Russische Proto-Narratologie
Narratologia Contributions to Narrative Theory
Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´...
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Russische Proto-Narratologie
Narratologia Contributions to Narrative Theory
Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert
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≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Russische Proto-Narratologie Texte in kommentierten Übersetzungen
Herausgegeben von Wolf Schmid
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-021290-7 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Der im Titel des vorliegenden Bandes erscheinende Begriff der „russischen Proto-Narratologie“ bezeichnet die Erzählforschung in Russland vor der Entwicklung des strukturalistischen Paradigmas, also auch vor der Verwendung des Begriffs Narratologie. Der Zusatz Proto- ist zum einen im historischen Sinne zu verstehen, als Hinweis darauf, dass die russische Erzähltheorie die Vorgeschichte zur heutigen Narratologie bildet, zum andern wird Proto- aber auch im typologischen Sinne verwendet: Die russische Erzählforschung von Aleksandr Veselovskij bis Jurij Lotman geht nicht nur der gegenwärtigen Narratologie voraus, sie hat auch Konzepte entwickelt, die genuin narratologisch sind, jedoch in die Narratologie bisher nur teilweise integriert wurden. Diese Konzepte haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren und machen die russische Erzählforschung zu einer Narratologie avant la lettre. Als Tzvetan Todorov im Jahr 1969 den Begriff Narratologie prägte, hatte er in seinem berühmten Aufsatz Les catégories du récit littéraire (Todorov 1966) bereits Grundbegriffe dieser neuen Disziplin definiert. Dabei rekurrierte er auf Konzepte, die er in seiner Anthologie von Texten der russischen Formalisten Théorie de la littérature (Todorov [Hg.] 1965) dem westlichen Publikum präsentiert hatte. Seinen Aufsatzband Poétique de la prose (Todorov 1971a) eröffnete er mit der Studie aus dem Jahr 1964 L’héritage méthodologique du formalisme, in der er die Impulse der russischen Schule für die Entwicklung der zeitgenössischen strukturalen Theorie nachzeichnete. Und im Aufsatz Quelques concepts du formalisme russe (Todorov 1971b) gab er eine systematische Übersicht über Grundkategorien dieser Schule und stellte insbesondere die Dichotomie von Fabel und Sujet dar. Der vorliegende Band enthält Texte zu zwei kardinalen Themen der russischen Proto-Narratologie, zum „Sujet“ und zum Problem des werkimmanenten Autors. Die russischen Beiträge zu diesen Themen sind im Westen, wenn überhaupt, dann nur sehr partiell zur Kenntnis genommen worden. Der erste Themenkreis wird durch die Studie Aleksandr Veselovskijs Poetik der Sujets aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eröffnet. Veselovskij gehört zu den ersten Erzähltheoretikern Russlands, und sein auf
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Vorwort
den ersten Blick genetischer Ansatz, der aber immerhin schon die Zerlegung von Sujets in invariante Elemente vorsieht, hat Viktor !klovskij, auch wenn dieser heftig mit ihm polemisiert, zu wesentlichen Aspekten seiner berühmten, auch außerhalb Russlands bekannten Sujettheorie angeregt. Diese Sujet-Konzeption wird im zweiten Text präsentiert, der aus vier narratologisch relevanten Auszügen aus !klovskijs Essayband Theorie der Prosa (1925a) besteht. Die kurzen Auszüge aus den umfänglichen und überaus beispielreichen feuilletonistisch geschriebenen Aufsätze enthalten die wesentlichen Züge von !klovskijs Theorie des Sujetbaus. Der Aufsatz Der Schlüssel des Sujets von Nikolaj Aseev ist neben den Arbeiten der Formalisten "jchenbaum, !klovskij und Toma#evskij eine der überzeugendsten Auseinandersetzungen mit dem Problem der „Sujethaftigkeit“ in der Literaturkritik der 1920er Jahre. Der Aufsatz zeigt, dass erzähltheoretische Fragestellungen nicht nur für die Formalisten, sondern auch für die revolutionäre Avantgarde (vor allem die literarische Gruppe Linke Front der Künste) hochrelevant waren. Eine minuziöse Sujet-Analyse im Geiste des formalistischen Morphologismus enthält Michail Petrovskijs Aufsatz Die Morphologie von Pu!kins Erzählung „Der Schuss“. Der Moskauer Literaturwissenschaftler, den man mit Hansen-Löve (1978, 263–273) der „teleologischen Kompositionstheorie“ zuordnen kann, nahm eine durchaus kritische Haltung zu den Formalisten der OPOJAZ ein (eine Distanz, die sich in dem Aufsatz etwa in der Umkehrung der Intension von !klovskijs Begriffen Sujet und Fabel zeigt). Obwohl er, wie auch andere russische Kompositionstheoretiker der Zeit von der deutschen Kunstphilosophie beeinflusst wurde, ist er im Westen weithin unbeachtet geblieben (in westliche Sprachen, hier ins Englische, übersetzt wurde lediglich der Aufsatz Die Komposition der Novelle bei Maupassant aus dem Jahr 1921). In dem in voller Länge präsentierten Text unterteilt Petrovskij Pu#kins Erzählung in narrative und deskriptive Partien und weist den beiden Modi ihre Funktionen zu. Ebenfalls dem teleologischen Ansatz ist Aleksandr Skaftymovs Arbeit Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ zuzuordnen. Aber auch Skaftymov strebte, bei aller Gewichtung von Thematik und Philosophie, nach einer Annäherung an eine funktionalistische Betrachtung des literarischen Werks als Summe von hierarchisch organisierten Verfahren. Die folgenden drei Texte stehen im Kontext der historisch-vergleichenden Erzählforschung, deren Ansätze zumindest zum Teil als narratologisch avant la lettre anzusehen sind. Den ersten Versuch der für die
Vorwort
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russische Proto-Narratologie charakteristischen funktionalen Morphologie des Erzählens (die in der westlichen Narratologie dann zu einer „Grammatik“ des Erzählens fortgeschrieben wurde) kann man in Aleksandr Skaftymovs „Skizzen“ Poetik und Genese der Bylinen aus dem Jahr 1924 sehen. Skaftymov, der in der russischen Fokloristik als Klassiker der Bylinen-Forschung gilt und in den Skizzen seine jahrelangen Forschungen auf dem Gebiet der russischen Volksdichtung zusammenfasst, entwirft am Korpus russischer Heldenlieder (in ähnlicher Weise wie dann Propp) das Syntagma eines Archesujets, eines allgemeinen Typus des Heldenlieds. Vladimir Propps klassische Studie zur Morphologie des Märchens, die in Auszügen präsentiert wird, hat in der Narratologie bekanntlich eine Initiatorfunktion gehabt. Sie ist von Beginn an als Kalkül einer ‚Sprache‘ des Volksmärchens gedeutet worden und gibt noch heute Teilbereichen der narratologischen Forschung – insbesondere dem Story Generating – wichtige Impulse. Der Akzent der hier getroffenen Textauswahl liegt auf der Kontextualisierung der oft isoliert zitierten thesenartigen Definition des Märchentypus innerhalb des Argumentationszusammenhangs der Morphologie. Aleksandr Nikiforov arbeitet von 1924 bis 1929 ebenfalls an einer Morphologie des russischen Volksmärchens, die allerdings nie vollendet wurde. In dem hier abgedruckten, wenig beachteten programmatischen Artikel Zur Frage der morphologischen Erforschung des Volksmärchens skizziert er in nuce eine Grammatik des Märchens, der als frühes Denkmodell einer sprachanalogen universalen Erzählkompetenz für die Narratologie Bedeutung zukommt. Drei Texte des Bandes gelten dem Konzept des im Werk präsenten, aber nicht dargestellten Autors, also jenem semantischen Konstrukt, das in die westlichen Diskussion durch Wayne C. Booths Begriff des implied author (ohne Kenntnis der russischen Tradition) eingeführt wurde. Die gewählten Texte bzw. Textcollagen sind weniger als ‚ungehobene Schätze‘ für die heutige Narratologie von Interesse denn vielmehr als theoriegeschichtliche ‚Meilensteine‘ in der Entwicklung einer funktionalen Autortheorie. Jahrzehnte früher als in der westlichen Erzählforschung wurden im russischen Kontext bereits Modelle entwickelt und in textanalytischen Studien erprobt, die den werkimmanenten Autor sowohl vom realen außertextuellen Verfasser als auch vom fiktionsimmanenten Erzähler scheiden – und damit der seinerzeit dominanten intentionalistischen und biographistischen Textdeutung zugunsten einer funktional-strukturalistischen bzw. individual-stilistischen Analyse den Kampf ansagen. Heutzutage, da
