. Stroebe, Wolfgang/Margaret S. Stroebe (1998): Lehrbuch der Gesundheitspsychologie. Ein sozialpsychologischer Ansatz. Eschborn: Verlag Dietmar Klotz. Turner, Bryan S. (1992): Regulating bodies: essays in medical sociology. London: Roudedge. Tyrell, Hartmann (1983): Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp, in: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius (Hg.), Gruppensoziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag, 75-87. Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr. Weber, Max (1985): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr. Weiner, Bernard (1979): A Theory of Motivation for Some Classroom Experiences, in: Journal of Educational Psychology 71, 3-25. Zinn, Jens (2000): Junge Arbeitnehmer zwischen Gestaltungsanspruch und Strukturvorgaben, in: Walter R. Heinz (Hg.), Übergänge. Weinheim: Juventa, 30-49.
165
Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen i. Einleitung
Auf den allseits konstatierten und beklagten Bedeutungsverlust des Körpers, auf sein von kulturwissenschaftlicher Ignoranz begleitetes Entschwinden im Prozeß der Modernisierung, folgte vor nicht allzu langer Zeit seine »Wiederentdeckung« (Kamper/Wulf 1989), die sich alsbald zu einem regelrechten »Boom« (Körner 2002) ausweiten sollte. Abermals waren es Entwicklungen und Rückwirkungen des Modernisierungsprozesses, die den Körper wieder ins Gespräch brachten. Doch nicht mehr wie einst drohen ihm Entfremdung, Automatisierung und Ersetzung durch mechanisch-industrielle Errungenschaften als vielmehr seine >Eroberung< (Virilio 1994) im Zuge zunehmender medien-, bio- und gentechnologischer Auf-, Um- und Zurüstungen. Der gesellschaftlich-machtvolle und besitzergreifende Zugriff auf das Individuum erhalte - so die nun vielfach vertretene These - durch die heraufziehende, bald beliebige Zugänglichkeit und freie Gestaltbarkeit des Körpers eine gänzlich neue Qualität. Deshalb haben sich die sogenannten >postmodernen Projekte< der Geneier Studies und Cultural Studies auch die Rückeroberung des Körpers zum Ziel gesetzt, und sichern so dem Wiedererweckten - und sich selbst - einen gesellschaftspolitischen Status. Entlang des konjunkturellen Aufschwungs der Körperthematik lassen sich grob vereinfachend drei Herangehensweisen ausmachen, die eine Vielzahl aktueller kulturwissenschaftlicher Ansätze anleiten, den menschlichen Körper in den Griff zu nehmen und >festzustellen< (vgl. Csordas 1999; Fischer-Lichte 2001). Die erste Tendenz weist in Richtung einer Partikularisierungdes Körpers. In einer Art »kulturellen Anatomie« (Benthien/Wulf 2001) werden einzelne Körperteile und -zonen, Körperprozesse, -praktiken und -Strategien analytisch in den Blick genommen. Diese bereits von Georg Simmel (1992) und Marcel Mauss (1975) verfolgte, stark fokussierende Perspektive geht in der Regel in einer zweiten, sie erweiternden auf. Durch die Kontextualisierungdes Körpers mit sozialen Phänomenen, Kategorien und Institutionen werden dessen Teile, Zonen, Prozesse, Praktiken und Stra166
tegien in ihrer je spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Einbindung und Formung angesprochen und empirisch untersucht. Exemplarisch hierfür stehen die Thematisierung des Körpers in den Kontexten von Geschlecht und sozialer Ungleichheit, Politik, Religion und Macht, Sozialstruktur und Distinktion, Interaktion, Kommunikation und Medien, Sport, Medizin, Sexualität oder Tod. Sie rekurrieren vor allem auf die wegbereitenden Arbeiten von Karl Marx, Max Weber, Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Erving Goffman und Michel Foucault (vgl. exemplarisch Nettleton/Watson 1998; Koppetsch 2000; Hahri/Meuser 2002; Alkemeyer u.a. 2003; Coupland/ Gwyn 2003). Werden mehrere dieser Kontexte schließlich herausgegriffen und zusammengeführt oder einander entgegengehalten, so können hieraus mit durchweg hohem Abstraktionsgehalt ausgestattete, dabei an das jeweilige Erkenntnisinteresse des Forschers geknüpfte und damit in ihrer Ausdehnung durchaus variable Modelle einer Multiplizierung des Körpers abgeleitet werden. Frühe und richtungsweisende Beispiele hierfür sind Kantorowicz' Unterscheidung zwischen dem >natural< und dem >political body< des Königs (Kantorowicz 1990) und Mary Douglas' Gegenüberstellung von >physical< und >social body< (Douglas 1973). Gründeten sich beide noch auf die Scheidung von Physiologisch-Anatomischem und Gesellschaftlich-Symbolischem, von Natur und Kultur, so betonen spätere Autoren eher die Verflechtung von Physischem und Sozialem (vgl. Beer 2002): sie überschreiten die rein binären Konzeptionen, indem sie unter Absehung vom »natural body< - dem »politicah bzw. >social body< entweder zusätzliche Konstruktionen beifugen (z.B. >world's body<, >medical body<, >consumer body<, vgl. O'Neill 1985; >individual body<, vgl. Scheper-Huges/Lock 1987) oder insbesondere den >social body< weiter ausbuchstabieren (vgl. Klein 2001). Die schwankenden Ab- und Aufwertungen des Themas und die Fragmentierungen, Inbezugsetzungen und Vervielfältigungen des Körpers in den kulturwissenschaftlichen Konzeptionen lassen jedoch zwei grundlegende Aspekte unberührt. Erstens, das gebrochene Verhältnis des Menschen zur Natur im allgemeinen und zu seinem Körper im besonderen; und zweitens, die unhintergehbare Anwesenheit und umfassende Wahrnehmbarkeit der Körper in Face-to-face-Situationen. Beide Aspekte stellen die Handelnden vor dauerhaft zu bewältigende Probleme und sind damit von grundsätzlicher Bedeutung für die Erforschung von Prozessen der sozialen Wechselwirkung in 167
Interaktionsbeziehungen, weshalb wir sie zum Ausgangspunkt unserer Diskussion nehmen (2). Vor ihrem Hintergrund wollen wir aus der zugestanden sehr weit gefaßten Thematik der Körperlichkeit in Interaktionssituationen nur ein, wenngleich zentrales Moment herausgreifen: Sosehr die Sprache (das Sprechen) viele Interaktionssituationen auch beherrscht, weil ihr Einsatz am ehesten plan- und manipulierbar ist, ihr rationales, semantisches und syntaktisches Ordnungsgefüge repräsentiert nur eines von vielen Darstellungsmitteln und nur wenige - allerdings auch bewußtseinsfähigere - von unbestimmt vielen Empfindungs- und Sinnes- bzw. Sinnqualitäten (vgl. Raab 2001). Die Thematisierung der Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen aus einer anthropologisch und phänomenologisch begründeten, wissenssoziologischen Perspektive kann sich deshalb nicht allein auf die Betrachtung der Funktion von rationaler Sprache beziehen. Sie muß sich auch richten auf die mit dem Körper und auf seiner Oberfläche sich der Deutung darbietenden Zeichen: auf die von der aktuellen Körpersoziologie bislang vernachlässigten Fragen nach dem Entwerfen und Darstellen, Deuten und Verstehen von Körperbildern in Interaktionssituationen.1 Wir beginnen am Ursprungsort der Körperbilder: bei ihrer Bedeutung für die Positionierung, Bewegung und >Gesamtversetzung< der Handelnden (3); wir gehen weiter zu ihrem eigentlichen Austragungsort: ihrer Darstellung (4), Deutung und Typisierung in Face-to-face-Situationen (5); und wir schließen mit einem Ausblick auf die Bedingungen der Veränderung von Körperbildern durch deren zunehmende Präsentation in den audiovisuellen Medien (6).
2. Körperverhältnis und Körperverhalten Wir hatten angedeutet, daß unseren Überlegungen zwei fiir die Thematik grundlegende, daher konsequenzenreiche Gedanken vorausgehen. Zunächst folgen wir Helmuth Plessners Bestimmung des Menschen in seiner Doppelaspektivität von Körper-Sein und Körper-Haben, mithin zweier im besonderen Selbstverhältnis des Menschen begründet liegender, unterschiedlicher und dennoch eigen1 Zur fundamentalen Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für die Herstellung und Sicherung von sozialer Ordnung in Face-to-face-Situationen vgl., Goffman (1986); Simmel (1992); Kaufmann (1996); Senne« (1997). 168
tümlich ineinandergreifender Ordnungen. In seiner philosophischen Anthropologie hat Plessner das in seiner Doppeldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Gebrochenheit unaufhebbare Verhältnis des Menschen zu seinem Körper als conditio humana dargestellt und mit dem Begriff der »exzentrischen Positionalität« belegt: »Der Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin steckt) - auch wenn er von seiner irgendwie >darin< seienden unsterblichen Seele überzeugt ist - und hat diesen Leib als diesen Körper« (Plessner 2003a, S. 238). So verstanden, ist der menschliche Körper keine bloße Hülle, die das >Innere< wie eine feste Schale nur umgibt, sondern ist als Leib, in Gesicht, Haltung, Gang und Gesten, unmittelbare und plastische Ausprägung des Innenlebens. In krisenhaften Momenten (Schmerz, Krankheit, Erschöpfung, Hunger etc.) und in der durch sie ausgelösten, reflexiven Haltung bricht diese »ungeheuerliche Selbstverständlichkeit« (Popper 2003, S. 94) jedoch auf, und der Körper tritt uns >schlagartig< als etwas Eigenständiges, in seiner natürlichen Seinsweise Fremdes, von der Natur Auferlegtes und dabei gelegentlich Störendes entgegen. Dann nehmen wir unseren Körper als >etwas< wahr, über das wir nicht vollständig verfugen und das uns nur teilweise zugehört, mit dem wir als dem ursprünglichen Ort unserer Erfahrung aber doch - bis zu einem gewissen Grade - zusammenfallen. In der Selbsterfahrung, aber auch in sozialen Situationen, widersetzt sich der Körper immer wieder unseren Selbstentwürfen und Handlungsplanungen, unseren Bewegungsphantasien und Handlungsroutinen, was beispielsweise im Falle von Unfallopfern angesichts ihrer verunstalteten Körper (vgl. Goffman 1967, S. 16f.) oder bei Transsexuellen in ihrem ganzen leiblichen Empfinden (vgl. Lindemann 1993; Knoblauch 2002) sogar bis zu der nachhaltigen Selbstwahrnehmung reichen kann, das >mein Körper nicht ist, was ich bin<. Zum zweiten schließen wir uns der unter anderem für Georg Simmel, George H. Mead, Alfred Schütz, Erving Goffman, Anselm Strauss, Peter L. Berger und Thomas Luckmann zentralen Einsicht an, daß Face-to-face-Situationen den phylogenetischen und ontogenetischen Urtypus jeglicher sozialen Interaktion darstellen, von dem sich alle anderen Kommunikationssituationen und -modalitäten ableiten. Die Face-to-face-Situation ist der primäre Bereich des Erlebens und Erfahrens, des Handelns und Deutens: in ihr lernen wir unser Agieren, Reagieren und Sprechen ebenso, wie die Auslegung von 169
Bewegungen, Gesten, Mimik, Berührungen, Farben und Gerüchen, von Handlungen und gesprochener Sprache. Sie ist das Grundmodell und der vorrangige Austragungsort menschlicher Erfahrungen und Leistungen: für die Einschulung »symbolischen^ zeichenhaften Handelns und für die koordinierte Sinngebung und Sinndeutung. Die in modernen Gesellschaften sich zunehmend verbreitende und zusehends verfeinernde mediale Kommunikation kann das, was in »lebendiger Gegenwart« (Berger/Luckmann 1980, S. 31) von Subjekten vor sich geht, nicht kompensieren, sondern allenfalls simulieren. Ihr defizitärer Charakter tritt bereits in der Anwendung der Apparaturen zutage, weshalb sich ihr alltäglicher Gebrauch im wesentlichen auch darauf richtet, den Raum und die Zeit bis zur nächsten, »eigentlichem sozialen Zusammenkunft zu überbrücken oder deren Bedingungen vorzubereiten. Werden Raum und Zeit jedoch intersubjektiv geteilt, stehen sich die Handelnden sozusagen im Original gegenüber, dann »verkörpert sich der Mensch in meiner Gegenwart« (Schütz/Luckmann 2003, S. 608): In gemeinsamer körperlicher Präsenz können wir uns unmittelbar sinnlich wahrnehmen, also sehen, hören, riechen, fühlen und - wenn wir wollen - auch schmecken. Von besonderer Bedeutung erweist sich deshalb das synästhetische Mit- und Zusammenwirken aller Sinnesorgane, das Erscheinen und Wahrgenommenwerden des gesamten Körpers wie auch die Verflechtung und Multivalenz höchst unterschiedlicher, dabei nicht unbedingt widerspruchsfreier Zeichenebenen, Zeichenformationen und Darstellungsmittel (Körperhaltung, Gestik, Mimik, Sprache, Prosodie, Kleidung, Schmuck, Emblematik, Kosmetik usw.) sowie schließlich die Vielzahl der daraus hervorgehenden Deutungsebenen und Interpretationsverfahren. Indem die Interaktionspartner Zeichen und Darstellungsmittel wählen, betonen und aufeinander abstimmen oder vernachlässigen und vermeiden, orientieren sie sich in ihrem Ausdrucksverhalten wechselseitig aneinander und versuchen Einfluß zu nehmen auf das dauerhafte Wechselspiel von Selbstdeutung und Fremddeutung als den Voraussetzungen der Identitätsbildung und jeglichen sozialen Handelns. Dabei vermittelt die Face-to-face-Situation wie keine andere den Eindruck der unmittelbaren Evidenz des Gegenübers, seines Fühlens, Wollens und Denkens, seiner Handlungen, Haltungen und Eigenschaften. Sie eröffnet damit in besonderer Weise den wechselseitigen Zugang zueinander und bildet die Grundlage des Verstehens, des Wissens und des Handelns. Aus dem Um17c
stand nämlich, daß »die Anonymität der Typisierungen, mit deren Hilfe ich Mitmenschen in Vis-ä-vis-Situationen erfasse, ständig mit vielfältigen, lebendigen Symptomen >aufgefullt< wird, in denen sich ein leibhaftiger Mensch anzeigt« (Berger/Luckmann 1980, S. 35), resultiert ein allmähliches >Aufheben< - die Bestätigung und Verfestigung, Korrektur oder Ablösung - eben dieser Typisierungen hin zur Individualisierung oder >Authentifizierung< einer Person, schließlich zur Vorstellung der intimen Kenntnis ihrer >Eigentlichkeit< und der Illusion ihres vollständigen Verstehens.
3. Positionierung, Bewegung und Gesamtversetzung Wie Helmuth Plessner wendet sich Arnold Gehlen in seiner Wesensbestimmung des Menschen gegen den auf Rene* Descartes zurückgehenden und noch von Max Scheler (2002) vertretenen Dualismus von Körper und Geist (Gehlen 2004, S. 178f.). Um die traditionelle, metaphysische Trennung zu überwinden, stellt Gehlen das beobachtbare menschliche Handeln ins Zentrum seiner philosophischen Anthropologie. An die Stelle eines Verständnisses, welches das menschliche Handeln als bloß körperliche Ausführung eines vom Geist oder Bewußtsein gesetzten und auf ein bestimmtes Handlungsziel gerichteten Bewegungsablaufes begreift, rückt die Auffassung vom Handeln als einer reaktionsverzögerten und komplexen Kreisbewegung, bei der sinnliche Empfindungen, kognitive Bewußtseinsleistungen, leibliche Vorstellungen und körperliche Bewegungsvorgänge miteinander in Wechselwirkung stehen, wie ein triviales Beispiel aus dem Alltag zeigt: Bleibt beim Versuch, einen Ast zu durchtrennen, die Säge im Holz stecken, so geschieht die Rückmeldung dieses Sachverhaltes über die sinnlich-körperliche Wahrnehmung. Hierauf kann das Bewußtsein einen neuen Handlungsversuch mit nun verändertem Bewegungsablauf »anordnens der wiederum primär über die visuellen und taktilen Wahrnehmungsmodalitäten gesteuert und kontrolliert wird. Doch im Handeln sind nicht nur Bewegungen, Wahrnehmungen und Erkenntnisleistungen aufs engste miteinander verwoben. Vielmehr erkennt Gehlen - sich dabei auf George H. Mead beziehend - in den diese Prozesse begleitenden »Bewegungsphantasmen« geradezu das entscheidende Moment im menschlichen Handeln (ebenda, S. 132). Jedem Handeln, also jedem Zusam-
menwirken von Wahrnehmung und Empfindung, Bewegung und Erlcenntnisleistung in der Konfrontation mit Objekten gehen »eingebildete Bewegungen« voraus, die eingehüllt sind, »in vage Bilderfolgen, die wir erwarten und sich bestätigen sehen würden, wenn wir wirklich mit ihnen umgingen. So lehrt uns eigentlich schon die Wahrnehmung, uns mehr auf >Vorstellungen< als auf sie selbst einzulassen« (ebenda, S. 223). Für Gehlen besitzen die Bewegungsphantasmen ihre eigene Rationalität, ihre eigene, nicht-sprachliche Syntax; sie gehen ontogenetisch und phylogenetisch dem Spracherwerb voraus, begleiten und ermöglichen vielmehr erst dessen Ausbildung. Der für jegliche Phantasieleistung konstitutive »Vorgang des Sichversetzens vom einen ins andere«, der methodische und variable »innere Stellungswechsel« (ebenda, S. 220; 185) reicht zeitlich in die Vergangenheit und bezieht sich auf die im Bewegungs- und Empfindungsgedächtnis abgelagerten, bewährten und beliebig abrufbaren Erinnerungsbilder. »Sie können in die unmittelbaren Wahrnehmungen eingeschmolzen werden und so dem Organismus durch vergangene Erfahrungen helfen, das wahrgenommene Objekt zu vervollständigen« (Mead 1973, S. 390), weshalb Mead »unter >Imagery< in erster Linie das >Ausfullen< (filling out) der Wahrnehmungsdinge mit den contents from past experience versteht« (Gehlen 2004, S. 185). Doch die Phantasieleistungen und die >eingebildeten< Bewegungen beschränken sich nicht auf die Vergangenheit, sondern haben einen ebenso genuinen Bezug auf zukünftige Ereignisse (vgl. Mead 1973, S. 394). In der Planung des Handelns werden Vorstellungen von möglichen körperlichen Empfindungen und Bewegungen in bezug auf antizipierte Handlungsinhalte und -ziele entworfen, die als Erwartungsbilder ergänzend in die Wahrnehmung eingehen und dem gegenwärtigen Verhalten Richtung und Halt geben (Gehlen 2004, S. 252f.). Diese Erwartungsphantasmen zeigen schließlich eine gewisse Verwandtschaft zu den das Handeln dauerhaft begleitenden Verlaufsbildern. Indem sich - siehe obiges Beispiel - die Positionierungen und Bewegungen unseres Körpers im Raum am Verhalten anderer Objekte ausrichten, wird auch das in der Situation unmittelbar zu erwartende »Antwortverhalten der Umgangsdinge« (ebenda, S. 184) durch bildhafte Phantasieleistungen vorweggenommen. Bereits im Umgang mit den Dingen erweist sich die Phantasie als »die eigendich kommunikative Macht«: sie bezieht die Wahrnehmungsleistungen verschiedener Sinnesmodalitäten synästhetisch aufeinander und stellt auf diese Weise
»die Einheit unseres Bewegungs- und Empfindungsiebens« her (ebenda, S. 185). Deutlich tritt Gehlens Anliegen hervor, »die Leistung und Bedeutung der Phantasie sichtbar werden zu lassen« (ebenda, S. 316) und den Menschen damit anthropologisch sowohl als Vernunft- wie als Phantasiewesen zu bestimmen. Zum einen handelt der Mensch aufgrund von Instinktreduktion und WeltofFenheit auf eine fiir ihn ungewisse Zukunft hin. Seine das >Dunkel< erhellenden Zukunftsentwürfe füllt er je nach Anlaß, Situation und Stimmungslage mit Erinnerungs- und Vorstellungsbildern auf, die dann zum »Schwungrad der Handlungen« werden (ebenda, S. 304). In der Ergänzung der Wahrnehmung über das aktuell Gegebene hinaus und im damit einhergehenden »Wechsel der Hinsichten« erkennt Gehlen denn auch die eigentliche Quelle für »das elementar schöpferische Verhalten des Menschen« (ebenda, S. 186, Hervorhebung im Original). Nur über diese Eigenleistungen, deren Bedingung ebenjener innere Perspektivenwechsel ist, wird es den Handelnden überhaupt möglich, ihre motorischen Fähigkeiten und kognitiven Kompetenzen abzuschätzen, zu überprüfen und auszubauen. Zum anderen bleiben die Phantasieleistung, das Sichversetzen durch Bildentwürfe, nicht in der Steuerung von Körperbewegungen und auf die Kommunikation mit Dingen beschränkt. Der zunächst auf zeidiche und räumliche Dimensionen begrenzte Vorgang des Sichversetzens erweitert sich — eine erneute Anlehnung an Meadsche Gedanken, insbesondere an dessen Wendung vom >taking the role of the other« - zu einem »Vermögen der Gesamtversetzung« (ebenda, S. 321). In realen oder imaginierten Interaktionssituationen sehen sich die Handelnden mit den Augen der sozialen anderen, übernehmen deren Einstellungen, Erwartungen und Reaktionen hinsichtlich der eigenen Person und >handeln von dahen, das heißt sie orientieren ihr Verhalten an den in der aktuellen Wahrnehmung sich formenden Eindrücken wie auch an den bei den anderen angenommenen und bei ihnen innerlich repräsentierten Bildentwürfen und Bilderfolgen: an der Mitvergegenwärtigung jener Bilder, welche die anderen bereits von ihnen haben, welche sie in der Situation bekommen und aus dieser mitnehmen (werden), um sie dann in die darauf folgende Interaktion wieder einzubringen. Das sowohl gebrochene als auch gedoppelte Verhältnis des Menschen zu sich selbst macht in konkreten Interaktionen mit anderen und/oder in der Beobachtung unserer 173
selbst somit die Ausbildung und Stabilisierung eines Selbstbildes, eines >Images<, notwendig: einer Vorstellung von uns selbst in Form eines bildhaften Entwurfs, den wir in unseren eigenen und in den Augen der anderen aufrechterhalten wollen und müssen. Für Gehlen ist die Phantasie - jene Fähigkeit zur Einstellungsübernahme und zur Gesamtversetzung in den anderen - denn auch »ganz eigentlich das elementare Sozialorgan« und »geradezu das tragende innere Gefiige der Gesellschaften« (ebenda, S. 319; 321. Hervorhebungen im Original).
4. Selbstbildpräsentationen Die Ausbildung, das Inszenieren, Präsentieren und Aufdauerstellen eines Images - jener besonderen und gut konturierten, kontinuierlichen und einheitlichen sozialen Gestalt, die man letztlich nicht ist, sondern nur als Bild von und Für sich hat, und ebenso fiir andere entwirft - ist etwas Brüchiges, dem in »the presentation of seif in the everyday life« (Goffman 1969) der Beigeschmack des Vorläufigen und Ungewissen anhaftet. Wie Goffman in zahlreichen Untersuchungen betont, erfolgt die Arbeit am Image weder auf einen Schlag noch ein für alle mal, sondern in sozialen Situationen, in Augenblikken, die durch die Zeit getrennt sind. Die Handelnden müssen den ihre Identität verbürgenden Zusammenhang zwischen den Augenblicken dadurch erzeugen, daß sie die >Lücken< zwischen ihren Selbstbildenrwürfen auffüllen und schließen. Diese Anforderung stellt sich auch deshalb, weil »das Image eines Menschen etwas Heiliges« und damit alles andere als eine bloße Fassade ist: Es ist nicht lediglich eines von vielen Elementen einer expressiven Ordnung der sozialen Interaktion als vielmehr eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Selbstdeutung im öffentlichen Austausch von Bild- und Selbstbildpräsentationen (Goffman 1986, S. 25). Deshalb muß das Image auf besondere Weise gepflegt und geschützt werden. Ist es nämlich bedroht oder wird die es tragende expressive Ordnung angezweifelt, dann kratzt dies nicht einfach an dem Firnis einer Maske {persona), sondern ein soziales Wappenschild wird zerstört und der innerste Schutzraum seines Trägers verletzt. Die von Goffman beschriebenen Interaktionsrituale, die strategischen und teilweise kooperativen Techniken des Eindrucksmanage174
ments und der Informationskontrolle, mildern die dauerhafte Störanfälligkeit und stete Gefährdung des Images ab. Mit den sozial anerkannten Darstellungsformen und ihren präformierten Körperbildern zeigen wir uns nicht nur an, in welchen erkennbaren, weil typisierten Handlungszusammenhängen wir uns miteinander befinden, sondern geben uns zugleich wechselseitige Deuningsanweisungen dafür, wer wir in sozialen Situationen sind, wie wir behandelt werden wollen und was wir voneinander erwarten können (vgl. Soeffner 2001a). Doch trotz aller die Deutung anleitenden, metakommunikativen Markierungen und trotz der ständigen Überprüfungen unseres Images an den Verhaltensäußerungen der anderen, können wir niemals sicher sein, ob jene Bildentwürfe, denen wir nachstreben, die wir imaginieren und in der Darstellung umzusetzen versuchen, auch mit den von den anderen wahrgenommenen und konstruierten Bildern übereinstimmen. Unser Streben nach Eindeutigkeit überschattet die »wesensmäßige Unsicherheit« (Plessner 2003b, S. 78), so zu wirken, wie wir sind oder sein wollen. Stets kann unser Körper als Auskunftsquelle von Botschaften dienen, die wir selbst gerade nicht verbreiten möchten, denn aus der wenngleich »begrenzten Undomestizierbarkeit des Körpers« (Hahn 2002, S. 51) entspringen auf unser >Inneres<, Eigentliches« und >Wahres< verweisende, es zumindest partiell >enthüllende<, auf das Image zurückwirkende, deshalb sozial relevante Deutungen.
5. Deutung und Typisierung Ein anschauliches Beispiel für die soziale Bedeutung der unbeabsichtigten, nicht zu kontrollierenden Details von Körperbildern im Fremdverstehen findet sich in Karl Mannheims Nachvollzug des Sinnverstehens in einer Interaktionssituation (Mannheim 1964, S. 105-108). In diesem Beispiel geht der Ich-Erzähler mit seinem Freund auf der Straße und wird Zeuge, wie dieser einem Bettler ein Almosen spendet. Auf der ersten von drei nur analytisch zu trennenden Schichten des Fremdverstehens »wird dieses durch optische Sinnesdaten vermittelte Geschehen zum Träger eines [...] in der soziologischen Sphäre beheimateten Sinns, den wir im Falle theoretischer Fixierung >soziale Hilfe« nennen«. Die Interpretation des Handlungssinnes verharrt je175
doch nicht auf dem bloßen Wiedererkennen von Vertrautem und auf dem In-Erinnerung-Rufen von bereits Gewußtem; sie beschränkt sich nicht auf das Abrufen grundlegender sozialer Typisierungen als dem Ausgangspunkt einer jeglichen Sinnkonstitution und des Fremdverstehens in sozialen Situationen. Denn »es ist stets möglich und auch wahrscheinlich, daß der Freund jenen objektiven Sinn >Hilfe< durch seine Gabe nicht nur realisiert hatte, um zu helfen, sondern um außerdem mir oder dem Bettler sein Mitleid kundzugeben. [...] Jetzt wird jene >Bewegung<, die schenkende Geste<, Trägerin nicht nur des objektiven Sinns >Hilfe<, sondern es lagert sich über diesen gleichsam eine zweite Sinnschicht: die des Ausdruckssinnes«, der vom Interpreten dem Handelnden unterlegte subjektiv gemeinte Handlungssinn« (Max Weber). Nun wird man glauben, so Mannheim weiter, daß mit dem Bezug auf die Innenwelt des Handelnden »die Interpretationsmöglichkeiten erschöpft: sind, aber unser Beispiel belehrt uns eines anderen. Es ist nämlich möglich, daß ich, der Verstehende, diesen gemeinten Ausdruckssinn mit dem objektiven miterfasse und zugleich in der Interpretation in einer ganz anderen Richtung fortfahre. Ich sehe nämlich plötzlich, die gegebenen Handlungszusammenhänge verfolgend, daß diese >milde Gabe< ein Akt der >Heuchelei< war. In diesem Falle kommt es mir gar nicht darauf an, was der Freund objektiv getan, geleistet hatte, auch nicht darauf, was er durch seine Tat ausdrücken >wollte<, sondern was durch seine Tat, auch von ihm unbeabsichtigt, sich für mich über ihn darin dokumentiert«. [...] Verharre ich in dieser interpretativen Einstellung, so bekommt jede seiner Regungen und Handlungen eine neue > Deutung« [... und] alles dient als Beleg für eine von mir vorgenommene Synopsis« (Kursivierungen durch die Verf.). Das »absichtlich trivial gewählte« Beispiel soll »zeigen, daß diese Methode der Erfassung geistigen Gehalten gegenüber stets angewandt wird und daß in der letzten Interpretation eine unerläßliche Art des Verstehens hervorgehoben ist« (Mannheim 1964, S. 109). Zwar verschweigt uns Mannheim auf welche »gegebenen Handlungszusammenhänge< sich die Interpretation des Dokumentsinns als der dritten Sinnschicht neben dem objektiven Sinn und dem Ausdruckssinn konkret stützt. Doch zwei Grundgedanken Mannheims sind zentral. Zum ersten hebt die Deutung auf die Erschließung auch von Details im Verhalten des anderen ab und beruht seine Typisierung letztlich auf der Einstimmung aller Einzelheiten zu einem Ganzen, auf 176
der Zusammenschließung jenes feingliedrigen Mit- und Gegeneinander der sinnlich wahrnehmbaren Zeichen zu einer »vollkommenen Einheit von Sinn« (Gadamer 1993, S. 62). Bei dieser interpretatorischen Figuration, in der sich verschiedene Anschauungsmomente zu einem einheitlichen Bild fugen, spielen nun gerade die Abweichungen von den gesellschaftlichen Körperstandards die entscheidende Rolle: Die spontanen, weil nicht gänzlich beherrschbaren, und die individuellen, weil in der Situation nicht vertretbaren Beimischungen des Handelns einer Person, welche »ebenso ihre Stärke als ihre Schwäche, ihr Gutes ebenso als ihr schlechtes verraten« (Plessner 2003b, S. 74). Zum zweiten ist für Mannheims Argumentation wesendich, daß sowohl der Ausdruckssinn wie auch der Dokumentsinn nur vermittelt gegeben sind und deshalb die Fremdtypisierung hauptsächlich auf einer subjektiven Deutungsleistung, auf einem >hineinverlegenden< und hinzufügenden«, schöpferischen Beitrag des Interpreten beruht, der »auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selber« gehört (Gadamer 1993, S. 109). Erst aus einer die Summe aller sinnlich wahrnehmbaren äußeren Eindrücke übersteigenden, kognitiven Auffüllung geht jenes geschlossene Sinngebilde hervor, über das ich den anderen vollends zu erkennen und zu verstehen meine.2 Abermals, nur in anderer Hinsicht, erweist sich mit der grundsätzlichen Produktivität der Interpretation die Phantasie als das >ganz eigentliche elementare Sozialorgan< und wird erneut zum >tragenden inneren Geftige der Gesellschaftern - und es offenbaren sich der imaginäre Anteil und das letzdich utopische Moment im Fremdverstehen. Im Deutungsprozeß werden aus der Vielzahl wahrnehmbarer körperlicher Bewegungen einigen wenigen, und zwar offenbar genau jenen vom Handelnden nicht beherrschbaren Momenten und persönlichem Anteilen im Ausdrucksverhalten - in Mannheims Beispiel vielleicht >dem verstohlenen Blick< oder einem -Zucken der Lippen<, insgesamt, jenem unscheinbaren und höchst flüchtigen aber bemerkenswert bedeutsamen >Etwas< in Gesicht, Haltung, Figur oder Ge2 Diese Interpretation - etwa die Typisierung des anderen als >Heuchler< - kann dann wiederum kommunikativ vermittelt und so unter Umständen auch intersubjektiv abgesichert werden; sie kann als >'abhebbarer Satz [...] kursieren wie eine Münze, und so kommt er ?u einem anderen, der sich über ihn wunden und fragt: ist das wahr?« (Gehlen 2004, S. 291) »77
ste — Sinngehalte unterlegt, von denen aus die Interpretation aller vorangegangenen, gleichzeitigen oder weiteren Regungen und Handlungen entweder bestätigt oder neu bewertet und von denen aus Rückschlüsse auf die eigendichen Absichten und die >wahre Innerlichkeit< der Person gezogen werden. In konkreten Interaktionssituationen erkennen, deuten und verstehen wir den anderen also weniger aus dem von uns seinem Handeln zugeschriebenen subjektiv gemeinten Sinn< als aus seinem Anblick. Genauer, aus der sinnhaften Verknüpfung von Details seiner Körperbilder, die je für sich als Hinweise genommen und dann zu einem geschlossenen Sinngebilde geformt werden, in welchem sich - wie das Beispiel Mannheims zeigt - objektive Formungen und zweckrationale Intentionen unauflöslich mit nicht kontrollierbaren Ausdrucksmomenten überkreuzen. Letztere erweisen sich noch in einer zweiten Hinsicht als geradezu konstitutive Elemente der Auslegung. Es war kein geringerer als Georg Simmel, der darauf aufmerksam machte, daß in Prozessen des Fremdverstehens neben Gestik und Körperhaltung die »unmittelbaren ästhetischen Qualitäten des Gesichts« eine wahrhaft >herausragende< Rolle spielen (Simmel 1995, S. 36). Weil auch Simmel die eigendiche Leistung des Sinnverstehens darin erkennt, daß es »die Vielheit der Weltelemente in sich zu Einheiten formt«, und weil, »je enger die Teile eines Zusammenhanges aufeinander hinweisen, je mehr lebendige Wechselwirkung ihr Außereinander in gegenseitige Abhängigkeit überfuhrt, desto geisterfüllter das Ganze erscheint«, ist für ihn der menschliche Körper das primäre Deutungsobjekt im Fremdverstehen. Am Körper erfahren die Ausdrucksmöglichkeiten eines Individuums ihre höchste Verdichtung und stehen deren einzelne Elemente in engster lebendiger Wechselwirkung zueinander. Innerhalb des körperlichen Ausdrucksensembles aber »besitzt das Gesicht das äußerste Maß dieser inneren Einheit«, denn nur in ihm fügt sich »eine so große Mannigfaltigkeit der Formen und Flächen in eine so unbedingte Einheit des Sinnes« zusammen (ebenda, S. 36f.). Indirekt beantwortet Simmel damit auch die von ihm nur unbefriedigend behandelte Frage, warum wir gerade dem Blick in die Augen des anderen eine so hohe Bedeutung in der Fremderfahrung beimessen: weshalb sich »im Auge die Leistung des Gesichts, die Seele zu spiegeln, aufgipfelt« (ebenda, S. 4of). Wie keine andere Sinnesmodalität ist das Auge in konkreten Interaktionssituationen zugleich Wahrnehmungsorgan und Deutungs178
objekt. Es ist das einzige menschliche Sinnesorgan, das sich im Abtastungs- und Beobachtungsvorgang selbst unaufhörlich bewegt, dabei unmittelbar, mit hoher Geschwindigkeit und Varietät, auf die von ihm erfaßten Reize sowie auf die durch die anderen Sinne vermittelten Empfindungen reagiert, das in diese Abläufe sogar sein näheres Umfeld wie Lider, Augenbrauen, Stirn usw. einbezieht und damit das Gesicht in Bewegung hält. Die in Face-to-face-Interaktionen nicht zuletzt durch die Verhaltensregeln von Ehrerbietung und Benehmen (Goffman 1986, S. 54-105) eingeforderte wechselseitige Zuwendung des Gesichts sowie das Aufnehmen und Halten von Blickkontakten legen es geradezu darauf an, sowohl die mit den Wahrnehmungsprozessen einhergehenden Regungen im Blick der anderen und ihre darin wenigstens für mich sich spiegelnden Reaktionen auf meine Person und mein Verhalten zu verfolgen und mit Deutungen zu belegen - worauf die soziale Typisierung sogar eines >ausdruckslosen< oder >unbewegten< Blickes hinweist - , wie auch sich selbst im >Augen-Blick< dem Lesen und deutenden Verstehen der anderen zu öffnen. Der ftlickkontakt der Interaktionspartner, die Synchronbewegung der Augen, bewirkt ebenso wie andere Gleichschaltungen von Bewegungen, Handlungen und Handlungselementen (Händeschütteln, Händehalten, Umarmungen, Tanzen, Küssen, Geschlechtsakt etc.) eine Erfahrung der Reduktion, wenn nicht gar der Aufhebung von Distanz und Differenz bis hin zum Eindruck der Verschmelzung. Aus der Erfahrung körperlicher Nähe oder gar von Berührungen und der Abstimmung und Kongruenz der Bewegungen sowie dem Einsatz aller Sinne, vor allem auch der Nahsinne, resultiert die wechselseitige Unterstellung von Unmittelbarkeit und Evidenz der Interaktionspartner - und schließlich die Selbsttäuschung des Allesverstehens in der Fremderfahrung. Der mit dem Körper und über das Gesicht - und in verdichtender Weise über den Blick - gegebenen Sichtbarkeit sowie der aus ihr entspringenden Typisierung und Fixierung kann sich - zumindest eingeschränkt - nur entziehen, wer den Blicken der anderen ausweicht, sich vor diesen abschirmt oder sie in vorgezeichnete Bahnen lenkt. Nur wer sich durch Posen, Masken und Hüllen >verkörpert<, sich durch Haltung, Kleidung, Make-up und Accessoires wie Sonnenbrillen etc. wenigstens zum Teil irrealisiert, verdeckt und unsichtbar macht, mildert die Unmittelbarkeit und »raubt dem Anderen etwas von der Möglichkeit, mich festzustellen« (Simmel 1992, S. 724). i79
Allein, mit der Offenheit, Sichtbarkeit und >Bildhaftigkeit< nach außen korrespondiert eine prinzipielle Verdecktheit und Unsichtbarkeit nach innen. Die Pose, insbesondere aber die Maske, der eigene Gesichtsausdruck und Blick, sind in Interaktionssituationen der Selbstwahrnehmung und damit der umfassenden Selbstkontrolle naturgemäß entzogen. Sie spiegeln sich nur in ihren Wirkungen, vor allem in den Blicken und den sie begleitenden mimischen Reaktionen der Interaktionspartner, und werden damit stets zu spät erfaßt, weshalb der einzelne unausweichlich gerade »durch sein Gesicht aus sich herausgesetzt und jeder Gegenreaktion ausgeliefert ist, bevor er noch durch Minenspiel sich schützen kann« (Plessner 2003a, S. 251).
6. Medialisierte Körper Uisere Ausführungen haben gezeigt, daß das Entwerfen, Darstellen und Deuten von Körperbildern in konkreten Interaktionssituationen in ein komplexes, dialektisches Verhältnis eingespannt ist, das in einer unauflöslichen Wechselwirkung menschliches Handeln und die Prozesse des Selbst- und Fremdverstehens, miteinander verbindet. Dieses Verhältnis läßt sich als eine Art Doppelaspekt des Handelns einerseits und des Deutens andererseits darstellen, das analycisch vereinfachend wiederum über zwei auseinanderstrebende Eischeinungs- und Erfahrungsformen als »Realitätstendenz« und »Illusionstendenz« (vgl. Plessner 2003b, S. 68f.) an seinen >Rändern< zwar umschrieben, in seiner Komplexität jedoch nicht vollends aufgelöst werden kann. Die Realitätstendenz, die Neigung zur Enthüllung und Offenlegung, zur Herstellung von Eindeutigkeit und Durchsichtigkeit, wird im Ausdruckshandeln begleitet von einer ebenso starken, jedoch ins Entgegengesetzte weisenden Tendenz zur Illusionierung und Abstandnahme, zur Verdeckung, Abdunkelung und Verfremdung, über die wir uns der fesdegenden Deutung verweigern. Doch die Wahrnehmung der anderen und das Deuten selbst sind von jenen beiden antagonistischen Strebungen durchzogen: »Die Realitätstendenz, die wissen will, wie der Mensch eigendich ist«, hebt darauf ab, den anderen zu enthüllen, ihn ajlansichtig und durchsichtig zu machen, sich ihm zu nähern, ihn zu >begreifen< und zu verstehen. Ist die Tendenz aber zu stark und unvermittelt, »verfahren wir wie 180
das Kind mit der Puppe«, das den Zauber bricht und zu tief danach bohrt, »was in den Dingen, in den Menschen, in all dem Aufregenden dieser fabelhaften Welt steckt«, so laufen wir Gefahr, dabei nicht mehr ans Licht zu befördern als »atomisiertes Sägemehl« (Plessner 2003 b, S.67). Das letzdich »in einer nie ausgleichbaren Bewegung« (ebenda, S. 68) schwebende Verhältnis aus Realitätstendenz und Illusionstendenz wird in der unmittelbaren zeidichen und räumlichen Gegenwart der Handelnden über ihre körpergebundenen Inszenierungsleistungen und interpretativen Zuschreibungen immer wieder interaktiv -ausgependelte Aus dem im gemeinschaftlichen Arbeitskonsensus der Interaktionspartner hergestellten Zwischenreich von Nähe und Ferne einerseits sowie dem Aufgehen in der Reproduktion des historisch Vorgefundenen und sozial Überlieferten und der Bewahrung von Einmaligkeit vor dem Hintergrund historischer Faktizität andererseits, entspringen die »Reize der seelischen Ferne« ebenso wie die »nach Antastung strebende!-..] Unantastbarkeit« einer Person (ebenda, S. 84). Im intersubjektiv geteilten, unwiederholbaren Hier und Jetzt, im kairös der Interaktionssituation, wird damit jene besondere Erfahrung möglich, die Walter Benjamin als »sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« beschreibt - die Aura (Benjamin 2000a, S. 57). Zwar exemplifiziert Benjamin die Aura in seinen bekannten Definitionen anhand einer Naturerfahrung3 und erörtert ihren Verlust am Kunstwerk, das aus seiner Einmaligkeit und seiner ursprünglich rituell-kultischen Verwendung herausgelöst und der massenhaften technischen Reproduktion zugeführt wird; die technische Reproduktion verändere die Funktion, Wahrnehmung und Erfahrung des Kunstwerks, die dann nicht mehr in ihrem »Kultwert«, sondern im bloßen »Ausstellungswert« liegen. Doch »die Entschälung des Gegenstandes aus der Hülle, die Zertrümmerung der Aura« (Benjamin 2000b, S. 15) erkennt er gleichfalls dort, wo menschliche Selbstdarstellung und soziale Wahrnehmung von der Unmittelbarkeit der Face-to-face-Situation in die mediale Vermitdung übergehen. Mit sei»An einem Sommerminag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen« (Benjamin 2.000a, S. 57, vgl. auch Benjamin 2000b, S. 15).
nem Erscheinen in den technischen Medien, in der Photographie und insbesondere im Film, kommt der Mensch »zum ersten Mal [...] in d e Lage zwar mit seiner gesamten lebendigen Person, aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden« (ebenda, S. 25). Den zunehmenden Verfall der Aura führt Benjamin auf die gesteigerte Realitätstendenz des modernen Massenmenschen zurück, der darauf aus ist, »die Dinge sich räumlich und menschlich näher zu bringen«, ihnen mit den Möglichkeiten der technischen Medien »ais nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden« (ebenda, S. 15). Wo die Malerei noch »eine nitürliche Distanz zum Gegebenen« wahrt (ebenda, S. 32) und die frühe Photographie »die Aura, die von Hause aus mit der Verdrängung des Dunkels durch lichtstarke Objektive aus dem Bilde genausc verdrängt wurde«, über den >Hauchkreis< ovaler Bildausschnitte und einen durch Retusche erzeugten »schummrigen Ton« wieder anzufangen versucht (Benjamin 2000a, S. 56), da dringen die Kameraleute und Cutter des Films gleich Chirurgen »tief ins Gewebe der Gegebenheit ein« (Benjamin 2000b, S. 32). Die Positionierungen und Bewegungen der Kameras, die Kadrierungen und Großaufnahmen, vor allem aber der Schnitt und die Montage, isolieren und verknüpfen, verlangsamen und beschleunigen ausgewählte Haltungen und Bewegungsmomente. Sie fixieren, vergrößern und betonen die flüchtigen und versteckten Details der Physiognomie, des Verhaltens und des >Outfits< einer Person und unterwerfen sie »optischen Tests« (ebenda, S. 24). Sie nehmen beurteilend Stellung zu den freiwilligen und unfreiwilligen Momenten im Körperausdruck des Menschen und bringen so für den Rezipienten, für das erfahrende, soziale Gegenüber als ein nun mediales Publikum, »völlig neue Strukturbildungen zum Vorschein« (ebenda, S. 36). Mit der zunehmenden »Erweiterung des Feldes des Testierbaren« verändert sich das Publikum dann abermals und wandelt sich vom erfahrenden Betrachter zum »Examinator«4 (ebenda, S. 24, Fn. 17). Einen vorläufigen Höhepunkt erreichen diese decouvrierenden und für den distanzierten Betrachter peinlichen - Techniken in den 4 Den >Examinator< 2eichnet aus, »daß die Lust am Schauen und Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht« (Benjamin 2000b, S. 33). 182
Showformaten vor allem der aktuellen Fernsehunterhaltung, bei denen die Protagonisten über eine im Medienformat bereits angelegte und durch die Moderatoren situativ forcierte Weise ihres >Kultwertes< benommen und auf ihren bloßen >Ausstellungswert< reduziert werden. In aberwitzigen, künstlich erzeugten Krisensituationen werden sie vorgeführt, müssen sich — auch und gerade in ihrer medialen Darstellungskompetenz - bewähren und sind dabei in ihren Mühen und mit ihren unmittelbaren Reaktionen nicht nur der examinierendem Beobachtung ausgesetzt, sondern auch der soziale Anerkennung oder Zurückweisung direkt nach sich ziehenden Be- und Aburteilung eines jüngst vermehrt über >Star<-Sein oder Nicht-Sein befindenden »Exekutanten«. Doch gerade eine Gesellschaft, in der immer mehr soziale Wirklichkeit durch die Medien dargestellt und vermittelt wird, kann den Verlust der Einmaligkeit ihrer Darsteller und die Aufhebung der sie schützenden Distanz nicht in allen Bereichen des Sozialen hinnehmen (vgl. Soeffner 2001b). Vielmehr können die Handelnden das soziale Akzeptanz generierende Verhältnis aus Nähe und Distanz, Einmaligkeit und Reproduktion dort in eine gelingende Balance bringen, wo sie die medialen Gegebenheiten und Möglichkeiten fiir eine optimierte Selbstdarstellung einsetzen. Hierzu gleichen sie ihre Körperbilder den Bedingungen und Erfordernissen der audiovisuellen Aufzeichnung nicht nur an, sondern können mit der voranschreitenden Entwicklung und Verbreitung von Aufzeichnungs-, Nachbearbeitungs- und Simulationstechniken auch gänzlich neue, gar imaginäre und illusionäre* — von einzelnen >Bewegungsphantasmen< über >Gesamtversetzungen< bis hin zu den kompletten >Images< von Selbst- und Weltbildern gereichende- Strukturbildungen entwerfen, die sie der allgemeinen Wahrnehmung und Deutung zuführen. In historischer Perspektive zeigt sich die neue Wechselwirkung zwischen audiovisuellem Medium und Darsteller zuerst dort, wo Benjamin mit dem Faschismus die »Ästhetisierung der Politik« aufkeimen sieht (Benjamin 2000b, S. 42ff.). In den filmischen Inszenierungen der Charismatiker Mussolini und Hitler dokumentiert sich zum ersten Mal das intentionale, wechselseitige Erproben, Einüben und allmähliche - in der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Mussolini und seinem Kameramann Vittorio Abbati sowie zwischen Hider und Leni Riefenstahl schließlich bis zur Perfektion getriebene - Einschleifen neuer medialer Inszenierungsweisen und der die183
sen veränderten Medienbildern angepaßten, medialisierten Körperbilder (vgl. Raab/Tänzler 1999; Raab u.a. 2001).5 Wo aber medial sozialisierte Handelnde mit den jüngsten Innovationen und Apparaturen (Videokameras, Webcams, Kamera- und Videohandys, Computerschnitt) die medialen Aufzeichnungs- und Nachbearbeitungstechniken zusehends selbst in den Griff nehmen und im sozialen Alltag für ihre >panoramatischen< und >kubistischen< Selbstbildkonstruktionen einsetzen, da gehen Darsteller, Körper und Medium neue Symbiosen des Ausdrucks ein, werden neue Formen des Selbst- und Fremdverstehens möglich, und es stellen sich neue Deutungsanforderungen sowohl für das Verstehen im Alltag wie auch fiir die sozialwissenschaftliche Ausdeutung.
7. Schluß Als erster und letzter Ort der Natur, des Ich und des Sozialen, ist der menschliche Körper in Bewegung. Die in der conditio humana begründete »konstitutive Gleichgewichtslosigkeit« des Menschen setzt die anthropologische Disposition zur Ausbildung einer >zweiten Natur<: den endastenden, >befreienden< und zugleich stabilisierenden Institutionen der Kultur. Doch die von anderen übernommenen und/ oder selbstgeschaffenen Ordnungskonstruktionen bewirken einen nur labilen, weil vergänglichen Gleichgewichtszustand: sie »gerinnen zu Gestalten eigenen Gewichts« und werden, indem sie »den Individuen gegenüber etwas wie eine Selbstmacht gewinnen« und ihn dann in seinen Möglichkeiten und Freiheiten beschneiden, zu einer Belastung, was eine erneute, nach Ausgleich strebende Unruhelage zur Folge hat (Gehlen 1986, S. 104). Die nur im Sprung von Augenblick zu Augenblick punktuell »geeinte Zwienatur« (Goethe: Faust, Zweiter Teil, Fünfter Akt) hat die Balance ihres von Natur aus instabilen Gleichgewichts zur unendlichen Aufgabe: sie muß ihre »natürliche Künstlichkeit« (Plessner 2003c, S. 383-396) stets dadurch neu vollziehen, daß sie die >eigenen< Symbolsysteme, Sinnstrukturen und Deutungsmuster entsprechend der durch sie selbst in Bewegung gehaltenen Verhältnisse aufbricht und verändert oder abwirft und er5 Die Inszenierung politischen Handelns in den Medien erfährt in demokratischen Herrschaftsformen mit ihren anderen Politikerrypen und jenseits von Indoktrination und Propaganda eine Neuausprägung (vgl. Raab/Tänzler 2002). 184
setzt. Für das Handeln und das Deuten im Alltag ebenso wie für das methodisch kontrollierte sozialwissenschaftliche Verstehen bleibt die >Feststellung< des menschlichen Körpers deshalb eine >künstliche< und nur >bis auf weiteres gültige«. Wenn es aber keine abschließende, ahistorische Gesellschaftstheorie geben kann, dann muß sich die Aufmerksamkeit der soziales Handeln deutenden und ursächlich erklärenden, also historisch verfahrenden Sozial Wissenschaften auf die Beschreibung und Untersuchung der sich im »ewig fortschreitenden Fluß der Kultur« (Weber 1973, S. 206) verändernden menschlichen Wahrnehmungs-, Ausdrucks-, Verstehens- und Wissensformen richten. Gerade die zuletzt von uns angesprochene, voranschreitende und dabei sich selbst dokumentierende Medialisierung der Körperbilder eröffnet dem sozial wissenschaftlichen Blick neue Horizonte und Perspektiven auf das Verhältnis von Körper und Wissen in sogenannten >postmodernen< Gesellschaften. Die erst in den Anfängen stehende Nutzung der neuen audiovisuellen Aufzeichnungstechniken für die sozialwissenschaftliche Datenproduktion, vor allem aber die methodologisch wie methodisch in weiten Teilen noch zu diskutierenden und zu erarbeitenden Analyseverfahren für mediale oder medial eingefangene Selbstinszenierungen, versprechen - zumindest - Aufschluß zu geben: - über die Ausbildung, Vermittlung und Konkurrenz gesellschaftlicher Sinnentwürfe; - über die Prozesse der Erprobung, des Einschleifens und der Verfestigung, der Veränderung und Ablösung unterschiedlicher ästhetischer Darstellungs- und Kommunikationsformen; - und damit nicht zuletzt, über die Rückwirkungen der medialen Konstruktionen auf das unlöslich an den Körper gebundene menschliche Wahrnehmen, Darstellen und Deuten, Wissen und Handeln.
Literatur Alkemeyer, Thomas/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.) (2003): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz. Beer, Bettina (2002): Körperkonzepte, innerethnische Beziehungen, Rassismustheorien. Berlin. 185
Benjamin, Walter (2000a [1931]): Kleine Geschichte der Photographie, in: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main, 45-64. Benjamin, Walter (2000 b [1935/36]): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main, 7-44. Benthien, Claudia/Christian Wulf (Hg.) (2001): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg. Berger, Peter L./Thomas Luc lernann (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main. Coupland, Justine/Richard Gwyn (Hg.) (2003): Discours, the Body, and Identity. Basingstoke. Csordas, Thomas J. (1999): The Body's Career in Anthropology, in: Anthropological Theory Today 1, 172-205. Douglas, Mary: (1973): Natural Symbols. New York. Fischer-Lichte, Erika (2001): Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Hörn/Matthias Warstat (Hg.), Verkörperung. Tübingen/Basel, 11-25. Gadamer, Hans-Georg (2i993): Wahrheit und Methode, Bd. II. Tübingen. Gehlen, Arnold (1986): Mensch und Institutionen, in: Arnold Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg, I O I - I I I .
Gehlen, Arnold (142004 [1940]): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden. Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main. Goffman, Erving (1969): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München. Goffman, Erving (1986): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main. Hahn, Alois (2002): Absichdiche Unabsichdichkeit, in: Sozialer Sinn 1, 3757Hahn, Kornelia/Michael Meuser (Hg.) (2002): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz. Kamper, Dietmar/Christian Wulf (Hg.) (1989): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main. Kantorowicz, Ernst H. (1990 [1957]): Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München. Kaufmann, Jean-Claude (1996): Frauenkörper - Männerblicke. Konstanz. 186
Klein, Gabriele (2001): Der Körper als Erfindung, in: Gero von Randow (Hg.), Wieviel Körper braucht der Mensch? Standpunkte zur Debatte. Hamburg, 54-62. Knoblauch, Hubert (2002): Die gesellschaftliche Konstruktion von Körper und Geschlecht. Oder: was die Soziologie des Körpers von den Transsexuellen lernen kann, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz, 117-135.
Körner, Sven (2002): Der Körper, sein >Boom<, die Theorie(n). Anthropologische Dimensionen zeitgenössischer Körperkonjunktur. Berlin. Koppetsch, Cornelia (Hg.) (2000): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz. Lindemann, Gesa (1993): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt am Main. Mannheim, Karl (1964 [1921]): Beiträge zu einer Theorie der Weltanschauungsinterpretation, in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Neuwied/Berlin, 9i-«54Mauss, Marcel (1975 [i935l): Die Techniken des Körpers, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, 2 Bände. München, 199-220. Mead, George Herbert (1973 [1938]): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt am Main. Netdeton, Sarah/Jonathan Watson (Hg.) (1998): The Body in Everyday Life. London/New York. O'Neill, John (1985): Five Bodies. The Shape of Modern Society. Ithaca. Plessner, Helmuth (2003 a [1941): Lachen und Weinen, in: Helmuth Plessner, Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Frankfurt am Main, 201-387. Plessner, Helmuth (2003 b [1924]): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V. Frankfurt am Main, 7-133Plessner, Helmuth (2003 c [1928]): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV. Frankfurt am Main. Popper, Karl R. (2003 [1972]): Bemerkungen eines Realisten über das LeibSeele-Problem, in: Karl R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München, 93-mRaab, Jürgen (2001): Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung. Konstanz. Raab, Jürgen/Manfred Grunert/Sylvia Lustig (2001): Der Körper als Darstellungsmittel. Die theatrale Inszenierung von Politik am Beispiel Benito Mussolinis, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Marthias Warstat (Hg.), Verkörperung. Tübingen/Basel, 171-198. 187
Raab, Jürgen/Dirk Tänzler (1999): Charisma der Macht und charismatische Herrschaft. Zur medialen Präsentation Mussolinis und Hitlers, in: Anne Honer/Ronald Kurt/Jo Reichertz (Hg.), Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz, 59-77. Raab, Jürgen/Dirk Tänzler (1002): Politik im/als Clip. Zur soziokulturellen Funktion politischer Werbespots, in: Herbert Willems (Hg.), Die Werbung der Gesellschaft. Wiesbaden, 217-245. Scheler, Max ('-2002 [1928]): Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt. Scheper-Huges, Nancy/Margaret Lock (1987): The Mindful Body. A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quaterly 1, 6-41. Schütz, Alfred/Thomas Luckmann (2003 [1979/1984]): Strukturen der Lebenswelt. Konstanz. Sennett, Richard (1997): Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der wesdichen Zivilisation. Frankfurt am Main. Simmel, Georg (1992 [1908]): Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main, 722-742. Simmel, Georg (1995 [1901]): Die ästhetische Bedeutung des Gesichts, in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1. Frankfurt am Main, 36-42. Soeffner, Hans-Georg (2001a): Stile des Lebens. Ästhetische Gegenentwürfe zur Alltagspragmatik, in: Jörg Huber (Hg.), Kultur-Analysen. Interventionen 10. Zürich, 79-112. Soeffner, Hans-Georg (2001b): Authentizitätsfallen und mediaJe Verspiegelungen. Inszenierungen im 20. Jahrhundert, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Symposiumsband Theatralität und die Krisen der Repräsentation«. Stuttgart, 165-176. Virilio, Paul (1994): Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München/Wien. Weber, Max (1973 [1904]): Die >Objektivität< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, 146-214.