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Vorwort
nach der Verbannung des Autors wieder seine Rückkehr propagiert wird, können diese Ansätze noch bedenkenswerte Argumente liefern. Die Serie der Texte zum Autor wird eröffnet durch Il’ja Gruzdevs Artikel Über die Maske als literarisches Verfahren aus dem Jahr 1921. In kritischer Auseinandersetzung mit Jurij Tynjanovs (1921a) Parodiekonzept übernimmt Gruzdev vom Kritisierten den Begriff der Maske und wendet ihn auf die Sprechinstanz des Erzählwerks an. Der Begriff der ,Maske‘ sollte sich in der weiteren Diskussion um Autorkonzepte in narrativen Texten als überaus produktiv erweisen. Die Form von Gruzdevs Artikels demonstriert die offene, auf kritischen Dialog und gemeinsame Weiterentwicklung von Ideen ausgerichtete Diskurspraxis der ‚Formalen Schule‘. Mit Autormaske ist bei Gruzdev freilich der Erzähler gemeint. Die intermediäre Entität des immanenten Autors wird bei ihm noch nicht explizit konzipiert. Das russische Konzept dieser Entität, das ,Autorbild‘, entsteht im Kontext der Individualstil-Analysen Viktor Vinogradovs. Der Begriff benennt die in der Rezipientenvorstellung anthropomorphisierte Vorstellung der Gesamtstruktur eines literarischen Textes mit der ihr inhärenten Sinngeste. Vinogradovs in den 1950er Jahren noch politisch diskreditierter Begriff begann sich ab den 1960er Jahren in der russischen Literaturwissenschaft zwar durchzusetzen und wurde zu einer gängigen Kategorie in Textanalysen, seine inhaltliche Füllung blieb allerdings weit hinter Vinogradovs eigentlicher und seit den 1920er Jahren immer weiter entwickelten Konzeption zurück, ja wurde geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Es lohnt sich deshalb, hinter dem Etikett noch einmal den eigentlichen Ansatz in Auszügen aus drei zentralen Schriften zu Wort kommen zu lassen. Boris Kormans ,konzipierter Autor‘, der in zwei Auszügen aus einschlägigen Texten präsentiert wird, ist eine der Basiskategorien in einem terminologisch und methodisch auf Vereinheitlichung zielenden Analysesystem, das Vinogradovs Konzept des „Autorbilds“ mit Michail Bachtins Theorie der dialogischen Kollision unterschiedlicher „Sinnpositionen“ im literarischen Werk zu verbinden sucht. Kormans Modell, das in Russland verleichsweise populär war, ja eine eigene Schule, die ‚Korman-Schule‘ begründete, im Westen aber nicht bekannt wurde, ist die einzige explizit funktional argumentierende Autortheorie im Russland der 1960er und 1970er Jahre und hält Anregungen für die in der westlichen Theorie noch nicht zur Ruhe gekommene Kontroverse um den Sinn einer narratologischen Kategorie des implizierten Autors bereit.
Vorwort
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Mit den Ende der 1960er Jahren konzipierten Texten des Strukturalisten und Kultursemiotikers Jurij Lotman, des spiritus rector des Moskau-Tartu-Kreises, überschreitet die Anthologie die Grenzen zur Narratologie im engeren Sinne (und kehrt zum Problem des „Sujets“ zurück). Lotmans Ausführungen zum künstlerischen Raum und zum Problem des Sujets, die durch Übersetzungen in westliche Sprachen bereits eine gewisse Bekanntheit erlangt haben und in einigen neueren narratologischen Theorien weiterverarbeitet worden sind, verdienen gleichwohl noch intensivere Rezeption, vor allem im Kontext des in jüngster Zeit stark diskutierten Narrativitätsbegriffs. Lotmans Definition der Narration als Darstellung einer durch eine Figur vorgenommenen Überschreitung der Grenze zwischen zwei semantischen Räumen ist nicht nur für die literaturwissenschaftliche Analyse des Ereignisses von fundamentaler Bedeutung, sondern kann auch der Bestimmung der Narrativität in nicht-verbalen Medien der Repräsentation dienen, wie Film, Ballett, Pantomime, Bild, Comic strip usw. Die Kontextsensitivität dieser Definition, die für jedes Ereignis die Frage aufwirft, in welchem Maße die Überschreitung einer Grenze Normen des jeweiligen Kontextes (der Produktions- und Rezeptionszeit) verletzt, führt zur Kategorie der graduierbaren, vom Kontext und seiner Ordnung abhängigen Ereignishaftigkeit. Der vorliegende Band versammelt Texte unterschiedlichen Bekanntheitsgrades. Zum einen handelt es sich um Arbeiten, die durch Übersetzungen ins Deutsche oder Englische schon bekannt sind und hier in Auszügen von besonderer Relevanz für die Narratologie präsentiert werden (!klovskij, Propp, Lotman). Diese Auszüge wurden in den Band aufgenommen, um wichtige narratologische Ansätze der genannten Autoren in ihren Kernthesen zu präsentieren und sie mit Hilfe des Kommentars in ihrem problemund wissenschaftsgeschichtlichen Umfeld zu lozieren. Die Auszüge aus !klovskijs Theorie der Prosa und aus Lotmans Abhandlung zum „künstlerischen Raum“ (1968) wurden für den vorliegenden Band neu übersetzt. Im Falle von Propps Morphologie und Lotmans Ausführungen zum „Problem des Sujets“ wurde auf vorhandene Übersetzungen zurückgegriffen, wobei einzelne Termini modifiziert wurden. Die zweite Kategorie von Texten umfasst Arbeiten, die weder in deutscher noch in englischer Übersetzung vorliegen. Zu ihnen gehören die Texte von Aleksandr Veselovskij, Nikolaj Aseev, Il’ja Gruzdev, Aleksandr Skaftymov, Michail Petrovskij, Aleksandr Nikiforov, Boris Korman und die Auszüge aus vier Texten Viktor Vinogradovs. Bei diesen Texten
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Vorwort
kam es darauf an, einerseits den Zusammenhang der Autoren mit dem formalistischen und funktionalistischen Denken und andererseits die Relevanz der vorgestellten Ansätze für die Narratologie deutlich zu machen. Die vorliegende Anthologie ist hervorgegangen aus der Arbeit des Projekts „Der Beitrag des slavischen Funktionalismus zur internationalen Narratologie“ in der von der DFG geförderten Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg (siehe „Projekte“ in: www. narrport.uni-hamburg.de). An diesem Projekt haben mitgewirkt: Dr. Matthias Aumüller, Dr. Marianne Dehne, Dr. Christine Gölz, Dr. Christiane Hauschild, Eugenia Michahelles, M.A., Dr. Galina Potapova. Unterstützt wurde die Arbeit des Projekts durch die studentischen Hilfskräfte Svetlana Boguen und Tatjana Hahn, die auch das Glossar, die Gesamtbibliograpie und den Index erstellt haben. Die Redaktion lag in den Händen von Eugenia Michahelles, M.A. Parallel zu diesem Band erscheint eine Sammlung von Abhandlungen der Mitglieder des Projekts und auswärtiger Experten unter dem Titel Slavische Narratologie. Russische und tschechische Ansätze. Die Beiträge dieses Bands sollen zum einen narratologische Konzepte des russischen Formalismus und ihm nahestehender Theoretiker sowie erzähltheoretisch relevante Ansätze des tschechischen Strukturalismus darstellen, zum andern die erkennbare Rezeption und Weiterentwicklung der Theoreme reflektieren. Hamburg, im Herbst 2008
Wolf Schmid
Technische Hinweise Die mit einem Asterisk* versehenen Überschriften sind nicht-originale Titel, die mehrere Abhandlungen zu einem Problemkomplex zusammenführen. In den Übersetzungen verweisen Asteriske hinter Namen auf das Verzeichnis der Namen von Personen und Institutionen. Die in den Übersetzungen in eckigen Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die in den Bibliographischen Notizen jeweils angegebene Vorlage.
Vorwort
XI
Die arabischen Fußnotenziffern verweisen auf Anmerkungen der Autoren, die römischen Ziffern auf Anmerkungen der Übersetzer bzw. Kommentatoren im Anhang der jeweiligen Texte. Die Auflösung der in den Beiträgen dieses Bands in der sog. HarvardZitierung angeführten Siglen erfolgt in der Gesamtbibliographie.
Inhalt 1. Aleksandr Veselovskij: Poetik der Sujets ........................................
1
(Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller) Bibliographische Notiz (10) – Kommentar (10) – Anmerkungen (12)
2. Viktor !klovskij: Über das Sujet und seine Konstruktion*............
15
(Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Wolf Schmid) Auszüge aus: I. Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren (15) – II. Der Bau der Erzählung und des Romans (22) – III. Der Geheimnisroman (28) – IV. Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“ (32) Bibliographische Notizen (35) – Kommentar (36) – Anmerkungen (42)
3. Nikolaj Aseev: Der Schlüssel des Sujets .........................................
47
(Übersetzt von Marianne Dehne und Galina Potapova, kommentiert von Galina Potapova) Bibliographische Notiz (59) – Kommentar (60) – Anmerkungen (64)
4. Michail Petrovskij: Die Morphologie von Pu"kins Erzählung „Der Schuss“......................................................................................
67
(Übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller) Bibliographische Notiz (87) – Kommentar (87) – Anmerkungen (88)
5. Aleksandr Skaftymov: Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“...........................................................................
91
(Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Galina Potapova) Bibliographische Notiz (104) – Kommentar (105) – Anmerkungen (108)
6. Aleksandr Skaftymov: Poetik und Genese der Bylinen. Skizzen... 113 (Ausgewählt, übersetzt und annotiert von Christiane Hauschild, kommentiert von Galina Potapova) Bibliographische Notiz (123) – Kommentar (123) – Anmerkungen (128)
XIV
Inhalt
7. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens .................................. 131 (Übersetzt von Christel Wendt, ausgewählt und kommentiert von Christiane Hauschild) Bibliographische Notiz (153) – Kommentar (153) – Anmerkungen (156)
8. Aleksandr Nikiforov: Zur Frage der morphologischen Erforschung des Volksmärchens ............................................................... 163 (Übersetzt und kommentiert von Christiane Hauschild) Bibliographische Notiz (171) – Kommentar (171) – Anmerkungen (176)
9. Il’ja Gruzdev: Über die Maske als literarisches Verfahren ............ 179 (Übersetzt und kommentiert von Christine Gölz) Bibliographische Notiz (187) – Kommentar (188) – Anmerkungen (189)
10. Viktor Vinogradov: Zum Autorbild* ............................................... 195 (Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Christine Gölz) Auszüge aus: I. Über die künstlerische Prosa (195) – II. Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben (198) – III. Das Problem des Autorbildes in der Literatur (200) Bibliographische Notizen (209) – Kommentar (209) – Anmerkungen (216)
11. Boris Korman: Zur Autor-Theorie* ................................................. 227 (Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Christine Gölz) Auszüge aus: I. Das Problem des Autors – Forschungsergebnisse und Perspektiven (227) – II. Die Einheit des literarischen Werks. Ein experimentelles Wörterbuch literaturwissenschaftlicher Termini (238) Bibliographische Notizen (249) – Kommentar (250) – Anmerkungen (252)
12. Jurij Lotman: Zum künstlerischen Raum und zum Problem des Sujets* ................................................................................................ 261 Auszüge aus: I. Der künstlerische Raum in Gogol’s Prosa (Ausgewählt und übersetzt von Eugenia Michahelles, kommentiert von Christiane Hauschild) (261) – II. Das Problem des Sujets (271) (Übersetzt von Rainer Grübel, Walter Kroll und Eberhard Seidel, ausgewählt und kommentiert von Christiane Hauschild) Bibliographische Notizen (282) – Kommentar (283) – Anmerkungen (287)
Inhalt
XV
Gesamtbibliographie................................................................................ 291 Verzeichnis der Namen von Personen und Institutionen ...................... 313 Index der Namen und Werke .................................................................. 323
1. Aleksandr Veselovskij: Poetik der Sujets (Auszug aus Poetik der Sujets, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller) Einführung Die Sujetpoetik und ihre Aufgaben [493] Die historische Poetik, wie ich sie mir vorstelle, hat die Aufgabe, Rolle und Grenzen von überlieferten Texten im individuellen Schaffensprozess zu bestimmen. Was Stil und Rhythmus, Bildlichkeit und SchematisierungI einfachster poetischer Formen angeht, waren die überlieferten Texte in der ersten Zeit des menschlichen Zusammenlebens der natürliche Ausdruck der kollektiven Mentalität und der ihr entsprechenden Lebensbedingungen. Die Gleichartigkeit von Mentalität und Bedingungen erklärt die Gleichartigkeit der poetischen Form bei Völkern, die niemals miteinander in Berührung gekommen sind. So ist eine Reihe von Formeln und Schemata entstanden, von denen viele bis in die jüngste Zeit gebraucht werden, indem sie sich den veränderten Ansprüchen angepasst haben, ähnlich wie manche Wörter des ursprünglichen Wortschatzes uns erhalten geblieben sind, die nur ihre direkte Bedeutung ausgeweitet haben, um abstrakte Begriffe auszudrücken. Es kam auf die Aussagekraft und die Anwendbarkeit der Formel an: Sie blieb erhalten, wie auch das Wort erhalten blieb – die durch sie hervorgerufenen Vorstellungen und Empfindungen jedoch änderten sich; mit dem Wechsel im Fühlen und Denken vermittelte die Formel vieles, was ursprünglich nicht direkt in ihr enthalten war; aus ihr entstand in Bezug auf diesen Inhalt ein Symbol, und sie wurde verallgemeinert. Sie konnte mit den neuen Bedürfnissen auch deswegen Schritt halten (und hier hört die Analogie zum Wort auf), weil sie komplexer wurde und für den Ausdruck dieser Komplexität Material aus Formeln schöpfte, die eine ähnliche Metamorphose wie sie selbst durchmachten. Eine Neubildung in diesem Bereich ist oft ein Durchleben des AltenII, allerdings in neuen Kombinationen. Ich habe schon bei anderer Gelegenheit gesagt, dass unsere poetische Sprache [494] ein Detritus istIII; ich würde zur Sprache auch die Hauptformen des poetischen Schaffens rechnen.IV
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Aleksandr Veselovskij
Lässt sich diese Sichtweise auch auf die Sujets in der Dichtung ausdehnen? Ist es zulässig, in diesem Bereich nach typischen Schemata zu fragen, die Situationen der Lebenswirklichkeit festhalten; nach gleichartigen oder ähnlichen Schemata, weil sie überall Ausdruck derselben Eindrücke waren; nach Schemata, die von mehreren Generationen als abgeschlossene Formeln tradiert wurden und die fähig sind, durch eine neue Stimmung belebt zu werden, Symbol zu werden oder Neubildungen in jenem Sinne hervorzurufen, in dem weiter oben über stilistische Neubildungen gesprochen wurde? Angesichts der zeitgenössischen Erzählliteratur mit ihrer komplexen Sujethaftigkeit und der photographischen Reproduktion der Wirklichkeit erübrigt sich vielleicht eine solche Frage; aber wenn künftige Generationen aus einer so fernen Perspektive auf sie zurückblicken wie wir auf das Altertum, von der Vorgeschichte bis zum Mittelalter, wenn die Synthese der Zeit – dieser großen Vereinfacherin, die die Komplexität der Phänomene reduziert – sie bis auf die Größe von Punkten verkleinert, die sich in der Tiefe verlieren, dann fließen ihre Linien mit jenen zusammen, die sich uns jetzt eröffnen, da wir in die ferne poetische Vergangenheit zurückblicken – und die Phänomene der Schematisierung und Wiederholung siedeln sich auf der ganzen Strecke an.V Das Wort „Sujethaftigkeit“ erfordert eine nähere Bestimmung. Es reicht nicht aus zusammenzuzählen, wie viele – eigentlich wie wenige! – Sujets dem antiken und unserem Drama zugrunde liegen, wie Gozzi, Schiller und unlängst Polti1 es getan haben, und auch die Versuche der „Tabellarisierung“ von Märchen nach ihren verschiedenen Varianten reichen nicht aus; man muss von vornherein vereinbaren, was unter einem Sujet zu verstehen ist und das Motiv vom Sujet als Motivkomplex trennen. Unter Motiv verstehe ich eine Formel, die auf Naturphänomene zurückgeht, mit denen sich die Menschen überall zu Beginn des Gemeinwesens auseinanderzusetzen hatten, oder eine Formel, die besonders herausragende, wichtig erscheinende oder sich wiederholende Wirklichkeitseindrücke fixiert. Kennzeichen des Motivs ist sein bildlicher eingliedriger Schematismus; solcherart sind die nicht weiter zerlegbaren Elemente der einfachen Mythologie und der Märchen: jemand raubt die Sonne (Finsternis), das Feuer des Blitzes wird von einem Vogel vom Himmel geholt; ein Lachs hat einen Knick im Schwanz: man hat ihn eingeklemmt usw.; Wolken geben keinen Regen, die Quelle ist versiegt: feindliche Kräfte haben 1
Georges Polti, Les 36 situations dramatiques, Paris 1894.