Zygmunt Bauman Politischer Körper und Staatskörper in derflüssig-modernenKonsumentengesellschafi: »Wir können«, schrieb Bryan Turner (1992, S. 16) in Anknüpfung an die Erkenntnis von Oliver Sacks (1981), »den Körper als eine Potentialität auffassen, die von der Kultur entwickelt und in sozialen Beziehungen entfaltet wird.« Das ist eine Aussage von universeller Gültigkeit; sie soll gelten und gilt fiir alle Kulturen und alle Gesellschaften. In unserer flüssig-modernen Kultur und flüssig-modernen Gesellschaft hat die »Entwicklung« und »Entfaltung« des »Körpers als einer Potentialität<- jedoch eine neue Wendung genommen, die, so Chris Shilling, aus der Konvergenz zweier scheinbar widersprüchlicher Tendenzen resultiert: »Wir haben heute die Mittel, um ein beispielloses Maß an Kontrolle über unseren Körper auszuüben, zugleich leben wir aber in einer Zeit, die unser Wissen darüber, was Körper sind und wie wir sie kontrollieren sollten, radikal in Zweifel gezogen hat« (Shilling 1993, S. 3). Dies wiederum ist eine Aussage von einer scheinbar offenkundigen Wahrheit, die sich von selbst versteht und durch alltägliche, allgegenwärtige, in der Tat aufdringliche, ja sogar unverschämte Hinweise zusätzliche Glaubwürdigkeit erhält. Der Konsens oder nahezu vollständige Konsens, auf dem die scheinbare Richtigkeit der Aussage beruht, sollte uns warnen, uns stutzig machen und zu einer eingehenden Nachprüfung veranlassen. Eine dem Konsens nahekommende Zustimmung finden Ansichten in der Regel nur dann, wenn die Zustimmung vom Wahrheitstest gelöst und einem Diskurs überantwortet wurde, der sie von den Testergebnissen unabhängig macht. Aber sind wir tatsächlich in der Lage, unsere Körper gründlicher zu kontrollieren als je zuvor, oder ist es nicht vielmehr so, daß die Kontrolle über den Körper, nachdem sie uns als eine nicht abzuschüttelnde und nicht übertragbare Pflichtaufgabe aufgenötigt wurde, heute unter unseren Sorgen eine größere Bedeutung einnimmt als je zuvor und mehr denn je unsere Kraft verschlingt? Und trifft es wirklich zu, daß wir heute in stärkerem Maße als früher im Ungewissen darüber sind, »was unsere Körper sind« und »wie wir sie kontrollieren sollten«, so wie wir uns der Kriterien, nach denen der Zustand unse189
rer Körper zu bewerten ist, und der Schritte, die ergriffen werden müssen, um sie mit dem, »was sie sein sollten«, in Übereinstimmung zu bringen, nicht sicher sind? Um die Frage noch ein wenig zuzuspitzen: Hat die neue Situation den individuellen Freiheitsspielraum wirklich erweitert, indem sie vor »uns«, und zwar jedem einzelnen von »uns«, ein breiteres Spektrum von Wahlmöglichkeiten eröffnete und die Bindungen schwächte, in denen der Körper durch soziale Konvention festgehalten wurde - oder scheint das nur so, weil die alten Bindungen durch brandneue, aber nicht minder bedrückende ersetzt wurden? Ist der Eindruck einer erweiterten Freiheit vielleicht nur ein äußerer Schein über einer eigentlich nur neuen Form von Notwendigkeit? Sind die ständigen, fast nie endgültigen und niemals unwiderruflichen Entscheidungen ebenso wie die fortgesetzte Revision und Verwerfung der bereits getroffenen Entscheidungen und die Ersetzung ihrer Folgen durch andere Entscheidungen nicht obligatorisch, unvermeidbar geworden, dürfen sie daher nicht länger vernachlässigt oder gar verweigert werden? Kurz, wie ist bei dem Recht/der Pflicht zur individuellen Kontrolle über individuelle Körper das Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit? Giorgio Agamben (1998) hat vor kurzem eine alte, oft erinnerte, letzthin aber selten benutzte Unterscheidung wieder in die politische Theorie eingeführt, nämlich die zwischen zog (»die allen Tieren gemeinsame, schlichte Tatsache, zu leben«; der bloße, nicht zu einem sozialen Wesen verwandelte Körper) und bios (»die einem Individuum oder einer Gruppe angemessene Lebensweise«; der Körper mit allen gesellschaftlichen Attributen). Der letztere Begriff (in seinen scheinbaren englischen und deutschen Entsprechungen »life« bzw. »Leben« aufgeweicht und unscharf) bezog sich auf ein spezifisch und ausschließlich menschliches Phänomen, das die Menschen von allen übrigen Lebewesen abhob. Nach Aristoteles (den Agamben ausgiebig zitiert und in dessen Begrifflichkeit er seine eigene Sicht davon formuliert, wie bei der Konstruktion und Erhaltung politischer Institutionen im allgemeinen und des Staates im besonderen der Körper gebraucht und mißbraucht wird) sind die Menschen »für das Leben geboren, doch existieren sie eigentlich für das gute Leben« (Hervorhebung durch mich - Z. B.) - und diese Großtat, zoc> also den bloßen Umstand, am Leben zu sein, auf die Ebene des bios zu heben, also die Ebene der Pflicht, des Rechts und der Kunst, richtigxu leben (also 190
auf die Weise, wie Menschen leben sollten und leben dürfen), ist eine Leistung und das konstitutive Merkmal der polis (ein Begriff, der zur Abwechslung eine anderen Sprachen fremde Inklusion verkörperte und ungeteilt die Begriffe der »Gesellschaft«, also des Zusammenlebens und Interagierens von Menschen, und des »Staates«, also den eines juridisch-institutionellen Rahmens, in dem die Fortexistenz der »Gesellschaft« als gegebene, geschützte und überwachte Form enthalten ist, in sich vereinte). Die polis wrird konstituiert und fortwährend reproduziert durch die Verwandlung von zof in bios; genauer gesagt, die Konstitution einer polis und die Hebung von zo$ auf die Ebene des bios sind zwei Arten, wie die Artikulation menschlichen Zusammenlebens gesehen und erzählt werden kann. Dieser Prozeß besteht, grob gesagt, in der Einordnung des ersteren Lebenszustandes in den letzteren und in der Marginalisierung, Ausschließung oder Vernichtung der Überbleibsel des ersteren, die aus dem einen oder anderen Grund verworfen wurden oder denen versagt wurde, in dieser Weise assimiliert und einverleibt zu werden. In Agambens auf das alte römische Recht zurückgreifender Ausdrucksweise sind solche Überbleibsel homini sacri, Menschen, die »allein durch ihren Ausschluß in die polis einbezogen« werden, die man außerhalb des Bereichs des Rechts und des juridisch-instirutionellen Rahmens gelassen und dadurch jener Bedeutung beraubt hat, die allein die polis dadurch zu verleihen vermag, daß sie Lebewesen auf die Ebene des bios hebt. In Agambens Theorie bilden das Vorrecht, die Grenze zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« der Rechtsordnung zu zielen, und die Fähigkeit, potentielle Nutznießer des bios von dem »Innerhalb« auszunehmen und sie in die subhumane oder nur potentiell lumane »Unterwelt« des zog zu verbannen, das Wesen, die Defini:ionsmacht, das sine qua non aller Souveränität. Souverän (hier folgt Vgamben Carl Schmitt [1985]) ist, »wer über den Ausnahmezustand mtscheidet«. Das gilt für jeden Souverän, ungeachtet der Verschieienheit oder gar des scharfen Gegensatzes der Formen, welche die Staaten, die Souveränität über den sich mit der Gesellschaft überchneidenden Bereich beanspruchen, annehmen mögen. Die Universalität dieses Merkmals der souveränen Macht erklärt die ansonsten unverständliche Schnelligkeit, mit der parlamentariche Demokratien des 20. Jahrhunderts zu totalitären Staaten und nit der die totalitären Staaten dieses Jahrhunderts fast unbehindert in 191
parlamentarische Demokratien verwandelt werden konnten« (Agamben 1998, S. 122). In der Häufigkeit und dem Eifer, mit dem sie zu ihrem Vorrecht der Aussonderung greifen, und hinsichtlich ihres Willens, das Schicksal der Ausgesonderten zu besiegeln, mögen sich politische Regime unterscheiden, doch das Vorrecht als solches ist totalitären und demokratischen Mächten gemeinsam. Die Waffe der Aussonderung ist die äußerste Sanktion, mit der jede Macht, die Souveränität beansprucht, drohen muß. Und es ist die ständige Möglichkeit, ausgesondert zu werden, die jeglicher »Normalität«, wie sie von souveränen Mächten gestaltet und überwacht wird, Durchsetzungskraft verleiht. »Aussonderung« bedeutet letztlich die Weigerung, das Gesetz anzuwenden, während das Gesetz nur dann herrschen kann, wenn es ergänzt wird durch das Recht, die Grenze seiner Anwendung zu ziehen. Aussonderungen können (falls sie einer ausdrücklichen ratio bedürfen) legitimiert werden durch die offene oder verborgene Nichtbereitschaft der Ausgesonderten, das bios in der angebotenen Form (oder den angebotenen Formen) anzunehmen, oder durch ihre wirkliche oder vermeintliche Unfähigkeit, diesen Formen gemäß zu leben, und damit durch die Inhaltslosigkeit ihrer Erklärungen, dazu bereit zu sein. Oder sie können erklärt und gerechtfertigt werden mit der Behauptung, die Ausgesonderten oder die für die Aussonderung Vorgesehenen seien untauglich für die Art von Leben, welche die anerkannten und empfohlenen Formen des bios zulassen oder tolerieren würden. Doch ungeachtet der Erklärung ist es eine List oder eine Haarspalterei, den Objekten der Aussonderung die »Urheberschaft« (also die Rolle des Autors ebenso wie die des Akteurs) zuzuschreiben. Letzlich ist es der Souverän, der das Recht ausübt, die Aussonderung zu vollziehen oder zu unterlassen. Das Recht zu herrschen kann nur ausgeübt werden im Schatten des Rechts zur Aussonderung. Der Begriff des homo sacer steht für den Menschen, der auf seinen Körper reduziert ist: er ist gesellschafdich werdos, bedeutungslos und vollkommen überflüssig. Eine solche Reduktion bringt den Körper in eine Lage äußerster Verletzlichkeit — er ist nicht mehr (oder noch nicht) Träger von »Menschenrechten« und daher völlig ungeschützt. Da er subhuman oder bestenfalls nur protohuman ist, gilt für ihn auch nicht das Gebot der »Unantastbarkeit menschlichen Lebens«. Der Tod des homo sacer ist ebenso bedeutungslos wie sein Le192
ben; sein gesellschaftlich nackter Körper darf ohne Furcht vor Strafe getötet werden - und weil diese Tötung kein Gesetz verletzt und keinen Wert preisgibt, entbehrt sie göttlicher Bedeutung; als religiöses Opfer ist die Tötung eines homo sacer werdos. Homo sacer, der angehende oder ehemalige, noch unverwirklichte oder bereits degradierte Träger und Praktiker des biosy ist ein auf die subhumane Stufe der vita ntida, des nackten Lebens reduziertes Wesen, ein aller gesellschaftlich produzierten und gesellschaftlich verteilten Bekleidung beraubter Körper. Es steht in der Befugnis des Staates/der Gesellschaft, seine gesellschaftliche Nacktheit zu bedecken, die gesellschaftlich produzierte, gesellschaftlich anerkannte und gesellschaftlich erkennbare Bekleidung bereitzustellen, die es erlauben würde, ihn wieder in die/w/w, das Reich des bios, das Habitat völlig humanisierter Körper und damit von richtigen Menschen, aufzunehmen oder ihn in perpetuo »nackt« zu lassen, im rechtsfreien Aus. Diese Befugnis zur Inklusion und Exklusion war wie die Souveränität des Staates fast die gesamte Neuzeit hindurch territorial (und das bleibt sie, wenn auch in zunehmend phantomhafter oder, mit der Formulierung von Ulrich Beck, in »Zombie«-Form). Im Anschluß an diese Territorialität mußten die Körper, die den von den Grenzen der staatlichen Souveränität umschriebenen Raum einnahmen oder betraten oder betreten wollten, ihre Aufnahme in das bios von den juridisch-insututionellen Autoritäten des Reiches bestätigen lassen. Umgekehrt lag es in der Befugnis des souveränen Staates, die Bestätigung zu versagen oder zurückzunehmen. Das Recht, den Anspruch auf bios zu gewähren oder zu versagen, war das Monopol des Territorialstaats. Es wurde ergänzt durch das eifersüchtig gehütete und unnachsichtig ausgeübte Recht der Staatsorgane, jeden Anspruch, der sich auf etwas anderes als die juridischinstitutionellen Beschlüsse des Territorialstaats berief, aufzuheben, zu widerrufen und für null und nichtig zu erklären, sowie durch eine apriorische Ungültigkeit aller Gewährungen von £/ar-Ansprüchen, die der expliziten oder impliziten, direkten oder indirekten Bestätigung durch die Autorität des Staates entbehrten. Diese zusätzliche Prärogative des modernen Staates bewirkte, daß die Bereiche von Staat und Gesellschaft kongruent oder nahezu kongruent wurden oder daß ihre Kongruenz behauptet oder erstrebt oder erzwungen wurde: die umfassende, vollständige und ausnahmslose Verschmelzung beider war das telos der Kohabitation von Staat und Gesellschaft. Eine 193
solche Kongruenz, ob praktisch erreicht oder lediglich intendiert, lag der Gewohnheit zugrunde, von »Staat« (im Sinne des juridisch-institutionellen Rahmens der Interaktionen) und »Gesellschaft« (oder »Nation« - beides bezogen auf die integrierte Gesamtheit der Einwohner/Bürger) in einem Atemzug zu sprechen. Die Praxis schien die Gewohnheit zu rechtfertigen - vielleicht noch nicht im gegenwärtigen Zustand dieser Praxis, aber zumindest in ihrer deklarierten, versprochenen oder aus ihren gegenwärtigen Tendenzen extrapolierten künftigen Gestalt. Eine Folge dieser Gewohnheit war die Reduktion des Begriffs der »Souveränität« auf die Staatspolitik und die Beschränkung des Phänomens der Aussonderung, dieser höchsten Prärogative des Souveräns, auf die Rechtsakte und Maßnahmen des Staates. Die Diskussion über Aussonderung vollzog sich lange Zeit im Rahmen der Analyse des juridisch-institutionellen Rahmens und wurde unter die Rubrik »Staatenlosigkeit* subsumiert, und zwar in dem Sinne, daß die ausgesonderten Personen, wie es bei Hannah Arendt heißt, »den Schutz ihrer Staaten verloren hatten« (1986, S. 279); »als den Menschen ihr eigener Staat fehlte und sie auf ihre minimalen Rechte zurückgreifen mußten, war keine Autorität da, sie zu schützen, und keine Institution war bereit, sich für sie zu verbürgen« (ibid., S. 292). Hannah Arendt erinnert an die frühe, wahrhaft prophetische Warnung Edmund Burkes (17901), die größte Gefahr für die Humanität sei die abstrakte Nacktheit, »nichts als ein Mensch zu sein«. Menschenrechte, so Burke, seien eine Abstraktion, und von der Abstraktion »Menschenrechte« könnten Menschen wenig Schutz erwarten, wenn sie nicht gefüllt sei mit dem Fleisch der Rechte des Engländers oder Franzosen. »Die Welt fand nichts Heiliges an der abstrakten Nacktheit des Menschseins«, so faßt Arendt die Erfahrung der zwei Jahrhunderte nach Burkes Verdikt zusammen. »Die angeblich unveräußerlichen Rechte des Menschen erwiesen sich als nicht durchsetzbar [...] wenn Menschen auftauchten, die nicht mehr Bürger eines souveränen Staates waren.« (Arendt 1986, S. 300; 293) Menschen, die mit nichts anderem als »Menschenrechten« ausgestattet waren - mit keinen sonstigen Rechten, die sie an einen Ort banden - , waren in all den Jahren tatsächlich nirgendwo zu finden und praktisch unvorstellbar; auf der Grundlage der vita nuda, des 1 Zitiert von Arendt nach der Everyman's Library-Ausgabe, herausgegeben von E.J. Payne. 194
proto- oder posthumanen, mit den Tieren geteilten Zustands können Menschenrechte nicht errichtet werden. Es bedurfte offensichdich einer gesellschaftlichen, allzu gesellschaftlichen potenza, puissance oder Macht,1 um die Menschlichkeit von Menschen zu bestätigen (oder wie Agamben sagen würde, das bios der Träger »bloß menschlicher* Rechte zu bestätigen oder vielleicht sogar hervorzuzaubern). Und während der ganzen Moderne bestand eine solche »Potenz« zufällig in der Potenz des Staates, zu selektieren, eine Grenze zu ziehen zwischen dem Humanen und dem Inhumanen, einzuschließen und auszuschließen, aufzunehmen und die Aufnahme zu verhindern oder zu versagen. Die reine, ungetrübte Menschlichkeit erwies sich als der Zustand der Rechdosigkeit, der völligen Abwesenheit von Rechten. Oder besser: eine »Menschlichkeit« ohne jede nähere Bestimmung konnte vom modernen Recht nur als Fall eines homo sacer gedeutet werden, einer Ausschließung von göttlichen und menschlichen Rechten. Auf einem in souveräne Territorialstaaten eingeteilten Planeten ist es demjenigen, der keine Heimat hat oder die seine verliert, praktisch unmöglich, eine andere zu finden: der Untermieter ist praktisch nicht in der Lage, sich nach anderen Wohnungen umzusehen (die Europäische Union möchte diesen Zustand zum Gesetz erheben: einem Flüchding, dem in einem Mitgliedsstaat das Asyl verwehrt wurde, soll die Zuflucht in allen anderen versagt werden). Die Heimadosen auf dem Planeten der Heimatländer, die Staatenlosen auf der in staatlich-souveräne Territorien aufgeteilten Erde, die »Nichtzugehörigen« in der Welt staatlich ausgestellter Pässe und Visa wären der Ausschuß und der Abfall der Geschichte - der »Menschenmüll« der ordnungschaffenden Industrie. Um es kurz zu machen: Das »Entwickeln eines gesellschaftlich gültigen Körpers« oder die Umwandlung des lebenden Körpers in einen menschlichen Körper (beziehungsweise der Widerstand dagegen) war während des längsten Teils der Moderne ein Monopol, das in einigen Fällen erreicht und ausgeübt wurde, um das sich der Staatskörper aber in allen Fällen bemühte und kämpfte. Dieses Monopol war ein integraler Bestandteil des Konzepts der Souveränität und das Rückgrat aller Souveränitätsausübung. Nun bin ich aber der Meinung, daß die »flüssige Moderne« eine 2 Siehe die Anmerkung des Übersetzers in Agamben (2000, S. 14}). 195
Zeit des Verfalls und der beschleunigten Erosion dieses Monopols und eines allmählichen, aber unaufhaltsamen Rückzugs des Staatskörpers von dem Bestreben ist, es zu bewahren oder wiederzuerlangen. Die Befugnis zur Aussonderung wird zwar nach wie vor unentwegt verteidigt (schon um auch nur einen Rest von Souveränität zu bewahren, so rudimentär sie auch geworden sein oder möglicherweise werden mag), doch viele ihrer Elemente, wie etwa die Grenzziehung zwischen dem »nackten Leben« und dem bios und die Auswahl des Bestandes an »gesellschaftlichen Bekleidungen«, durch die sich letzteres vom ersteren abhebt, sind nicht mehr die ausschließliche Domäne der »real existierenden« politischen Institutionen und werden auch nicht mehr von ihnen beansprucht. Dieser schicksalhafte Abschied [vom einstigen Monopol - d.U.] bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, daß die Individuen - denen jetzt die individuelle Verantwortung für die meisten Operationen aufgebürdet wurde, die am menschlichen Körper vorgenommen werden müssen, um ihm den Weg vom zog zum bios zu ebnen, und die daher gezwungen sind, ihre Aufmerksamkeit, Zeit und Kraft größtenteils dem Bereich der Lebenspolitik zu widmen, in den eine Vielzahl der einst vom Staatskörper wahrgenommenen Funktionen verschoben oder abgegeben worden ist - nun »die Mittel« oder auch die Rechte erlangt hätten, um »ein beispielloses Maß an Kontrolle« über ihre Körper auszuüben. Des weiteren bin ich der Meinung, daß sich sowohl die Art und Weise der »gesellschaftlichen Regulierung« des Körpers als auch der Zweck dieser Regulierung und die Wirkungen, an denen der Erfolg oder das Mißlingen der Regulierung abgelesen wird, durch den Übergang von der »Produzentengesellschafi« zur »Konsumentengesellscha entscheidend geändert haben. Die treibenden Kräfte der Gestaltung und Überwachung der permanenten Produktion gesellschaftlich anerkannter oder gesellschaftlich geduldeter Körper haben sich unter den Bedingungen der flüssigen Moderne vom Staatskörper zum Markt verlagert. Die Praxis der Grenzziehung zwischen zog und biosy wenn nicht das Recht dazu, und wenn nicht das Recht zur Aussonderung, dann zumindest die Befugnis zur Vorauswahl der Menschen, die für die Aussonderung und Herabstufung in die »Unterklasse« der homini sacri in Frage kommen, ist an die Markticräfte abgetreten oder von ihnen übernommen worden, an Kräfte, die notorisch »dereguliert«, sprunghaft, bar jeder langfristigen Logik und daher im großen und ganzen unvorher196
sagbar und unkontrollierbar sind. Vor allem durch die letztgenannte Veränderung wurde »unser Wissen darüber, was Körper sind und wie wir sie kontrollieren sollten, radikal in Zweifel gezogen«; sie ist zu einer der Hauptursachen der allgegenwärtigen Verunsicherung geworden, welche die flüssige Moderne kennzeichnet. Arbeit (genauer, die innerhalb der Arbeitsteilung eingenommene und im Produktionsprozeß ausgeübte Rolle) war in den zwei Jahrhunderten der »soliden«, »schweren« oder »eisernen« Moderne der Dreh- und Angelpunkt, der die sozialen Identitäten, die gesellschaftliche Integration und die systemische Reproduktion zu einem System zusammenfaßte. Die Individuen wurden vornehmlich als Produzenten aufgefaßt; diese Auffassung bildete den Rahmen, in den sich alle sonstigen individuellen oder kategorialen Besonderheiten zu fugen hatten. Vor allem die produktive Rolle bestimmte die Zuweisung einer sozialen Position - sowohl die gesellschaftlich empfohlenen und daher realistischen Lebensenrwürfe als auch die an deren Verwirklichung geknüpften gesellschaftlich verteilten Belohnungen. Die Produzentengesellschaft maß ihre Stärke an der Größe ihres Arbeits- und Kampfpotentials. Sie war eine Gesellschaft der Massenindustrie, der (»fordistischen«) »Groß-ist-schön«-Fabriken, der massenhaften Wehrpflichtarmeen und der panoptischen Ordnung, eine Gesellschaft, in der jedes Mitglied ein potentieller Arbeiter und/oder Soldat war - und in beiden Fällen ein Insasse einer straff strukturierten Umgebung. Der Wert eines Produzenten- bzw. Soldatenkörpers ist ein rein instrumenteller. Das bestimmende Merkmal eines solchen Körpers ist seine Fähigkeit, in der Fabrikhalle und auf dem Schlachtfeld nach den jeweils geltenden Maßstäben effektiv zu agieren. Die Qualität eines solchen Körpers wird gemessen an den externen, beobachtbaren und »objektivierbaren« Wirkungen seiner Handlungen: dem Gewicht der Lasten, die er tragen kann, der Bereitwilligkeit, Beweglichkeit und Behendigkeit bei der Ausführung seiner Aufgabe, die in der Regel darin besteht, an äußeren Objekten Operationen auszufuhren, sowie der Masse und Intensität der Widrigkeiten, die er aushalten kann, ohne seine Handlungsfähigkeit einzubüßen. Die Tätigkeiten, an denen der Körper mitwirkt, sind zumeist normativ reguliert, etwa durch die Geschwindigkeit des Förderbandes, den rhythmischen Schritt von marschierenden Kolonnen oder die eintönig sich wiederholende Routine des Grabenkrieges. Daher i97
läßt sich möglicherweise eine optimale Koordination zwischen den Erfordernissen der Aufgabe und der Fähigkeit des Körpers finden, und sie wird denn auch in der Praxis angestrebt und gefördert: Ausdruck dieser Suche und Kultivierungsbemühungen ist das Konzept der »körperlichen Gesundheit«. Als ein wahrer Inbegriff der Idee der »Norm« und der »normativen Regulierung« diente die körperliche Gesundheit als krönende Metapher fiir jedweden Fall der Schaffung und Bewahrung von Ordnung, der beiden herausragenden (ja sogar definierenden) Anliegen und Unterfangen der Moderne. In der Idee der »Gesundheit« äußerte sich die entschiedene Bevorzugung eines »gleichbleibenden Zustands« gegenüber einem Zustand des Wandels, der seinen ausschließlich positiven Wert von dem geordneten Zustand herleitete, den er herbeiführen und festigen sollte; die Idee der körperlichen Gesundheit ließ ja die Absicht erkennen, den Körper innerhalb genau definierter Parameter zu plazieren und dort auf Dauer zu halten. Überschreitungen der festgelegten Parameter, ob nach oben (verschwenderische und unehrenhafte Maßlosigkeit) oder nach unten (Schwäche), waren der optimalen Leistung des Produzenten- bzw. Soldatenkörpers abträglich und wurden daher als Pathologie gedeutet, als eine Anomalie, die unverzüglich diagnostiziert, behandelt und geheilt werden muß. Die Idee der körperlichen Gesundheit war eng verwandt mit der Idee der »Vollkommenheit«, also der Idee eines Zustands, in dem jede weitere Veränderung unerwünscht sein würde, weil sie nur eine Veränderung zum Schlechteren sein konnte. Diese Idee schwebte allen »Modernisierungs«bestrebungen vor, von denen man glaubte und hoffte, sie würden in einer einmaligen, wenn auch vielleicht langwierigen und mühsamen Anstrengung ihr Ziel erreichen. Waren die Parameter der Gesundheit durch richtige Ernährung, eine bis ins einzelne geplante Diät und regelmäßige körperliche Bewegung einmal erreicht, galt es nur noch, den Körper dauerhaft in diesem Zustand zu erhalten, vornehmlich durch eine fortwährende strenge Einhaltung der Routine und die Vermeidung von Situationen, in denen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit bestand, sich eine Krankheit zuzuziehen (also die obere oder untere Grenze der »Norm« zu durchbrechen). Der springende Punkt ist jedoch, daß fast alles, was zu den Vorzügen des Produzentenkörpers gezählt wurde, im Falle des Konsumentenkörpers, des konsumierenden Körpers, völlig kontraproduktiv und 198
beklagenswert sein würde. Dieser unterscheidet sich vom ersteren entschieden dadurch, daß er, statt Träger eines lediglich instrumentalen Werts zu sein, ein End- oder Ziehvert ist. Der Konsumentenkörper ist autotelisch: er ist ein Wert an sich, der höchste Wert, und daher ist er das Ziel und das Hauptkriterium der Nützlichkeit, Ratsamkeit und Wünschbarkeit für den Rest der Menschheit und jeden einzelnen. Wenn die Steigerung der körperlichen Empfindungen - des körperlichen Glücksgefühls, der körperlichen Vergnügungen und Freuden - als deren höchstes Ziel in den Mittelpunkt der Lebenspolitik rückt, gerät der Körper in eine einzigartige Position, die mit der Rolle, die irgendeinem anderen Element innerhalb der Lebenswelt zugeschrieben wird, nicht zu vergleichen ist; es werden Facetten miteinander kombiniert, die in anderen Fällen, in denen sie in der Regel getrennt sind und daher nicht auf ihre Verträglichkeit geprüft und mit der Aufgabe der Versöhnung konfrontiert werden, nicht zusammen auftreten. Aus demselben Grund ist der Konsumentenkörper gewöhnlich eine ergiebige Quelle beständiger Sorge, die zu lindern oder gar zu zerstreuen kaum ein Ausweg bereitsteht. Unter allen Angeboten des Konsumentenmarktes ist die Verheißung, diese Sorge zu vermindern oder auszuräumen, das verlockendste, das von vielen gesucht und dankbar angenommen wird. Diese Sorge, die dauerhafteste und verläßlichste Ursache der allgemeinen Nachfrage nach Konsumgütern, muß jedoch - in krassem Widerspruch zu den ausdrücklichen, lautstarken Versprechungen - regelmäßig geschürt, angefacht und auf sonstige Weise stimuliert werden, damit der Konsumentengesellschaft nicht die Konsumenten ausgehen. Konsumentenmärkte leben von der Sorge des potentiellen Konsumenten, die anzustacheln und zu verstärken sie nach Kräften bemüht sind. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Musiker, der zu seinem eigenen, ungeteilten Vergnügen ein Instrument spielt - der einsame Hörer der lieblichen und wohltuenden oder erregenden, berauschenden Klänge, die dem Instrument entströmen. Sich das vorzustellen ist leicht - viele kennen diese Erfahrung. Doch im Falle des Körpers sind Sie zusätzlich das Instrument, auf dem Sie spielen, um die gefällige Melodie, die Sie genießen, hervorzuzaubern. Während Sie die angenehmen Empfindungen durchleben, die Ihr Körper Ihnen liefern soll, treten Sie gleichzeitig in drei verschiedenen Rollen auf, die Sie mühsam miteinander in Einklang und zur gegenseitigen Stei199
gerung bringen müssen, die sich aber dem Bemühen, in das richtige, reibungslose Verhältnis zueinander gebracht und in diesem Verhältnis bewahrt zu werden, hartnäckig widersetzen. Die verwirrendste und quälendste Aufgabe wird für Sie in dem alles andere als angenehmen Regime bestehen, dem Ihr Körper als die Werkstatt, in der angenehme Empfindungen erzeugt werden sollen, unterworfen werden muß, damit er die bekannten angenehmen und womöglich noch angenehmere Produkte hervorbringt. Und Sie können nur beten und hoffen, daß Ihr Körper, nachdem ihm eine gehörige Dosis dieses Regimes verabreicht wurde, weiterhin bereit sein wird, als ein gutgelaunter, geschickter, effizienter und dankbarer Empfänger der kommenden Freuden zu dienen. Im landläufigen Sprachgebrauch wird diese letztgenannte Anforderung unter »Fitneß« subsumiert. »Fitneß« ist für den Konsumenten in der Konsumentengesellschaft das, was für den Produzenten in der Produzentengesellschaft die »Gesundheit« war. Sie ist ein Ausweis der Zugehörigkeit, der Inklusion, des Aufenthaltsrechts. »Fitneß« bezieht sich wie »Gesundheit« auf den Zustand des Körpers, hebt aber auf ganz andere Aspekte dieses Zustands ab. Die Idee der »Fitneß« versucht zuallererst die Funktionen des Körpers als Empfänger und Sender von Empfindungen einzufangen. Sie bezieht sich auf seine Aufnahmefähigkeit, auf den Grad seiner Einstimmung auf die Wonnen, die bereits im Angebot sind oder noch ins Angebot kommen könnten, auf die bekannten, unbekannten, noch nicht erfundenen, noch nicht einmal vorgestellten und bisher unvorstellbaren Freuden, die aber früher oder später eintreffen müssen. »Fi> neß« kennt als solche keine Obergrenze, ja, sie ist definiert durch das Fehlen oder gar die Unzulässigkeit einer Grenze. Wie fit Sie auch immer sind (oder ihr Körper ist) - Sie könnten nochfitter sein. Wie fit Sie auch im Moment sein mögen, stets ist da eine gewisse ärgerliche »Unfitneß«, die Ihnen bewußt wird oder die Sie erahnen, sobald Sie das, was Sie selbst erlebt haben, mit den Freuden vergleichen, die Ihnen suggeriert werden von den unzähligen Beispielen der Wonnen anderer, die Sie allenfalls erahnen können. Anders als bei der Gesundheit gibt es beim Streben nach Fitneß keinen Punkt, an dem Sie sagen könnten: Jetzt habe ich's geschafft, nun kann ich aufhören und an dem festhalten, was ich habe. Es gibt keine »Norm« der Fitneß, die Sie anstreben und schließlich erreichen können. Das Bemühen um Fitneß hört niemals auf. Jedes Ziel ist nur ein nächster
Schritt, einer in einer langen Folge von Schritten, die noch getan werden müssen. Jeder Schritt eröffnet die Aussicht auf den nächsten Schritt und löst das Verlangen aus, ihn zu tun. Das Problem, das die Lage noch zusätzlich erschwert, besteht darin, daß es hier nicht nur um einen übermäßigen Appetit auf Fitneß und/oder um Unkenntnis des »richtigen Maßes an Fitneß« geht. Der Appetit ließe sich mit entsprechenden Anstrengungen zügeln und beschneiden, fehlendes Wissen ließe sich erlangen - aber wenn die Idee der »Fitneß« sich auf die Empfindungen des Körpers {Erleb nisse, nicht Erfahrungen) bezieht, auf die subjektiv erfahrenen und durchlebten Empfindungen, läßt sich unmöglich sagen, ob der Grad der körperlichen Fitneß wirklich befriedigend ist, und es gibt dann auch keinen »objektiven«, interpersonal mitteilbaren iMaßstab, an dem ein solcher Grad gemessen werden könnte. Das Streben nach Fitneß ist durchsetzt mit Ungewißheit, und diese Ungewißheit ist nicht auszuräumen. Sie wird nicht verschwinden, außer das Streben selbst käme zum Stillstand. Wenn dies nicht geschieht, wird die Quelle der Sorge, die auf der Suche nach Erfüllung aus dem auf sich selbst gerichteten Körper fließt, niemals versiegen. Und daher wird auch das Verlangen nach den Diensten, die der Konsumentenmarkt leistet oder zu leisten verspricht, niemals ausgehen. Da das Ideal der Fitneß nur vage und unsichere Anweisungen bietet, was man zu tun und was man zu meiden hat, und da man nie sicher sein kann, daß die Anweisungen sich nicht ändern oder gar widerrufen werden, bevor sie vollständig umgesetzt werden konnten, bedeutet das Streben nach Fitneß, daß man nie zur Ruhe kommt, daß man jedenfalls nie das Gefühl hat, mit klarem Bewußtsein und ohne Sorge ausruhen zu können. Wer sich der Sache der körperlichen Fitneß verschrieben hat, ist ständig in Bewegung. Er (oder sie) muß sich dauernd ändern und dauernd auf eine weitere Änderung gefaßt sein. Das Schlagwort unserer Zeit ist »Flexibilität«: alle Formen sollten geschmeidig, alle Zustände befristet, alle Gestalten umgestaltbar und alle Formen umformbar sein. Für die Konsumentengesellschaft ist dies ein glücklicher Umstand, ja sogar die Gewähr ihres Überlebens. Das Versprechen der Befriedigung bleibt verlockend, solange das Verlangen noch nicht befriedigt ist oder - noch wichtiger - solange man nicht glaubt, daß es wahrhaftig und vollständig befriedigt wurde. Ein niedriger Zielansatz, ein einfacher Zugang zu den Gütern, die dieses Ziel treffen, und 101
objektive (und für objektiv gehaltene) Kriterien »realistischer« Begierden oder Wünsche - das alles und jedes für sich würde das Ende der Konsumentengesellschaft und wohl auch der Konsumgüterindustrie bedeuten. Nichtbefriedigung von Wünschen und der Glaube, daß jede Befriedigung vieles zu wünschen übrig läßt und verbessert werden kann, das sind die Schwungräder der verbraucherorientierten Wirtschaft. Gegebene Versprechungen müssen gebrochen und die Hoffnungen auf Erfüllung enttäuscht werden, wenn das Suchen nach Erfüllung weitergehen soll und die neuen Versprechungen verlockend und anziehend sein sollen. Jedes Versprechen muß betrügerisch oder mindestens übertrieben sein, wenn das Suchen weitergehen soll. Es ist das Übermaß der Summe aller Versprechungen, das die Übermäßigkeit aller einzelnen neutralisiert, jene Übermäßigkeit, die sie alle brauchen, um fesselnd zu sein. Es ist die Überfülle der Versprechungen und immer wieder neuen Versprechungen, die verhindert, daß immer wieder neue Enttäuschungen das Vertrauen in den letztendlichen Erfolg der Suche untergraben. Aus diesem Grunde ist der Konsumerismus eine Ökonomie des Mülls. Der Häufung enttäuschter Erwartungen entsprechen die wachsenden Berge abgetaner Konsumangebote, von denen erwartet (versprochen) wurde, daß sie die Wünsche befriedigen. Die Sterblichkeit der Erwartungen ist hoch (und in einer gutfunktionierenden Konsumentengesellschaft steigend), die Lebenserwartung jeder einzelnen ist gering, und nur die außergewöhnlich hohe Fruchtbarkeitsziffer kann sie vor der Ausdünnung und dem Aussterben bewahren. Damit die Erwartungen am Leben bleiben und neue Hoffnungen die von den bereits diskreditierten Hoffnungen hinterlassene Lücke füllen können, muß der Weg vom Laden zum Mülleimer kurz und rasch sein. Der Konsumentenkörper bildet eine umgekehrte Verarbeitungsanlage. Während gewöhnliche Industrieanlagen die unbrauchbaren, d.h. nicht-konsumierbaren (Roh)stoffe zu Konsumgegenständen recyceln und dem Endprodukt dabei einen Gebrauchswert hinzufügen, sahnt der Konsumentenkörper den Mehrwert ab und verwandelt den Konsumgegenstand in Müll, also etwas Nichtkonsumierbares. Die beiden Typen von Verarbeitungsanlagen ergänzen einander und bringen sich gegenseitig in Schwung: die Vitalität der einen hängt vom Überschwang der anderen ab. Während die Anlagen des ersten Typs heutzutage zur Fusionierung neigen und eine globale Reich-
weite anstreben, neigen die Anlagen des zweiten Typs zur Desintegration und Atomisierung; jeder einzelne wird im Grunde zu einer solchen Anlage und zugleich zu ihrem Manager, und es wird von ihm erwartet, daß er dazu wird . . . Ulrich Beck hat bekanntlich darauf hingewiesen, daß wir in der »zweiten Moderne« veranlaßt sind, fiir gesellschaftlich erzeugte Probleme nach biographischen Lösungen zu suchen. Das hier erörterte Problem ist eines der Beispiele, vielleicht das herausragendste Beispiel für diese Regel. Die abfallerzeugenden Fabriken, unerläßliche Ergänzungen der weltweiten Konsumgüterindustrie, werden individuell betrieben. Konsumentenbiographien sind »Lösungen« für die Schwierigkeiten, die von der Logik der Konsumentengesellschaft erzeugt werden. Die oben angeführten und kurz erörterten Merkmale des Konsumentenkörpers sind eigentlich nichts Neues. Es gibt sie jedenfalls, wenn auch in unfertigen oder abgeschwächten Formen, schon vor dem Anbruch der »flüssigen« Spielart der Moderne. Ihre Vorformen lassen sich unschwer schon in Zeiten ermitteln, die recht weit von der Entstehung des heutigen Konsumerismus entfernt sind. Um das Phänomen des heutigen Konsumenten zu begreifen, genügt es nicht, ja, wäre es am Ende sogar irreführend, die Logik des Konsums zu analysieren, der stets, selbst wenn er in Gesellschaft stattfindet, eine ganz und gar individuelle, einsame Tätigkeit ist. Man muß seinen Blick vielmehr auf das eigentlich Neue richten: auf den Konsum im Rahmen der Konsumentengesellschaft, einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder (um den alten, einst unter dem Einfluß Althussers in Umlauf gebrachten Ausdruck zu benutzen) vornehmlich oder vielleicht sogar ausschließlich als Konsumenten »interpelliert«, einer Gesellschaft zudem, die ihre Mitglieder überwiegend nach ihrem konsumbezogenen Verhalten beurteilt. Von »Konsumgesellschaft« oder »Konsumentengesellschaft« zu sprechen heißt, mehr, sehr viel mehr zu sagen als nur die triviale Beobachtung zu verbalisieren, daß ihre Mitglieder konsumieren oder gar, daß sie, nachdem sie die Annehmlichkeiten des Konsums entdeckt haben, einen Großteil ihrer Zeit und Mühe auf den Versuch verwenden, die Freuden zu mehren. Es bedeutet darüber hinaus, daß die Wahrnehmung und Behandlung praktisch aller Fragmente des gesellschaftlichen Rahmens und der von diesen hervorgerufenen und geformten Handlungen tendentiell dem »konsumistischen Syndrom« unterge203
ordnet werden. »Lebenspolitik« und Politik (mit großem P) werden ebenso wie die interpersonalen und sozialen Beziehungen nach dem Bilde von Mitteln und Zwecken des Konsums und in dem vom »konsumistischen Syndrom« implizierten Sinne umgeformt. Auch hinter diesem Syndrom steckt mehr, sehr viel mehr als die Faszination durch die Freuden des Aufnehmens und Verdauens, durch angenehme Empfindungen und »Spaß haben« oder »es sich gut gehen lassen«. Es ist wirklich ein Syndrom, ein vielfältiges Bündel von miteinander verbundenen Einstellungen und Strategien, kognitiven Dispositionen, Werturteilen und Vorurteilen, expliziten und stillschweigenden Annahmen über den Lauf der Welt und wie man damit zurechtkommt, Visionen vom Glück und wie man sie verwirklicht, Wertpräferenzen und (um den Ausdruck von Alfred Schütz aufzugreifen) »thematischen Relevanzen«. Was das »konsumistische Syndrom« am klarsten von seinem »produktivistischen« Vorgänger unterscheidet, was das Bündel der vielen darin enthaltenen unterschiedlichen Dispositionen zusammenhält und es dadurch von der Ebene einer lockeren Ansammlung von Impulsen und Intuitionen auf die Ebene eines kohärenten Lebensprogramms hebt, scheint das Umschalten der Werte von Dauer auf Flüchtigkeit zu sein. Das »konsumistische Syndrom« besteht vor allem in einer nachdrücklichen Ablehnung der Tugend der Verzögerung, des Gebots des »Aufschubs der Befriedigung«, dieser grundlegenden Prinzipien der »Produzentengesellschaft« oder der »produktivistischen Gesellschaft«. In der überkommenen Hierarchie der anerkannten Werte hat das »konsumistische Syndrom« die Dauer herab- und die Flüchtigkeit heraufgestuft. Es hat den Wert des Neuen über den des Bleibenden gestellt. Es hat nicht nur (wie viele Beobachter, von Kredirvermittlungsbüros inspiriert oder getäuscht, gemeint haben) die Zeitspanne zwischen dem Wunsch und seiner Erfüllung, sondern auch die Spanne zwischen der Nützlichkeit und Wünschbarkeit des Besitzes von Dingen und ihrer Nutzlosigkeit und Verwerfung drastisch verkürzt. Was die Objekte menschlichen Begehrens betrifft, hat es an die Stelle des Besitzes die Aneignung (rasch gefolgt von der Abfallbeseitigung) gerückt. Unter den Beschäftigungen der Menschen hat es die Vorkehrungen gegen die Möglichkeit, daß (belebte wie unbelebte) Dinge »länger bleiben, als sie willkommen sind«, an die Stelle der Technik des 204
»Festhaltens«, des Bleibens und der langfristigen (gar nicht zu reden von der unbefristeten) Bindung gerückt. Außerdem hat es die Lebenserwartung des Begehrens, den zeidichen Abstand zwischen dem Begehren und seiner Befriedigung sowie zwischen der Befriedigung und der Müllkippe radikal verkürzt. Dem »konsumistischen Syndrom« geht es um Schnelligkeit, Übermaß und Wegwerfen. Richtige Konsumenten tun sich nicht schwer damit, Dinge in den Müll zu befördern; ils et elles ne regrettent rien - die kurze Lebensdauer von Dingen und ihre Sterblichkeit nehmen sie gleichmütig hin. Die erfahrensten unter ihnen lernen sogar, Dinge, die ihr Verfallsdatum überschritten haben, mit Freuden wegzuwerfen. Für die Meister in der Kunst des Konsums liegt der Wert eines jeden Objekts ebensosehr in seinen Vorzügen wie in seinen Beschränkungen: die bereits bekannten und die (unvermeidlich) noch zum Vorschein kommenden Mängel versprechen eine unverzügliche Erneuerung und Verjüngung, neue Abenteuer, neue Empfindungen, neue Freuden. Vollkommenheit, wenn es sie denn gibt, kann nur die kollektive Eigenschaft der Masse, der Menge sein; das sehnsüchtige Verlangen nach Vollkommenheit verlangt die Überfülle, den Überfluß an Dingen. Die Konsumentengesellschaft kann nur eine Gesellschaft des Übermaßes und der Verschwendung sein - und damit der Redundanz und des verschwenderischen Verschleißes. Je flüchtiger der Lebensrahmen, desto mehr benötigen die Akteure die Objekte, um auf Nummer Sicher zu gehen und ihre Schritte gegen Streiche des Schicksals (im Soziologenjargon umbenannt in »unvorhergesehene Folgen«) abzusichern. Das Übermaß verstärkt allerdings noch die Ungewißheit, die es entgiften sollte, so daß es nie genug davon geben kann. Das Leben der Konsumenten ist eine endlose Folge von Versuch und Irrtum. Es besteht in einem unausgesetzten Experimentieren, in dem aber das experimentum crucis fehlt, das zu den verläßlich kartierten und beschilderten Straßen der Gewißheit fuhren könnte. Auf Nummer Sicher gehen - das ist die goldene Regel der Rationalität des Konsumenten. In den Lebensgleichungen kommen nur Variablen, aber keine Konstanten vor, und die Variablen verändern allzu oft und allzu schnell ihre Werte, als daß man die Veränderung noch verfolgen oder gar ihre künftigen Wendungen erraten könnte. Es ist ein Würfelspiel, bei dem der Weg vom Start zum Ziel und erst recht der Weg vom Ziel zurück zum Start entsetzlich kurz ist; je 205
nachdem, wie die Würfel fallen, kommt man voran oder fällt man zurück, und Erfolg wie Mißerfolg kommen plötzlich, praktisch ohne Warnung. Man kann über Nacht berühmt werden, doch sogleich beginnt der Ruhm zu verfliegen; scharfäugige Talentsucher können eine obdachlose Schönheit, die unter einer Brücke schläft, entdekken, und man weiß nicht, wie schön diese Schönheit ist, bis sie es sagen; die »Musts«, die man tragen oder mit denen man gesehen werden muß, verwandeln sich schneller in »Must-nots«, als man braucht, um sich umzuziehen, von dem Zwang, einen Teppich gegen einen Parkettboden zu vertauschen, gar nicht zu reden ... In den tonangebenden Lifestyle-Magazinen findet man Kolumnen über »Was ist neu« oder »Was ist in«, über das, was man haben oder tun sollte, oder mit welchem Besitz oder bei welcher Aktivität man gesehen werden sollte; gleich daneben findet man Kolumnen über »Was ist out«, über das, was man nicht haben oder tun sollte, oder mit welchem Besitz oder bei welcher Aktivität man nicht gesehen werden sollte. Informationen über die neueste Mode kommen in einem Paket mit den Meldungen über den neuesten Abfall, und der zweite Teil des Pakets wird von einer Nummer des Magazins zur nächsten umfangreicher. Ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele mögen diese Tendenz verdeutlichen. Charlotte Abrahams, Kolumnistin des Guardian, rät ihren treuen Lesern in einem jüngst verfaßten »Einrichtungs-Ratgeber« (2003, S. 60): »Haben Sie gerade zu einer Tapete gegriffen, deren Muster kleine Zweige zeigt? Legen Sie sie gleich wieder weg.« »Rosenknospen und Gänseblümchen« sind jetzt passe, aus und erledigt, häßlich und abstoßend - »das rastlose Rad der Mode« hat sich wieder gedreht. Der Leser wird dem entnehmen, es sei höchste Zeit, die alte Tapete (sie ist vom letzten Jahr) von der Wand zu reißen. »Der jetzt angesagte Look« ist etwas ganz anderes: »klare Blumenmuster«. Die Expertin faßt zusammen: »Glauben Sie mir, ich habe es gemacht, und es sieht toll aus.« Caroline Roux (2003) gibt (unter der Überschrift »The look of 2003«; seien Sie also gewarnt, denn wenn Sie dies lesen, wird die folgende Information hoffnungslos veraltet sein) zu: »Ich hatte keine Ahnung, daß die Inneneinrichtung demselben schrecklichen Wechsel unterliegt wie die Mode, aber so ist es. Und wenn Sie nicht möchten, daß man Sie in dem Burbeny vom letzten Jahr völlig altmodisch findet, warum sollten Sie dann Ihr Geld in einen Fußbodenbelag vom 206
letzten Jahr stecken?« Deshalb müssen beispielsweise »diese großen Schalen mit Lilien weg. Das war mal schick.« »Geben Sie sich nicht mehr mit durchscheinendem Plastik zufrieden.« »Riesensofas mit einer modernen Aussage sind einfach nicht die Lösung.« »Gummi und Linoleum sind ein bißchen überholt.« Und dann der Höhepunkt: Die Leser sollten, um den abgegebenen Urteilen nicht irrtümlich einen endgültigen Charakter zuzuschreiben, annehmen, daß sie alle nötigen Informationen erhalten haben und nun die Zeit für eine willkommene Ruhepause gekommen ist: »Im Moment würde ich mich für ein gebrauchtes Parkett entscheiden. Aber fragen Sie mich in sechs Monaten noch einmal.« Warum sollte der Körper eine Ausnahme von der allgemeinen Regel sein, der sogar scheinbar so dauerhafte und langlebige Dinge wie Tapeten gehorchen müssen? Daniel Galvin, von Laura Barton (2003, S. 14-19) als »Haarfarbe doyen« beschrieben, läßt wissen, daß »die Haarfarbe zu einem wichtigen Teil der Beautyroutine einer Frau geworden ist, und zwar so wichtig, daß Haar ohne Färbung wie ein Gesicht ohne Makeup ist«. »In einer Saison sind wir karamell, in der nächsten mahagoni, und wir prüfen aufmerksam unsere Haarwurzeln, damit nicht unversehens unsere natürliche Farbe wieder durchkommt wie Schimmel«, bestätigt Laura Barton, die zugibt, daß sie selbst braune Haare hat, die sie braun färbt: »Natürlich bin ich der festen Überzeugung, daß ich sie mit einem höherwertigen Braunton färbe.« Und die Haare sind nur einer der sichtbaren Teile des Körpers, die den rasch wechselnden Maßstäben der Höherwertigkeit hinterherhetzen müssen. Vergessen Sie nicht die Haut, die Nase, die Taille, die Brust... Die Zahl der Nagelstudios in den USA hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht, die der schönheitschirurgischen Eingriffe mehr als verdoppelt: allein im Jahr 2002 waren es 6,2 Millionen Operationen. Nach Angaben des Londoner Schönheitschirurgen Apostolos Gaitanas wächst die Zahl der kosmetischen Operationen jährlich zwischen 10 und 20 Prozent. Peter Paphides (2002, S. 54ff.) erinnert sich wehmütig an die 45erSingles von früher; sie boten jene Art von Glückserlebnis, nach der es unseren Zeitgenossen gelüstet, ohne das Kapital an Zeit und Emotionen allzusehr in Anspruch zu nehmen. Erst jetzt sind wir so reif, um würdigen zu können, wie sehr die Oldies ihrer Zeit voraus waren - sie griffen nach der Art von Leben, das wir heute leben, und genügten den Maßstäben, die einzuhalten uns heute Mühe kostet. 207
»Eine Single hat etwas Ehrliches. Sie verkauft dir einen Song, ganz einfach. Darüber hinaus erhebt sie keine Ansprüche.« »Die Single ist eine Verabredung, die nicht viel kostet. Du mußt dich nicht groß engagieren. Ein bißchen Kleingeld, mehr brauchst du dafür nicht.« Man könnte sagen: Wie gewonnen, so zerronnen. Es tut nicht weh, wenn ihre Zeit vorbei ist; dieser Gedanke ist tröstlich. Diese Verabredung verlangt ja kein Engagement. Es ist bloß eine Verabredung ... Verabredungen sind nichts Ewiges. Wenn sie vorbei sind, sind sie vorbei. Der springende Punkt ist jedoch, daß auch eine »Verabredung, die nicht viel kostet«, einen teuer zu stehen kommen kann, wenn sie sich von einem seltenen festlichen Vergnügen in eine Sucht oder einen Zwang verwandelt, wenn sie zur Lebensgewohnheit wird. Hier kommen die Kreditkarten und Zahlungserleichterungen ins Spiel. Sie befreien, wie uns die ausstellenden Banken versprechen, das Wünschen vom Wartenmüssen: they take the waiting out oftbe Wartung. Sie befreien aber auch die Müllerzeugung vom Schuldgefühl, das Abschiednehmen von den seelischen Qualen, eine zwanglose Begegnung von der Gefahr, daß man zuviel in sie investiert. Man kann jetzt alle Verabredungen, wie kostspielig sie auch sein mögen, so behandeln, als kosteten sie nicht viel ... In der »Kasinokultur«, wie George Steiner sie nennt, ist jedes Kulturprodukt berechnet auf maximale Wirkung (also darauf, die Kulturprodukte von gestern zu zerstören, auszustoßen und zu beseitigen) und augenblickliches Veralten (also darauf, die Distanz zwischen der Neuheit und dem Abfalleimer zu verkürzen und dadurch die Bühne rasch wieder freizumachen, damit den Kulturprodukten von morgen nichts im Wege steht). Setzten die Künsder den Wert ihres Werkes einst mit ewiger Dauer gleich und bemühten sie sich deshalb um eine Vollkommenheit, die jeglichem Wandel ein Ende setzen würde und dadurch der Unvergänglichkeit sicher sein konnte, so tun sie sich heute mit Installationen hervor, die am Ende der Ausstellung abgebaut werden sollen, mit Happenings, die in dem Moment enden, da die Akteure beschließen, sich umzudrehen, mit dem Verpacken von Brücken, bis der Verkehr wieder in Gang kommt, oder von unvollendeten Gebäuden, bis die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden, und mit »Raumskulpturen«, welche die Natur einladen, sich ihren Tribut zu holen und die lachhafte Kurzlebigkeit aller menschlichen Taten und die Vergänglichkeit ihrer Spuren zu demonstrieren. 208
Von niemandem wird erwartet - und erst recht wird niemand ermuntert - , sich an das Stadtgespräch von gestern zu erinnern; dennoch wird von niemandem erwartet - und erst recht niemandem erlaubt —, sich am Stadtgespräch von heute nicht zu beteiligen. Man darf, um in die Kasinokultur der flüssig-modernen Ära aufgenommen zu werden, nicht wählerisch, sondern muß ein Allesfresser sein; man darf seinen Geschmack nicht allzu eng definieren und nicht lange an einem bestimmten Geschmack festhalten; man muß in der Lage sein und wünschen, alles, was gerade im Angebot ist, der Reihe nach zu probieren und zu genießen; und man darf in seinen Präferenzen auf keinen Fall unbeirrbar und beständig sein. Ablehnung des Neuen gilt als geschmacklos, und wer das Neue ablehnt riskiert, selbst abgelehnt zu werden. Das Altern des Neuen, einst ein langwieriger Prozeß, vollzieht sich immer schneller. Das »Neue« wird im Handumdrehen zum »Alten«, wird überholt und übergangen. Als Pierre Bourdieu vor einigen Jahrzehnten Geschmacksentscheidungen als Gebote und soziale Distinktion als überragenden Gewinn im kulturellen Spiel untersuchte, fand er eine stabile Entsprechung zwischen den getroffenen Entscheidungen und der angegebenen oder behaupteten Distinktion: Sage mir, welche Art von Musik du hörst (und welche du meidest) und welche Bilder du magst (und welche du verabscheust), und ich sage dir, wie nah oder wie weit du von der Spitze der sozialen Hierarchie entfernt bist; und umgekehrt: Sage mir, welcher Klasse du angehörst, und ich sage dir, welches dein künsderischer Geschmack und deine Präferenzen sind. Und je entschiedener und kompromißloser deine kulturellen Entscheidungen sind, desto näher bist du der Spitze der sozialen Stufenleiter. Heute würde Bourdieu bei einer solchen Untersuchung wahrscheinlich zu ganz anderen Ergebnissen kommen. In Zeiten, da man am besten fährt, wenn man auf Nummer Sicher geht, kann das Bekenntnis zu einem bestimmten Geschmack und die Einengung der eigenen Präferenzen nur ein Zeichen der Deprivation und Rückständigkeit sein; das ist nicht das »kulturell korrekte« Verhaltensmodell, kein Modell, das diejenigen, die nach oben streben, sich zu eigen machen und praktizieren werden. Das Zeichen höchster sozialer Distinktion ist heute kulturelle Allesfresserei. »Hochkultur« erkennt man daran, daß sie möglichst wenige (vorzugsweise überhaupt keine) Unterscheidungsmerkmale aufweist. Ein Snob ist, wer nie zum Ausdruck der Geringschätzung oder des Spotts die Stirn runzelt. Wer es sich lei209
sten kann, nascht ein wenig von allen Tischen und zeigt, daß er jede Art von Küche zu schätzen weiß. An der Spitze zu sein bedeutet, sich überall zu Hause zu fühlen, aber viele Wohnungen an weit auseinander liegenden strategisch gewählten Orten zu haben und vor allem um jeden Preis zu vermeiden, eine endgültige und unwiderrufliche Wahl zwischen ihnen zu treffen. Die vom Konsumentenmarkt verheißene Sicherheit beruht in dieser wie auch in anderen Hinsichten auf der Vielzahl . . . Wie der große italienische Soziologe Alberto Melucci gesagt hat (1996, S. 43ff.), »leiden wir unter der Brüchigkeit der Gegenwart, die eine feste Grundlage verlangt, wo keine ist«. Daher »sind wir angesichts des Wandels hin- und hergerissen zwischen Wunsch und Furcht, zwischen Erwartung und Ungewißheit«. Da ist sie: die Ungewißheit. Ulrich Beck spricht lieber vom Risiko, diesem unerwünschten, lästigen und ärgerlichen, aber ständigen und nicht von ihr zu trennenden Begleiter (oder vielleicht Stalker?!) jeglicher Erwartung, einem unheimlichen Gespenst, das uns, die wir Entscheidungen zu treffen haben, verfolgt. Für uns ist, wie Melucci es prägnant formulierte, »die Entscheidung zum Schicksal geworden«. »Geworden« ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn Entscheider waren die Menschen, seit sie Menschen sind, und zwar aus den bereits dargelegten Gründen. Man kann aber sagen, daß die Notwendigkeit, täglich und unter Bedingungen schmerzlicher, aber unaufhebbarer Ungewißheit Entscheidungen zu treffen, mit Handlungszielen und Verfahrensregeln, die kaum länger Bestand haben als bis zur Erreichung des Ziels und zum Abschluß der Handlung, unter der beständigen Drohung, »zurückzubleiben«, »den neuen Anforderungen nicht gewachsen zu sein« und ganz aus dem Spiel geworfen zu werden, zu keiner anderen Zeit so tief und mit so erschrekkenden Folgen empfunden wurde. Was die Qual der Wahl heute von dem Unbehagen trennt, das den bomo eligens, den »auswählenden Menschen« zu allen Zeiten peinigte, ist der nagende Verdacht oder die schmerzliche Entdeckung, daß es keine eindeutigen Regeln und keine vertrauenswürdigen, allgemein anerkannten Ziele gibt, welche die Entscheider gänzlich oder wenigstens teilweise von ihrer Verantwortung für die leidigen und unangenehmen Folgen ihrer Entscheidungen befreien würden. Es gibt keine verläßlichen Orientierungspunkte und keine narrensicheren Leidinien, und jene Bezugspunkte und Leitlinien, die heute als verläßlich erscheinen, werden morgen
wahrscheinlich (und damit rechnet man) als irreführend oder verderblich endarvt werden. Tatsächlich scheint alles in der »real existierenden Welt« nur »bis auf weiteres« zu gelten. Angeblich grundsolide Unternehmen entpuppen sich als Produkte des Einfallsreichtums von Buchhaltern. Was heute »gut für Sie« ist, kann morgen zu einem Gift für Sie erklärt werden. Scheinbar verläßliche Zusagen und feierlich unterzeichnete Abkommen können von einem Tag auf den anderen umgestoßen werden. Es scheint, als würden Versprechungen, jedenfalls die meisten, nur gemacht, um gebrochen und verraten zu werden. Um noch einmal Melucci zu zitieren: »Wir haben kein Haus mehr; wir werden immer wieder aufgefordert, eines und noch eines zu bauen, wie die drei Schweinchen aus dem Märchen, oder wir müssen es auf dem Rücken mit uns tragen wie Schnecken.« Wo bleibt bei alledem der Körper? Er ist heute wie eh und je »gesellschaftlich reguliert«, nur daß sich die regulierenden Kräfte geändert haben, mit weitreichenden Folgen für die Lage der verkörperten Individuen, denen das Management der Körper, die sie haben und die sie sind, aufgebürdet wurde. Auch gibt es noch die alte Prärogative der Aussonderung, die während der »soliden« Phase der Moderne von den souveränen Nationalstaaten ausgeübt wurde. Sie wird aber überwiegend eingesetzt, um die Randgruppen, die von den »Marktkräften«, denen sie als aussichtslose oder ganz und gar hoffnungslose Fälle gelten, nicht erreicht werden können oder nicht erreicht werden wollen, auf sichere Distanz und von Dummheiten abzuhalten. Die Aussonderung der homini sacri ist nicht länger das Monopol der staatlichen Autorität:. Die Rolle des Staates beschränkt sich heute in der Regel auf die amtliche Bestätigung des infolge von außerpolitischen Prozessen bereits zur »Lebenstatsache« gewordenen Abstiegs; er macht die Aussonderung effektiv und bestandsfest. Statt ihre Muskeln spielen zu lassen, um die Insassen drinnen zu halten, setzt die post-panoptische Macht der Staaten ihre Fähigkeiten ein, um die Unerwünschten - die Außenseiter oder die zu Außenseitern gemachten Insassen - draußen zu halten. Aus dem Krieg gegen die »Fremden« oder die »Entfremdeten« läßt sich eine Menge politischen Kapitals schlagen. Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy gelangte kürzlich an die Spitze der Beliebtheitsskala der Politiker, nachdem er den Kommunen »Ausweisungsziele« gesetzt und den Präfekten »Dienstanweisungen für 211
die Ausweisung« zugeleitet hatte (Henley 2003). Die Wähler, sagte er, müßten die entschlossene Durchsetzung der versprochenen Politik »erkennen und messen können« — einer Politik, die jedoch, wie wir bemerken dürfen, darauf hinausläuft, das Gespenst der Aussonderung in effigie zu verbrennen, ein Spektakel, das darauf berechnet ist, aus der Angst, die der flüssigen Moderne aus allen Poren dringt, das Kapital politischer Unterstützung zu pressen. Die neue und rasch wachsende Kategorie der homini sacri, die für die flüssig-moderne Konsumentengesellschaft kennzeichnend ist, setzt sich, wie zu erwarten war, aus den »gescheiterten« Konsumenten zusammen. Im Unterschied zu den untätigen Menschen der Produzentengesellschaft sind Menschen, die nach den aktuellen Maßstäben des bios gescheitert sind, keine »medizinischen Fälle«, keine Anwärter auf Behandlung und Rehabilitation, keine vorübergehend vom Pech Verfolgten, die man aber früher oder später wieder assimilieren und wieder in die Gemeinschaft aufnehmen wird. Sie sind wirklich vollkommen nutzlos - überflüssig, überzählig; sie haben der verbraucherorientierten Gesellschaft jetzt und in absehbarer Zukunft nichts zu bieten, sie haben keine Aussicht, zum Kreis der Konsumentenwunder hinzuzustoßen, sie werden nicht »das Land aus der Depression reißen«, indem sie Kreditkarten zücken, die sie nicht besitzen, und ihre Bankkonten leerräumen, die sie nicht haben - und daher würde es der »Gemeinschaft« sehr viel besser gehen, wenn sie verschwinden würden. Die von Sarkozy zur Abschiebung Verurteilten sind per Dekret ausgesondert, doch die Vorauswahl wurde in ihrem Fall von außerpolitischen Kräften durchgeführt, die nicht vom Staat kontrolliert werden (wobei die Gewährung von Aufenthaltsgenehmigungen und die Verurteilung zur Abschiebung sehr selektiv erfolgt; diejenigen unter den »Fremden«, von denen man erwartet, daß sie das Räderwerk der Konsumentengesellschaft schmieren werden, sind in der Regel von der Aussonderung ausgenommen). Die Ausgesonderten der neuen, flüssig-modernen Spielart wurden nicht wegen eines Vergehens vor Gericht gestellt, nicht für schuldig befunden und verurteilt. Man hat sie nicht gerade über Bord geworfen; sie sind einfach herausgefallen, haben mit dem Tempo des Wandels nicht Schritt halten können. Sie bilden die »Unterklasse« einer Gesellschaft, die sich rühmt, Klassenteilungen abzuschaffen und die Erinnerung an Klassen nur noch in der Aussonderung derer zu bewahren, die beim Kon-
sumentenspiel verloren und das Kasino den Gewinnern und einsatzfreudigen Glücksspielern überlassen haben. Da die Regierungen von heute keine Entwürfe einer vollkommenen Gesellschaftsordnung mehr machen, haben sie auch kein Interesse und keinen Grund mehr zu entscheiden, wer gerettet und wer dazu verdammt werden soll, auf die Liste der Ausgesonderten zu kommen. Ihnen bleibt aber die Aufgabe, sich der vielen zu endedigen, die bereits - eher zufällig als planmäßig - von der Teilnahme am Konsumentenspiel ausgeschlossen wurden. Sie stehen vor der schrecklichen Aufgabe der »Menschenmüllbeseitigung« auf einem vollen Planeten, wo ein Müllabladen in Übersee nicht mehr möglich ist. In der Konsumentengesellschaft ist die »Müllentsorgungsindustrie« für ausgestoßene Menschen einer der wenigen konjunkturunabhängigen Produktionszweige. Was die Abfallprodukte der flüssig-modernen Ära mit den homini sacri von einst verbindet, ist die »gesellschaftliche Nacktheit« ihrer Körper, das unauslöschliche Stigma ihrer Ausschließung vom normativ regulierten Teil der Menschheit und von dem Recht auf das bios. Verschieden sind jedoch die Wege, auf denen sie in diese Lage geraten sind, und ebenso die Gründe, aus denen das Schicksal, das sie erleiden, unentrinnbar und irreparabel erscheint. Waren (und sind) die orthodoxen homini sacri »Kollateralopfer« des staadichen Eifers des »Ordnungschaffens«, so wird der neue »menschliche Ausschuß« aus dem Konsumentenspiel ausgeschieden und ihm die Möglichkeit verwehrt, nach seinen Regeln zu leben. Die ersteren wurden gewaltsam ihrer »gesellschaftlichen Bekleidung« beraubt und durch die Entziehung des Rechts gezwungen, nackt zu bleiben. Die letzteren bleiben »gesellschaftlich nackt«, weil sie durch die Entziehung der Norm der Gelegenheit beraubt sind, ihre »gesellschaftliche Bekleidung« zu weben, was nun als eine individuelle Aufgabe angesehen wird - nachdem man ihnen zuvor den Zugang zu dem Garn verwehrt hat, aus dem in der Konsumentengesellschaft die gesellschaftlich anerkannten Kleider zu weben sind.
Aus dem Englischen von Friedrich Griese
213
Literatur Abrahams, Charlotte (2003): Sunflower Sermon. How to do florals, in: The Guardian Weekend vom 5. Oktober 2003. Agamben, Giorgio (1998; dt. 2001): Homo Sacer. Frankfurt am Main: SuhrIcamp 2002. Agamben, Giorgio (2000): Means without Ends. Notes on Politics. Translated by Vizenzo Binetti and Cesare Casarino. Minneapolis: University of Minnesota Press. Arendt, Hannah (1986): The Origins of Totalitarianism. London (Andre" Deutsch). Barton, Laura (2003): Flight form Reality, in: The Guardian Weekend vom 16. August 2003. Burke, Edmund 1967 ([1790]): Betrachtungen über die Französische Revolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Henley, John (2003): France Sets Targets for Expelling Migrants, in: The Guardian Weekend vom 28. Oktober 2003. Melucci, Alberto (1996): The Playing Seif. Person and Meaning in the Planetary Society. Cambrige: Cambrige University Press. Paphides, Peter (2002): Seven Inches of Heaven, in: The Guardian Weekend vom 16. November 2002. Roux, Caroline (2003): To die for, in: The Guardian Weekend vom 1. Februar 2003. Sacks, Oliver (1981 [deutsch 1994]): Migräne. Reinbek: Rowohlt. Schmitt, Carl (1985): Politische Theologie. 4 Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker und Humblot. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory. London: Sage. Turner, Bryan S. (1992): Regulating Bodies. Essay in Medical Sociology. London: Routledge.
214
Christiane Funken Der Körper im Internet Die Spätmoderne konfrontiert ihre soziologischen Beobachter mit einer Reihe unbekannter und irritierender Phänomene, die allem Anschein nach mit dem Einfluß der neuen Medien in Zusammenhang stehen. Um dieser schwierigen Lage theoretisch gewachsen zu sein, bedient sich die Disziplin des ebenso einfachen wie nützlichen Unterschieds zwischen Makro- und Mikroaspekten und verschafft sich derart einen ersten Überblick- Richtet sich der Blick der Fachvertreterinnen auf die makrosoziale Ebene, so markieren Stichworte wie Globalisierung, Deregulierung des Kapitalismus, neue Kriege, Netzwerke etc. die aktuelle Forschungsfront. Auf der mikrosozialen Ebene (die bei der Erörterung meines Themas im Vordergrund stehen wird) stellen zwei Phänomene eine eminente Herausforderung dar: der Umbau von personaler Identität und die Änderung der relevanten Handlungsorientierungen. In beiden Fällen gewinnen nämlich »handgreifliche Merkmale wie statistische Daten, Medien-Events und die Signalsprachen der Aufmerksamkeit an Bedeutung. Naheliegend ist daher die Annahme, daß der Übergang von der Hochmoderne zur Spätmoderne als Trendwende von der innengeleiteten Stabilisierung des Ichs zur außengeleiteten Subjektmanifestation bestimmt werden kann: Die Individuen richten ihre Handlungen immer weniger an verinnerlichten Normen und Werten aus, sondern positionieren sich durch eigene Entscheidungen und expressive Leistungen in Datenlandschaften, die Auskunft über das jeweils >normale< Verhalten geben, ohne direkte Vorschriften zu machen oder Zwänge auszuüben.1 In diesem Kontext erhält auch und gerade der sieht- und wahrnehmbare Körper des Individuums besonderes Gewicht. Als potentieller Träger neuer Selbstbilder, die in diversen medienbezogenen Praktiken entfaltet werden, zieht er nun das Interesse der Soziologie auf sich. Man kann geradezu von einer Entdeckung des Körpers2 i In diesem Punkt lassen sich die altbekannten Thesen von Riesman (1950) und die aktuellen formalistischen« Ansätze (vgl. hierzu die Arbeiten von Link 1994; Funken 2001a; Ellrich 2001) zusammenführen. 2. Frühe Beispiele für die soziologische Beachtung des Körpers sind u.a. Meads Subjekt-Objekt-Verschränkungen, Goffmans Interaktionsordnung oder auch Bour215
durch das Fach sprechen. Trotz weitgefächerter Forschungen, die hiermit verbunden sind, ist aber der Status des »medialisierten Körpers« (Ellrich 1997) immer noch unklar. Beim aktuellen Stand des Wissens läßt sich zum Beispiel noch nicht mit hinreichender Sicherheit entscheiden, ob die Körperrepräsentationen und -darstellungen in den neuen Medien (speziell in den computergenerierten virtuellen Welten sowie in den sprachbasierten Internetkommunikationen) die normalistische Wende bzw. die Revitalisierung außengelenkten Verhaltens verstärken. Wäre dies der Fall, dann ließe sich beides - die aktuelle Suche nach der Materialität des Körpers und die intensive Nutzung der avancier testen Medientechnik - als Teil eines Unternehmens deuten, das einen zeitgerechten handlungsorientierenden Rahmen erstellt. Denkbar ist aber auch eine ganz andere Möglichkeit. Denn die computerbasierte Kreation reiner »Datenkörper« (vgl. Krämer 2000)3 könnte zu Irritationen fuhren, die das stofflich grundierte Körperkonzept, welches sich gerade erst etabliert hat, sogleich wieder untergraben und vielleicht Wege zu einer >Rementalisierung< der sozialen Orientierungsmuster bahnen. Nicht allein die bekannten KISpekulationen, sondern auch weit weniger prätentiöse Kommentare zu den körper-aversen Effekten des Computereinsatzes ließen sich jetzt ihrer religiösen Konnotationen entkleiden und mit Problemlösungskonzepten verknüpfen, die auf den Körper als Bezugspunkt für die Handlungssteuerung nicht verzichten können. Freilich wäre der Körper, den die Computerprogramme buchstäblich verarbeitet und modelliert haben, ein medialer Körper, dessen Gewicht nicht in seiner erfaßbaren Äußerlichkeit liegt, auf die sich andere Akteure durch Imitation oder gezielte Abweichung beziehen können, vielmehr wäre er gleichsam der imaginäre Raum für individuelle Deutungen und Projektionen, die nur dann für konkretes Handeln relevant sind, wenn neue innere Quellen der Selbstbildung erschlossen werden. Als funktionale Äquivalente für die geschwächten Normen und Werte würden sich demnach nicht die normalistischen Angebote und das virtuose Spiel von Mimesis und Abweichung empfehlen. dieus Habituskonzept. In jüngerer Zeit haben Hahn/Meuser (2002), Koppetsch (2000) oder z.B. Beer (2002) Konzepte zu einer Soziologie des Körpers entwickelt. 3 Der hier herangezogene Daten-Begriff von Krämer unterscheidet sich selbstverständlich von dem bereits eingeführten normalistischen Konzept der >Datenlandschaftt, die sich aus statistischen Angaben und aufschlußreichen Beobachtungen medialer Repräsentationen zusammensetzt. 116
Attraktiv wären mentale Leistungen eines Ichs, das die technische Möglichkeit, den eigenen unhintergehbaren materiellen Körper durch einen Zeichenkörper zu doubeln, als Indiz fiir Umcodierungs- und Transkriptionskapazitäten auffaßt, die kreatives Handeln mit der erforderlichen geistigen Schubkraft versehen. Käme es im Zuge avancierter Formen der Mediennutzung tatsächlich zu einer solchen Entwicklung, so könnte man von einer erneuten Trendwende sprechen: Die Phase der Außenlenkung und des Normalismus wäre schon nach kurzer Zeit durch technologische Innovationsschübe erschüttert und von einer unerwarteten, diesmal nicht normativ ausgerichteten, sondern informatisch-virtuell verfaßten Innenlenkung abgelöst worden. Trotz dieser dramatischen Szenarien, die sich im Lichte potentieller Diagnosen abzeichnen, finden sich in sozialwissenschaftlichen Studien über den handelnden und/oder leidenden, den aktiven und/ oder passiven Körper4 kaum Beiträge, die den Körper im Internet5 4 Derzeit lassen sich in den Sozialwissenschaften zwei Extrempositionen zum Körper ausmachen: i. eine biologistische Auffassung: Alles was der Mensch ist, will oder tut etc. läßt sich auf physikalisch-chemische und neuronale Prozesse zurückfuhren, d.h. der Mensch ist ein physiologisch beschreibbares System. 2. eine im weitesten Sinne konstruktivistische Auffassung: Es ist nicht möglich, auf den Körper wie ein Stück unmittelbare Natur oder substrathafte Materie zuzugreifen. Auch der Körper ist kulturell vermittelt. Das heißt konkret, man kann nicht mehr ein Wesen des Menschen bestimmen, sondern nur noch die verschiedenen Diskurse, die historisch variieren. 5 Das Internet ist keine homogene Entität, sondern ein Medium, das unterschiedliche Formen technischer und programmatischer Natur hervorbringt. Dabei ist das Internet soziologisch weder als eigenständige Sphäre noch als Parallelgesellschaft oder als »virtuelle Realität« zu verstehen, sondern schlicht als ein Kommunikationsmedium. Allerdings hat das elektronische Netz die Landschaft der Kommunikationsmedien neu strukturiert. Der Prozeß der Medienentwicklung, hat dazu geführt, daß die direkte, interaktive Kommunikation mehr und mehr vom Medium Körper getrennt wurde. Die neuen Medien stellen in dieser linearen Entwicklung eine Besonderheit dar, denn als universelles Medium kann das interaktive Internet alle bekannten Medienformen integrieren und in binäre Codes umsetzen. Presse, Radio, Fernsehen, oder z.B. Video können via Internet transmedial miteinander vernetzt werden. »Der Computer« - so Beck (2000, S. 47) - »ist das Medium der Medienintegration«. Das alltägliche Medienverständnis, das durch monologische und lineare Nutzungsformen (one to many) geprägt ist, wird im Internet sukzessive durch interaktive, hypertextuelle und anonyme Individual- und Massenkommunikation (>one to one< oder -one to many<) ergänzt oder abgelöst. Erstmalig kann Interaktion körperlos und ohne Raum- und Zeitbezug erfolgen. 217
einer soziologischen Analyse unterziehen. Diese Zurückhaltung resultiert wohl nicht zuletzt aus dem Umstand, daß die Meinungen über die besonderen Merkmale und Eigenschaften, die den Körper im Internet charakterisieren, extrem weit auseinander gehen. Bei näherer Betrachtung aber gewinnen zwei basale Intuitionen, um die sich die heterogenen Bestimmungen scharen, Konturen. Sind diese beiden Kernideen erst einmal erkannt, so lassen sich auch die einzelnen Personen(gruppen), die ihnen anhängen, verschiedenen TheorieLagern zuordnen: Die eine Gruppe faßt den digitalen Körper als die Übersetzung des Fleischlichen in einen kontrollierbaren Code auf. Es handelt sich hier um eine intellektuelle Herausforderung, die in erster Linie Programmierer sowie Interaktions- und Performance-Künsder zu interessieren scheint. Für die andere Gruppe erschließt sich mit dem Internet ein universales Kommunikations-Medium, das textuell und grafisch generierbare Körperkonstruktionen ermöglicht, die vor allem aus medientheoretischer Sicht untersucht werden. Die potentiell identitätsstiftende Wirkung von virtuellen Körperkonstruktionen wird zwar - wenn auch vergleichsweise selten - unter Soziologinnen und Soziologen diskutiert, die sozialen Aspekte der virtuellen Gemeinschaften oder auch die politische Kraft der medialen Öffentlichkeit interessiert sie jedoch weit mehr. Ich möchte zunächst die Problemstellung skizzieren, auf die sich der erste Ansatz als theoretisches und praktisches Projekt von Lösungsangeboten bezieht (i). Sodann werde ich die Verfahren skizzieren, mit denen der zweite Ansatz arbeitet (2).
1. Der digitale Körper Computerprogramme können hochdetaillierte Abbildungen des menschlichen Körpers berechnen. Deshalb - so lautet eine nicht nur unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verbreitete Annahme - sei der digitale Körper letztendlich nicht mehr als eine beliebig manipulierbare Masse bzw. eine leere Hülle. Einzelne Körperteile können angeklickt, in Bewegung gesetzt und flüssig animiert werden. Selbst das aus gespeicherten Daten zusammengesetzte Gesicht ist in seiner mimischen Ausdruckskraft beherrschbar oder gar 218
zum Sprechen zu bringen. Die abendländische Vision von der Berechenbarkeit des Leibes wird vor allem in der Medientheorie durch zwei Extrempositionen auf die Spitze getrieben, die sich - cum grano salis - als materialistische (vgl. u.a. Kittler 1993; Maresch 1999) und als mentalistische (vgl. u.a. Minsky 1990; Moravec 1988; 1993) Denkweisen6 bestimmen lassen. Obgleich ein Widerspruch zwischen dem materialistischen und mentalistischen Credo besteht, negieren beide Ansätze den menschlichen Organismus. Dieser zeichnet sich durch den von Plessner herausgearbeiteten Doppelaspekt »Leib sein/Körper haben« aus. Der menschliche Organismus ist Raum einer Befindlichkeit (Selbstverhältnis) und zugleich Objekt, das quasi von außen betrachtet werden kann; er ist Objekt kultureller Formung und Erfahrungsdimension. Keine dieser beiden Seiten ist auf die andere reduzierbar. Gerade der Umgang mit den neuen elektronischen Medien liefert hier bemerkenswertes Anschauungsmaterial. Dies mag zunächst überraschen, weil vielfach der Eindruck vorherrscht, die mediale Virtualisierung mache den Körper überflüssig. Aber die angeführten materialistischen Positionen von Kitder/Maresch und die mentalistischen Kl-Programme von Minsky/Moravec sind theoretische Abstraktionen, die sich bei einer empirischen Untersuchung der Medienpraxis nicht bestätigen. Vielmehr kann auch durch die und in den elektronischen Medien eine Selbstvergewisserung der eigenen leibsinnlichen Befindlichkeit erfolgen. In der Medienpraxis scheint sich ein problemsensible6 Die materialistische Position ist durch eine konsequente Materie/Hardwarc-Orientierung geleitet, die sich durch das unausgesprochene Motto: »Mensch werde Maschine» kennzeichnen läßt. Software gilt hier als Ideologie, denn sie bestehe — so ihre Protagonisten - aus konventionellen Konzepten, Hardware hingegen ist eigenständig. Im Kontrast hierzu steht die mentalistische Sichrweise mit der Formel: »Maschine werde Mensch«. In diesem Fall wird die Hardware bzw. die Maschineso intelligent sie ist - als defizitär betrachtet. Erst wenn sie den menschlichen Geist inkorporiert, erreicht die Maschine den Status des höchsten Lebewesens. Der Geist hat nun eine neue Trägermaterie, die unsterblich ist. Das Fleisch des Körpers, der am Ende verwest, wird jetzt gegen den technisch avanciertesten Stoff- z.B. Silizium - ausgetauscht. 7 Mit dieser Differenz möchte Plessner den cartesianischen Dualismus von Geist und Körper überwinden. Allerdings sehen viele Interpreten im Leib-Körper-Schema nur eine Fortsetzung der Geist-Körper-Trennung, vgl. Becker (2002); MeysrDrawe(i984). 219
res Leib-Körperempfinden zu entwickeln, das von banalen Interaktionen zwischen User und. Gerät bis hin zu den derzeit möglichen Cyberexperimenten reicht. Es entsteht eine erstaunliche Aufmerksamkeit für körperliche Vorgänge und deren oben angesprochene Doppelperspektive. Interface,8 Interaktion und Performance9 sind Schlagwörter, die die Anwendung digitaler Technik bzw. das Spiel mit dem - als schwerelos und grenzenlos gedachten - digitalen Körper honorieren. Zahlreiche Computerspiele organisieren z.B. den Blick auf den Körper nicht als Abfolge von Programmschritten, sondern sie simulieren den Blick einer Kamera. Diese konventionellen Blickdispositive ermöglichen es dann (vgl. Begusch 2001) die oft zeichenhaften Figuren in einem Spiel als »real« und »lebendig« zu lesen. Noch stärker aber insinuiert das Blickdispositiv der »subjektiven Kamera« (ebd., S. 82) ein reales körperliches Erleben, indem wir aus der Perspektive des eigenen Körpers gewissermaßen selber durch die Labyrinthe wandeln. Der subjektive Kamerablick >vitalisiert< zahlreiche Computerspiele wie z.B. sogenannte Ego-Shooter,10 bei denen wir die Protagonisten nicht sehen können, sondern lediglich die Präsentation einer Hand (besser: die Verlängerung unserer Hand), die mit einer Waffe ein Ziel verfolgt; oder etwa die berühmte »Legible City« von Jeffrey Shaw (1990), wo der ganze Körper der Nutzer und Nutzerinnen in die Wahrnehmung eingebunden wird, indem sie auf einem realen Fahrrad, das stationär vor der Projektionsfläche angebracht ist, durch die Großprojektion eines computergenerierten Stadtbildes, dessen Straßen und Gebäude aus Buchstaben und Texten bestehen, navigieren. Dieser subjektive Kamerablick, der sich im Hollywoodkino nie durchsetzen ließ, leitet bereits den Prozeß der körperlich, motorischen Erregung ein, der aber erst durch die zusätzlich hohen Tempi der Reaktionszeiten den Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen läßt. 8 Die Verknüpfung der drei Bereiche Körper, Handlungsziel und Maschine geschieht durch das Interface. 9 Eine performative, häufig zitierte digitale Transformation des Körpers experimentiert mit der Perforation des begrenzenden Hautsackes- und beschwört die Auflösung der Grenzen von Realität und Fiktion herauf, wie die Performancekünstler Stelarc oder auch von dem Medienwissenschaftler de Kerckhove eindrucksstark demonstrieren (vgl. Stelarc 1996; de Kerckhove 1993). 10 Diese Spiele, die aus der Ich-Perspektive gespielt werden, haben durch den Erfurter Fall traurige Berühmtheit erlangt. 220
Durch die interaktive Kopplung von Mensch und Maschine wird »in einer sogenannten dialogischen Struktur und in einer durch wachsende Rechen- und Speicherkapazitäten bedingten Verkürzung der Zeitspanne zwischen Input und Output« das artifizielle >time relay< der menschlichen Wahrnehmung angenähert (vgl. Büscher 2001, S. 90). Bei dem interaktiven System »Very Nervous System«, das der Künstler David Rokeby schon 1983 entwickelt hat, werden Körperbewegungen (die per Videokamera aufgezeichnet werden) synchron in Klang und Musik übersetzt. »Eine Stunde lang beständig dem direkten Feedback in diesem System ausgeliefert zu sein, verstärkt« so Rokeby (2001, S. 53) - »in massiver Weise das Gefühl, mit der Umgebung verbunden zu sein. Wenn ich dann die Straße endang gehe, fühle ich mich mit allen Dingen verbunden. Das Geräusch eines Autos, das eine Pfütze durchfährt, scheint dann direkt auf meine Bewegungen bezogen zu sein.« (Ebd.) Dieses übergangslose Erleben mag dadurch hervorgerufen werden, daß unser Bewußtsein hinter unseren Aktionen bis zu einer Zehntelsekunde zurückbleibt so lange nämlich benötigen wir, bis wir uns dessen, was wir tun, bewußt sind (vgl. Rokeby 2001). Wenn also das interaktive System auf die Aktionen der Benutzer reagiert, und diese wiederum auf der Grundlage der Reaktionen des Systems handeln, dann hinken sie in gewisser Weise immer ein wenig hinterher. Deshalb werden die Vorgänge im System und seine Reaktionen von den Spielern in derselben Weise erfahren, in der sie ihren Körper erfahren. »Das interaktive System wird in unser propriozeptives System integriert. Das heißt, es gelangt in dasselbe Sinneswahrnehmungssystem, das unser Körpergefuhl definiert und die relative Position von Armen und Beinen zu unserem >Bewußtseinspunkt< herstellt« (ebd., S. 71). So kann bei exzessivem Einsatz die Feedbackschleife »tatsächlich« das Bewußtsein »neutralisieren« (ebd.). Dieser von Rokeby beschriebene Zustand, in dem die Trennung zwischen dem eigenen Körper und der Außenwelt (scheinbar) abhanden kommt, charakterisiert treffend den sogenannten >Flow«, der sich auch bei schnellen Computerspielen wie »ego shooter« einstellen kann. In einem solchen >Flow-Zustand< erfolgt Handlung auf Handlung, und zwar nach einer inneren Logik, welche kein bewußtes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint. Die User erleben den Prozeß als ein einheidiches >Fließen< von einem Augen-
blick zum nächsten, wobei sie Meister ihres Handelns sind und kaum eine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspüren. Csikszentmihalyi (1985) beschreibt mit dem FlowPrinzip - ähnlich wie Rokeby - einen Zustand, bei dem Handlung und Bewußtsein verschmelzen. Die Aufmerksamkeit des Handelnden ist auf die Tätigkeit beschränkt, er ist sich ihrer bewußt, nicht jedoch seiner selbst. Sobald die eigene Handlung von außen gesehen wird oder durch äußere Einwirkungen gestört wird, ist der Flow unterbrochen. Die gesamte Aufmerksamkeit wird auf ein begrenztes Stimulationsfeld zentriert, während gleichzeitig das Geruh] vorherrscht, dieses vollständig zu kontrollieren. Das Sperrfeuer der Bilder und die Notwendigkeit, rasend schnell zu handeln, können bei interaktiven Hochgeschwindigkeitsspielen zu einem Adrenalinstoß fuhren, der die Grenzen menschlicher Wahrnehmungs- und Reaktionssysteme zu sprengen vermag. Weil das schnelle System unterhalb der Bewußtseinsschwelle seiner Benutzer operiert, werden die »bloßen Bilder« am Monitor mit den eigenen Aktivitäten11 aufgeladen und einer konkreten physischen Vergegenwärtigung der Computerrepräsentation zugeführt. Im Gegensatz zu Fotografie, Film oder Fernsehen, wo es die persönliche Erinnerung und die Mimesis ist, die uns an das Lebendige in der Apparatur glauben läßt, ist es im Falle des Computers die eigene Aktivität, die eine digitale Repräsentation zum Leben erweckt und die Grenze zwischen dem fremden und dem eigenen Körper fließend macht (vgl. Rokeby 2001). Die suggestive Kraft der Immersion, also das Hineintauchen der Benutzer und Benutzerinnen »in die Illusion einer virtuellen Umgebung« (Büscher 2001, S. 96) läßt sich beispielhaft auch mit der Arbeit »Osmose« der Kanadierin Char Davies illustrieren: Ein mit Sensoren versehener Spezialanzug meldet jeden Atemzug und jede Körperbewegung seiner Trägerinnen und Träger an den Rechner. Dieser ist so programmiert, daß die Benutzerinnen, die sich in einem virtuellen Ozean befinden, mit gefüllten Lungen im Bild aufsteigen, beim Ausatmen hingegen absinken. Die Intimität des Erlebens und die Abgeschlossenheit der Taucher gegenüber der Außenwelt ermöglichen die konsequente Individualisierung der verkörperten Erfahrung, die die Illusion des Eintauchens in eine andere Realität mög11 Herumfahren mit einer Figur, Flüchten und Ausweichen, durch das Taktile unserer Steuerung einer Konsole oder Tastatur Spannung im Körper erzeugen etc.
liehst perfekt erscheinen läßt. Mit der Einbeziehung des ganzen Körpers wird eine Situation inszeniert, in der die Benutzer durch die Aktionen ihres eigenen Leibes die virtuelle Welt >mit Leben fiillen<. Damit aber - und dies ist aus soziologischer Sicht entscheidend entspricht die leere Hülle des digitalen Körpers der Leibwahrnehmung ihrer Spielerinnen und Spieler, in denen sich gesellschaftliche Einschreibungen und kulturelle Codizes manifestieren (vgl. Barlösius 2000). Indem der Körper als »Portrait gesellschaftlicher Vorstellungen« (Meyer-Drawe 1984, S. 22) und als kollektives Gedächtnis fungiert, ist Leiblichkeit gleichermaßen natürlich wie kulturell. Det Leib setzt Zeichen und ist Zeichen. Im Alltag der realen Welt trägt er die identitätsstiftenden Zeichen des Geschlechts, des Alters, der Rasse, der Krankheit, des Todes, der Lebensgewohnheiten, der erotischen Attraktivität oder z.B. der sozialen Schicht. Persönliche und gesellschaftliche Erfahrungen veräußern sich im materiellen Erscheinungsbild des Menschen, z.B. durch Falten oder Narben, und in ihrem individuellen Körpererleben, z.B. durch unterschiedliche Schmerz- oder Ekelgrenzen.12 Das (Auf)Spüren dieser - als >Körperwahrheit< erlebten - Körperzeichen und -empfindungen kann entweder zur stabilisierenden Selbstvergewisserung führen oder aber zur leidvollen Selbstirritation, wenn z.B. das Körpererleben vom Selbstbild abgespalten erscheint. Bemerkenswerterweise gewinnt damit die Einheit des Körpers als Zeichenträger (Goffman 1981, S. 110) für soziale Identität die Bedeutung, die ihm bereits im 18. Jahrhundert zuteil wurde. Die Idee von der organischen Einheit des Leibes mündet in einer Vorstellung, die den Körper als >wahre< Verankerung in der Welt und als Ort des Authentischen und Eigendichen stilisiert.13 Das Bild vom eigenen Körper (body-image) aber ist nicht nur in bezugauf das Selbstkonzept der Individuen »von Gewicht« (vgl. Butler 1997). Mit der Handhabung des Körpers werden auch Bedeutungen entworfen, um Verhaltenserwartungen zu formulieren und zu organisieren, so daß der körperliche Ausdruck als »eingebautes, un12 Eine kulturelle Codierung der Körpersprache läßt sich gar bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, wo mit der Vorstellung einer >Beredsamkeit des Leibes< eine Rhetorik des Körpers konstruiert wurde. 13 Die Vorstellung von der Einheit des Körpers ging einher mit einer technikfeindlichen Auffassung über die Natur des Körpers, der vor den Unbilden einer >technikbesessenen- Gesellschaft geschützt werden müsse. 223
verfälschbares Anzeigeinstrument« (Goffman 1981, S. 110) erscheint. In den Körpern manifestieren sich entsprechend Ritualisierungen, die spürbare »Erkennungs- und Verkehrszeichen des Interaktionslebens darstellen« (Willems 1998, S. 48). Der kurzatmige Raucher und die durchtrainierte Sportlerin unterscheiden sich deshalb in ihrem Körpererleben nicht nur durch physiologische Differenzen, sondern vor allem auch durch kulturelle Wahrnehmungs- und Rezeptionsschemata. Ihre Körper präsentieren sich in einer (Im-)Materialität, die nicht unabhängig von ihren sozialen Repräsentationen erfahrbar und erkennbar ist. Da in der Interaktion die soziale Ordnung durch die ständige Reproduktion von Körperzeichen und -bedeutungen vergegenwärtigt und wahrgenommen wird, kommt den Sinnen eine zentrale Rezeptionsbedeutung zu. Üblicherweise gilt der Sehsinn als der primäre Sinn, denn die vereinzelten Sinne wurden unter dem Einfluß der gedruckten Schrift dem Primat des Augensinns unterworfen. Das Trompe-l'oeil ist ein schlagkräftiger Beweis für den Sieg des Augensinns über das Takeile, so de Kerckhove (2001, S. 39), da nun die Empfindung des Berührens nicht mehr über die Hände, also über die konkrete materiell-widerständige Erfahrung vermittelt wurde, wie dies in der Antike und der Renaissance noch mittels der Statue geschah, sondern über das Denken.14 Dieser These vom Visualprimat als kulturelle Dominante wird jedoch - z.B. von Böhme (1996) - entgegengehalten, daß der Tastsinn bedeutender für das Gesehene ist, als angenommen. So läßt sich handlungs- und wahrnehmungstheoretisch argumentieren, daß die Rezeption der (sozialen bzw. personalen) Umwelt und die damit einhergehende soziale Interaktion mit allen Sinnen stattfindet- und dies gilt sogar für den virtuellen Raum. Mit den digitalen Medien geht nicht notwendig eine Veränderung der Wahrnehmung einher. Beispielsweise können Pho14 Während sich jedoch die Zentralperspektive beim Trompe-l'oeil in zwei Dimensionen abspielt, ist die virtuelle Realität dreidimensional. Käufer u.a. (2002) gehen davon aus, daß uns die historische Codierung unserer Realitätswahrnehmung bis heute prägt, so daß der zentralperspektivisch konstruierte Raum als Mimesis der Wirklichkeit und der dreidimensional wiedergegebene Körper als authentische Repräsentation menschlicher Physis anerkannt wird. Auch die ersten Fotografien wurden ab mimetische Abbilder der Realität verstanden. Deshalb bestätigen am Computer generierte Körperbilder (nur) dann unsere Vorstellungen von Wirklichkeit, wenn sie wie ein fotografisches Bild erscheinen, und sie irritieren, wenn sie ihrerseits computergestützt manipuliert sind. 224
bien - wie etwa Höhen- oder Platzangst — deren Erleben vegetativ abläuft (Herzklopfen, Schweißausbrüche etc.) nicht nur durch virtuelle Installationen ausgelöst, sondern auch therapiert werden (Krämer 2001), und zwar nicht deshalb, weil Abbildungen von Hängebrücken oder tiefen Schluchten sichtbar sind, sondern weil durch die »Übersetzung von physischen Bewegungen in Bewegungen des semiotischen Körpers [...] beide wie durch eine Nabelschnur miteinander verbunden sind. Der physische Leib bleibt dabei die Bedingung der Möglichkeit, daß der virtuelle Körper agieren kann« (Krämer 2001, S. 471 f.). Krämer hält der »Rhetorik einer Verabschiedung des Körperlichen« (ebd., S. 471) entgegen, daß der wirkliche Körper mit all seinen Sinnen in der virtuellen Repräsentation gespiegelt wird, um als Gestalt einer Datenstruktur, als eine »semiotische Entität« in Interaktion mit anderen symbolischen Objekten innerhalb der virtuellen Welt zu treten. Wie sehr sich die kulturelle Codifizierung des Körperschemas auch in den - als leere schwerelose Hülle beschriebenen - digitalen Körper einschreibt, wird mit einem Blick in die Datenstruktur erkennbar. Die »werkseitigen« Voreinstellungen der Computerprogramme und ihre Oberflächen verweisen fast ausnahmslos auf eine »politische Narration«, die mit realen Markterfahrungen korrelieren und Figuren definieren, die in der Tradition des idealen, kunstgeschichdichen Körpers stehen. Angesichts dieser Normkörper aber wird jede »freie Modellierung zur Konstruktion des >Anderen<« (Begusch 2001, S. 84). Dennoch halten sich die Vorstellungen eines freien und leicht formbaren Körpers konstant. Mit dieser Vision verbinden sich durchaus unterschiedliche Funktionstypen von Virtualität. So kann die virtuelle Welt entweder als Probebühne (1) (vgl. Turkle 1997) dienen, auf der das eigene Rollenverhalten spielerisch getestet wird, oder als Kompensationsraum (2) (vgl. Butler 1991), in dem Defizite und Zumutungen der Realwelt eskapistisch überwunden werden (sollen), Dder aber als Utopie (3) (vgl. Haraway 1995), mit der Ordnung neu hergestellt oder stabilisiert werden kann. Im Gegensatz zu den erDrobenden und kompensatorischen Zielen der ersten beiden Funk:ionstypen werden im dritten realweltliche und virtuelle Elemente /erknüpft und einer Strukturierung zugänglich gemacht. Bemerkens.verterweise spielt in allen Fällen die phantasmatische Konstruktion ier Körper eine entscheidende Rolle. Je nach Bedarf werden mittels Collage- und Montagepraktiken realweltliche (Körper)Szenarien er225
probt (i), gegebenenfalls können aber auch referenzlose Körperbilder entworfen (2) oder aber natürliche und künstliche Organ (repräsentationen), sowie realweldiche und virtuelle körperliche Merkmal (sdarstellungen) wesensbestimmend verknüpft werden (3). Die scheinbar körperentkoppelte Netzkommunikation kann so gewissermaßen als Test auf das Mischungsverhältnis zwischen mentaler und körperlicher Verankerung von sozialer Identität verstanden werden. Mit den virtuellen Körperkonstruktionen, die nachfolgend beschrieben werden, zeigt sich jedoch eindrücklich, daß auch im bzw. durch das Netz der Körper maßgeblich als Zeichenträger für Identität und Sozialität fungiert.
2. Körperkonstruktionen Das Internet gilt als Identity Workshop, in dem durch artifizielle »Körperkonstruktionen« multiple Identitäten simulierbar sind. Die im Prinzip beliebige Konstruktion der eigenen Person, die überraschenderweise auch im Netz zumeist als Geschlechtsperson inszeniert wird, erfolgt im elektronischen Netz gewöhnlich durch die Wahl des sogenannten >Nicknames<, durch die phantastische Ausgestaltung des imaginierten Körpers oder durch den .Sprachstil und die Verwendung von Kürzeln, die Gefühle symbolisieren. In einer technisch neu ausgestatteten Form der Repräsentation kann die Beschaffenheit des Körpers, seine Reaktionen auf bestimmte Interaktionsverläufe, seine Signale durch Mimik, Habitus, Kleidung, Schmuck etc. entweder textualisiert oder graphisch als Avatare,15 simuliert werden. Üblicherweise geschieht dies - neben Selbstauskünften in Profilen oder auch Homepages - in Form von »Körpermetaphern«, die durch textuelle Verdichtung versuchen, der Sprache selbst ein quasi leibliches >Flair< zu geben. Anhand von sogenannten Emoticons,16 die den körperlichen Zustand graphisch illustrieren, oder mittels spezifischer Akronyme,17 ohne die offenkundig »echte« Emo15 Avatare sind graphische Repräsentationen von Nutzerinnen. 16 Beispiele fiir Emoticons: %-6 > Brain Dead (hirntot); &.(.. > Weeping (weinend); &-I > Tearful (weinerlich);':-) > Moving Left Eyebrow (linke Braue hochziehend); 8-1 > Eyes wide with Surprise (Augen vor Erstaunen aufgerissen); :-9 > Licking his Lips (sich die Lippen leckend). 17 Beispiele fiir Acronyme: (bg) > With a broad grin (mit einem breiten Grinsen); 226
tionalität nicht zu vermitteln ist, soll »das Pulsieren des Körpers« (Bronfen 1998, S. 21) in die Sprache übertragen werden: Habitus, Mimik, Stellungen, körperliche Verfaßtheiten oder gar komplette Handlungsabläufe werden durch restringierte Beschreibungen ritualisiert.18 Diese Körpermetaphern (vgl. Funken 2000a; 2000b; 2001b) rufen ein materielles Substrat auf, indem die persönlichen Reaktionen nicht einfach in mentale oder emotionale Zustände übersetzt werden, sondern organische Reaktionen beschreiben. Der Körper vermittelt offenbar Zustände, wofür Aussagesätze nicht reichen, denn lediglich der Körper selber versichert die Einheit der intentionalen Verfaßtheit. Es wird ein emphatischer Körperbezug erprobt, indem der abwesende Körper durch sprachliche Verdichtungen vergegenwärtigt wird. Besonders häufig erfolgt die Beschreibung vegetativer Körperreaktionen, die im Prinzip nicht beherrschbar sind. Gesichtszucken, Tränenfluß, Erröten oder Augenflimmern und Seufzen werden realiter als körperliche Automatismen erlebt, denen man i. d. R. hilflos ausgeliefert ist. Offenkundig werden alltagserprobte Vorstellungen in bezug auf den Körper transformiert, die sich z. B. in solch lebenspraktischen Annahmen niederschlagen, daß sich der Lügner durch körperliche Symptome wie Erröten >verrät<, Ängstliche z.B. durch Schwitzen oder Nervöse durch Zittern. Diese - oft leidvoll ertragene - Eigenständigkeit des Leibes wird nun in die Regie des Zeichens genommen. Leibgebundene Formen der Erfahrung, Sinnlichkeit oder Emotionalität können - so will es scheinen - durch zeichenhafte Auflösung technologisch transformiert werden. Die vielgepriesenen Dekonstruktionen des Körpers (vgl. Turkle 1997) sind jedoch empirisch nicht verifizierbar,19 so daß die FunkFUBB > F'ckcd up bcyond belief (unglaublich kaputt); (gbh) > Great big hug (Große Umarmung). 18 Anstelle von Aussagesätzen wie: »Ich schäme mich« erfolgt z.B. die Körpermetapher
. 19 Die empirischen Daten beziehen sich auf diverse Untersuchungen in unterschiedlichen Diensten des WorldWideWeb, die ich getrennt durchgerührt und ausgewertet habe: (1) Inhalts-Analyse (Logfiles) von Konversationen in nicht-themenzentrierten Chat-Rooms über die Dauer von einem Jahr, Freiburg 1998. (2) Qualitative Interviews mit Usern (n=2o) eines MUDs (Avalon) und teilnehmende Beobachtung. Diese Studie wurde gemeinsam mit Birgit Huber durchgeführt, Freiburg 1999/2000. (3) Inhaltsanalyse von und teilnehmende Beobachtung inaktuellen Computerspielen. Diese Studie wurde gemeinsam mit Fabian Grossekemper durchgeführt. Freiburg 2001/2002 (unveröffentlichtes Manuskript). 227
tionstypen der Virtualität unausgereizt bleiben. An der Tagesordnung ist vielmehr der Gebrauch konventioneller Artikulationsformen und hinlänglich bekannter Stereotypisierungen, die selbst bei der »Identifikation« mit nichtmenschlichen Gegenständen - z.B. einer Fee oder einem Kobold — erstaunlich konform bleiben und damit das körperliche Containermodell (vgl. Funken 2000a) (statt es zur Disposition zu stellen) nur bestätigen. Auch zeigt sich eine erstaunliche Konvergenz zwischen der expliziten, artifiziell herbeigeführten Thematisierung des Körpers z.B. durch den Nickname20 (als Äquivalent von »Erscheinung«) (vgl. Goffman 1983, S. 23fr.) und der impliziten, quasi beiläufigen Benutzung von textuellen Körperkonstrukten (als Äquivalent von »Verhalten«) (ebd.), die zur Glaubwürdigkeit des virtuellen Charakters beitragen sollen. Offenbar spielt die »persönliche Fassade« (ebd.) eines Kommunikationspartners, d. h. die sich gegenseitig bestätigende Übereinstimmung zwischen Erscheinung und Verhalten auch im elektronischen Netz eine ausschlaggebende >Rolle< für den weiteren Verlauf jeder Kommunikation. Aber nicht nur der emphatisch propagierte Gewinn einer körperlosen Begegnung in der virtuellen Praxis erweist sich als untauglich für emotionale und vertrauenswürdige Kommunikationen. Erstaunlich ist auch die Tatsache, daß der Körper selbst als ausschließlicher kommunikativer Bezugspunkt und Authentizitätsnachweis der Subjekte an »Gewicht« verloren hat. Der Zeichenträger >Körper< wird als alleiniger Garant für eine glaubwürdige und authentische Kommunikation im elektronischen Netz nur bedingt anerkannt, denn er ist bereits im real life ein durch Medienbilder erzeugter Leib. Im Internet wird deshalb auch auf gestaltete Räume zurückgegriffen,21 so daß der Körper erst im Verhältnis zu den realweltlichen oder virtuellen Räumen seine Authentizität erlangt.22 20 Der Nickname ist zumeist geschlechtlich konnotiert, denn die Wahl eines geschlechtsneutralen Namens bewirkt hohe Irritation bei den Kommunikationspartnerinnen, die so lange keine Ruhe geben, bis sie das wahre- Geschlecht des Anderen erfahren haben. 21 Und zwar häufig auf Raum(strukturen), die vormodern sind und die kargen und offenen Orte von heute widerlegen. Schlösser, mittelalterliche Burgen, Verliese oder Alkoven gehören zu einem Raum-Arsenal, das heimelige, enge, vertrauliche oder durchaus auch bedrohliche Atmosphären schafft. 22 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde unter >Raum< zumeist nicht mehr als ein umgebendes Territorium, gebildet aus der Dingwelt, verstanden. Damit wurde 228
2.1 Beispiel Internet - Vergleich unterschiedlicher Dienste1^ Chats Die überraschend körperzentrierte Kommunikation im Chat vollzieht sich als sukzessive Transformation von der anonymen über die teilanonyme bis hin zur vertrauten Kommunikation im real life. Diese gängige Dynamik von chat-basierten Kommunikationen wird nur dann unterlaufen, wenn die Teilnehmerinnen bereits frühzeitig wieder das Chat verlassen. Solche Mitspielerinnen sind lediglich für einen kurzen Augenblick ins Netz gegangen, um spielerisch und unverbindlich am schnellen, zunächst anonymen Geschehen teilzunehmen. Sie legen sich nicht ins Zeug, um eine Kommunikationsfigur aufzubauen, die beim Verbleib im Netz glaubwürdig und - dies ist typisch für Chats - realweltlich überprüft werden könnte. Der latent eingeforderte Verbindlichkeitsgrad wird bei den kurzfristigen Chattern nicht eingelöst. In gewissem Sinne kann der gängige Transformationsprozess der Chats mit dem Terminus des »Erfolgreichen Scheiterns«24 charakterisiert werde: Ein Chat gilt dann als gelungen und zweckdienlich, wenn es genau die symbolische Ordnung, also den Rahmen verläßt, der seine Teilnehmerinnen eingangs zum Mitmachen aufforderte. Erst indem das anonyme und raumlose Kommunikationsnetz realweltlich personalisiert und verortet wird, erfüllt Raum als das materiell Umgebende, als Container konzipiert. Durch gesellschaftliche Veränderungen und nicht zuletzt auch durch das elektronische Netz ist ein Raum vorstellbar geworden, der nicht auf Container-Imagos reduziert werden muß. Die euklidischen Raumbilder von senkrecht aufeinander stehenden Geraden, welche das Denken nachhaltig beeinflußt haben, passen nicht mehr zu den Bildern vom immateriellen, unendlichen, vielfältig verknüpften Nerz (vgl. Funken/Löw 1002b). 23 Ein Chat ermöglicht den Usern, sich per Tastatur direkt mit anderen Leuten auf der ganzen Welt - quasi öffendich in themenspezifischen oder auch unspezifischen Räumen - zu unterhalten oder aber direkt mit einzelnen Benutzerinnen zu plaudern (private messages). Ein MUD (Multi User Dungeon) ist eine virtuelle Multi User Umgebung, ein interaktives Spiel, in das sich via Telnet viele Spieler und Spielerinnen gleichzeitig einloggen und in Echrzeit miteinander kommunizieren können. Die ersten MUDs wurden in den frühen achtziger Jahren als FantasyRollenspiele im «Dungeon and Dragon«-Stil entworfen und durch das interaktive, soziale und kommunikative Element des Internet erweitert. 24 Dieser Begriff entstammt der Netzwerktheorie, vgl. u.a. Weyer (2000). 229
es seine eigentliche Bestimmung. Der erste Schritt der körperlichen Identifizierung erfolgt bei diesem Transformationsprozess vom virtuellen zum realen Treff bereits im elektronischen Netz. Durch das beständige Aufrufen der Körperbilder wird eine Art body-check vorgenommen, der zunächst maßgeblich die geschlechtliche25 Identifizierung zum Ziel hat. Schon im Anfangsstadium wird der (geschlechtliche) Körper als unverzichtbarer Nachweis fiir Authentizität eingesetzt, um das Geschehen und die sozialen Beziehungen zwischen den Charakteren zu regeln. Die anfängliche körperliche Anonymität wird dann sukzessive durch den Austausch von E-mail-Adressen, Pics, Telefonnummern etc. aufgebrochen. Realweltliche Treffen, Parties und Face-to-face-Verabredungen vollenden schließlich die medial begonnenen körperlichen Selbstrepräsentionen und entscheiden letztendlich über den weiteren Verlauf der Bekanntschaft. Offenbar gelingt der Entwurf neuer Körperszenarien, also die Interaktion mit fiktiven Figuren im Netz nur dann, wenn er mit der Vergewisserung des >natürlichen< Körpers einhergehen und gegebenenfalls einer ambitionierten Überprüfung im »realen Leben« standhalten kann. Wer also im Chat nicht bloß kurzfristig verweilt, sondern als Dauergast auftritt, ist mit dem Anspruch konfrontiert, (s)ein authentisches Ich in die cyber-technisch etablierte Arena einzuspeisen. Identitätstausch im Chat hat keine subversiven Effekte. Er ist nur legitim, wenn er als Königsweg zu sich selbst beschritten wird. Das Subjekt darf die Seiten wechseln, um herauszufinden, ob es im falschen Körper geboren ist oder ob es sich nur einen Ruck geben muß, um mit Begeisterung zukünftig das zu sein, was es immer schon war. MUDs und MOOs In den textbasierten Mittelalter-Spielwelten der MUDs, in denen die Spieler und Spielerinnen als Elfen, Echsen oder Zwerge Rätsel lösen und Kämpfe bestehen, gelten andere Regeln. Hier ist der kontinuier25 In der codierten ZweigeschJechdichkeit wird »der Körper als Bedeucungsrräger und das Geschlecht als Bedeutung nicht voneinander unterschieden« (Lindemann 1992, S. 3 37). Die - von Transsexuellen erlebte - Nichtübereinstimmung zwischen Geschlechtskörper und Geschlechtsidentität macht jedoch deutlich, wie fragwürdig es ist, von »der körperlichen Geschlechtlichkeit als der natürlichen Basis des Geschlechts auszugehen« (Maihofer 1995, S. 240). 230
liehe Einsatz konsistenter VR-Charaktere zu verzeichnen. Wie bei der Spielfigur in einem RL-Fantasy-Rollenspiel (vgl. u.a. Hirseland/ Schneider 1996, S. 230) hat auch im MUD die Möglichkeit der »biografischen Entwicklung« zentrale Bedeutung für die Inszenierungskraft des VR-Repräsentanten. So betonen Spielerinnen aus dem MUD Avalon auf Nachfrage ausdrücklich, daß der virtuelle Repräsentant zwar »in gewissem Sinne eine Spielfigur ist, [...} aber ein Charakter ist mehr. Ne Spielfigur ist so'n Plastikhütchen ohne Persönlichkeit [.. .1 Aura . . . usw. Genau das kommt zu einem Charakter hinzu. Von einer Spielfigur hat man auch kein Bild [...]: Von einem Charakter wohl.«26 Selbst bei äußerst phantasievollen Selbstrepräsentationen wird also - in unter Umständen jahrelanger mühevoller Kleinarbeit - ein konsistentes Bild geschaffen.2 Unterstützend codieren automatisierte Befehle spezifische Handlungsmuster und typisierte >Körpersprache<. Solch ein Kommentar ist z. B.: »Du hast ein feuchtes Gefühl in der Kehle«. Bei dem Elfen-Befehl »Poeh« kommt beispielsweise die Meldung: »X. reckt die Nase hoch in die Luft, wendet sich sichdich beleidigt ab und denkt: .oO (Poeh . . . Dunkelelfen)«. >Impression Management< (Goffman 1981) kann nun als automatisierte Deutungs- und Regieanweisung gelesen werden, die jegliche Widerständigkeit des Körpers bricht. Damit wird der phantasmatisch überhöhte, d. h. der vollständig verfugbare Körper zum unhintergehbaren Adressaten der elektronischen Netzkommunikation. Doch obgleich die kreative und einzigartige Ausgestaltung der virtuellen Charaktere gewünscht wird - Echtheit ist nicht gefragt -, gibt es fundamentale Gütekriterien für die entworfenen Figuren. Wer ihnen nicht entspricht, muß mit erheblichen Sanktionen rechnen. Konsistenz der gewählten Rolle ist oberstes Gebot. Von den Beteiligten, die sich unentwegt wechselseitig im Visier haben, wird strengstens kontrolliert, ob eine Spielfigur den erfundenen Charakter und die entsprechenden Körperrepräsentationen im 16 Auswertung der MUD-Interviews (vgl. auch Funken 2000; 2001b, c; 2002). 27 Gleichsam fällt auf, daß die »vollständige Routinisierung von Darstellungen, die in ihrer Mühelosigkeit und Nicht-Reflektiertheit gerade nicht als >Darstellung< (im Sinne der Alltagssprache), sondern als spontaner Ausdruck des Seins wahrgenommen werden* (Hirschauer 1994, S. 681) und sogenannte Naturalisierungseffekte hervorrufen, auch vor dem Netz nicht Halt macht. Selbst wenn die User in die Rolle eines virtuellen Charakters schlüpfen und sich nicht selber darstellen, ist der Bezug zur Realwelt virulent und produziert Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Umgangs. 231
Verhältnis zu ihrer virtuellen Umwelt durchhält und überzeugend präsentiert. Die wahre Identität der Person ist irrelevant. Dennoch bleibt >Einheit< als zentraler Leitwert der Interaktionen bestehen. Es geht nicht etwa um die Auflösung von Differenzen, um das ger nüßliche Verharren im Unentschiedenen und Diffusen, um geschlechdiche Eigenschaftslosigkeit. Das Wesentliche ist hier, sich für Identitätsindikatoren zu entscheiden und diese Entscheidung durch Kommunikationsakte, die miteinander kompatibel sind, zu bekräftigen. Um dies leisten zu können, ist offensichtlich die Beschreibung der körperlichen Zustände unabdingbar. Glaubwürdigkeit erfolgt über den Körper, zumeist in bezug auf einen Raum. Dieser prägt die Situationsdefinition im Sinne einer grammatikalischen Ordnung, in der und durch die sich der Körper bewegt und der durch den Körper seine Bedeutung erlangt. Im MUD Avalon beispielsweise müssen Aufgaben gelöst werden, die einen materiellen und räumlichen Bezug aufweisen, indem Hindernisse aus dem Weg geräumt, Schluchten überwunden, Höhlen und Wälder durchforstet oder Unwetter überlebt werden müssen. Das Spiel um soziale Anerkennung und um situationsgerechte Positionierung erfordert ein hohes ortsgebundenes28 Körpermanagement, denn die interne Struktur des Spiels basiert nicht primär auf der Abfolge von Vorgängen, sondern auf der Abfolge von Orten (vgl. auch Adams 1996). Die interaktive Fiktion ist räumlich aufgebaut, in der die Spielerinnen mittels einer Kommandosprache ihre problemlösenden Bewegungen steuern: GO SOUTH, GOUP,GOIN! Textbasierte Fantasyspiele wie MUDs werden zunehmend von grafischen Spielen abgelöst, die den Spielenden die Möglichkeit bieten, sich »konkret« in räumlichen Konfigurationen zu bewegen. Heute sind fast alle Spiele dreidimensional und fotorealistisch aufgebaut. Ein anschauliches Beispiel für die virtuelle Verortung der Gegenwart ist eine Fußballsimulation (z.B. Fifa 2001). Hier wird das Stadion so nachgebaut, daß kaum ein Unterschied zum RL zu erkennen ist. Man hört dieselben Kommentatoren, sieht dieselbe Werbung, die Spieler stimmen bis hin zur Gesichtsform und Frisur mit den lebenden Pendants überein. 28 »Science Fiction as a genre has less to do with time (history, past, future) than with space.« (Frank 1991, S. 5 ff.) 232
Computerspiele Dies trifft auch auf die bereits eingangs beschriebenen Ego-Shooter (so genannt, weil sie aus der Ich-Perspektive gespielt werden) zu.29 Bei den Bildern soll Realitätsnähe30 durch Details erzeugt werden. Die Hersteller arbeiten mit dynamischen Lichteffekten wie Echtzeitschatten. Auch die Körper sind so wirklichkeitsgetreu wie möglich konzipiert: Bei einem Kopfschuß stirbt der Teilnehmer, bei einem Treffer ins Bein beginnt er zu humpeln. Beim Laufen oder Springen sind Geräusche zu vernehmen. In vielen Spielen sind auch die Waffen in der Formgebung, Durchschlagskraft und Genauigkeit existierenden Waffen nachmodelliert. Eine Spielrunde vergeht schnell (i bis 10 Minuten)31 und die Anzahl der Räume, in denen das Spielgeschehen organisiert ist, ist begrenzt. Obwohl alle Räume im »Geh-Modus« zu erreichen sind, nutzen die Spielenden gern »Jumppads«, die helfen, eine Spielfigur in eine andere Stelle oder ohne Aufzug in ein anderes Level zu transportieren. Um die Geschwindigkeit zu erhöhen, schalten viele Spieler >schmückende< Details aus, so daß Räume wie Kisten überschaubar werden. Im Geschwindigkeitsrausch können Raum- und Körpergrenzen spielend überwunden werden. Außerdem sind die klar strukturierten Räume häufig überdimensional groß oder bedrückend klein. Wie in einem Barockschloß oder in der faschistischen Architektur sollen sie die Spielenden verängstigen und bedrohen. So wird der Feind feindlicher und die Notwendigkeit, dem Raum zu entfliehen, 29 Hier liegt wahrscheinlich der größte Anteil an allen Spielen. Quake 3 Arena z.B. ist ein reines Multiplayerspiel. Die kommunikative Situation entsteht dadurch, daß die Spielerin nicht mehr gegen den Computer, sondern gegen Spieler aus aller Welt antritt. Primärziel dieser Spiele ist das Töten. Töte alles, was nicht Du selber bist oder Mitglied Deines Teams ist, lautet die Devise. Extrem gefordert wird dabei die Teamfähigkeit und das koordinierte Zusammenspielen, analog zu militärischen Einheiren im realen Leben. 30 Die Herstellerinnen von Spielen versuchen immer wieder neu durch Verbesserungen der Graphik die Realitätsnähe zu erhöhen, indem sie wechselnde Wetterbedingungen, Tag und Nachtzyklen, Wasserspiegelungen etc. einbauen. So werben zum Beispiel die Herstellerinnen des Erfolgsspiels »Tomb Raider« mit den realistischen, nämlich wechselnden. Wetterbedingungen und Wasser Wirkungen als Spielhintergrund. Ein gutes Spiel ist ein Spiel, daß an die Qualität eines Fernsehfilms möglichst nahe heranreicht. 31 Ein Spiel mit 25framesper second (fps) erscheint einem Laien spielbar und flüssig; Profis spielen mit einem Vielfachen dieser Frequenz. 133
dringlicher.32 Die Computerspiele-Herstellerin Brenda Laurel (1998) fand über Marktforschung heraus, daß besonders Jungen (im Unterschied zu Mädchen) das Nachstellen von körperlicher Überlegenheit und Dominanz als Abenteuer reizvoll finden. Sie suchen keine komplexen räumlichen Arrangements, in denen Geschicklichkeit gefordert ist, sondern einfache, klar strukturierte Kontexte, in denen sie Held oder auch Verlierer sein können.
Fazit Die Bedeutung der Interaktion unter Anwesenden geht in der (spät)modernen Gesellschaft sichtlich zurück und relevante Interaktionen laufen (auch) ohne Nahweltdeckung ab. Menschen werden zunehmend über - am Körper ablesbare oder dem Körper zugeschriebene — Zeichen definiert, und dies hat Folgen fiir das Selbstverständnis der einzelnen Personen. Sie orientieren sich (so sieht es zumindest eine Reihe von Soziologinnen und Soziologen) in ihrem Handeln und Erleben nun weniger an verinnerlichten Normen und Werten, sondern an externen, gut sichtbaren und oft genug meßbaren Größen, die medial aufbereiteten und dargebotenen Szenarien entnommen werden. Identitätsentwürfe erhalten dementsprechend eine neue Gestalt: Die sozial relevanten Selbstmanifestationen speisen sich nicht mehr primär aus hinreichend stabilen Intentionen der Akteure, sie vollziehen sich vielmehr situativ in der Konstruktion und Performation der Subjektkörper. Wenn diese Diagnose zutrifft und heute mit Recht davon gesprochen werden darf, daß normalistisch geprägte, außengeleitete Menschen im Wettkampf um Aufmerksamkeit nicht intentional, sondern performativ agieren, dann ist die Frage nach den Effekten der Internet-Nutzung für soziale Prozesse von Belang. Wie die bisherige Bestandsaufnahme gezeigt hat, läßt sich die Rolle des Körpers im Internet aber nicht durch Rekurs auf eine spezifische, mehr oder minder wahrscheinliche Wirkung erläutern. Jede eindeutige Bestimmung würde das breite Spektrum der Funktionen, die der >medialisierte< Körper erfüllt, nicht angemessen berücksichti32 In anderen Internet-Spielen, z.B. Counterstrike, wird mit eng umschließenden Räumen als Bedrohung gearbeitet: Schmale Gänge, dunkle Treppenhäuser, Lüftungskanäle, die nur kriechend durchquert werden können. Wie im »wirklichen Leben- so ist auch im Spiel der Raum Träger von Atmosphären. 234
gen. Denn die Befunde weisen in zwei unterschiedliche Richtungen: die affektiven und somatischen Körpererfahrungen im Netz scheinen eher die oben beschriebene Außenlenkung zu forcieren (i.), während die auffällige virtuelle Anbindung des Körpers an Intentionen und Kontrollsemantiken die Vermutung nahelegen, daß hier unerwartete Formen der Innenlenkung entstehen, die den generellen sozialen Trend zur Externalisierung der Orientierungsmuster bremsen oder gar umdrehen könnten (2.). Ich möchte beide Aspekte noch einmal kurz beleuchten: 1. Der digitale Körper provoziert z.B. durch Immersion eine subjektive Körpererfahrung, die unausweichlich ist und gewissermaßen als Körperwahrheit erlebt wird. Wenn die Benutzerinnen und Benutzer im Netz und durch das Netz zu körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, erhöhter Atemfrequenz oder auch Panik bzw. Euphorie gebracht werden, >verlieren< sie die Kontrolle über sich und ihren Körper. Die klassischen Dichotomien zwischen Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Fremdem und Eigenem (vgl. Becker 2002, S. 267) lösen sich auf. Unter diesen Bedingungen werden Orientierungsweisen wichtig, die sich mit den computertechnisch generierten Körpererfahrungen verknüpfen lassen. Die normalistischen Datenlandschaften und die medialen Testarenen, in denen das aktuell Zuträgliche und Akzeptable ermittelt wird, liefern hierzu die passenden Materialien. 2. Die Körperkonstruktionen im Netz haben einen ganz anderen Status und führen daher auch zu alternativen Ansichten über die erforderlichen sozialen Orientierungsstrategien. Sie ergeben sich gerade nicht aus Erfahrungen des Kontrollverlustes, die der Kompensation bedürfen. Körperkonstruktionen sind vielmehr das Ergebnis intentionaler Akte, die im Kommunikationsprozess als Resultate bewußter Steuerung erscheinen. Nutzer und Nutzerinnen bedienen sich zur sozialen Identifizierung ausgefeilter Selbstbeschreibungen, die als Differenzierungs- oder auch Zugehörigkeitsmarken geltend gemacht werden und auf soziale Anerkennung zielen. Der Körper hat in solchen Beschreibungen ein großes Gewicht, er fungiert aber weder als virtuelles noch als reales Substrat, das sich mit seinen vorgegebenen Eigenschaften aufdrängt. Die Bezugnahme auf den Körper besitzt eher den Charakter einer theatralischen Konzession, die um so leichter geübt werden kann, als sie (heute noch weitgehend ungenutzte) Spielräume für virtuose Operationen öffnet. Warum aber *3>'
muß der Körper überhaupt auf einer Bühne erscheinen, die seinen Status derart problematisiert. Wie wir aus der soziologischen Forschung wissen, sind die Aufmerksamkeit bindenden Prozesse der biographischen Symbolisierung auf die Präsenz des Physischen angewiesen. OfFenbar können wir uns ohne den Körper nicht sozial positionieren. Der Körper gilt in jeder Interaktion, also auch im Netz, als unhintergehbares Zeichens das beabsichtigt oder unbeabsichtigt den Kommunikationsprozess beeinflußt. Indem er Zeichen >setzt< bzw. Zeichen >ist<, ermöglicht er jedoch auch Interpretationen, die mehr oder weniger (situations)angemessen sind. Deshalb werden im Netz vegetative Körperreaktionen unter die Regie der Zeichen genommen. Zwar rufen die neuartigen Körperbilder das physische Fundament in seiner Rolle als eingespielter Faktor für kommunikative Glaubwürdigkeit auf, aber die eigentliche Konstitution des Sozialen findet in der Phantasie statt. Diese Art der »Zeichen-Regie:, mit deren Einsatz eine vollständige Steuerung der personalen Darstellungsweisen angestrebt wird, eröffnet semantische Möglichkeiten, die die Bandbreite heutiger Körperdiskurse33 entschieden vergrößern könnte. Die Körpermetaphern und Emoticons als solche legen nämlich noch keineswegs fest, ob der Körper z.B. als unhintergehbare Einheit im Sinne eines Containers, als (offenes) System oder als chaotisches Ensemble singulare! Aspekte und unauihebbarer Differenzen zu interpretieren ist. Die Präsentation des Körpers könnte z.B. fragmentiert oder verzerrt erfolgen, um die Vorstellung einer verkörperlichten Innerlichkeit bzw. die Idee einer ganzheitlichen oder kohärenten Identität zu untergraben. Daß die Option besteht, einerseits äußerliche Körper-Zeichen für die »innere Integrität« von Personen (Koch 1995, S. 276) und damit weiterhin Authentizitätsbeweise zu suchen und andererseits mit elektronischen Figuren des zerstückelten oder grotesken Körpers zu 3J Allein in den Bio-Wissenschaften herrschen höchst uneinheitliche Körper-Diskurse: Die Idee vom Körper in der Immunologie ist etwas grundlegend anderes als in der Anatomie oder die biochemische Vorstellung des Körpers als Anordnung von Basenpaaren. Auch die Sinnesphysiologie oder Neurophysiologie differieren erheblich in ihren Vorstellungen davon, was den Körper ausmacht. Alle Bio-Wissenschaften jedoch teilen die monistische Auffassung, daß sämtliche Körperfunktionen als Ergebnis von Physik, Chemie und natürlicher Entwicklung zu betrachten sind. 236
spielen, wird von den Akteuren zumeist nicht realisiert. Käme es freilich zu einer weitgehenden Aktualisierung all der ludischen Möglichkeiten, die die Transformation des Körpers in Zeichen bereitstellt, so bliebe das gesellschaftlich wohl nicht ohne Folgen. Absehbar wäre eine >mentalistische< Kurskorrektur gerade jener Orientierungsformen, die sich auf den sichtbaren und >datierbaren< Körper als markanten Indikator kollektiver Akzeptanzkriterien beziehen. Und wenn man nach einer Pathosformel für diese Wende suchte, so könnte man behaupten: Die längst zu außengeleiteten Agenten gewordenen Kinder einer erlebnissüchtigen >Spätkultur< (Gehlen) hätten dann noch einmal die Mittel und Wege gefunden, um sich von innen heraus als handlungsmächtige Subjekte zu entwerfen und zu beurteilen. Der soziologische Blick auf die vielschichtigen Erscheinungsformen des Körpers im Internet gehorcht einem besonderen Anspruch. Er darf sich nicht in den faszinierenden Details verlieren, sondern muß seine Sondierungen von der Frage leiten lassen, ob die verschiedenen Formen virtueller Leiblichkeit einen Beitrag zur Erstellung, Stabilisierung und Transformation sozialer Ordnung unter Bedingungen der Spätmoderne leisten. Betrachtet man das empirische Material aus dieser Warte, so ergeben sich - wie ich zu zeigen versucht habe - einige klare Linien. Trotzdem mag das Ergebnis auf den ersten Blick überraschen. Denn der Körper erlangt in den virtuellen AVeiten eine doppelte Gestalt. Zum einen ist er - weit deutlicher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen (z.B. den ausdifferenzierten Funktionssystemen) - Objekt kultureller Formungen, und zum anderen wird er zur Quelle von Erfahrungen, deren technische Voraussetzung und Vermittlungen unkenndich geworden sind. Das Erstaunen über diesen Unterschied, der im Internet zum Vorschein komm:, dürfte allerdings weichen, wenn man bedenkt, daß wir in unserer Gesellschaft schon seit Jahren mit zwei gegensätzlichen Haltungen zun Körper konfrontiert sind: Während hier sein Verschwinden emphatisch beklagt oder begrüßt wird, betreibt man dort mit kultischer Besessenheit seine Modellierung.
*3
Literatur Adams, Jon-K. (1996): Wohin nun? Räumlichkeit in interaktiven Computerspielen und im Cyberspace-Roman, in: Martin Klepper u.a. (Hg.), Hyperkult. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin/NewYork, 192-201. Barlösius, Eva (2000): Über den gesellschaftlichen Sinn der Sinne, in: Cornelia Koppetsch (Hg.), Körper und Status. Konstanz, 17-39. Beck, Klaus (2000): Die Zukunft des Internet. Internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation. Konstanz (zus. mit Peter Glotz u. Gregor Vogelsang), 47. Becker, Barbara (2002): Grenzmarlcierungen und Überschreirungen. Anmerkungen zur aktuellen Debatte über Körper, in: Marie-Luise Angerer u.a. (Hg.), Future Bodies. Wien/New York, 251-272. Beer, Bettina (2002): Körperkonzepte, interethnische Beziehungen, Rassismustheorien. Berlin. Begusch, Harald (2001): Hülle mit Gewicht. Der digitale Körper als ästhetisch/politische Repräsentation oder »Wie kommt eigendich Leben ins Spiel?«, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Berlin, 78-86. Böhme, Hartmut (1996): Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Tasten. Göttingen, 185-210. Bronfen, Elisabeth (1998). Die Versuchung des Körpers, in: du. Die Zeitschrift für Kultur 4/1998, 18-21. Büscher, Barbara (2001): (Interaktive) Interfaces und Performance: Strukturelle Aspekte der Kopplung von Live-Akteuren und medialen (Bild-)Räumen, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Berlin, 87-111.
Buder, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Csikszentmihalyi, Mihaly (1985): Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen. Stuttgart. Ellrich, Lutz (1997): Der medialisierte Körper, in: Barbara Becker/Michael Paetau (Hg.), Virtualisierung des Sozialen. Die Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung. Frankfurt am Main/New York, 135-161. Ellrich, Lutz (2001): Medialer Normalismus, in: Jutta Allmendinger (Hg.), Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnung. Opladen, 372-398. Frank, Joseph (1991): Spatial Form in Modem Literature, in: Ders., The Idea of Spatial Form. New Brunswick. 2}8
Funken, Christiane (2000): Körpertext oder Textkörper - Zur vermeintlichen Neutralisierung geschlechtlicher Körperinszenierungen im elektronischen Netz, in: Barbara Becker/Irmela Schneider (Hg.), Was vom Körper übrig bleibt. Frankfurt am Main/NewYork, 103-129. Funken, Christiane (2001a): Die >gute< Norm. Zur wissenschaftlichen und multimedialen Konstitution sozialer Ordnung, in: Jutta Allmendinger (Hg.), Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnung. Opladen, 365-37*. Funken, Christiane (2001b): Imaginäre Nähe. Kommunikationsstrukturen im Netz?, in: DGPuK (Hg.), Kommunikationskulturen zwischen Kontinuität und Wandel. Wien, 447-465. Funken, Christiane (2001c), Topographie der Anonymität, in: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.) (2001), Die Adresse des Mediums. Köln, 64-82. Funken, Christiane/Martina Low (2002): Ego Shooters Container. Raumkonstruktionen im elektronischen Netz, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum Wissen Macht. Frankfurt am Main, 69-91. Funken, Christiane/Martina Low (Hg.) (2003): Raum - Zeit - Medialität. Opladen. Goffman, Erving (1981): Strategische Interaktion, Frankfurt am Main Goffman, Erving (1983): Wir alle spielen Theater. München. Hahn, Kornelia/Michael Meuser (Hg.) (2002): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz. Haraway, Donna (1995): Ein Manifest für Cyborgs, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main, 3 3-73. Hirschauer, Stefan (1994): Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit, in: KZfSS 46, 668-692. Hirseland, Andreas/Werner Schneider (1996): Erkundungen im Reiche Midgard. Eine ethnographische Skizze zu Fantasy-Rollenspielen und ihren Spielern, in: Hans A. Hartmann/Rolf Haubl (Hg.), Freizeit in der Erlebnisgesellschaft. Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kommerz. Opladen, 225-244. Käufer, Birgit/Alexandra Karentzos/Katharina Sykora (Hg.) (2002): Körperproduktionen - Zur Artifizialität der Geschlechter. Marburg. Kerckhove, Derrickde (1993): Touch versus Vision. Ästhetik neuer Technologien, in: Wolfgang Welsch u.a. (Hg.), Die Aktualität des Ästhetischen. München, 137-168. Kerckhove, Derrick de (2001): Theater zur Verinnerlichung einer »digitalisierten« Existenz, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 37-40. Kittler, Friedrich (1993): Draculas Vermächtnis. Leipzig. 239
Koch, Gertrud (1995): Face-to-Face Kommunikation in der Moderne, in: Dies. (Hg.), Auge und Affekt. Frankfurt am Main, 272-291. Koppetsch, Cornelia (Hg.) (2000): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität. Konstanz. Krämer, Sybille (Hg.) (2000): Medien - Computer - Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt am Main. Krämer, Sybille (2001): Medien - Körper - Performance. Zwischen Person und »persona« - ein Gespräch, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen. Medien. Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 471-479. Laurel, Brenda (1998): vgl. Leo Jacobs: Mädchen haben eigene Spiele, auch am Rechner, in: DIE ZEIT vom 19. 03. 1998, http://www.Zeit.de/archiv/ 1998/13/madchen.txt.i998o3i9.xml Leeker, Martina (Hg.) (2001): Maschinen, Medien, Performances. Berlin. Lindemann, Gesa (1992): Die leiblich affektive Konstruktion des Geschlechts, in: Zeitschrift für Soziologie 21, Heft 5: 330-346. Link, Jürgen (1994): Über den Normalismus. Opladen. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise: Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz. Frankfurt am Main. Maresch, Rudolf (1999): Die Kommunikation der Kommunikation, in: Ders./Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht. Frankfurt am Main, 265-298. Maresch, Rudolf/Niels Werber (Hg.) (2002): Raum Wissen Macht. Frankfurt am Main. Meyer-Drawe, K. (1984): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München. Minsky, Marvin L. (1990): Mentopolis. Stuttgart. Moravec, Hans (1988): Mind Children. Cambridge. Moravec, Hans (1993): GEIST Ohne Körper - Visionen von der reinen Intelligenz, in: Gerd Kaiser/Dirk Matejovski/Jutta Fedrowitz (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York. Riesman, David (1950): The Lonely Crowd. Yale. Rokeby, David (2001): Konstruktion von Erfahrung. Interfaces als Inhalt, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Berlin, 50-77. Stelarc (1996): Fraktale Körper/Ping Body, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Tasten. Göttingen, 316-329. Turkle, Sherry (1997): Life on the Screen. London. Weyer, Johannes (2000): Soziale Netzwerke. München. Willems, Herbert (1998): Inszenierungsgesellschaft, in: Ders./Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgeselkchaft. Opladen, 23-80.
240
Martina Low Die Rache des Körpers über den Raum? Über Henri Leßbvres Utopie und Geschlechterverhältnisse am Strand Henri Lefebvre gilt als Pionier der modernen Raumsoziologie.1 Mit seinem 1974 in Frankreich erschienenen Werk »Production de l'espace« (hier zitiert nach der englischen Ausgabe von 1991) legt er nicht nur die Spur zu einem relationalen Raumbegriff, sondern bindet diesen auch in Kapitalismuskritik ein. Der Körper isc für Lefebvre dabei gleichermaßen Produzent und Gegenspieler der Raumproduktionen. Durch die Fähigkeit, mit vielen Sinnen wahrzunehmen, sei der Körper in der Lage, die kapitalistische Logik der Visualisierung und Homogenisierung zu durchbrechen. Insbesondere im Bereich der Freizeit (im Unterschied zur sich wiederholenden Monotonie des Arbeitens), vor allem am Strand als entdeckter Naturraum, verhalte sich der Körper als »ganzer Körper« und sei insofern widerständig gegen die moderne Ordnung. Der folgende Beitrag widmet sich dem Verhältnis von Körper und Raum unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechrerverhältnisse. Seit Räume in den Sozialwissenschaften nicht mehr in erster Linie als Lagerhallen für Körper gedacht werden, seit Räume ihrer starren Einmaligkeit beraubt werden (ausführlich Läpple 1991; Werfen 1995; Massey 1999; Sturm 2000; Low 2001 u. a.) und somit als sozial Herzustellende, als plurale symbolische und materielle Figurationen entworfen werden, steht das Verhältnis von Raum und Körper neu zur Debatte. Körper sind nicht länger im Raum gelagert, Körper sind nicht einmal mehr systematisch von Räumen getrennt. Vielmehr können Räume nur über die Einbeziehung plazierter Körper gebildet werden. Körper, auch menschliche Körper, sind Bausteine der Räume. Da Räume nicht an sich existieren, sondern in der sozialen Praxis bestätigt und hervorgebracht werden müssen, sind Körper über Wahrnehmungsprozesse auch dann an der Produk1 Für Anmerkungen zum vorliegenden Text bedanke ich mich bei Helmuth Berking, Bettina Mathes und Renate Ruhne. 241
tion von Räumen beteiligt, wenn diese sich aus rein gegenständlichen Teilen zusammensetzen. Das Wie der Herstellung sozialer Räume über die Plazierung von Körpern, vor allem die gesellschaftliche Strukturierungskraft institutionalisierter räumlicher (An)Ordnungen über die körperliche Praxis, ist in den Sozialwissenschaften nur vereinzelt (Goffman 1982; Kaufmann 1996; Breidenstein 2004) oder unsystematisch (Hirschauer 1993) berücksichtigt worden. Die analytische Umkehrung, die Frage nach dem Hervorbringen spezifischer Körper durch räumliche Arrangements findet zumindest in der deutschen Debatte kaum Berücksichtigung (Ausnahme: Ruhne 2003). Auch die Lefebvresche Frage nach dem Körper als »Sand im Getriebe« der reibungslosen Raumroutinen, die gleichzeitig den Bogen von den mikrosoziologischen Beobachtungen zur gesellschaftlichen Produktion homogener nationalstaatlicher Räume (Berking 2000; Schroer 2003) schlägt, bleibt ebenfalls unberücksichtigt. Dies mag daran liegen, daß die von Lefebvre entwickelte konzeptionelle Triade zu Raum zwar häufig zitiert wird (vgl. z.B. Noller 1999, S. ii2f.; Papayanis 2000; Wex 1998; Ahrens 2001, S. 5of.; Bormann 2001, S. 302ff.), eine Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk jedoch in Deutschland derzeit nicht geführt wird (vgl. zum angloamerikanischen Feld: Massey 1996, S. i2of.; Soja 1996; Shields 1991 und 1999). Ich werde im folgenden diese doppelte Bedeutung der Körper für die Raumproduktionen, nämlich Teil der räumlichen (Anordnungen und Medium der Wahrnehmung von Räumen zu sein, genauer analysieren und dafür ein Feld wählen, welches Lefebvre zufolge die größten Potentiale an freier Entfaltung enthält: den Strand im Sommer. So lassen sich auch die Möglichkeiten »körperlicher Rache« im Detail ausloten.
1. Wozu Rache üben? »(Social) space is a (social) product« (Lefebvre 1991, S. 30) schreibt Lefebvre zu Beginn seiner raumtheoretischen Überlegungen. Er unterscheidet zwar zwischen sozialem und physischem/natürlichem Raum, betont jedoch, daß letzterer immer mehr verschwindet (ebd.). Natürlicher Raum habe heute den Charakter eines Hintergrundbildes. Menschen erinnern sich an natürliche Räume, besetzen sie mit Phantasien, finden sie jedoch nicht mehr in ihrer Praxis vor. Raum 242
ist demzufolge heute immer sozialer Raum, und als solcher ist er nicht nur Produkt des Gesellschaftlichen, sondern jede Gesellschaft bringt ihren je spezifischen Raum hervor (Lefebvre 1991, S. 31). Auf der Grundlage seiner Theorie des Alltags und damit der Kapitalismuskritik entwickelt Lefebvre seine raumtheoretischen Überlegungen. Stets voraussetzend, daß Makro- und Mikroprozesse zusammenwirkend Gesellschaftsformationen konstituieren (vgl. Lefebvre 1977, II, S. 154fr.), fragt Lefebvre nach dem Verhältnis von Subjektkonstitution und Handlungskompetenz. Er entdeckt bei diesem Projekt das Alltagsleben als jenen Ort, an dem unterschiedliche Formen der Subjekt-Objekt-Dialektik fundiert sind. Seine Arbeiten sind von dem Wunsch getragen, das Alltagsleben gegenüber den Abwertungen durch »Höheres« wie Philosophie, Literatur, Moral etc. zu verteidigen. Hierzu entwickelt er das Argument, daß die sogenannten höheren Sphären nur scheinbar vom Alltag getrennt sind, tatsächlich jedoch wie eine Negativfolie zum Alltagsleben fungieren (vgl. Lefebvre 1977, I, S. 93f.). »Im alltäglichen Leben liegt der rationelle Kern, das wirkliche Zentrum der Praxis« (Lefebvre 1972a, S. 49). Seinen Blick auf das Alltagsleben begründet Lefebvre erstens mit dem (erkenntnistheoretischen) Reichtum, der in der Welt der Trivialität steckt. Zweitens betont er, daß sich im Alltagsleben die Geschichte der Entfremdung beobachten läßt und damit der Blick auf das Erlittene öffnet (vgl. Lefebvre 1977, II. S. 43; Sünker 1989, S. 69). Allerdings vertritt Lefebvre auch die Auffassung, daß sich das Alltagsleben als Ort der tätigen und werkschaffenden Menschen unter den Bedingungen von Kapitalismus in den Zustand der Alltäglichkeit gewandelt hat. Alltag wird »zum sozialen Ort einer hochentwickelten Ausbeutung und einer sorgfältig überwachten Passivität« (Lefebvre 1972b, S. 149). Alltäglichkeit meint die durch Vergesellschaftungsprozesse normierte Lebensweise der Individualisierung und Partikularisierung (Lefebvre 1978, S. 340). Wesentliches Kennzeichen ist eine Kolonialisierung von Raum und Zeit (vgl. z. B. Lefebvre 1972b, S. 27).2 Raumvermessung und -kontrolle werden Dei Lefebvre als spezifischer Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise begriffen. Produktion und Kontrolle über Raum versteht er als das Bemächtigungsmittel des Kapitalismus. Eine seiner zentralen Thesen ist es, daß das Kapital - und daran geknüpft - der Staat sene 2 Vgl. die zeirgleiche Entwicklung des Begriffs der Kolonialisierung der Lebensveit bei Habermas (1981). -43
Machtpositionen über den Zugriff auf den Raum sichert. »Hence the space too is made up of »boxes for living in<, of identical >plans< piled one on top of another or jammed next to one another in rows. Yet, at the same time, the body takes its revenge — or at least calls for revenge« (Lefebvre 1991, S. 384; Hervorhebung im Original). Lefebvre entwickelt für seine Argumentation eine historische Entwicklungslinie. Er konzentriert sich auf die Wandlung vom »absoluten Raum« des Feudalismus hin zum »abstrakten Raum« des Kapitalismus. Der absolute Raum ist ihm zufolge der landwirtschaftliche Raum: Ein Set an Orten, welche mit Namen versehen werden und durch Bauern, Nomaden sowie Hirten ausgebeutet werden. Absolute Raumkonstruktionen bilden - so Lefebvre - ungebrochen die sozialen Normen einer Gesellschaft und die sozialen Positionen der Gruppenmitglieder ab. Räume werden klar zugeordnet und teilen sich in weibliche und männliche, heilige und verdammte etc. auf. Die Entwicklung der kapitalistischen Raumordnung entspringt, Lefebvre zufolge, im 12. Jahrhundert der wesdichen Welt. Insbesondere Frankreich, England, Holland und Italien konstituieren einen Raum der Akkumulation. Mit dem Logos komme das Gesetz (Lefebvre 1991, S. 263) und damit Austausch und Kommunikation, kurz Netzwerke (beginnend mit dem Straßennetzwerk), in die Welt (Lefebvre 1991, S. 266). Im 16. und 17. Jahrhundert schließlich, beginnend mit Galileo, verliere der Mensch seinen Platz im kosmischen Raum und situiere sich deshalb selbst in den Städten. In der Renaissance-Stadt (und bis heute andauernd) werde nun jedes Gebäude und gleichzeitig die Konzeption der Stadt als Ganzes politisch durchdacht. Von nun an stehe die Kontrolle des »Ganzen« im Mittelpunkt. »At that point space was necessarily transformed. If political power controlled the >whole<, this was because it knew that change to any detail could change the whole« (Lefebvre 1991, S. zyif.). Als Reaktion auf die für städtisches Leben typischen Menschenansammlungen und vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen beginne die neu entstehende Staatsmacht jedes Detail der Raumkonstitution zu kontrollieren in dem Wissen, daß jede Veränderung im Einzelnen die Konstellation des Ganzen verschiebe. Voraussetzung für diese Entwicklung ist eine homogenisierende Matrix, die über den Raum gelegt wird. Während Gewalt vor der Zeit des Kapitalismus sich nach Lefebvre außerhalb der ökonomischen Sphäre abspielt, werde Gewalt nun zu 244
einem immanenten Teil, ökonomische Beziehungen werden zwar nicht identisch mit politischen, jedoch sind sie untrennbar mit ihnen verknüpft. Aus dem industrialisierten Europa heraus erwachse eine imperialistische Raumstrategie, aufbauend auf einer globalen Weltmarktstrategie (Lefebvre 1991, S. 276). »Violence is in fact the very lifeblood of this Space ...« (Lefebvre 1991, S. 277). Nationenbildung impliziere sowohl die Existenz eines Marktes als auch die Anwendung von Gewalt, um die Ressourcen des Marktes und stetiges Wachstum zu kontrollieren (Lefebvre 1991, S. 112). Lefebvre entwickelt die These, daß es jene beiden Momente sind, das »spontane« ökonomische Wachstum und die Gewalt, die gemeinsam die Kraft bilden, Raum zu produzieren. Raumproduktion basiert demzufolge wesentlich auf dem modernen Nationalstaat, auf Imperialismus und dem Weltmarkt, im Rückgriff auf die vermittelnden Praktiken des Alltagslebens. Schon in den 70er Jahren charakterisiert Lefebvre diesen Weltmarkt als Raum zahlreicher »Flüsse«: »flows of energy and labour, of commodities and capital. The economy may be defined, practically speaking as the linkage between flows and networks ...« (Lefebvre 1991, S. 347). Resümierend stellt er fest, daß Raum sowohl als Produkt der kapitalistischen Produktionsweise als auch als Instrument der Herrschaftssicherung der Bourgeoisie verstanden werden muß (Lefebvre 1991, S. 129). Der neue kapitalistische Raum ist städtisch und global. Er ist fragmentiert und hierarchisch (Lefebvre 1991, S. 277 und 282). Der Raum ist politisch durchdrungen und durch staatliche Zugriffe institutionalisiert. Das 18. Jahrhundert ergänze diese Entwicklung, indem das Visuelle und die geometrische Perspektive nun den Charakter des Raums endgültig zu einem Abstraktum formen (Lefebvre 1991, S. 184). Raum ist abstrakt, weil er ein geometrischer, lesbarer, visueller Raum geworden ist. Der Raum erscheint in einer Weise homogenisiert, daß er als Ganzes und wie von außen betrachcet, und so zunächst als überall gleich angesehen wird. Damit wird legitimiert, daß er gleichermaßen vermessen, eingeteilt, kontrolliert und verkauft werden kann. Orte sind unter kapitalistischen Bedingungen diversifizierte Orte, Isotopien und Heterotopien. Orte, die keinen Platz mehr haben, wie die absoluten Orte des Göttlichen, werden symbolisch in die Anordnungen integriert (Lefebvre 1991, S. i63f.). Die kapitalistische Raumordnung sorge für eine Zuweisung angemessener Orte entsprechend 245
der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, wobei Produktion für Lefebvre durch Arbeitsteilung und Hierarchie, Reproduktion dagegen durch Geschlechterverhältnisse und Altersbeziehungen geprägt ist. In diesem Sinne erfolgt die kapitalistische (Re)Produktion der Raumlogik in den Familien und in der Arbeitswelt (Lefebvre 1991, S. 32). Von hier aus ist es naheliegend den Widerstand gegen die unerträgliche Raumorganisation jenseits der Alltagsroutinen in Erwerbsarbeit und Hausarbeit zu suchen. Der Urlaub mit seiner Versinnbildlichung am Strand ermöglicht dem Körper ein aufmüpfiges Begehren.
2. Lefebvres Raumbegriff Doch bevor der Blick auf den Strandalltag geworfen werden kann, ist es notwendig, Lefebvres in der Kritik weitgehend makrosoziologisch klingende Raumkonzeption in ihren mikrosoziologischen Facetten zu beleuchten.3 Als Ausgangspunkt zur Reflexion über Raum setzt Lefebvre eine konzeptionelle Triade (Lefebvre 1991, S. 38). Raum bildet sich demnach aus: 1. der räumlichen Praxis (spatial practice), d.h. der Produktion und Reproduktion von Raum, insbesondere der Aktivität der Wahrnehmung. 2. den Repräsentationen von Raum (representations of space), d.h. dem Raum, wie er kognitiv entwickelt wird (z.B. durch Architektinnen und Planerinnen). 3. dem Raum der Repräsentation (representational space) mit seinen komplexen Symbolisierungen. In den ersten beiden Aspekten der Triade verfolgt Lefebvre vor allem die marxistische Traditionslinie. Unter »spatial practice« versteht er allgemein Wahrnehmung von Räumen und raumbezogene Verhaltensweisen, also die alltägliche, durch Routinen und Routen abgesicherte Praxis der Herstellung und Reproduktion von Räumen 3 In der folgenden Zusammenfassung der wesentlichen Gedanken zum Raumbegriff wird die Hauptargumentationslinie vorgestellt. Da Lefebvre sehr assoziativ schreibt, ist dies ein weitreichenderer Interpretationsakt als bei anderen Texten. Soja (1996, S. 5 8ff.) hat Lefebvres »Production of Space« mit einem Musikstück verglichen, welches den Simultaneitäten, Differenzen und Wiederholungen des Raums gerecht zu werden versucht, indem es ebenjene Eigenschaften wiederholt. 246
sowie das körperliche Erleben der Räume. Lefebvre blickt hier auf die räumliche Praxis, wiewohl sie den Handlungsaspekt erfaßt, stark unter der Perspektive kapitalistisch-struktureller Zwänge. Die räumliche Praxis ist durchzogen von den Repräsentationen von Raum. Unter »Repräsentation von Raum« versteht Lefebvre den konzeptualisierten Raum, den Raum der Planerinnen, Urbanistlnnen und Technikerinnen. Es ist der ideologisch-kognitive Aspekt des Raumes, seine Darstellungen und Pläne, die quasi eine Lesbarkeit des Raums ermöglichen. Es ist, wie Edward Soja bemerkt (vgl. Soja 1996, S. 6ofT.), der Aspekt des Raumes, auf den sich in der Regel die Wissenschaften beziehen. Konzeptionell durchdrungen wird die räumliche Praxis durch die Repräsentation von Raum vorstrukturiert. Diese Strukturierung bedeutet nicht, daß alltägliche Nutzerinnen konzeptionelle Expertinnen sind. »The user's space is lived - not represented (orconceived)« (Lefebvre 1991, S. 362). Allerdings ist das Handeln (oder besser das Verhalten unter Bedingungen von Kapitalismus) durch Entfremdung und eintönige Wiederholung geprägt. In der gelebten Praxis wiederholt sich die räumliche Ordnung. Diese Konzeption von Struktur und Handeln/Verhalten ergänzt Lefebvre durch einen dritten Aspekt. Angeregt durch den französischen Strukturalismus betont er die Bedeutung der Symbole für die Bestimmung von Raum. Der »Raum der Repräsentation« bezieht sich bei Lefebvre auf die Bilder und Symbole, die die räumlichen Praktiken und das Gedachte ergänzen. Es können die widerständigen Räume der Künsder sein oder mythische Raumbilder. Es sind Impulse und Imaginationen, die eine Ahnung vom vorkapitalistischen, nicht homogenisierten und zerstückelten Raum aufscheinen lassen, vielfach transportiert über körperliches Empfinden und sinnliche Wahrnehmung statt kognitiver Überformung. Aus allen drei Faktoren (perceived/conceived/lived: Lefebvre 1991, S. 39) entstehen, so Lefebvre, die Räume. Es handelt sich ihm zufolge um eine tripolare Dialektik der gegenseitigen Beeinflussung, Einschränkung und Überlappung. Jenseits der triadischen Bestimmung definiert Lefebvre noch verschiedene Basis-Dualitäten, die den modernen Raum prägen. Die wichtigste Dualität ist, gleichzeitig Basis und Voraussetzung zu sein: »Is not social space alwavs, and simultaneously, both a field of action (offering its extension to the deployment of projects and practical intentions) and a basis of action (a set of places whence energies derive and whither energies 247
are directed)? h it not at once actual (given) and potential (locus of possibilities?)« (Lefebvre 1991, S. 191, Hervorhebung im Original). So ist Raum zeitgleich eine Kollektion von Dingen und Objekten sowie von Werkzeugen und Werkzeuggebrauch. Er ist das, was Handeln möglich macht und Feld der Handlung selbst. Lefebvre umkreist die Frage, wie Raum inhaltlich bestimmt werden kann. Er entwickelt eine Vorstellung davon, was Raum nicht ist. Er ist kein Container. Er ist nicht leer. Er ist nicht homogen. Er ist kein Ding. Er ist nicht nur reine Anschauung. Eine positive Bestimmung fällt ihm schwer. Er sucht einen Ausdruck ftir etwas, das Ergebnis vieler Handlungen und einem Ding ähnlich ist, ohne einfaches Produkt wie ein Sack Reis zu sein, etwas das mehrfach in überlappenden Formen existiert und doch einer homogenisierenden Zugriffsweise unterliegt. Manchmal nutzt er den Begriff des Netzwerkes (z.B. Lefebvre 1991, S. 403), um ein solches Phänomen zu bestimmen. Meistens verbleibt er in der beschreibenden Annäherung. Dabei mischen und trennen sich immer wieder die Überlegungen zum abstrakten modernen Raum, produziert durch eine kapitalistische Gesellschaft, und die Überlegungen zu einer wissenschaftlichen Beschreibung, die den Raum hinter den Verformungen des Staates sucht. Hierbei wendet sich Lefebvre explizit gegen den Mainstream der Wissenschaften, welcher die Dinge betrachtet und den Raum als Container der Dinge entwirft. Wiewohl die Philosophie lange mit der Vorstellung vom absoluten Raum geliebäugelt habe, sei die Vorstellung einer vorgängigen Leere, eines Containers der auf Füllung wartet, doch als partikulare Repräsentation zu verwerfen (Lefebvre 1991, S. 170). Im Container könne jedes Ding an jedem Ort liegen. Unterscheidung sei prinzipiell unmöglich. Inhalt und Hülle beeinflussen sich nicht. Die Dinge bleiben so unverbunden, Fragmentierung implizit gerechtfertigt. Spezialisten teilten Raum unter sich auf und agieren bezüglich ihrer Raumfragmente. Raum werde als passiv wahrgenommen. Eine zeitgenössische Raumanalyse soll, so sein Plädoyer, nicht Dinge im Raum, sondern Raum selbst beschreiben, und zwar in einer Weise, die die sozialen Beziehungen, welche im Raum eingebettet sind, aufdeckt (Lefebvre 1991, S. 89). Lefebvre entwickelt eine Vorstellung von Raum, die vieles aufgreift, was 25 Jahre später zum festen Bestand sozialwissenschaftlichen Wissens wird. Ob es die heute mit Giddens (1995) assoziierte Vorstellung vom Embedding sozialer Beziehungen ist oder die mit 248
Castells (1994) verknüpfte Idee vom Space of Flows. Vor allem aber sucht er einen Weg für die Soziologie, Raum jenseits der Containerbilder zu denken und gleichzeitig gesellschaftliche Formung und eigene Potentialität zu berücksichtigen. Diese überaus anerkennenswerte Leistung kann jedoch noch nicht in einen positiven Entwurf münden. Vielmehr mischen sich absolutistische Vorstellungen4 vom Raum als Basis der Handlung, vor allem eine Rede davon »im Raum zu leben«, die wieder an die Ideen vom starren Hintergrundraum anknüpfen, mit relationalen konzeptionellen Vorstellungen von räumlichen Netzwerken und Feldern. Lefebvre operiert gewissermaßen mit zwei Raumbegriffen. Es gibt Räume, auf denen Räume entstehen bzw. im Raum entstehen Räume. Diese doppelte Logik zeigt sich auch in der gedanklichen Figur, daß Kinder/Jugendliche, die bereits im Raum sind, gleichzeitig sich diesen Raum aneignen müssen: »In order to accede to this space, individuals (children, adolescents) who are, paradoxically, already within it, must pass tests« (Lefebvre 1991, S. 35). Die Unmöglichkeit, den Hintergrundraum zu verabschieden, spiegelt sich ebenfalls in der impliziten Vorstellung von »guten« und »schlechten« Räumen wider. Er unterscheidet zwischen dominanten und angemessen-passenden (appropriated) Räumen. Dominante Räume sind jene, die durch soziale Praxis und damit durch Technologie transformiert wurden, z.B. die Autobahn. »A motorway brutalizes the countryside and die land, slicing through space like a great knife« (Lefebvre 1991, S. 165). Angemessen-passender Raum richtet sich dagegen nach den »Bedürfnissen« der Menschen, das können die Behausungen der Bauern Europas, das Iglu oder ein traditionelles japanisches Haus sein. Wichtig ist die soziokulturelle Pass förmigkeit der (Wohn)Umwelt. Lefebvre steckt in seiner Analyse von Raum ganz offensichtlich in einem Dilemma. Er baut eine Differenzkonstruktion endang der Linie Vorkapitalismus - Kapitalismus, die bezogen auf Raum hier die ortsgebundene, dem Menschen angepaßte Aneignung, dort die abstrakte, homogenisierende vom Intellekt durchzogene Raumpro4 Im Unterschied zu Lefebvre, der zwischen absoluten (vorkapitalistischen) und abstrakten (kapitalistischen) Raumvorstellungen unterscheidet, wird die mit Isaac Newton verbundene Absolutserzung des Raums in der Philosophie zumeist unter dem Begriff »absolutistischer Raumkonzepte« für alle Behälterraum-Vorstellungen (also gerade auch für die von Lefebvre als kapitalistisch beschriebenen Konzepte) verwandt (vgl. von Weizsäcker 1986, S. 256fr.; Low 2001, S. 24fr".). 249
duktion, welche gleichzeitig als Entfremdung gelebt werden muß, bedeutet. Nun schlägt er vor, daß die wissenschaftliche Reflexion die kapitalistische Ideologie überwindet und eine relationale Definition von Raum findet. Diese wissenschaftliche Konzeption, selbst notwendigerweise eine Abstraktion, kann nicht an die Ortsgebundenheit agrarkultureller Raumdeutungen anknüpfen, und will doch die Beziehungsqualität des Raums zum Ausgangspunkt machen. So entsteht eine ambivalente Ausdrucksweise, die erstens für diese neue kritische Herangehensweise keine Sprache findet und zweitens mit der Vorstellung »im Raum zu leben« eine Idee von materieller Existenz jenseits der kapitalistischen Überformungen transportiert. Die bahnbrechende Vorstellung, daß moderner Raum produziert ist und damit die Entnaturalisierung moderner Raumvorstellungen, wird durch die Konstruktion eines verschütteten natürlichen Raums wieder aufgehoben. Letzdich ist nur der moderne Raum bei Lefebvre produziert. Es ist vor allem die alleinige, absolut gesetzte Idee vom kapitalistischen Zwang, die es im Hinblick auf die Moderne unmöglich macht, Raumproduktionen jenseits der Entfremdung zu sehen. Deshalb bleibt Lefebvre auch ambivalent in seiner Einschätzung der Akteure. Zwar sind sie es, die durch »spatial practice« Räume schaffen, aber eingefangen in die Sklaverei der Alltäglichkeit sind diese Räume stets nur Abklatsch der staatlich-kapitalistischen Logik. So ist es letztendlich doch der Staat, der die Räume produziert und die Bürger sind die reproduktiven Kräfte. »The State and each of its constituent institutions call for Spaces - but Spaces which they can then organize according to their specific requirements« (Lefebvre 1991, S. 85). Der Staat tritt dabei wie eine handelnde Person auf: »Only an act can hold - and hold together - such fragments in a homogeneous totality [...] Such is die action of political power, which creates fragmentation and so controls it - which creates it, indeed, in order to control it« (Lefebvre 1991, S. 320). Die politische Durchdringung bindet den Raum an den Staat. Die Menschen in ihrem Alltag sind dem Raum entfremdet. Auf der Suche nach einer Perspektive auf Veränderung, nach einer Verbindung zu dem kulturell verschütteten Wissen um die natürlichen Räume, gelangt Lefebvre zum Körper. Die Zukunft liegt für ihn im Körper und seiner sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, aktualisiert vor allem durch die für ihn der Natur am nächsten kommende Räumlichkeit, den Strand. Hier aber irrt Lefebvre. 250
3. Am Strand Der Strand ist erst in modernen westlichen Gesellschaften zum Symbol der Natur geworden. Während man z.B. auf der Insel Japan verzweifelt nach Stränden suchen kann und häufig nur Müllkippen und Betonwüsten findet (außer z.B. im europäisch geprägten Nagasaki), so vollzog sich im Westen die Transformation der Assoziationen vom kalten Meer und harten Strand zum paradiesischen Ort (Corbin 1991)- In einem schleichenden Prozeß veränderter Körpertechniken, der Neudefinition des öffendichen Raums (Hausen 1976) und einhergehend mit der »Entdeckung« der Sonne entwickelte sich die Vorstellung vom idealen Ort, der durch das Zusammentreffen >»von Körper, Meer, Sand, Wind, Sonne und Leere« (Kaufmann 1996, S. 38) charakterisiert ist. Die gesellschaftliche Erfindung des Sonnenbadens zieht eine schrittweise Entkleidung nach sich. Insbesondere bei Frauen wird dieser Entblößungsprozeß immer wieder neu erotisch aufgeladen. Schon die gelösten Haare nach dem Bad oder die nackten Füße und Knöchel sorgen zunächst für Aufregung. Mit Bezug auf Goffmans Konzept der Interaktionsordnung und mit Verweisen auf die Eliassche Zivilisationstheorie analysiert JeanClaude Kaufmann das Strandleben. Er fuhrt hierzu leitfadengestützte Interviews und teilnehmende Beobachtung durch. Hauptaugenmerk seiner Studie wird das fein abgestimmte Management des Zeigens nackter weiblicher Brüste. »Der Strand hält sich für frei, doch in Wahrheit wird auch die kleinste Geste, der kleinste Blick kontrolliert« (Kaufmann 1996, S. 172). Ein Strandtag, so schildert er, beginnt mit einer Ortsinspektion, wer sitzt in der Nähe? Was tun die Menschen in der Nähe? Sind Probleme zu erwarten, wenn der Busen freigelegt wird. Die Wahl muß schnell fallen. Ortsinspektionen müssen flüchtig erscheinen, um nicht die Betrachtungskultur am Strand zu verwirren. Ist der Ort gewählt, beginnt die Produktion eines eigenen Raums. »Gleich nach der Ankunft am Strand wird dieser Bereich durch eine Anzahl von Gegenständen markiert: Handtücher, Taschen, Sonnenschirm, Spiele [...], sowie bearbeitete Stellen im Sand (geglättet, flach getrampelt, Hügelchen, Sandkuchen)« (Kaufmann 1996, S. 123). Mittels symbolischer und materieller Grenzen wird der eigene Raum markiert und eine Zone der Intimität geschaffen. Dies ist eine Praxis, die die Deutschen mit ihrer Kultur, den Strand durch Sandburgen zsi
zu kolonialisieren, zur Perfektion getrieben haben (Linke 1999). In diesem Raum und fast nie außerhalb beginnen die Frauen, sich ihres Oberteils zu endedigen. Sie blicken sich noch einmal vorsichtig um, vergewissern sich, daß auch andere Frauen »oben-ohne« zu sehen sind sowie daß kein Mann mit starrendem Blick im Umfeld auftaucht. Später in Interviews werden sie sich an das Ritual des Umschauens nicht erinnern. Erst wenn Partner versichern, daß jedesmal vor dem Ausziehen das Umfeld eruiert wird, daß dieses sogar bisweilen kommentiert wird, werden die Praktiken Teil des Bewußtseins. Nun nach der Observation kann das Oberteil abgelegt werden. Es folgt jedoch sofort eine weitere körperlich-räumliche Vorkehrung: Frauen ohne Bikinioberteil legen sich in der Regel umgehend flach auf den Boden. Die Ausnahmen von der Regel bilden meist junge Frauen mit kleinen Brüsten. Ihre festen, nahezu unbeweglichen Busen gelten als akzeptabel und dürfen die engen Raumgrenzen überschreiten und auch in körperlicher Bewegung gleichsam verharrend betrachtet werden. Für die Allgemeinheit gilt: Sowohl im artikulierten Moralcodex als auch in der beobachtbaren Handlungsweise darf der nackte Busen am Strand nur als unbeweglicher präsentiert werden. Jede Abweichung wird registriert. Eine Strandurlauberin kommentiert eine ausnahmsweise Oben-Ohne-Surferin: »Sie fiel ständig herunter, das wackelte in alle Richtungen hin und her, also das ist nicht schön« (Kaufmann 1996, S. i28f.). Jede unkontrollierte Bewegung gilt als unschicklich und häßlich. Wer mit wippenden Brüsten über den Strand läuft, geht oder springt, wer im Wasser den Busen in Bewegung bringt, kündigt den gesellschaftlichen Kontext der Starrheit auf und steht daher nicht länger unter dem Schutz der scheinbaren Nicht-Betrachtung. Dies gilt auch für den selbst geschaffenen Intimraum des Strandes, allerdings in abgeschwächter Form. Die Kristallkugel der eigenen Strandwelt ist durchsichtig. Blicke treten ein, überschreiten die Grenzen, verbinden den gelagerten Körper mit anderen Objekten. Zwar gelingt es durch den gestalteten Raum mit seinen Grenzziehungen tatsächlich die Blicke stärker als im »öffentlichen Raum« des nicht individuell markierten Strandes zu schwächen, jedoch kann die Betrachtung nie ganz verhindert werden. Allerdings darf niemals ein Blick in den Intimraum starr und ausdrucksvoll sein (weder bewundernd noch mißbilligend). Wer so *52
schaut, disqualifiziert sich sofort als Voyeur. Und doch gucken alle, Frauen wie Männer, sonst könnten sie über das Geschehen in den Nachbararealen in den Interviews nicht so beredt Auskunft geben. »Deshalb«, so beobachtet Kaufmann weiter, »müssen die Augen neutral bleiben und dürfen niemals auf einem nackten Busen zum Stillstand kommen« (Kaufmann 1996, S. 164). Am Strand wird eine spezifische »Kunst des Sehens ohne zu sehen« eingeübt (Kaufmann 1996, S. 163), welche auf der Kontrolle über Starrheit und Bewegung basiert. »Der starre Blick ist nicht verboten, darf sich aber nur auf einen für alle Beobachter unzweifelhaft neutralen Punkt richten. Am Strand ist das am offensichtlichsten der Horizont, das weite Meer, unter Umständen eine Möwe oder ein Boot. Die Sequenzen der Unbeweglichkeit sind nötig, um sich von der Bewegung zu erholen; sie erlauben es aber auch, heimlich aus dem Augenwinkel undeudiche Bilder aufzuschnappen. Doch die wesentliche Ausbeute wird im Rahmen des visuellen Dahingleitens gemacht, dem üblichen Trick, um zu verbergen, daß man beobachtet (Kaufmann 1996, S. 163E; vgl. auch Goffrnan 1982). Statt Starren gleitet der Blick flüchtig dahin oder er verweilt auf einem neutralen Objekt, die Randerscheinungen fokussierend. Frauen wie Männer praktizieren diesen Blick und doch ist diese Kunst des Sehens, ohne zu sehen, kulturell in einer Weise eingebettet, daß Beobachten und Gesehenwerden geschlechtsspezifisch gelebt wird. Frauen achten auf die Blicke der Männer - Männer erzählen von ihren Blikken. Die Analyse von Kaufmann benennt verschiedene Erscheinungsformen des Raum-Körper-Verhältnisses. Die Analysen gelten zwar zunächst nur für den Textilstrand und nicht für den Nacktbadestrand, da das Entkleiden dort anders gerahmt ist. Kaufmann beansprucht darüber hinaus auch nur Gültigkeit für die französische Kultur. Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß sich in der ethnographischen Feinanalyse Verschiebungen im Handeln der Frauen und Männer in (Ost-)Deutschland ausmachen ließen, so verweisen die Beobachtungen und Erzählungen doch auf eine Dimension, die für die Analyse von Raum-Körper-Beziehungen grundlegend erscheint: das Verhältnis von Blicken und Plazierungen sowie darin eingewoben das Geschlechterverhältnis. Den Anfang der hier beschriebenen Raumkonstellation bildet das (scheinbare) körperliche Erspüren der räumlichen Arrangements durch die Frauen. Orientierung in den Räumen 253
des Strandes (wie häufig auch in Alltagssituationen) hat unter Zeitdruck und ohne aufwendige Beobachtungen zu erfolgen. Die Mehrzahl der über den Strand interviewten Frauen erzählt, daß sie die raumrelevanten Entscheidungen in ihrem Körper fühlen (Kaufmann 1996, z.B. S. 139). Sie scheinen zu spüren und darüber hinaus zu wissen, neben wem sie sich niederlassen dürfen, wann sie das Oberteil ablegen und wie lange sie in einer Position verharren können. Die sorgsame Planung, die in diesen Handlungen steckt, wird als spontan und als körperlicher Prozeß erlebt und ist über die Interviewsituation häufig verbal zunächst unzugänglich. Im nächsten Schritt ist die Absicherung von Intimität durch eigene Raumproduktionen zu beobachten. Der eigene Körper oder die Körper der Bezugsgruppe werden gegen andere durch die Herstellung geschlossener Arrangements gesichert. Plazierungen erfolgen in habitualisierten Handlungen. Jeder kennt diese Formen der Produktion von Territorien: Stifte und Blätter werden auf Arbeitstischen verteilt, Bücher auf Nachttischschränken oder Jacken und Taschen auf Parkbänken. Jedoch haben diese »Spacings« einen Nachteil: Sie bleiben einsehbar. Beim Bau jener »Territorien des Selbst« (Goffman 1982, S. 54ff.) ist die Anordnungspraxis institutionalisiert und wird insofern relativ ungebrochen nach vollzogen. Dabei ist es vor allem der Blick, der die Grenzen spürbar überwindet und den eigenen Raum in die fremden hinein verlängert. An anderer Stelle (Low 2001) habe ich ausführlich ein Raumverständnis begründet, dem zufolge Räume durch die relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Lebewesen an Orten entstehen. Sie basieren auf zwei, sich gegenseitig bedingenden Prozessen, der Syntheseleistung und dem Spacing. Die Syntheseleistung bezeichnet den Prozeß, mittels dessen soziale Güter, Menschen, Tiere, Pflanzen oder Gewässer über Wahrnehmungsprozesse relational verknüpft und so zu ein- und ausschließenden Räumen zusammengefaßt werden. Geht man davon aus, daß die Konstitution von Räumen gleichermaßen auf einer Plazierungspraxis (Spacing) und einer Syntheseleistung, der relationalen Verknüpfung der plazierten Objekte zu einem Ganzen, basiert, dann zeigt das Beispiel die Konkurrenz zwischen Raumproduktionen. Gelingt es den eigenen Raum vor fremden Blicken zu schützen? Vermag man(n) den eigenen Raum in fremde Territorien auszuweiten? Fremde Objekte können für die eigene Raumkonstruktion ignoriert werden oder zu eigenen Raum254
grenzen genutzt werden. Dieser Prozeß wird gesellschaftlich kontrolliert, wie Kaufmann sehr ausführlich darlegt, durch Technologien des Blickens. Körper werden über Räume geschützt, diese Raumgrenzen laden jedoch gleichzeitig zur Überwindung ein.