Poetik der Sujets
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sie zugeschüttet, halten das Wasser verschlossen, und man muss den Feind überwältigen; Ehen mit Tieren; Verwandlungen; die böse Alte richtet die Schöne zugrunde, oder jemand raubt sie, und man muss sie mit Kraft oder Geschicklichkeit befreien usw. Motive dieser Art konnten unabhängig voneinander in verschiedenen Volksstämmen entstehen; ihre Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit ist nicht durch Entlehnung zu erklären, sondern durch analoge Lebensbedingungen und die sich in ihnen ablagernden mentalen Prozesse. [495] Die einfachste Art eines Motivs kann man mit der Formel „a + b“ ausdrücken: Die böse Alte liebt die Schöne nicht – und erlegt ihr eine lebensgefährliche Aufgabe auf. Beide Teile der Formel lassen sich modifizieren, insbesondere „b“ kann erweitert werden; es können zwei, drei (die volkstümliche Lieblingszahl) oder mehr Aufgaben gestellt werden; auf seinem Weg hat der Recke eine Begegnung, es können aber auch mehrere sein.VI So wird aus einem Motiv ein Sujet, wie auch diejenige Formel des lyrischen Stils, die auf einem Parallelismus aufgebaut ist, anwachsen kann, indem sie eines seiner Glieder entwickelt. Doch ist der Schematismus des Sujets schon zur Hälfte beabsichtigt – zum Beispiel sind Auswahl und Reihenfolge der Aufgaben und Begegnungen nicht notwendigerweise durch ein Thema bedingt, das durch den Motivgehalt vorgegeben ist; sie setzen bereits eine gewisse [schöpferische] Freiheit voraus; das Sujet eines Märchens ist in bestimmtem Sinne bereits ein kreativer Akt. Es ist anzunehmen, dass die eigenständige Entwicklung vom Motiv zum Sujet gleiche Ergebnisse zeitigen kann, das heißt, dass voneinander unabhängige, aber ähnliche Sujets durch die natürliche Evolution ähnlicher Motive entstehen können. Doch weist die angesprochene Absichtlichkeit der Sujetschematisierung auf eine Begrenzung hin, die man anhand der Entwicklung der Motive „Aufgaben“ und „Begegnungen“ aufhellen kann: Je weniger irgendeine der wechselnden Aufgaben und Begegnungen von der vorhergehenden vorbereitet wird, je schwächer ihre innere Verbindung ist, so dass zum Beispiel ihre Reihenfolge auch beliebig sein könnte, mit desto größerer Überzeugung kann man behaupten, dass wir, wenn wir in verschiedenen nationalen Milieus eine Formel mit gleichermaßen zufälliger Reihenfolge b (a + bb1b2 usw.) antreffen, eine solche Ähnlichkeit nicht unbedingt ähnlichen psychischen Prozessen zuschreiben dürfen; wenn es 12 b gibt, so liegt die Wahrscheinlichkeit einer
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Aleksandr Veselovskij
in beiden Fällen selbständigen Fügung nach der Berechnung von Jacobs2 bei 1 : 479 001 599 – und wir können zu Recht von einer Entlehnung sprechen.VII Sujets sind komplexe Schemata, in deren Bildlichkeit bestimmte Akte des menschlichen Lebens und der Mentalität in aneinander gereihten Formen der Lebenswelt verallgemeinert wurden. Mit der Verallgemeinerung ist bereits auch eine Wertung der Handlung, positiv oder negativ, verbunden. Für eine Chronologie der Sujethaftigkeit halte ich diesen letzten Umstand für sehr wichtig: Wenn zum Beispiel Themen wie Amor und Psyche und Melusine das alte Tabu der Eheschließung zwischen Mitgliedern desselben totemistischen Bundes widerspiegeln, so zeigt der versöhnliche Schlussakkord in Apuleius’ Fassung und vergleichbaren Märchen, dass die Evolution der Lebensweise die einst lebendige Sitte schon aufgehoben hat: daher die Änderung des Märchenschemas. Die Schematisierung der Handlung führte natürlicherweise zur Schematisierung der handelnden Personen und Figurentypen. Ungeachtet aller Mischung und Schichtung, die das zeitgenössische Märchen durchlaufen hat, ist es für uns das beste Muster von Texten, die im Alltag entstehen; doch dieselben Schemata und Figurentypen [496] kommen auch in den Mythen vor, in denen Phänomene der nichtmenschlichen, aber vermenschlichten Natur im Mittelpunkt stehen. Die Ähnlichkeit von Märchen und Mythos erklärt sich nicht durch ihre genetische Verbindung, wobei das Märchen als blutleerer Mythos erschiene, sondern in der Einheit von Material, Verfahren und Schemata, die nur anders angewendet wurden. Diese Welt bildlicher Verallgemeinerungen aus Alltag und Mythos erzog und verpflichtete ganze Generationen auf ihrem Weg zur Historie. Die Herausbildung einer historischen Völkerschaft setzt die Existenz bzw. friedliche oder kriegerische Abgrenzung von anderen voraus; in diesem Entwicklungsstadium entsteht das epische Lied über Heldentaten und Helden, wobei das Lied die reale Heldentat und den historischen Helden durch das Prisma eben jener Bilder und schematischer Situationen aufnimmt, in denen die Phantasie zu schaffen gewohnt ist. Auf diese Weise dehnte sich die Ähnlichkeit der Märchen- und Mythenmotive auch auf das Epos aus; doch kam es auch zu neuen Kontaminationen: Ein altes Schema öffnete sich, um in seinen Rahmen die klaren 2
Folk-Lore, III, S. 76 f.
Poetik der Sujets
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Züge eines Ereignisses aufzunehmen, das das Empfinden erregt hatte, und in dieser Form fand es seine für die Poetik der folgenden Generationen maßgebliche weitere Verwendung. So konnte die Niederlage bei Roncesvalles typisch für viele „Niederlagen“ in den französischen chansons de geste werden, oder das Bild Rolands für die Charakterisierung des Helden im Allgemeinen. Nicht alle ererbten Sujets erfuhren eine solche Erneuerung; die einen gerieten ganz in Vergessenheit, weil sie nicht dem Ausdruck neuer geistiger Interessen dienten, andere, die vergessen worden waren, entstanden aufs Neue. Eine Rückkehr zu ihnen kommt häufiger vor, als man gemeinhin denkt; wenn sie gehäuft vorkommt, stellt sich unweigerlich die Frage nach den Gründen einer solchen Nachfrage. Es ist, als hätte der Mensch eine Fülle neuer Empfindungen und Erwartungen und suchte für sie einen Ausweg, fände aber keine passende Form unter denen, die gewöhnlich seinem Schaffen gedient haben: Diese Formen sind zu eng mit dem jeweiligen Inhalt verwachsen, den der Mensch in sie gelegt hat; sie sind untrennbar vom Inhalt und bleiben dem Neuen verschlossen. Dann kommt er zu jenen Bildern und Motiven, in denen sich vor langer Zeit sein Denken und Empfinden manifestiert hat, die inzwischen erstarrt sind und ihn nicht daran hindern, diesen alten Formen eine neue Prägung zu geben. Goethe riet Eckermann, sich denjenigen Sujets zuzuwenden, die bereits die Einbildungskraft des Künstlers herausgefordert haben; wie viele haben eine Iphigenie geschrieben, und alle sind anders, weil jeder sie auf seine eigene Art versteht.3 Es ist bekannt, welche Vielfalt an alten Themen die Romantiker erneuert haben. Maeterlincks Pelléas et Mélisande haben noch einmal neu die Tragödie von Francesca und Paolo durchlebt. Bisher haben wir die Entwicklung der Sujethaftigkeit in den Grenzen einer einzelnen Kulturgemeinschaft betrachtet. Wir benötigen aber einen rein theoretischen Rahmen zur [497] Klärung einiger allgemeiner Fragen. Im Prinzip kennen wir keinen einzigen isolierten Stamm, das heißt, keinen, über den wir mit Bestimmtheit sagen könnten, dass er nicht irgendwann einmal mit anderen in Berührung gekommen wäre. Übertragen wir unser Evolutionsschema der Sujethaftigkeit auf die Kommunikation zwischen den Völkern und kulturellen Sphären, müssen wir vor allem die Frage stellen: Hat sich der Übergang von einer natürlichen Schematisierung der Motive zu einer Schematisierung von Sujets 3
Eckermann, „Gespräche mit Goethe“ am 18. September 1823.