4. Lefebvres Körper Liest man diese Ergebnisse mit der theoretischen Brille eines Henri Lefebvre, dann fällt zunächst die für den Kapitalismus typische Abgrenzung kleiner »Eigenheime« auf. Ein kollektives Gut, der gemeinsame Strand, wird abgeteilt und eingeteilt in kleine Reviere. Die kapitalistische Raumlogik individueller Besitztümer wird selbst am Strand reproduziert. Auch seine Annahme, daß die kapitalistische KuJtur zutiefst eine visuelle ist, die den Blick zum Königssinn erhebt und stets auf das Aussehen achtet, läßt sich zumindest in dieser Allgemeinheit zunächst bestätigen. Selbst die körperliche Produktion ron Räumen durch eine körperliche, aber hochgradig routinierte Beivegungsform, läßt sich im empirischen Fall reproduzieren. Nun ist in der Lefebvreschen Argumentation aber der Körper gerade nicht nur reproduktiv, sondern auch subversiv. Dies nimmt seinen Ausgangspunkt in der Räumlichkeit des Körpers. »This is truly 1 remarkable relationship: the body with the energies at its dispo»ai, the living body, creates or produces its own space; conversely, the laws of space, which is to say the laws of discrimination in space, dso govern the living body and the deployment of its energies« (Lefebvre 1991, S. 170). Die notwendige Erfahrung, Räume durch die ernährende Erhaltung des eigenen Körpers schaffen zu können, vermittelt die allgemeine Fähigkeit, Räume auch gegen die kapitalistischen Gesetze der Passivität und Alltäglichkeit mittels eigener »Energie« erschaffen zu können. Dabei ist der Körper keinesfalls nur der menschliche Körper. Auch die Spinne schafft, z.B. durch das Absondern von Sekreten, Räume (das Spinnennetz) durch körperliche Urtivität (siehe auch Lefebvre 1991, S. 173). Höhere Lebewesen unerscheiden sich von niedrigen nur durch die reichere Vielfalt an Bevegungs- und Unterscheidungsmöglichkeiten. Mit der Erfahrung ausgestattet, über eigene Energie Räume schaffen zu können, ist über ien Körper die erste Voraussetzung dafür gegeben, das eigene Unbelagen an der Entfremdung ernst zu nehmen. Eine weitere Vorausset25S
zung ergibt sich nach Lefebvre aus der Erfahrung der Differenz. »The body's secret is a dramatic one, for the time thus brought into being, though a bearer of the new, as in the progression from immaturity to maturity, also brings forth a terrible and tragic repetition - indeed the ultimate repetition: old age and death. This is the supreme difference« (Lefebvre 1991, S. 395f.). Der Körper ist demnach durch sein Unterworfensein unter die Zeit ein Phänomen, das in der Wiederholung Differenz produziert. Anders als im staatlich-kapitalistischen Raum, wo die homogenisierende Ordnung durch die Wiederholung reproduziert wird und die Differenz sich auf das Ausgegrenzte bezieht, verbindet der Körper Repetitives und DifTerentes. Folglich weist der Körper, nach Lefebvre, über die Erfahrung von Differenz durch Wiederholung und die Erfahrung eigener Räume durch Energie, die Potenz zur Rache über die kapitalistische Raumordnung auf. Den Ort der Rache jenseits des Alltags und in der Nähe zu einer vorkapitalistischen Raumerfahrung zu suchen, ist folgerichtig, übersieht aber die Routinen des Urlaubs und der kapitalistischen Produktion von Urlaubsräumen (vgl. Urry 2002). »Eure eigenen Sinne sollt ihr zu Ende denken« formuliert Lefebvre (1991, S. 399) mit Bezug auf Nietzsche als Ausblick. Diese Sinne führen häufig zu einem Sinn für den vorgegebenen Platz, dieser ist am Strand in hohem Maße vergeschlechdicht.
5. Blickregime und Wahrnehmungen Ich bleibe auf den Spuren, die Lefebvre und Kaufmann gelegt haben, wenn ich im folgenden gerade die beiden Aspekte, die für Räume konstitutiv sind, nämlich die Syntheseleistung mit der Privilegierung des Blicks und die Plazierungspraxis, das Spacing, in ihren geschlechtsspezifischen Dimensionen betrachte. Es wird sich zeigen, daß Räume über Körpertechnologien vergeschlechtlicht werden. Jean-Claude Kaufmann kann unmittelbares Verständnis voraussetzen, wenn er seine Beobachtungen und Interviewanalysen wiedergibt und dabei den Blick der Männer und das körperliche Erspüren der Verhältnisse durch die Frauen schildert. Es ist weniger seine Perspektive als Mann, die diese Differenzlinie eröffnet, als vielmehr die Erlebniswelt der Strandbesucherinnen, die sich selbst zuordnen und in diesen Zuordnungen handeln. 256
In den Kunst- und Kulturwissenschaften ist in den letzten Jahren iel zur raumkonstituierenden Dimension des Blicks und ihrer gechlechtsspezifischen Komponente geforscht worden. Ausgangspunkt ler, auch von Lefebvre immer wieder hervorgehobenen, modernen .ogik der Visualisierung ist die Entdeckung der Zentralperspektive n der frühen Neuzeit. Auf der Basis mathematischer und geometricher Erkenntnisse dient die Zentralperspektive gleichermaßen als Mittel für eine »realitätsgetreue« Abbildung der Wirklichkeit wie Js Anleitung zum »richtigen« Sehen (Mathes 2001, S. 95 fr.; Jay 993; Kemp 199°)- Der durch die Zentralperspektive geschulte Blick »asiert darauf, mit einem Auge zu schauen und dabei unbewegt bzw. Listanziert die Welt zum Objekt werden zu lassen (vgl. Panofsky 992, S 101). Folglich wird in der Durchsetzung und raschen Naturaisierung der Zentralperspektive auch eine moderne Form des Stre>ens nach Weltbeherrschung gesehen (z.B. Crary 1993). Dieser Blick auf die Welt geht, wie Erwin Panofsky hervorhebt, nit einem absolutistischen Raumverständnisses einher: »Diese ganze Zentralperspektive< macht, um die Gestaltung eines völlig ratiotalen, d. h. unendlichen, stetigen und homogenen Raumes gewähreisten zu können, stillschweigend zwei sehr wesentliche Voraussetungen: zum Einen, daß wir mit einem einzigen und unbewegten Luge sehen würden, zum Anderen, daß der ebene Durchschnitt durch lie Sehpyramide als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes gelen dürfte« (Panofsky 1992, S. 101). Panofsky zufolge erfährt im 15. ind 16. Jahrhundert die naive auf die Antike zurückgehende Behälerraumvorstellung (ausfuhrlich Low 2001) eine wissenschaftliche Durchdringung. Die Zentralperspektive ermöglicht es, den starren, inbeweglichen, homogenen Raum gleichzeitig zu konstruieren und u naturalisieren. Indem die Zentralperspektive als »richtiges« Seien etabliert wird und dabei der Malerei ermöglicht, das Abbild liesem Sehen entsprechend als wirklichkeitsgetreue Darstellung zu präsentieren, erscheint auch der absolutistische Raum gleichermaßen wissenschaftlich korrekt und naturgegeben. Das Wissen um die Differenz zwischen wissenschaftlichem Ideal und empirischer Pra;is, welches in der Antike noch zum gesellschaftlichen Erkenntnistand gehört, gerät in dieser Phase weitgehend in Vergessenheit (Sturm 1000, S 88ff). Voraussetzung für diesen Blick ist eine spezifische Cörpertechnologie, die Bewegungslosigkeit voraussetzt. Norman Bryon spricht daher vom perspektivischen Blick auch vom »Gaze«, dem 157
Starren (Bryson 1983). Der Körper des Blickenden sei auf einen einzigen Punkt reduziert, eines seiner Augen, das Gesichtsfeld, die Körperlichkeit des Schauens verschwinde. Bettina Mathes betont in ihrer Arbeit zum Geschlechterverhältnis der frühen Neuzeit, »daß sich im >Gaze< das Geschlechterverhältnis konstituiert« (Mathes 2001, S. 105). Sie bezieht sich dabei, wie andere Kultur- und Kunstvvissenschaftlerinnen auch (vgl. z.B. Hentschel 2001), auf Arbeiten zur Filmtheorie und Bildinterpretation. Der Blick auf die Leinwand des Erzählkinos wie der wissenschaftlich-distanzierte Blick auf die Gemälde sei eine Facette, durch die die kulturelle Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit produziert und reproduziert werde. Das perspektivisch entworfene Bild lasse einen Eindruck von Tiefe und damit von Räumlichkeit vor den Augen der Blickenden entstehen, eine Räumlichkeit, die durch die bewegten Bilder des Kinos noch verstärkt werde. »Ziel des kommerziellen Films ist es, über unauffällige Schnitt- und Kameratechniken den Eindruck eines kontinuierlichen, homogenen Bildraumes aufzubauen und Betrachtende in eine Überblicksposition zu bringen« (Hentschel 2001, S. 153). Da Räume traditionell als Frauen(körper) imaginiert werden (ausfuhrlich Low 2001, S. ii5ff.), entsteht eine kulturelle Verknüpfung der betrachteten Räume mit weiblichen Körpern, die ihren modernen Ausdruck in der Wahl nationaler Schönheitsköniginnen als Repräsentantinnen des nationalstaadichen Raums findet (Banet-Weiser 1999). Diese auch in der Literaturwissenschaft vielfach belegte Überlagerung von Raumphantasien und weiblichen Körpern (vgl. Weigel 1990; Kublitz-Kramer 1995) bindet den der Zentralperspektive folgenden voyeuristischen Blick, der seziert, ohne gesehen zu werden, in einen vergeschlechtlichten und einen vergeschlechtlichenden Kontext ein. Im absolutistischen Raumverständnis wird der geöffnete Bildraum wie das Versprechen eines dargebotenen geöffneten Frauenkörpers erlebt und gleichzeitig als Sicherheit gewährende Gebärmutter (Colomina 1997) und Lust versprechender Schoß (Weigel 1990; Hentschel 2001) beschrieben. So manifestieren sich vor dem Hintergrund einer zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Matrix tendenziell zwei entgegengesetzte Positionen: die des männlichen Blickes und die der weiblichen Betrachteten. Nun stellt sich die Frage, wie sich umfassende gesellschaftliche Symbolisierungsprozesse, wie sie hier durch Kultur-, Literatur- und 258
Filmwissenschaften beschrieben werden, auf die Handlungen von Männern und Frauen beziehen lassen. Offensichtlich ist, daß die Positionen »betrachten« und »betrachtet werden* nicht notwendig an Plazierungen von Frauen und Männern gebunden sind: »Gerade weil der voyeuristische Blick eine Konstruktion ist, kann er potentiell von jedem Subjekt angeeignet werden. Das heißt, daß der voyeuristische Blick auch Frauen offensteht, und es bedeutet auch, daß Männer durch diesen Blick in eine >weibliche< Position geraten können« (Mathes 2001, S. 107). Gleichwohl existiert eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Beobachtungen, denen zufolge die Möglichkeiten, als Frau den männlich konnotierten voyeuristischen Blick zu praktizieren oder als Mann in dieser Weise betrachtet zu werden, von den kulturell üblichen Praktiken des Doing Gender, der Herstellung von Geschlechdichkeit im Handeln abhängen. Erving Goffmans Beschreibung der US-amerikanischen Gesellschaft zufolge ist »ein junger, verheirateter, weißer, städtischer, nordstaadicher, heterosexueller, protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen im Sport« (Goffman 1975, S. 158) ein nicht genierbarer Mensch. Es gilt als wissenschaftlicher Common sense (vgl. Bourdieu ^982, S.307ff.; List 1993; Sarasin 2001), daß nur der bürgerliche, männliche, weiße, städtische Körper unauffällig ist. Zur Norm erhoben scheint er von Einschreibungen durch Klasse, Geschlecht oder Ethnizität frei zu sein. Diese Freiheit zur Unauffälligkeit eröffnet ihm auch im Alltag andere Blickpotentiale. In der Erfahrung eigener Unauffälligkeit läßt sich der Blick auf die Anderen, die Auffälligen, die Unnormalen, die sich - genierbar durch die Zeichen ihres Körpers (z.B. sich bewegende Brüste) vor den Blicken eher verstecken, leichter richten. In einem kulturell spezifisch hierarchischen Gefüge aus Milieu, Klasse, Geschlecht und Ethnizität werden Blicke verteilt und entgegengenommen. Jene Praktiken, die Kaufmann für den Strand beschreibt, die orientierende Erkundung der Nachbarschaft zum Schutz vor Blicken, sind auch bei schwulen oder schwarzen Männern unmittelbar vorstellbar. Es ist jedoch jene spezifische Dynamik, die Kaufmann als die »drei Körper« der Frau beschreibt, die auf der Basis der männlich codierten kulturellen Position des Blickenden und der weiblich konnotierten Position der Betrachteten das Geschlechterverhältnis derzeit und in westlichen Gesellschaften zudem prägt. 259
Kaufmann zufolge gleiten Frauen permanent zwischen dem banalen, dem schönen und dem erotischen Körper hin und her. »Zeigt sich der eine, sind die anderen niemals sehr fern« (Kaufmann 1996, S. 223). Die moderne Banalisierung der Nacktheit schaffe jene Normalität, die den Austausch zwischen Männern und Frauen am Strand aufrechterhalte. Mit dieser Banalität trete Schönheit in Konkurrenz. Immer wieder vertreibe sie den Eindruck des Banalen und reiße damit den nackten Körper aus seiner Unsichtbarkeit. Wenn Schönheit auftauche, reagiere der Mann mit Begehren und lasse den erotischen Körper aufblitzen. Wenn jedoch über die Erotik die Gefahr der Unordnung entstehe, werde der Körper wieder banalisiert. Kaufmann beschreibt mit dem Begriff der Schönheit die Auffälligkeit des weiblichen Körpers, ein Markierungsschema für Frauen, welches über die Konstruktion eines ausdifferenzierten Feldes von Häßlichkeits- und Schönheitszuweisungen Handlungsoptionen eröffnet oder verschließt. In dieses Markierungsschema eingebunden sind Vorstellungen und Praktiken von Erotik und Sexualisierung, jedoch nicht, wie Kaufmann nahelegt, aus Schönheit linear ableitbar, sondern verknüpft mit Strategien der Macht- und Herrschaftsabsicherung, die »Schönheit« als ästhetische Größe erst hervorbringen. Der Blick der Männer auf die Frauenkörper ist nicht zwingend, aber er ist, wenn er geschieht, wie Michel Foucault exemplarisch gezeigt hat, stets in einen Komplex von Macht und Wissen eingebunden. Die Sexualisierung ist, wie das Verhalten der Frauen am Strand exemplarisch zeigt, eben nicht nur ein Ausdruck des Begehrens von Männern, sondern auch ihrer Machtposition. Oder, in der Sprache der Systemtheorie formuliert, die Asymmetrie, die die Geschlechterdifferenz stabilisiert, wird erzeugt, »indem Frauen schlicht wahrnehmbarer sind, also stets das Objekt eines Blicks sind, der sich nicht abstellen läßt« (Nassehi 2003, S. 101, Hervorhebung im Original). Männerkörper werden heute zahlreich in Frauenzeitschriften zur Betrachtung angeboten. Frauen schreiben, bewerten und analysieren Männerkörper wie nie zuvor (vgl. Mathes/Löw 2002). Frauen sprechen über das Aussehen von Kollegen, Freunden und Nachbarn. All dies läßt sich als Annäherung der Geschlechter bezeichnen. Und doch scheinen sich die Praktiken zu unterscheiden. Gerade in öffentlichen Räumen ist selten zu beobachten, daß Frauenblicke auf männliche Körper jenes, die Machtverhältnisse reproduzierende, verschämte Bedecken/Verstecken/Weggucken evozieren, sondern statt dessen 2S0
eröffnet »the gaze« oft die Rituale des Flirts, welche in der Machtbalance stets offen bleiben.
6. Relationale Räume Zurück zum Raum bedeutet dies, daß die Verbindungsstelle zwischen Raum und Körper keineswegs nur in den vielfach belegten Überlagerungen zwischen Raumbildern und Frauenkörpern besteht, sondern daß in die Konstitution von Raum selbst vergeschlechtlichende Prinzipien eingebunden sind. Über die Aktivierung der Geschlechterdifferenz in der Wahrnehmung und in der Plazierungspraxis werden auch die räumlichen (An)Ordnungen vergeschlechtlicht. Wahrnehmung kann dabei als ein Prozeß begriffen werden, der durch eine Wechselwirkung hervorgebracht wird, der gleichzeitigen Ausstrahlung von sozialen Gütern und Lebewesen wie auch der körperlichen Aktivität der Wahrnehmung (vgl. Low 2001, S. 195^)Wahrnehmung ist nicht nur ein Prozeß der individuellen Aktivität, sondern, wie z.B. Georg Breidenstein ausführt, auch ein antizipierender Akt. »Die Teilnehmer richten ihre eigene Positionierung, ihre Darstellungen und Aktivitäten an der antizipierten Wahrnehmung durch andere aus - und [...] an den antizipierten Grenzen der Wahrnehmung anderer« (Breidenstein 2004, S. 91). Auch Mike Featherstone weist darauf hin, daß diese Plazierungen stets in der Antizipation der Grenzen anderer Räume erfolgen. »The drawing of a boundary around a particular space is a relational act which depends lipon the figuration of significant other localities within which one seeks to situate it (Featherstone 1993, S. 176). Eigene Räume werden dadurch produziert, daß symbolisch und/oder materiell Grenzen in der Erwartung gezogen werden, daß andere diese Grenzen synthetisierend erkennen. Gleichzeitig werden die Plazierungen anderer wahrgenommen und eigene Plazierungen an dem Wahrgenommenen orientiert. Ebendieser Akt der wahrnehmenden Verknüpfungsleistung erweist sich bei genauerem Hinsehen als durchdrungen von GeschlechterVerhältnissen. Zumindest für gemischtgeschlechdiche, heterosexuelle Kontexte gilt, daß Wahrnehmung tendenziell in zwei Positionierungen zerfällt: den männlich codierten Blick und das weiblich :odierte Erspüren von Plazierungen. Ungeachtet dessen, daß Frauen 261
auch schauen und Männer auch hörend, riechend oder fühlend reagieren, wird das Wahrgenommene durch kulturelle Konstruktionen gefiltert und, wie Kaufmann aus den Interviews zitiert, als körperliches Spüren der Frauen und als Blicke (und damit eine distanzierte, wissenschaftliche, kontrollierte - und somit kaum noch als Teil von Wahrnehmung erfahrene - Praxis) der Männer erlebt sowie gegenseitig das jeweilige Handeln antizipiert und das eigene Handeln daran ausgerichtet. Diese kulturellen Konstruktionen sind nicht nur Täuschungen, sondern stehen in Beziehung zu einer Praxis der Herstellung von Räumen, welche auf einem vergeschlechtlichten, von Machtverhältnissen durchzogenen Feld der Blickkulturen basiert. Der visuelle Sinn ist zum Königssinn geworden. Dies läßt sich z.B. gut am Tastsinn zeigen. Obwohl beim Anfassen eines anderen Menschen beide berührt werden, wird das Legen einer Hand auf einen anderen Körper als einseitige Berührung gedacht. Das Ertastete wird über das Auge in einen einperspektivischen Akt überführt (Mathes 2003). Menschen verlassen sich in der Regel mehr auf das, was sie sehen, als auf das, was sie schmecken, fühlen, riechen. Die Verknüpfung der Objekte zu Räumen basiert daher privilegiert auf Blicken. Wem es jedoch erlaubt ist, wen und wie zu betrachten, hängt dabei nicht unwesentlich vom Geschlechterverhältnis ab. Dies sollte nicht dazu führen, in der wissenschaftlichen Forschung die zentrale Bedeutung des Visuellen unreflektiert zu reproduzieren. Georg Breidenstein (2004) zeigt in einer Studie über Raumkonstitution im Klassenzimmer, daß Syntheseleistungen nicht nur auf visuell zugänglichen Objekten basieren, sondern auch akustische und haptische Aspekte bei der Herausbildung von Räumen mitwirken.5 So nutzt es einem/einer Lehrerin z.B. wenig, wenn er/sie zwar alle Schülerinnen sieht, jedoch die akustische Hoheit über den gemeinsamen Raum verliert. In der ethnographischen Studie von Breidenstein fuhrt dies dazu, daß die Lehrerin »ihre territorialen Ansprüche auf das ganze Klassenzimmer aufgibt und sich in den Tafelbereich zurückzieht« (Breidenstein 2004, S. 98). An die Tafel schreibend nutzt sie dann wieder Visualität als letztes Mittel, um Ordnung im Unterricht formal noch aufrechtzuerhalten. Aber auch Anfassen und Angefaßt-Werden beschreibt Breidenstein als wesendiches Mittel, um Räume zu konstituieren. Mühevoll positionierte Gegenstände 5 Breidenstein spricht hier je nach Sinn jeweils von eigenen Räumen. 262
zur Sicherung eines Raumes können durch Anfassen verschoben werden, Raumgrenzen durch Berühren von Personen geöffnet werden und - im Unterricht besonders beliebt - unter den Schülerinnen kreisende Zettel eigene Raumarrangements schaffen. Wichtig ist jedoch zu berücksichtigen, daß all diese Handlungen in relationale Geschlechterbeziehungen eingebunden werden (können). Räume entstehen allerdings nicht nur über die Verknüpfung, sondern auch und ganz wesentlich durch das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen. Dieser als Spacing bezeichnete Vorgang benennt das Errichten, Bauen oder Positionieren. Kaufmann zeigt in seiner Studie die ausgefeilten Praktiken der Plazierung sowohl von Dingen als auch des menschlichen Körpers in der Intention, Räume ui produzieren. Er liefert damit den besten Beleg dafür, daß Räume nicht allein über die Welt der Dinge und Güter bestimmt werden können. Nach wie vor ist es selbst in der relational argumentierenden Raumsoziologie verbreitet, Raum als Konfiguration von Dingen tu begreifen (Zeiher/Zeiher 1994; Ipsen 1997). Menschen erscheinen in dieser Logik den Dingen - sehend oder plazierend - gegenübergestellt. Tatsächlich macht es jedoch gerade die Materialität der menschlichen Körper unmöglich, sie nicht als Teil einer räumlichen (An)Ordnung wahrzunehmen. Plazierte und sich plazierende Menschen, die Frauen »oben ohne« am Strand, die Männer neben ihnen oder ein Handtuch weiter, sie werden Teil der jeweiligen Raumbildungsprozesse. Das Spacing, also die häufig institutionalisierte und über Strukturen abgesicherte Plazierungsleistung, ist unausweichlich an »Körjertechnologien« gebunden. Wenn die Wahrnehmung und darüber die Konstitution von Räumen so verläuft, daß nicht nur Steine, Feniter oder Schränke die Materialien sind, aus denen Räume geschaf: en werden, sondern der im Sessel sitzende oder in der Tür stehende Mensch einbezogen wird, wenn also Räume mehr sind als banale Fläzen oder Kästen, dann müssen die Körpertechnologien auch die taumkonstitutionen prägen. Die Wahl der eigenen Plazierung oder ler Plazierung sozialer Güter geschieht stets relativ zu anderen Spa:ings. Männer sitzen anders als Frauen (Henley 6i993), Beamte essen Inders als Arbeiter (Frerichs/Steinrücke 1997) und Nonnen bewei n sich anders als Tänzerinnen (Gugutzer 2002). 163
Körpertechnologien sind nach Marcel Mauss (1978) historisch und kulturell spezifische Gebrauchsweisen des Körpers und damit des körperlichen Verhaltens/Handelns. Am Beispiel des Schwimmens, Gehens oder Laufens im interkulturellen Vergleich zeigt Mauss, daß nichts in der körperlichen Bewegung »natürlich« ist. Vielmehr gibt es kulturell hervorgebrachte Techniken, die den Körper in einer Weise durchdringen, daß diese reflexiv nur noch schwer zugänglich sind. Pierre Bourdieu hat diese Erkenntnis zum Kernstück seines Habitusbegrifrs verarbeitet. Er versteht unter Habitus ein dauerhaftes und übertragbares »System der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata«, als dessen Ergebnis das Soziale körperlich wird (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 160). Bezeichnet wird mit dem Habitus in räumlichen Kontexten auch das Gefühl ftir den eigenen Platz, welches in der Bourdieuschen Logik vor allem das Geftihl für die klassen- und geschlechtsspezifische Plazierung ist. Der Habitus ist ein Erzeugungsprinzip von Praxis, welches erstens dazu führt, daß Wahrnehmung endang der Strukturprinzipien Klasse, Geschlecht, Ethnizität different erfolgt, zweitens provoziert, daß Plazierungen selbst mit unterschiedlichem körperlichen Ausdruck erfolgen und drittens Wahrnehmungen wie Plazierungen in hohem Maße routiniert erfolgen läßt. »So ist der Habitus zutiefst und unentrinnbar geprägt durch eine soziale Praxis der Klassifikation, die männlich und weiblich als polaren Gegensatz konstruiert; auf der anderen Seite zwingt der Habitus unserem Handeln die ständige Anwendung jener Klassifikationen auf« (Krais/Gebauer 2002, S. 49). Körperlich leben Menschen in der Raum konstituierenden Plazierung (und der folgenden und vorausgegangenen Syntheseleistung) die Geschlechterdifferenz. Eingelagert in ein praktisches Bewußtsein (Giddens 1988) ist die Geschlechterdifferenz im Spacing, wie Kaufmann deutlich zeigt, selten bewußt und sofort diskursiv zugänglich.
7. Fazit Die Vergeschlechdichungder Räume geschieht, so meine These, über die Organisation der Wahrnehmungen, insbesondere der Blicke, und mit ihnen korrespondierender Körpertechnologien. Sie findet ihren Ausdruck sowohl in der Vorherrschaft des Visuellen über andere Wahrnehmungen, mit den impliziten Geschlechterdifferenzierungen, als 264
auch in einem hierarchisch-vergeschlechdichten Blickregime, daß die Synthetisierung von Objekten zu Räumen reguliert und Grenzziehungen institutionalisiert. Die Vergeschlechtlichung der Wahrnehmung (inklusive der Blickkultur) fuhrt im Sinne der Somatisierung sozialer Ordnung zu einer Ortswahl und einer Plazierungspraxis, die gesellschaftliche Strukturprinzipien (so auch Geschlecht) reproduziert. Das Geschlechterverhältnis ist somit über die körperliche Praxis in die Produktion von Räumen eingebunden. Raum und Körper teilen nicht nur gemeinsame vergeschlechdichende Bilder, sondern Räume werden über körperliche Praktiken in vergeschlechtlichter Weise hervorgebracht. Doreen Massey (z.B. 1999» S. 28) weist daraufhin, daß Raum wie kein anderer Begriff die Sphäre der Juxtaposition und Co-Existenz zum Ausdruck bringt. Als Organisationsform des Nebeneinander sind Räume der Inbegriff für Gleichzeitigkeiten. In diesem Sinne sind sie erstens Ausdruck der Möglichkeit von Pluralitäten, zweitens sich überlappender und gegenseitig beeinflussender Beziehungen und drittens gerade deshalb immer offen und unbestimmt in bezug auf zukünftige Formationen. Dies gilt für nationalstaatliche Räume gleichermaßen wie für die Mikroräume des Strandes. Das bedeutet, die Räume des Strandes sind in ihren Produktionsund Wahrnehmungsbedingungen anders strukturiert als die Räume des Parlaments oder der privaten Wohnung. Räume in verschiedenen Ländern der Welt unterscheiden sich wie die Räume der Armen von den Reichen. Insofern leitet die Perspektive auf die Räume zur Anerkennung der Differenz. Gleichzeitig sind Räume jedoch nicht nur Gebilde der Pluralität, sondern sie sind in einen permanenten Verweisungs- und Bezugszusammenhang eingebunden. Machtverhältnisse sind insofern nicht nur durch die Privilegierung und Vernachlässigung von Orten, sondern auch in bezug auf und in der Reproduktion von nationalen und globalen Strukturierungen zentraler Bestandteil der Konstitution. Somit sind Räume stets dynamische, aber auch umkämpfte (An)Ordnungen. Vieles deutet darauf hin, daß institutionalisierte räumliche (Anordnungen auf die Körper zurückwirken und somit ebenfalls zur Vergeschlechdichung der Körper beitragen. Renate Ruhne (2003) hat dies bereits für die Produktion der unsicheren Frau bzw. des sich sicher fühlenden Mannes durch die Konstruktion des öffentlichen Raums nachgewiesen. Besser erforscht ist diese Wechselwirkung für 265
den Prozeß der Ethnisierung. So zeigt z.B. Andreas Eckert (1996) wie durch die koloniale Raumpolitik in Afrika eine Ethnisierung der Körper produziert wird. Indem die weißen Kolonialherren nicht nur sich selbst von den Einheimischen trennen, sondern auch noch die schwarze Mehrheitsbevölkerung in ethnisch definierte Gruppen einteilen, die wiederum in »Stammesviertel« eingewiesen werden, schaffen sie urbane ethnische Identitäten, die bis heute wirksam bleiben. Lefebvre hat, so kann man zum Abschluß feststellen, Basisarbeit geleistet. Seine vielzitierte Triade bewährt sich vor allem in der Betonung der räumlichen Praxis, d. h. der Herstellung von Räumen mittels Wahrnehmung und durch Routinen abgesicherter Praktiken. Die Repräsentationen von Raum, der zweite Aspekt der Lefebvreschen Triade, benennt die wissenschaftlich-konzeptionelle Durchdringung des Raumerlebens und kann nun durch weitere Ordnungsprinzipien wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität ergänzt werden. Wenig überzeugend ist jedoch die Verortung des Widerstands in einem Jenseits des Kapitalismus, welches in der Konstruktion eines Raums der Repräsentationen als dritter Aspekt der Triade besteht oder auch im naturnahen Körper. Es ist die ernüchternde Erkenntnis des »Einklang(s) zwischen der Verfassung des Seins und den Formen des Erkennens« (Bourdieu 1997, S. 159), die jede Hoffnung auf eine mythische Imagination oder eine prähistorische Körpererfahrung zunichte macht. Der Körper wie die Phantasien sind kulturelle Produkte. Veränderung entsteht viel häufiger aus alltäglichen Verschiebungen, neuen Erkenntnissen, aus Widersprüchen, ambivalenter Körpersozialisation oder Reibungen zwischen räumlicher Praxis und Repräsentation. Doch erst wenn Widerstand nicht nur die räumliche Praxis, sondern auch die Repräsentationen ergreift, wird Veränderung möglich. Der nackte Busen, um noch einmal zum Strand zurückzukehren, hat zwar das Strandleben verändert, nicht aber die Geschlechter- und Raumarrangements und deren Wahrnehmung. Zunächst ist es ein Akt der Emanzipation, den Busen öffentlich zu zeigen. Zu Beginn der zweiten Frauenbewegung in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts legten viele Frauen ihre Büstenhalter ab. Nach dem Vorbild des Szeneromans »Die Töchter Egalias« sehen sie nicht länger ein, warum Brüste niemals in der öffendichkeit wackeln dürfen, wohingegen primäre Geschlechtsorgane von Männern nicht in die von der Autorin Gerd Brantenberg vorgeschlagenen 266
Penishalter gezwängt werden. Warum, so ist vielerorts zu hören, dürfen Männer ihre Brustwarzen öffentlich zur Schau stellen, Frauen nicht. Bald danach beginnen Frauen ihren Busen auch beim Baden und Sonnen nackt zu zeigen. Doch genau diese Freilegung, so zeigt Kaufmann, drängt nun die Frauen zur Passivität. Flach auf dem Boden liegend, können sie zum Objekt männlichen Betrachtens werden. Der Preis für die Nacktheit des Busens ist im hier betrachteten kulturellen Kontext die Bewegungslosigkeit des Körpers. O h n e den festigenden Büstenhalter wird der ganze Körper in den Zustand der Starre gebracht. Flach auf dem Rücken liegend - ein Zustand, der lange Zeit als angemessene Positionierung der Frauen beim Geschlechtsverkehr propagiert wurde - , nimmt der Busen dann doch die Form an, die auch durch das Bikinioberteil im bekleideten Zustand vorgetäuscht wird.
Literatur Ahrens, Daniela (2001): Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne. Opladen. Bancr-Weiser, Sarah (1999): The most beautiful girl in che world. Beaury pageants and national identity. Berkeley. Berking, Helmuth (2000): »Homes away from Home«. Zum Spannungsfeld von Diaspora und Nationalstaat, in: Berliner Journal für Soziologie. Heft 1, 49-60.
Bormann, Regina (2001): Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen. Bourdieu, Pierre (2i982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main. Ders. (1997): Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main, 153-217. Ders./Lo'i'c J. D.Wacquant (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main. Breidenstein, Georg (2004): KlassenRäume - eine Analyse räumlicher Bedingungen und Effekte des Schülerhandelns, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung (ZBBS), 5. Jg., Heft 1, 87-107. Bryson, Norman (1983): Vision and Painting. The Logic of the Gaze. London. Castells, Manuel (1994): Space of Flows - Raum der Ströme. Eine Theorie 267
des Raumes in der Informationsgesellschaft, in: Peter Noller u.a. (Hg.), Stadt-Welt. Frankfurt am Main/New York, 120-134. Colomina, Beatriz (1997): Die gespaltene Wand: häuslicher Voyeurismus, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv, 101-222. Corbin, Alain (1991 [orig. 1988]): Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste. Frankfurt am Main. Crary, Jonathan (1993): Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nincteenth Century. Cambridge. Eckert, Andreas (1996): »Unordnung« in den Städten. Stadtplanung, Urbanisierung und koloniale Politik in Afrika, in: Dietmar Rothermund (Hg.), Periplus 1996. Jahrbuchftiraußereuropäische Geschichte. Münster, 1-20.
Featherstone, Mike (1993): Global and local cultures, in: Jon Bird u.a. (Hg.), Mapping the futures. Local cultures, global change. New York, 169-187. Frerichs, Petra/Margareta Steinrücke (1997): Kochen - ein männliches Spiel? Die Küche als geschlechts- und klassenstrukturierter Raum, in: Irene Dölling/Beate Krais, Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main, 231-255. Giddens, Anthony (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New YorL Ders. (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main. Goffman, Erving (1975 [orig. 1963]): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main. Ders. (1982): Das Individuum im öffendichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt am Main. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung personaler Identität. Wiesbaden. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt am Main. Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze, Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart, 363393Henley, Nancy M. (6i993): Körperstrategien. Frankfurt am Main. Hentschel, Linda (2001): Die Ordnung von Raum und Geschlecht in der visuellen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Marlis Krüger/Bärbel Wallisch-Prinz, Erkenntnisprojekt Feminismus. Bremen, 150-165. Hirschauer, Stefan (1993): Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Frankfurt am Main. Ipsen, Dedev (1997): Raumbilder: Kultur und Ökonomie räumlicher Entwicklung. Pfaffenweiler. 268
Jay, Martin (1993): Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth Century French Thought. Berkeley, Los Angeles. Kaufmann, Jean-Claude (1996 [orig. 1995]): Frauenkörper- Männerblicke. Konstanz. Kemp, Martin (1990): The Science of Art. Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat. New Haven. Krais, Beate/Gunter Gebauer (2002): Habitus. Bielefeld. Kublitz-Kramer, Maria (1995): Frauen auf Straßen. Topographien des Begehrens in Erzähltexten von Gegenwartsautorinnen. München. Läpple, Dieter (1991): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept, in: Hartmut Häußermann u.a. (Hg). Stadt und Raum. Pfaffenweiler, 157-207. Leftbvre, Henri (1972a): Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt am Main. Ders. (1972b): Die Revolution der Städte. München. Ders. (1972c): Soziologie nach Marx. Frankfurt am Main. Ders. (1974): Die Zukunft des Kapitalismus. München. Ders. (1977): Kritik des Alltagslebens. Kronberg/Taunus. Ders. (1978): Einführung in die Modernität. 12 Präludien. Frankfurt am Main. Ders. (1991 [orig. 1974]): The production of space. Oxford. Linke, Uli (1999): German bodies. New York. List, Elisabeth (1993): Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik. Frankfurt am Main. Low, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main. Massey, Doreen (1996): Masculinity, Dualisms And High Technology, in: Nancy Duncan (Hg.), BodySpace, 109-126. Dies. (1999): Power-Geometries and the Politics of Space-Time. HettnerLecture 1998. Heidelberg. Mathes, Bettina (2001): Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit. Königstein. Dies. (2003): As long as a swan's neck? The significance of the >enlarged< clitoris for early modern anatomy, in: Elizabeth D. Harvey (Hg.). Sensible Flesh. On touch in early modern culture. Philadelphia, 101-124. Dies./Martina Low (2002): Blaues Wunder: Viagra und Männlichkeit, in: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung. 16. August 2002, 17. Mauss, Marcel (1978 [orig. 1935]): Die Techniken des Körpers, in: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Frankfurt am Main, 197-220. Nassehi, Armin (2003): Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter, in: Ursula Paseio/Chnstine Weinbach (Hg.), Frauen, Männer, Gender Trouble. System theoretische Essays. Frankfurt am Main, 80-104. 269
Noller, Peter (1999): Globalisierung, Stadträume und Lebensstile: kulturelle und lokale Repräsentationen des globalen Raums. Opladen. Panofsky, Erwin (199z): Die Perspektive als symbolische Form. Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin. Papayanis, Marilyn Adler (2000): Sex and the revanchist city, in: Environment and Planning D: Society and Space. Vol. 18, 341-353. Ruhne, Renate (2003): Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefuges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffendichen Raum. Opladen. Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main. Schroer, Markus (2003): Räume des Politischen - diesseits und jenseits des Nationalstaats, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt Sonderband 14. Baden-Baden, 325-356. Shields, Rob (1991): Places on the Margin. Alternative Geographies of Modernity. London/New York. Ders. (1999): Lefebvre, Love & Struggle. Spatial Dialectics. New York. Soja, Edward W. (1996): Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-And-Imagined Places. Maiden/Oxford. Sturm, Gabriele (2000): Wege zum Raum: methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften. Opladen. Sünker, Heinz (1989): Bildung, Alltag und Subjektivität. Elemente zu einer Theorie der Sozialpädagogik. Weinheim. Urry, John (2002): The Tourist Gaze. London. Weigel, Sigrid (1990): Topographien der Geschlechter. Kuiturgeschichdiche Studien zur Literatur. Reinbek. Weizsäcker, Carl Friedrich von (1986): Aufbau der Physik. München/Wien. Werlen, Benno (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierung. Bd. 1, Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Erdkundliches Wissen. Bd. 116. Stuttgart. Wex, Corell (1998): Lefebvres Raum - Körper, Macht und Raumproduktion, in: Tom Fecht/Dietmar Kamper (Hg.), Umzug ins OfFene. Vier Versuche über den Raum. Wien/New York, 32-40. Zeiher, Hartmut J./Helga Zeiher (1994): Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. Weinheim/München.
Michael Meuser Frauenkörper - Männerkörper Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz
i. Einleitung
Nichts verbürgt das Geschlecht, das man ist, mehr als der Körper, den man hat. Dies ist zumindest in der modernen, durch die Dominanz der naturwissenschaftlichen Perspektive geprägten Gesellschaft der Fall. Der Körper ist gewöhnlich der stärkste Beweis von Geschlechtlichkeit — sowohl für den Beobachter als auch für die Subjekte selbst. Sie fühlen sich »mit Haut und Haaren als Frau und Mann« (Villa 2000, S. 14). Der Körper wird zumindest bislang von den meisten Akteuren wegen seiner Materialität als ein Fluchtpunkt erfahren, der sich einer vollständigen Dekonstruktion der Geschlechtergrenzen widersetzt, als gewissermaßen letzte, nicht hintergehbare Sinnressource gegen eine diskursive Verflüssigung des Geschlechts. Die enge Kopplung von Geschlechdichkeit und Körperlichkeit ist, wie Thomas Laqueur (1992) in seiner wegweisenden Studie über die Geschichte der Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis zur vorletzten Jahrhundertwende gezeigt hat, eine >Erfmdung< der Moderne. Laqueur zufolge hat sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die Perspektive ausgebildet, die bis zu den jüngsten Dekonstruktionsbemühungen der Frauen- und Geschlechterforschung nicht nur den alltäglichen, sondern auch den sozialwissenschaftlichen Common sense prägte: daß das Geschlecht eines Menschen durch seinen Körper bestimmt sei und daß die Physiologie der Geschlechterdiffercnz den sozialen Unterschieden zwischen den Geschlechtern vorgängig sei. Im alltäglichen Common sense ist diese Überzeugung weiterhin vorherrschend. Bis in die Renaissance hinein waren die Unterschiede zwischen Mann und Frau sozial und nicht biologisch definiert, war das biologische Geschlecht das Epiphänomen und das soziale Geschlecht primär (Laqueur 1992, S. 20). Zwar war auch vor der Moderne der biologische Dimorphismus von Bedeutung für die Unterscheidung von zwei Geschlechtern, identifizierte man auch damals »im täglichen 271
Leben Männer und Frauen anhand ihrer körperlichen Eigentümlichkeiten« (Laqueur 1992, S. 175), doch wurden im vormals vorherrschenden Deutungsmuster des Eingeschlechtmodells Männerkörper und Frauenkörper nicht als in fundamentaler Weise unterschiedlich gesehen, sondern als verschiedene Ausprägungen eines Körpers. Genauer: Der weibliche Körper galt als die imperfekte Version des männlichen. Frauenkörper und Männerkörper standen also auch in diesem Modell in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, allerdings nicht in einem Verhältnis der Polarität. Erst die Entdeckung der modernen Medizin, daß weibliche Körperorgane keine mangelhaft ausgebildeten Versionen der männlichen sind, sondern völlig anders strukturiert, ermöglicht das die Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft charakterisierende Deutungsmuster einer in der geschlechtlichen Physiologie fundierten Polarität von Geschlechtscharakteren. Das Wissen um eine im Körper, genauer: im biologischen Körper verankerten Geschlechtlichkeit hat es jedoch niemals überflüssig gemacht, den Körper in einer Weise zu gestalten, die eine deutliche, den sozialen Status von Männern und Frauen reflektierende Geschlechtstypik aufweist. Gerade weil der Körper als der stärkste >Geschlechtsnachweis< gilt - fiir ego wie für alter - , ist es wichtig, ihn >stimmig< zu präsentieren, so daß er die Geschlechdichkeit in eindeutiger Weise verbürgt. Die Individuen entwickeln Körperstrategien, »soziosomatische Praxen« (Hirschauer 1989, S. i n ) , um - für die anderen und sich selbst - ein eindeutiger geschlechdicher Körper zu sein. Geschlechtsidentitäten verlangen nach einem kohärenten Körperbezug. Das zeigt sich nirgendwo deudicher als beim Überschreiten der Geschlechtergrenzen. Am Fall der Transsexualität läßt sich neben vielem unter anderem eines lernen: daß man, um ein Geschlecht zu haben, einen >passenden< Körper benötigt. Dies ist für ein »doing gender«, das von ego wie von alter als dem eigenen Geschlecht angemessen erfahren und damit überhaupt erst zu einem solchen wird, zwar keine hinreichende, wohl aber einer notwendige Bedingung. Die chirurgische Transformation des Körpers, durch die das gewünschte Geschlecht >gemacht< wird, ist, wie Hirschauer (1993, S. 288) zeigt, der »Normalisierungstribut, den Transsexuelle entrichten«. Die Gültigkeit der kulturellen Ordnung der Geschlechter wird am eigenen Körper exerziert. Die Schaffung von Irreversiblem, die Zerstörung 271
der >falschen< körperlichen Geschlechtszeichen, demonstriert dem bzw. der Transsexuellen selbst wie den anderen die Authentizität des >gewählten< Geschlechts. So wird noch im Überschreiten der körperlichen Geschlechtsgrenzen die »Körpergebundenheit der Geschlechtszugehörigkeit« (Hirschauer 1993, S. 350) bekräftigt.1 Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit stehen in einem engen wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Wie dieser zu entschlüsseln ist, ist Gegenstand grundlegender Kontroversen in der Geschlechterforschung. Gibt es einen geschlechdichen Körper vorab des bzw. unabhängig von doing gender oder ist der geschlechtliche Körper durch und durch ein diskursiver oder interaktiver Effekt? Kann man den geschlechtlichen Körper auch unabhängig von den sozialen Praxen konzipieren, in denen er in der sozialen Welt erscheint? »Ist der Körper beliebig geschlechtlich konstruierbar (...] oder gibt es Grenzen der Konstruktion, die der Körper selbst vorgibt?« (Villa 2000, S. r8i f.; vgl. auch Maihofer 2002) An diese Fragen, die auf das Verständnis und die Berechtigung der Sex-gender-Unterscheidung fokussieren, schließt sich als weitere Frage an, wie grundlegend eine Soziologie des geschlechdichen Körpers ansetzen muß. Muß sie zeigen, wie die Körper als Geschlechtskörper in sozialer Interaktion erst hervorgebracht werden, oder reicht es aus zu untersuchen, wie sich die Sozialordnung der Geschlechterverhältnisse in die Körper einschreibt und in ihnen sich ausdrückt? Im folgenden werde ich zunächst darlegen, wie der Körper Eingang in die Diskussionen in Frauen- und Geschlechterforschung gefunden hat, um daran anschließend zu zeigen, wie die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht durch die Frauenforschung eine Diskussion ermöglicht hat, in welcher die Annahme einer vorsozialen Gegebenheit des geschlechdichen Körpers radikal in Frage gestellt worden ist. Sodann werde ich mich mit somatischen Kulturen der Geschlechterdifferenz befassen, d.h. mit der Frage, wie sich die Geschlechterordnung in die vergeschlechtlichten Körper einschreibt. Abschließend werde ich den Blick darauf werfen, inwieweit und in welcher 1 Die auf verschiedene Regionen des Körpers von Transsexuellen zielenden sonstigen Behandlungen (die Einnahme von Hormonen über kosmetische Maßnahmen bis TU stimmpädagogischen Übungen) sind weitere soziosomattsche Praxen, in denen cie »körperlichen Bedingungen der Geschlechtsdarstellung und damit auch gravierend das Selbsterleben von Transsexuellen« (Hirschauer 1993, S. 242) verändert werden. 2-73
Weise die Transformation der Geschlechterordnung in den letzten drei bis vier Jahrzehnten sich in einer Neucodierung des Geschlechtskörpers niederschlägt.
i. Geschlecht und Körper. Zur Entstehung einer Geschlechtersoziologie des Körpers In den feministischen Emanzipationsdebanen hatte der weibliche Körper von Beginn an eine »exponierte Stellung« in zweifacher Hinsicht: als primäres Objekt patriarchaler Unterdrückung wie als Ort von BefreiungshofTnungen (Rose 1992, S. 113). Er wurde »zum politischen »Kampfplatz« um die Autonomie des (weiblichen) Selbst« (Villa 2000, S. 53). Kate Millett begreift in ihrem 1969 erschienenen Buch »Sexual Politics« (deutsch: Millett 1982) die intime Beziehung zwischen Mann und Frau als einen (geschlechter-)politischen Akt, in dem die männliche Herrschaft in der Verfügung und der Kontrolle über den weiblichen Körper gründet. Das Patriarchat wird als eine Institution beschrieben, mit der der Mann Kontrolle über die reproduktive Kraft der Frau gewinnt (Tong 1989, S. 71 ff.). Die Erlangung der Verfügungsmacht über den eigenen Körper war eines der zentralen Anliegen der frühen Phase der zweiten Frauenbewegung. Abtreibungsregelung (»mein Bauch gehört mir«), Vergewaltigung, Mutterschaft, Sexualität waren und sind Themen feministischer Körperpolitik, deren Ziel es ist, den weiblichen Körper männlicher Kontrolle zu entziehen (Davis 1996). Als soziale Bewegung, die zugleich einen einflußreichen intellektuellen Diskurs hervorgebracht hat, hat der Feminismus den weiblichen Körper erfolgreich zum Gegenstand sowohl politischer Auseinandersetzungen als auch wissenschaftlicher Diskussionen gemacht.2 Dieser >Erfolg< hat insofern ein problematisches Erbe begründet, als der Körper, den die Geschlechterforschung betrachtet, immer noch überwiegend der weibliche Körper ist (Martin 1998, S. 494). Der männliche Körper rückt erst in jüngster Zeit verstärkt ins Blickfeld. Die Fokussierung auf den weiblichen Körper entspricht der 1 Die Wirkung des feministischen Körperdiskurses geht über die Geschlechterforschung hinaus; er hat entscheidend zu der neuen Aufmerksamkeit der Soziologie auf den Körper beigetragen. Zu weiteren Diskurssträngen des rezenten Körperdiskurses vgl. Hahn/Meuser 2002. 274
Tradition der Geschlechterforschung, die in Gestalt von Frauenforschung zunächst, aus naheliegenden Gründen, Lebenslagen von Frauen zum Untersuchungsgegenstand hatte, sie reproduziert aber auch (unintendiert) das im Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft begründete kulturelle Deutungsmuster, dem zufolge sowohl Geschlecht als auch Körperlichkeit weiblich konnotiert sind (Meuser/Lautmann 1997; Meuser 1999). Die feministische Dekonstruktion der Geschlechterverhältnisse hat eine Perspektive eröffnet, in der sowohl das Geschlecht als auch der Körper als sozial konstruiert begriffen werden. Doch nicht nur in der Geschlechterforschung, auch in den Diskursen von Biomedizin und Informationsgesellschaft entsteht ein Verständnis von Geschlecht und Körper, das beides nicht mehr als naturgegeben, sondern als verhandelbar betrachtet (Lenz/Mense/Ullrich 2004, S. 7f.). Die aktuellen Diskussionen um den Körper zeugen von einer »Verunsicherung darüber, was der Körper überhaupt ist« (Villa 2000, S. 12). Der geschlechtertheoretische Diskurs trägt zu dieser Verunsicherung bei. Auf einer basalen Ebene hat er Gewißheiten über die Biologie der Geschlechterdifferenz in Frage gestellt.
3. Korporale Materialität und soziale Konstruktion Bei keiner anderen sozialen Unterscheidung ist es so einfach wie bei der von Mann und Frau, soziale Unterschiede auf biologische zu beziehen. Die physische Materialität der Körper ermöglicht der sozialen Konstruktion von Geschlecht Anschlüsse, die auf eine außersoziale Gegebenheit verweisen. Keine soziale Differenz scheint derart unmittelbar körperbasiert zu sein wie die Geschlechterdifferenz. Eine Naturalisierung sozialer Ungleichheit ist nirgendwo so einfach möglich wie bei den geschlechtlichen Disparitäten. Die biologischen Unterschiede, insbesondere der anatomische Unterschied der Sexualorgane, erscheinen »als unanfechtbare Rechtfertigung des gesellschaftlich konstruierten Unterschieds zwischen den Geschlechtern« (Bourdieu, S. 1997a, S. 169). Indem sich das geschlechdiche KJassifikationssystem »in letzter Instanz am Körper und seinen Funktionen festmacht« (Krais 2003, S. 165), wird das Gesellschafdiche der Geschlechterordnung unsichtbar gemacht. Der geschlechtertheoretische Diskurs bewegt sich zwischen einer 275
Position, welche die korporale Materialität als eine vorsoziale Gegebenheit begreift, an die sich soziale Unterscheidungen anschließen, die als kontingente »Entscheidungen« dekonstruiert werden einerseits, und einer radikal-konstruktivistischen In-Frage-Stellung der Sex-gender-Unterscheidung andererseits.3 Während es der ersten Position darum geht zu zeigen, daß sich an die biologischen Differenzen keineswegs zwangsläufig die sozialen Differenzen und Ungleichheiten anschließen müssen, welche die gegebene Geschlechterordnung prägen, begreift die zweite Position den Körper als einen in Diskursen und Interaktionen hergestellten Sinnkörper, der kein materiales Eigenleben außerhalb seiner kulturellen und sozialen Konstruktion hat (Butler 1991; Hirschauer 1993). In diesem Verständnis ist es nicht möglich, einen materialen Körper von einem Sinnkörper zu unterscheiden, da der Körper nicht anders denn als kultureller Körper gegeben ist. Letzteres gilt auch, wie Hirschauer zeigt, für diejenige Wissenschaft, die den Körper als einen nicht-kulturellen erforscht und vermißt, für die Biologie. »Dem theoretischen Interesse an Unterschieden geht ein praktisches an Unterscheidungen voran.« (Hirschauer 1993, S. 24) Nur weil es eine Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit gibt, richtet sich der forschende Blick auf Unterschiede der Morphologie, der Konstellation der Chromosomen, der Verteilung der Hormone und auf sonstige biologisch bestimmbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Die Gegenposition begreift die Verschiedenheit der Körper als eine Grunderfahrung der Subjekte (Ritter 1996, S. 408) und sieht in der Generativität eine unhintergehbare physiologische Tatsache (Krais 2003, S. 165) in dem Sinne, daß die Unterschiede der reproduktiven Funktionen von Frauen- und Männerkörpern zwangsläufig soziale Sinnanschlüsse nach sich ziehen. Welcher Sinn angeschlossen wird, ist damit nicht determiniert. Es ist jedoch keine Kultur bekannt, deren Geschlechterklassifikation nicht auf die reproduktiven Unterschiede Bezug nähme.4 Den primären Geschlechtsmerkmalen 3 Zu den Varianten der einen wie der anderen Position vgl. Maihofer (1995, S. 69ff.) 4 George Herbert Mead hat darauf hingewiesen, daß »physical things resist our action« (1938, S. 144). Allgemein, nicht auf den Geschlechtskörper bezogen, unterscheiden Willems und Kautx (1999, S. 299) einen »Sinnkörper« von »korporaler Materialität«. »Die Materialität des Körpers prozessiert und entwickelt sich sozusagen autopoetisch und in gewisser Weise asozial. Sie unterläuft und fundiert zugleich sozialen Sinn und damit Kommunikation.« Joas (1992, S. 246) verweist auf 276
wird wegen ihrer reproduktiven Funktion ein anderer Stellenwert zugeschrieben als sonstigen körperlichen Merkmalen (z. B. der Haarfarbe). Sie erzwingen gewissermaßen eine andere Aufmerksamkeit. Bourdieu (1997a, S. 174) zufolge sind die Geschlechtsorgane, weil sie »den Geschlechtsunterschied verdichten«, dazu »prädestiniert, ihn zu symbolisieren«. Die sich anschließenden sozialen Unterscheidungen müssen freilich nicht diejenigen sein, die die Geschlechterordnungen moderner Gesellschaften kennzeichnen. »Etwas organisatorischer Aurwand wäre nötig, wenn auch unter modernen Bedingungen nicht allzu viel, wollte man spürbare soziale Folgen dieser körperlichen Gegebenheiten verhindern.« (Goffman 1994, S. 106) Wie andere Erfahrungen werden auch Körpererfahrungen »innerhalb einer spezifischen symbolischen Ordnung gemacht« (Maihofer 2001, S. 23). Die »subjektive fühlbare Realität« (Villa 2000, S. 182), die der Körper ist, ist eine symbolische und materiale Realität. Dies wird besonders deudich angesichts der Veränderungen, die der Körper während der Pubertät erfährt. Kolip (1997, S. 81 ff.; ii4ff.) beschreibt die Menarche als ein Schlüsselerlebnis, dessen Wahrnehmung kulturell geprägt erfolgt, aber eine körperliche Veränderung darstellt, die nicht uninterpretiert bleiben kann und deren Interpretation angesichts der damit verbundenen reproduktiven Bedeutung in einem Geschlechter-Rahmen erfolgt (vgl. auch Flaake 1998, S. 51 f.).5 Der erste Samenerguß, die Spermarche, scheint für Jungen hingegen kein verg.eichbares Schlüsselerlebnis zu sein (Kolip 1997, S. i2of.). Diese Differenz im subjektiven Erleben körperlicher Veränderungen läßt sich als Folge einer differenten kulturellen Sinngebung verstehen. Die Menarche ist in der abendländischen Kultur deudich stärker ambivalent besetzt als die Spermarche. Während der erste Samenerguß als Ausdruck neuer Potenzen erfahren wird, wird die erste Menstruation »primär als Hygieneproblem verhandelt« (Flaake 1998, S. 51). E n avancierter theoretischer Ansatz zur Entschlüsselung des komplexen Verhältnisses von kultureller Konstruktion und körperlicher Materialität ist Lindemanns (1992) Theorie einer »leiblich-affektiven di< Widcrständigkeit des Körpers, die sich in Phänomenen wie »Passivität, Sensibilität, Rezeptivitiit, Gelassenheit« äußert. 5 Duden (1987, S. 138) weist allerdings daraufhin, daß auch solche körperlichen Vorgäigc wie die Regelblutung oder der Samenerguß nicht zwangsläufig in einem GescHechtsrahmcn wahrgenommen werden. Sie seien keineswegs »immer und überall geschlechtseigentümlich verstanden worden«. ^77
Konstruktion von Geschlecht«. Lindemann begreift im Anschluß an Plessners Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben den Leib als eine Wirklichkeit sui generis, zu der es allerdings keinen unvermittelten Zugang gibt. Vielmehr strukturiert »in der Verschränkung von Leib und Körper letzterer die leibliche Erfahrung« (Lindemann 1993, S. 3 3). Gleichwohl ist »Leiblichkeit als Konstituens von Sozialität« (ebd., S. 21) zu sehen. Der Leib agiert. Dies steht der sozialen Konstruktion der Leiberfahrung nicht entgegen. »Der Leib bildet das historisch geformte Agens geschichdicher Prozesse.« (Lindemann 1996, S. 172)
4. Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz Die kulturelle Symbolik des Körpers stellt die Kategorien bereit, in denen der Körper in seiner Geschlechtlichkeit erfahren wird. »Der Körper wird zu einem Geschlechtskörper, indem bestimmte Normen somatisiert werden.« (Villa 2000, S. 159) Es gibt eine somatische Kultur des Körpers. Der Begriff der somatischen Kultur, wie Boltanski (1976, S. 154k) ihn geprägt hat, meint »Kodes der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper, der tief verinnerlicht und allen Mitgliedern einer bestimmten sozialen Gruppe gemeinsam ist«. Diese Kodes gelten für das Erleben des eigenen und die Wahrnehmung des fremden Geschlechtskörpers gleichermaßen wie fiir körpergebundene Geschlechtsdarstellungen. In einer Gesellschaft, in der dem Geschlecht eine zentrale Platzanweiserfunktion in der sozialen Welt zukommt, in der Geschlecht ein »major Status« ist, ist die somatische Kultur der Geschlechterdifferenz nicht minder als somatische Kulturen, die auf andere soziale Zugehörigkeiten (Klasse, Ethnizität usw.) bezogen sind, von sozialen Disparitäten geprägt. Körperkonzepte und Körperstrategien sind Ausdruck der Disparitäten in den Geschlechterverhältnissen und tragen zu deren Reproduktion bei. Herrschaftsverhältnisse funktionieren vor allem auf der Basis einer »unmittelbaren und vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper« (Bourdieu 1997a, S. 165). Ungleichheit geht gleichsam »unter die Haut«. In den Geschlechtskörpern sind die Strukturen der Geschlechterverhältnisse auf einer präreflexiven Ebene verankert. Sie »sind gleichermaßen in die körperliche hexis [...] und in die Köpfe eingelassen« (Bourdieu 1997a, S. 162). 278
Nachfolgend werde ich die empirische Forschung zu Frauenkörpern und Männerkörpern resümieren und die Vielfalt der Fragestellungen und Befunde dadurch bündeln, daß ich analytisch zwischen den Dimension des Körperdiskurses, der Körperkonzepte und -Strategien sowie der Körpermacht unterscheide. Daran schließt sich die Frage an, wie sich in der Vielfalt der Erscheinungen ein homologes Muster der sozialen Konstruktion der Geschlechtskörper dokumentiert, dessen Konstruktionsprinzip in der hierarchisch verfaßten Geschlechterordnung zu finden ist. Körperdiskurse Das Wissen, das wir über vergeschlechtlichte Körper haben, ist vor illem ein Wissen über den weiblichen Körper. Das hat nicht nur den bereits erwähnten Grund, daß die Geschlechterforschung sich Dislang vorwiegend mit Frauen und deren Körper befaßt hat, das ist mch dadurch bedingt, daß in dem hegemonialen Geschlechterdisturs moderner westlicher Gesellschaften Körperlichkeit weitgehend mit Weiblichkeit identifiziert wurde und wird. Dieses Deutungsiiuster kennzeichnet, wie sozialhistorische Studien detailreich heruisgearbeitet haben (Frevert 1995; Honegger 1991), den Geschlech:erdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Diskurs ist der Vtann in gewissem Sinne als ein geschlechts- und körperloses Wesen tulturell erzeugt worden - und die Frau als ein durch ihre Körperlichkeit bestimmtes Wesen. Die Naturalisierung der Geschlecherverhältnisse fand vor allem in Gestalt einer Naturalisierung der irau statt. Zwar galt der physiologische Dimorphismus generell als 3asis unterschiedlicher Geschlechtscharaktere, nur ist diesem Discurs zufolge der weibliche Geschlechtscharakter eindeutig stärker eiblich verankert als der männliche. Die Frau wurde als das >Andere ler Vernunft< »zum Körper par excellence«, während die »Konzepualisierung des Männerkörpers als Sitz des Geistes... in der sozialen y/ahrnehmung zur Entkörperung des Mannes« führte (Low 1997, >. 455). Der Mann wird als Souverän über seinen Körper begriffen, ler von seinem Körper Gebrauch macht, um die Ziele zu erreichen, lie sein freier Wille setzt.6 \ In der Tönniesschen Unterscheidung von (männlichem) Kürwillen und (weiblichem) Wesenwillen ist dieses kulturelle Deutungsmuster in eine soziologische Terminologie transformiert (Meuser 1998, S. 21 ff.). 279
Die diskursive >Entkörperung< des Mannes, der nicht in Kategorien des Geschlechdichen, sondern des Allgemein-Menschlichen wahrgenommen wird (Simmel 1985), veranlaßt Laqueur (1992, S. 36) zu der Bemerkung, es sei wahrscheinlich nicht möglich, »eine Geschichte des männlichen Körpers und seiner Freuden zu schreiben, weil die historische Überlieferung in einer Kulturtradition zustande kam, in der eine solche Geschichte nicht nötig war.« Das Besondere erfährt bekanntermaßen mehr Aufmerksamkeit als das Allgemeine, und folglich ist es vor allem der weibliche Körper, der als geschlechtlicher Kör per Gegenstand der kulturellen Wissensproduktion ist. So entwickelt sich in der Medizin des 19. Jahrhunderts in Gestalt der Gynäkologie eine Sonderwissenschaft der Frau und des weiblichen Körpers, der bis in die jüngste Vergangenheit hinein kein Pendant auf männlicher Seite nachgewachsen ist (Honegger 1991).7 Und auch in der modernen Biomedizin ist es vor allem der weibliche Körper, der in medizinischen Termini verstanden wird (Oudshoorn 2004, S. 242; vgl. auch Duden 2002). Es ist der weibliche Körper, der pathologisiert und damit zum Objekt wissenschaftlicher Forschung wird. Da das Allgemeine und nicht das Besondere die Norm repräsentiert, wie schon Simmel (1985) mit Blick auf die Geschlechterdifferenz dargelegt hat, galt trotz der Gleichsetzung von Körperlichkeit mit Weiblichkeit der männliche Körper (als menschlicher Körper) als Norm, gegenüber der der weibliche Körper als Abweichung, als unvollkommenerer Körper gesehen wurde (Sobiech 1994, S. 27). Körperkonzepte Die enge Assoziation von Weiblichkeit mit Körperlichkeit hat außerdiskursive Folgen. Bourdieu (1997b, S. 229) zufolge ist in der gegebenen Geschlechterordnung »die Frau als symbolisches Objekt konstituiert» dessen Sein (esse) ein Wahrgenommen-Sein (percipi) ist«. Dieses Wahrgenommen-Sein — durch Männer und durch andere Frauen - betrifft vor allem den weiblichen Körper. In der Rede von den Frauen als dem »schönen Geschlecht« kommt dies prononciert zum Ausdruck. »Women tend to be encouraged more than men to develop their bodies as objects of perception for others.« (Shilling 7 Erst allmählich beginnt sich eine Andrologie auszudifferenzieren und zu etablieren. Die Frage, inwieweit dies Ausdruck der Umbrüche in den Geschlechterverhältnissen ist, wird noch zu erörtern sein {Kap. 5). 280
!
993> S. i32f.) Weiblichkeit ist immer noch in erheblichem Maße über die Attraktivität für das andere Geschlecht bestimmt, so daß dem männlichen Blick auf den Körper der Frau eine validierende Bedeutung zukommt. Weibliche Attraktivität ist durch die Evaluation des Mannes definiert (Flaake 1998, S. 48ff.; Dies. 2001, S. 113fr.; Sobiech 1994, S. 103). Das hat Konsequenzen für das weibliche Körperselbstkonzept. Dieses ist stärker auf Attraktivität als auf physische Effektivität bezogen (Lerner/Orlos/Knappi976). Vor diesem Hintergrund wird der weibliche Körper einem Bestreben nach ästhetischer Perfektionierung unterworfen, das ihn zu einem defizitären Körper werden läßt. Frauen sind den Zumutungen eines vollkommenen Körpers weitaus stärker ausgesetzt als Männer und weisen in Umfragen höhere Unzufriedensheitswerte hinsichtlich des eigenen Körpers auf (Kreikebaum 1999, S. 123fr.). Aus diesem Grunde nutzen weitaus mehr Frauen als Männer Möglichkeiten der Körpermanipulation und -korrektur von Kosmetikprodukten über Diäten bis hin zu kosmetischer Chirurgie (Ensel 1994; Franckenstein 1994). Dull und West (1991) haben gezeigt, daß sowohl unter Ärzten und Ärztinnen als auch unter Patienten und Patientinnen die Überzeugung vorherrscht, kosmetische Chirurgie sei etwas Natürliches für Frauen, nicht aber für Männer. Die enge Assoziation von Weiblichkeit und Körperlichkeit läßt solche korrigierenden Eingriffe in den Körper der Frau als deren legitimes Recht erscheinen. Insoweit von Frauen erwartet wird, daß sie ihr »impression management« vor allem über den Körper betreiben, werden ihnen Körpermanipulationen zugestanden, die bei Männern (bislang) verpönt sind. Körperstrategien Die hierarchische Organisation der Geschlechterverhältnisse findet ihren Niederschlag in den Körperstrategien von Frauen und Männern. Die Körperstrategien der Frauen sind einschlägigen Studien zufolge durch die Sorge um den Körper bestimmt, die der Männer durch ein Riskieren des Körpers. Diese Differenz bildet sich im frühen Jugendalter heraus. »Eine positive Besetzung des Körpers erfolgt bei den Jungen im Hinblick auf Zähigkeit, Belastbarkeit und Tapferkeit, bei den Mädchen mit einem Fokus auf Empfindsamkeit, Beweglichkeit und Geschmeidigkeit.« (Kolip 1997, S. i n ; vgl. auch Helffe281
rieh 1994, S. 58ff.) Sobiech beschreibt (1994, S. 100) »Expansion« als Merkmal männlicher, »Reduktion« als Merkmal weiblicher Körperstrategien. Dies läßt sich in den unterschiedlichsten sozialen Räumen und Handlungsfeldern beobachten. So zeigt eine Beobachtung von »Zusammenstoß-Vermeidungsstrategien an einem Fußgängerüberweg«, »daß Frauen an anderen in einer >verkrampften< Art vorübergehen, d.h. ihren Körper von anderen fortdrehen. Männer neigen dazu, in einer >offenen< Haltung an anderen vorüberzugehen, d.h. ihren Körper anderen zuzuwenden.« (Henley 1988, S. 205) Insgesamt werden die männlichen Körperbewegungen als raumgreifend, die weiblichen als begrenzend, wenig Raum beanspruchend, beschrieben. Die Differenz der Körperstrategien kommt nirgendwo besser zum Ausdruck als dort, wo eine Mitgliedschaft im sozialen Feld ohne den Einsatz des Körpers nicht möglich ist: im Sport. Der Sport ist ein in hohem Maße geschlechtstypisiertes Feld. Frauen favorisieren nach wie vor, trotz aller Entgrenzungen, Sportarten, bei »denen die ästhetische Präsentation und Modellierung des Körpers im Mittelpunkt stehen«, Männer solche, bei »denen der Körper als Mittel zu riskanten Auseinandersetzungen eingesetzt werden muß« (Gisler 1995, S. 654; vgl. auch Rose 1992, S. 116). Verletzungsanfällige Körperkontakte kennzeichnen typische Männersportarten, während bei typischen Frauensportarten der spielerische Ausdruck im Vordergrund steht. In homologer Weise sind jugendkulturelle, im öffendichen Raum betriebene (Fun-)Sportaktivitäten geschlechtstypisiert. Das Riskieren des eigenen Körpers kennzeichnet z.B. Breakdance oder Skating, die überwiegend von Jungen und jungen Männern praktiziert werden. Die weibliche Sorge um den eigenen Körper, insbesondere um dessen ästhetische Erscheinung, läßt sich zum einen durchaus als Ausdruck einer Kontrolle des weiblichen Körpers begreifen, sie verschafft den Frauen mit der ständigen Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper aber auch ein differenziertes Wissen über diesen und ein Vokabular, in dem sie über den eigenen Körper kommunizieren können. Diese Kommunikation ist den Männer weniger möglich; über den eigenen Körper zu kommunizieren evoziert eine (Selbst- und Fremd-) Deutung, in welcher der Körper in einen Problem-Rahmen gestellt ist (Hofscadler/Buchinger 2001, S. 23if.). Frauen haben, mehr als Männer, eine klare Vorstellung davon, was sie an ihrem Körper mögen 282
bzw. nicht mögen. Das größere Körperbewußtsein drückt sich nicht zuletzt im Gesundheitsverhalten aus. Die Gesundheitswissenschaft attestiert den Frauen ein »besseres Gesundheitsbewußtsein« (Masche wsky-Schneider 1994, S. 29) als den Männern und einen sorgfältigen Umgang mit dem eigenen Körper; der Umgang, den Männer gewöhnlich mit ihrem Körper pflegen, wird als »schonungslos« beschrieben (Bründel/Hurrelmann 1999, S. i28ff.; vgl. auch Brähler/Goldschmidt/Kupfer 2001). Körpermacht Eine weitere Dimension, in der die Geschlechtskörper differenziert sind, ist in sehr direkter Weise auf die Hierarchie der Geschlechterdifferenz bezogen. Sie betrifft die Möglichkeit, unmittelbar, über physischen Zwang, Macht auszuüben, also die Verfügung über »Aktionsmacht« im Popitzschen Sinne. »Aktionsmacht ist Verletzungsmacht, der Aktionsmächtige der Verletzungsmächtige. Im direkten Akt des y/erletzens zeigt sich unverhüllter als in anderen Machrformen, wie überwältigend die Überlegenheit von Menschen über andere Menschen sein kann« (Popitz 1992, S. 43). Das Pendant von Verletzungsmächtigkeit ist Verletzungsoffenheit. Beide sind Popitz zufolge Modi ton Vergesellschaftung. Mit der ungleichen Zuweisung von Verlettungsmächtigkeit und -Offenheit an bestimmte Kategorien von Menschen sind fundamentale soziale Ungleichheiten verbunden. Das zeigt sich mit aller Deutlichkeit im Verhältnis der Geschlechter. Die Geschlechterdifferenz ist zwar nicht die einzige, wohl aber *ine zentrale Differenzierungslinie, entlang der in unserer Kultur eine Zuweisung von Verletzungsmächtigkeit und -Offenheit erfolgt. Mit Blick auf die Frauen bemerkt Wobbe (1994, S. 191), Verletzungsoffenheit sei »eine als leibliche Realität erfahrene Struktur der Geschlechterdifferenz«. Das Gleiche ließe sich ftir die kulturelle Verknüpfung von Verletzungsmächtigkeit und Männlichkeit sagen. Die geschlechtlich geteilte Zuschreibung von Verletzungsmächtigkeit und -Offenheit ist ein zentrales Element der kulturellen Konstruktion der Ge»chlechterdifferenz und bestimmt somit sowohl die körperbezogene Selbst- als auch die körperbezogene Fremdwahrnehmung von Frauen und Männern. Verletzungsmächtige und verletzungsoffene Körper »ind in diesem Sinne kulturell konstituierte Wahrnehmungs- und Erfahrungskategorien. Diese Erfahrungskategorien sind freilich in die 283
sozialisierten Körper eingeschrieben und machen sich derart in körperlichen Empfindungen geltend. Die geschlechtsdifferente Zuschreibung von Verletzungsmächtigkeit und -Offenheit vermag z.B. erklären, warum Männer, insbesondere junge Männer, sich im öffentlichen Raum überwiegend angstfrei bewegen, obwohl ihr statistisches Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, deutlich höher ist als das der Frauen (Meuser 2002a). Die kulturelle Konstruktion des männlichen Körpers als verletzungsmächtig ermöglicht eine offensive Raumaneignung. Geschlechtskörper und Geschlechterverhältnisse ein Zwischenresümee Die skizzierten Merkmale der soziosomatischen Kultur der Geschlechterdifferenz sind eingelassen in die Ungleichheitsordnung der Geschlechterverhältnisse. Die soziosomatischen Kulturen von Frauen und Männern sind gemäß den polaren Schemata strukturiert, die das Verhältnis der Geschlechter in der Moderne bestimmt haben und die nur langsam an Bedeutung zu verlieren beginnen. Es sind die bekannten Polaritäten von Kultur versus Natur, Geist versus Körper, Aktivität versus Passivität, Rationalität versus Affektivität usw. Die Konstruktion des männlichen Körpers als leistungsfähiger, physisch effektiver und expansiver Körper, des weiblichen als ästhetischer, empfindsamer und sich zurücknehmender Körper folgt der Logik dieser Polaritäten. Die geschlechtlichen Körper stehen in einem Verhältnis der Hierarchie zueinander, das sich als sehr robust erweist (Connell 2001). In der geringeren Körperreflexivität der Männer dokumentiert sich die Persistenz des Deutungsmusters einer >Körperlosigkeit< des Mannes. Als >markiertes< Geschlecht, dessen Markierung in der Unterscheidung von dem das Allgemeine repräsentierenden männlichen Geschlecht erfolgt, bleibt den Frauen - zugespitzt formuliert - keine andere Wahl, als sich dem eigenen Körper zuzuwenden; Körperlichkeit ist sozusagen ein zentraler >Marker< des weiblichen Geschlechts. Die in der skizzierten Weise erfolgende Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper reflektiert die Position in der Geschlechterhierarchie. Sie korrespondiert der (erzwungenen) Aufmerksamkeit auf den eigenen Status, der, wie Simmel gezeigt hat, die Lage derjenigen bestimmt, die in einem Herrschaftsverhälmis in der untergeordneten 284
Position sind. In pointierter Form schreibt Simmel (1985, S.201), mit Blick auf das Geschlechterverhältnis, es gehöre »zu den Privilegien des Herrn, daß er nicht immer daran zu denken braucht, daß er der Herr ist, während die Position des Sklaven dafür sorgt, daß er seine Position nie vergißt«. Eine in jüngster Zeit zu verzeichnende wachsende Körperreflexivität von Männern läßt sich als Dokument einer beginnenden Erosion der etablierten Geschlechterhierarchie begreifen (Kap. 5). Wie die rezente Geschlechterforschung zu Recht betont, konstituieren sich Geschlechterverhältnisse nicht nur in der heterosozialen Dimension, die bislang im Fokus der Betrachtung stand, sondern auch in der homosozialen der Beziehungen der Angehörigen einer Genusgruppe untereinander (Connell 1987). Das sei mit Blick auf männliche Körperstrategien kurz erläutert. Die erwähnten Praktiken eines riskanten Umgangs mit dem eigenen Körper erhalten ihre geschlechtliche Bedeutung nicht nur aus der Differenz zu weiblichen Körperstrategien, sondern auch dadurch, daß sie ein Mittel der »ernsten Spiele des Wettbewerbs« sind, in denen sich Bourdieu (1997a S. 203) zufolge unter Männern der männliche Habitus ausbildet. Die sozialen Settings, in denen Männer ihren Körper riskieren, sind typischerweise solche, in denen sie in einem Wettstreit mit anderen Männern stehen, seien es sportliche, kriegerische oder sonstige gewaJtförmige Auseinandersetzungen (z.B. zwischen rivalisierenden Street gangs). In diesen Kämpfen ist der Körper der >SpieIeinsatz<, und die Bereitschaft, ihn zu riskieren, ist doing gender, Mittel der Aneignung und Darstellung von Männlichkeit (Meuser 2003a; 2003b). Mit Blick auf die homosoziale Dimension von Geschlecht ist des weiteren zu berücksichtigen, daß die soziosomatische Kultur eines Geschlechts nicht uniform ist. Diese internen Differenzierungslinien können hier nicht en detail für beide Geschlechter verfolgt werden,* anhand einer Differenzierung auf männlicher Seite soll aber verdeut8 Es ist zudem zu fragen, inwieweit bzw. in welchen Dimensionen der Sozialstniktur es eine geschlechtsinterne Differenzierung soziosomatischer Geschlechterpraxcn bei beiden Geschlechtern gleichermaßen gibt. Helfferich (1994, S. s8ff.) konstariert bei weiblichen Jugendlichen eine relative Sozialschichrunabhängigkeit des Umgangs mit dem eigenen Körper, bei männlichen Jugendlichen hingegen einen deutlichen Schichtunterschied. Kraft und Härte kennzeichnen vor allem die somatische Kultur männlicher Hauptschüler und Auszubildender, während die somatijehe Kultur von Gymnasiasten derjenigen der Mädchen ähnelt. In der ethnischen Dimension wird es interne Differenzierungen bei beiden Geschlechter geben. 285
licht werden, daß auch innerhalb eines Geschlechts soziale Disparitäten sich in differenten soziosomatischen Kulturen niederschlagen. Wenn zu Recht konstatiert wird, im Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft seien Männer (im Vergleich zu Frauen) als körperlose Wesen« konzipiert, so gilt das primär für die Männer des Bürgertums, die neben ökonomischem Kapital über kulturelles Kapital verfugten und mit dessen Einsatz ihr Brot verdienten. Das >Kapital< der Fabrikarbeiter war traditionell ihr körperliches Leistungsvermögen (Connell 2000, S. 75). Die Männlichkeit des Arbeitermilieus war mithin weitaus stärker als die des Bürgertums körperzentriert, über physische Kraft und Stärke definiert (Welskopp 1995). Gegenüber dieser >rohen< Männlichkeit stand die >feinsinnige< des bürgerlichen Mannes nicht minder in einem Verhältnis der (abwertenden) Distinktion wie gegenüber der als essentiell körperfundiert wahrgenommenen Weiblichkeit. Mit der Auflösung stabiler sozialer Milieus und im Zuge des Bedeutungsverlustes von körperlicher Kraft in der industriellen und handwerklichen Produktion scheint diese Distinktionslinie allerdings an Gewicht zu verlieren.
5. Neucodierung der Geschlechtskörper Wenn es zutrifft, daß die beschriebene kulturelle Konstruktion der Geschlechtskörper ein zentraler >Baustein* der tradierten Geschlechterordnung ist (Honegger 1991; Laqueur 1992), dann müßte deren Transformation mit einer Neucodierung der Geschlechtskörper verbunden sein. Solche Neucodierungen lassen sich auf verschiedenen Ebenen beobachten. Sie werden vor allem am männlichen Körper sichtbar (Hofstadler/Buchinger 2001, S. 248) und verweisen darauf, daß die männliche Herrschaft brüchig zu werden beginnt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige dieser Neucodierungen genannt. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, daß der männliche Körper eine verstärkte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dies geschieht aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Interessen. Die im Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft vorgenommenen Normierungen beginnen sich aufzulösen. Sehr deudich geschieht dies im Diskurs der Gesundheitswissenschaften. In den dort üblichen Diagnosen eines defizitären Bezugs des Mannes auf den 186
eigenen Körper verkehrt sich die fiir den bürgerlichen Geschlechterdiskurs eigentümliche Setzung des männlichen Körpers als Norm (s. o.) in ihr Gegenteil. Die Konnotation von Weiblichkeit mit Körperlichkeit scheint nun, in einer Epoche der Dekonstruktion männlicher Dominanzansprüche, zur Folge zu haben, daß das als typisch weiblich identifizierte Körperverständnis den Maßstab setzt. So wie den Frauen emotionale Kompetenz zugeschrieben wird, gelten sie auch als »Körper-kompetent«. Wenn diagnostiziert und kritisiert wird, Männer achteten »weniger als Frauen auf Körpersignale«, gingen »mit den ersten Symptomen einer Krankheit sorgloser um als Frauen«, ernährten »sich ungesünder als Frauen«, schnitten sowohl beim Gesundheitsbewußtsein als auch beim Gesundheitsverhalten »im Vergleich zu Frauen schlechter ab,« und wenn diese Diagnosen in das Fazit münden »Männlichkeit ist gesundheitlich >kontraproduktiv<« (Bründel/Hurreimann 1999, S. 130; 134; 145), dann wird das Gesundheitsverhalten der Frauen zum Maßstab, an dem auch Männer sich orientieren sollen. Den Männern wird anempfohlen, ihrem Körper mehr Beachtung zu schenken. Dem korrespondiert eine neue Aufmerksamkeit auf den männlichen Körper in der Medizin. Bis vor wenigen Jahren war die Geschlechtsspezifik von Gesundheitsproblemen bei Männern kein Gegenstand medizinischer Diskussion und Forschung (Klotz 2002). Seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts zeichnet sich die Ausdifferenzierung einer neuen, auf den Körper des Mannes fokussierten medizinischen Teildisziplin ab: der Andrologie. Damit »erobert die Biomedizin nach dem Frauenkörper nun auch den Männerkörper« (Wöllmann 2004, S. 256). Der männliche Körper wird geschlechtlich markiert und mithin zumindest ansatzweise dem Frauenkörper insoweit gleichgestellt, als er nicht mehr als der allgemein-menschliche Körper, sondern wie jener als ein besonderer Körper erforscht und behandelt wird. Die zeitliche Koinzidenz der beginnenden Institutionalisierung der Andrologie mit der forcierten Transformation der Geschlechterordnung ist augenfällig. »Zuvor war ein andrologisches Projekt nicht erfolgreich formulierbar und weder in die Biomedizin noch in andere Bereiche des Gesundheitssystems und der Gesellschaft kommunizierbar.« (Wöllmann 2004, S. 274) In der massenmedialen Darstellung des Mannes ist eine zunehmende Enttabuisierung des Blicks auf den männlichen Körper zu beobachten. In der Werbung wird der nackte männliche Körper ver287
mehrt als Kaufanreiz eingesetzt (Zurstiege 2001), eine Ästhetisierung des männlichen Körpers gewinnt an Bedeutung (Willems/Kautt 1999), der männliche Körper wird zum Objekt ästhetischer Gestaltung. Dies ist nicht auf die Werbeinszenierung von Männlichkeit begrenzt. In Gestalt von an Männer adressierten Zeitgeist- und Lifestyle-Magazinen wie »GQ« (Gentlemen's Quarterly) und vor allem »Men's Health«, welche auf einem insgesamt von rückläufigen Auflagenzahlen betroffenen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt wachsende Auflagenhöhen erzielen, hat sich ein Körperdiskurs entwickelt, der Männern ein vielfältiges Körperwissen vermittelt (Meuser 2003c). Dieses Wissen betrifft vornehmlich die männliche Körperpräsentation. Männlichkeit erscheint nicht zuletzt als eine Frage des nichtigen« sowie des richtig inszenierten Körpers. Um beides zu erreichen, muß der Körper (bzw. bestimmte Partien desselben) gezielt bearbeitet und gestaltet sowie mit den geeigneten Accessoires ausgestattet werden. Dieses neue Männerbild erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den eigenen Männerkörper, tendenziell eine Dauerbeobachtung. Den Zumutungen eines perfekten Körpers zu unterliegen ist nicht länger ein durchaus zweifelhaftes >Privileg« der Frauen; die Männer beginnen, daran zu partizipieren.9 Der Mann muß sich, so die > Botschaft dieses Diskurses, nicht minder als die Frau anstrengen und - ebenso wie sie in die ihre - in seine körperliche Attraktivität investieren, um Beachtung bei den Angehörigen des anderen Geschlechts zu erlangen. Das impliziert allerdings nicht, daß Männlichkeit nun in gleicher Weise wie Weiblichkeit durch eine Attraktivität für das andere Geschlecht bestimmt ist (s. o.).10 Der Männerkörper gewinnt an Gewicht nicht nur im Kontext heterosexueller Beziehungen, seine perfekte Gestaltung erscheint als unbedingte Voraussetzung, um in sämtlichen Lebensbereichen (intimen wie öffentlichen, privaten wie beruflichen) erfolgreich zu han9 Diese >Aufwertung< des männlichen Körpers ist Teil einer weiterreichenden, nicht nur die Männer involvierenden »somatischen Kultur«, in der über den Körper kulturelles Kapital akkumuliert werden kann (Rianer 1999; Turner 1996). Insofern ist die Entwicklung einer körperreflexiven Männlichkeit nicht nur in geschlechtersoziologischen Kategorien zu beschreiben, sondern auch in einen kultursoziologischen Rahmen einzustellen. 10 An anderer Stelle habe ich ausgeführt, daß und in welcher Hinsicht Männer und Frauen das auf den Körper gerichtete Wahrgenommen-Werden unterschiedlich erfahren und daß dies in einem geschlechtstypischen, auf die hierarchische Geschlechterordnung verweisenden Rahmen geschieht (Meuser 2003 c). 288
dein. Auch in der homosozialen Dimension lassen sich, so die Botschaft, über den Körper Distinktionsgewinne erzielen, nicht zuletzt in der Konkurrenz um berufliche Positionen. In einer Studie über Körpererleben von Männern zeigen Hofstadler und Buchinger (2001), daß nun auch unter Männern eine homosoziale Rangordnung über den Körper hergestellt wird. Der Körper des Mannes wird nicht nur dadurch, daß er riskiert wird (s. o.), sondern auch in seiner ästhetischen Dimension zum Einsatz in den ernsten Spielen des Wettbewerbs, in denen sich Bourdieu zufolge Männlichkeit konstituiert.
6. Ausblick Die voranstehenden Ausruhrungen haben den Geschlechtskörper vornehmlich in den Dimensionen von Körperkonstrukten, Körperbildern, Körperdiskursen behandelt. Darin erscheint der Körper als Objekt kultureller Formung. Das ist er zweifelsohne, aber er ist, zumindest in handlungstheoretischer Perspektive, mehr: der Körper agiert (Gebauer 1997; Meuser 2002b) und produziert in seinem Handeln sozialen Sinn und soziale Ordnung. Gegenüber der Frage, wie der Körper geformt wird, bleibt die Frage, in welcher Hinsicht der Körpers als agens zu begreifen ist, bleibt also die Praxis des Körpers nicht nur in der Literatur zum Geschlechtskörper, sondern in der Körpersoziologie insgesamt eigentümlich unterbelichtet. Eine Ausnahme sind die körpertheoretischen Arbeiten von Lindemann (s. o.), auch Kaufmanns (1996) empirische Analyse der vergeschlechtlichen Körper-Interaktionsordnung des Strandes, die eine über Blicke nonverbal hergestellte Ordnung des Ent- und Verhüllens des weiblichen Körpers ist, wäre zu nennen. Die Analyse vergeschlechdichter Körperpraxen sowie der Modi, wie die vergeschlechdichten Körper interaktiv aufeinander bezogen sind, stellt eine zentrale Aufgabe einer Körpersoziologie des Geschlechts dar, allerdings auch eine große Herausforderung, da sowohl eine handlungstheoretische körpersoziologische Begrifflichkeit noch kaum entwickelt als auch die Frage, mit welchen methodischen verfahren sich Körperpraxen angemessen empirisch rekonstruieren lassen, nicht nur nicht beantwortet ist, sondern eher selten gestellt wird. 289
Literatur Boltanski, Luc (1976): Die soziale Verwendung des Körpers, in: Dietmar Kamper/Volker Rittner (Hg.), Zur Geschiente des Körpers. München: Hanser, 138-183. Bourdieu, Pierre (1997a): Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 153-217. Bourdieu, Pierre (1997b): Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 218-230. Brähler, Elmar/Susanne Goldschmidt/Jörg Kupfer (2001): Männer und Gesundheit, in: Elmar Brähler/Jörg Kupfer (Hg.), Mann und Medizin. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie. Bd. 19. Göttingen: Hogrefe, 1133Bründel, Heidrun/Klaus Hurreimann (1999): Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. Stuttgart: Kohlhammer. Buder, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Connell, Robert W. (1987): Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics. Cambridge: Polity. Connell, Robert W. (2000): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen: Leske & Budrich. Connell, Robert W. (2001): Bodies, Intellectuals and World Society, in: Nick Watson/Sarah Cunningham-Burley (Hg.), Reframing the Body. London: Palgrave Macmillan. Davis, Kathy (1996): Editorial. The Body, in: European Journal of Women's Studies 3, 195-197. Duden, Barbara (1987): Geschichte unter der Haut. Stuttgart: Klett-Cotta. Duden, Barbara (2002): Entkörperung der Moderne. Zur Genese des diagnostischen (Frauen-)Körpers zwischen Nachkrieg und heute, in: Ellen Kuhlmann/Regine Kollek (Hg.), Konfigurationen des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik. Opladen: Leske & Budrich, 121-133.
Dull, Diana/Candace West (1991): Accounting for Cosmetic Surgery: The Accomplishment of Gender, in: Social Problems 38, 54-70. Ensel, Angelica (1994): Chirurg - Dramaturg - Demiurg. Männliche Schöpfungsphantasien und die Herstellung von Identitäten in der schönheitschirurgischen Geschlechterbeziehung, in: Zeitschrift für Frauenforschung 12, Heft 4, 106-114. 290
Flaake, Karin (1998): Weibliche Adoleszenz - Neue Möglichkeiten, alte Fallen? Widersprüche und Ambivalenzen in der Lebens Situation und den Orientierungen junger Frauen, in: Mechtild Oechsle/Birgit Geissler (Hg.), Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen: Leske & Budrich, 43-65. Flaake, Karin (2001): Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Franckenstein, Frauke (1994): Cher-eine zwielichtige Ikone der Schönheitschirurgie. Eine medizinethnologische Betrachtung der Politik am Frauenkörper, in: Zeitschrift für Frauenforschung 12, Heft 4, 115-124. Frevert, Ute (1995): »Mann und Weib, und Weib und Mann«. GeschlechterDifferenzen in der Moderne. München: Beck. Gebauer, Gunter (1997): Bewegung, in: Christoph Wulf u.a. (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel: Beltz, 501-516.
Gisler, Priska (1995): Liebliche Leiblichkeit: Frauen, Körper und Sport, in: Schweizerische Zeitschrift Für Soziologie 21,651-667. Goffman, Erving (1994): Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main/ New York: Campus. Hahn, Kornelia/Michael Meuser (2002): Zur Einführung: Soziale Repräsentation des Körpers - Körperliche Repräsentation des Sozialen, in: Dies. (Hg.): Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz: UVK, 7-16. Helfferich, Cornelia (1994): Jugend, Körper und Geschlecht. Die Suche nach sexueller Identität. Opladen: Leske & Budrich. Henley, Nancy M. (1988): Körperstrategien. Geschlecht, Macht und nonverbale Kommunikation. Frankfurt am Main: Fischer. Hirschauer, Stefan (1989): Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 18, 100-118. Hirschauer, Stefan (1993): Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hofstadler, Beate/Birgit Buchinger (2001): KörperNormen - KörpcrFormen. Männer über Körper, Geschlecht und Sexualität. Wien: Turia & Kant. Honegger, Claudia (1991): Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt am Main/New York: Campus. Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kaufmann, Jean-Claude (1996): Frauenkörper - Männerblicke. Konstanz: UVK. Klotz, Theodor (2002): Spezifische Gesundheitsprobleme von Männern, in: 291
Klaus Hurreimann/Petra Kolip (Hg.): Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich. Bern: Huber, 241-257. Kolip, Petra (1997): Geschlecht und Gesundheit im Jugendalter. Die Konstruktion von Geschlechtlichkeit über somatische Kulturen. Opladen: Leske & Budrich. Krais, Beate (2003): Körper und Geschlecht, in: Thomas Alkemeyer/ Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz: UVK, 157-168. Kreikebaum, Susanne P. (1999): Körperbild, Körperzufriedenheit, Diätverhalten bei Mädchen und Jungen im Alter von sieben bis dreizehn Jahren. Eine interkulturelle Vergleichsstudie (USA - D) und Längsschnittuntersuchung (D). Phil. Diss. Universität Köln. Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main/New York: Campus. Lenz, Ilse/Lisa Mense/Charlotte Ullrich (2004): Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Opladen: Leske & Budrich, 7-15. Lerner, Richard M./James B. Orlos/John R. Knapp (1976): Physical Artractiveness, Physical Effectiveness, and Self-Concept in Late Adolescents, in: Adolescence 11. No. 43, 313-326. Lindemann, Gesa (1992): Die leiblich-affektive Konstruktion des Geschlechts. Für eine Mikrosoziologie des Geschlechts unter der Haut, in: Zeitschrift fiir Soziologie 21, 330-346. Lindemann, Gesa (1993): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt am Main: Fischer. Lindemann, Gesa (1996): Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib. In: Annette Barkhaus u.a. (Hg.), Indentität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 146-175. Low, Martina (1997): Die Konstituierung sozialer Räume im Geschlechterverhältnis, in: St. Hradil (Hg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Frankurt am Main/New York: Campus, 451463. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und GeschlechterdifTerenz. Frankfurt am Main: Helmer. Maihofer, Andrea (2002): Geschlecht und Sozialisation. Eine Problemskizze, in: Erwägen, Wissen, Ethik 13, Heft 1, 13-26. Martin, Karin A. (1998): Becoming a Gendered Body: Practices of Preschools, in: American Sociological Review 63, 494-511. 292
Maschewsky-Schneider, Ulrike (1994): Frauen leben länger als Männer Sind sie auch gesünder?, in: Zeitschrift für Frauenforschung 12, Heft 4, 28-38. Mead, George Herbert (1938): The Philosophy of the Act. Chicago: University of Chicago Press. Meuser, Michael (1998): Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Opladen: Leske & Budrich. Meuser, Michael (1999): Männer ohne Körper? Wissenssoziologische Anmerkungen zum Verhältnis von Geschlecht und Körper, in: Zeitschrift für Politische Psychologie 7. Sonderheft »Sozialisation und Identitäten«, 23-36. Meuser, Michael (2002a): »Doing Masculinity« - Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hg.), Gewaltverhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. Frankfurt am Main/New York: Campus, 53-78. Meuser, Michael (2002b): Körper und Sozialität. Zur handlungstheoretischen Fundierung einer Soziologie des Körpers, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz: UVK, 19-43. Meuser, Michael (2003a): Wettbewerb und Solidarität. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften, in: Sylvia von Anc u.a. (Hg.), Koordinaten der Männlichkeit. Orientierungsversuche. Tübingen: edition diskord, 83-98. Meuser, Michael (2003b): Gewalt, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit. Überlegungen zur gewaltförmigen Konstruktion von Männlichkeit, in: Kriminologisches Journal 35, 175-188. Meuser, Michael (2003c): Bekommt der Mann einen Körper? Geschlechtersoziologische und moderrüsierungstheoretische Aspekte der Körperaufwertung in aktuellen Männlichkeitsdiskursen, in: Thomas Alkemeyer u.a. (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz: UVK, [69-185. Meuser, Michael/Rüdiger Lautmann (1997): »Menschen und Frauen«. Die Geschlechtslosigkeit des Mannes in der Moderne, in: Gisela Völger (Hg.), Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich, Bd. 2. Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum, 253-258. Millett, Kate (1982): Sexus und Herrschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Oudshoorn, Nelly (2004): Die natürliche Ordnung der Dinge? Reprodukuonswissenschaften und die Politik des >Othering<, in: Ilse Lenz/Lisa Mense/Charlotte Ullrich (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Opladen: Leske & Budrich, 241-254. Popitz, Heinrich (2i992): Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr. Rirer, Martina (1996): Die Freiheit der Frau, zu sein wie der Mann, in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.), Indentität, Leiblichkeit, Normativität. Neue *93
Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 404-422.
Rittner, Volker (1999): Körper und Identität: Zum Wandel des individuellen Selbstbeschreibungsvokabulars in der Erlebnisgesellschaft, in: Hans-Günther Homfeldt (Hg.), »Sozialer Brennpunkt« Körper. Körpertheoretische und -praktische Grundlagen für die Soziale Arbeit. Hohengehren: Schneider, 104-116. Rose, Lotte (1992): Körper ohne Raum. Zur Vernachlässigung weiblicher Bewegungs- und Sportwelten in der feministischen Körper-Debatte, in: Feministische Studien 10, Heft 1, 113-120. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory, London: Sage. Simmel, Georg (1985): Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sobiech, Gabriele (1994): Grenzüberschreitungen. Körperstrategien von Frauen in modernen Gesellschaften. Opladen: Westdeutscher Verlag. Tong, Rosemarie (1989): Feminist Thought. A Comprehensive Introduction. London: Unwin Hyman. Turner, Bryan S. (2i996): The Body and Society. London: Sage. Villa, Paula-Irene (2000): Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Opladen: Leske & Budrich. Welskopp, Thomas (1995): Leben im Rhythmus der Hütte. Geschlechterbeziehungen in Stahlarbeitergemeinden des Ruhrgebiets und Pennsylvanias, 1890-1920, in: Westfälische Forschungen 45, 205-241. Willems, Herbert/York Kautt (1999): Korporalität und Medialität: Identitätsinszenierungen in der Werbung, in: Herbert Willems/Alois Hahn (Hg.), Identität und Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 298-362. Wobbe, Theresa (1994): Die Grenzen der Gemeinschaft und die Grenzen des Geschlechts, in: Dies./Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 177-207. Wöllmann, Torsten (2004): Andrologie und Macht: Die medizinische Neuerfindung des Männerkörpers, in: Ilse Lenz/Lisa Mense/Charlotte Ullrich (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion. Opladen: Leske & Budrich, 255-279. Zurstiege, Guido (2001): Im Reich der großen Metapher - Männlichkeit und Werbung, in: Peter Döge/Michael Meuser (Hg.), Männlichkeit und soziale Ordnung. Neuere Beiträge zur Geschlechterforschung. Opladen: Leske & Budrich, 201-217.
294
Karl-Heinrich Bette Risikokörper und Abenteuersport Auf dem Markt der öffendichen Aufmerksamkeit kommt dem zeitgenössischen Abenteuer- und Risikosport eine große Bedeutung zu. Extrembergsteiger, Ultratriathleten, Freikletterer, Fallschirmspringer, Einhandsegler, Ralleyfahrer, Großwellensurfer, Drachenflieger oder Wüstendurchquerer setzen ihr Leben in spektakulären Aktionen aufs Spiel und erbringen physische und psychische Leistungen, die weit über das übliche Maß spordicher Hingebungs- und Aufopferungsbereitschaft hinausgehen. Die Namen der Abenteuerhelden stehen für ein wildes, riskantes und intensives Leben in einer ansonsten weitgehend zivilisierten, auf Erwartungssicherheit und Risikominimierung ausgerichteten Gesellschaft. Wo Menschen in ihrer alltäglichen Daseinsfuhrung nahezu rund um die Uhr von Organisationen betreut und kontrolliert werden, erscheinen Abenteuer- und Risikosporder mit ihren verwegenen Taten als handlungskräftige Inkarnationen der Außeralltäglichkeit. Sie erheben sich aus dem Einerlei der Routine und erzählen den Risikoaversiven Geschichten vom möglichen z\nderssein. Die hohe Verletzungs- und Todesrate in ihren Reihen deutet nicht nur auf den Preis hin, den Menschen bisweilen zu bezahlen haben, wenn sie die Sicherheitszonen der Gesellschaft freiwillig verlassen und sich dem Fremden und Kontingenten aussetzen. Die Erschlagenen, Erfrorenen, Abgestürzten und Verschollenen sagen auch etwas über die Dringlichkeit aus, mit der nicht wenige Gesellschaftsmitglieder durch das Aufsuchen real existierender Risiko- und Gefahrensituationen Bedürfnisse und Handlungsformen zurückzugewinnen trachten, die im Modernisierungsprozeß verdrängt wurden. Die Abenteuer, um die es im Risikosport geht, finden in der Tat nicht in der semiotischen oder virtuellen Wirklichkeit von Romanen oder Computerspielen statt, sondern in der realen Realität, in der Menschen mit ihren Erlebniswünschen und Erlösungshoffnungen auch final scheitern können. Derivate des Extremsports sind inzwischen in reduzierter Form in den Freizeit- und Breitensport diffundiert und haben dessen Handlungspanorama erweitert. Es liegt im Trend, wenn Alltagsakteure ihre \usdauerfähigkeit im Marathonlauf oder Kurztriathlon erproben, an 295
gefrorenen Wasserfällen emporklettern oder die Einöden außereuropäischer Regionen in ihrer Freizeit auf Abenteuer- und Trekkingtouren erkunden. Die Vorbildwirkung der Risikoavantgarde wird offensichtlich kollektiv genutzt, um in Kurzzeitabenteuern aus dem Alltag auszubrechen, eigene Begrenzungen auszutesten und sich selbst in der Bewältigung von Ungewißheit neu zu beobachten und zu evaluieren. Als sichtbare Abweichungen vom Üblichen haben die zu Wasser, zu Lande und in der Luft durchgeführten Risikoaktionen zudem außersportliche Performanzräume erobert. Vortragssäle, Talkshows, aber auch Bücher, Filme und Internetforen werden nach überstandenen Abenteuern zu Bühnen, auf denen die Extremen ihre Risikobearbeitung bild- und sprachförmig aufbereiten und alltagsphilosophisch interpretieren. Ebenso hat die Ökonomie die Symbolkraft extremen Handelns entdeckt, um das wirtschaftlich Mögliche zu steigern. Abenteuersporder riskieren als angeheuerte Stuntmen der Industrie Kopf und Kragen und werben währenddessen für Produkte, die Freiheit, Individualität, Lebensfreude, Risikobereitschaft und Robustheit ausdrücken sollen. Nicht wenige Firmen benutzen den drittletzten Buchstaben des Alphabets, das »X«, um vormals getrennte Lebenssphären durch Neologismen und Begriffskompilationen miteinander zu verbinden (Beispiele: X-rail; X-men; X-Sport) und die Idee des Knappen, Riskanten und Besonderen in die Ikonographie von Produkten und Lebensstilen zu überführen. Menschen handeln nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sinnlos, wenn sie die Sphäre der Routine und Sicherheit verlassen und sich in Situationen der Kontingenz und Unsicherheit gefährden. Ganz im Gegenteil sind Abenteuer- und Risikopraktiken in besonderer Weise sinnhaft besetzt, weil sie nicht zufällig passieren, sondern bewußt und gezielt hergestellt werden. Der Sport ist als Abenteuer- und Risikofeld bedeutsam geworden, weil frühere Abenteuerfelder entweder nicht mehr zur Verfügung stehen, Reputationsverluste erlitten haben - man denke nur an die katastrophalen »Kriegsabenteuer« des letzten Jahrhunderts - oder nicht jene »Leichtigkeit des Seins« besitzen, die nur Sozialbereichen zukommt, die keine übergeordnete und unverzichtbare gesellschaftliche Funktion zu erfüllen haben. Eben weil der Sport nicht notwendig, sondern »überflüssig« ist, ist er für viele Menschen paradoxerweise zu einem wichtigen Muß geworden. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für den zeitgenössischen Abenteuer- und Risikosport. 296
Die folgende Analyse verfolgt das Ziel, ausgewählte Sinnaspekte dieses Handlungsfeldes soziologisch zu durchleuchten.1 Das erste Kapitel zeigt, daß der Abenteuer- und Risikosport ein gesellschaftliches Unternehmen darstellt, das seine Sinnofferten primär aus der Bearbeitung und Inanspruchnahme des Nicht-Sinnhaften, des Außergesellschaftlichen, ableitet. In den diversen Praktiken steht nicht die Teilhabe von Personen an der Welt der gesellschaftlichen Kommunikation im Vordergrund; es geht vielmehr um die gezielte Konfrontation einzelner Subjekte oder Gruppen mit außergesellschaftlichen Größen und Gesetzmäßigkeiten - was Anregungs-, Begleit- oder Folgekommunikationen über die Möglichkeiten und Grenzen der Siansuche im Nicht-Sinnhaften keineswegs ausschließt. Berge, Meere, Wüsten, aber auch Hochhäuser, Staudämme und Brücken werden zu Objekten, die Risikoakteure gehend, laufend, kletternd, schwimmend, segelnd, fliegend, fallend oder gleitend zu erobern und zu zähmen trachten. Der zweite Abschnitt diskutiert den Nutzen, den die Körper- und Wahrnehmungsorientierung des Abenteuer- und Risikosports abzuwerfen verspricht. Sinnfindung und expliziter Körper- und Sinneseinsatz stehen in einem engen Verweisungszusammenhang. In einer Gesellschaft, in der menschliche Körper in vielen Funktionsbereichen an Bedeutung verloren haben und die Primärerfahrungen des Subjekts maßgeblich durch medial vermittelte Sekundär- und Tertiärerfahrungen geprägt und überlagert werden, offeriert der Abenteuer- und Risikosport durch seine Ausrichtung iuf Körper und einfache Wahrnehmung Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten, die immer mehr Menschen dankbar für die Generierung von Authentizitäts-, Natürlichkeits- und Lebendigkeitsgefuhlen in Anspruch nehmen. Das dritte Kapitel vertieft diesen Gedankengang und untersucht die in diesem Sportmodell anzutreffende Ökonomie der Verausgabung. Risiko- und Extremsporder schinden sich, wie man weiß, bis zum Umfallen - und sie tun dies freiwillig und bewußt. Indem sie physisch und psychisch enorm anstrengende Abenteuer- und Leidenssituationen aufsuchen und durchleben, gehen sie auf Distanz zu den weitverbreiteten Wellness-, Gesundheits- und Wohlfuhlofferten der zeitgenössischen Freizeit- und Fitneßindustrie. Die durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse ermöglichte und dominant gei Zur analytischen Vertiefung siehe Beete (2004). 297
wordene konsumatorische Körperverwendung wird im Abenteuerund Risikosport auf den Kopf gestellt und durch ein markantes und distinktionskräftiges Gegenmodell ersetzt. Das vierte und letzte Kapitel arbeitet die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im modernen Abenteuersport heraus, verortet die Risikopraktiken im Rahmen von »erster« und »zweiter Moderne« und diskutiert einige Konsequenzen dieser Synthese.
i. Sinnsuche im Nicht-Sinnhaften Der primäre Bezugspunkt risiko- und abenteuersportlichen Handelns liegt außerhalb der Gesellschaft, nämlich in der Auseinandersetzung der Akteure mit der Eigengesetzlichkeit der Natur, des physikalischen Kosmos sowie mit der Eigenlogik des Körpers. Obwohl kommunikativ durch vorhandene, in Abenteuererzählungen, Expeditionsberichten und Rekord- und Heldenmythen abgelegte Semantik angeleitet, und insofern Vollzug von Gesellschaft, sind Abenteuerund Risikosportler Spezialisten für die Thematisierung der nichtkommunikativen Umwelt der Gesellschaft.2 Es geht um Menschen, Psychen und Körper, und deren Einpassung in die Sphäre naturaler Elemente und zivilisatorischer Materialitäten. In der Vertikale eines Berges oder der Horizontale einer Wüste oder eines Meeres widersetzen sich die Risikoakteure mit ihren Körpern den übermächtigen Gesetzen der physikalischen Welt oder nutzen diese in einer kreativen Weise für eigene sportive Zwecke. Sie verschaffen sich - wie man leicht erkennen kann - Differenzerfahrungen, die ihnen im Alltag ansonsten verwehre sind. Die Skiabfahrt im hüfthohen Pulverschnee, der freie Fall nach einem Fallschirmabsprung aus großer Höhe oder das Gleiten auf einem Surfbrett in einer sich überschlagenden Welle liefern komplexe sensorische Eindrücke, die man am Schreibtisch oder vor dem heimischen Fernsehbildschirm in einer vergleichbaren Weise nicht sammeln kann. Männer und Frauen messen sich im Abenteuersport nicht mit gesellschaftlichen Symbolsyste2 In der Sicheweise der neueren soziologischen Systemtheorie erscheint die Gesellschaft als ein operativ geschlossenes Sozialsystem, das nur aus Kommunikationen besteht und sich so scharf von einer nicht-kommunikativen Umwelt abgrenzt (vgl. Luhmann 1984, S. lyiff.). Gleichwohl bleiben Sozialsysteme auf die Existenz und Funktionsfähigkeit ihrer Umwelt angewiesen. 298
men wie beispielsweise Geld oder Macht, die ihre Steuerungskraft hinter dem Rücken der Akteure entfalten und im Alltag oft Gefühle der Fremdsteuerung, Nichtigkeit und Übermächtigung hervorrufen. Sie kämpfen vielmehr in ihrer psycho-physischen Gesamtheit gegen die Anziehungskraft der Erde, nutzen die unterschiedlichen Aggregatzustände des Wassers für eigene Fortbewegungen oder simulieren den Vogelflug mit eigens konstruierten Flug- und Gleitgeräten. Sie trotzen ihre Existenz und ihre Fortbewegung vornehmlich jerer Größe ab, die der gesellschaftliche Modernisierungsprozeß auf Distanz gesetzt hat: der Natur mit ihren diversen Substanzen und Erscheinungsformen. Risikosportler, die sich der Eigenlogik der Elemente aussetzen, aber auch an Hochhäusern hochklettern oder sich von Staudämmen in die Tiefe stürzen, wenden sich bewußt Größen zu, die nicht auf der Grundlage von Sinn operieren. Dies gilt sowohl für den eigenen, im Sport eingesetzten Körper, der auf der Basis von Leben funktioniert, als auch für die Eigendynamik von Erde, Wasser, Luft oder Licht.3 Ein Handeln, das auf die Veränderung oder erfolgreiche Inanspruchnahme dieser gesellschaftlichen Umweltfaktoren ausgerichtet ist, unterliegt anderen Spielregeln als ein Handeln, das auf die Teilhabe an immateriellen Kommunikationsprozessen abzielt. Risikosportler haben am Berg, auf einem Ozean oder in der Wüste andere Probleme zu lösen als Menschen, die in Arbeitsorganisationen oder Bürokratien inkludiert sind und dort in Distanz zur eigenen Physis und zu Bergen, Wellen, Wüsten und Winden ihre Rollenerwartungen zu erfüllen haben. Die hochgetriebene Körperkompetenz, die ein Extrembergsteiger zur Bewältigung eines Himalayagipfels aufzubringen hat, wäre unpassend für die Arbeit am Fließband. Eben weil Erde, Wasser, Luft und Licht sowie der Körper nichtsinnhaften Gesetzmäßigkeiten unterliegen, eignen sie sich paradoxerweise als Fluchtpunkte, an denen sich individuelle und kollektive Sinnansprüche festmachen lassen. So profitiert der im Abenteuerund Risikosport plazierte Rückgriff auf außergesellschaftliche Größen von der Erfahrung, daß die Teilhabe an der Gesellschaft Menschen häufig überfordert - selbst dann, wenn diese in ihrer Freizeit unterfordert zu sein glauben. Personen stoßen schließlich durch ihre strukturelle Kopplung mit der modernen Gesellschaft auch auf die 3 Psychische und soziale Systeme funktionieren auf der Grundlage von Sinn, organische Systeme auf der Basis von Leben. Vgl. Luhmann (1984). 299
Mehrsinnigkeit, Widersprüchlichkeit und Folgeträchtigkeit der dort ablaufenden Kommunikationen. Die Moderne entlastet ihre Subjekte nicht nur von den Zwängen früherer Existenz- und Lebensformen, sondern belastet sie auch in einer subtilen Weise und ruft bei nicht wenigen ein »Leiden an der Gesellschaft« (Dreitzel 1968) hervor. So werden Personen durch Organisationen beschleunigt und zum Handeln veranlaßt, rollenmäßig parzelliert, mit Erwartungen überlastet, im Wechsel von Arbeit und Freizeit an- und abgeschaltet, in ihrer Körperlichkeit ruhiggestellt, mit Streß und Langeweile konfrontiert und in überindividuell verursachte Konflikte und Widersprüche hereingezogen. Die Gesellschaft produziert nicht nur Kommunikationen, die auf den Gleisen symbolisch generalisierter Steuerungsmedien ablaufen und ein hohes Maß an Erwartbarkeit und Annahmemotivation auf der Ebene von Personen erzeugen; sie läßt diese auch an den Disparatheiten und Abstimmungsdefiziten teilhaben, die zwischen den Teillogiken der einzelnen gesellschaftlichen Funktionsfelder entstehen. Vor allem aber konfrontiert sie Menschen mit kommunikativer Symbolik und Abstraktion. Die Hinwendung zur Eigengesetzlichkeit der außergesellschaft' liehen Welt erscheint vor diesem Hintergrund als eine Maßnahme, mit der moderne Subjekte im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich gegen Transformationen in der Gesellschaft und deren Wirkungen anzugehen versuchen.4 Situationen eines beschleunigten sozialen Wandels provozieren Rückbesinnungen auf das, was als beständig und dauerhaft gegeben erscheint, und dem individuellen Akteur im Wechsel von hell und dunkel, warm und kalt, hoch und tief, laut und leise, naß und trocken, bekannt und unbekannt oder nah und fern entgegentritt. Menschen, die ihr Handeln im Kontext dieser Differenzen und Polaritäten abwickeln, sind von den Schwierigkeiten, Konsequenzen, Widersprüchlichkeiten und Unwahscheinlichkeiten gesellschaftlicher Kommunikation weitgehend entlastet. Der Sinn des Sports besteht darin, nicht auf den Sinn von Kommunikation zu bauen, sondern vielmehr die Intensitäten des Körpers und die Eigenheiten und Restriktionen der Natur ins Spiel zu bringen, um diese für ein alternatives Erleben und Handeln sowie eine außerallcägliche Selbstbeobachtung zu nutzen. Menschen profitieren im Abenteuer- und Risikosport davon, daß 4 Zum Verhältnis von Körper und Gesellschaft in der PhasefortgeschrittenerModernität siehe Bette (1987; 1989; 1999, S. io6ft~). 300
naturale Elemente - bei allen personalen Bewältigungs- und Übermächtigungsversuchen - unhintergehbare Grenzen definieren. Weder die Kälte im Hochgebirge noch die Erdanziehungskraft beim Freiklettern oder die Hitze bei einem Wüstenmarathon läßt sich per Diskursentscheid abstellen oder durch kommunikativ angeleitete Interventionen aus der Welt schaffen. Nur bestimmte körperliche Bewegungsabfolgen sind in den diversen Risikosportarten zugelassen, andere werden unbarmherzig sanktioniert und bei einem Fehlverhalten mit letalen Ergebnissen bestraft. So begrenzen die Gesetze der Schwerkraft die Fortbewegung im Raum. Der Körper bleibt der Erde verhaftet, selbst wenn erfliegt,läuft, klettert oder schwimmt. Die Natur eröffnet bestimmte Handlungsfenster, verschließt andere aber auch. Menschen müssen deshalb lernen, die »Gesetze« der Elemente zu lesen und zu verstehen. Extremsporder zeigen sich dabei oft als Meister der Anpassung und des situativen Entscheidens, wann und wie zu handeln bzw. ein Handeln zu unterlassen ist. Wie ist der nächste Schritt zu setzen, der nächste Griff zu plazieren, um einen Absturz zu verhindern? Wie ist das Schwergewicht des eigenen Körpers zu verlagern, um auf einer Welle zu reiten oder auf einem Snowboard ins Tal zu gleiten? Das Nicht-Sinnhafte wird zum Taktgeber, Begrenzer und Ermöglicher des Handelns. Die prinzipielle Unbeeinflußbarkeit von Erde, Wasser, Luft und Liehe läßt diese Elemente zu einer konkreten Herausforderung werden, die Menschen im Rahmen von Selbstbehauptungs- und Selbstermächtigungsprogrammen aufsuchen und nutzen.5 Nicht abstrakte und symbolische Formen geben den Subjekten Halt, es sind vielmehr die konkreten Ausprägungen der biologischen und physikalischen Welt, die als Leuchtfeuer für Sinngebungsversuche dienen und entsprechend angesteuert werden. Anders formuliert: Daß dem aktiv betriebenen Sport in seinen diversen Schattierungen heute eine so eminente Bedeutung zukommt, hat mit den psychischen und somatischen Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses und dem hieraus resultierenden Umbau des Erlebens und Handelns zu tun und kann zudem als eine Reaktion auf die expandierende Abstraktheit gesellschaftlicher Kommunikation, auf Dissonanzerfahrungen, gesellschaftlich erzeugte Desillusionierungen und 5 Zum Zusammenhang zwischen den Selbstermächtigungsbestrebungen im Abenteuer- und Risikosport und den Zurichtungen des Subjekts in der modernen Organisationsgesellschart siehe Bette (2004, S. 23fr".). 301
den kommunikativen Verschleiß gewertet werden, wie er insbesondere mit Hilfe der Massenmedien hervorgerufen und ins personale Bewußtsein hineintransportiert wird. Wo viele reden, aber in ihren Äußerungen häufig nicht meinen, was sie sagen, und ohnehin nur die »Kommunikation kommuniziert« (Luhmann 1995, S. 113^.), geben Körper und Natur als spür- und greifbare Größen ein Eindeutigkeitsversprechen, das seinesgleichen sucht. Schnee, Wasser, Wüsten oder Berge stellen eine »harte Wirklichkeit«6 dar, die dem menschlichen Beobachter und Nutzer in einer sehr plausiblen Weise als »real« und »beobachterunabhängig« erscheint und entgegentritt. Die Elemente, aus denen diese Realität besteht, sind mehr oder weniger eng miteinander gekoppelt. Daß Menschen sie für Zwecke der Selbstverortung und Selbstermächtigung oder als Quellen für die Erzeugung von Verläßlichkeits- und Evidenzgefühlen nutzen, ist verständlich, weil vergleichbare Anstrengungen im Bereich der Gesellschaft im Medium der Kommunikation abzuwickeln wären und dort auf erwartbare Schwierigkeiten stießen. Eine Kommunikation ist, wie die neuere soziologische Systemtheorie (Luhmann 1981; 1984, S. 191-241) lehrt, erst dann als gelungen anzusehen, wenn drei unterschiedliche Operationen erfolgreich durchgeführt werden konnten. Informationen müssen erstens übermittelt, zweitens verstanden und drittens angenommen werden. Kommunikationsbarrieren treten demnach in mindestens dreifacher Weise auf: Wichtige Informationen werden, obwohl eine Nachfrage besteht, häufig bewußt nicht übermittelt. Selbst wenn sie übermittelt wurden, werden die Informationen oft nicht wahrgenommen und verstanden. Und wurden sie verstanden, werden sie nicht notwendigerweise auch angenommen und in interne Entscheidungen überfuhrt. Der kommunikative Normalfall ist deshalb nicht der Konsens, sondern der Dissens - was die Teilhabe der Subjekte an der Kommunikationssphäre der Gesellschaft nicht gerade erleichtert. Personen, die in einer hochdifferenzierten Gesellschaft auf eine Vielzahl struktureller Vorprägungen stoßen, wenn sie beispielsweise an den selbstbezüglich geschlossenen Kommunikationskreisläufen gesellschaftlicher 6 Simon (1993, S. 48fr".) spricht - ohne Bezug zu Abenteuer- und Extremsport - von einer »härteren Wirklichkeit«; um das »leichtere« Errechnen von Wirklichkeit durch einen Beobachter in jenem Bereich zu plausibilisieren, den die klassische Newtonsche Physik beschreibt. Soziale Regeln erschienen als »weichere Wirklichkeit«, weil sie unter dem Einfluß eines Beobachters veränderbar seien. 302
Funktionssysteme partizipieren, müssen häufig die Erfahrung machen, wenig von dem, was dort an kommunikativer Eigendynamik abläuft, verstehen oder in irgendeiner Weise selbst beeinflussen zu können. Das Aufsuchen der physisch evidenten Natur und die Korporalisierung des Handelns bieten angesichts dieser Problematik entscheidende Vorteile: Durch die bewußte Auseinandersetzung mit Erde, Wasser, Luft und Licht versetzen Menschen sich in die Lage, andere Formen der Identitätsarbeit zu entdecken und fiir den Aufbau des Selbstwertgefiihls anzuwenden, als ihnen im Arbeitsalltag in Auseinandersetzung mit abstrakten Symbolsystemen zur Verfügung stehen. Für den Reputationserwerb im Sport zählen psychische und physische Fähigkeiten und Fertigkeiten, also askriptive Merkmale, und nicht Ressourcen wie Herkunft, Geld, beruflicher Status oder erlerntes Buchwissen. Im Sport geht es um Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Mut und psychische Belastbarkeit. Selbstwirksamkeitsversuche und Distinktionsmaßnahmen, die in außersportlichen Sozialbereichen ablaufen, finden häufig in einer Welt der reinen Abstraktion statt. Wer in der Wissenschaft reüssieren will, muß Bücher schreiben, Statistiken berechnen oder Drittmittel akquirieren. Wer als Extremsporder einen Reputations- und Distinktionsgewinn verbuchen möchte, hat Berge zu besteigen, Höhlen zu durchtauchen oder Kontinente laufend zu umrunden, und kann hierbei zunächst auf Sprache oder Sprachderivate verzichten. Eine Kommunikation über die Sinnsuche im Nicht-Sinnhaften wird für die Abenteuer- und Risikovirtuosen erst dann bedeutsam und unverzichtbar, wenn die Abweichung vom Üblichen für die eigene Identitätsarbeit genutzt und von anderen beobachtet und bestätigt werden soll. Die Bewährung im Wagnis braucht Sichtbarkeit, sollen Mit- und Nachmenschen beeindruckt und Sponsoren befriedigt werden. Dies erklärt den exzessiven Einsatz von Fotoapparaten und Videokameras, mit denen die Extremen ihre Abenteuer- und Risikoprojekte zu Wasser, zu Lande und in der Luft festhalten und für anschließende kommunikative Weiterverwendungen abspeichern. Wer als handlungskräftiges Subjekt wahrgenommen und dem Vorwurf der Lüge und des vorgetäuschten Handlungserfolgs bei der Bewältigung einer Abenteueraufgabe entgehen möchte, muß sich auf dem Berggipfel mit einem Selbstauslöser fotografieren oder durch ein eigens mitgebrachtes Filmteam im Vollzug des Handelns ablichten 303
lassen.7 Der Abenteuer- und Extremsport co-evoluierte in den letzten Jahren mit der Entwicklung der modernen Übertragungs- und Speichertechniken. Selbst das nahe Ende in der Todeszone eines Achttausenders läßt sich noch im letzten Moment des Lebens mit Hilfe eines Satellitentelefons an physisch nicht Anwesende mitteilen. Begleit- oder Anschlußkommunikationen der Extremen über sich selbst und ihre Taten im Bereich des Nicht-Kommunikativen sind demnach nicht ausgeschlossen, sondern im Zeitalter medialer Verbreitungs- und Speichertechniken erwartbar. Schließlich kann die zwischen Erfolg oder Scheitern angesiedelte Auseinandersetzung einzelner Personen oder Gruppen mit naturalen Elementen oder zivilisatorischen Materialitäten bei entsprechender Sichtbarkeit auch für Nichtbeteiligte spannend sein und entsprechende Imitationsbedürfnisse hervorrufen. Inzwischen sorgt ein eigenständiges Buch-, Bildund Filmgenre fiir eine kommunikative Weiterverbreitung der risikosportlichen Sinnsuche im Bereich des Nicht-Sinnhaften.
2. Körper und einfache Wahrnehmung Im Arbeitsalltag der Moderne werden Menschen in ihrer Körperlichkeit funktionsspezifisch zugerichtet. Regeln unterwerfen das physisch-organische Substrat sozialen Kontrollen und Routinen: Körper müssen ruhig sein, dürfen nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam machen, werden verhüllt, um nicht durch Ausdünstungen zu stören, müssen in öffentlichkeitszugewandten Berufen permanent lächeln, haben den Taktvorgaben der Industrieproduktion zu folgen oder werden zur besseren Abwicklung abstrakter Geschäfte auf den Stuhl verbannt.8 Wer aufgrund von Krankheit, Verletzung oder Alter in seiner Körperlichkeit den jeweiligen Funktionsvorgaben nicht zu folgen vermag, landet in Präventions- oder Regenerationsprogram7 Die Extremen werden zu Sammlern ihrer eigenen Taten und zu Buchhaltern ihrer medialen Resonanzfähigkeit. Vgl. hierzu die penible Auflistung des Medienechos auf den Deutschlandlaufeines Extremläufers in Meyer (2003, S. 57). 8 Aus soziologischer Sicht ist es wichtig, in diesem Zusammenhang keine Verschwörungstheorie der modernen Organisationen zu formulieren: Menschen können mit ihren Körpern auch Leistungen nutzen, die ihnen ohne Organisationen nicht zur Verfügung stünden. Man denke nur an die Möglichkeiten der Prävention, Krankenversorgung und Lebensverlängerung, die es in vergleichbarer Weise in der Vormoderne nicht gab. 304
men oder wird des Feldes verwiesen und durch taugliche Andere ersetzt. Auch die Fitneßerwartungen, mit denen Firmen ihre Manager konfrontieren, um diese ihren Schnelligkeits- und Mobilitätsimperativen anzupassen, deuten darauf hin, daß Organisationen den menschlichen Körper entweder als Ressource für eigene Operationen in Anspruch nehmen oder auf ihn verzichten, wenn eine Körpernutzung ihrer Logik entgegenläuft. Extremsportler opponieren gegen diese spezifische Zurichtung in einer demonstrativen Weise, indem sie ihre Körper und Sinnesorgane bewußt aktivieren und zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen. Menschen, die sich mit einem Gleitschirm den Winden aussetzen oder die alleine durch die Polarregionen streifen, tun dies in einer Gesellschaft, die den Körper in vielerlei Hinsicht überflüssig gemacht hat. Der Körper ist nun kein Instrument mehr, das stumm und ohne weitere Beachtung für andere Arbeitsvorgänge verwendet wird; er ist vielmehr als Handlungsbasis und -träger unmittelbar bedeutsam. Vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die auf der Basis von Kommunikation operiert, geht es im Sport um sinnliche Wahrnehmung und Körperhandeln. Augen, Ohren und Nase, aber auch Hände und Füße sowie die hierüber vermittelten Orientierungs-, Gleichgewichtsund Balancierungsfähigkeiten erfahren eine interessante Wiederbelebung. Extrembergsteiger, Langläufer oder Surfer wollen keine hochstehenden intellektuellen Aufgaben bewältigen. Sie suchen vielmehr körperorientierte Wirksamkeitserlebnisse, sensorische Primärerfahrungen und außeralltägliche Sinneseindrücke - und zwar in einer Zeit, in der Sekundär- und Tertiärerfahrungen immer mehr den Erfahrungshorizont des einzelnen bestimmen und Menschen deshalb häufig das Gefühl haben, nicht mehr Herr im eigenen ErfahrungshaushaJt zu sein.9 In einer Gesellschaft, in der die Massenmedien Informationen und Neuigkeiten nicht nur verbreiten, sondern auch selbst aktiv herstellen, kommen Menschen in ihrer alltäglichen Orientierung nicht 9 Zur analytischen Differenzierung der verschiedenen Erfahrungsdimensionen: Menschen, die schwimmen, klettern, laufen oder tauchen, sammeln mit ihren Sinnen diverse Primärerfahrungen. Filme oder Bücher, die hierüber berichten, verminein Sekundärerfahrungen. Ein Soziologe, der über die soziale Konstruktion des Abenteuersports in Büchern oder Filmen reflektiert, liefert Tertiärerfahrungen, obwohl er beim Sehen der Filme oder beim Lesen der Bücher auf eigene Primärerfahrungen nicht verzichten kann. 305
umhin, auf Erfahrungen und Einschätzungen zurückgreifen zu müssen, die andere jenseits des Horizontes für sie gemacht und in entsprechenden Symbolsprachen abgelegt haben. Typisch modern ist die Erfahrung, daß Menschen in ihrer Wahrnehmung häufig fremdgesteuert werden. Fernsehen, Radio und Zeitung kanalisieren nicht nur das Wissen der Menschen über die Welt, sie beeinflussen auch in einer sehr konkreten Weise die Wahrnehmungsschritte und -formen der Weltaneignung. Gefühle der Freiheit und Lebendigkeit stellen sich im Abenteuer- und Risikosport hingegen ein, weil das aktive Eintauchen in die Welt der Primärerfahrungen eine Autonomie über den eigenen Sinnes- und Körpereinsatz beinhaltet. Während der Zuschauer im Fernsehen an die Schnittfolge und die Bildauswahl eines Regisseurs oder Kameramanns gebunden ist, die Welt somit zwar selektiv zur Verfügung steht, aber die Ausschnitte passiv hinzunehmen sind, ist der Abenteuer- und Risikosportakteur sein eigener Regisseur. Sportgeräte und technische Artefakte wie Gleitschirme, Surfbretter oder Mountainbikes dienen ihm als verlängerte und spezialisierte Körperglieder, mit denen er seine Fortbewegung in Raum und Zeit steuern, die eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisprozesse dirigieren und sich selbst und seinen Körper alternativ beobachten kann. Gegen die Marginalisierung und Fremdbeeinflussung der körperlichen Primärerfahrungen in der Organisation- und Mediengesellschaft stellt der Extremsport eine Welt der Eigenerfahrungen, die viele Menschen verzaubert und in ihren Bann schlägt. Die konkreten und selbst erzeugten Körpererfahrungen kontern jene Erlebnisse, die in einer »abstract society« (Zijderveld 1970) ansonsten hinzunehmen sind. Daß Gesellschaftsmitglieder heute verstärkt im Rahmen von Körpertraining auf ihre eigene physisch-organische Umwelt zurückgreifen, um sich in dieser Sphäre zu verorten, macht Sinn, weil der Körper eine real existierende Größe ist, die das Bewußtsein zumindest noch in begrenzten Bahnen bewegen und steuern kann. Der Körper läßt sich zudem mit den Eigenheiten der Natur besser akkordieren als mit abstrakten und nichtmateriellen Symbolwelten. Einen Berggipfel können Menschen mit ihrem Körper besteigen, den Berg wissenschaftlicher Wahrheiten haben sie sich kognitiv anzueignen. Die Extremen opponieren in ihrem Handeln gegen eine durch Wörter, Bilder, Schrift und symbolisch generalisierte Medien maß306
geblich bestimmte Gesellschaft, indem sie sich bewußt auf Praktiken einlassen, die ein spezifisches Bewußtseins- und Körpererleben hervorrufen und bereits über einfache sinnliche Wahrnehmungsprozesse ansteuerbar sind. Sprache und Bilder, mit denen Menschen sich im Alltag orientieren und durch deren Entschlüsselung und Verstehen sie an der Kommunikation von Gesellschaft teilhaben, können die Komplexität und Vielschichtigkeit körperlich-sensorischer Erfahrungen nur unzureichend einholen: die Geftihle des Tauchens in großer Tiefe, des Skifahrens auf einem steilen Abhang oder des Schwebens mit einem Gleitschirm. Offensichtlich hat die Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft einen Bedarf an sinnlich orientierten Eigenerfahrungen hervorgerufen, die Menschen gegen die dominante Welt fremdvermittelter Sekundärerlebnisse und Gewißheitsverluste in Anschlag bringen. Im Meer der Kontingenzen, Widersprüche, Parzellierungen und Komplexitäten übernehmen selbstgemachte Körpererfahrungen die Aufgabe, Abstraktion und Körperdistanzierung zu kontern. Menschen profitieren von dieser Hinwendung, weil einfache körperbasierte Wahrnehmungsleistungen ein Sicherheitsfundament erschließen helfen, das allein durch die Teilhabe an symbolisch-abstrakten Zeichensystemen oder virtuellen Realitäten in vergleichbarer Weise nicht herstellbar ist. Es macht einen Unterschied, ob der einzelne in seinem Wirklichkeitserleben vornehmlich durch eine semiotische Realität, also durch Sprache, Schrift oder Bild, geprägt wird, oder ob er selbst die »Wirklichkeit« im unmittelbaren sensorischen Nahkontakt begreift, wahrnimmt, riecht, hört, exploriert oder betrachtet, und hierbei von real vorhandenen naturalen Elementen umgeben und beeinflußt wird. Hände, Füße, Augen, Ohren und Nase ermöglichen eine Teilhabe an jener realen Realität, den die semiotische Realität durch Abstraktion und Zeichenbildung abzubilden trachtet, aber direkt nie erreichen kann. Eis, auf dem man gleitet oder rutscht, Wasser, in dem man schwimmt oder taucht, Bergwände, an denen man langsam mit den eigenen Händen und Füßen emporklettert, und die Erde, auf der man sich laufend oder gehend fortbewegt, verschaffen Erfahrungen, die sich weder durch eine Buchlektüre noch durch Bilder oder Filme über die diversen Fortbewegungsarten in vergleichbarer Weise vermitteln lassen. Der eigene Körper eröffnet unterschiedliche Formen des Wirklichkeitszugangs: Finger und Hände sind für die Erfassung und Ein307
Verleihung der Nähe zuständig, die Augen sind darauf spezialisiert, Ferne wahrzunehmen und ohne direkten Kontakt an der Welt teilzuhaben. Hand, Gehirn und Auge formen, so Popitz (1995, S. 71) in einer vereinfachten Deutung, einen »organisch-technischen Regelkreis«: die Hand arbeitet und verändert die Dingwelt, das Auge steuert den Handeinsatz und das Gehirn vergleicht diesen mit eingespeicherten Zielvorgaben und initiiert Korrekturen. Die Hände wären deshalb, so Popitz (ebd.), aufgrund ihrer technischen Verwendbarkeit wichtige Bedingungen der Möglichkeit von »Weltoffenheit«. Sie erlaubten, philosophisch-anthropologisch betrachtet, eine Anpassung der Menschen an die Welt durch Veränderung der Welt. Sie stellten nicht nur Kontakte zur Außenwelt her, sondern kanalisierten auch den Zugang zur Innenwelt, wenn beispielsweise die Hände den eigenen Körper berühren. Die im Sport ablaufende Revitalisierung der Sinne profitiert von genau entgegengesetzt ablaufenden Entwicklungen auf dem Niveau der modernen Gesellschaft. Die menschlichen Greif- und Gehorgane haben im Verlauf des Modernisierungsprozesses an Bedeutung verloren.10 Früher von Händen erfüllte Funktionen sind an Apparate delegiert worden. Menschen können mit Hilfe einer entsprechenden Computersoftware Texte schreiben, ohne mit den eigenen Fingern Buchstaben formen zu müssen. Autos werden heute weitgehend von Robotern, mechanischen Kunstkörpern, zusammengeschraubt und -geschweißt. Ärzte diagnostizieren Krankheiten mit Hilfe komplizierter Gerätschaften. Lichtkabel leuchten in Körperhöhlen hinein und verschaffen Einblicke, wo menschliche Augen und Finger auf Distanz bleiben müssen. Und Füße entfallen immer mehr als reine Fortbewegungs- und Distanzüberbrückungsorgane, da Autos, Züge und Flugzeuge für eine weitgehend fußlose Fortbewegung sorgen. Der (Extrem-)Sport rehabilitiert den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Greif- und Fortbewegungsorgane gerade in jenen Disziplinen, in denen Klettern, Halten, Stoßen, Ziehen, Gehen und Laufen existentiell bedeutsam sind. Menschen, die ihre Hände einsetzen, um die Vertikale zu bewältigen und der Erdanziehungskraft zu widerstehen, oder die ihre Füße bewegen, um den Raum zu überwinden, verschaffen sich eine Gewißheit, die auf sensorischen Eindrükken beruht und ohne ein kommunikatives Verstehen auskommt. 10 Die moderne Berührungsangst und den Verlust des Taktilen beschreibt Weyh (i999)308
Hände und Füße stellen eine unmittelbare Erfahrung her, die Sprache hingegen befreit hiervon (Gebauer 1984, S. 253). Wahrnehmung bezieht sich vornehmlich auf Anwesendes; Kommunikation hingegen zielt auf Abwesendes, meist in Gestalt von Sprache oder Schrift. Natürlich sammeln Menschen auch sinnliche Erfahrungen in der Arbeitswelt, beispielsweise vor dem Computerbildschirm, und auch ihre Körper sind hierbei nach wie vor bedeutsam. Finger tippen Wörter in einen Bildschirmtext hinein oder bewegen einen Joystick, um zu zeichnen und Animationen herzustellen. Auch die Augen sind für koordinative Zwecke am Bildschirm unerläßlich. Dennoch fällt auf, daß sich die einfache Wahrnehmung im Zeitalter der Technisierung und Automatisierung auf die Wahrnehmung und Handhabung von Knöpfen, Schaltern und Bildschirmen reduziert hat. Vor diesem Hintergrund macht es einen Unterschied, ob die Akteure das Gefühl der Raumdurchquerung auf der zweidimensionalen Fläche eines Bildschirms während eines Computerspiels erleben oder in der Dreidimensional ität des realen Raumes, wenn sie bei einem Mehrfachtriathlon große Distanzen mit dem eigenen Körper schwimmend, laufend und radfahrend überwinden und sich mit Wasser, Luft, Sonne und Erde, Konkurrenten und den Begrenzungen ihrer Körper auseinanderzusetzen haben. Auch die Selbstgefährdung beim Extrembergsteigen oder bei einer mehrwöchigen Hochseeregatta ist real und nicht Teil einer imaginierten Gefährdung, wie man sie im Roman oder Film erleben kann.
3. Ökonomie der Verausgabung Der Abenteuersport gewinnt sein spezifisches Profil durch eine radikale Abwendung von der in modernen Gesellschaften allgemein üblichen Nutzung physischer und psychischer Ressourcen. Der Alltagskörper wird aus dem Kontext seiner lebensweldichen Normalverwendung und -vertaktung herausgenommen und in einen Risiko- und Leidenskörper transformiert. Entbehrungen zu tolerieren, Einsamkeit, Kälte, aber auch Hunger, Hitze und Durst zu ertragen, zeugt von dem Bestreben, auf erreichte zivilisatorische Standards zumindest zeitweise bewußt verzichten zu wollen. Ermüdung, Schweiß und völlige Verausgabungen sind vormoderne Körperzustände, die erst der exzessiv betriebene Sport wieder mit Sinn ausgestattet hat. 309
Unter dem Damoklesschwert des finalen Scheiterns heben die Extremen die Marginalisierung harter körperlicher Arbeit in der Moderne freiwillig auf. Sie wollen Körperenergie nicht einsparen, sondern demonstrativ vergeuden. Die verschwendete Energie wird zum Gradmesser der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Im Abenteuersport lebt sich nicht eine komfort- und bequemlichkeitsorientierte Genußmentalität aus; der Genuß entsteht vielmehr durch harte Knochenarbeit und eine asketische Komfort- und Bequemlichkeitsabstinenz. Damit wenden sich die Akteure gegen ein Handlungskonzept, das Energieverluste beim Einsatz menschlicher Körper zu vermeiden und Zeitersparnis durch den technisch-mechanischen Transport von Körpern und Dingen zu erreichen trachtet. Die Verausgabungsimperative des Extremsports stellen die in der Gesellschaft gültigen Maßstäbe für einen möglichst effektiven und schonenden Körpereinsatz auf den Kopf. Man kann sagen: Höhenbergsteiger, Ultratriathleten, Distanzschwimmer oder Extremskifahrer sind Sozialfiguren, die im Rahmen einer disziplinspezifischen Ökonomie der Verausgabung eine Vermeidung der körperlichen Arbeitsvermeidung durchsetzen, um so einen asketischen Leistungsindividualismus theatralisch zu inszenieren. Die Extremen verfolgen bewußt nur jene Ziele, die sich mit einem hohen physischen und psychischen Aufwand erreichen lassen. Sie sind dadurch in einer spezifischen Weise »unzeitgemäß«. Eine verausgabungsfreie Zielerreichung wäre für sie langweilig und unproduktiv. Erst die physische Energieverschwendung adelt ihr Handeln. In ihrer körperorientierten Verausgabung verfolgen sie die Absicht, Technik als »funktionierende Simplifikation« (Luhmann 1997, S. 524) zu entsimplifizieren. Die Akteure sprechen das Gebot aus, die im Alltag durch Technik erzielbaren Entlastungseffekte explizit nicht nutzen zu wollen. Komplexität soll nicht »künstlich« reduziert werden; die Subjekte sollen vielmehr die Möglichkeit erhalten, der durch Technik verdrängten Komplexität mit Hilfe eines absorbierenden und energieverschwendenden Körpereinsatzes wieder habhaft zu werden.'' 11 Reinhold Messner (2002, S. 24) formulierte hierzu: »Es gibt auf unserem ramponierten Planeten kaum noch Freiräume, wo wir unsere Industriegesellschaft vergessen und unsere ureigensten Kräfte und Fähigkeiten erproben können. Und dies ist der eigendiche Grund dafür, daß es für mich keine faszinierendere Herausforderung gibt als die des Menschen vor dem Berg. Ich weigere mich, mir diese Heraus310
So verzichten Bergsteiger im Rahmen ihrer alternativen Handlungswahl auf vorhandene technische Geratschaften, etwa eine Bahn oder Gondel, um einen Gipfel zu erreichen. Sie setzen ihre Extremitäten ein und erbringen intensive eigene Körperopfer, um die Höhe in einem langwierigen, gefährlichen und äußerst anstrengenden Verfahren zu erklimmen. Positive Erlebnisse kommen für sie nur dann zustande, wenn dem Erfolgserleben ein körperintensives Handeln vorgeschaltet werden konnte und am Gipfel nur diejenigen auftauchen, die einer ähnlichen Aufwandsökonomie zu folgen bereit waren. Der Kick, von dem Abenteuer- und Extremsportler häufig berichten, speist sich aus der Lust, jenen Institutionen und Organisationen entkommen zu sein, die Macht und Kontrolle auch dadurch ausüben, daß sie menschliches Handeln verpflichtend an reine Kopfarbeit und Körperschonung koppeln. Ein schwitzender, ausgepumpter Körper wäre in vielen Arbeitskontexten dysfunktional, weil er am nächsten Tag seine Aufgaben nicht mehr störungsfrei erbringen könnte. In dem Handeln der zeitgenössischen Abenteuer- und Extremsportler tritt eine Zweck-Mittel-Rationalität zu Tage, die der üblichen Körperverwendung in der Moderne konträr gegenübersteht und eine Gegenökonomie eigener Art begründet. Körperliche und psychische Verausgabungen erscheinen nicht als Bedrohung, sondern als Bedingungen der Möglichkeit einer sinnorientierten Lebensführung. Die Verweigerung, den üblichen Nutzungsvorstellungen im Umgang mit dem eigenen Körper zu entsprechen, dient als Bollwerk gegen das Eindringen alltäglicher Gewohnheiten und Verhaltenserwartungen. Schutzmaßnahmen, die Gewerkschaften und Arbeitgeber in außersportlichen Handlungsfeldern installiert haben, um eine Überstrapazierung von Körper und Psyche zu verhindern, sind im Extremsport nicht anzutreffen. Auch die im modernen Alltag ansonsten bedeutsame Trennung zwischen Arbeit und Freizeit entfällt. Abenteuerakteure haben körperlich rund um die Uhr zu schuften, wie man bei den zeitgenössischen Segelabenteuern, Kontinentüberquerungen und Mehrfach tri athlons immer wieder sehen kann. Das »Unvernünftige« des eigenen Tuns bleibt im Abenteuersport selbst nicht unbeobachtet, sondern wird reflexiv für Darstellungen personaler Einzigforderung durch technische Hilfsmittel verderben zu lassen, worunter ich Sauerstoffgeräte. Bohrhaken, Hubschrauber, kurz, technisches Gerät verstehe, mit dessen Hilfe Unmögliches möglich gemacht werden kann.« 311
artigkeit verwendet. Abenteuerhelden stellen sich demonstrativ als Spezialisten fiir die Zurückweisung und Negation alltagsweltlicher Nützlichkeitsvorstellungen dar. Vernünftig ist derjenige, der sich in Abenteuer und Risiko verausgabt und bisherige Grenzen überschreitet; unvernünftig ist derjenige, der hierauf verzichtet. So wird Fremdreferenz abgewiesen und die eigene Handlungsautonomie begründet. Extremsportler profitieren in ihrer Ökonomie der Verausgabung von der im Alltag institutionalisierten Körpermodellierung und -kontrolle. Sie prägen körperorientierte Handlungsformen in einer Gesellschaft aus, die den Rationalitätsbegriff im Bereich von Arbeit, Lernen, Kommunikation und Fortbewegung weitgehend körperfern festgelegt hat. Menschen bringen sich im Extremsport bewußt in Situationen hinein, in denen sie sich selbst und anderen demonstrieren können, daß der Zugriff auf den eigenen Körper über allgemein übliche Grenzen weit hinausgeschoben werden kann - mit und auch gegen vorhandene Naturgesetze. Sie wenden sich damit nicht nur gegen die Genuß-, Spaß- und Wohlfühlverwendung des Körpers im Alltag, sondern auch gegen gängige Gesundheitskonzepte. Gesundheit ist in der modernen Gesellschaft ein »unumstrittener Höchstwert; ja wohl der einzige Höchstwert, der außerhalb aller ideologischen Kontroversen steht« (Luhmann 1983, S.42). Diesem »Höchstwert« widersetzen sich die Risikosporder demonstrativ. Wer gesund bleiben will, geht keine lebensgefährlichen Risiken ein. Extremsportler gefährden ihre Gesundheit vielmehr, denn so können sie auf Distanz zum Üblichen gehen und sich selbst Signale der eigenen Besonderheit und Andersartigkeit sowie der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns geben. Die Extremen wollen Differenz, und nicht eine Gleichheit im Reich der sozialen Absicherung und Gesundheit. Für sie fängt die Sinngebung dort an, wo die Gesundheits- und Wohlfahrtsorientierung aufhört. Im Gegensatz zum Gesundheitssport thematisieren Abenteuerund Risikosporder ihre Körper nicht protektiv oder rehabilitativ, sondern setzen sie bewußt aufs Spiel und konfrontieren sie mit bisweilen lebensgefährlichen Herausforderungen. Es geht nicht um Lebensverlängerung, die behutsame Wiederherstellung von Gesundheit, die Beseitigung einer physisch-organischen Störung, sondern um Risikobewältigung, Eroberung und Erfolg mit Hilfe der eigenen Körperkompetenz. Ein Körper, der sich dieser Aufgabe widersetzt, 312
nicht risiko- und gefahrentauglich ist, hat in diesem Handlungsfeld nichts zu suchen. Wo Menschen ihren Willen zur Selbstermächtigung durch Selbstgefährdung erkaufen, wird die dem Körper im Alltag beigemessene Bedeutung ins Gegenteil verkehrt. Der Körper ist im wahrsten Sinne des Wortes »extrem« wichtig. Auf seine Signale nicht zu hören, hätte fatale Konsequenzen; ihn allerdings zu schonen, hintertriebe die Ziele des Abenteuerprojekts. In einer Gesellschaft, die bereits weit im Medikaiisierungsprozeß fortgeschritten ist, in der Menschen ihre Schmerzen mit Hilfe chemischer Substanzen betäuben und verdrängen, bietet der Extremsport ein alternatives Körpererleben. In den ausdauerorientierten Praktiken, die sich über Tage, Wochen oder Monate hinziehen, feiert der homo patiens, der leidende, gegen die Widrigkeiten der Natur ankämpfende und sein Tun mit Blut, Schweiß, Tränen, Erfrierungen, Atemnot, Blasen, Hunger, Durst und Schlafentzug bezahlende Mensch seine moderne Wiederkehr. Das Erscheinungsbild des abgehärmten, ausgepumpten, dehydrierten und vorzeitig gealterten Akteurs ist symptomatisch für jene Betätigungen, in denen der Körper über längere Zeit mit extremen Belastungen und Prüfungen traktiert wird. Das tief zerfurchte Gesicht, der langsame Schritt und der völlig erschöpfte Körper zeugen von gerade überstandenen Gefahren und Strapazen und dem Preis, der zu bezahlen ist, wenn sich Menschen freiwillig der Kontingenz der Natur aussetzen und den Routinen des Alltags und den dort stattfindenden Zurichtungen zu entgehen versuchen.12 Die Idee des selbstauferlegten Martyriums ist ein wichtiger Bestandteil dieser Praktiken. Schmerzen werden nicht als Negativbotschaften wahrgenommen, die es in jedem Fall zu vermeiden gilt; sie sind vielmehr kalkulierte Bestandteile eines spezifischen Körperprogramms, das in scharfem Kontrast zur Anstrengungsvermeidung in der Restgesellschaft steht. Höhenbergsteiger, Ultramarathonläufer, Extremradfahrer und Langstreckenschwimmer sind Inkarnationen freiwilligen Leidens, die sich in ihrem ausgemergelten Erscheinungsbild demonstrativ gegen die »Verweichlichung« des modernen Subjekts wenden. Anstrengungen und Entbehrungen sind in dieser Handlungslogik positiv besetzt, weil sie in einer Zeit der körperlichen Anstrengungsminimierung und Leidensvermeidung knappe und auiz Man denke nur an das Erscheinungsbild des Extrembergsteigers Hermann Buhl nach dessen Erstbesteigung des Nanga Parbat. 313
ßeralltägliche Erlebnishorizonte eröffnen und ftir Distinktionszwecke nutzbar sind. Indem die individuellen Akteure sich im Abenteuerund Extremsport bewußt körperlich und psychisch verausgaben, können sie sich als individuelle Besonderheiten in Szene setzen und Identitätsarbeit ableisten. In der Ökonomie der Verausgabung geht es somit auch um Abgrenzung und Macht. Triebe und Begierden werden dem eigenen Willen nicht nur deshalb unterworfen, um sich selbst zu disziplinieren und neue Erfahrungen zu sammeln, sondern auch um andere durch gezeigte Selbstdisziplinierung zu beeindrucken. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen an dem Überangebot der Warenwelt teilhaben können und konsumatorische Lebensstile weit verbreitet sind, werden Verausgabung und Askese zu einer scharfen Waffe im Reich der sozialen Distinktion. Extremsportler erscheinen in diesem Lichte als Übererfüller sozialer Verzichtserwarrungen, die ihre alternative Körperökonomie mit Hilfe der Medien zelebrieren und theatralisch darstellen. Dies zeigt sich auch im Umgang mit den physischen Konsequenzen riskanten Handelns. Der verletzte Körper- etwa in Gestalt abgefrorener Finger und amputierter Zehen - verleiht dem Abenteurer eine Aura des Authentischen, Ehrlichen und Hingebungsbereiten. In einer Gesellschaft, in der ansonsten viele Menschen mit Hilfe der Schönheitsindustrie eine glatte, straffe und unverletzte Haut, also ein makelloses Äußeres, anstreben, kommt Verletzungen und Blessuren als den sichtbaren Folgen der Risikoübernahme ein hoher Distinktionswert zu. Wenn bereits leichte Schmerzen zu einem Arztbesuch fuhren, kann derjenige, der Schmerzen infolge von Verletzungen und Abenteuerschäden standhaft erträgt, ja sogar die Situationen, in denen sie verursacht wurden, freiwillig aufsuchte, als etwas Besonderes erscheinen. Wenn das Abenteuer sich gewissermaßen in die Haut und in das Körpergebäude hineingegraben hat, werden die Träger dieser Zeichen hierfür entsprechend bestaunt und verehrt. Körperliche Versehrtheit als Resultat eingegangener Risiken wird nicht wehleidig wahrgenommen, sondern als Preis akzeptiert, der für ein bestimmtes riskantes Projekt zu erbringen war. In schlagender Weise zeigen Schmerzen, Verletzungen und Blessuren, daß der einzelne bereit und willens war, für die Umsetzung seines alternativen Erlebnisprogramms ein entsprechendes Opfer zu erbringen. Nicht wenige Abenteuersportler haben einen Märtyrerstatus errei3M
chen können, weil sie ihr Leben einer Sache widmeten und bereit wiren, sich dem Außeralltäglichen vollends hinzugeben. Man denk nur an die vielen Extremen, denen im kollektiven Gedächtnis ein ersprechender Platz reserviert wurde, weil sie im Abenteuer verloreigingen und nicht zurückkamen. Soziologisch interessant und gesellschaftlich relevant sind nick nur das Abenteuer- und Risikohandeln der Extremen sowie dera Körperpraktiken im Rahmen einer Ökonomie der Verausgabung uri demonstrativen Energieverschwendung. Ebenso wichtig ist der gesellschaftliche Folgediskurs hierüber. Der moderne Abenteuer- und Risikosport erlaubt nämlich eine Inklusion derjenigen, die an der Abenteuerwelt nur passiv teilhaben können oder wollen. Voraussttzung hierfür ist, daß über die Sinnsuche der Risikoakteure in dir Sphäre des Nicht-Sinn haften sprach-, schreib- und bildmäßig konmuniziert wird. Indem Extrembergsteiger, Survival-Spezialisten, Wjstenläufer, Taucher oder Langstreckensegler mit Hilfe der Medien Bilder und Filme ihrer Taten erzeugen und über ihre Empfindungen und Motive reden und schreiben, können sie auch jene an ihren Erlebnissen teilhaben lassen, die ansonsten risikoaversiv leben urd sich vergleichbare Situationen der Selbstgefährdung und des Ladens nicht zumuten. Quantitativ ist der letztgenannte Aspekt sogir bedeutsamer, denn die allerwenigsten Zeitgenossen sind darauf erpicht, selbst Risiken einzugehen und Verausgabungen in ihrer Freizeit durchzufuhren. Die modernen Sportabenteurer, Eroberer urd Entdecker machen mit ihrer Differenzorientierung insofern auch Erfahrungen, die fiir ein Erleben aus zweiter Hand gut sind. Extremsportliche Grenzgänger sind mit ihrer alternativen Körperökonome soziale Figuren, die stellvertretend fiir die anderen ein wildes, riskantes, entbehrungsreiches, aber auch intensives Leben führen. In einer Gesellschaft, in der Organisationen Risiken zu entschärfen und Erwartungssicherheit durch strukturelle Vorkehrungen herzustellen trachten, erscheinen Risiko- und Extrem Sportler ihren Mitmenschen als real existierende Chiffren einer verdrängten Welt, in der das wilde und extreme Sein noch seinen Platz hat. Abenteuerakteure haben in nicht wenigen Fällen einen Heldenstatus erreichen kennen, weil sie sich durch das Erbringen außeralltäglicher Leistungen und das demonstrative Vorführen einer alternativen Körperökonomie als Spezialisten für die Wiederkehr gesellschaftlich verdrängter Sinndimensionen installieren konnten. Sie sind Sozialfiguren, die das 3i5
Verdrängte repräsentieren und personalisieren, und damit beobachtbar machen. Leute wie Reinhold Messner, Arved Fuchs und Rüdiger Nehberg, und die vielen anderen Wüstenläufer, Weltumsegier, Ballonfahrer, Extremradfahrer, Drachenflieger oder Höhenbergsteiger speisen durch ihr Handeln Themen in die öffentliche Kommunikation ein, die von einer Welt jenseits der Routine, Risikominimierung, Körperverdrängung und Abstraktion berichten. Diese Inklusion des Exkludierten funktioniert, weil moderne Übertragungstechniken das jenseits des Horizontes angesiedelte Abenteuer- und Risikohandeln sozial verfugbar machen. Zudem helfen aus dem Ideenfundus der Kultur- und Gesellschaftskritik ausgeschleuste Legitimationsrhetoriken dabei, die Sinnhaftigkeit des Handelns nach innen und außen entsprechend zu plausibilisieren. Erhellend ist, daß viele Abenteuerund Extremsportler ihr Leben als Anti-Geschichten erzählen, als Opposition gegen Erscheinungsweisen der modernen Gesellschaft: gegen die Entmündigung des einzelnen durch den Wohlfahrtsstaat, die Langeweile und Routine des modernen Alltags, die fehlenden Herausforderungen in der Freizeit und die Verdrängung ursprünglicher und authentischer Erfahrungen in einer maßgeblich durch Technik bestimmten Gesellschaft. Abenteurer und Risikohelden halten das Exkludierte präsent, indem sie es in ausgewählten Projekten episodenhaft inszenieren und theatralisch überhöhen und ausleben. Sie haben deshalb eine erstaunliche Omnipräsenz im gesellschaftlichen Kommunikationspanorama erreichen können. In einer differenzierten Gesellschaft ist der Abenteuer- und Risikosport mit seiner alternativen Körperökonomie und Handlungswahl zu einem polykontexturalen Thema geworden: Die Wirtschaft bedient sich riskanter Abenteuerpraktiken, um in Werbebotschaften auf bestimmte Produkte und Lebensstile hinzuweisen. Die Politik spannt Extremsporder ein, um nach innen Massenloyalität zu erzeugen und nationale Repräsentanz nach außen zu ermöglichen - man denke nur an den Wetdauf der Kationen, um die Pole zu erreichen, die tiefsten Meere zu ertauchen oder die höchsten Berge zu besteigen. Da sich extreme Betätigungen personalisieren lassen, zudem spannend und interessant sind, permanente Neuigkeiten produzieren und eine starke Nachfrage erzeugen, berichten die Massenmedien in aller Regelmäßigkeit über alte und neue Risikobewältigungsversuche. Inzwischen sind gerade die privaten Fernsehanstalten dazu übergegangen, ein Abenteuermanagement durchzufuhren. Sie infor316
mieren nicht mehr nur über Abenteuerereignisse, die auch ohne sie passiert wären, sondern inszenieren Abenteuer- und Risikoepisoden in eigener Regie. Fernsehsender oder Zeitungen organisieren zusammen mit Wirtschaftssponsoren Extremsporrvergleiche als Events für ein breites Medienpublikum in Gestalt von Ralleys, Wüstenmarathons, Rocky-Mountain-Überquerungen oder Kontinentumrundungen oder unterstützen die Abenteuertouren bekannter »Grenzgänger«. Menschen werden unter der Beobachtung von Fernsehkameras auf einsamen Inseln ausgesetzt, um im Rahmen moderner Robinsonaden riskante Aufgaben zu bewältigen. Oder man bringt prominente Zeitgenossen dazu, in einem Wüsten- oder Dschungelsetting strapaziöse Abenteuerwettkämpfe und Trekkingtouren durchzufuhren. Die Massenmedien bedienen damit systematisch die Ausbruchsphantasien und voyeuristischen Bedürfnisse eines Publikums, das selbst nicht auszubrechen bereit oder fähig ist, und offerieren eine Ikonographie der Flucht und Selbstermächtigung: dramatische Bilder und Geschichten von Situationen, in denen es ums Ganze, um Leben und Tod, geht, in denen spektakuläre Erfolge winken, aber auch dramatische Niederlagen passieren können.