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überall vollzogen? In Bezug auf den Sujetcharakter des Märchens fällt die Antwort wohl negativ aus. Die Alltagsmärchen der Wilden kennen weder die typischen Themen noch den strengen Aufbau unserer Märchen, unseres Märchenmaterials; sie bilden eine Reihe verschwommen-realer oder phantastischer Abenteuer ohne organische Verbindung und ohne jenes Gerüst, das dem Ganzen Form gibt und klar hinter jenen Einzelheiten hervorlugt, die eine Variante von der anderen unterscheiden. Die Varianten setzen einen ihnen zugrunde liegenden Text oder eine RedeVIII voraus sowie eine Abweichung von der Form; Formlosigkeit erzeugt keine Varianten. Und inmitten dieser Formlosigkeit des Märchenmaterials trifft man auf bekannte schematische Themen, die Sujethaftigkeit europäischer, indischer und persischer Märchen. Dies sind die importierten Märchen. Folglich kam es nicht bei allen Völkern zu schematisierten Märchensujets, das heißt zu jener einfachsten Komposition, die den Weg zum weiteren, schon nicht mehr mechanischen Schaffen öffnete. Im Material formloser Erzählungen bleiben die schematischen Märchen ein Fleck, der in der allgemeinen Masse nicht verschwimmt. Man gelangt zu dem Schluss: Dort, wo neben solchen Märchen keine Märchen ohne Form und Baumuster existieren, hat die Entwicklung zu einer Schematisierung geführt, und wenn sie kein Märchen hervorgebracht hat, so konnten die poetischen Sujets doch von einem Milieu in ein anderes übersiedeln, sich einer Umgebung anpassen und ihre Sitten und Gebräuche annehmen. So kamen die orientalischen Märchen im Mittelalter der durch die Kirche beförderten Misogynie gerade recht; so nährten andere östliche Erzählungen sporadisch die Phantasie der Spielmänner. Die Aneignung verlief eigentümlich: Unser Djuk Stepanovi!IX trägt keinen Schirm, sondern eine Sonnenblume, was die Sänger anscheinend nicht irritierte. Der unverstandene Exotismus blieb haften wie der Stempel auf der Importware und gefiel gerade durch seine Unverständlichkeit und das Geheimnisvolle daran. Doch wenn eine von mehreren konkurrierenden Nationalkulturen die andere mit ihren zivilisatorischen und kognitiven Errungenschaften überholte und auch eine neue Schematisierung des poetischen Ausdrucks entwickelte, steckte sie das rückständigere Milieu damit an: Zusammen mit dem geistigen Gehalt wurden auch die darauf bezogenen Sujets übernommen. So war es zur Zeit des aufkommenden Christentums mit seinen entsagungsvollen Märtyrerfiguren und in geringerem Maße auch, als die französische Ritterschaft Europa zusammen mit ihrer Weltanschauung auch den Schematismus bretonischer Romane brachte; als Italien ihm den Kult des klassischen Altertums, dessen Schönheit [498] und literarische
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Vorbilder gab und als ihm später England und Deutschland die Liebe zu national-archaischen Themen vermittelten. Jedes Mal begann eine Epoche geistigen und poetischen Doppelglaubens und damit ein Prozess von Aneignungen; die Wahrnehmung klassischer Sujets ist im Roman de Troie eine andere als beispielsweise bei Boccaccio und den französischen Pseudoklassizisten. Diese Aneignungsprozesse und ihre Technik zu verfolgen sowie Gegenströmungen, die in unterschiedlichem Maße in neuen Werken zusammenfließen, zu untersuchen ist eine interessante Aufgabe. Je einfacher die Zusammensetzung sich kreuzender Elemente, desto leichter kann man sie analysieren, desto sichtbarer ist der Gang der Neubildung und desto eher kommt man zu Ergebnissen. So können Untersuchungsmethoden ausgearbeitet werden, die die Analyse komplexerer Beziehungen ermöglichen. In die deskriptive Geschichte der Sujethaftigkeit wird damit eine gewisse Gesetzmäßigkeit eingeführt – durch die Anerkennung der Konventionalität und Evolution ihrer formalen Elemente, die den Wechsel gesellschaftlicher Ideale reflektieren. Erstes Kapitel Motiv und Sujet In welchem Maße und zu welchen Zielen kann in einer historischen Poetik die Frage nach der Geschichte der poetischen Sujets gestellt werden? Antwort gibt eine Parallele: und zwar besteht diese in der Geschichte des poetischen Stils, der sich ablagert in einem Komplex typischer Bildsymbole, Motive, Wendungen, Parallelen und Vergleiche, deren Wiederholbarkeit und Allgemeinheit entweder a) durch die Einheit der psychologischen Prozesse, die in ihnen Ausdruck gefunden haben, erklärt werden kann oder b) durch historische Einflüsse (vgl. in der mittelalterlichen europäischen Lyrik den klassischen Einfluss, die Bilder aus dem Physiologus usw.). Der Dichter arbeitet mit einem für ihn bindenden stilistischen Lexikon (das bislang noch nicht zusammengestellt worden ist); seine Originalität ist in diesem Bereich entweder durch die Entwicklung (durch einen anderen Zusatz: Suggestivität)X der jeweiligen Motive begrenzt oder durch deren Kombinationen; stilistische Neuerungen passen sich an und nehmen durch die Überlieferung fest gefügte Bilder auf. [499] Dieselben Standpunkte kann man nun auch bei der Betrachtung von poetischen Sujets und Motiven einnehmen; sie bieten dieselben Kennzeichen der Allgemeinheit und Wiederholbarkeit vom Mythos bis zum Epos, zum Märchen, zur regionalen Sage und zum Roman; auch hier ist es
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legitim, von einem Lexikon typischer Schemata und Situationen zu sprechen, an die sich die Phantasie zu wenden gewöhnt hat, um einen Inhalt auszudrücken. Dieses Lexikon hat man schon zusammenzustellen versucht (für die Märchen – von Hahn, Folk-Lore Society; für das Drama – Polti, Les 36 situations dramatiques usw.)XI, ohne jedoch dabei einer Forderung zu entsprechen, deren Nichtbeachtung eine ungenügende und widersprüchliche Lösung der Frage [500] nach dem Ursprung und der Wiederholbarkeit von Erzählthemen zur Folge hat. Die Forderung lautet: die Frage nach den Motiven von der Frage nach den Sujets abzugrenzen. a) Unter Motiv verstehe ich die einfachste narrative Einheit, die sich bildlich auf verschiedene Bedürfnisse der archaischen Ratio oder Alltagsbeobachtung bezieht. Infolge der Ähnlichkeit oder Einheit der alltäglichen und psychologischen Bedingungen während der ersten Stadien der Menschheitsgeschichte konnten sich solche Motive selbständig entwickeln und zugleich ähnliche Züge aufweisen. Als Beispiele können dienen: 1) die sog. légendes des origines: die Vorstellung von der Sonne als Auge; von Sonne und Mond als Bruder und Schwester, Mann und Frau; die Mythen über den Sonnenaufgang und -untergang, die Mondflecken, sowie Sonnen- und Mondfinsternisse usw.;4 2) Alltagssituationen: das Entführen einer jungen Frau (Episode der volkstümlichen Hochzeit), Trennung (im Märchen) usw. b) Unter Sujet verstehe ich ein Thema, in dem verschiedene Situationsmotive zusammenfließen; Beispiele: 1) Märchen von der Sonne (und ihrer Mutter; die griechische und malaiische Legende über die Sonne als Menschenfresser); 2) Entführungsmärchen. Je komplexer die Motivkombinationen (wie Lieder Kombinationen stilistischer Motive sind), je unlogischer sie sind, und je mehr zusammengesetzte Motive es gibt, desto schwerer lässt sich die Annahme halten, dass sie – etwa wenn zwischen zwei Märchen ganz unterschiedlicher Stämme auffällige Übereinstimmungen auftreten – durch psychologische Selbstzeugung auf der Grundlage gleicher Vorstellungen und Alltagsbedingungen 4
Zu den légendes des origines vgl. Friedrich von der Leyen, Zur Entstehung des Märchens. In: Arch[iv] f[ür] d[as] Stud[ium] d[er] neuer[en] Sprachen [und Literaturen] CXIV, Heft 1/2, S. 15 f.