4. Abenteuersport als Modernitätssynthese Anschlußfähig ist der Abenteuer- und Risikosport in der Gegenwartsgesellschaft auch deshalb, weil in ihm Momente der »ersten« und »zweiten Moderne« (Beck 1986) aufeinandertreffen und sich miteinander in einer bemerkenswerten Weise verbinden.13 Die »erste Moderne« ist die sich durchsetzende Moderne— also diejenige Moderne, die vormoderne Sozialverhältnisse Schritt für Schritt beseitigte und ersetzte, dem Prozeß der funktionalen Differenzierung zum Durchbruch verhalf und das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft in einer spezifischen Weise neu modellierte. Die »erste Moderne« führte zu einer Distanzierung zwischen Mensch und Natur, verdrängte und zähmte den wilden Körper, löste multifunktionale, diffus miteinander verbundene Sozialgebilde auf, ersetzte diese durch selbstreferentielle, ihrer eigenen Logik folgende Sozialbereiche, dämpfte den Affekthaushalt der Menschen, entzauberte deren Erleben, ließ Ar13 Zur Anwendung dieser Denkfigur auf den eventorientierten Zuschauersport siehe Bette und Schimank (2000, S. 316fr".). 317
beitsorganisationen und Bürokratien entstehen und erzeugte sowohl Streß als auch Gefühle der Monotonie und Langeweile in den Köpfen ihrer Mitglieder. Vor allem installierte sie das Leistungsprinzip, um knappe soziale Positionen jenseits von Geburt, Herkunft und Religionszugehörigkeit zu verteilen. Die »zweite Moderne« reagiert auf die Resultate der »ersten«, deren Folgeprobleme sie thematisiert und bearbeitet. Sie ruft eine neue Sensibilität bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur hervor, läßt wilde Körperlichkeit selektiv und episodenhaft wieder zu, fuhrt zu einer Wiederentdeckung verdrängter Räumlichkeit und Zeitlichkeit, regt Versuche der Selbstermächtigung in der Organisationsgesellschaft an und führt in Gestalt der Soziologie zu einem Nachdenken über die Bedingungen und Konsequenzen der »ersten« und »zweiten Moderne«. Das Verhältnis der beiden Modernen ist nicht als ein striktes Nebeneinander oder Nacheinander gemeint. In denjenigen Gesellschaftsbereichen, wo die »erste Moderne« sich besonders früh durchsetzte, begann auch die »zweite Moderne« entsprechend früh, während in anderen Handlungsfeldern noch nicht einmal die »erste Moderne« angefangen hat. Diese generellen Überlegungen zur Bedeutung der »ersten« und »zweiten Moderne« lassen sich direkt auf unser Thema beziehen: Der Extremsport hat einen Gegen- und einen Entsprechungscharakter zu Ausprägungen der modernen Gesellschaft enrwickelt. Er ist zugleich Negation und Bejahung von Modernität. Er ist einerseits modern, weil er - im wahrsten Sinne des Wortes - »extrem« leistungsorientiert ist und mit Hilfe von Medien, Technik und all den Errungenschaften der modernen Zivilisation stattfindet - mit Goretex-Kleidung, GPS-Ortung, wissenschaftlichen Wetterprognosen und Satellitentelefon. Andererseits ist der Abenteuer- und Extremsport aber auch eine theatralische Gegeninszenierung, die Erscheinungsformen und Konsequenzen der »ersten« Moderne hinterfragt und kritisiert. Auf dieser Grundlage zielt die Programmatik dieses Sportmodells darauf ab, Exkludiertes unter neuen Bedingungen zu inkludieren und Unterkomplexität, Resubjektivierung, Körpereinsatz, Raum- und Gegenwartserfahrung sowie ein Kontingenzerleben wiederzubeleben. Da die gegenstrukturelle Ausrichtung des Abenteuer- und Extremsports nicht jenseits, sondern innerhalb der modernen Gesellschaft stattfindet, ist es erwartbar, daß in diesem Handlungsfeld Widersprü318
che und Paradoxien entstehen, welche die dort handelnden Personen und Organisationen unter Druck setzen und zu bestimmten Reaktionen veranlassen. Hierfür lassen sich viele Beispiele finden: Extremsporder bejahen die Errungenschaften der Moderne, wenn sie auf Transportmittel zurückgreifen, um die Sonderräume des Abenteuers und Risikos zu erreichen. Sie benutzen Flugzeuge und Autos, frieren ihre Körper in Sitzpositionen ein, um anschließend in den entferntesten Winkeln dieser Erde körperorientiert klettern, surfen oder laufen zu können. Andere schonen sich mit technischer Hilfe, um sich später physisch und psychisch völlig zu verausgaben. Die Gleichzeitigkeit von »erster« und »zweiter Moderne« schlägt sich auf der personalen Ebene in einer Ambivalenz von Sicherheitsund Risikobedürfnis nieder. Auch die Helden der Berge, Ozeane und Wüsten, die höchste Risiken eingehen und sich in Büchern und Filmen über den Sicherheitsfetischismus ihrer Zeitgenossen und deren »Verweichlichung« und Wohlfahrtsorientierung auslassen, versichern ihre Häuser gegen Sturm und Hagel und sorgen für ihr Alter vor. Menschen nehmen in der »zweiten Moderne« nicht nur reflexiv die eher problematischen Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses wahr; sie nutzen vielmehr auch die Möglichkeiten, die sich infolge der Durchsetzung der industriell-kapitalistischen Moderne eröffnet haben: den materiellen Wohlstand, die bezahlte Freizeit, die OptionenvielfaJt des Entscheidens und das hohe Maß an Technisierung von Transport und Kommunikation. Der zeitgenössische Abenteuer- und Extremsporder erscheint angesichts dessen als ein sozialer Hybrid, der sowohl die Errungenschaften der Moderne selbstbewußt nutzt als auch in Protestposen gegen die Moderne agitiert. Das Zusammentreffen von »erster« und »zweiter Moderne« hat auch in organisatorischer Hinsicht Konsequenzen hervorgerufen: Die Reaktionen gegen die Auswirkungen der modernen Gesellschaft, gegen Routinisierung, Vereinnahmung und Fremdsteuerung durch Organisationen sind in der Zwischenzeit selbst in die Programmatik korporativer Akteure eingegangen. Spezialorganisationen begleiten und ermöglichen heute die Risikoaktionen und Selbstermächtigungsbestrebungen individueller Akteure. Der zeitgenössische Abenteuerund Extremsport ist damit Teil jener »reaktiven Korporatisierungs«Sphäre (vgl. Schimank 2001, S. 284) geworden, die in der modernen Gesellschaft - auch außerhalb des Sports - als Reaktion auf die Domi319
nanz von anonymen, intransparenten und entfremdenden organisatorischen Großinstitutionen entstanden ist. Wie sehr die gegenwärtige Abenteuer- und Risikoszene bereits durch Versuche der Entparadoxierung geprägt ist und mit ihren Widersprüchen und Ambivalenzen kämpft, zeigt sich in folgender Hinsicht: Wenn Organisationen den Abenteuer- und Risikosport entdecken und im Rahmen der modernen Erlebnis- und Eventindustrie zu veralltäglichen suchen, bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. Der einzelne distinktionsorientierte Akteur wird, um diese widersprüchliche Situation für sich zu lösen, in eine Spirale der Abweichung hineingetrieben. Der moderne Abenteuersport gewinnt seine gegenwärtige Dynamik deshalb, wie es scheint, durch Abweichungsverstärkung. Menschen versuchen der »Paradoxie der Individualität« (Bette 1999, S. 171 ff.) durch Leistung, Risikosampling, Extremisierung, exaltierte Selbstdarstellung und Skurriität zu entgehen. Wer die Vertikale bereits ausgelotet und dort seine Erstbesteigungsmarkierungen hinterlassen hat, kann, falls andere nachgezogen haben, die Horizontale entdecken. Im Zeitalter der »technischen Reproduzierbarkeit« des Abenteuers sind Extremsportsituationen immer wieder neu zu definieren und zu inszenieren, um Originalität zu beweisen. Wenn die Gefahr besteht, daß die Individualisierungsbestrebungen der anderen mit organisatorischer Unterstützung den einzelnen Abenteuer- und Risikohelden einholen, hilft nur ein weiteres Andrehen der Risikospirale. Das Extreme muß durch das noch Extremere übertrumpft werden. Eine Wiedereinführung der Abweichung in die Differenz von Abweichung und Konformität kann dem Subjekt zumindest kurzzeitig das Gefühl verschaffen, ein einzigartiges Individuum zu sein. Anders zu sein als die anderen stößt allerdings spätestens dann in der individuellen Biographie auf Grenzen, wenn der eigene Körper die Risikopraktiken nicht mehr mitmacht. Als Reinhold Messner aufgrund von Verletzungen und Alterungsprozessen nicht mehr in der Lage war, bestimmte bergsteigerische Freikletter-Routen durchzufuhren und Jüngere ihn auf diesem Gebiet bereits überflügelt hatten, flüchtete er sich in alternative Praktiken: Er ging in die extreme Höhe, verzichtete auf Technik und Sauerstoff, betrieb anschließend eine Quantifizierung des Abenteuers, indem er alle Achttausender dieser Erde bestieg und entdeckte dann die Horizontale der Eisregionen. Demnächst wird er wohl die Wüsten durchwandern. 320
Abenteurer und Extremsportler drohen aus diesem Grunde in Posen zu erstarren, die für Außenseiter in der modernen Gesellschaft verfügbar gehalten werden. Extrembergsteiger, Survivalspezialisten, Ultramarathonläufer oder Polarüberquerer sind funktionale Äquivalente zu jenen Sozialfiguren, die in außersportlichen Bereichen als Protestavantgarde reüssierten, aber mit ihrer demonstrativen Randständigkeit, Außeralltäglichkeit und Opposition schon längst ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Den »Grenzgängern« fällt es unter diesen Bedingungen schwer, die Originale zu bleiben, die sie zu sein behaupten. Der moderne Abenteuer- und Risikosporder ist mit seinen Körperpraktiken und Autonomiebestrebungen unter diesen Bedingungen zu einer paradoxen Figur geworden: Wenn er vom Mittelmaß, Risikoaversiven, Körperdistanzierten und Langweiligen in der Restgesellschaft abweicht und sich in künsdichen oder natürlichen Situationen aufs Spiel setzt, tut er letzdich nur das, was aufgrund seiner vorausgegangenen und sozial beobachteten Selbstfestlegung in der Zwischenzeit von ihm erwartet wird. Entgegen ihrem auf radikale Freiheit, Autonomie und Abweichung ausgerichteten Selbstbild sind Extremsporder Akteure, die mit den ihnen gegenüber artikulierten Erwartungen konform gehen: nämlich Freiheit und Autonomie anzustreben, das Riskante zu wagen, den Körper bis an die Grenze des Machbaren zu belasten und Kopf und Kragen zu riskieren, um »einzigartige« Projekte durchzuführen, und all dies körperlich-performativ auch für andere zu inszenieren.
Literatur Beck, Ulrich (1986): Die Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bette, Karl-Heinrich (1987): Wo ist der Körper?, in: Dirk Baecker/Jürgen Markowitz/Rudolf Stichweh/Hartmann Tyrell/Helmut Willke (Hg.), Theorie als Passion. Nildas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 600-628. Bette, Karl-Heinrich (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin/New York: de Gruyter. Bette, Karl-Heinrich (1999): Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bette, Karl-Heinrich (2004): X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports. Bielefeld: transcript-Verlag. 321
Bette, Karl-Heinrich/LTwe Schimank (2000): Sponevents. Eine Verschränkung von »erster« und »zweiter Moderne«, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske & Budrich, 307-323. Dreitzel, Hans-Peter (1968): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft: eine Pathologie des Alltagslebens. Stuttgart: Enke Verlag. Gebauer, Gunter (1984): Hand und Gewißheit, in: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 234-260. Luhmann, Niklas (1981): Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: Ders., Soziologische Aufklärung Bd. 3. Opladen: Westdeutscher Verlag, 25-34. Luhmann, Niklas (1983): Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Philipp Herder-Dorneich und Alexander Schuller (Hg.), Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer, 28-49. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1995): Was ist Kommunikation?, in: Ders., Soziologische Aufklärung Bd. 6. Opladen: Westdeutscher Verlag, 113-124. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Messner, Reinhold (22002): Everest solo. Der gläserne Horizont. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Meyer, Ulfilas (2003): Born to run. Zum Laufen geboren. Aus dem Leben des Extremläufers Achim Heukemes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Popitz, Heinrich (1995): Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Tübingen: J. C. B. Mohr. Schimank, Uwe (2001): Organisationsgesellschaft, in: Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie. München: Wilhelm Fink Verlag, 278-307. Simon, Fritz B. (1993 [1990]): Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation von Verrücktheit. Heidelberg: Carl Auer Verlag. Weyh, Florian Felix (1999): Die ferne Haut. Wider die Berührungsangst. Berlin: Aufbau Verlag. Zijderveld, Anton C. (1970): The Abstract Society. A Cultuxal Analvsis of our Time. Harmondsworth: Penguin.
322
Robert Gugutzer Der Körper als Identitätsmedium: Eßstörungen
Eßstörungen werden gemeinhin als psychisches oder psychosomatisches Problem einer Einzelperson angesehen.1 Als entscheidende gesellschaftliche EntstehungsbedingUngen gelten üblicherweise das vorherrschende Schlankheitsideal und, da überwiegend Mädchen und junge Frauen von Eßstörungen betroffen sind, die geschlechtsspezifischen Lebensbedingungen von Frauen in wesdich-modernen Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund scheint die Annahme naheliegend, eine Eßstörung sei das individuelle Problem einer jungen Frau, die sich dem gesellschaftlich vorherrschenden (und von Männern diktierten) Schönheitsideal unterwirft. Im folgenden möchte ich zeigen, daß dieses Bild vereinfacht und daher ergänzungsbedürftig ist. Dies werde ich entlang zweier Thesen tun: Erstens, Eßstörungen sind keineswegs ein rein individuelles Problem, sondern untrennbar mit spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen verbunden und in diesem Sinne wesentlich ein soziosomatisches Phänomen. Zweitens, und dieser Punkt wird im Mittelpunkt des Beitrags stehen, Eßstörungen liegt kein Schönheits-, Figur- oder Eßproblem zugrunde, sondern ein Identitätsproblem, das die Eßgestörten im Medium ihres Körpers zu lösen versuchen. Zur Begründung der beiden Thesen wähle ich einen körper- und identitätssoziologischen Zugang. Körpersoziologisch ist das weitere Vor gehen in der Hinsicht, daß Körperwahrnehmung, -einstellung und -praxis in ihrer soziokulturellen Konstruiertheit betrachtet werden (vgl. Gugutzer 2004), identitätssoziologisch dergestalt, daß Identität und Identitätsprobleme als Resultat gesellschaftlicher Wertvorstellungen, normativer Zwänge und sozialer (vor allem familiärer) Interaktionen aufgefaßt werden (vgl. Gugutzer 2002). Mit diesem Zugang wende ich mich gegen die in der sozialwissenschaftlichen Literatur zu Eßstörungen dominierende Vorgehensweise, die Kategorien (weibliches) Geschlecht und (weibliche) Adoleszenz in den Mittelpunkt zu rücken und von dort aus die Themen (weiblicher) Körper und (weibliche) Identität zu behandeln. Der hier gewählte Ansatz, der das Ver1 Für ihre kritischen Kommentare und Fragen, die obgleich schrecklich lästig doch ausgesprochen hilfreich waren, danke ich Christiane Berger. 32-3
hältnis von Körper und Identität ins Zentrum rückt und dabei auch geschlechts- und jugendspezifische Aspekte in den Blick nimmt, korrigiert damit nicht nur einen wissenschaftlichen Bias in der Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Zugleich, und das ist entscheidender, rückt er damit jene beiden Aspekte ins Zentrum, um die sich das Leben einer eßgestörten Person dreht: Körper und Identität.
i. Eßstörungen als soziosomatisches Phänomen Seit gut zwei Jahrzehnten steigt die Anzahl eßgestörter Frauen und Männer in westlich-modernen Gesellschaften so stetig an, daß manche Autoren von einer epidemieartigen Ausweitung sprechen (Vandereycken/van Deth/Meermann 2003, S. 293fr.). Versteht man unter Eßstörungen Eßverhaltensweisen, die deutlich vom gesellschaftlichen Normalstandard abweichen, dann gab es Eßstörungen zwar auch schon zu früheren Zeiten - man denke etwa an die Fastenheiligen, sog. »Wundermädchen« und »Hungerkünstler«.2 Die heute bekannten Formen von Eßstörung3 unterscheiden sich jedoch von ihren historischen Vorläufern in wesendichen Punkten. Während zum Beispiel die Nahrungsverweigerung in früheren Zeiten in der Regel unter den Bedingungen von zum Teil extremer Nahrungsmittelknappheit ausgeübt wurde, finden sich die Eßstörungen der Gegenwart nahezu ausschließlich in Gesellschaften mit Nahrungsmittelüberfluß. Magersucht und Bulimie sind Syndrome,4 die überwiegend in den wohlhabenden und hoch entwickelten Gesellschaften Westeuropas, in den USA und zum Teil in Japan auftreten (Klingenspor 1989). Eine weitere Differenz besteht darin, daß den heutigen Eßstörungen der Status einer medizinisch-psychiatrisch definierten Krankheit zu2 Zur Kulturgeschichte der Eßstörungen vgl. Brumberg (1994), Habermas (1990, '994). Mennell/Simons (1989), von Essen/Habermas (1989) Vandereycken/van Deth/Meermann (2003). 3 In den international gängigen Verzeichnissen von Krankheiten [International Classification o/Diseas, ICD) und psychischen Störungen (Diagnostic and Statistical Manual ofMental Disorder, DSM) werden drei Hauptformen von Eßstörungen unterschieden: Magersucht (Anorexia nervosa), Eß-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und Eßsucht (Binge-Eating-Disorder) (GerlinghorT/Backmund 2004, S. 23). 4 Ein Syndrom ist »ein Gesamtbild von Verhaltensweisen oder Merkmalen - also den sogenannten >Symptomen< -, das als ungewöhnlich oder gestört betrachtet wird.« (Vandereycken/van Deth/Meermann 2003, S. 18). 324
kommt, während das eßgestörte Verhalten zu früheren Zeiten eher als bewundernswertes Einzelschicksal angesehen wurde. Damit hängt der weitere Unterschied zusammen, daß von den historischen Vorläufern heutiger Eßstörungen immer nur einzelne Individuen betroffen waren,5 während Eßstörungen heutzutage inzwischen ein kollektives Phänomen darstellen. Innerhalb der von Eßstörungen hauptsächlich betroffenen Gruppe junger Mädchen und Frauen im Alter von 12 bis 25 Jahren gelten sie gar als die Modekrankheit schlechthin. Zwar wird geschätzt, daß in fortgeschrittenen modernen Gesellschaften nur ca. ein Prozent der jungen Frauen in dieser Altersgruppe ein rnagersüchtiges und vier Prozent ein bulimisches Verhalten zeigen (Gerlinghoff/Backmund 2004, S. 24X6 dennoch scheint es durchaus angebracht, von einem modischen Syndrom zu sprechen. Begreift man Eßstörungen als zeit- und kulturspezifische Metapher, so lassen sich an ihnen die aktuellen Lebensbedingungen weiblicher Adoieszentinnen und deren Strategien, damit umzugehen, ablesen. Dazu zählen Werte und Ideale, Anforderungen und Wünsche wie Erfolg, Leistung, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung, Selbstdisziplin, (Geschlechts-) Identität, Individualität, Schlanksein, Schönsein, Anerkennung u.a. m. (Helfferich 1994, S. 146-157). Eßstörungen sind »Metaphern unserer Zeit« (Orbach in: Gröne 1997, S. 64) in der Hinsicht, daß sie gleichzeitig die typischen Probleme und deren (vermeintliche) Lösungen junger Frauen in der Gegenwart repräsentieren. Vermutlich ist es gerade dieser metaphorisch-symbolische Gehalt von Eßstörungen, der dazu fuhrt, daß junge Frauen zum Beispiel durch die massenmediale Aurbereitung dieses Phänomens überhaupt erst auf die Idee kommen, sich dieses Syndrom anzueignen.7 5 Zu den bekanntesten Anorcluikerlnnen in der Geschichte zählen der englische Dichter George Gordon Byron (1788-1824), der schottische Schriftsteller Sir James Matthew Barrie (1860-1936), Schöpfer von »Peter Pan-, Kaiserin Elisabeth »Sissi« von Österreich (1837-1898) sowie Franz Kafka (1883-1924) (Vandereycken/van Deth/Meermann 1003, S. 26}f. und S. 279-293). 6 Zuverlässige Zahlen über die Verbreitung der Eßsucht gibt es bislang kaum (vgl. Devlin/Goldfein/Dobrow 2003), genausowenig wie über Eßstörungen bei Männern. Gerlinghoff und Backmund schätzen, daß unter Magersüchtigen das Verhältnis von Frauen zu Männern 10:1 ist (Gerlinghoff/Backmund 2004, S. 24), während Fichter und Hoffman bei der Bulimie von einem Verhältnis von 8:1 sprechen (Fichter/Hoffman 1989, S. 76). 7 Bezeichnend hierfür ist die Untersuchung von Wissenschaftlern der Harvard Medical School auf den Fidschi-Inseln. 1995 wurde in der Provinz Nadroga auf Fidschi 3**
Der entscheidende Unterschied jedoch zwischen den früheren und den aktuellen Formen von Eßstörung hat mit der Rolle des Körpergewichts zu tun. Weder den Magersüchtigen noch den Bulimikerlnnen der vergangenen Jahrhunderte nämlich ging es darum, durch ihr drastisch von den Normalstandards abweichendes Eßverhalten ein bestimmtes Körpergewicht zu erreichen bzw. zu halten (Habermas 1990, S. 74; Vandereycken/van Deth/Meermann 2003). Der subjektiv gemeinte Sinn ihrer Körperpraktiken war entweder religiöser, sozial-distinktiver oder spektakulärer Art. Fasten oder übermäßiges Essen und Erbrechen als - vordergründig - auf ein bestimmtes Schönheitsideal abzielende Körperkontrolle ist demgegenüber ein historisch sehr junges Handlungsmotiv. Bezeichnend hierfür ist, daß selbst die medizinisch-psychiatrischen Diagnosekriterien sowohl ftir die Magersucht als auch für die Bulimie erst seit 1994 »den •übertriebenen Einfluß des Körpergewichts oder der Figur auf das Selbstbewußtsein« in das DSM IVeingeführt« haben (Gerlinghoff/Backmund 2004, S.23). Wie die bisherigen Ausfuhrungen bereits deutlich gemacht haben, handelt es sich bei Eßstörungen um Syndrome, deren Genese und Ausformung in einem entscheidenden Maße von spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen geprägt sind. Stichwortartig seien die wichtigsten soziokulturellen Gründe für die Entstehung von Eßstörungen genannt.8 (Ich werde im weiteren auf die einzelnen Punkte eingehen.) das Fernsehen eingeführt. Bis dahin war dort erst ein Fall von Anorexie bekannt geworden. Interviews mit Schulmädchen (Durchschnittsalter 17,3 Jahre) in dieser Provinz kurz vor der Einführung des Fernsehens ergaben, daß kein Mädchen bis dahin jemals erbrochen hatte, um das Gewicht zu kontrollieren. Drei Jahre später führte das Forschungsteam erneut Interviews mit Schulmädchen (Durchschnittsalter 16,9 Jahre) in derselben Region durch. Ergebnis: 1998 berichteten 11,3 Prozent der Mädchen von bulimischern Verhalten. Mädchen, die in Familien mit Fernseher wohnten, zeigten dreimal so häufig Magersuchtsymptome wie Mädchen, in deren Haushalt kein Femseher vorhanden war. Während bis 1995 Diäten mehr oder weniger unbekannt waren, meinten 1998 69 Prozent der befragten Mädchen, Diäten ausprobiert zu haben (Becker u.a. 2002). 8 Zu den gesellschaftlichen und kulturellen Entstehungsbedingungen von Eßstörungen vgl. Buchholz (2001), Diedrichsen (1991), Lausus {2002), Mennell/Simons (1989), Thies (1998). Gerlinghoff und Backmund sind der Ansicht, daß »in der gegenwärtigen Forschung [...] die Rolle gesellschaftlicher Einflüsse thematisch etwas an Bedeutung zu verlieren (scheinen) zugunsten neurobiologischer und vor allem genetischer Untersuchungen« (Gerlinghoff/Backmund 2004, S. 26). 326
- Der abendländische Zivilisationsprozeß zeichnet sich durch einen Übergang von fremd- zu selbstkontrolliertem Verhalten, der Herausbildung einer Selbstzwangapparatur (Gewissen), dem Anstieg der Scham- und Ekelschwellen und der Zivilisierung des Essenverhaltens aus (Elias 1976). - Mit dem abendländischen Rationalisierungsprozeß hat sich die protestantische Berufsethik und mit ihr eine asketisch-methodische Lebensführung herausgebildet, für die das freiwillige Einhalten von Diäten ein Beispiel ist (Weber 1988; Turner 1982). - Die moderne »Disziplinargesellschaji« und ihre Institutionen ent wickelten zahlreiche disziplinierende Körperpraktiken. Diese auf den Körper einwirkenden Machtmechanismen haben nicht nur negative, unterdrückende, sondern auch positive, produktive Effekte (Foucauit 1976). - Der Individualis ierungsprozeßhzt zur Erosion traditioneller Werte und Sinninstanzen, zur Auflösung traditionaler Geschlechterrollen und -identitäten sowie zu einer Pluralisierung familialer Lebensformen geführt. Gerade für Frauen bedeutet das einen Zugewinn an Chancen und Risiken, das eigene Leben selbstveraritwortlich zu führen (Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994). - Fernsehen, Kino, Musikvideos, Werbung und Mode haben — als Indikatoren einer Popularisierung der Kultur - zum Wandel d*r Schönheits- und Körperbilder in Richtung eines schlanken, spoitlich-athletischen und androgynen Ideals beigetragen. Vor diesem Hintergrund, daß gesellschaftliche und kulturelle Prozesse wesentlich die Entstehung von Eßstörungen beeinflussen urd weil im Zentrum dieses Syndroms der Körper steht, spreche ich von Eßstörungen als einem soziosomatischen Phänomen (vgl. hierzu auch Gröne 1997, S. 64). Eßstörungen verstehe ich als körperlich-symbolischen Ausdruck individueller Bedürfnisse, Ängste und Nöte, die gesellschaftlich (insbesondere familiär) hergestellt werden. Eßstörungen repräsentieren, anders gesagt, kulturell bereitgestellte Lösungsstrategien für ebendiese geschlechts- und altersspezifischen Probleme. Eßgestörte entscheiden sich9 angesichts der sozialen und psychischen Be9 Formulierungen wie »sich für eine Eßstörung entscheiden« oder -Eßstörungen si nd Lösungsstrategien« sorgen womöglich für Irritationen. Es handelt sich hierbei um therapeutische Termini, die ich als systemischer Familientherapeut in meiner arbeit mit Eßgestörten verwende. (Zur systemischen Therapie von Eßstörungen v»l. als Überblick Nardone 2003; Reich 2003; Schmidt 1989; Weber/Stierlin 2001). 3^7
dingungen ihres zentralen Lebenskontextes für diese Körperpraxis, die einer Überlebensstrategie gleichkommt. Sie hungern, essen über die Maßen und erbrechen, um jenen Halt, jene Sicherheit und Orientierung in ihrem Leben zu finden, die gemeinhin als Ausdruck personaler Identität bezeichnet werden. Meine These, die ich im weiteren ausfuhren möchte, lautet daher: Eßgestörte haben kein Essens-, Figur-, Gewichts- oder Schönheitsproblem (das sind >lediglich< Symptome), sondern ein Identitätsproblem, das sie mit Hilfe ihres Körper zu lösen versuchen.I0
2. Der Körper als Medium der Identitätssicherung
Verglichen mit anderen Identitätsaspekten wie Beruf, Familie oder Religion nimmt der Körper für eßgestörte Frauen und Männer einen herausragenden Stellenwert ein. Diese fundamentale Rolle des Körpers als Identitätsmedium für Eßgestörte möchte ich anhand von fünf identitätssichernden Faktoren des Körpers erläutern: Körperbild und Selbstwert (2.1), Körperpraxis und Autonomie (2.2), Körperpraxis und Individualität (2.3), Grenzerfahrung und Selbstgewißheit (2.4) sowie Leib- und Körperkontrolle als Selbstkontrolle (2.5). Zu beachten ist hierbei zum einen, daß identitätssichernd in dem Sinne zu verstehen ist, daß die Körperpraxis von Eßgestörten eine Notlösung darstellt, mittels deren sie sich ihrer Identität zu vergewissern suchen. Diese Art der Identitätssicherung ist jedoch hoch fragil und letzdich zum Scheitern verurteilt. Zum anderen sei noch einmal betont, daß ich auf die geschlechtsspezifische Ausprägung der angeführ ten Körperkategorien verzichte. Ich gehe davon aus, daß die identitätssichernden Faktoren des Körpers für beide Geschlechter gelten, 10 Eine sinngleiche These vertritt Feistner: »Eßstörungen werden als gravierende Identitätsstörungen betrachtet, deren Dreh- und Angelpunkt der Körper ist und gleichzeitig als paradoxe Versuche, die beschädigte Identität mit Hilfe des Körpers zu retten« (Feistner 1997, S. 515). Gestützt auf die »Phasenlehre der psychosozialen Entwicklung« von Erik Erikson (1973) und die Selbstpsychologie (vgl. Haußer 1995) beschäftigt sich Feistner mit dem Zusammenhang von weiblicher Adoleszenz, dem gesellschaftlichen Stellenwert des weiblichen Körpers, Identitätsentwicklung und Eßstörung. So spannend ihre These ist, so unbefriedigend bleiben letztlich ihre Ausfuhrungen, da es ihr nicht gelingt, den »Körper« in das (wissenschaftlich als in wichtigen Teilen veraltet anzusehende) Identitätskonzept von Erikson zu integrieren und dies in Relation zur Thematik .Eßstörung< zu setzen. 328
wenn auch in der einen oder anderen Weise verschieden. Da mein Erkenntnisinteresse formalen Körperkategorien gilt (vgl. Gugutzer 2002), rücken diese Unterschiede allerdings in den Hintergrund. 2.1 Körperbild und Selbstwert Das Bild, das eine Person von ihrem Körper hat, spielt eine wichtige Rolle für das Selbstbild und damit für die Identität dieser Person. Das hat damit zu tun, daß die kognitiv-evaluative Stellungnahme zum eigenen Körper, um die es sich beim Körperbild handelt, einer wertenden Haltung dem eigenen Selbst gegenüber entspricht. Wer sich als dick, klein, alt, sportlich, kraftvoll, schön oder attraktiv wahrnimmt, nimmt damit nichr nur eine Bewertung seines Körpers vor, sondern, wie das Reflexivpronomen >sich< andeutet, auch eine Bewertung seiner selbst. In der Regel hat, wer ein positives Körperbild besitzt, auch ein positives Bild von sich selbst. Und umgekehrt korreliert üblicherweise ein negatives Körperbild mit einem negativen Selbstbild. Das Körperbild ist dabei nicht etwas rein Individuelles, Subjektives, sondern untrennbar mit den gesellschaftlich vorherrschenden Körperbildern verknüpft. Mit Mary Douglas läßt sich sagen, daß die Wahrnehmung des physischen Körpers und das Bild, das man von ihm hat, durch und durch geprägt ist von der Wahrnehmung des sozialen Körpers (Douglas 1974). Das individuelle Körperbild ist mit anderen Worten wesentlich von den sozial und kulturell existierenden Körperbildern und -idealen beeinflußt. Die sozialen Körperbilder unterliegen selbstverständlich einem historischen Wandel und variieren auch innerhalb einer Gesellschaft z.B. milieu- oder altersspezifisch (Bourdieu 1982; Schulze 1992). Und anders als in früheren Epochen sind es heute nicht mehr die oberen sozialen Schichten, die die dominierenden Körperideale prägen, sondern primär die Massenmedien, Werbung und Mode. Vermutlich ist diese Popkulturalisierung ein wesentlicher Grund dafür, daß es kaum möglich ist, sich der gesellschaftlichen Infiltration von Körperbildern zu entziehen. Denn, auch wer sich in seiner Körperpraxis explizit gegen die gesellschaftlich normierten Körperbilder wendet, tut dies gerade nicht unbeeinflußt von ihnen, vielmehr in enger Relation zu ihnen. Die normative Bindung an gesellschaftlich vorherrschende Körperbilder zeigt sich bei Eßgestörten sehr deutlich in ihrer Fixierung auf das gängige Schönheitsideal, das heute mit dem Schlankheitsideal 329
synonym gesetzt werden kann.11 Folgt man der (nicht nur sozialwissenschaftlichen) Literatur zum Thema Eßstörungen, dann ist das »schlanke Schönheitsideal in der wesdichen Welt, verbunden mit einer ideologisierten Verpflichtung zu Fitness, [...] der wichtigste soziokulturelle Faktor für die Entstehung von Eßstörungen« (Gerlinghoff/Backmund 2004, S. 26). Ich teile diese Ansicht zwar nicht, daß das Schlankheitsideal der »wichtigste soziokulturelle Faktor für die Entstehung von Eßstörungen« sei, da ich jene Faktoren, die aus dein Zivilisations-, Rationalisierungs- und Individualisierungsprozeß folgen, für genauso wichtig ansehe. Dennoch ist die Bedeutung, die das Schlankheitsideal für die Entwicklung von Eßstörungen spielt, unbestritten: Wer schön und attraktiv sein will, muß heutzutage schlank sein. Wer soziale Anerkennung statt Stigmatisierung will, muß schlank sein. Wer Erfolg haben will, und zwar auf dem Berufsmarkt12 nicht weniger als auf dem Markt der Liebe, muß schlank und fit sein. Dem gesellschaftlichen Diktat des Schlankheitsideals sind Frauen dabei nach wie vor stärker unterworfen als Männer, auch wenn sich dieses Ungleichgewicht in den letzten Jahren stark abschwächt. Entsprechend gibt es wohl kaum eine Frau (und immer weniger Männer), die sich noch nie Gedanken über ihr Körpergewicht gemacht hat. Für Eßgestörte gilt das unumstritten, wie etwa Hilde Bruch nach 35 Jahren Berufserfahrung mit Mager- und Fettsüchtigen bilanziert: »Die Beschäftigung mit fettsüchtigen und anorektischen Patientinnen förderte eindrucksvoll zutage, in welchem Ausmaß die gesellschaftliche Einstellung dem Körper gegenüber, das Schönheitsideal unserer Gesellschaft und unsere ständige Sorge um das Aussehen eine Rolle spielen« (Bruch 2001, S. 116). In dieser Orientierung an dem Schlankheitsideal, die je nach Art der Eßstörung variiert, übernimmt der Körper die Funktion eines identitätssichernden Mediums. Magersüchtige und Bulimikerlnnen 11 Das Schlankheitsideal wai bereits in der Viktorianischen Zeit das dominierende Schönheitsideal und auch damals verantwordich für die Zunahme von Diäten und Eßstörungen unter jungen Frauen (Vandereycken/van Deth/Meermann 2003, S. 263fr.). Zum historischen Wandel gesellschaftlicher Schönheitsbilder und -ideale vgl. auch Brumberg (1994). Habermas U994), Lausus (1002), Sprengel vi99*)12 Wie Rittner gezeigt hat, hat sich mit dem Vianager über das Sozialsystem Wirtschaft hinaus eine - mannliche! - Sozialfigur etabliert, die neben all ihren fachlichen Fähigkeiten auch einen bestimmten körperlichen Habitus präsentieren muß, um erfolgreich zu sein: schlank, fit, athletisch (Rittner 1989, S. 374).
33°
versuchen durch die Realisierung dieses Körperideals all das zu erhalten und zu erreichen, was ihnen in anderen Lebensbereichen versagt bleibt bzw. nicht gelingt. Dazu eine typische Äußerung einer Magersüchtigen: »Alle Probleme, die ich hatte, schob ich auf meine Figur und sagte mir immer, wenn ich erst so dünn bin, dann bin ich glücklich, dann habe ich keine Probleme, viele Freunde und bin selbstbewusst« (N. N. in: Gerlinghoff/Backmund 2000, S. 27). Der dünne Körper löst alle Probleme. Wichtig hierbei ist zu sehen, daß es Magersüchtigen nicht darum geht, das gesellschaftlich vorherrschende weibliche Schönheitsideal zu realisieren. Die »Selbstaushungerung« (Vandereycken/van Deth/Meermann 2003), die sie praktizieren, zielt vielmehr darauf, einen kindlichen, knabenhaften oder androgenen Körper zu bewahren, der die Angst vor dem Erwachsenwerden bzw. das Bedürfnis nach einer unbeschwerten und von Verantwortung für sich und andere losgelösten Kindheit symbolisiert (Selvini-Palazzoli 1982; Weber/Stierlin 2001). Nicht eigendich Schönsein motiviert das magersüchtige Handeln, sondern die verzweifelte Suche nach Sicherheit und Halt im Leben, nach dem eigenen Selbst. Das Schlankseinwollen ist mit anderen Worten lediglich Mittel zum Zweck, der darin besteht, anerkannt zu werden und sich selbst zu finden. So meint denn auch Bruch: »Nicht eine der anorektischen Patientinnen, die ich über die vielen Jahre kennengelernt habe, hatte es sich vorgenommen, diesen Zustand mideiderregender Auszehrung zu erreichen. Alles, was sie hatten erreichen wollen, war, daß sie sich besser mit sich selbst fühlen wollten. Da sie gemeint hatten, das Dicksein13 sei der Grund für ihre Verzweiflung, waren sie entschlossen, diesen Zustand zu korrigieren. Gleichgültig, welches Gewicht sie in diesem Kampf um Selbstachtung und um den Respekt anderer erzielten, es war >nicht das richtiges um ihnen innere Sicherheit zu geben; und so ging der Abwärtskurs immer weiter« (Bruch 2 0 0 1 , S. 133). 13 »Dicksein« ist ein relativer Begriff. Zur Symptomatik von Magersüchtigen zählt unter anderem eine Körperschemastörung. Wie Bruch zeigt, ist diese Körperwahrnehmungsstörung nicht lediglich eine Einbildung oder ein Vortäuschen, sondern die Betroffenen behaupten aufrichtig, nicht »zu sehen«, daß sie so dünn sind. Sie zitiert eine junge Frau, die sagt: »Ich kann wirklich nicht sehen, wie dünn ich bin. Ich schaue in den Spiegel und sehe es immer noch nicht. Ich weiß, daß ich dünn bin, weil ich bei mir nichts als Knochen spüre« (Bruch 2001, S. 118). Und eine andere junge Frau sagt: »Sogar letzten Sommer, auf meinem niedrigsten Stand (30 kg), habe ich mich sehr dick gefühlt« (ebd.). 331
Im Unterschied zu Magersüchtigen orientieren sich bulimische Frauen und Männer sehr deudich an dem gesellschaftlich dominanten Ideal schöner, schlanker Frauen und Männer. In Hinblick auf Frauen meint zum Beispiel Margret Gröne: »Bulimische Frauen arbeiten beständig und heimlich daran, ihren Körper nach dem Vorbild des dünnen Schlankheitsideals zu modellieren. Ein äußerlich makelloser Körper ist nicht nur wichtig, weil die gegenwärtige Mode Schlankheit als Symbol von Schönheit und Attraktivität wertschätzt, sondern Gewichtskontrolle gleichgesetzt wird mit Selbstdisziplin, persönlicher Stärke, Willenskraft und Durchsetzungsvermögen [...]« (Gröne 1997, S. 73). Auch dieses Zitat verdeutlicht, wie sehr die Körperarbeit von Eßgestörten Identitätsarbeit ist: Die Modellierung des Körpers in Richtung des gesellschaftlich konstruierten Ideals von Schönheit ist letzten Endes nicht ästhetisch motiviert, sondern gründet auf dem Bedürfnis nach Anerkennung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Die körperliche Schwerstarbeit, die Bulimikerlnnen durch ihre Heißhungerattacken leisten, bei denen sie Nahrungsmittel mit bis zu 10 000 Kalorien in kürzester Zeit verschlingen und anschließend erbrechen oder/und abfuhren, zielt nur vordergründig auf einen schönen Körper. Das eigentliche Ziel ist vielmehr der symbolische Körper: der schöne, schlanke Körper als Sinnbild für Disziplin, Stärke,Willenskraft- allesamt gesellschaftlich hoch angesehene Werte, mit denen das Versprechen einhergeht, anerkannt und letztlich geliebt zu werden. Daß eßsüchtige Frauen und Männer, deren gestörtes Eßverhalten zu starkem Übergewicht und Fetdeibigkeit fuhren kann,14 an dem gängigen Schönheitsideal leiden, scheint offensichtlich. Ihr Körper ist das Gegenteil von schlank, daher sind sie immer wieder abfälligen Kommentaren, Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt, was fast zwangsläufig zu Minderwertigkeitsgefühlen und Selbsthaß führen muß. Umgekehrt muß die moderne Leistungsgesellschaft Dicksein gewissermaßen zwangsläufig ächten, weil es die öfTendiche Demonstration von Disziplin- und Willenlosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Müßiggang darstellt. Auch fettleibige Menschen selbst äußern sich abfällig über ihre körperliche Erscheinung, doch ist dies 14 Im Gegensatz zu Bruch und im Anschluß an GerlinghorT/Backmund (2000, S. 19) halte ich Fettsucht (Adipositas) fiir keine Eßstörung. Fettsucht kann die Folge von Efisucht sein, aber auch andere Ursachen haben, z.B. eine Stoffwechselstörung. 33*
nur der oberflächliche Blick. Denn ihre Selbstabwertung hat nicht so sehr mit ihrem Körperbild als vielmehr mit ihrem Selbstbild zu tun. So meint Bruch, »daß die Ablehnung des Dickseins nur eine Reaktion an der Oberfläche ist; es ist ein konkretes Sinnbild von allem, was man an sich selbst ablehnt und als verachtenswert und schlecht ansieht. Viele sagen, daß ihr Dicksein lediglich das ist, was sich nach außen zeigt; ihre tiefere Scham ist die Überzeugung, daß sie im Inneren schlecht und hässlich sind« (Bruch 2001, S. 131). Indem sie im Dicksein ihren Selbsthaß materialisieren, machen sie ihn außerdem anderen zugänglich, die damit in ihre Selbstabwertung einstimmen können, indem sie sie wegen ihres Dickseins ablehnen. So stabilisiert sich ihr negativer Selbstwert über die Verkörperung ihres negativen Selbstbildes. In Hinblick auf die Identitätsrelevanz von Körperbildern gilt es zu berücksichtigen, daß sowohl Körperbilder als auch Identität keine Essentialismen darstellen, sondern sich in Relationen konstituieren (Gugutzer 2002, S. 203). So, wie sich Identität allererst als Differenzerfahrung herausbildet, resultiert das eigene Körperbild vor allem aus Vergleichen mit - in der Terminologie George Herbert Meads (1988) - dem generalisierten Anderen und mit signifikanten Anderen. Von der Rolle des generalisierten Anderen war implizit bereits immer dann die Rede, wenn es um das gesellschaftlich, das heißt, insbesondere durch Werbung, Mode und Massenmedien konstruierte Schönheitsideal ging. Für das problematische Selbstbild von Eßgestörten scheinen jedoch gerade signifikante Andere, allen voran die Eltern (und hierbei überdurchschnittlich häufig die Mutter), von enormer Bedeutung zu sein. Regelmäßig nämlich sind von Eßgestörten Äußerungen wie die folgenden zu hören: »Ich nahm im Jugendalter, so in der Zeit ab meinem 15. Lebensjahr, einige Kilo zu. Davor hatte ich immer eine knabenhafte, sehr dünne Figur. Meine Eltern machten mich bald darauf aufmerksam, denn auch für sie war eine perfekte, dünne Figur das Ein und Alles. Sie zeigten mir, daß ihnen meine fulligen Oberschenkel missfielen« (N. N. in: Gerlinghoff/Backmund 2000, S. 25). »Da Judo eine Gewichtsklassifikationssportart ist, ging es viel um Wiegen und Abnehmen. Da mein Vater mein Gewicht kontrollierte und sehr streng, teilweise mit Liebesentzug und Schlägen, auf meine Gewichtszunahme reagierte, log ich von Anfang an« (K. N. in: ebd., S. 26). 333
»Ich mag mich nicht. [...] Weil ich dick bin. Ich esse zuviel, sagt meine Mutter« (N. N. in: Bruch 2001, S. 124). In Fällen wie diesen haben die Kinder und Jugendlichen die normativen Erwartungen ihrer Eltern hinsichtlich eines schönen, perfekten (funktionierenden) oder liebenswerten Körpers internalisiert und sind bemüht, deren Wunschbildern zu entsprechen. Sehr früh haben sie als Kinder gelernt, daß ihnen die lebenswichtige Anerkennung, Wertschätzung und Liebe der Eltern dann zuteil wird, wenn sie deren Werte, Ideale und Erwartungen erfüllen. Und diese richten sich eben auch auf den Körper. So gehen in den meisten Fällen von anorektischem und bulimischem Verhalten (wobei zweiteres häufig auf ersteres folgt) Diäten voraus, die die betroffenen Mädchen insbesondere von ihren Müttern übernommen haben bzw. ihnen von ihren Müttern (mit mehr oder weniger sanftem Druck) nahegelegt wurden. Und von ihren Vätern bekamen viele das Bild vermittelt, daß schöne und damit bewundernswerte Frauen schlanke Frauen seien. Vor einem solchen Hintergrund wird es nachvollziehbar, daß das magersüchtige und bulimische Verhalten für die Betroffenen durchaus Sinn macht, erhalten sie dadurch doch soziale Anerkennung und so eine Bestätigung ihres Selbstwerts. 2.2 Körperpraxis und
Autonomie
Die Rolle signifikanter Anderer in der Entwicklung einer Eßstörung kann jedoch auch gegenteiliger Art sein. Vor allem Magersüchtige und zum Teil auch Eßsüchtige versuchen, sich durch ihr außergewöhnliches Eßverhalten den Erwartungshaltungen der Eltern zu entziehen. Sie protestieren gegen die Anforderungen der Eltern, die sehr oft mit Leistung und Perfektionismus zu tun haben, indem sie ihren Körper als Machtmittel und Medium von Autonomie und Selbstbehauptung nutzen. Autonomie, verstanden als das Gefühl, selbstbestimmt über sich und das eigene Leben verfugen zu können, wird gemeinhin als Bedingung und Ausdruck gelungener Identität15 bezeichnet (Nunner15 Der Ausdruck gelungene Identität ist normativ und wird daher in der Literatur kritisch diskutiert. Ich halte dennoch an ihm fest, da ich der Überzeugung bin, daß es Menschen gibt, die keine subjektiv empfundene gelungene Identität haben. Eßgestörte Mädchen und Frauen, Jungen und Männer sind hierfür ein Beispiel. Ihnen mangelt es, selbstverständlich von Individuum zu Individuum variierend, an 334
Winkler 1990).16 Eßstörungen sind oftmals das Resultat der durch die Familienstrukturen verhinderten Entwicklung eines solchen Autonomiegefiihls. Das gilt insbesondere für sog. »Magersuchtfamiliem (Massing/Reich/Sperling 1999, S. 146). Kennzeichnend fiir solche Familien sind Werte wie Harmonie, Leistung, Fürsorge und Dasein fiir andere (Weber/Stierlin 2001), symbiotische Beziehungsmuster, vor allem zwischen Mutter und Tochter (Selvini-Palazzoli 1982), und grenzüberschreitende Interaktionsmuster (Minuchin/Rosman/Baker 1983; Reich/Buss 2002), die vom ungefragten Eindringen in die Privat- und Intimsphäre wie Bade- und Schlafzimmer bis zum sexuellen Mißbrauch (der sich unter Magersüchtigen überdurchschnittlich häufig findet) reichen können. Die Kinder solcher Familien leben in einem Interaktionskontext, der es ihnen nicht gestattet, selbständig dem subjektiven Empfinden, Sicherheir und Orientierung im eigenen Leben zu haben, 2u den eigenen Ansichten, Meinungen, Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Empfindungen stehen zu können und das Gefühl zu haben, das auch zu dürfen, sich mit der eigenen Lebensgeschichte identifizieren zu können, ohne anhaltende (existentielle) Ängste und Selbsreweifel zu leben, ein sicheres Selbstwertgefühl und Selbstzutrauen zu besitzen, nicht an den inneren Widersprüchen und den Anforderungen von außen zu zerbrechen, kurz: das Gefühl zu haben, den eigenen Platz im Leben und der Gesellschaft gefunden zu haben oder dabei zu sein, ihn zu finden. 16 Von feministischer Seite ist daraufhingewiesen worden, daß es sich bei dem Autonomie-Konzept um ein männlich-bürgerliches Ideal handelt, das den Lebensbedingungen und -bedürfhissen von Frauen lange Zeit nicht entsprach (Bilden 1994). Im Zuge der gesellschaftlichen Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse in den letzten drei Jahrzehnten haben diese sich jedoch zum Teil erheblich gewandelt, so daß inzwischen auch für viele Frauen Autonomie nicht nur ein erstrebenswertes, sondern auch realisierbares Lebensziel darstellt. Dem steht jedoch das nach wie vor existierende Verständnis von Liebe als Bindung* gegenüber. Für nicht wenige Frauen scheint es sich deshalb eher um eine »aufgezwungene Selbständigkeit« (Beck-Gernsheim, zit. in Stahr/Barb-Priebe/Schulz 1995, S. 81) zu handeln, die es insbesondere erschwert, die traditionell auf Familie ausgerichtete Frauenrolle zu leben. Unter eßgestörten Frauen jedenfalls isr der .Anteil derer, die an der Ambivalenz zwischen traditioneller Frauenrolle, die sie in der Regel von ihren Müttern vorgelebt bekommen, und »neuen, auf das Berufsleben fokussierter Frauenrolle leiden, sehr hoch. Dasselbe trifft auf eßgestörte Jungen und Männer zu, die ebenfalls überdurchschnitdich oft mit der Erosion der traditionellen Männerrolle zu kämpfen haben (ebd., S. 79fr.)- Für Frauen wie für Männer erfüllt die Eßstörung in dieser Hinsicht die Funktion, über die Körpermanipulation ein Stück Selbst-Sicherheit zu finden angesichts der mit dem Wandel der Geschlechtsrollenidentität einhergehenden Verunsicherungen. 335
und losgelöst von den anderen Familienangehörigen zu leben. Die emotionale Bindung an die Familie ist so groß, daß eine entwicklungsgemäße Individuation nicht möglich ist (Weber/Stierlin 2001). In dieser Situation bietet sich die Magersucht als Ausweg, als Notlösung an. Die Nahrungsverweigerung wird zum Machtmittel gegen die Bindungszwänge und familialen Grenzüberschreitungen, das Hungern zur Autonomie sichernden Körperpraxis. »Sie können mich zwingen, alles zu tun, was sie wollen, (...] aber sie können mich nicht mehr zwingen, noch einen einzigen Bissen hinunterzuschlingen«, sagt eine Betroffene (zit. in von Borcke-Vogt 1992, S. 61). In dem Versuch, durch Nahrungsverweigerung Autonomie und Unabhängigkeit zu gewinnen, spielt die symbolische Bedeutung von Nahrung eine wichtige Rolle. Elterliche und vor allem mütterliche Liebe zeigt sich zuallererst ja darin, für das Überleben der Kinder aufzukommen, was heißt, sie mit Nahrung zu versorgen. Entsprechend bedeutet die Nahrungsverweigerung nicht nur einen faktischen Verzicht auf Nahrung, sondern symbolisiert zudem die Ablehnung mütterlicher bzw. elterlicher Zuwendung. In Gestalt des freiwilligen Hungerns kämpft die Magersüchtige für die Ablösung von den Eltern/ der Mutter und also für ein Stück Autonomie. Dabei ist der Körper sowohl Medium als auch Ziel dieses symbolischen Kampfes. »Hungern - meine einzige Waffe« lautet ein Buchtitel von MacLeod (1983), und diese Waffe richtet die Magersüchtige gegen ihre Ernährer. Zwischen beiden Parteien entsteht ein regelrechter Machtkampf, da Eltern üblicherweise alles Erdenkliche versuchen, ihr Kind zum Essen zu zwingen. Und in diesem Kampf, der auf dem Kampffeld Körper ausgetragen wird, triumphiert die Magersüchtige, selbst wenn der Preis dafür das eigene Leben ist. Daß der Sieg insofern ein sehr fragwürdiger ist, bloße Illusion bleibt, spielt für die Magersüchtige keine Rolle. Denn: »Diese grandiose Utopie der Autonomie verleiht der Magersüchtigen Identität« (von Borcke-Vogt 1992, S. 61). Der Körper der Magersüchtigen fungiert in der Interaktion mit signifikanten Anderen zwar als Medium, Macht über das gesamte Familiensystem auszuüben. Doch trägt die Magersüchtige diese symbolischen Kämpfe über und mit ihrem Körper letztlich nicht gegen ihre Eltern aus, sondern mit dem Ziel, sich selbst zu finden. Diese hinwiederum sind der symbolischen Macht, die der abgemagerte Körper ihres Kindes besitzt, hilflos ausgeliefert. Die Mutter einer Betroffenen drückt dies wie folgt aus: 336
»Wir waren uns sehr bald im Klaren darüber, daß unsere Tochter Magersucht hatte, aber darüber, daß ich dagegen gar nichts tun konnte, war ich mir nicht klar. Ich stritt mit ihr um jedes Stückchen Brot, versuchte ihr die ewigen Gymnastikübungen und Hindernisläufe auszureden, aber ich konnte sie nicht erreichen. [...] Ich mußte zusehen, wie sie sich innerhalb kürzester Zeit in einen Roboter verwandelte, der mit meiner Tochter kaum noch etwas zu tun hatte. Ich empfand Trauer, Mideid und vor allem Hilflosigkeit, später aber auch Wut und Aggression, als ich merkte, wie viel Macht sie mit der Magersucht über unsere ganze Familie hatte« (N.N. in: Gerlinghoff/ Backmund 2000, S. 59). Doch der Körper der Magersüchtigen ist ein ambivalenter Verbündeter in diesem Kampf, versucht er doch, auch Macht über sie selbst und ihre Bedürfnisse und Gefühle zu gewinnen. »Aus dieser Ohnmacht ihrem eigenen Inneren gegenüber ergreift die Magersüchtige die Macht über ihren Körper und versucht ihn durch Manipulationen in den Griff zu bekommen« (von Borcke-Vogt 1992, S. 66). Sie richtet die Waffe eben auch gegen sich selbst, wenn sie hungert, hyperaktiv ist und exzessiv Sport treibt. Während Magersüchtige mit dem Hungern eine radikal asketische Körperpraxis entwickeln, um sich selbst die Autonomie zu sichern, die ihnen innerhalb der familialen Interaktionsmuster verwehrt wurde, nutzen Eß- und Fettsüchtige die komplementäre Körpertechnik, um sich Autonomieforderungen zu entziehen. Die typische frühkindliche Lernerfahrung von Eß- und Fertsüchtigen besteht in einem übermäßigen Behütetwerden, das faktisch und symbolisch in einer ständigen und übermäßigen Nahrungszufuhr zum Ausdruck kommt. Bruch berichtet von einem Jungen, der bei jeder Art gezeigten Unbehagens Essen als »Allheilmittel« angeboten bekam. »Die Mutter hatte immer gespürt, daß dieses Kind >zu viel< für sie war, und sie schenkte ihm wenig Aufmerksamkeit, außer daß sie es durch Vollstopfen mit Nahrungsmitteln ruhigstellte. Die frühe Programmierung seiner Steuerungszentren wurde sein bleibendes Schema« (Bruch 2001, S. 84). Die psychoanalytische Deutung von Bruch hierzu lautet, daß durch solch ein »übermäßiges Behüten [...] eine Mutter die kindliche Entwicklung von Initiative und Autonomie [beeinträchtigt]« (ebd., S. 99). Eß- und Fettsüchtige haben es mit anderen Worten nicht gelernt, ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen. Ihr Autonomiebedürfnis, so es derin überhaupt ausgeprägt ist, stillen 3 37
sie wie die meisten anderen ihrer Bedürfhisse auch: durch übermäßiges Essen. Verglichen mit Magersüchtigen, die um Autonomie kämpfen, indem sie sich >dünne machem, sich »»entmaterialisieren« (von Borcke-Vogt 1992, S. 52), wehren sich Eß- und Fettsüchtige gegen die Forderungen signifikanter Anderer, autonom zu werden, indem sie die gegenteilige Strategie wählen, sich >breit und fett machen< und immer mehr Körper werden. Zugespitzt gesagt: In der Magersucht schwindet der Körper zugunsten des Geistes (Willens), in der Eß- und Fettsucht schwindet der Geist (Willen) zugunsten des Körpers. Für Bulimikerinnen und Bulimiker spielen Autonomiekonflikte in der Regel relativ spät» jedenfalls später als bei Magersüchtigen, eine Rolle in Hinblick auf ihr eßgestörtes Verhalten. Das hat seinen Grund darin, daß die Familienstrukturen von Bulimikerinnen sie in den meisten Fällen schon in frühen Kindesjahren dazu drängen, selbständig zu werden. Bulimikerinnen beschreiben ihre Familien als sehr konflikthaft, instabil, unbeständig (Trennung der Eltern, Tod in der Familie), chaotisch und wenig Halt gebend (Gröne 1997; Liotti 1989). Früh in ihrer Kindheit müssen sie Verantwortung für andere Familienmitglieder übernehmen, sich um sich selbst sorgen und dabei ihre eigenen, kindlichen Bedürfnisse zurückstecken. So erleben sie sich schon in jungen Jahren als sehr autonom, allerdings handelt es sich dabei eher um eine »Pseudoautonomie« (Reich/Buss 2002, S. 235). Identitätsrelevant wird der Konflikt um Autonomie typischerweise beim Auszug aus dem Elternhaus. Das ist der biographische Lebenseinschnitt, indem der/die Betroffene häufig eine bulimische Symptomatik entwickelt. »Sie beginnt mit dem Versuch abzunehmen, d.h. sich sowohl gegenüber der eigenen Leiblichkeit und Triebhaftigkeit zu behaupten (Reduktion des Körpers; Dressur des Primärtriebs Hunger), als auch, sich gegenüber anderen abzugrenzen. In den später einsetzenden bulimischen Durchbrüchen kommt die andere Seite des Konflikts, mit ihren regressiven Zügen, zum Zuge« (Habermas 1990, S. 108). Ähnlich wie die Magersüchtige versucht die Bulimikerin zunächst also, durch ihre Entmaterialierungsstrategien autonom zu bleiben - gegenüber leiblich-affektiven Regungen und signifikanten Anderen. Da ihre kindlichen Bedürfnisse so aber nicht gestillt werden, entwickelt sie die Technik des Essens und Erbrechens. Die Bulimie verspricht ihr dabei einen doppelten Gewinn: In Form immer diffiziler praktizierter Eßrituale (beginnend 338
beim ritualisierten Einkauf bestimmter Nahrungsmittel über bestimmte Zeiten, zu denen die Heißhungerattacken statthaben, der Reihenfolge der verschlungenen Nahrungsmittel bis hin zu ritualisieren Techniken des Erbrechens) ermöglicht sie es einerseits, mal nicht vernünftig, sondern kindlich maßlos zu sein und Unmengen essen zu dürfen. Andererseits vermittelt das Erbrechen - trotz der Schuld-, Scham- und Ekelgefühle, die damit auch verknüpft sind (Mennell/ Simons 1989, S. 21; 23) - das Gefühl, wenigstens in einem Bereich Sicherheit, Kontrolle und Autonomie zu besitzen, nämlich des eigenen Körpers. Denn durch das heimliche Erbrechen gelingt es Bulimikerlnnen, das Gewicht zu halten und damit nach außen die Fassade zu wahren, daß mit ihnen und in ihrem Leben alles in Ordnung sei. Die Symbolsprache dieses ritualisierten Verhaltens besagt also: Bei all den Unsicherheiten, Verunsicherungen und nicht gelebten Bedürfnissen, die mein Leben kennzeichnen, ermöglicht es mir die ritualisierte Körperpraxis der Bulimie, wenigstens in Hinblick auf meinen Körper selbstbestimmt über mein Leben verfugen zu können. 2.$ Körperpraxis und
Individualität
In der Terminologie von Mead umfasst Identität einen /- und einen Afc-Anteil, wobei /den individuellen (spontanen, kreativen, einzigartigen) und Me den gesellschaftlichen (gewohnheitsmäßigen, konventionellen, sozialen) Teil der Identität ausmacht (Mead 1988, S. 216221). Bei Eßgestörten macht sich das Me bspw. als Orientierung an dem gesellschaftlich definierten Schönheitsideal oder in Form von Schuld- und Schamgefühlen nach dem Erbrechen bemerkbar. Das /wiederum realisieren sie in der Weise, daß sie durch ihr eßgestörtes Verhalten versuchen, ein Gefühl von Einzigartigkeit und Individualität zu gewinnen. Der Wunsch nach dem Empfinden von Einzigartigkeit und Besonderheit ist eines der wichtigsten sinnhaften Handlungsmotive, auf dem die extreme Körperpraxis Eßgestörter basiert. Beispielhaft hierfür die folgenden Äußerungen zweier Magersüchtiger: »Ich wollte mit meiner Magersucht zur Elite gehören und verband damit, außergewöhnlich, etwas Besonderes, Extravagantes, Einmaliges zu sein. Ich wollte demonstrieren, daß ich ein vergeistigter Mensch bin, dem materielle Gier und Leidenschaft fremd sind. Durch meine Magersucht wollte ich erreichen, daß man über mich spricht. Zwar 339
habe ich mit meiner Krankheit nicht erreicht, zur Elite zu gehören, dennoch brachte mir meine Krankheit die Sonderstellung ein, die ich mir wünschte« (N. N. in: Gerlinghoff/Backmund 2000, S. 50). »Ich wollte mir meine Magersucht nicht nehmen lassen, eine Welt, in der ich sicher war, in der ich Bestätigung fand und wo mir keiner dreinreden konnte. Wenn ich mich auch manchmal in schlimmen Zeiten so schwach fühlte, daß ich glaubte, ohnmächtig zu werden, so empfand ich trotzdem das Gefühl der Überlegenheit. Ich hatte etwas Besonderes, etwas, das niemand nachempfinden konnte; ich konnte etwas, was die anderen nicht konnten: Ich konnte aufs Essen verzichten. Ich war stärker als alle anderen.« (N. N. in: ebd., S. 65) An diesen Zitaten läßt sich der primäre Sinn des Hungerns für Magersüchtige ablesen: Aufmerksamkeit (»man über mich spricht«), Sicherheit (»sichere Welt«), Anerkennung (»Bestätigung«), Autonomie (»wo mir keiner dreinreden konnte«), Einzigartigkeit (»konnte etwas, was die anderen nicht konnten«), Erfahrung von »Stärke«. Der zentrale subjektive Sinn, den sie ihrer extremen Körperpraxis zugrunde legen, besteht eben nicht in der Verkörperung eines bestimmten Schönheitsideals (Habermas 1994, S. 27). Vielmehr kennzeichnen zwei andere, grundlegende Werte den motivationalen Mittelpunkt magersüchtigen Handelns: Leistung und Perfektion.17 Zwar meint Leistung und Perfektion im körperlichen Sinne Schönheit, doch steht diese eindeutig im Dienste jener. Über außergewöhnliche Leistungen und Perfektion hoffen Magersüchtige wie auch Bulimikerlnnen, Anerkennung und Liebe zu erhalten. Magersüchtige und Bulimiker zeigen in der Regel auffällig gute Leistungen in der Schule, dem Studium, im Beruf und Sport. Und sie übertragen diese Leistungsorientierung auf ihren Körper: Magersüchtige, indem sie immer weniger essen, um immer dünner zu werden, Bulimikerlnnen, indem sie essen und erbrechen, um eine möglichst perfekte Figur zu erlangen. Allerdings handelt es sich dabei weniger um die Umsetzung eigener Leistungswünsche und Perfektionsbedürfnisse als viel17 Wie Birgit Steinbrenner und Martina Schönauer-Cejpek von der Universitätsklinik fiir Psychiatrie in Graz auf der Grundlage eigener beruflicher Erfahrungen mit Eßgestörten berichten, ist bei Männern die Orientierung am Leistungsideal noch stärker, die Orientierung am Schönheitsideal dagegen deudich weniger ausgeprägt als bei Frauen (w\v^v.ldiinigra2.ac.at/ainstwww/uz/aktuell/2002/heft2/ 2_02_03.html vom 15. 10. 2003). Zum Verhältnis von Perfektionismus und Eßstörungen bei Frauen siehe Grünewald-Zemsch (1995). 340
mehr um eine Pflichterfüllung und Anpassung an hohe Leistungsanforderungen aus der unmittelbaren sozialen Umwelt. Regelmäßig berichten Magersüchtige und Bulimiker, daß Leistung und Perfektion für ihre Eltern und andere sehr enge Bezugspersonen absolut zentrale Werte im Leben sind. »Manchmal fürchte ich, daß für meine Eltern Liebe nur an Äußerlichkeiten, an Leistungen und gutes Funktionieren gebunden ist.« (N. N. in: GerlinghofT/Backmund 2000, S.40) »Ich hatte immer das Gefühl, ich müßte mir das Leben überhaupt erst verdienen, etwas leisten, etwas bringen, um überhaupt leben zu dürfen. So mußte ich jeden Tag früh aufstehen, sonst hatte ich meinen Tag bereits schuldig begonnen. Jeden Tag wuchs die Angst, nicht mehr mithalten zu können mit den Ansprüchen, die die anderen an mich stellten« (N. N., in: Gerlinghoff/Backmund 2001, S. 81). »Hungern war ein wichtiges Alibi für mich, viel zu krank zu sein, viel zu schwach, um die hohen Erwartungen, die meine Eltern an mich stellten, endlich selbständig zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen, zu erfüllen« (N. N., in: ebd., S. 28). An diesen Zitaten läßt sich geradezu idealtypisch ablesen, wie Identität sich aus dem wechselseitigen Zusammenspiel von / und Me konstituiert. Magersüchtige und Bulimikerlnnen haben die Leistungsideologie, durch die sich unsere Gesellschaft auszeichnet, über ihre Eltern vermittelt bekommen und intemalisiert, ja, inkorporiert (Me). Sie folgen diesen verinnerlichten Wertvorstellungen in Form ihres eßgestörten Verhaltens, verbunden mit dem - vordergründigen Wunsch nach Einzigartigkeit und Individualität (I) - und dem eigendichen Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe. Die körperliche Schwerstarbeit, die Magersüchtige und Bulimikerlnnen in Gestalt ihrer Eßstörung leisten, ist diesem familiär vorgelebten und vermittelten radikalen Leistungsindividualismus geschuldet und im eigentlichen Sinne Identitätsarbeit. Subjektiv sinnhaft ist die Eßstörung für die Betroffenen außerdem aus dem Grund, daß in solch leistungsfixierten Familien Krankheit oftmals die einzig legitime Weise ist, Schwäche zeigen zu dürfen. Die Funktion und der Sinn der Eßstörung besteht aus ihrer Sicht entsprechend darin, mal nichts leisten und nicht perfekt sein zu müssen, sondern schwach sein zu dürfen. Mit Hilfe ihres Körpers versuchen Eßgestörte verinnerlichten Leistungsanforderungen gerecht zu werden, um so das Gefühl von Einzigartigkeit und Individualität zu gewinnen. Das kann in der quasi 34i
autistischen Weise geschehen, in der dies Magersüchtige tun, wenn sie sich in ihre eigene, »sichere Welt« zurückziehen und radikal selbstbezogen an ihrem Einzigartigkeitsgefühl arbeiten. Das kann aber auch in der Weise vor sich gehen, in der Bulimikerlnnen nach diesem Gefühl streben, wenn sie - in den Worten Bourdieus - in ihr »körperliches Kapital« (Bourdieu 1982, S. 329; 345) investieren, um hierdurch »symbolisches Kapital«, also Anerkennung und Ansehen (Bourdieu 1987, S. 215fr".), zu erzielen. Sie arbeiten an der Perfektionierung ihres Körpers in der Hoffnung, daß ihnen dadurch Anerkennung zuteil wird. Sich auf diese Weise, durch Körperpräsen tation und -inszenierung soziale Aufmerksamkeit und Wertschätzung sichern zu wollen, ist gerade für Mädchen und Jungen eine durchaus normale, altersgemäße Verhaltensstrategie im Ringen um ihre Geschlechtsidentität. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß Eßstörungen typischerweise in der Adoleszenz beginnen. Mädchen und Jungen beschäftigen sich mit dem eigenen Körper in dieser Altersphase zwangsläufig aufgrund der Veränderungen, die an und in ihm vor sich gehen. Sie nutzen ihn außerdem als Mittel der Selbstdarstellung und -Stilisierung, um soziale Identitäten zu symbolisieren und ihre Geschlechtsidentität zu finden. Dabei scheinen sich Mädchen früher darüber bewußt zu sein, »daß der Körper und seine Ausdrucksformen durch die Nahrungsaufnahme beeinflußt und gestaltet werden kann« (Stein-Hilbers/Becker 1998, S. 14). Im Vergleich mit Jungen setzen sie sich früher und ausgiebiger mit Nahrungsmitteln, Kalorien und Diäten auseinander, messen dem Schlankheitsideal eine größere Bedeutung bei, achten stärker auf ihr Gewicht und favorisieren »eher untergewichtige Körperformen als ihre persönliche Idealvorstellung« (ebd., S. 15). Mädchen lernen auch von früh auf, daß ein schöner, perfekter Körper soziale Gewinne abwirft. Der auf das körperliche Erscheinungsbild fokussierte Perfektionismus von Bulimikerinnen ist vor diesem soziokulturellen Hintergrund zu sehen. Was von außen dabei nicht zu sehen ist, von den Betroffenen aber fast immer empfunden wird, ist mit Goffman (1983) gesprochen die »Fassadenarbeit«, die sie betreiben. Sie arbeiten an der perfekten Fassade, um als etwas Besonderes und Einzigartiges wahrgenommen zu werden. Doch hinter der schönen Fassade des perfekten Körpers verbirgt sich ein, wie sie selbst sagen, »häßliches« Ich, das voller Unsicherheiten, Selbstzweifel und Ängste ist. Das sich selbst einzugestehen und die Masken 342
Fallen lassen zu können, ist der erste Schritt, sich von der Eßstörung zu verabschieden. Oder wie eine Betroffene meint: »Als ich in die Klinik kam, wollte ich an meinem Eßverhalten etwas ändern. Inzwischen weiß ich, daß es vor allem darum geht, daß ich mich selbst ändere und finde. Ich muß meine Schale, meine Rollen, das Bild, das ich und andere von mir haben, aufgeben.« (N. N. in: GerlinghofT/Backmund 2000, S. 95) 2.4 Grenzerfahrung und Selbstgewißheit absichtsvolles Hungern, Heißhungerattacken und freiwillig herbeigeführtes Erbrechen können als Grenzerfahrungen bezeichnet werden. Damit sind leiblich-affektive Zustände gemeint, die für das Individuum entweder als spürbarer Widerstand (z.B. als Schwere, Last, Engegefühl) oder als spürbare Leichtigkeit (z.B. in der Lust oder Freude, als Weitegefühl) erfahrbar werden.18 Gemeinsam ist allen Grenzerfahrungen, daß sie sich für das Individuum als leiblich-affekcive Betroffenheit bemerkbar machen (Gugutzer 2002, S. 215; vgl. auch Gugutzer 2001). In der leiblich-affektiven Grenzerfahrung wird das Individuum mit sich selbst konfrontiert, und diese Selbstkonfrontation scheint für Eßgestörte auch positiv besetzt zu sein. Angesichts der realen körperlichen Bedrohung, die mit diesen Körperpraktiken verbunden ist, stellt sich die Frage, worin deren Nutzen für die sßgestörte Person liegt. Wie es scheint, besteht fiir sie der Sinn ihrer radikalen Körperpraktiken neben den bereits genannten Identitätsispekten auch darin, daß diese auf einer leiblich-affektiven Ebene Identitätsgewinne ermöglichen. Genauer gesagt, der Identitätsgewinn des Hungerns, Vollstopfens und Erbrechens liegt offensichtlich in der Vermittlung einer spürbaren Selbstgewißheit (vgl. hierzu Gugutzer *oo2, S. 99-103). Das Hungergefühl, an dem Magersüchtige sehr wohl leiden,19 das Völlegefühl im Laufe einer Heißhungerattacke oder das 18 Hungern, Eßanfälle und Erbrechen bedeuten für die betroffene Person eine Grenzerfahrung auch in körperlicher Hinsicht, insofern durch diese Körperpraktiken organische Schäden verknüpft sind bzw. sein können, die unter Umständen zum Tod fuhren. 19 Der Ausdruck Anorexia nervosa ist insofern irreführend, da er wörtlich übersetzt »Appetitmangel nervöser Are« bedeutet, die Betroffenen jedoch nicht an Appetitmangel leiden: »Es handelt sich hier zum Teil um eine bewußte Unterdrückung des Appetits oder Hungergefühls, zum Teil um ein gestörtes Eßverhalten, das aus dem tiefverwurzelten Verlangen entsteht, mager zu sein. Aus diesem Grund 343
Zusammenspiel von Enge- und Weitegeftihl (bzw., wie es bei Schmitz genauer heißt: zwischen »Engung« und »Weitung« [Schmitz 1985}) beim Erbrechen20 sind Situationen leiblich-affektiver Selbsterfahrung, deren Evidenz unleugbar ist und dadurch Selbst-Gewißheit vermittelt. Vergleichbar mit anderem autoaggressiven Verhalten (z.B. sich Schneiden, Brennen, Schaben) werfen diese Körperpraktiken die Betroffenen in einer von ihnen als positiv bewerteten Weise auf sich selbst zurück. Sie spüren sich selbst in diesen Momenten, erleben sich selbst als gegenwärtig, und das ist eine Erfahrung, derer sie sonst mangeln und die ihnen das Gefühl gibt, überhaupt noch am Leben zu sein. So meint z.B. eine Magersüchtige: »Alles war so hoffnungslos und ausweglos. Der einzige Triumph, den ich hatte, war mein Hungern. [.. .J Es machte mir richtig Spaß, mich zu quälen, meinen Körper zu spüren, das Brennen, die Leere im Innern, den Hunger« (N.N. in: Gerlinghoff/Backmund 2000, S.24).