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entstanden seien. In solchen Fällen drängt sich die Frage auf, ob nicht ein Sujet, das sich bei der einen Völkerschaft gebildet hat, von der anderen in historischer Zeit entlehnt worden ist. Sowohl die Motive als auch die Sujets treten in den Lauf der Geschichte ein: Es sind Formen, die einen wachsenden geistigen Inhalt ausdrücken. Um dieser Forderung zu genügen, variieren die Sujets: In die Sujets dringen einige Motive ein, oder die Sujets werden miteinander kombiniert (Märchen und epische Schemata: der Mythos von Jason und seine märchenhaften Elemente: a) Phrixos und Helles Flucht vor der Stiefmutter und der Widder mit dem goldenen Vlies = Märchen über dieselbe Flucht unter denselben Bedingungen; Tiere als Helfer; b) schwierige Aufgaben und Hilfe des Mädchens im Mythos von Jason und in den Märchen); ein neues Licht wird durch dieses andere Verständnis auch auf die im Zentrum stehenden Figurentypen (Faust) geworfen. Eben dadurch bestimmt sich das Verhältnis des Dichters zu typischen Sujets der Tradition: sein individuelles Schaffen. Ich möchte damit nicht sagen, der poetische Akt drücke sich allein in der Wiederholung oder durch Neukombination typischer Sujets aus. Es gibt anekdotische Sujets, die durch irgendein zufälliges Geschehnis angeregt werden, das durch seine Fabel oder eine Hauptfigur Interesse hervorruft. Beispiele: 1) kamaonische Märchen [501] typischen Charakters – und regionale Legenden. Der Einfluss eines (eigenen oder importierten) Typs auf eine Sage anekdotischen Charakters: Die Märchen der Wilden sind formlos; das typisierteXII Märchen verleiht ihnen eine definitive Form und lässt sie in seinem Klischee verschwinden (vgl. den Einfluss der Märchen von Perrault auf englische Volksmärchen). Regionale Volkserzählungen [skazanija] formen sich unter dem Einfluss eines von außerhalb importierten ähnlichen Inhalts, aber definierten Typs. […] 2) Der zeitgenössische Roman ist nicht typisiert, denn sein Zentrum liegt nicht in der Fabel, sondern in den Figuren [v tipach]; allerdings ist der Abenteuerroman, roman d’aventures, aufgrund von ererbten Schemata entstanden. —————————
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Bibliographische Notiz Übersetzt nach: Po!tika sju"etov. In: A. Veselovskij, Istori#eskaja po!tika [Historische Poetik], Leningrad 1940 (Nachdruck: The Hague 1970), S. 493–596, hier S. 493–501. Erstpublikation: A. Veselovskij, Sobranie so#inenij, t. II, vyp. 1, Sankt-Peterburg 1913, S. 13–148.
————————— Kommentar Der Text ist der Beginn einer aus dem Nachlass Veselovskijs publizierten Manuskriptsammlung. Der mit „Einführung“ betitelte Abschnitt, der ursprünglich nicht zu diesem Konvolut gehörte, sondern sich in einer Mappe mit der Aufschrift „Sju"ety“ neben anderen Textfragmenten fand, wurde vom Herausgeber V. F. #i$marev an den Anfang gestellt. (Vgl. auch den Kommentar Veselovskij 1940, 644, sowie den Kommentar „K fragmentam ‚Po%tiki sju"etov‘“ von M. P. Alekseev zu einer weiteren Nachlasspublikation aus Veselovskijs Nachlass in: U#enye zapiski LGU, Nr. 64, Serija filol. nauk, Vyp. 8, Leningrad 1941, S. 17–29. Veselovskijs Text: S. 5–16.) Veselovskijs Manuskripte gehen auf eine Vorlesungsreihe zum Thema „Sujethaftigkeit“ zurück, die er ab 1898 an der Sankt Petersburger Universität gehalten hat. Die weitaus größten Teile sind stark fragmentarisch. Veselovskij geht der Frage nach, wie sich die literarischen Sujets historisch entwickelt haben. Leitende Annahme ist hierbei, dass sich diese Entwicklung parallel zur Entwicklung der gesellschaftlichen Entwicklung vollziehe und durch deren Gesetzmäßigkeiten bedingt werde. Veselovskijs Theorie ist eine Synthese verschiedener im 19. Jahrhundert diskutierter Erklärungsansätze in der Märchen- und Mythenforschung. Veselovskij sah seine Forschungen als Ergänzung der Theorie Theodor Benfeys, die in der russischen Wissenschaftsgeschichte als „Entlehnungstheorie“ (teorija zaimstvovanija) oder „Migrationstheorie“ bezeichnet wird (Gorskij 1989, 12). Danach wurden die Ähnlichkeiten der Märchenmotive verschiedener Kulturen mit Wanderbewegungen der Völker erklärt und nicht mehr – wie in der sog. mythologischen Schule, zu deren Vertretern Veselovskij Jakob Grimm, Max Müller und Fedor Buslaev zählt (1913, 501) – auf eine einzige („indogermanische“) Quelle zurückgeführt. Ohne die Entlehnungstheorie abzulehnen, führt Veselovskij die Ähnlichkeiten zusätzlich auf gleiche Lebensbedingungen und ähnliche religiöse Vorstellungen zurück (1913, 513) und argumentiert damit für die anthropologische Theorie der Polygenese wie zur selben Zeit Edward Burnett Tylor in seinem Werk Primitive Cultures von 1871 (dt.: Die Anfänge der Cultur, Leipzig 1873, 2 Bände); vgl. dazu &irmunskij* (1940, 15, 25), der Veselovskijs Lehre weniger als Gegenentwurf zur mythologischen Schule versteht, sondern vielmehr als Fortset-
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zung und Vervollständigung (1940, 21–30). Für analoge Kombinationen von Motiven, die nach Veselovskij die anthropologische bzw. „ethnographische“ Theorie nicht erklären kann, lässt er hingegen die Entlehnungstheorie gelten (1913, 505). Die hier wiedergegebenen Passagen stellen eine theoretische und begriffliche Vorverständigung dar und sollen den Unterschied von Motiv und Sujet für die Frage nach der Herkunft begründen. Unabhängig von dieser diachronischen Fragestellung hat allein Veselovskijs strenge Unterscheidung von Motiv und Sujet sicherlich Entscheidendes zur Konzeptbildung beigetragen. Veselovskijs Ansatz, literarische Phänomene als Widerspiegelung gesellschaftlichen Lebens aufzufassen, machte ihn attraktiv für die marxistische Literaturwissenschaft. Nikolaj Marr und Ol’ga Frejdenberg beschreiten Veselovskijs Weg in vielem weiter. Veselovskijs Text kann man ferner als einen Ausgangspunkt der formalistischen Sujetpoetik ansehen. Viktor #klovskij* (1919, 39/41) zitiert in seinem Aufsatz Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren zwei Auszüge aus dem hier übersetzten Text. In den Abschnitten „Über die ethnographische Schule“ (38–43; ein Auszug findet sich im vorliegenden Band auf S. 16) und „Über Motive“ (43–51; s. ebenfalls S. 16 im vorliegenden Band) wendet sich #klovskij kritisch gegen Veselovskijs historische Poetik, sofern sie die Übereinstimmungen von Märchen und Mythen verschiedener Völker und Epochen mit identischen Umweltbedingungen einerseits und Entlehnung und Migration andererseits erklärt. Auch die Reduktion von literarischen Motiven auf einzelne Riten und Gebräuche lehnt #klovskij ab. Er setzt die Überzeugung dagegen, dass die Ähnlichkeiten der Sujets sich „nur mit der Existenz besonderer Gesetze der Sujetkonstruktion“ erklären ließen (1919, 43) (s. vorliegenden Band, S. 16). Was die Herkunft literarischer Motive angeht, so sieht #klovskij ihr Charakteristikum gerade in der Ablösung vom Brauchtum: Gerade weil die ehemals rituellen Phänomene ungebräuchlich wurden, konnten sie künstlerisch wahrnehmbar werden. Dieser expliziten Kritik stehen aber auch einige Fälle von Anknüpfung gegenüber, auf die in den folgenden Anmerkungen hingewiesen wird. Noch in seinem frühen Essay Die Auferweckung des Wortes beruft sich #klovskij auf Veselovskij als anerkannte Autorität, um die Unverständlichkeit der poetischen Sprache der Futuristen zu rechtfertigen (1914, 15). Veselovskij weist nämlich in einem etwas anderen Zusammenhang darauf hin, dass man in früheren Epochen „in Worten sang, die man nicht verstand“ (1898b, 205). Jurij Lotman* sieht Veselovskijs Verdienst darin, seinen Motivbegriff in Ansätzen als Zeichenbegriff formuliert zu haben, der die elementare Sujeteinheit bildet (1970, 348–350).
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Anmerkungen I
Wörtlich: „Schematismus“. In Veselovskijs Text sind unterschiedliche Wortbildungen mit „schema-“ häufig. Synonym gebraucht er „formula“. Dies weist den entsprechenden Begriff als – freilich noch sehr unscharfe – zentrale Kategorie aus, die jene zumeist thematischen Komponenten bezeichnet, die in verschiedenen Texten invariant sind. Ihm korrespondiert der Begriff des Textkanons (predanie), der im Text mehrmals auftaucht und mit „Überlieferung“ oder „überlieferte Texte“ wiedergegeben ist. – Ein Abschnitt Aus den Vorlesungen zur Geschichte des Epos trägt den Titel „Märchenschemata“ (1884–85, 454). Veselovskij vertritt hier die These, dass es ein Reservoir an einfachen Schemata gebe, auf das sich Märchen, Mythen und Sagen zurückführen ließen. Er formuliert vor dem Hintergrund einer diachronischen Fragestellung anschließend eine Aufgabe, der sich später Vladimir Propp* im Rahmen einer synchronischen Fragestellung angenommen hat: „Es wäre interessant, eine Morphologie des Märchens zu erstellen und ihre Entwicklung von den einfachsten Momenten bis zu den komplexesten Kombinationen zu verfolgen“ (1884–85, 455). II Hier klingt ein Grundgedanke des Formalismus an, nach dem es in der Kunst nichts wesentlich Neues gibt, sondern nur Neukombinationen alter Formen. Diesen Gedanken hat Veselovskij bereits ganz zu Anfang seiner Karriere formuliert: „Arbeitet nicht jede neue literarische Epoche mit von alters her überlieferten Bildern? […] Sie gestattet sich lediglich neue Kombinationen alter Bilder und erfüllt sie nur mit neuem Lebensverständnis, das eigentlich ihren Fortschritt gegenüber der Vergangenheit ausmacht.“ (1870, 51) In diesem Sinne wird #klovskij* später formulieren: „In Wirklichkeit zerfallen die Märchen ständig und bilden sich neu auf der Grundlage besonderer, noch unbekannter Gesetze der Sujetkonstruktion“ (#klovskij 1919, 43; s. ebenfalls S. 16 im vorliegenden Band). III Im Aufsatz Der psychologische Parallelismus und seine Formen in der Widerspiegelung des poetischen Stils heißt es: „Nicht alles, was einmal lebendig und jung war, bleibt in seinem früheren Glanz erhalten; unsere poetische Sprache macht nicht selten den Eindruck von Detriten; Wendungen und Epitheta verbleichen, wie auch ein Wort verbleicht, dessen Bildlichkeit mit dem abstrakten Verständnis seines objektiven Inhalts verloren geht.“ (1898a, 194) – Die ungewöhnliche Metapher (Detritus = Überrest zerfallener Zellen oder auch zerriebenes Gestein) hat sich nicht gehalten. Gemeint ist damit nichts anderes als der Begriff des literarischen Klischees. Veselovskij möchte also im vorliegenden Text die Frage beantworten, ob größere literarische Einheiten wie Sujets ähnlichen „Alterungsprozessen“ unterliegen wie Stilphänomene und Motive. IV Das dritte von Veselovskijs Drei Kapiteln aus der historischen Poetik ist mit dem Titel „Die Sprache der Poesie und die Sprache der Prosa“ versehen (1898b, 347–380). Veselovskij ist damit neben seinem Zeitgenossen Aleksandr Potebnja* als einer der Ahnherren des formalistischen Konzeptes der poetischen Sprache zu betrachten (vgl. Aumüller 2005). Zumindest knüpften die Formalisten oftmals an
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virulente Konzepte an und integrierten sie in ihre Theorie, wobei sie sie nicht selten modifizierten. Neben dem Begriff der poetischen Sprache betrifft dies z. B. auch den Begriff des Parallelismus, der eine zentrale Kategorie in Roman Jakobsons Arbeit über Velimir Chlebnikov Die neueste russische Poesie (1921) ist, freilich gereinigt um die psychologische und historische Fundierung, wie sie bei Veselovskij obligat ist. V Diesen Satz zitiert Vladimir Propp am Ende seiner Morphologie des Märchens mit der Bemerkung, dass Veselovskij seine, Propps, Erkenntnisse „intuitiv vorausgesehen“ habe (1928a, 116). VI Diese Beobachtung wird bei #klovskij zu einem der Verfahren, mit denen eine „Verzögerung“ (zader"anie) der Wahrnehmung erreicht wird, die wiederum die „Spürbarkeit“ (o$!utimost’) des Kunstwerks erhöht und damit zugleich dessen Poetizität. Vgl. dazu die Auszüge aus #klovskijs Arbeiten zum Sujet und seiner Konstruktion in diesem Band. VII Joseph Jacobs (1854–1916), Herausgeber der Zeitschrift Folk-Lore von 1889– 1900, war Märchensammler und Historiker. Veselovskijs Angabe ist nicht richtig. Korrekt ist: Joseph Jacobs, Cinderella in Britain, in: Folk-Lore 4 (Heft 3), 1893, S. 269–284. Dort heißt es auf S. 280: „Thus, a story of twelve incidents could only occur casually with the same order of incidents in two different places once in 479,001,599 times; in other words, it is, roughly speaking, five hundred millions to one its thus occurring alike by chance in two different places.“ VIII Veselovskij benutzt den mit „Rede“ wiedergegebenen Ausdruck skaz, der hier nicht den Begriff bezeichnet, den später Boris 'jchenbaum* prägt. Auch die anschließende Wendung „Abweichung von der Form“ (otklonenie ot formy) klingt formalistisch, soll hier aber lediglich die logische Beziehung von Grundform und Variante spezifizieren. IX Held einer russischen Byline. Vgl. Mo!alova 1989, 404. X Es ist unklar, worauf Veselovskij hier den Ausdruck „Suggestivität“ bezieht. Am wahrscheinlichsten ist er als Alternative zu „Originalität“ gedacht, doch fragt sich, warum die Parenthese dann nicht unmittelbar nach diesem Ausdruck eingefügt ist. Satzstellung und Kasus von „Zusatz“ beziehen die Parenthese dagegen auf „Entwicklung“. XI Gemeint ist der österreichische Gesandte Johann Georg von Hahn* (1811– 1869), Verfasser der Albanesischen Studien (1854) und der Sagwissenschaftlichen Studien (1876). Er ist der Begründer der Albanologie und gilt als ein Vorläufer der Märchensystematik von Antti Aarne*. – Zu Polti vgl. Veselovskijs erste Fußnote. XII Wörtlich: „typisches Märchen“ (tipi!eskaja skazka).