Selbst wenn man bei dieser Äußerung skeptisch bleibt, ob die Betroffene tatsächlich »richtig Spaß« bei ihrem Tun empfand, so spricht aus ihren Worten nichtsdestotrotz die positive Bedeutung, die sie ihrer Selbstkasteiung zuschreibt. Das »Hungern« und das (vermudich) dabei empfundene »Brennen*, die innere »Leere« und überhaupt den »Körper zu spüren« sind für sie eine Erfahrung von besonderem Stellenwert. Die Magersüchtige flieht in Gestalt dieser leiblich-affektiven Grenzerfahrungen aus einer Welt voller Hofmungs- und Ausweglosigkeit in die ihr einzig zur Verfügung stehende Welt, die ihr Sicherheit bietet: den eigenen Körper. Man kann sich vorstellen, wie groß die Verzweiflung sein muß, wenn diese Selbst-Sicherheit bzw. Selbstgewißheit mit Hilfe solch masochistischer (»mich zu quälen«) Körperpraktiken gesucht wird, die zum Teil über Jahre hin ausgeübt werden. Von besonderer Identitätsrelevanz sind Grenzerfahrungen auch in der Hinsicht, daß sie sich als Konflikt zwischen Ich und L e i b 2 ' bespricht man genauer und zutreffender von >Magersucht<.« (Vandereycken/van Deth/Meermann 2003, S. 13). 10 Nardone vergleicht die Intensität des Lustgewinns, der sich für die bulimische Person im Moment des Erbrechens einstellt, mit dem Lustgewinn einer sexuellen Aktivität (Nardone 2003, S. 79). 21 Zur Differenzierung zwischen Leib und Körper siehe Gugutzer (2002, S. i24rT.). Vereinfacht verstehe ich unter Körper den von außen wahrnehmbaren Körper, 344
merkbar machen. Konkret erfahrbar wird dieser Konflikt für das Individuum als Kampf zwischen seinem Willen und der spürbaren Widerständigkeit seines Leibes. Die Identitätsrelevanz dieses agonalen Verhältnisses zwischen Wille und Leib zeigt sich typischer weise darin, daß das Selbstwertgefuhl oder die Selbstsicherheit steigt, wenn der Wille über den Leib siegt (im umgekehrten Fall sinkt in der Regel das Selbstwertgefiihl). Von solchen Siegen, die sie bspw. auch durch exzessives Sporttreiben oder das Trotzen der Kälte durch das Tragen von wenig Kleidung erzielen, berichten Eßgestörte regelmäßig. Paradigmatisch hierfür die Äußerung einer Eßgestörten, die, wie viele andere auch, bereits vor ihr Eßstörung autoaggressives Verhalten gezeigt hatte: »Auch ich genieße es zu leiden. Ich lebe nach dem Motto: Was mich nicht tötet, macht mich hart. Oder: je tiefer ich falle, desto höher werde ich kommen. Je mehr ich ertrage, desto reiner, wahrhaftiger und geläuterter werde ich sein. Das sind alte, überkommene Weisheiten in meiner Familie. Darum bin ich immer brutal mit mir umgegangen: In eine Wunde schmierte ich brennendes Desinfektionszeug; hatte ich mir beim Spielen irgend etwas verstaucht oder geprellt, wurde der entsprechende Körperteil gerade besonders bewegt und gefordert. Ich habe mir und anderen mit meinen Verstümmelungen [...] beweisen wollen, daß ich es wert bin zu leben. Ganz extrem war das dann später in meiner Magersucht. Im Geheimen habe ich mir immer eine ganz schlimme Krankheit gewünscht, die schließlich zum Tode führt, weil sie zu spät entdeckt wurde [...]« (N. N. in: GerlinghofT/Backmund 2000, S. 41). Dieses Zitat verdeutlicht ein weiteres Mal, wie verinnerlichte Werthaltungen signifikanter Anderer handlungsleitend wirken und in einen positiven Selbstwert umgemünzt werden können: Leidensfähigkeit ist in dieser Familie ein zentraler Wert, und die Eßgestörte hat diesen scheinbar frühzeitig in eigene Körpertechniken umgesetzt. Die Leidenserfahrungen, von denen sie spricht, stellen zweifelsohne Grenzerfahrungen dar, aus denen sie einen positiven Selbstwert zu ziehen vermochte. Ihr Wille behielt im Kampf gegen ihr leiblichaffektives Betroffensein eindeutig die Oberhand. (Nur der totale Triumph, der für sie scheinbar im zu-Tode-Hungern bestanden hätte, blieb ihr verwehrt.) Was hier deutlich wird, ist, wie im Medium der der instrumentcll und/oder expressiv eingesetzt werden kann, und unter Leib den von innen wahrgenommenen, gespürten Körper. 345
Beherrschung leiblich-affektiver Bedürfnisse und Empfindungen (zu denen insbesondere auch sexuelle Empfindungen zählen) versucht wird, Kontrolle über das eigene Leben und sich selbst zu gewinnen. 2.5 Leib- und Körperkontrolle als (illusionäre) Selbstkontrolle
Wollte man die subjektive Sinnhaftigkeit des selbstschädigenden Verhaltens von Eßgestörten in einem Satz zusammenfassen, so könnte man das anschließend an das zuletzt Gesagte wie folgt tun: Der Sinn einer Eßstörung besteht für die betroffene Person in entscheidender Weise darin, mit Hilfe der Kontrolle über den eigenen Körper Selbstkontrolle zu gewinnen. Im Medium der Körperkontrolle versuchen Eßgestörte, ihre Selbstzweifel, Versagensängste, Unsicherheiten etc. zu beherrschen. Sie wählen diese illusionäre Lösung, denn um eine sol che handelt es sich, um vermittels der Beherrschung ihrer leiblichen Bedürfnisse, Triebe und Affekte jene Sicherheit und Orientierung in ihrem Leben zu finden, die ihnen auf anderem Wege versagt geblieben ist. Dieser Illusion geben sich nun keineswegs nur Eßgestörte hin. Im Gegenteil handelt es sich bei dieser Idee, mit Hilfe der Kontrolle leiblich-affektiver Regungen und körperlicher Praktiken das eigene Selbst zu stärken, um ein weit verbreitetes Phänomen, dem ein tiefgreifender soziohistorischer Prozeß zugrunde liegt: der Zivilisationsprozeß, wie er sich etwa im europäischen Abendland seit dem 13. Jahrhundert vollzogen hat. Norbert Elias (1976) hat in seiner Rekonstruktion dieses Zivilisationsprozesses aufgezeigt, wie es durch eine fortschreitende funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und der damit zusammenhängenden Zunahme wechselseitiger Abhängigkeiten der Menschen voneinander zu einem stetigen Zurückdrängen des spontanen, affekt- und triebgeleiteten Verhaltens kam. Kennzeichnend für diesen Prozeß war unter anderem ein Wandel in der Art der Kontrolle von Affekten, Trieben und Emotionen. An die Stelle externer, durch gesellschaftliche Sanktionen unterstützte Kontrollen, sog. »Fremdzwängen«, traten zunehmend »Selbstzwänge«, die von einem internen Kontrollapparat, dem Über-Ich in Freuds Terminologie, ausgeübt werden. Die stetige Selbstkontrolle manifestierte sich in einem zunehmend zivilisierten Verhalten, unter anderem auch 346
beim Essen. Resultat dieser »Zivilisierung der Eßlust« (Mennell 1986) war und ist, daß mit normalem Eßverhalten heute wie selbstverständlich ein selbstkontrolliertes Eßverhalten verbunden wird. Maßloses und ungezügeltes Essen oder schnelles Hineinschlingen der Speisen gelten schlicht als unzivilisiert. Mennell und Simons sind der Ansicht, daß Eßstörungen als klinisches Symptom überhaupt erst vor diesem soziohistorischen Hintergrund entstehen konnten, daß »sich über einen langen Zeitraum hinweg soziale Standards im Hinblick auf erwartete Selbstkontrolle über das Essen entwickelt haben, die heute weitaus stärkere Anforderungen an einzelne Individuen stellen als zu früheren Zeiten« (Mennell/Simons 1989, S. 12; Herv. getilgt). Eßgestörte treiben sozusagen den sozialen Zwang zum selbstkontrollierten Eßverhalten auf die Spitze. Das gemeinsame Merkmal der heutigen Formen von Eßstörung jedenfalls ist die Angst der Betroffenen vor dem Kon troll verlust über sich, ihren Körper und ihr Eßverhalten, und, so sie denn in ihren Augen die Kontrolle - etwa im Falle einer Freßattacke - verloren haben, die aus diesem Kontrollverlust resultierenden Schuld- und Schamgefühle und Selbstabwertungen. Die Körperkontrolle von Eßgestörten äußert sich bei Magersüchtigen und Bulimikerlnnen bspw. in Form von Diäten, dem Zählen von Kalorien, täglichem, auch mehrfachem Wiegen, der Auswahl bestimmter, >guter< (= kalorienarmer) Nahrungsmittel, deren Zubereitung und die Reihenfolge ihrer Aufnahme, Ort und Zeit des Essens etc. Sie entwickeln, wie man mit Foucault sagen könnte, spezifische »Disziplinartechniken«, mittels derer sie ihr Eßverhalten kontrollieren und mithin ihren Körper zu einem »fugsamen« Objekt machen (Foucault 1976), aus dem sie positive Identitätseffekte ziehen. Foucaults These, wonach Macht nicht nur repressiv wirke, sondern sehr wohl produktive und positive Resultate zeitigen könne (siehe hierzu auch Foucault 1983), bestätigt sich so auch bei Magersüchtigen und Bulimikerlnnen: Indem sie ihre leiblichen Bedürfnisse durch entsprechende Körperpraktiken kontrollieren und disziplinieren, gewinnen sie - aus ihrer Perspektive - an Selbstkontrolle und Selbstermächtigung. Von Schuld-, Scham- und auch Ekelgefühlen ob der nicht gelungenen Körperkontrolle berichten Eß- und Fettsüchtige. Sie schämen sich ihrer maßlosen Eßat tacken und ihres Dickseins und sie leiden unter ihrem Kontrollverlust beim Essen (Bruch 2001, S. 134). Diesen 347
Kontrollverlust erleben Eßsüchtige ganz ähnlich wie Bulimikerlnnen und Magersüchtige als Willensschwäche. Genauer gesagt nehmen Eßgestörte eine radikale Trennung zwischen ihrem Körper und ihren leiblichen Bedürfnissen einerseits, ihrem Willen bzw. ihrem Ich andererseits vor. Eß- und fettsüchtige Menschen »erleben ihren Körper nicht wirklich als ihren eigenen, sondern so, als ob er unter Einfluß anderer stehe. Sie glauben, keine Kontrolle über ihren Körper und dessen Funktionen zu haben« (ebd.). Sinngleich sagt Gröne von bulimischen Frauen, daß diese ihren Körper »als etwas von ihnen Getrenntes« wahrnehmen, er wird »zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Objekt; bestimmte Aspekte ihres organischen Funktionierens betrachten sie als nicht zu ihrem Selbst gehörig. Diese Trennung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, ist eine Spaltung, der zufolge es den Frauen sinnvoll erscheint, gegen die vom Körper ausgehenden Wünsche und Regungen zu kämpfen und Versuche zu unternehmen, ihn zu beherrschen und zu disziplinieren« (Gröne 1997, S. i n ) . Und auch in dem folgenden Zitat einer Magersüchtigen kommt diese Trennung von Ich und Leib/Körper zur Sprache, die sie als eine außerhalb ihres Selbst liegende Macht, die zum Hungern zwingt, erfahrt. »Kalorienzählen wurde zu meinem Lebensinhalt. Es machte mir wahnsinnigen Spaß und ich war stolz, daß ich so diszipliniert war und alles im Griff hatte. Ich dachte mir, dann würde ich so bleiben, wie ich bin, doch das war nicht so. Ich nahm immer mehr ab, nicht so, daß ich es richtig mitbekam, denn ich wog mich nur selten. Aber dann verlor ich absolut die Kontrolle über mich selber. Es war, als würde ich das gar nicht tun, sondern jemand anderes in mir zwang mich, nicht aufzuhören, jeden Tag weniger Kalorien zu mir zu nehmen und jeden Tag mehr zu trainieren. Auch als ich das längst nicht mehr wollte. Als ich sogar Angst hatte, weiter abzunehmen, zwang mich irgend etwas in mir, es dennoch zu tun.« (N. N. in: GerlinghofT/Backmund zooo, S. 26) Eßgestörte sprechen von einer Macht, die außerhalb ihres Selbst liegt und die absolute Kontrolle über ihren Körper hat, was sie als Verlust der Selbstkontrolle empfinden. Diese Macht sitzt in ihrem Körper, ist ihr Leib (im Sinne leiblich-affektiver Regungen und Bedürfnisse). Sie kämpfen gegen diese Macht an, in der Hoffnung, dadurch ihre Selbstkontrolle rückzugewinnen. Dieser Kampf ist jedoch zum Scheitern verurteilt, da er eine Trennung voraussetzt, die im all348
täglichen, »ungestörten Lebensvollzug«, wie es bei Plessner (1982, S. 360f.) heißt, nicht gegeben ist. Mit Plessner (1975) läßt sich diese Trennung als Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben bezeichnen. Jeder Mensch steht vor der anthropologisch bedingten Aufgabe, so Plessner, einen Ausgleich zwischen seinem Sein im Leib und seinem Körperhaben herzustellen. Meint Leibsein das zuständliche, spürbare Hier-und-JetztSein, so Körperhaben die gegenständliche, expressive und/oder instrumentelle Nutzung des Körpers. Es ist dieser »unaufhebbare Doppelaspekt« (ebd., S. 292) von Leibsein und Körperhaben, der die Grundlage personaler Identität bildet, sofern eine Balance zwischen diesen beiden fundamentalen Aspekten menschlicher Existenz gelingt (Gugutzer 2002). Bei Eßgestörten ist dies nicht der Fall. Ihre Identitätsfindung misslingt, unter Anderem weil sie das Verhältnis von Leibsein und Körperhaben in ein Ungleichgewicht bringen. Ihr Handeln zielt darauf, das Haben des Körpers gegen das Sein im Leib auszuspielen. Über die Manipulation ihres Körpers versuchen sie, sich und ihr Leben unter Kontrolle zu bekommen. Dies ist vor dem Hintergrund, daß sie im Eßanfall, im Erbrechen oder beim unkontrollierten Hungern die Balance zwischen Leibsein und Körperhaben als in der Weise nicht mehr gegeben erleben, daß die Eßstörung sie »hat«,22 durchaus nachvollziehbar. Sie erfahren sich nicht mehr als Habende, sondern als Gehabtwerdende, womit »fast immer Unsicherheit, Ängstlichkeit und Ratlosigkeit verbunden« sind (von Borcke-Vogt 1992, S. 16). Davon zeugt auch das zuletzt genannte Zitat. Den Kontrollverlust, von dem die Magersüchtige berichtet, erlebt sie als Gehabtwerden: Nicht sie hat ihren Körper, sondern ihr Körper (ihre Eßstörung) hat sie. Sie erlebt sich als Opfer einer fremden, nicht zu ihr gehörenden Macht, die sie bedroht. Die typische Reaktion auf eine solche Bedrohung besteht paradoxerweise darin, und das ist ein Indikator für den Sucht-Charakter dieses Syndroms, »mehr desselben« (Watzlawick/Weakland/Fish 1974) zu tun, also noch mehr Körperkontrolle auszuüben, anstatt sich den leiblichen Bedürfnissen zu ergeben. Die Macht, die die Magersüchtige zum Hungern und Trainieren zwingt, sitzt eben nicht außerhalb ihres Selbst, auch wenn sie das so beschreibt, sondern in ihrem Selbst. Sie erlebt diese Macht als ihr Leibsein, als spürbaren 22 »In der Pathologie gilt jedenfalls, daß alles, was ich habe, auch mich hat.« (Plügge, zic. in von Borckc-Vogt 1992. S. 16).
349
Drang zum Hungern und Trainieren, und sie bewertet dies als Bedrohung, als Gehabtwerden. Der logische Irrtum besteht dann darin zu glauben, durch noch mehr Kontrolle (Körperhaben) sich dieser Bedrohung entziehen zu können, denn das verstärkt nur den Kampf zwischen Leibsein und Körperhaben. Die »Lösung« bestünde demgegenüber im »weniger desselben« (ebd.), in weniger Körperkontrolle. Dies nämlich würde bedeuten, das Leibsein sein lassen, akzeptieren zu können und damit sich selbst anzunehmen und anzuerkennen. Solange jedoch das Leibsein klein gehalten wird, indem es als groß und mächtig bewertet und deshalb das Körperhaben verstärkt wird, solange setzt sich dieser Kampf weiter fort. Hirsch spitzt dieses rypische Verhalten in der Formulierung zu, Eßgestörte ersetzten das Leibsein durch das Körperhaben (Hirsch 1998, S. 93). Da sie keine Möglichkeit sehen, sein zu können, den eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Empfindungen und Regungen (vertrauen zu können, geben sie sich der Illusion des Habens hin. Der Freßanfall einer Bulimikerin bspw. bedeutet die Einverleibung einer Unmenge an Nahrungsmitteln, die jedoch, noch bevor sie zum Sein werden können, gehabt, nämlich erbrochen, werden. So bewahrt sich die Bulimikerin für den Moment die Illusion, die Kontrolle über sich und ihren Körper zu besitzen. Doch ist das ein Pyrrhussieg. Das Leibsein läßt sich zwar kurzzeitig und durchaus wiederholt besiegen, jedoch nicht endgültig. Und wenn, dann ist der Preis dafür sehr hoch: das eigene Leben. Vor diesem Hintergrund stehen Eßgestörte vor der Aufgabe zu lernen, ihr Leibsein und Körperhaben in ein Gleichgewicht zu bringen. Das heißt, sie müssen lernen, ihre Körperkontrolle einzuschränken und ihren leiblich-affektiven Empfindungen und Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Sie müssen lernen, daß es kein Zeichen von Schwäche oder Selbstkontrollverlust ist, den leiblichen Bedürfnissen nachzugeben, sondern von Stärke und Selbstermächtigung. Nur auf diesem Weg gelangen Eßgestörte zur Befriedigung ihrer eigentlichen Bedürfnisse nach Anerkennung, Zuneigung und Liebe. Eßgestörte müssen mit anderen Worten allererst lernen, ihre Eßstörung als einen Teil ihrer selbst zu akzeptieren, um sich selbst akzeptieren zu kön-
350
3. Fazit Eßstörungen sind ein zeit- und kulturspezifisches Phänomen, auf das eine stetig wachsende Zahl junger Frauen und Männer zur Lösung ihrer Identitätsbedrohungen zurückgreift. Die extremen Körperpraxen von Eßgestörten sind Reaktionen auf extreme psychische und soziale Belastungen, die nahezu ausschließlich moderne, fortgeschrittene Gesellschaften hervorbringen. Eßstörungen sind so gesehen ein Symbol für den >Gesundheitszustand< spätmoderner Gesellschaften. Mit Hans-Peter Dreitzel könnte man sagen, Eßstörungen symbolisieren »die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft« (Dreitzel 1972). Sie versinnbildlichen die psychischen Kosten, die eine krankhaft auf Leistung, Disziplin, Willensstärke, Selbstkontrolle und -Verantwortung ausgerichtete Gesellschaft verursacht. Eßgestörte bezahlen diese Kosten mit ihrem Körper. Ihr Versuch, im Medium ihres Körpers einen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen, familiär vermittelten Anforderungen und ihren individuellen Bedürfnissen herzustellen, mißlingt jedoch. Eine Eßstörung ist immer nur eine »imaginäre Lösung« (Helfferich 1994, S. 146), die Illusion einer subjektiv als gelungen empfundenen Identität. Dennoch macht sie Sinn für die Betroffenen, sichert sie doch das psychische Überleben inmitten eines problematischen sozialen Kontextes.
Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (Hg.) (1994): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Becker, A./R Burwell/St. Gilman/D. Herzog/P. Hamburg (2002): Eating behaviors and attitudes following prolonged exposure to television among ethnic Fijian girls, in: British Journal of Psychiatry, 180, 509-514. Bilden, H. (1994): Feministische Perspektiven in der Sozialpsychologie am Beispiel der Bulimie, in: H. Keupp (Hg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 147-185.
Borcke-Vogt, S. von (1992): Die Bedeutung des Körpers für die Magersucht. Würzburg: Med. Diss., Universität Würzburg. 351
Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bruch, H. (2001): Eßstörungen. Zur Psychologie und Therapie von Übergewicht und Magersucht. Frankfurt am Main: S. Fischer. Brumberg, J. J. (1994): Todeshunger. Die Geschichte der Anorexia nervosa vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main/New York: Campus. Buchholz, H. (2001): Die verzehne Frau. Anorexie und Bulimie im Spiegel weiblicher Subjektivität. Opladen: Leske & Budrich. Devlin, M.J./A. Goldfein/I. Dobrov (2003): What is this thing called BED? Current Status of binge eating disorder noscology, in: International Journal of Eating Disorder, 34, 2-8. Diedrichsen, I. (1991): Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen bei psychogenen Eßstörungen, in: Medizin Mensch Gesellschaft, 16, 229-237. Douglas, M. (1974): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main: S. Fischer. Dreitzel, H.-P. (1972): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart: Enke. Elias, N. (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. I und II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Erikson, E.H. (1973): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Essen, C. von/T. Habermas (1989): Hysterie und Bulimie. Ein Vergleich zweier ethnisch-historischer Störungen, in: A. Kämmerer/B. Klingenspor (Hg.), Bulimie. Zum Verständnis einer geschlechtsspezifischen Eßstörung. Stuttgart: Kohlhammer, 104-123. Feistner, R. (1997): Körper und Identität am Beispiel der Eßstörungen, in: Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 29, 513-536. Fichter, M. M./R. HofTman (1989): Bulimia beim Mann, in: M. M. Fichter (Hg.), Bulimia nervosa. Grundlagen und Behandlung. Stuttgart: Enke, 76-86. Foucault, M. (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, M. (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gerlinghoff. M./H. Backmund (2000): Was sind Ess-Störungen? Ein kleines Handbuch zur Diagnose, Therapie und Vorbeugung. Weinheim/Basel: Beltz. 35*
Gerlinghoff, M./H. Backmund (2001): Magersucht. Anstöße zur Krankheitsbewältigung. München: dtv. Gerlinghoff, M./H. Backmund (2004): Magersucht und andere Eßstörungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2, 23-29. Goffman, E. (1983): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper. Gröne, M. (1997): Wie lasse ich meine Bulimie verhungern? Ein systernischer Ansatz zur Beschreibung und Behandlung der Bulimie. Heidelbeig: Carl-Auer-Systeme. Grünewald-Zemsch, G. (1995): Was hat Perfektionismus bei Frauen mit Eßstörungen zu tun?, in: R. Feistner (Hg.), Der psychische Hunger. Aspekte von Eßstörungen. Geesthacht: Neuland, 63-74. Gugutzer, R. (2001): Grenzerfahrungen. Zur Bedeutung von Leib und Körper für die personale Identität, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 25, 69-102.
Gugutzer, R. (2002): Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Gugutzer, R. (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript. Habermas, T. (1990): Heißhunger. Historische Bedingungen der Bulimia nervosa. Frankfurt am Main: S. Fischer. Habermas, T. (1994): Geschichte der Magersucht. Eine medizinpsychologische Rekonstruktion. Frankfurt am Main: S. Fischer. Haußer, K. (1995): Identitätspsychologie. Berlin u. a.: Springer. Helfferich, C. (1994): Jugend, Körper und Geschlecht. Die Suche nach sex\ieller Identität. Opladen: Leske & Budrich. Hirsch, M. (1998): Selbstbeschädigung, Autoerotismus und Eßstörungen zur Psychodynamik des Körperagierens. In: psychosozial, 21, 93-103. Klingenspor, B. (1989): Bulimarexia: Die Psychologie eines soziokulrurellen Phänomens, in: A. Kämmerer/B. Klingenspor (Hg.), Bulimie. Zum Verständniseiner geschlechtsspezifischen Eßstörung. Stuttgart: Kohlhammer, 71-87. Lausus, N.l. (2002): Die Codierung des Körpers. Eßstörungen - Anorexia nervosa - im soziokulturellen Kontext der modernen Wohlstandsgesellschaft. Konstanz: Hartung-Gorre. Liotti, G. (1989): Ein kognitiv-interpersonales Verständnis der Bulimia nervosa, in: A. Kämmerer/B. Klingenspor (Hg.), Bulimie. Zum Verständnis einer geschlechtsspezifischen Eßstörung. Stuttgart: Kohlhammer, 31-48. MacLeod, S. (1983): Hungern, meine einzige Waffe. Der verzweifelte Kampf eines jungen Mädchens um seine Identität. Autobiographischer Bericht über die Magersucht. München: Kösel. Massing, A./G. Reich/E. Sperling (Unter Mitarbeit von H. Georgi und 353
E. Wöbbe-Mönks) (1999): Die Mehrgenerationen-Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Mead, G. H. (1988): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (Mit einer Einleitung herausgegeben von Charles W. Morris). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mennell, St. (1986): Über die Zivilisierung der Esslust, in: Zeitschrift für Soziologie, 15, 406-421. Mennell, St./K. Simons (1989): Die Soziologie der Bulimie, in: A. Kämmerer/B. Klingenspor (Hg.), Bulimie. Zum Verständnis einer geschlechtsspezifischen Eßstörung. Stuttgart: Kohlhammer, 11-30. Minuchin, S./L. Rosman/L. Baker (1983): Psychosomatische Krankheiten in der Familie. Stuttgart: Klett-Cotta. Nardonc, G. (2003): Systemische Kurztherapie bei Ess-Störungen. Einfuhrung und Fallstudien (Mit einem Vorwort von Paul Watzlawick). Bern u. a.: Huber. Nunner-Winkler, G. (1990): Jugend und Identität als pädagogisches Problem, in: Zeitschrift für Pädagogik, 36, 671-685. Piessner, H. (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/ New York: de Gruyter. Piessner, H. (1982): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in: Ders., Gesammelte Schriften VII: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 201-387. Reich, G. (2003): Familientherapie der Eßstörungen. Göttingen u. a.: Hogrefe. Reich, G./C. Buss (2002): Familienbeziehungen bei Bulimie und Anorexie, in: Familiendynamik, 27, 231-258. Rittner, V. (1989): Körperbezug, Sport und Ästhetik. Zum Funktionswandel der Sportästhetik in komplexen Gesellschaften, in: Sportwissenschaft, 19, 359-377Schmidt, G. (1989): Bulimie aus der Perspektive der Systemischen Familientherapie, in: A. Kämmerer/B. Klingenspor (Hg.), Bulimie. Zum Verständnis einer geschlechtsspezifischen Eßstörung, Stuttgart: Kohlhammer, 4970. Schmitz, H. (1985): Phänomenologie der Leiblichkeit, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeil. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven. Paderborn: Junfermann, 71-106. Schulze, G. (1992): Die Erlebnisgesellschart. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main/New York: Campus. Selvini-Palazzoli, M. (1982): Magersucht. Von der Behandlung einzelner zur Familientherapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Sprengel, A. (1992): Frauen zwischen Schlanksein und Dicksein in Gesellschaften des Nahrungsmittelüberflusses. Erklärungsansätze zur Ent354
stehung von Eßstörungen. Flensburg: Pädagogische Hochschule Flensburg. Stahr, I./I. Barb-Priebe/E. Schulz (1995): Eßstörungen und die Suche nach der Identität. Ursachen, Entwicklungen und Behandlungsmöglichkeiten. Weinheim/München: Juventa. Stein-Hilbers, M./M. Becker (1998): »Wie schlank muß ich sein, um geliebr zu werden?« Zur Prävention von Eßstörungen. Braunschweig: Langelüddecke. Steinbrenner, B./M. Schönauer-Cejpek (2003): Ess-Störungen, in: www.kfunigraz.ac.at/ainsrwww/aktuell/2002/hert2/2_02_03. html vom 15. 10. 2003.
Thies, Ch.J. (1998): Bulimie als soziokulturelles Phänomen. Pfaffenweiler: Centaurus. Turner, B. S. (1982): The government of the body: medical regimens and the rationalization of diet, in: The British Journal of Sociology, 33, 254-269. vandereycken, W./R. van Deth/R. Meermann (2003): Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz v7atzlawick, P./J. Weakland/R. Fish (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern/Stuttgart: Huber. Weber, G./H. Stierlin (2001): In Liebe entzweit. Ein systemischer Ansatz zum Verständnis und zur Behandlung der Magersuchtsfamilie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Weber, M. (1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J. C. B. Mohr (UTB), 17-206.
355
Ronald Hitzler und Anne Honer Körperkontrolle Formen des sozialen Umgangs mit physischen Befindlichkeiten i. Probleme auf dem Weg zu einer Leibtheorie des Handelns Wenn wir im folgenden Aspekte dessen thematisieren, was wir >Körperkontrolle< nennen, dann rekurrieren wir damit zum einen auf ein langanhaltendes, mit unseren anderen Befaßtheiten - insbesondere unseren ethnographischen Explorationen in multiplen kleinen Lebens-Welten - immer sozusagen mehr oder weniger sichtbar mitlaufendes Forschungsinteresse an einer Handlungstheorie des Körpers und an einer Körpertheorie des Handelns (vgl. z.B. Hitzler 1982, 1993, 1998, 2002; Hitzler/Pfadenhauer 1998; Honer 1986 und 1999). Zum anderen nehmen wir mit diesem Interesse an Körperkontrolle natürlich grundsätzlich, wenngleich auch keineswegs der Logik und Methodik ihres Denkens folgend, bezug auf Autoren wie z.B. Michel Foucault (1976), der ja den Zusammenhang von Disziplinierungstechniken und Herrschartsinteressen exemplarisch an Veränderungen des Strafsystems am Ende des 18. Jahrhunderts aufgewiesen hat: Während zuvor die souveräne Staatsmacht ihre Interessen eher punktuell und eher in Form von harten Begrenzungen und exemplarischen Zwängen durchsetzte, begann nunmehr die Disziplinarmacht, Geist und Körper der von ihr kontrollierten Individuen zu infiltrieren und ihre Interessen durch deren Selbst-Kontrolle zu verstetigen. Ebenso wichtig für unsere Beschäftigung mit Körperkontrolle wie Foucault ist aber auch etwa Nancy Henley (1988), die sich mit dem Dominanzgebaren von Männern im Umgang mit Frauen beschäftigt hat: (Geschlechtsspezifische) Körperstrategien dienen ihr zufolge dazu, Statusunterschiede deutlich zu machen, Distanz herzustellen, und im weiteren Sinne eben auch dazu, gesellschaftliche Machtstrukturen zu erzeugen und zu verfestigen. Asymmetrie im Körperverhalten, Dominanzgebaren etwa, demonstriert demnach Macht- und 356
Statusansprüche. Und Henleys Befunde wiederum werden übrigens auch durch jene Untersuchung von Erving Goffman (1981) weitgehend unterstützt, in der dieser das Männer-Frauen-Verhältnis, vor allem anhand von Reklamefotos, analysiert und dabei u.a. darauf aufmerksam gemacht hat, daß Asymmetrien in der verbalen und picturalen Geschlechterpräsentation weniger im >Biogramm< der Gattung angelegt als kulturell je spezifisch erhandelt zu sein scheinen. Derlei Ansätze sind für uns in einem ganz weiten Sinne - mehr oder weniger dezidiert - >Handlungstheorien< bzw. Be-Handlungstheorien des Körpers (vgl. hierzu Mauss 1979). Sie liefern notwendige aber nicht hinreichende Fundamente einer allgemeinen Körpersoziologie bzw. einer Leibtheorie des Handelns - die wir bislang auch eher als Projekt, denn als Resultat vor Augen haben: Das Handeln selbst (in einem emphatischen Sinne) ist als eingebettet, als eingelassen zu begreifen in die fragloseren Vollzüge des menschlichen Lebens: in das schlichte Erleben und das absichtslose Reagieren. Denn: Ich bin mein Leib, noch ehe ich meinen Körper habe. Die Wahrnehmung des Körpers, das Wissen vom Körper basiert konstitutionslogisch auf dem Erleben des Leibes. Leib sein (nicht etwa: Körper haben) ist nicht nur Voraussetzung meines Erlebens, Leib sein ist meinem Erleben vielmehr unabdingbar (präreflexiv) mitgegeben: Ich wende mich der Welt von meiner Leiblichkeit her zu. Um aber etwas über meinen eigenen Körper (in der Welt) zu erfahren, muß ich mich mir selbst >von außen< nähern. D. h., der erlebte Leib ist nicht Objekt. Vielmehr ist das, was ich >objektiv< über den Leib weiß, seine Körperhaftigkeit. Ich weiß um den Leib, um meinen Leib, als einem Körper durch Rückschlüsse von anderen Körpern (z.B. durch Beobachtung) auf meinen eigenen Körper bzw. durch Mitteilungen anderer (z.B. durch Mediziner) über meinen Körper. Ich habe meinen Leib als Körper - wie andere Körper, Dinge, Objekte: von einem Standpunkt außerhalb dieses Körpers (vom Standpunkt des und der anderen aus). D. h., ich weiß nichts von meinem Leib, was ich nicht von ihm als einem Körper wüßte - außer daß ich mein Leib bin (vgl. Plessner 1981 und 1983; vgl., auch Thomas 1996, Gugutzer 2002). Meine leibhaftige Körperlichkeit ist, ob ich es will oder nicht, ein von mir nur beschränkt kontrollierbares - Anzeichenfeld für den im Gegenüber fokussierten öffentlichen >Blick< (vgl. Sartre 1991). Denn in der Wahrnehmung durch den (generalisierten oder konkreten) Anderen, in der sich Öffentlichkeit schlechthin als subjektive Erfah357
rung konstituiert, verkehrt sich - als Konsequenz der dialektischen Eifahrung meiner Leiblichkeit - die Subjekthaftigkeit meines Erlebens in das Erleben meiner selbst als einem prinzipiell öffentlichen Objekt. D. h., auch all *//> Aktivitäten, die nicht kommunikativ intendiert sind, geben Auskunft über mich, über meine Stimmung(en), e\entuell auch über meine Bedürfhisse, vielleicht sogar über meinen Charakter (vgl. Argyle 1979). Auf den Bühnen des sozialen Lebens erscheint der Körper somit ursprünglich als symbolische Membrane« zwischen subjektiven inneren Zuständen< und kollektiven Orientierungsmustern; oder anders gesagt: Kundgebung basiert auf Wahrnehmung, der Ausdruck folgt, w.e Merleau-Ponty (1966) sagt, dem Eindruck, und andererseits beherrscht das Subjekt den Ausdruck, seine körperlichen Kundgaben, mir bedingt: Lachen und Weinen etwa überwältigen es >ursprünglich< eilfach (vgl. Plessner 1982). Auch die Art, wie man Dinge tut (oder lä3t), z.B. wie man sich bewegt oder wie man spricht, verweist >urspünglich< eher auf das, was bzw. wie man ist, als darauf, was man vermag. In diesem Sinne hebt sich auch das soziale Handeln, in Sonderheit dis uns besonders nachdrücklich interessierende strategische und diamatische Handeln, kurz: die wechselseitige Vermittlung qua Inszenierung, stets ab von jenem kulturell fraglosen Hintergrund des Mimetischen, des Sittlichen und Seriellen, auf den Konrad Thomas insbesondere (aber keineswegs nur) in seiner Schrift über >Rivalität< (1990, S. 115-118) verweist: »Bei Sitte geht es immer um selbstverstindliches Handeln, um selbstverständliche Wahrnehmung, um unbezweifelbare Wahrheiten, die ja in ihrer Besonderheit nur unter zwei Bedingungen auffällig werden: einmal gesellschaftsintern, wenn sie arigezweifelt bzw. nicht befolgt werden. Zum anderen, wenn Begegnungen zwischen Kulturen stattfinden. In beiden Fällen taucht etwas auf, was bisher für unmöglich gehalten wurde. [...] In unserer Zeit und in manchen früheren Zeiten fällt Sitte dadurch auf, daß sie >streng< ist; sie fällt erst auf, wenn nicht ihr entsprechend gehandelt wird. [...] [Denn:] Sitte ist das, was man braucht, ohne es zu wissen.« (Vgl. in diesem Sinne natürlich auch das Habitus-Konzept von Bourdieu; vgl. mit deutlich handlungstheoretischer Färbung Meuser 2002).
Im - indirekten - Anschluß also auch hierauf, d.h. auf die Bedeutung sozialer Eingelebtheiten als Basis des (historisch) je Auffälligen, 358
werden nunmehr Formen und Variationen des sozialen Umgangs mit einem universalhistorisch und interkulturell vorfindlichen Phänomen einer physischen Befindlichkeit skizziert, das ebenso alltäglich wie in der Soziologie, auch in der Körpersoziologie, als Thema anhaltend vernachläßigt ist:
2. Formen der kulturellen Bewältigung der Menstruation »Der Fluß kommt, er tröpfelt, er tröpfelt, er verebbt - er ist vorbei«, mit dieser Redewendung beschreiben die Trobriander die monatliche Desquamationsphase der Frau (vgl. Malinowski 1979, S. 128). Das melanesische Inselvolk gehört zu den wenigen Ausnahmen naturvölkischer Gesellschaften, die die Menstruation nicht mit Tabus belegen. Bei der überwiegenden Mehrheit der Kulturen findet sich jedoch die Vorstellung, daß das Menstruationsblut >unrein< sei und >verunreinigend< wirke. Auch in der europäischen Medizin hatte die Verunreinigungsthese lange Bestand und verlor erst im Laufe des 16. Jahrhunderts an Bedeutung (vgl. Simon 1993), während im Volksglauben bis in das 20. Jahrhundert und in manchen Regionen und Schichten bis auf den heutigen Tag die Auffassung von der verderblichen Kraft< des Menstrualblutes überdauert hat (vgl. Müller 1984; Püschel 1988; Hering/Maierhof 1991). Man war (und ist) der Auffassung, daß, wenn menstruierende Frauen in Berührung oder auch nur in die Nähe von Bier, Wein, Essig oder Milch kämen, diese Flüssigkeiten schlecht würden (vgl. Gelis 1989). Menstruierenden Frauen war es nicht erlaubt, z.B. Brot und dergleichen zu backen oder beim Schlachten, Wursten und Früchte Einkochen zu helfen. Frauen sollten während dieser Tage< keine Filme in Photo- oder Röntgenlabors entwickeln. In manchen Berufszweigen wurden sie gar nicht erst zugelassen: so etwa in den Zuckerraffinerien oder Champignon nieres in Frankreich, im Obstund Blumenhandel in Spanien, Italien und teilweise auch in Deutschland. Außerdem sollen sich Frauen während der Menses keine Dauerwellen machen lassen, kein Vollbad nehmen oder Blumen berühren. Dagegen waren menstruierende Frauen offenbar nützlich zur Schädlingsbekämpfung (in Deutschland und Italien wurden sie gegen Raupen übers Feld oder durch den Olivenhain geschickt) und ge359
gen die Unbillen der Natur (man meinte z. B., daß es das >Böse< abwehren könne, wenn sich menstruierende Frauen bei Hagel entblößten - vgl. Püschel 1988, S. 28). Der 1827 durch Karl Ernst von Baer erbrachte Nachweis der weiblichen Eizelle - deren Existenz allerdings bereits im 17. Jahrhundert von dem berühmten Naturforscher William Harvey behauptet worden war - markiert die Wende zu einer modernen naturwissenschaftlichen Erforschung der Menstruation (vgl. Hering/Maierhof 1991, S. 22). Gegenüber dem historisch jungen, zeitgenössischen medizinischen Modell des menstruellen Zyklus entstammt die fiir das europäische Denken über Jahrhunderte hinweg wirkmächtigste Idee über die Regelblutung der Zeugungstheorie des Aristoteles und der antiken Medizin. Auf Aristoteles geht die radikalste Formulierung der sogenannten Ein-Geschlecht-Theorie zurück (vgl. Laqueur 1992, S. 42): Das weibliche Genital wurde analog dem männlichen gedacht, nur mit dem Unterschied, daß es invers, ins Innere des Körpers gestülpt liege. Dieser angenommenen >Gleichheit« korrespondierte aber keineswegs eine Gleich- Wertigkeit, analog der allgemeinen Elemente- und Särtelehre (Humoralpathologie) der antiken Kosmologie wurde davon ausgegangen, daß der Mann über mehr Trockenheit< und >Wärme< verfuge und aufgrund dieser höheren Körpertemperatur mehr Energie besäße. Und dieser sozusagen höhere energetische Grundumsatz wurde symbolisch mit den Eigenschaften Aktivität, Kraft, Geistigkeit verknüpft, während die >kältere<, >feuchtere< Frau mit >passiv<, >weich<, >schwach< assoziert wurde. Aber dadurch wurde die Frau nicht als eigenwertig >anderes< Geschlecht betrachtet, sondern lediglich als dasjenige, das im Vergleich zum Mann von allem eben >weniger< besitzt. Aristoteles bezeichnete folglich die Frau als »Mangelwesen«. In der antiken Medizin sah man den monatlichen Blutfluß grosso modo als Ausschüttung einer »Überfüllung« mit Nahrung an. Auch den Mann charakterisiert dieses Nahrungsübermaß, da er jedoch über mehr >Hitze< verfüge, >verkoche< er sein Blut gewissermaßen zu seinem Samen. Diese sozusagen höhere >Raffinierung< war den Frauen eben aufgrund ihrer geringeren >Wärme< nicht möglich. Diese Ernährungs- und Überschußtheorie beinhaltet auch die langwährende Vorstellung von der >unreinen<, >giftigen< Ausscheidung. Folglich war es die Funktion der monatlichen Reinigung«, den Körper vor einer Vergiftung zu bewahren. Während der Mann vor allem durch Schwitzen oder Aderlass von >Unreinem< befreit wurde, >reinigte< sich die Frau 360
durch alle denkbaren Körperöffnungen: Nasenbluten, Menstruation, Erbrechen etc.; sogar durch die Augen konnten >giftige Dämpfe< entweichen - eine Ausscheidungsform, die nicht nur im Volksglauben mit dem >bösen Blick< verknüpft wurde. Neben der >Reinigung< sah man die wesendichste Funktion der Menstruation jedoch in ihrem Beitrag zur »Entstehung der Lebewesen« (Aristoteles). Und dieser >Beitrag< wurde unter den antiken Zeugungstheoretikern durchaus uneinheitlich gewertet: neben der über Jahrhunderte dominierenden aristotelischen Ein-Samen-Theorie, wonach die Frau lediglich das stoffliche Material< (das Menstruationsblut) zur Ernährung des >männlichen Keimes< bereitstellt, also über keinen zeugungsfähigen >Samen< verfuge, stand die Auffassung der >Pangenesis< der Hippokratiker und Galens, wonach beide Eltern etwas zur Belebung des Stoffes beitragen. Aber auch Galen war letzdich ein Vertreter der Ein-Geschlecht-Theorie, so daß er einen >weiblichen Samen« analog dem »männlichen« annahm, nur eben von schwächer zeugender Kraft (vgl. Laqueur 1992; Lesky 1951; Martin 1989; Fischer-Hornberger 1988). Die Auffassung von der Menstruation (als Nahrung und >Baustoff< einerseits und als >unrein und giftig< andererseits) war also eingebunden in die antike Lehre vom Gleichgewicht der Säfte (der humores) einerseits, der eine ausgeklügelte Diätetik und Gymnastik zur Seite stand, die also - in modernen Begriffen formuliert - mit einer >gesunden Lebensnahrung< verknüpft war, und einer philosophischpolitischen Idee über das Kräfteverhältnis zwischen >den Geschlechtern« (Piaton/Aristoteles) andererseits. Insgesamt repräsentieren sie den Wissensstand einer kleinen, gebildeten Elite. Für den Volksglauben in der griechisch-römischen Antike bedeutungsvoller waren jedoch die magisch-religiösen Beziehungen zur Götterwelt mit ihren Reinheitsritualen (vgl. Frazer 1977; Siebenthal 1950; Sigerist 1963). Zum wechselseitigen Einfluß der hellenistischen Philosophie mit ihrem Leib-Seele-Dualismus (Piaton betrachtete den Leib als »Fessel« der Seele) und der jüdischen und frühchristlichen Religion sei hier nur so viel erwähnt (ausführlicher hierzu vgl. Denzler 1988; Noonan 1969): Wichtig ftir das Verständnis der Menstruation in dieser Tradition ist vor allem, daß die rituelle Sorgfaltspflicht für den eigenen Körper, die das Alte Testament auferlegte, um Gott auch im Zustand physischer Reinheit gegen überzutreten, von den Frühchristen durch eine rein spirituelle Vorstellung von >Reinheit< ersetzt 361
wurde. Es entstand das Ideal der >Jungfräulichkeit< und der asketischen Lebensweise (Mönchstum). Im Lichte dieser Ideale mußten folgerichtig die spezifisch weiblichen >Körperzustände< (Menstruation, Schwangerschaft und Geburt) zum Ausdruck sexueller Begierde und menschlicher Sündhaftigkeit werden. Zwar haben die Apostel und frühen Kirchenväter (Augustinus) ihre ambivalente Haltung gegenüber der Ehe nicht aufgegeben, sie haben sie aber doch als eine Art notwendiges Übel< anerkannt, so daß letztlich die Menstruation als Symbol des »Sündenfalls« Evas übrigblieb. Und diese spirituell verstandene Unreinheit war durch keine der rituellen Waschungen, mittels deren eine jüdische Frau ihre Reinheit wiedererlangen konnte, zu beseitigen. Das hatte zur Folge, daß die Christin ausgegrenzt wurde: Es war ihr im frühen Mittelalter verboten, während der Regelblutung die Kirche zu betreten und am Kirchenleben teilzunehmen. Aber auch die Frau, die ein Kind geboren hatte, galt als >unrein<, und erst im 16. Jahrhundert wurde aus diesem Reinigungsritual »ein Segensritual für Mutter und Kind« (Bleibtreu-Ehrenberg/Dunde 1993, S. 300; vgl. auch Shahar 1981). In der jüdischen Tradition hingegen sind die mosaisch-alttestamentarischen Reinigungsvorschriften für die Menstruierende lediglich ein Element der sich auf die gesamte Lebensführung des israelitischen Volkes erstreckenden Reinheitsgebote. Neben den Unreinheitsvorstellungen, die sich generell auf Körperausscheidungen, Sexualverkehr und Geburt beziehen, sind besonders die Speiseverbote bekannt (3. und 5. Buch Mose). Aber auch bestimmte Kleiderstoffe, Äcker und Felder, ja ganze Landstriche können >unrein< sein. Für Mary Douglas (1985) repräsentieren die mosaischen Reinheitsgebote folglich weniger den Versuch, patriarchalische Rechte zu schützen, als daß sie ihr als Ausdrucksformen für die israelitischen Vorstellungen von >Heiligkeit< gelten. Und diese Heiligkeitsvorstellung findet »ihren äußerlichen Ausdruck in der Vollständigkeit des Körpers, den man als makellosen Behälter verstand.« (S. 71) Nur dieser >reine Körper< darf sich im Tempel dem >Heiligen< nähern. Über diese religiös motivierten Reinheitsvorstellungen hinaus symbolisieren die Reinheitsgebote die Sorge um die soziale Ordnung einer »har: bedrängten Minorität« (S. 164). Die eingangs erwähnte, bis auf den heutigen Tag vorfmdliche Überzeugung von der verderblichen Kraft« des Menstruationsblutes erscheint somit wie ein eher schwacher Widerhall archaischer und 362
traditionaler Vorstellungen, die sich - sozusagen >immer schon< — in detaillierten Verhaltensvorschriften niedergeschlagen haben. Wie bereits erwähnt ist in der Mehrzahl der Kulturen die Auffassung vom >unreinen< monadichen Blutfluß verbreitet. Unterschiede gibt es jedoch im unterstellten Gefährlichkeitsgrad der Blutung für die Männer und die Gemeinschaft insgesamt und folglich im Ausmaß der Vorkehrungen, die gegen diese Bedrohung getroffen werden. Während bei den oben angeführten Trobriandern lediglich eine gewisse »Abneigung« gegen den Sexualverkehr während der Menses herrscht und die Trobriander-Frauen während >ihrer Tage< längere Baströcke als gewöhnlich zu tragen pflegen, symbolisiert fiir die meisten anderen Gesellschaften die Menstruation die generelle Auffassung, daß Frauen unrein sind. Sozusagen analog zur griechischen Medizin und Zeugungstheorie wird die Menstruation als Reinigung von >giftigen< Bestandteilen betrachtet, und es wird - aufgrund der Beobachtung, daß während der Schwangerschaft die Monatsblutung ausbleibt - oft angenommen, daß es, zum >Gerinnen< gebracht, dem heranwachsenden Kind als Nahrung dient (gelegendich auch mit der Vorstellung, daß diese Nahrung durch reichlich männlichen Samen zu ergänzen sei). Gemäß dieser Auffassung, daß sich der Fetus aus diesem geronnenen und unreinen Blut aufbaut, gilt auch die Geburt als ein besonders unreiner Zustand, und das Ungeborene wird als zugleich verletzlich und gefährlich angesehen. So sagen die Nyakyusa, der Fetus habe »einen offenen Schlund« und stehle Nahrung, weshalb eine Schwangere nicht mit Leuten bei der Ernte oder beim Brauen reden darf, bevor sie nicht eine Geste des guten Willens gemacht habe (vgl. Douglas 1985, S. 126). Aber die allgemeine Bezichtigung der Frauen als unrein stützt sich nicht nur auf die mit der weiblichen Gebärfähigkeit verbundenen körperlichen Zustände, sondern wird auch (und nicht unähnlich der christlichen >Erklärung<) als »Fluch« und »Folge eines urzeitlichen Vergehens« (Müller 1984, S. 106), z.B. durch geschwisterlichen Inzest oder durch dämonische Verführung legitimiert. Die Bedrohung, die von Frauen im allgemeinen und von menstruierenden, schwangeren und gebärenden Frauen im besonderen ausgeht, konnte sich - gemäß den variierenden kulturellen Vorstellungen - demzufolge auf das gesamte vitale Leben der Gemeinschaft auswirken: besonders auf die Gesundheit, ja auf das Leben der Männer, aber auch auf Alte, Kranke und Kinder sowie auf die Nahrungsquellen. )6 3
Letzteres hatte etwa zur Folge, daß ein Mann während der Menstruation seiner Ehefrau nicht an der Jagd oder am Fischfang teilnehmen durfte; ganz abgesehen davon, daß die Frauen selber in dieser Zeit die Pflanzungen oder Kornspeicher nicht betreten durften. Die Nahrungszubereitung für andere war ihnen untersagt, und ihre eigene Nahrung mußten sie auf einer separaten Feuerstelle zubereiten. Das hieß auch, daß menstruierende Frauen weder die Gerätschaften für die Nahrungsbeschaffung noch die zur Nahrungszubereitung berühren durften. Und auch von besonderen Unternehmungen oder Ereignissen (größere Reisen, Kulthandlungen, religiöse Feste, Trauerfeierlichkeiten etc.) waren menstruierende Frauen ausgeschlossen. Zwar scheinen sich die meisten Gesellschaften mit Meidungs- und Distanzierungsgeboten zufriedengegeben zu haben. Da es aber im alltäglichen Verkehr miteinander wohl nicht immer leicht war, einer Verunreinigung durch Berührung mit der Menstruierenden oder den von ihr benutzten Gegenständen, Sitzplätzen usw. aus dem Wege zu gehen, finden sich auch Absonderungsvorschriften, die den Frauen auferlegen, sich während der Menstruation in einem Teil des Hauses oder einer speziellen Hütte, einem Zelt hinter dem Haus oder außerhalb des Siedlungsplatzes, im Wald, zu verbergen. Diese - •Seklusion< genannte - Absonderung findet oft auch nur zu Zeiten der Erstmenstruation, der Menarche, statt und ist somit Bestandteil eines Initiationsrituals, in dem die Mädchen von älteren Frauen in ihre künftigen Aufgaben als Ehefrau und Mutter eingewiesen werden. Wenn Frauen ihr Wissen über Menstruation, Schwangerschaft und Geburt für sich behalten oder in einer besonderen Sprache darüber reden, dann ist dies nach Auffassung des Ethnologen Klaus E. Müller (1984) weniger der Versuch, die Macht über das frauenspezifische Wissen exklusiv zu halten, sondern es geschieht vielmehr »aus der Besorgnis heraus, mit derlei Gegenständen, die ja alle zur Sphäre des Unreinen zählen, das Ohr der Männer verletzen und ihre Wohlfahrt gefährden zu können« (S. 256). Diese hier zum Ausdruck gebrachte Fürsorge der Frauen für ihre Männer schließt aber nicht die Möglichkeit der Gegenwehr aus. Gerade in Gesellschaften, in denen der »Geschlechterantagonismus« besonders stark ausgeprägt sei, schlügen die Frauen nicht nur zurück, wenn ein Mann seine Hand gegen sie erhebe, sondern sie benutzten auch Schadenzauber und Menstruationsblut (oder die Drohung damit), um dem Mann 364
direkt oder indirekt über seine wichtigsten Gegenstände (J a g a_ u n a Fanggerät) Schaden zuzufügen. Nun ist zwar, wie gesagt, die Vorstellung vom unreinen Menstrualblut und seiner Gefährlichkeit weit verbreitet, sie ist aber keineswegs universal, ebensowenig wie die von den Trobriandern gehegte >Abneigung< gegen Sexualverkehr in dieser Zeit. Die Manus auf Neuseeland z.B. messen ihm einen durchaus positiven Wert bei (Püschel 1988, S. 59). Aber diese Ausnahmen wie auch die Regel bezüglich der Vorstellungen um das Phänomen der Menstruation fugen sich nicht einfach in das vielleicht naheliegende Schema von der kulturübergreifenden und zu allen Zeiten auffindbaren patriarchalischen Unterdrückung der Frauen. So verweist Mary Douglas u.a. auf die Walbiri, ein inneraustralisches Volk, das seine patriarchalische Ordnung der Geschlechter mit brachialer physischer Gewalt aufrechterhält, aber keinerlei Verunreinigungsvorstellungen, auch nicht durch Menstruationsblut, kennt. Douglas folgert aus diesem und anderen Beispielen: »Wenn die männliche Vorherrschaft als zentrales Prinzip der sozialen Organisation angesehen wird und ohne Einschränkungen und mit dem vollen Recht zum physischen Zwang gilt, ist es wenig wahrscheinlich, daß der Glaube an eine geschlechdiche Verunreinigung besonders stark entwickelt ist. Wenn andererseits das Prinzip der männlichen Vorherrschaft zur Strukturierung in Frage gestellt wird - etwa durch das Prinzip der Unabhängigkeit der Frauen oder durch ihr Recht, als schwächeres Geschlecht umfassender als die Männer vor Gewalt geschützt zu werden -, dann ist das Auftreten von geschlechtlichen Verunreinigungsvorstellungen wahrscheinlich.« (1985, S. 186)
3. Die evolutionäre Basis und ihre gesellschaftliche Zurichtung
Mit diesem materialen Exempel wollten wir unter anderem und nicht zuletzt auch zeigen, daß die - vor allem durch Norbert Elias (1976) beförderte — Rede von der >Zivilisierung< des Körpers, die im Wesentlichen die zunehmende soziale Unterdrückung (spontaner) Körperäußerungen (also: Triebregulierung, Affektkontrolle) zugunsten von Formen der Selbstdisziplinierung - zumindest, aber nicht nur, in der Öffentlichkeit meint (nicht zuletzt eben im Hinblick auf sexuelle Be365
findlichkeiten), zumindest fragwürdig ist. Gegen Elias und z.B. mit der soeben viel zitierten Mary Douglas (1974), v.a. aber auch mit Hans Peter Duerr (1988; 1990 und 1993) läßt sich u. E. nämlich konstatieren, daß keineswegs erst zivilisatorisch entwickelte Gesellschaften, sondern daß bereits traditionale und archaische Kulturen vielfältige Formen zum Teil eben sitdicher, zum Teil normativer körperlicher Selbstdisziplin und Berührungstabus kannten. Und auch daß besondere Körperbefindlichkeiten >früher< und >anderswo< stärker und selbstverständlicher in das soziale Miteinander der Menschen integriert gewesen seien als in modernen Gesellschaften, trifft eben nur in Ausnahmen zu und dürfte als generalisierte Aussage eher eine Romantisierung als einen empirischen Befund darstellen. Selbst der Tod ist heute eher anders denn weniger präsent als in vormodernen Kulturen (vgl. dazu z.B. Fuchs 1973; Knoblauch 1999; Knoblauch/ Schnettler/SoerTner 1999). Daraus folgt, daß körperliche bzw. körperbezogene Sitten, präziser: die Arten und Weisen, wie Menschen mit ihrem Körper und mittels ihres Körpers >eingelebtermaßen< miteinander umgehen, aller Wahrscheinlichkeit nach eine evolutionäre Basis haben. Denn z.B. haben Menschen aller Kulturen typischerweise komplexe Gesichtsmuskeln, die dazu dienen, verschiedene Gesichtsausdrücke zu erzeugen. Menschen aller Kulturen stehen typischerweise auf zwei Füßen und haben deshalb die Hände frei zur Gestikulation. Menschen aller Kulturen haben typischerweise keinen Schwanz, mit dem sich wedeln ließe, und allenfalls noch Rudimente eines Felles, das sich sträuben könnte. Solche und andere organische Rahmenbedingungen schaffen eine geschlechtsübergreifende, vorkulturell gemeinsame organische Basis des Menschseins. Dementsprechend scheinen gewisse Ausdrucksbewegungen auch kulturübergreifend psychische Zustände und Abläufe zu appräsentieren. So drücken sich - wenn man sich humanethologische Studien anschaut - z.B. Freude und Zorn, Angst und Mut, Trauer und Schrecken, Ausgelassenheit und Trägheit sozusagen spontan mimisch und pantomimisch aus. Aber: Kultur überformt bzw. Kulturen überformen, unterdrücken, verändern, steigern und stilisieren diese elementaren habituellen Fähigkeiten. Die natürlichen organischen Gegebenheiten werden den Menschen zum Material ihrer kulturellen Eigenheiten, ihrer jeweiligen Sitten, Gebräuche und Norm- und Wertgewißheiten. Wir können sagen: Mit der kulturellen Be- und Verarbeitung physischer Befindlichkeiten schaf366
fen sich Menschen vielfältige Formen des Zusammenlebens (vgl. Morris 1978). Die körperlichen Habitualitäten differieren also (und zwar deutlich) zu verschiedenen Orten und Zeiten unter sich wandelnden Lebensbedingungen. Jede Kultur prägt, eingewoben in ihre je eigenen Sitten und Gebräuche, spezifische Gewohnheiten des Körpers ihrer Mitglieder (vgl. Mauss 1979; Polhemus 1978) - und verachtet, verabscheut, furchtet in der Regel alle Äußerungsformen und Verhaltensweisen, die in ihrem eigenen Repertoire nicht vorgesehen sind bzw. mit diesem nicht kompatibel erscheinen: Das beginnt keineswegs erst mit der Regulierung der weiblichen >Regel<, das reicht vielmehr schon von der Frage, wann man jemanden wie anblickt und wie lange, über das Problem der körperlichen Distanz bei (unterschiedlichen Arten von) Unterhaltungen, der akzeptablen Intonation und des situativ je angemessenen Gesichtsausdrucks bis hin zur korrekten Kleidung, zu Haartrachten, zum Schmuck und zur Körperformung und -bemalung. Entscheidend dabei ist unserer Meinung nach - und das sollte eben auch das Beispiel der Menstruation zeigen - , daß sich eine (auch nur halbwegs) lineare zivilisatorische Entwicklung von weniger zu mehr (Selbst-) Disziplin hinsichtlich der körperlichen Gewohnheiten nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis allenfalls aus der Position einer zwanghaft ethnozentrischen Normativität heraus behaupten läßt. Viel eher jedenfalls als auf der Basis einer allgemeinen >Zivilisationstheorie< scheinen die sozial jeweils präferierten Formen der (Selbst-)Disziplinierung des Körpers im Rekurs auf je gegebene Sitten und sittliche Vollzugsgewohnheiten zum einen und auf darin eingewobene bzw. davon sich abhebende Herrschaftsund Machtverhältnisse zum anderen - und natürlich auf die dabei je verfolgten oder verselbstverständlichten Kontrollinteressen >erklärbar< zu sein.
367
Literatur Argyle, Michael (1979): Körpersprache und Kommunikation, Paderborn. Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela/Siegfried Rudolf Dunde (1993): Tabu, in: Siegfried Rudolf Dunde (Hg.), Wörterbuch der Religionspsychologie. Gütersloh, 297-306. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main. Denzler, Georg (1988): Die verbotene Lust. 2000 Jahre chrisdiche Sexualmoral. München/Zürich. Douglas, Man' (1974): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Frankfurt am Main. Douglas, Mary (1985): Reinheit und Gefährdung. Berlin. Duerr, Hans Peter (1988): Nacktheit und Scham. Frankfurt am Main. Duerr, Hans Peter (1990): Intimität. Frankfurt am Main. Duerr, Hans Peter (1993): Obszönität und Gewalt. Frankfurt am Main. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt am Main. Fischer-Homberger, Esther (1988): Krankheit Frau. Darmstadt/Neuwied. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main. Frazer, James George (1977): Der goldene Zweig, 2 Bände, Frankfurt am Main/Berlin/Wien. Fuchs, Werner (1973): Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main. Gelis, Jacques (1989): Die Geburt. München. Goffman, Erving (1981): Geschlecht und Werbung. Frankfurt am Main. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper und Identität. Wiesbaden. Henley, Nancy (1988): Körperstrategien. Frankfurt am Main. Hering, Sabine/Gudrun Maierhof (1991): Die unpäßliche Frau. Pfaffenweiler. Hitzler, Ronald (1982): Der >begeisterte< Körper, in: Rolf Gehlen/Bernd Wolf (Hg.), Unter dem Pflaster liegt der Strand, Bd. 11, Berlin, 53-73. Hirzler, Ronald (1993): Die Wahl der Qual, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 6. Jg., Heft 3, 228-242. Hitzler, Ronald (1998): Das Problem, sich verständlich zu machen, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft, Opladen, 93105.
Hitzler, Ronald (2002): Der Körper als Gegenstand der Gestaltung, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen, Konstanz, 71-85. Hitzler. Ronald/Michaela Pfadenhauer (1998): *Let your body take control!« Zur ethnographischen Kulturanalyse der Techno-Szene, in: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki (Hg.), Biographieforschung und Kulturanalyse, Opladen, 75-92. 368
Honer, Anne (1986): Die maschinelle Konstruktion des Körpers, in: österreichische Zeitschrift für Soziologie (ÖZS), 11. Jg., Heft 4, 44-51. Honer, Anne (1999): Verordnete Augen-Blicke. Zum subjektiven Erleben des medizinisch behandelten Körpers, in: Anne Honer/Ronald Kurt/Jo Reichertz (Hg.), Diesseitsreligion. Konstanz, 275-285. Knoblauch, Hubert (1999): Berichte aus dem Jenseits. Freiburg u. a. Knoblauch, Hubert/Bernt Schnetder/Hans-Georg Soeffher (1999): Die Sinnprovinz des Jenseits und die Kultivierung des Todes, in: Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Todesnähe. Konstanz, 271-292. Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Frankfurt am Main/ New York. Lesky, Erna (1951): Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken. Mainz/Wiesbaden. Malinowski, Bronislaw (1979): Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien. Frankfurt am Main. Martin, Emily (1989): Die Frau im Körper. Frankfurt am Main/New York. Mauss, Marcel (1979): Die Techniken des Körpers, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Band II, Berlin, 197-220. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Meuser, Michael (2002): Körper und Sozialität, in: Kornelia Hahn/Michael Meuser (Hg.), Körperrepräsentationen. Konstanz, 19-44. Morris, Desmond (1978): Der Mensch, mit dem wir leben. München/Zürich. Müller, Klaus E. (1984): Die bessere und die schlechtere Hälfte. Ethnologie des Geschlechterkonflikts. Frankfurt am Main/New York. Noonan, John (1969): Empfängnisverhütung. Geschichte ihrer Beurteilung in der katholischen Theologie und im kanonischen Recht. Mainz. Plessner, Helmuth (1981): Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: Ders., Gesammelte Schriften IV. Frankfun am Main. Plessner, Helmuth (1982): Lachen und Weinen, in: Ders., Gesammelte Schriften VII. Frankfurt am Main, 201-388. Plessner, Helmuth (1983): Die Frage nach der Conditio Humana, in: Ders., Gesammelte Schriften VIII. Frankfurt am Main, 136-217. Polhemus, Ted (Hg.) (1978): Social Aspects of the Human Body. Harmondsworth. Püschel, Erich (1988): Die Menstruation und ihre Tabus. Stuttgart/New York. Sartre, Jean-Paul (1991): Das Sein und das Nichts. Reinbek. Shahar, Shulamith (1981): Die Frau im Mittelalter. Königstein/Ts. Siebenthal, Wolf von (1950): Krankheit als Folge der Sünde. Hannover. Sigerist, Henry E. (1963): Anfänge der Medizin. Zürich. Simon, Manuel (1993): Heilige- Hexe- Mutter. Berlin. 369
Thomas, Konrad (1990): Rivalität. Frankfurt am Main. Thomas, Philipp (1996): Selbst - Natur- Sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin.
Werner Schneider Der Prothesen-Körper als gesellschaftliches Grenzproblem i. Körperprothesen und die >Grenzen des Sozialem Allseits gegenwärtig, weil bis in die aktuellen Feuilletons hineinragend, scheinen heutzutage jene keineswegs neuen Diskurse zum Verhältnis von >Mensch, Körper und Technik<, die danach fragen, ob und wie sich >Menschlichkeit<, ob und wie sich >der Mensch< durch die zunehmende Technisierung seines Körpers verändert. Gegenstand der folgenden Ausführungen soll eine Thematik sein, die innerhalb dieses Diskursrahmens auf den ersten Blick eine recht speziell anmutende, historisch gesehen ebenfalls nicht als >neu< zu bezeichnende >Körper-Technik-Entwicklung< im medizinischen Bereich umfaßt: die Prothese. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre findet die Prothetik verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit - zumeist kontextuiert in einem weitergreifenden Themenspektrum von Nanotechnologie, Robotik und Künsdicher Intelligenz sowie befördert z.B. durch die massenmediale Rezeption der Debatten um die Thesen von Ray Kurzweil, Bill Joy u.a. über die zukünftige Verschmelzung von Mensch und Computer^1 Die gängigen diskursiven Bewältigungsmuster dieser Thematik, die an der Oberfläche zwischen den Polen einer kulturkritischen Technikfeindlichkeit und einer verheißungsvollen Technik-Apologie oszillieren, bewegen sich dabei in für die Moderne vertrauten Bahnen: Der optimistischen Variante, die technische Entwicklungen immer schon als segensreichen Fortschritt, als Verbesserung von Lebensqualität infolge der Verminderung von Leiden oder der Verbreitung komfortablerer Lebensweisen preist, steht die technikkritische Sichtweise gegenüber. Nach ihr gerät durch die neue Prothesentechnik >das 1 Vgl. Joy (2000); Kurzweil (1999); auch z.B. Guggcnberger (2000); Klein (2000) sowie entsprechende, ebenfalls Medienecho findende, wissenschafdiche Veranstaltungen wie das Symposium »Mensch oder Roboter - Wem gehört die Zukunft? Antworten auf Bill Joy« des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen am 29.11.2000 in Düsseldorf (vgl. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 2001; auch Staun 2000). 371
Lebendige< am Menschen (das spezifisch Menschliche) zur systemgerechten Umwelt der eigenen Prothese, indem der Mensch und sein Körper zum belebten Artefakt des technischen Systems, einer kybernetisch interpretierten vernetzten Biomaschine, mutieren (Berr 1989). Solche Bedenken zum >maschinell entmenschlichten Menschen< werden wiederum gekontert durch den Verweis auf die anthropologischen Grundlagen menschlichen Lebens. So beschwichtigte z.B. in einer 1999 von 3Sat gesendeten Dokumentation über die Medizin im nächsten Jahrtausend ein Neuro-Prothetiker den besorgt fragenden Reporter, ob wir in Zukunft nicht beim völlig durchtechnisierten Roboter-Menschen ankommen würden, lapidar dadurch, daß der Mensch trotz aller Technik doch immer Mensch bliebe (Biber 1999). Auf der einen Seite ist es also das Technische, das - auch in Form der Prothese - den Menschen besetzt und ihm das Menschliche austreibt; auf der anderen Seite steht die Bastion der für alle Zeit als unverrückbar gesetzten Conditio humana, der die Technik immer nur als Mittel zum (besseren) Zweck dient; kurzum: Die diskursive Leitsemantik in den gegenwärtigen öffentlichen Debatten bildet also die alte Streitfrage der Moderne nach der - um mit Günther Anders zu sprechen - >(Un-)Menschlichkeit des Prothesenmenschen< (vgl. Anders 1988). Im Gegensatz zu solchen anthropologisierenden Kontroversen geht es im folgenden darum, aus einer wissenssoziologisch-diskursanalytischen Perspektive (Hirseland/Schneider 2001; Keller 2001; 2004) am Beispiel des prothetisierten Körpers die Frage nach dem soziohistorischen Wandel der (jeweils geltenden) »Grenzen des Sozialen< (Luckmann 1980, S. 56ff; Lindemann 2002) in den Blick zu nehmen. Aus der diskurstheoretischen Annahme, daß gesellschaftliche Wirklichkeit sich primär in und durch diskursive Praktiken konstituiert, die das, was wir wahrnehmen (bis hin zu »leibhaftig spüren<), mit Sinn, mit Bedeutung versehen und es damit für uns erst >fürwahr-nehmbart machen (als gültiger Sinn, als vorherrschende Deutung), folgt: Nicht >der Mensch« oder >das Menschliche< sind bei dieser Frage anzuvisieren, sondern jene diskursiv produzierten und als gültig gesetzten Grenzen mit ihren symbolisch vermittelten Praktiken der Grenzziehung mit denen wir im Verhältnis von (menschlicher) Körperlichkeit und Technik Lebendiges von Nicht-Lebendigem, Menschliches von Nicht-Menschlichem, Natürlich-Gegebenes vom Technisch-Künstlichen etc. unterscheiden. 372
Mit einer solchen Herangehensweise an das Phänomen >Körperprothesen< läßt sich zeigen, wie im aktuellen Diskurs um die Entwicklungen in der Prothesentechnik ein fundamentaler Wandel unseres Verständnisses solcher >Grenzkonzepte< mit ihren jeweiligen Wertbezügen sowie den darin enthaltenen Handlungsvorgaben/-Optionen und Subjektpositionierungen (z.B. des Gesunden, des körperlich Behinderten) angelegt ist.2 Konkret lautet die hier verfolgte These: Diesem Diskurs zufolge wird das kulturelle Konzept der modernen Prothese* verschwinden; - >die Prothese« verwandelt sich zum (>post«-modernen?) Konzept eines >hybriden Technofaktsrnenschlich/nicht-menschlich<, »lebendig/nicht-lebendig«, »natürlichgegeben/technisch-künstlich hergestellt« verflüssigen, auflösen werden. Damit sieht sich die fortschreitend technisierte moderne Gesellschaft (nicht nur in ihrem Blick auf den prothetisierten Körper) zunehmend Grenzfällen >des Menschlichen« gegenüber, bei denen >von Fall zu Fall« gesellschaftlich über die anzulegenden Deutungskonzepte, über die damit verbundenen Grenzziehungen als Antwort auf die Frage nach dem >nicht«, >noch nicht« oder >nicht mehr Menschlichen« zu entscheiden sein wird.
2. Materialität und Diskursivität — Körperprothesen aus wissenssoziologisch-diskursanalytischer Sicht Für die Ausarbeitung der formulierten These ist zunächst zu klären, was Prothesen >sind< bzw. was eine Körperprothese fiir den hier beabsichtigten wissenssoziologisch-diskursanalytischen Zugriff kennzeichnet. Allerdings wird bereits anhand einiger willkürlich gewählter Prothesen-Beispiele - wie etwa der Brille oder der »dritten Zähnen« im Gegensatz z.B. zum Herzschrittmacher oder dem elektrischen Rollstuhl - sofort deudich, daß es recht schwierig ist, von >der Prothese« zu sprechen und dabei generalisierende Aussagen zu formulieren. Zu vielfältig scheinen die Möglichkeiten der Prothetisierung menschlicher Körper zu sein, zu unterschiedlich die dabei notwendigerweise i Die beiden Mediziner Gebhard Allen und Horst Kachele sprechen in diesem Zusammenhang von »medizinischen Servonens die ihrer Ansicht nach eine Neubestimmung bzw. gar Aufhebung althergebrachter Trennlinien zwischen Mensch, Natur und Technik erfordern (Allen/Kachele zooo). 373
zu berücksichtigenden medizinischen, technischen, psychologischen oder sozialen Aspekte. Dennoch kann aus einer Alltagsperspektive als allgemeine Charakterisierung von Prothesen zunächst festgehalten werden: Eine Körperprothese ist ein Ding, welches mittels Technik spezifische Ersatzdienste auf dem Körper, am Körper oder im Körper leistet (Schnalke 1999, S. 132fr.). Prothesen richten sich als in der Regel hochspezialisierte, technisch hergestellte >Ersatzteile des Organischem auf >defizitäre< Körper und ersetzen nicht vorhandenes, verlorengegangenes Natürliches, vorgängig gegebene organische Sinne und Funktionen. Es ist demnach das Fremde im Dienste des Eigenen, das sich gerade deshalb durch eine besondere Ambivalenz von gleichzeitiger Vertrautheit, Selbstverständlichkeit wie ebenso weitgehender Fremdheit, Andersartigkeit auszeichnet. Faßt man Prothesen in einem noch weiteren Sinne als nicht nur technisch hergestellte (wenngleich es immer Technik für ihren Einsatz braucht), so ist es für diese Indienstnahme des Fremden zunächst einerlei, ob es sich um eine Hand aus Kunststoff, um eine Hüfte aus Titan oder auch um das Herz eines Anderen, eines anonymen Spenders, handelt. Allerdings: »Auf die Prothesen reagiert der Körper unterschiedlich - tolerant, duldsam oder abweisend. Oft ist es das Ähnliche, das Wesensgleiche, das Organische, das er kritisch prüft, gegen das er sich wehrt. Deshalb stellt sich bei jeder Transplantation, egal ob Niere, Leber, Herz oder Hornhaut, die entscheidende Frage, ob der Körper das fremde Gewebe akzeptieren wird. Das ganz Andere, das Wesensferne, das Anorganische fordert ihn vielfach kaum heraus. Recht bereitwillig arrangiert er sich mit einem chirurgischen Nagel im Knochen oder einem Herzschrittmacher unter der Brust.« (Schnalke 1999, S. 133) Neben der in diesem Zitat offensichtlichen >Subjektivierung< des menschlichen Körpers als »wertenden Akteurs der tolerieren, kritisch prüfen etc. kann, operiert ein solches, wohl als Common sense zu bezeichnendes Prothesen(körper)verständnis mit mehreren Unterscheidungen: Es denkt in der Apriori-Differenz zwischen Körper (ist gleich Natur) und (Kultur-) Technik (als Mittel zum Zweck) den unvollständigen Körper als geschieden von der (fremden) Technik und diese wiederum als geschieden vom Subjekt, dem Prothesenträger, der gleichsam als >Dienstherr< die prothetischen Ersatzdienste in Anspruch nimmt bzw. nehmen muß. Darauf gründend verläuft, 374
dieser Vorstellung folgend, eine Rir den Körper relevante Grenzlinie entlang der >wesensmäßigen< Unterscheidung zwischen natürlichen Prothesen und künsdichen: hier ist es das (lebendige) > Körperliche« (Organische), dort das (nicht lebendige) >Technische< (Anorganische); hier das Fremde, aber Wesensgleiche und gerade deshalb Problematische, dort das Fremde als das ganz Andere und deshalb Unproblematische. In der Auseinandersetzung mit einem solchen Prothesenverständnis kann anhand folgender drei Aspekte eine wissenssoziologischdiskursanalytische Konzeptualisierung von >Körperprothesen< vorgenommen werden: Erstens ist der menschliche Körper, von der Soziologie häufig als »something of an absent presence« (Shilling 1993, S. 11) nur am Rande mitgedacht, ebensowenig eine einfach gegebene >natürliche Tatsache wie er - mißverstanden als bloßer Text - ausschließliches Resultat von gesellschaftlich vermittelten Diskursen sein kann (vgl. hierzu pointiert und differenzierend z.B. Butler 1997; 2003). Bereits Mary Douglas schrieb Anfang der 70er Jahre: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest.« (Douglas I974> S. 99) Hinzu kommt, daß »in all human cultures, the body is identified, at least in some contexts, with the socialized actor or person to which it belongs. This identification involves, in part, a semiotic use of the body, commonly in form of more or less standardized modifications of the body surface that then serve, in their ensemble, as representations of the identiry of the social person. [...] In all such usages, the natural or artificial surfaces of the body (skin and hair, clothing and Ornaments) are treated as signs of the cultural boundary between the seif or person and its social and natural object world.« (Turner 1995, S. 146) In der - durch soziale und kulturelle Kategorien konstituierten und modifizierten - physischen Wahrnehmung des Körpers manifestiert sich also sowohl eine historisch-kulturell spezifische Gesellschaßsauffassung wie auch eine gesellschaftlich bestimmte Auffassung des >Selbst<, d. h. dessen, was ein Subjekt als Subjekt auch körperlic kennzeichnet. Mit Helmuth Plessner (1975) formuliert, hat 62s Subjekt - ob Prothesen träger oder nicht - bekanntlich nicht nur einen Körper (der auf das Andere, das Fremde reagiert), sondern das Sub375
jekt ist ein Leib und befindet und bewegt sich, räumlich und zeitlich situiert, mit diesem Leib immer schon in einer (vor-) gedeuteten Welt, in der ein kulturell je spezifischer, sozial wirksamer Konnex zwischen der Erscheinung des Körpers und leibhaftigen Subjektivität existiert (und in dessen Rahmen die kulturell codierte Zurechnung von >Eigenem< und >dem Anderen« zu erfolgen hat).3 >Gesellschaft< hier verstanden als (verkörpertes) Bezugsverhältnis zwischen einem >Ich< und >Anderen< - ist somit in letzter Konsequenz immer auch verwiesen auf die >Leibhaftigkeit< ihrer Gesellschaftsmitglieder. Die Körper der Gesellschaftsmitglieder werden zum einen als Bedeutungsträger und -vermittler diskursiv hervorgebracht durch die jeweils herrschende symbolische Ordnung und sind dabei Objekt der entsprechenden materialen Praktiken ihrer Zurichtung und Darstellung. Und sie bilden dadurch zum anderen immer und überall als Leib auch die subjektiv gespürte Behausung von Identität, den materialen Ort des >Selbst<> an dem sich die Grenze zwischen einem Ich und d Welt als Innen-Außen-Verhältnis zu den umgebenden Dingen sowie zu anderen Subjekten erfahren, leibhaftig erspüren läßt.4 Gerade aber vor diesem Hintergrund führt - zweitens - die Metapher vom technisch ermöglichten Ersatzdienste der Prothese nicht weit genug bzw. gar in die Irre, denn - salopp ausgedrückt - man steckt nicht nur in seinem, als unvollständig wahrgenommenen, definierten und deswegen prothetisierten Körper, sondern weil man Leib ist, steckt man ebenso in den Apparaten, die einen umgeben, die an einem dranhängen oder die in einem drin sind. Der >Dienstherr< meint also nicht >den Körpers sondern das Subjekt mit seiner Identität, die in einem endang kultureller Kategorien als defizitär erfahrenen Leib und deshalb prothetisierten Körper verortet ist - nimmt nicht einfach einen >Dienst< in Anspruch, sondern dieser Dienst schreibt sich in den Körper als Leib ein, wird zum Bestandteil des Dienstherrn bzw. seines Selbst und positioniert ihn als Subjekt im 3 Siehe auch z.B. Gugutzer (200z); Lindemann (2002). 4 Darin liegt die soziologische Seite der psychischen Probleme in der Selbstwahrnehmung des eigenen >prothetisierten< Körpers bei Organempfängern: Das fremde Organ verweist als 'fremdes Dings wenngleich >wesensgleich<, symbolisch eben nicht nur auf den Körper des Anderen (auf dessen >Eindringen< der eigene »defizitäre« Körper physiologisch >abwehrend< reagiert), sondern infolge der kulturellen Codierung von »Körper und Selbst« vor allem auch auf eine fremde Subjektivität, die es für den Prothesenträger als Organempfänger »leibhaftig« zu bewältigen gilt (vgl. z.B. Decker 1999; Hauser-Schäublin u.a. 2000; auch Nancy 2000). 37«
Austausch mit seiner Um- und Mitwelt. Und weil man sich mit diesem Körper in einer immer schon vorgedeuteten Welt befindet und bewegt, rückt die Frage nach den soziokulturellen Bedeutungszusammenhängen ins Zentrum, in denen die materiale Praxis der Prothesenverleihung und -Verwendung eingebettet ist: Welche Körper werden anhand welcher Kriterien als prothesenbedürftig, weil defizitär, wahrgenommen und definiert und zu welchem Zweck mit Prothesen ausgestattet (Jain 1999, S. 32f.)? Anders gesagt: Nicht ein bestimmter Körper ist als solcher objektiv gegeben unvollständig, >behindert< und damit gleichsam per se prothesenbedürftig, sondern die Wahrnehmung und Bewertung jeglicher körperlicher Eigenarten (z.B. als erworbene versus als natürlich gegeben< zugeschriebene Fähigkeiten« wie »Beeinträchtigungen^5 ist ein immanenter Bestandteil und somit Effekt der geltenden symbolischen Ordnung von Körperlichkeit (vgl. auch Bendel 1999, S. 303). Der gesellschaftliche Umgang mit diesen Eigenarten, indem z.B. bestimmte Körper mit spezifischen Prothesen ausgestattet werden, ist somit keineswegs eine einfache Frage der je vorhandenen technischen Möglichkeiten als reines Zweck-Mittel-Verhältnis zur (Wieder-)Herstellung von körperlicher Funktionalität. Vielmehr ist er das im und durch das Handeln objektivierte Resultat der diskursiv (re-)produzierten oder sich verändernden bzw. jeweils geltenden symbolischen Ordnung von vollständiger/unvollständiger Körperlichkeit.6 Dritten?. In den Blick zu nehmen sind folglich nicht allein die dinglichen Artefakte< als Technik (die Prothese), sondern der damit verbundene Prozeß der >Technisierung<, in dem als sozialer Prozeß das jeweils gleichsam »hinten dem Artefakt stehende »normative Programm« zum Ausdruck kommt: Erst die mit bestimmten »dinglichen Artefakten« sinnhaft verbundenen Absichten, Normen und Regeln mit den sie legitimierenden Wertbezügen machen aus »den Dingen« 5 Zum Verhältnis von Normalität und Behinderung vgl. Waldschmidt (1998; 1999). 6 In diesem Kontext wäre zum einen eine - aus Platzgründen hier nicht zu leistende kritische Auseinandersetzung mit den aus dem anglo-amerikanischen Sprachratm kommenden Ansätzen im Rahmen der >Actor-Nerwork-Theory< (z.B. Latour 1996) und >Science & Technologie Studies* (z.B. Lynch/Collins 1998) erforderlich; zum anderen müßte der theoretische Bezug einer wissenssoziologisch-diskursanalytischen Perspektive auf körperliche Behinderung« zu den mittlerweile auch im deutschen Sprachraum rezipierten >disability-studies< genauer geklärt werden (z.B. Albrecht/Seelman/Bury 2001; Holzer/Vreede/Weigt 1999; iMitchell/Snyder 1997; 2001).
377
in ihrem herstellenden wie verwendenden Umgang eine relevante gesellschaftliche Größe, lassen sie gesellschaftlich >wirklich< werden (vgl. z.B. Rammen 1992, S. 21; Joerges 1996, S. i5ff.). Damit lautet die hier zu gebende Antwort auf die Frage, was Körperprothesen >sind< bzw. besser: wie sie aus wissenssoziologisch-diskursanalytischer Perspektive zu konzeptualisieren sind, wie folgt: Prothesen sind sowohl materiale Artefakte wie auch (darin eingeschriebene, also >objektivierte<) diskursive Bedeutungskonzepte\ die es erlauben, bestimmte körperliche Eigenarten in einer bestimmten Art und Weise zu deuten und zu >behandeln«, d.h. mit den bedeuteten« Eigenarten und den sie verkörpernden Subjekten >sinnhaft« (medizinisch, alltagspraktisch) umzugehen. Die mit den jeweiligen Prothesen verbundenen, in ihnen als >dingliche Artefakte« gleichsam materialisierten Programmatiken der Zurichtung von Körperlichkeit - und nicht die beschädigte körperliche Funktionalität - bestimmen die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit des Prothesenträgers und seiner sozialen Mitwelt - und zwar sowohl im leibhaftigen« Selbst-Bezug des Prothesenträgers wie im (verkörperten) sozialen Bezug zum Anderen. Zu fragen ist demnach: In welcher Form und mit welchen Konsequenzen für den leibhaftigen« Selbstbezug wie für den (verkörperten) sozialen Bezug zum Anderen ist der (>disabled<, unvollständige, defizitäre) Körper Bestandteil spezifischer und womöglich sich in Zukunft verändernder Bedeutungsrelationen (von Vollständigkeit/Unvollständigkeit >des Menschen«, von natürlich/künstlich, lebendig/ nicht-lebendig)? Und wie verbinden sich konkret diese Relationen mit derjenigen sozialen Praxis, die sich ihnen mittels Einsatz von Technik widmet: der Prothetik?
3. Von der Prothese zum hybriden Technofakt Z u m Wandel der symbolischen Ordnung und materialen Praxis der Prothese Die Bearbeitung dieser Fragen erfordert eine Rekonstruktion der Entwicklung der Prothesentechnik - salopp formuliert: vom Holzbein bis zum Bio-Chip-Implantat - als Diskurs, der sich in den Prothesen materialisiert bzw. sich in ihnen als materiale Praxis der Prothetisierung von Körpern objektiviert. Doch einen solchermaßen fragenden Blick in die Geschichte wie auf den derzeitigen Entwicklungs378
stand (oder gar in die Zukunft) der Körperprothetik zu wagen, ist ein schwieriges Unterfangen, weil bis heute systematische und umfassende historische Arbeiten, die als erstes Fundament für eine solche diskurstheoretische/wissens- und kultursoziologische Rekonstruktionsarbeit dienen könnten, fehlen (Schnalke 1999, S. 137). Dennoch soll in den folgenden Abschnitten die Prothesentechnik kurz beleuchtet und dabei insbesondere ihre konkrete, technisch-materiale Gegenständlichkeit mit ihrer je eigenen >Körper-SchnittsteIle< sowie die in ihr jeweils materialisierten Bedeutungsrelarionen - bezogen auf Körper, hinzugefügtem >Ding< und Subjektivität — diskutiert werden.7 •?./ Entwicklung, aktueller Stand und Zukunft der Körperprothetik — eine kursorische Diskursskizze Der Begriff der >Prothese< bedeutete ursprünglich im Griechischen >Voranstellung< und wurde lange Zeit ausschließlich als grammatikalischer Ausdruck verstanden. So wie wir ihn heute in der Alltagssprache benutzen, als Bezeichnung für den technisch-künstlichen Ersatz eines fehlenden Körperteils bzw. von dessen Funktion (Beinprothese, Zahnprothese etc.),8 wird er erst seit ca. dem 17./18. Jahrhundert verwendet. Zwar existieren archäologische Funde, die eine weit zurückreichende Geschichte von Körperprothesen illustrieren — so z.B. eine künsdiche Hand aus Leder, gefunden in einem ägyptischen Priestergrab aus dem Jahr 300 vor unserer Zeitrechnung, die allerdings vermudich vor allem >kosmetischen< Zwecken gedient haben dürfte, aJso wohl als Schmuckhand verwendet wurde. Unter dem eindeutigen Primat von natürlich gegebener, aber beschädigter und deshalb soweit wie möglich wiederherzustellender Körper-Funktionalität - d. h. in der heute geläufigen Konnotation des Prothesen-Begriffs - standen wahrscheinlich erst jene, bis 7 Für die folgende Skizze vgl. Hinweise z.B. in Berr (1989); Felderer (1996); Schnalke (1999); Seltzer (1992). 8 Anders als im vorherigen Abschnitt argumentiert, sprechen wir z. B. bei einem gespendeten Herzen in der Regel eben nicht von einer >Herzprothese<, womit die bereits angedeutete und alltagssprachlich offensichdich (noch?) wichtige Differenz zwischen der kiinsdichen Herstellbarkeit einer (anorganischen) Prothese und der lediglich »technischen Prozedur der Übertragung eines >Organs< - verstanden als etwas »natürlich Gegebenes«, welches technisch unterstützt seinen >Ort< wechselt zum Ausdruck kommt. 379
ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Prothesenbeispiele aus Italien oder auch Deutschland, wie sie dann z.B. die literarisch berühmte Eisenhand des Götz von Berlichingen darstellt. Von diesen Anfängen ausgehend zeigt sich - oberflächlich betrachtet - eine kontinuierliche Entwicklung der Prothetik, die als zunehmende funktionale Spezialisierung, Differenzierung und Verfeinerung in der Bedienung der Prothesen zu kennzeichnen ist und die jeweils auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge widerspiegelt, in die ihr Träger eingebunden war bzw. durch die Prothese wieder eingebunden werden sollte; - so z.B. von der künstlichen Kampfhand des Adeligen bis hin zu Arbeiterhand-Prothesen, die auf das Halten von Werkzeugen hin optimiert waren. Hinsichtlich der >Bedienung< der Prothese bzw. der Schnittstelle zwischen dem Körper des Prothesenträgers und der Prothese dominierten lange Zeic rein mechanische Bewegungsmöglichkeiten der Prothesen. So gelang es ab dem 19. Jahrhundert, infolge der zunehmenden Verfeinerung der verwendeten Materialien, z.B. künstliche Hände so anzufertigen, daß sie mit der Kraft der an der Prothese ansetzenden Unterarmmuskulatur (oder z.B. bei Armprothesen durch das Schulterblatt), wenn auch in recht begrenztem Umfang, bewegt werden konnten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs experimentierte man dann mit so genannten myoelektrischen Hand- oder Armprothesen, bei denen Muskelaktionspotentiale elektrisch verstärkt und zur Steuerung der Prothesen eingesetzt wurden. Die in der Folge erzielten Fortschritte in der Gewebeforschung und der Einsatz von Mikroelektronik ließen dann schnell jene Visionen entstehen, die einst lediglich als zukünftige Verheißungen - langsam immer konkretere Gestalt annehmen: z.B. eine verlorene Hand aus körpereigenem Gewebe und/oder künstlichen Materialien komplett nachzubilden und mittels digitalisierter Steuerungsmechanismen mit den Nervenfasern des Körpers zu vernetzen (Berr 1989; 1994). Derzeit stecken solche >Neuro-Implantate<, die direkt Nervenzellen stimulieren, zwar insgesamt noch immer weitgehend im Anfangsstadium, doch spätestens seit Ende der 1980er Jahre wurde und wird daran in den medizintechnischen Labors intensiv gearbeitet. So findet der interessierte Laie unter dem Stichwort >Neuro-Prothetik< Prothesen-Beispiele, die z.T. über den Experimentierstatus schon weit hinaus sind: ein Innenohr-Implantat für Innenohr-Hörgeschädigte, ein Harnblasenstimulator bei Querschnittsgelähmten oder den >elek380
tronischen Schrittmachen, eine >Laufprothese<, die bei bestimmten Formen von Querschnittslähmungen durch >funktionelle neuromuskuläre Stimulation (FNS) die Ausübung einfacher Schrittbewegungen ermöglicht. Allerdings handelt es sich hierbei in der Regel um Prothesen, die lediglich - wie eigendich bereits beim Herzschrittmacher - eine neuronale Steuerung von Muskeln, z.B. von Armund Beinmuskeln, leisten, ohne daß bereits eine echte neurokommunikative Integration der Prothese erfolgen würde. Dazu brauchte es eine Prothese, die z.B. im Falle einer Querschnittslähmung eine Art eigenständige Brückenfunktion im Rückenmark als Ersatz für die in der Wirbelsäule ausgefallenen Nervenzellen einnehmen könnte. Der Vorteil einer solchen Bio-Chip-Prothese, die also einen eigenständigen Part im zentralen Nervensystem einnehmen müßte, läge dann bspw. darin, daß der Patient nicht mehr (ähnlich einer bewegten, aber leblosen Maschine) über Glasscherben laufen würde, weil die Beine selbst nicht nur muskulär stimuliert sich bewegen würden, sondern auch wieder schmerzempfindlich wären (Bothe/Engel 1993, S. i63ff). Eine solche Prothesentechnik auf der Basis von Neurobionik zielt so ein Zitat aus einem Neurobionik-Buch - in ihrem Selbstverständnis darauf, »Technik zum integralen Bestandteil des Organismus zu machen - Technik, Seite an Seite mit dem neurobiologischen System des Menschen. Die neuronalen Prothesen der Zukunft sollen nur jene Strecken überbrücken, die in irgendeiner Weise defekt sind und diese Hilfe benötigen.« (ebd. 1993, S. 170) - Und sei es im Rükkenmark oder direkt im Gehirn. Wo also bislang noch darüber diskutiert wurde, wo z.B. die ethischen Grenzen zu ziehen sind bei der Einpflanzung fremden Hirngewebes, das (als organische Hirnprothese<) von einem >toten menschlichen Körpen stammen muß, aber selbst keinesfalls >tot< sein darf, sondern >lebendig< sein muß, wäre vielleicht eine Alternative in der Zukunft - so zumindest lautet die als >denkbar< bezeichnete Option - die Implantation einer neuronalen Gehirnprothese (vgl. z.B. bereits Linke 1996). Und wie sich darin jenes erwähnte Common-sense-Prothesenverständnis einerseits nahdos fortschreibt, andererseits gerade im gedachten Verhältnis von Prothesenträger und Prothesentechnik eine neue Deutungsqualität gewinnt, offenbart ein weiteres Zitat: »Neuronale Prothesen sind letztlich Meisterwerke der Technik, im Grunde Ersatzteile für biologisch Verlorenes, mit dem Unterschied, daß sie nicht als technische 381
Anhängsel begriffen werden. Durch ihre neuronale Integration werden sie Teil des Patienten [...]« (Bothe/Engel 1993, S. 175f.). Und die konsequente prothetische V/eiterfuhrung dieser Vision bestünde dann letztlich nicht nur darin, biologisch Verlorengegangenes zu ersetzen. Sondern sie läge - wie in diesem Kontext immer wieder formuliert - insbesondere auch in der generellen Möglichkeit, künstliche Sinne insgesamt gleichsam >unter die Haut< zu pflanzen. So wäre z.B. bei neuronalen Augen- oder Ohrenprothesen durchaus denkbar, technische >Sonderausstattungen< wie Empfindlichkeit für UVLicht oder Infrarotstrahlen oder Ultraschall in Betracht zu ziehen.9
j.2 Der Wandel der Prothesentechnik und die Transformatio von (prothetisierter undprothetisierbarer) Körperlichkeit Um der hier verfolgten Fragestellung nach den in der skizzierten Entwicklung enthaltenen Deutungskonzepten und praktisch relevanten Grenzziehungen zwischen >dem Menschlichem versus dem >NichtMenschlichen< im Verhältnis von Technik und Körperlichkeit weiter nachspüren zu können, genügt es nicht, bei dem >Befund< der zunehmenden technischen Differenzierung und Spezialisierung, Erweiterung und Vervollkommnung der Prothetik stehenzubleiben. Versteht man - wie vorgeschlagen - Körperprothesen als diskursive Bedeutungskonzepte und materiale Artefakte, welche in die Subjektivität des Prothesenträgers eingreifen und die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmen, in der er sich mit seinem prothetisierten Kör9 Vgl. hierzu auch Allert/Kächele (2000); Diederich/Schultz (1995) oder z.B. verschiedene Beiträge zum »defizitären Körpen im Rahmen des 3. Srudienpreises der Körber-Stiftung: »Bodycheck - Wie viel Körper braucht der Mensch?« (Ausschreibung 2000/2001) (v. Radow 2001). Zitiert sei hier auch kurz aus der Ankündigung des unter der Überschrift >High Tech für den Körper« aktuell annoncierten Schülerwettbewerbs >Medizintechnik der Zukunft«: »Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) startet einen Schülerwettbewerb zur Medizintechnik von morgen. Bei -High Tech für den Körper« sind Schülerinnen und Schüler der Oberstufe aufgerufen, sich ihren Körper der Zukunft vorzustellen. Von kürodichen Nervenzellen über die Brille, mit der man bis nach Afrika blicken kann, bis hin zum Mikrochip, der Vokabeln direkt in unser Gehirn speichern kann - gefragt sind kreative Ideen, die das Leben erleichtern. Gleichzeitig möchte das BMBF mit dieser Ausschreibung junge Menschen zur kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsvisionen anregen. Die Antwort auf die Frage »Wollen wir den Roboter in unserem Körper überhaupt?! kann ebenso als Wettbewerbsbeitrag eingereicht werden.* ([email protected] vom 2. 3. 2004). 382
per befindet, lassen sich in der vorangegangenen Diskursskizze grob folgende Entwicklungslinien identifizieren (die im Weiteren in drei Argumentationsschritten näher erläutert und diskutiert werden sollen): i. Eine diskursive Entwicklungslinie verläuft vom Ersetzen des verlorengegangenen, nicht-vorhandenen Organischen (Lebendigen, Natürlichen) durch das Unorganische (das hergestellte und dem Körper hinzugefugte Nicht-Lebendige) über den hinzukommenden Austausch von Organischem hin zur Verschmelzung von Organischem und Unorganischem (Hybridisierung, Aufhebung der Grenze zwischen lebendig/nicht-lebendig, natürlich-gegeben/ künsdich-hergestellt). 2. Dabei wandert die Prothetik von der Körperoberfläche sowohl in den Körper wie ebenso in Richtung einer Aufhebung, Verflüssigung von Körpergrenzen als kulturell fixierter Innen-AußenKonzeption im Sinne einer zunehmenden direkten Einbindung (Vernetzung) des prothetisierten Körpers in das ihn umgebende technische Ensemble. 3. Erscheint das Unorganische zunächst noch als einfacher, minderwertiger Ersatz gegenüber dem Organischen (im Vergleich zum wie oben argumentiert - per se problematischen Austausch des Organischen), so gewinnt beides in der Transformation zum synthetisch hergestellten Hybriden an Wertigkeit: Das einzuverleibende Technische< ist nicht mehr bloßer Ersatz, sondern als fortschreitende Extension und Intensivierung des Körperlichen dient es der optionalen Optimierung des nun interessensflexibel und situationsoffen als vollständig/defizitär deutbaren Körpers. Diese diskursiven Entwicklungslinien deuten insgesamt in Richtung einer Ablösung des modernen Verständnisses >der Prothese< mit der für sie konstitutiven Unterscheidung zwischen einem als gegeben gesetzten (natürlichen, vollständigen versus defizitären) Körper und >kultürlicher< Technik als Mittel zum Zweck der näherungsweisen Wiederherstellung von Vollständigkeit. Statt dessen konturiert sich in und durch die Perspektiven der heutigen Prothetik ein anderes, ein neues Deutungskonzept - das des >hybriden Technofakts< mit dem zukünftig das Verhältnis von Körperlichkeit und Technik wahrzunehmen, zu definieren und praktisch zu gestalten ist. An die Stelle der an natürlich gegebenen Körperlichkeit fixierten normativen Leitdifferenz von vollständig/defizitär und der Vorgabe einer 383
bestmöglichen >Wiederherstellung< des vorgängig Körperlichen tritt nun die am technisch Machbaren ausgerichtete und normativ weiter greifende Semantik der körpertechnischen Erweiterung (>enhancement<), Optimierung (vgl. auch Allen/Kachele 2000). Werkzeug, Prothese und das Denkmodell des Bio-Chips
Die neuzeitliche, moderne Prothese als materiales Artefakt basiert einerseits auf einer Deutungsanalogie zum Werkzeug. Das heißt: Jedes Werkzeug könnte man interpretieren als organische Projektion* und >Funktionsanalogie<, als materiale Manifestation eines funktional spezifischen Zwecks in Anlehnung bzw. Weiterfuhrung (funktionale Optimierung) des betreffenden menschlichen Organs - z.B. der den Nagel in die Wand schlagende Hammer als zuschlagende Faust. In der Form des materialen Artefakts >Prothese< bringt diese organische Projektion< im Gegensatz zum Werkzeug jedoch andererseits die Differenz zwischen Vollständigkeit und damit körperlicher Vollwertigkeit im Gegensatz zu Absenz bzw. Verlust einer körperlichen Eigenschaft, Fähigkeit des betroffenen Subjekts ins Spiel. Sie ist im herkömmlichen Sinn und anders als das Werkzeug - der maschinell-mechanisch konzipierte minderwertige Ersatz< für körperliche Fähigkeiten, die dem Körper als natürlich eignend gedacht werden und vielfältigen Zwecken dienen können: Der Nagel läßt sich zwar nur mit dem Hammer in die Wand schlagen und nicht mit der Faust, die Hand jedoch kann ebenso einen Hammer wie eine Zange führen, darüber hinaus Wärme und Kälte fühlen etc.; wenn man so will: Im Gegensatz zum Werkzeug metamorphosiert sich in der Prothese das Natürlich-Körperliche des Menschen ins Technisch-Künstliche infolge einer zwangsläufigen Funktionsselektivität auf prinzipiell niedrigerem Niveau (z.B. in der auf das Greifen hin ausgerichteten Handprothese). Demnach ist es die interessens- und situationsunflexible, weil material festgeschriebene >Zweckfokussierung< der Prothese, we che die >Minderwertigkeit< gegenüber dem zu ersetzenden, natürlich Gegebenen symbolisch zum Ausdruck bringt. Diese Logik der >min derwertigen, funktionsanalogen organischen Projektion< gilt letztlich für alle mechanisch dominierten Prothesen - also gewissermaßen vom Holzbein bis hin zum Herzschrittmacher. Dem entgegen steht das Denkmodell der Neurobionik, des BioChip-Implantats: Die erste entscheidende Deutungsdifferenz zur her 384
kömmlichen Prothese liegt darin, daß das Maschinenmodell des Computers der Logik des formalisiert Input in Output verarbeitenden, >zweck-losen< — im Sinne von: fiir jeden Zweck offenen und auf j liche Materialitäten anwendbaren - digitalen Systems folgt (vgl. z. B. Bamme' u.a. 1987; Bamme 1998). Mit dieser grundsätzlich zweckungebunden, interessensflexiblen und situationsoffen einsetzbaren Materialität des Bio-Chips verschwindet - als zweite Differenz - auch jene Bedeutungsrelation der mechanischen Prothese zum >natürlich gegebenem Körper, die als organische Projektion die minderwertige, zweckfokussierte funktionale Ergänzung bzw. Substituierung natürlich gegebener Fähigkeiten und Funktionen des Körpers als (näherungsweises) >Abbild< fixiert. In letzter Konsequenz verwischt sich so mit der hybriden Neurobionik die für die moderne Prothese noch klare Grenzziehung zwischen natürlich/künstlich sowie lebendig/ nicht-lebendig. Allerdings löst sich dabei der - der herkömmlichen Prothese wie dem Bio-Chip unterliegende - Deutungsrahmen von vollständiger/'unvollständiger Körperlichkeit keineswegs auf, sonder er wird vielmehr auf der Basis eines >von der Natur befreitem Regimes von körperbezogenen Erwartungen, Normen und Zwängen >technisch entgrenzu (nicht grenzenlos!): Das, was es zu ersetzen, zu unterstützen oder auch zu erweitern gilt, weil es situationsflexibel als defizitär, als nicht hinreichend wahrgenommen und bewertet wird, wird jetzt wahrgenommen als der Effekt von dem, was materialtechnisch bearbeitet werden kann (Jain 1999, S. 42). Der entgrenzte Prothesenkörper Diese entgrenzte Deutungslogik von vollständiger/unvollständiger Körperlichkeit, die insbesondere mit der diskursiven Popularisierung der Neuro-Prothetik im Rahmen der immer wieder verheißenen allseitigen Computerisierung des Alltags einhergeht, läßt sich vielleicht am anschaulichsten an folgendem Beispiel kurz illustrieren: Anläßlich einer Feuilleton-Beitragsreihe im Vorfeld der Jahrtausendwende zur >Gegenwart der Zukunft< hat der Kulturkritiker Neil Postman (1999) die Frage erörtert, wer denn bspw. die Möglichkeit, sich mit seinem Haushalt vollautomatisch zu vernetzen, überhaupt brauche. Mittlerweile allseits bekannt sind die Beispiele des computerisierten Heims mit entsprechender Heizungs- und Elektro-Installation bis hin zu vollautomatischen Küchenmaschinen, die, weil selbständig 385
das Nahen des >Hausherrn< resp. der »Hausdame* erkennend, starten wenn man mit dem Auto in die Garage einfährt, während gleich zeitig sich die Badewanne für das feierabendliche Entspannungsbad füllt. Die mit solchen Diskursen zu ziehende Linie von dieser schönen. neuen Haushaltswelt zur Prothesen-Thematik lautet: Den neuen bio technischen, neurobionischen Möglichkeiten kommt hierbei gleich sam eine symbolische >Vorreiterrolle< zu, indem sich in ihnen jene, mit der herkömmlichen Prothese einhergehende Deutungsrelation von vollständigem /unvollständigem Körper in den als wandelbar, machbar, vielseitig vernetzbar gedachten >Körper< ohne kulturell fest gestellten Innen-Außen-Bezug transformiert. Wie im vorherigen Schritt argumentiert, erscheint auch und gerade in und durch die prothetische Praxis des Bio-Chip-Implantats die Referenz >menschliche Körperlichkeit^ selbst prinzipiell variabel, herausgelöst aus seiner vormals >körperlich gebundenem Bedeutungsrelation von >lebendig als natürlich Gegebenes< versus >nicht-lebendig als künsdich Hergestelltes und Hinzugefügte und kann gerade infolge dieser >Ent-Bindung< Teil eines jeglichen, prinzipiell beliebig erweiterbaren maschinelle Ensembles werden. Ob ein solches Ensemble dann auf eine komplexe, biotechnisch modellierte Bewegungsapparatur fokussiert bleibt oder auch bereits die auf der künstlichen, ebenso für Infrarotlicht sensitiven Retina eingespeisten Internetinformationen umfaßt oder gleich die heimischen Küchenmaschinen integriert - das ist für den Deutungszusammenhang als solchen unerheblich. Alltagspraktisch wird dies letztlich vielleicht bloß noch zu einer Frage der Werbung, die, innerhalb des damit korrespondierenden Regimes von Erwartungen an den Körper, solches dann als erfüllbare Bedürfhisse zu vermitteln suchen wird. Konkret auf die darin enthaltene dynamisierte Deutungslogik bezogen: Das dergestalt erweiterbare gesellschaftliche Regime der Erwartungen an den Körper (und damit auch an das Subjekt) bildet den nach der jeweiligen Situation flexibel spezifizierbaren und in dieser räumlich-zeitlichen Situiertheit je geltenden Deutungsrahmen für das, was jeweils als Vollständigkeit oder Unvollständigkeit eines Körpers wahrgenommen werden kann. Folglich läßt allein schon die diskursiv vermittelte Existenz einer Prothese den Körper in dem von der Prothese repräsentierten Sinn als >potentiell unvollständig< erscheinen. Und in dem Maße, in dem der Verweisungszusammen 386
hang der herkömmlichen Prothese von der natürlichen Gegebenheit (Vollständigkeit) des Körpers und seinem künsdichen Ersatz verschwindet, erscheint im Rahmen solcher Neuro-Prothetik-Semantik jegliche Form von Körperlichkeit in diesem neuen Sinne als >prothetisierungs- bzw. besser: bearbeitungs- und optimierungs7Wfl£//f/>< - sie muß nur noch als >prothetisierungs- bzw. bearbeitungs£tt/«r/tt£< definiert werden. Der diskursive Effekt lautet: Was also möglich ist, muß nicht nur gemacht, sondern auch gewollt werden, und damit gerät einerseits das Gegebene im Rekurs auf das Mögliche immer schon zum Unvollständigen. Und andererseits konkretisiert sich diese prinzipielle Unvollständigkeit des umfassend prothetisierbar gewordenen Körpers für das Subjekt jeweils situations- wie interessensspezifisch im Rahmen einer als flexibel, herstellbar und vielfältig vernetzbar gedachten Körperlichkeit. (Prothetisierter) Körper und Selbst - verkörperte Subjektpositionierungen Das Argument der durch den Wandel von der herkömmlichen Prothese hin zum hybriden Technofakt >entgrenzten Prothesenkörper führt zu der Frage nach den damit verbundenen gesellschaftlichen Logiken der Subjektkonstitution und -positionierung. Es geht also um die praktische Relevanz« dieses gesellschaftlichen Regimes der Erwartungen an den Körper, der auf den Körper gerichteten Normierungen und Zwänge: Geht mit dieser Transformation der Deutung von körperlicher >Vollständigkeit/Unvollständigkeit< auch ein Wandel des Verhältnisses von Subjekt und Körper sowie des »verkörperten Austauschs< der Subjekte einher? Michel Foucault (1978; 1988) hat daraufhingewiesen, daß mit der Herausbildung und Durchsetzung der Moderne der Körper zum prominenten Ort der Produktion von Wahrheit über das Subjekt* wurde - und zwar in doppelter Hinsicht: im Blick von Außen auf das Selbst des Anderen sowie als zentrales expressives Ausdrucksniittel für das authentische Selbst<. Im Gegensatz zur traditionalen Gesellschaft drückt der Körper in der Moderne symbolisch (durch Kleidung, Haut, oder auch durch Krankheit, Gebrechen etc.) nicht mehr die göttliche Welt- und die durch sie legitimierte diesseitige Herrschaftsordnung aus, er repräsentiert auch nicht (mehr) die sündige Existenz des Menschen. Er verweist (in typisierter Form) viel387
mehr auf die >je eigene Persönlichkeit des verkörperten Subjekts z.B. der dynamisch-schlanke Körper des zielstrebigen, maßhaltenden, disziplinierten Erfolgsmenschen im Gegensatz zum heruntergekommenen Körper des Wankelmütigen mit seinem gesundheitlich fahrlässigen Lebensstil. Entsprechend dieser modernen, subjektivierend-ästhetischen Moralisierung des gesund zu haltenden Körpers, die in der Tradition von Descartes auf der Herrschaft des Willens über den Körper gründet und sich als normative Vorgabe an den modernen »Homo Hygienicus< (Labisch 1992) richtet, gesellt sich im neuzeitlichen bzw. dann modernen Verständnis des prothetisierten Körpers jene oben angeführte besondere Wertigkeitsproblematik: Zwar erscheint die neuzeidiche Prothese als minderwertiger künsdicher Ersatz der den Körper von der Natur her eignenden Eigenschaften und Fähigkeiten, aber das in der körperlichen Funktionsfähigkeit defizitäre moderne Selbst darf nicht aufgrund seiner Körpereinschränkung moralisch abgewertet werden, weil die körperliche Funktionsfähigkeit (im Sinne von >Vollständigkeit<) nicht durch den Willen allein (wieder-) herzustellen wäre. Von diesem modernen Bild des Körperbehinderten unterscheidet sich das noch bis weit in die Neuzeit hineinreichende, vormoderne Selbst- und Fremdbild des Krüppels grundlegend: Der Krüppel büßte in seiner körperlichen Versehrtheit >leibhaftig< für seine eigenen Sünden und/oder die der anderen schon im Diesseits und durfte deshalb, weil also seine Existenz nicht allein von seinem >Willen< abhing und auch von kollektiver >Heilsrelevanz< war, vor allem Mitleid - genauer: Mildtätigkeit, manchmal sogar wunderliche Heilung erwarten. Im Gegensatz dazu hat dem modernen >Behinderten* infolge der durchaus zweischneidigen symbolischen Unterordnung seiner leibhaftigen Existenz unter das verweltlichte Behandlungs- und Kon troll regime der modernen Kranken rolle — zumindest als normative Vorgabe - solidarische Hilfe zuzukommen. Damit sind zwei unterschiedliche Modi der Vergesellschaftung von körperlicher Andersheit, wahrgenommen als >versehrt<, als >defizitär<, auf der Grundlage unterschiedlicher Grenzziehungen zwischen einem gesellschaftlichen Innen und Außen verbunden: dort der vormoderne Krüppel als eine vor allem auch auf das Jenseits verweisende Existenzform, die das diesseitige Außen der traditionalen Gesellschaft repräsentiert; hier der moderne >Behinderte< als immer schon und immer bleibender hilfsbedürftiger >Kranker<, der in seiner Exi388
stenz das Wechselspiel von individuell und kollektiv zugeschriebenen Integrationsmöglichkeiten und -defiziten bzw. Desintegrationsgefahren in der modernen Gesellschaft ausweist (grundlegend hierzu z.B. Stiker 2001, auch Fandrey 1990). Diese moderne Deutungsfolie einer zu prothetisierenden körperlichen Unvollständigkeit eröffnete mit dem (modernen) Körper als expressives Ausdrucksminel des »authentischen Selbst< auch für das moderne körperbehinderte Subjekt die Möglichkeit - z.B. in der gesellschaftlich-öffendichen Wahrnehmung, etwa in der medialen Politik des Selbst< - , gerade durch die (gesellschaftlich zugeschriebene) >Behinderung< und die damit notwendige Prothese seine Individualität zu markieren. Zu denken wäre als reale Person etwa an Stephen Hawking oder als literarische Figur an Kapitän Ahab, der nicht Kapitän Ahab wäre ohne sein Holzbein. Mit dem Körperteil-Ersatz markiert die Person Ahab zwar eine Differenz zum >normalen< (vollständigen) Körper, wird aber gerade dadurch zu dem spezifischen Subjekt Ahab als Individuum: Ahab hat nicht nur ein Holzbein, sondern er ist sein Holzbein, sein Holzbein macht ihn zu dem, der er ist! Um es deutlich zu formulieren: Das hinter der herkömmlichen Prothesentechnik stehende Regime von Erwartungen an den defizitären Körper in Abgrenzung zum natürlich gegeben gedachten, vollständigen Körper, an dem sich der >Prothesen-Sinn< ausrichtet und welches die materiale Praxis der Prothesenverleihung und -Verwendung anleitet - in diesem neuzeitlich-modernen Regime ist es also gerade nicht die Möglichkeit des künstlichen Beinersatzes, nicht die pure Existenz der Holzbein-Prothese, die Kapitän Ahabs Körper erst unvollständig macht (und ihn damit als Subjekt positioniert), sondern sein fehlendes Bein, auch wenn dann die leibhaftig in das Selbst integrierte Prothese konstitutiver Bestandteil seiner Individualität wird. Sofern die vorangegangenen Ausführungen zum >entgrenzten Prothesenkörpen plausibel erscheinen, läßt sich vermuten, daß die skizzierte Modernisierung der modernen Prothese hin zum hybriden Technofakt zu einer gleichsam radikalisierten Anwendung jener, für die Moderne kennzeichnenden subjektivierend-ästhetischen Moralisierung des Körpers führen wird. Sie läßt sich nun an jedweden Körper anlegen, in welcher Situation und aufgrund welcher Interessen/Bedürfnisse auch immer dieser als vollständig/unvollständig< erfahren werden und in dieser Erfahrung ggf. als optimierungsmöglich wie bearbeitungsbedürftig erscheinen kann. In dieser Fortfüh389
rung und Radikalisierung darf jegliche Form von Körperlichkeit bis hin zur (angeborenen) Anatomie weder als Schicksal noch gar als gesellschaftlicher Effekt gelten - wie ehedem etwa der gebückte Körper des Leibeigenen oder noch der gekrümmte Rücken des Fließbandarbeiters. Sie wird vielmehr zum Resultat individuell zugeschriebener Entscheidungen und Handlungen, also eine Frage des selbst gewählten Lebensstils - und zwar eben auch dort, wo die Anatomie des Körpers als körperliche >Unvollständigkeit< leibhaftig gespürt wird.10 Damit reduziert sich »körperliche Behinderung< in ihrer Diskursivierung als soziales Phänomen und gesellschaftliches Thema von der Frage nach dem gesellschaftlichen Innen/Außen - also nach Integration, Desintegration bis hin zu Diskriminierung - auf die dann im Vordergrund stehende Frage nach der individuellen Kompetenz im Umgang mit der je »eigenen Behinderung« und der dazu passend gewählten technischen Bearbeitung. Die Integration der hybriden Technofakte in den »eigenen Leib< als materialen Ort des Selbst wird so zur konstitutiven Leistung des Individuums, abhängig vom eigenen Ressourcenmanagement, den individuellen Möglichkeiten der Lebensumstände und Lebensperspektiven. Gerade eine solche »Individualisierung< - im Sinne einer >Körperbefreiung< aus den »Zwängen der Natur« und unter der Maßgabe der >Selbst-Verwirklichung< als Effekt individueller Wahlen - verschleiert in letzter Konsequenz die dahinter liegenden gesellschaftlichen Normierungen und Zwänge zur Bearbeitung und Zurichtung des individuellen Körpers. Und dieser Prozeß der »Technisierung des Körpers< kann bereits heute vielleicht am deutlichsten dort beobachtet werden, wo (noch) »Prothesen<(?) (in Zukunft wohl eher: »hybride Technofakte<) ganz »selbstverständlich< - so jedenfalls die häufig vermittelte Diskursbotschaft in den Medien - zur >frei< gewählten, ästhetisch-expressiven »Selbst-Optimierung« eingesetzt werden: bei Schönheitsoperationen (z.B. Ensel 1998; v. H a y e k 2 0 O i ) .
10 Lohnenswert wäre hier eine genauere Analyse der damit verbundenen und bereits in heurigen Diskursen zu . Behinderung* enthaltenen »Bagatellisierung von Leiderfahrung« bis hin zu der durch sie beförderten >Encsolidarisierung< mit »behindertem Menschen (KuhJmann 2001, S. 58). 390
4. Das >hybride Technofakt< und die Reflexivität der Grenzen des Sozialen
Sofern der hier skizzierte Wandel der Körperprochese plausibel erscheint, folgt daraus ein neues Regime der körperbezogenen Grenzziehung zwischen einem (individuell-körperlichen wie gesellschaftlichen) Innen und Außen, zwischen Selbstbezug und Austausch mit anderen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden: In dem Maße, wie das >hybrideTechnofakt< mit seiner dynamisierten Unvollständigkeit/Vollständigkeits-Differenz zum konstitutiven Selbst-Bestandteil der Subjekte wird, verschwindet mit der herkömmlichen Prothese auch - in letzter Konsequenz - das moderne Bild des körperbehindertem mit seinen Wertbezügen und Handlungsvorgaben. Welche Chancen, Risiken, Ambivalenzen damit auch immer einhergehen mögen, so wird als Konsequenz zum einen die UngleichheitsreUvanz von Körperlichkeit generell zunehmen-, d.h. wir werden uns zukünftig in wachsendem Maße mit den vielfältigen Ungleichheiten hergestellter Körperlichkeit< und deren sozialen wie gesellschaftlichen Folgen konfrontiert sehen (vgl. auch Bendel 1999, S. 304ff.). Und zum anderen werden die bislang weitgehend als fraglos gesetzten Grenzen des Sozialen >reflexiv<: d.h. sie verlieren in zunehmendem Maße ihre Un hinterfragbarkeit und Selbstverständlichkeit. Wie Gesa Lindemann (2002, S. 19fr.) argumentiert hat, bedienen wir uns - wir als Gesellschaftsmitglieder (und nicht selten auch wir als Soziologen) - bislang in der Regel nicht mehr weiter hinterfragter Grundannahmen und impliziter Voraussetzungen über >das Menschliches stellen und beantworten die beiden anthropologischen Grundfragen: Was ist der Mensch? und: Wer ist ein Mensch? entlang der unverrückbar gedachten Conditio humana. Aber: Was und wer ein >Mensch< ist, so Lindemann, wird (bzw. besser: muß) in Zukunft in historisch kontingenten Deutungsverfahren entschieden und entlang (>machtvoller<) sozialer Praxis gesichert oder verändert (werden). Modernisierungstheoretisch argumentiert, orientiert sich >die Moderne< in ihrer sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, dabei weitgehend einer binären Logik folgend, an Deutungsmustern eines eindeutigen >Entweder-Oderr}x vollständig gegebene oder unvollständige 11 Dieses Argument ließe sich in Anlehnung an die kontroverse Debatte um »reflexive Modernisierung« in der dortigen Terminologie von > Basisprinzipien und Basisinsti3 91
Körperlichkeit, natürlich oder künstlich, lebendig oder nicht-lebendig, Mensch oder Maschine. Für eine - wie auch immer zu konzipierende >Nach-Moderne< erscheint die Frage Mensch oder Maschine lebendig oder nicht?<, natürlich oder künsdich< prinzipiell als offen, unbestimmt, ambivalent; ja mehr noch: Die zur Bearbeitung dieser Frage verfugbaren Deutungskonzepte und Unterscheidungen, was einen Menschen oder eine Maschine kennzeichnet, was den einen als (mehr oder weniger) menschlich oder das andere als (mehr oder weniger) nicht-menschlich ausweist, was vielleicht sowohl als lebendig wie auch als nicht-lebendig zu betrachten ist —, diese Konzepte und Unterscheidungen mit ihrer Logik der graduellen Differenz bis hin zum >Sowohl-als-Auch< werden entlang solcher - hier am Beispi der Prothesenentwicklung skizzierten - normalisierender KörperDiskurse< vor allem ihrer unhinterfragbaren Gegebenheit entkleidet, welche ihnen die Moderne ja erst verliehen hat. An die Stelle der beiden anthropologischen Grundfragen treten somit die soziologisierten Fragen: Wie werden in Gesellschaften die Deutungen reguliert, durch die festgelegt wird, wer oder was in den Bereich des Sozialen gehört und wer oder was aus diesem Bereich ausgeschlossen wird? Und: Wie wird in Gesellschaften die Umweltbeziehung derjenigen >Entitäten< reguliert (z.B. jener >Maschinen-Menschen<, die auf Intensivstationen >von der Maschine am >Leben< erhalten werden), die in den personalen Seinskreis gehören (sollen?) und damit als soziale Akteure gesehen werden (sollen)? (Lindemann 2002, S. 42 5 ff.) Die Prothetik steht vielleicht mehr, als bislang wahrgenommen, im Zentrum dieses kulturellen Wandels, der uns immer weniger gestattet, die Frage nach den »Grenzen des Sozialen* anhand von dem Sozialen als vorgängig gedachten - anthropologisch begründet Kategorien >des Menschlichem zu beantworten (ebd.). Freilich sollte die Soziologie bei der Bearbeitung dieser Entwicklung nicht feuilletonistischen Aufgeregtheiten aufsitzen. Auf dem Symposium des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen gab Werner Rammert mit Recht zu bedenken: »So wenig wie die Symbiose von Reiter, Ross und Rüstung an der Schwelle des Mittelalters den Menschen abgelöst hat, so wenig wird die intimere Symbiose von Mensch, Mikrochip und mobilem Nanoassembler den Menschen ablösen.« (zit. nach Staun 2000, S. 17) Dem ist zweifellos zuzustimtutionen< weiter theoretisch ausfuhren (Beck 1996, S. 46ff.; Beck/Bonß/Lau 2001, S. 37 ff.}.
391
men, wenngleich hinzugefügt werden muß: So wie die Symbiose von Reiter, Roß und Rüstung damals die subjektive Wahrnehmung wie kulturelle Konzeption von Raum und Zeit, von Körperlichkeit, Geschwindigkeit bis hin zur Selbst- und Fremdwahrnehmung innerhalb eines hierarchischen Sozialgefüges und den damit verbundenen Herrschaftspraktiken (z.B. als Adeliger auf dem Pferd) in ihren vielfältigen Grenzziehungen (mit-) veränderte, so sicher können wir heute davon ausgehen, daß jene neue Symbiose unser Denken über •den Menschen< und uns selbst, unseren sozialen Austausch als Menschen und unsere Grenzziehungen zwischen Menschen wie zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem nicht unberührt lassen wird. Denn auf jeden Fall sollte man sich nicht der Illusion hingeben, der Mensch bliebe immer Mensch, denn >der Mensch< verändert sich im soziologischen Sinne bereits in dem Moment, in dem wir - als Gesellschaft - beginnen, anders über ihn zu denken.
Literatur Albrecht, Gary/Katherine Seclman/Michael Bury (Hg.) (2001): Handbook of Disability Studies. Thousand Oaks: Sage. Allert, Gebhard/Horst Kachele (Hg.) (2000): Medizinische Servonen. Psychosoziale, anthropologische und ethische Aspekte prothetischer Medien in der Medizin. Stuttgart: Schattauer. Anders, Günther C1988): Die Antiquiertheit des Menschen (Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution). München: C. H. Beck Bamme\ Arno (1998): Technologische Zivilisation, in: Helmut Haberl/Ernst Kotzmann /Helga Weisz (Hg.), Technologische Zivilisation und Kolonisierung von Natur. Wien: Springer, 40-44. Bamme\ Arno/Peter Baumgartner/Wilhelm Berger/Ernst Kotzman (Hg.) (1987): Technologische Zivilisation. München: Profil. Beck, Ulrich (1996): Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfun am Main: Suhrkamp, 19-112. Beck, Ulrich/Wolfgang Bonß/Christoph Lau (2001): Theorie reflexiver Modernisierung - Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11-59. Bendel, Klaus (1999): Behinderung als zugeschriebenes Komperenzdefizir 393
von Akteuren. Zur sozialen Konstruktion einer Lebenslage, in: Zeitschrift für Soziologie 28, 301-310. Berr, Marie-Anne (1989): Der Körper als Prothese, in: Dietmar Kamper/ Christoph Wulf (Hg.), Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin: Dietrich Reimer, 245-264. Berr, Marie-Anne (1994): Die Kadenz der Schöpfung: Gott-Mensch-Maschine, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Anthropologie nach dem Tod des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 203-231. Biber, Herbert (1999): HITEC projektzukunft: Medizintechnik - behutsam und effizient (3sat-Dokumentation). Bothe, Hans-Werner/Michael Engel (1993): Die Evolution entläßt den Geist des Menschen. Neurobionik - Eine medizinische Disziplin im Werden. Frankfun am Main: Umschau. Buder, Judith (1997): Körper von Gewicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2003): Noch einmal: Körper und Macht, in: Axel Honneth/ Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 52-67. Decker, Oliver u.a. (1999): Körpererleben und Transplantation, in: Psychosomatik, Psychotherapie, medizinische Psychologie 49, 448. Diederich, Florian/Regina Schultz (1995): Medizin, Robotik und Neurobionik, in: Roland Seim/Josef Spiegel (Hg.), Roboter-Alltag. Zur Soziologie und Geschichte des künstlichen Menschen. Münster: Kulturbüro, 72-79Douglas, Mary (1974): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in der Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main: Fischer. Ensel, Angelica (1998): »Ich kann viel aus Ihnen machen«. Die ärztliche Selbstinszenierung in der Schönheitschirurgie, in: Kea (Thema: KörperBilder - KörperPolitiken) 11, 131-155. Fandrey, Walter (1990): Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart: Silberburg. Felderer, Brigitte (Hg.) (1996): Wunschmaschine - Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert. Wien: Springer. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Foucault, Michel (1988): Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Guggenberger, Bernd (2000): mensch_macht_maschine, in: politische Ökologie 65, 53-57. Gugutzer, Robert (2002): Leib, Körper, Identität. Eine phänomenologisch394
soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hauser-Schäublin, Brigitta/Vera Kalitzkus/Imme Petersen/Iris Schröder (2000): Der geteilte Leib. Die kulturelle Dimension von Organtransplantation und Reproduktionsmedizin in Deutschland. Frankfurt am Main: Campus. Hayek, Julia von (2001): Auf der Suche nach dem >eigenen< Körper. Schönheitsoperationen in der individualisierten Gesellschaft (Diplomarbeit, Institut für Soziologie, LMU). München: unveröff. Manuskript. Hirseland, Andreas/Werner Schneider (2001): Wahrheit, Ideologie und Diskurse. Zum Verhältnis von Diskursanalyse und Ideologiekritik, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Band 1: Theorien und Methoden). Opladen: Leske & Budrlch, 373-402. Holzer, Brigitte/Arthur Vreede/Gabriele Weigt (1999): Disability in Different Cultures: Reflections on local concepts. Bielefeld: transcript. Jain, Sarah S. (1999): The Prosthetic Imagination. Enabling and Disabling the Prosthesis Trope, in: Science, Technology, & Human Values 24, 31-54. Joerges, Bernward (1996): Technik, Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Joy, Bill (2000): Warum die Zukunft uns nicht braucht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, Nr. 130, 6. Juni, 49/51 [gekürzte Fassung des Originals: »Why the future doesn't need us«, in: Wired, 8. 4. 2000, siehe auch: http://www.wired.eom/wired/archive/8.04/joy.html]. Keller, Reiner (2001): Wissenssoziologische Diskursanalyse, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Band 1: Theorien und Methoden). Opladen: Leske & Budrich, 113-143. Keller, Reiner (2004): Diskursforschung. Eine Einfuhrung für Sozialwissenschaftlerlnnen. Opladen: Leske & Budrich. Klein, Stefan (2000): Handschlag mit der Zukunft, in: GEO-Themenheft »Techno sapiens< 6, 64-78. Kuhlmann, Andreas (2001): Die Risiken der Leidverleugnung. Zum Diskurs über Behinderung, in: Dr. med. Mabuse (März/April) 26, 57-59. Kurzweil, Ray (1999): Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert - was bleibt vom Menschen? Köln: Kiepenheuer & Witsch. Labisch, Alfons (1992): Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus. Latour, Bruno (1996): On actor-network theory. A few clarifications, in: Soziale Welt 47, 369-381. Lindemann, Gesa (1996): Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib, in: Annette Barkhaus/Matthias Mayer/Neil 395
Roughley/Donarus Thürnau (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 146-175. Lindemann, Gesa (2002): Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin. München: Wilhelm Fink. Linke, Dedef B. (1996): Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden. Reinbek: Rowohlt. Luckmann, Thomas (1980): Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichdiche Wandlungen. Paderborn: Schöningh. Lynch, Michael/Harry M. Collins (1998): Introduction: Humans, Animals, and Machines?, in: Science, Technology, & Human Values 23, 371383. Mitchell, David T./Sharon L. Snyder (Hg.) (1997): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability in the Humanities. Ann Arbor: Universiry of Michigan Press. Mitchell, David T./Sharon L. Snyder (2001): Narrative Prosthesis: Disability and the Dependencies of Discourse (Corporealitics: Discourses of Disability, Band 6). Ann Arbor: University of Michigan Press. Nancy, Jean-Luc (2000): Der Eindringling/L'Intrus. Das fremde Herz. Berlin: Merve. Plessner, Helmuth (1975 [1928]): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: de Gruyter. Postman, Neil (1999): Müssen Toaster sprechen? (Serie: Die Gegenwart der Zukunft 19), in: Süddeutsche Zeitung, SZ am Wochenende, Nr. 110, 15./ 16. Mai, S. III. Radow, Gero von (Hg.) (2001): Wieviel Körper braucht der Mensch? Hamburg: edition Körber-Stiftung. Rammen, Werner (1992): Wer oder was steuert den technischen Fortschritt? Technischer Wandel zwischen Steuerung und Evolution, in: Soziale Welt 43. 7-25. Schnalke,Thomas (1999): Das Fremde im Dienste des Eigenen: Die Prothese, in: Annemarie Hürlimann/Martin Roth/Klaus Vogel (Hg.), Fremdkörperrremde Körper. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gertihlen (Katalog zur Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums vom 6. Oktober 1999 bis 27. Februar 2000). Ostfildem-Ruit: Hatje Cantz, 132-144.
Seltzer, Mark (1992): Bodies and Machines. London: Routledge. Shilling, Chris (1993): The Body and Social Theory. London: Sage. Staun, Harald (2000): Onkel und Mutanten. Wie unsere Verwandtschaft aussehen soll: Das Symposium »Mensch oder Roboter?« in Düsseldorf, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 276, 1. Dezember, 17. 396
Stiker, Henri-Jaques (2001 [1982]): A History of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press. Turner, Terence (1995): Social Body and Embodied Subject: Bodiliness, Subjectivity, and die Sociality among the Kayapo, in: Cultural Anthropology 10, 143-170.
Waldschmidt, Anne (1998): Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität, in: Soziale Probleme 9, 3-25. Waldschmidt, Anne (1999): Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer. Opladen: Leske & Budrich. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen (2001): Das Magazin »Mensch oder Roboter - Wem gehört die Zukunft? Antworten auf Bill Joy«. 12, 1/2001. Düsseldorf (siehe auch: http://www.wz.nrw.de/wzn-scripts/magazine.asp).
397
Über die Autoren Bauman, Zygmunt, Prof. Dr., Professor emer. fiir Soziologie an der Universität Leeds und der Universität Warschau. Ausgewählte Veröffentlichungen: Wasted Lives. Modernity and its Outcasts. Cambridge 2004; The Individualized Society. Cambridge 2001; Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992. Bette, Karl-Heinrich, Prof. Dr., Professor für Sportwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Ausgewählte Veröffentlichungen: X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports. Bielefeld 2004; Systemtheorie und Sport. Frankfurt am Main 1999; Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin/New York 1989. Fuchs, Peter, Prof. Dr., Professor ftir Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Fachhochschule-Neubrandenburg. Ausgewählte Publikationen: Der Sinn der Beobachtung. Konstanz 2004; Der Eigen-Sinn des Bewußtseins. Bielefeld 2003; Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne. Sozialphilosophische Vorlesungen. Konstanz 2001. Funken, Christiane, Prof. Dr., Professorin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin mit dem Schwerpunkt Kommunikations- und Medienforschung sowie Geschlechterforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Geld oder Macht. Organisationssoziologische Studien zu weiblichen und männlichen Karriereverläufen im Vertrieb. Frankfurt am Main 2004; Raum - Zeit - Medialität. Interdisziplinäre Studien zu neuen Kommunikationstechnologien (hg. mit Martina Low). Opladen 2003; Die Modellierung der Welt. Wissenssoziologische Studien zur Software-Entwicklung. Opladen 2001.
Gugutzer, Robert, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität München. Ausgewählte Publikationen: Soziologie des Körpers. Bielefeld 2004; Leib, Körper und Identität. Wiesbaden 2002. 398
Hitzler, Ronald, Prof. Dr., Professor für Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie im Fachbereich 12 der Universität Dortmund. Ausgewählte Publikationen: Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror (mit Jo Reichertz). Konstanz 2003; Karrierepolitik (mit Michaela Pfadenhauer). Opladen 2003; Elitenmacht (mit Stefan Hornbostel und Cornelia Mohr). Opladen 2003. Honer, Anne, Prof. Dr., Professorin fiir Empirische Sozialforschung mit dem Schwerpunkt qualitative Methoden im Fachbereich Sozialund Kulturwissenschaften der Fachhochschule Fulda. Ausgewählte Publikationen: Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung von Kultur (hg. mit Ronald Kurt und Jo Reichertz). Konstanz 1999; Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einfuhrung (hg. mit Ronald Hitzler). Opladen 1997. Klein, Gabriele, Prof. Dr., Professorin an der Universität Hamburg und Direktorin des Instituts für urbane Bewegungskultur. Ausgewählte Publikationen: (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld 2004; Electronic Vibration. Pop, Kultur, Theorie. Wiesbaden 2004; Is this real? Die Kultur des HipHop (mit Malte Friedrich). Frankfurt am Main 2003. Knoblauch, Hubert, Prof. Dr., Professor fiir Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Ausgewählte Veröffentlichungen: Qualitative Religionsforschung. Paderborn 2003; Religionssoziologie. Berlin/New York 1999; Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin/New York 1995. Lindemann, Gesa, PD Dr., z. Zt. wissenschaftlich verantwortliche Leitung des Forschungsprojekts >Bewußtsein und anthropologische DifTerenz< an der Technischen Universität Berlin. Ausgewählte Publikationen: Kritik der Soziologie, in: Deutsche Zeitschrift fiir Philosophie 50, Heft 2, 2002, 227-245; Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivir.edizin. München 2002; Die reflexive Anthropologie des Zivilisationsprozesses, in: Soziale Welt 52, Heft 2, 2001, 181-198. Low, Martina, Prof. Dr., Professorin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Ausgewählte Veröffendichungen: 399
Einfuhrung in die Soziologie der Bildung und Erziehung. Opladen 2003; (Hg.) Differenzierungen des Städtischen. Opladen 2003; Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. Meuser, Michael, PD Dr., Privatdozent für Soziologie an der Universität Bremen und Vertretung des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Siegen, Gastprofessur am Institut für Soziologie der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Jean-Claude Kaufmann: Der Alltag, die Familie und das Individuum, in: Stephan Moebius, Lothar Peter (Hg.), Französische Soziologie der Gegenwart. Konstanz 2004; Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung (hg. mit Ralf Bohnsack und Winfried Marorzki). Opladen 2004; Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper (hg. mit Kornelia Hahn) Konstanz 2002. Nollmann, Gerd, Dr., Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Duisburg-Essen. Ausgewählte Publikationen: Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich (hg. mit Armin Nassehi). Frankfurt am Main 2004; Das individualisierte Ich in der modernen Gesellschaft (hg. mit Hermann Strasser). Frankfurt am Main, New York 2004; Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation. Zur Konfliktsoziologie der modernen Gesellschaft. Opladen 1997. Raab, Jürgen, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Ausgewählte Publikationen: Thomas Luckmann: Wissen und Gesellschaft (hg. mit Hüben Knoblauch und Bernt Schnettler). Konstanz 2002; Soziologie des Geruchs. Über die soziale Konstruktion olfaktorischer Wahrnehmung. Konstanz 2001. Schneider, Werner, Prof. Dr., Professor für Soziologie/Sozialkunde an der Universität Augsburg. Ausgewählte Publikationen: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 2 Bde. (hg. mit Reiner Keller, Andreas Hirseland, Willy Viehöfer). Opladen 2001, 2003; Vom schlechten Sterben und dem guten Tod - die Neu-Ordnung des Todes in der politischen Debatte um Hirntod und Organtransplantation, in: Thomas Schlich/Claudia Wiesemann (Hg.), Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung. Frankfurt am Main 2001, 400
279"3I7l »So t o t w * e nötig — so lebendig wie möglich!« Sterben und Tod in der fortgeschrittenen Moderne. Eine Diskursanalyse der öffentlichen Diskussion um den Hirntod in Deutschland (Studien zur interdisziplinären Thanatologie, Bd. 6). Münster 1999. Schroer, Markus, PD Dr., Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Privatdozent für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Ausgewählte Veröffentlichungen: Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltanalyse, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004, 151-173; Der Begriff des Politischen (hg. mit Armin Nassehi). Baden-Baden 2003; Das Individuum der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2001.
Soeffner, Hans-Georg, Prof. Dr., Professor für Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz. Ausgewählte Veröffendichungen: Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Konstanz 2004; Gewalt als Faszinosum, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004, 62-85; Gesellschaft ohne Baldachin. Konstanz 2000.
Soziologie und Systemtheorie im Suhrkamp Verlag Eine Auswahl Dirk Baecker - Die Form des Unternehmens, stw 1453. 288 Seiten - Organisation und Management, stw 1614. 348 Seiten - Organisation als System, stw 1434. 384 Seiten Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito. GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. stw 1226. 248 Seiten Karl-Heinrich Bette. Systemtheorie und Sport, stw 1399. 307 Seiten Günter Burkart/Gunter Runkel (Hg.). Luhmann und die Kulturtheorie, stw 1725. 289 Seiten Elena Esposito - Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode. 192 Seiten. Kartoniert - Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, stw 1557. 419 Seiten Peter Fuchs - Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. 291 Seiten. Gebunden - Intervention und Erfahrung, stw 1427. 160 Seiten - Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. 248 Seiten. Gebunden - Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien: »japanische Kommunikation« und »Autismus«. stw 1216. 198 Seiten
NF 125/1/4.03
- Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, stw 1373. 240 Seiten Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.). Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? stw 1177. 368 Seiten Hans-Joachim Giegel/Uwe Schimank. Beobachter der Moderne. Niklas Luhmanns >Die Gesellschaft der Gesellschaft, stw 1612. 352 Seiten Matthias Grundmann (Hg.). Konstruktivistische Sozialisationsforschung. Lebensweltliche Erfahrungskontexte, individuelle Handlungskompetenzen und die Konstruktion sozialer Strukturen. Beiträge zur Soziogenese der Handlungsfähigkeit, stw 1429. 352 Seiten Kai-Uwe Hellmann. Soziologie der Marke, stw 1679. 532 Seiten Kai-Uwe Hellmann/Rainer Schmalz-Bruns. Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, stw 1583. 319 Seiten Andre Kieserling - Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. 520 Seiten. Gebunden - Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zu einer Soziologie des soziologischen Wissens. stw 1613. 306 Seiten Dieter Lenzen (Hg.). Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann. stw 1657. 236 Seiten
125/2/4.05
Niklas Luhmann - Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, stw 1418. 459 Seiten - Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen, stw 1593.236 Seiten - Funktion der Religion, stw 407. 324 Seiten - Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Bände, stw 1360. 1164 Seiten - Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. stw 1091. 319 Seiten Band 2. stw 1092. 294 Seiten Band 3. stw 1093.458 Seiten Band 4. stw 1438. 185 Seiten - Die Kunst der Gesellschaft, stw 1303. 517 Seiten - Legitimation durch Verfahren, stw 443. 261 Seiten - Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, stw 1124. 231 Seiten - Die Politik der Gesellschaft. Herausgegeben von Andre Kieserling. stw 1582. 444 Seiten - Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Herausgegeben und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann. stw 1256. 216 Seiten - Das Recht der Gesellschaft, stw 1183. 598 Seiten - Die Religion der Gesellschaft, stw 1581. 368 Seiten - Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, stw 1697. 350 Seiten - Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. stw 666. 675 Seiten
NF 125/3/4.05
- Theorie der Gesellschaft. Neun Bände in Kassette. Die Kassette enthält: Soziale Systeme / Die Gesellschaft der Gesellschaft / Die Wissenschaft der Gesellschaft / Die Wirtschaft der Gesellschaft / Das Recht der Gesellschaft / Die Kunst der Gesellschaft / Die Politik der Gesellschaft / Die Religion der Gesellschaft / Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Zusammen 5100 Seiten - Die Wirtschaft der Gesellschaft, stw 1152. 356 Seiten - Die Wissenschaft der Gesellschaft, stw 1001. 732 Seiten - Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, stw 12. 390 Seiten Niklas Luhmann/Peter Fuchs. Reden und Schweigen, stw 848. 227 Seiten Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr. Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, stw 740. 390 Seiten Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hg.) - Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, stw 1036. 217 Seiten - Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, stw 898. 227 Seiten - Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, stw 572. 325 Seiten Niklas Luhmann/Stephan H. Pfürtner (Hg.). Theorietechnik und Moral, stw 206. 267 Seiten Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.) - Kommunikation - Medien - Macht, stw 1408. 450 Seiten - Raum - Wissen - Macht, stw 1603. 309 Seiten Richard Münch. Offene Räume. Soziale Integration diesseits und jenseits des Nationalstaats, stw 1515. 318 Seiten
Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hg.). Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich, stw 1696. 272 Seiten Frithard Scholz. Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns. 287 Seiten. Kartoniert Rudolf Stichweh - Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung im 16.-18. Jahrhundert. 427 Seiten. Gebunden - Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, stw 1146. 402 Seiten - Theorie der Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, stw 1500. 275 Seiten Helmut Willke - Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, stw 1516. 263 Seiten - Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, stw 1559. 291 Seiten - Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, stw 1658. 356 Seiten - Supervision des Staates. 380 Seiten. Gebunden
125/5/4.35
Niklas Luhmann im Suhrkamp Verlag Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, stw 1418. 459 Seiten Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen. Mit zahlreichen Faksimiles des Manuskripts, stw 1593. 236 Seiten Funktion der Religion, stw 407. 324 Seiten Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Bände, stw 1360. 1164 Seiten Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. - Band 1. stw 1091. 319 Seiten - Band 2. stw 1092. 294 Seiten - Band 3. stw 1093. 458 Seiten - Band 4. stw 1438. 185 Seiten Die Kunst der Gesellschaft, stw 1303.517 Seiten Legitimation durch Verfahren, stw 443. 261 Seiten Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, stw 1124. 231 Seiten Die Politik der Gesellschaft. Herausgegeben von Andre Kieserling. stw 1582. 444 Seiten Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann, stw 1256. 216 Seiten
Das Recht der Gesellschaft, stw 1183. 598 Seiten Die Religion der Gesellschaft. Herausgegeben von Andre Kieserling. stw 15 81. 368 Seiten Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, stw 1697. 350 Seiten Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, stw 666. 6j$ Seiten Theorie der Gesellschaft. Neun Bände in Kassette. 5100 Seiten Die Wirtschaft der Gesellschaft, stw 1152. 356 Seiten Die Wissenschaft der Gesellschaft, stw 1001. 732 Seiten Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, stw 12. 39c Seiten Niklas Luhmann/Peter Fuchs. Reden und Schweigen, stw 848. 227 Seiten Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr. Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, stw 740. 390 Seiten
Niklas Lubmann als Herausgeber Niklas Luhmann/Stephan H. Pfürtner. Theorietechnik und Moral, stw 206. 267 Seiten Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr. Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, stw 572. 325 Seiten
NF 126/2/ II. 04
Zu Niklas Luhmann Beobachter der Moderne. Niklas Luhmanns »Die Gesellschaft der Gesellschaft«. Herausgegeben von Hans-Joachim Giegel und Uwe Schimank. stw 1612. 343 Seiten Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Herausgegeben von Armin Nassehi und Gerd Nollmann. stw 1696. 350 Seiten GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Von Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito. stw 1226. 248 Seiten Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann. Herausgegeben von Dieter Lenzen, stw 1657. 235 Seiten Luhmann und die Kulturtheorie. Herausgegeben von Günter Burkart und Gunter Runkel. stw 1725. 289 Seiten Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Herausgegeben von Henk de Berg und Johannes F. K. Schmidt, stw IJOI. 514 Seiten
Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie. Herausgegeben von Kai-Uwe Hellmann und Rainer SchmalzBruns. stw 1583. 320 Seiten
MF126/3/11.D4
Politische Theorie im Suhrkamp Verlag Eine Auswahl Klaus von Beyme - Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, stw 1368. 405 Seiten - Die politische Klasse im Parteienstaat, stw 1064. 224 Seiten - Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, stw 969. 394 Seiten Hauke Brunkhorst. Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, stw 1560. 247 Seiten Hauke Brunkhorst (Hg.). Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, stw 1369. 397 Seiten Hauke Brunkhorst/Matthias Kettner (Hg.). Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, stw 1448. 416 Seiten Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias LutzBachmann (Hg.). Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, stw 1441. 352 Seiten Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hg.). Das Recht der Republik, stw 1392. 403 Seiten Judith Butler - Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Übersetzt von Reiner Ansen. es 2187. 160 Seiten - Gefährdetes Leben. Politische Essays. Übersetzt von Karin Wördemann. es 2393. 179 Seiten
- Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übersetzt von Karin Wördemann. es 1737. 400 Seiten - Kritik der ethischen Gewalt. Übersetzt von Reiner Ansen. Adorno-Vorlesungen 2002. 144 Seiten. Kartoniert - Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Übersetzt von Reiner Ansen. es 1744. 260 Seiten - Das Unbehagen der Geschlechter. Übersetzt von Kathrina Menke. es 1722. 240 Seiten Christine Chwaszcza/Wolfgang Kersting (Hg.). Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, stw 1365. 604 Seiten Jacques Derrida - Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übersetzt von Alexander Garcia Düttmann. es 1769. 97 Seiten - Schurken. Übersetzt von Horst Brühmann. 224 Seiten. Gebunden Diether Döring (Hg.). Sozialstaat in der Globalisierung. Unter Mitarbeit von Erika Mezger. es 2096. 204 Seiten Hans Joas/Martin Kohli (Hg.). Der Zusammenbruch der DDR. es 1777. 3 2 5 Seiten Matthias Kettner (Hg.). Angewandte Ethik als Politikum. stw 1458. 416 Seiten Ekkehart Krippendorff - Kritik der Außenpolitik, es 2139. 240 Seiten - Schöpferische Unzufriedenheit. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. 468 Seiten. Gebunden
- Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, es 1305.436 Seiten Ernst-Joachim Lampe (Hg.). Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, stw 1315. 520 Seiten Niklas Luhmann. Die Wirtschaft der Gesellschaft, stw 1152. 356 Seiten Ulrich Menzel. Auswege aus der Abhängigkeit. Die entwicklungspolitische Aktualität Europas, es 1312. 649 Seiten Ulrich Menzel/Dieter Senghaas. Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme, es 1393. 295 Seiten Ulrich Menzel u.a. (Hg.). Die Neue Weltwirtschaft. Entstofflichung und Entgrenzung der Ökonomie, es 1983. 336 Seiten Wolfgang Merkel/Andreas Busch (Hg.). Demokratie in Ost und West. Für Klaus von Beyme. stw 1425. 718 Seiten Julian Nida-Rümelin. Demokratie als Kooperation, stw 1430. 224 Seiten Claus Offe. Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. 144 Seiten. Kartoniert Karl Polanyi. The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Übersetzt von Heinrich Jelinek. stw 260. 394 Seiten
NF 112/3/4.05
Dieter Senghaas - Friedensprojekt Europa, es 1717. 226 Seiten - Konfliktformationen im internationalen System. Weltpolitische Betrachtungen, es 1509. 230 Seiten - Rüstung und Militarismus, es 498. 370 Seiten - Weltwirtschaftsordnung und EnwickJungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, es 856. 358 Seiten - Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, es 2081. 228 Seiten - Die Zukunft Europas. Probleme der Friedensgestaltung, es 1339. 273 Seiten Dieter Senghaas (Hg.). Frieden machen, es 2000.592 Seiten Gary Smith/Avishai Margalit (Hg.). Amnestie oder Die Politik der Erinnerung in der Demokratie, es 2016. 243 Seiten Horst Steinmann/Andreas Georg Scherer (Hg.). Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, stw 1380. 424 Seiten
NF 112/4/4.35