2. Viktor !klovskij: Zum Sujet und seiner Konstruktion* (Auszüge aus der Theorie der Prosa, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Wolf Schmid)
I. Auszüge aus: Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren [24] „Wozu über ein Seil gehen und dazu noch alle vier Schritte eine Kniebeuge machen?“ so äußerte sich Saltykov-!"edrin* über Verse. Jedem, der mit Kunst umgeht, ist diese Frage verständlich, mit Ausnahme der Leute, die von der undurchdachten Theorie des Rhythmus als Organisationsfaktor der Arbeit vergiftet sind. Die krumme, schwere poetische Sprache, die den Dichter stammeln läßt, der seltsame, ungewöhnliche Wortschatz, die ungewöhnliche Folge der Wörter, woher kommt das? Warum erkennt König Lear Kent nicht? Warum erkennen Kent und Lear Edgar nicht? – so fragte Tolstoj, voll Verwunderung über die Gesetze des Shakepeareschen Dramas, Tolstoj, der groß war in seinem Vermögen, die Dinge zu sehen und sich über sie zu wundern. Warum findet das Wiedererkennen in den Stücken Menanders, Plautus’ und Terenz’ im letzten Akt statt, obwohl die Zuschauer die Blutsverwandtschaft der Kämpfenden längst ahnen und der Autor manchmal selbst im Prolog darauf hinweist? Warum sehen wir im Tanz eine Bitte nach ihrer Gewährung. Was hat Glahn und Edvarda in Hamsuns Pan auseinandergebracht und in verschiedene Enden der Welt geführt, obwohl sie einander liebten? Warum hat Ovid, der aus Liebe die Ars amatoria geschaffen hat, geraten, sich beim Genuß Zeit zu lassen? Der krumme Weg, der Weg, auf dem der Fuß die Steine spürt, der Weg, der zum Ausgangspunkt zurückführt, das ist der Weg der Kunst. Das Wort nähert sich dem Wort, das Wort empfindet das Wort, wie die Wange die Wange. Die Wörter werden zerlegt, und statt eines einheitlichen Komplexes, des automatisch ausgesprochenen Worts, das herausgeworfen wird wie eine Tafel Schokolade aus dem Automaten, entsteht das Wort als Klang, das Wort als Artikulationsbewegung.I Auch der Tanz ist ein Gehen, das [25] als Gehen empfunden wird [o#"u#"aetsja]; genauer, ein Gehen, das so konstruiert ist [postroena], dass man es
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empfindet.II Und so tanzen wir hinter dem Pflug; das tun wir, weil wir pflügenIII, aber den gepflügten Acker brauchen wir nicht.IV […] Über die ethnographische Schule […] [27] Ich ziehe das FazitV: Zufällige Übereinstimmungen [scil. zwischen den Märchen unterschiedlicher Nationen] sind unmöglich. Übereinstimmungen lassen sich nur mit der Existenz besonderer Gesetze der Sujetkonstruktion erklären. Selbst wenn man Entlehnungen akzeptiert, erklären sie nicht die Existenz gleicher Märchen bei einem Abstand von Tausenden von Jahren und Zehntausenden von Kilometern. Deshalb geht die Rechnung von JacobsVI nicht auf; er geht von der Nichtexistenz von Gesetzen der Sujetkonstruktion und von einer zufälligen Anordnung der Motive zu Reihen aus. In Wirklichkeit aber zerfallen die Märchen ständig und bilden sich neu auf der Grundlage besonderer, noch unbekannter Gesetze der Sujetkonstruktion.VII Über Motive Auch in der Frage der Herkunft der Motive ist viel gegen die ethnographische Theorie einzuwenden. Die Vertreter dieser Lehre erklärten die Ähnlichkeit der Erzählmotive mit der Identität der Lebensformen und religiösen Vorstellungen. Diese Lehre richtete ihre ausschließliche Aufmerksamkeit auf die Motive, fragte nach der Bedeutung des wechselseitigen Einflusses der Märchenschemata nur beiläufig und interessierte sich für die Gesetze der Sujetkonstruktion überhaupt nicht. Aber auch abgesehen davon ist die ethnographische Theorie [28] in ihrer Grundlage nicht genau genug. Sie geht davon aus, dass Motive und Situationen im Märchen Erinnerungen an früher tatsächlich existierende Verhältnisse sind. So bezeuge zum Beispiel der Inzest in Märchen einen urtümlichen Hetärismus, hilfreiche Tiere seien Spuren eines Totemismus, der Brautraub in den Märchen sei die Erinnerung an Eheschließung mit Hilfe einer Entführung. Mit solchen Erklärungen sind alle Arbeiten [dieser Schule] regelrecht überhäuft, insbesondere die Aleksandr Veselovskijs*. […]
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[30] Ohne zu bestreiten, dass Motive auf der Grundlage von Lebensverhältnissen entstehen können, möchte ich anmerken, dass man sich, um solche Motive zu schaffen, gewöhnlich eine Kollision von Bräuchen zunutze macht, einen Widerspruch, der zwischen ihnen besteht; die Erinnerung an einen nicht mehr bestehenden Brauch kann für die Konstruktion eines Konflikts benutzt werden. So beruht bei Maupassant eine ganze Reihe von Erzählungen (Le vieux und viele andere) auf der Darstellung des einfachen, unpathetischen Verhältnisses, das der französische Bauer zum Tod hat. Es hat zunächst den Anschein, dass der Konstruktion der Erzählung die einfache Darstellung der Lebensverhältnisse zugrunde liege. In Wirklichkeit aber ist die ganze Erzählung für Leser aus einem andern Milieu mit einem andern Verhältnis zum Tod geschrieben. Denselben Charakter hat die Erzählung Le retour: ein Mann kehrt nach einem Schiffbruch nach Hause zurück; seine Frau ist mit einem andern verheiratet; die beiden Ehemänner trinken friedlich zusammen Wein; auch der Schankwirt wundert sich nicht darüber. Die Erzählung ist für Leser geschrieben, die das Sujet „Der Mann auf der Hochzeit seiner Frau“ kennen und ein weniger schlichtes Verhältnis zu diesen Dingen haben. So [31] wirkt auch hier das Gesetz, dass ein Brauch erst dann zur Grundlage für die Bildung eines Motivs wird, wenn er selbst Brauch nicht mehr gebräuchlich ist. Als allgemeine Regel füge ich hinzu: Ein Kunstwerk wird vor dem Hintergrund anderer Kunstwerke und über die Assoziation mit ihnen wahrgenommen. Die Form eines Kunstwerks wird durch sein Verhältnis zu andern Formen bestimmt, die vor ihm existiert haben. Das Material des Kunstwerks wird ständig mit Pedal gespielt, d. h. hervorgehoben, „hervorgetönt“. Nicht nur die Parodie, sondern jedes Kunstwerk überhaupt wird als Parallele und Gegensatz zu irgendeinem Muster geschaffen. Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form zu ersetzen, die ihren Kunstcharakter bereits verloren hat […]VIII. Stufenbau und Verzögerung [32] Es gibt Leute, die glauben, die Kunst habe das Ziel, irgendetwas zu erleichtern, etwas einzuflüstern oder eine Verallgemeinerung von etwas zu bieten. Diesen Menschen ist die Dampframme nicht genug, sie ziehen zu dieser Arbeit noch den Rhythmus heran. Aber jedem, der Augen hat zu sehen [33], ist klar, wie weit entfernt von der Verallgemeinerung die
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Kunst ist und wie nah an ihrer Aufsplitterung [razdroblenie], die Kunst, die natürlich nicht ein Marsch zu Musik ist, sondern ein Tanz als Gehen, das man als Gehen empfindet, genauer: eine Bewegung, die nur dafür gemacht ist, dass man sie empfinde. Das praktische Denken tendiert zur Verallgemeinerung, zur Bildung von möglichst weiten, allgemeingültigen Formeln. Die Kunst dagegen „mit ihrem Durst nach Konkretheit“ (Carlyle) beruht auf Stufung [stupen"atost’] und Aufsplitterung sogar dessen, was in verallgemeinerter und einheitlicher Form gegeben ist. Zum Stufenbau gehören die Wiederholung mit ihrem Spezialfall, dem Reim […], die Tautologie, der tautologische Parallelismus, der psychologische Parallelismus, die Verzögerung, die epischen Wiederholungen, die Märchenriten, die Peripetien und viele andere Sujetverfahren [priemy sju#etnosti].IX […] [44] wir sehen, dass das, was man in der ProsaX mit einem a bezeichnen würde, in der Kunst durch A1 A (z. B. bei der Tautologie) oder durch AA1 (z. B. beim psychologischen Parallelismus) ausgedrückt wird. Das ist die Seele aller Verfahren. Genauso wird, wenn für die Durchführung einer Aufgabe eine Kraft AM erforderlich ist, diese in der Form AM-2 AM-1 AM dargestellt. So zieht in den Bylinen zuerst Ale$a Popovi" in den Kampf, dann Dobrynja Nikiti" und schließlich Il’ja. […] Osip Brik* hat sehr geistreich festgestellt, dass das Wasser des Todes und das Wasser des Lebens nichts anderes ist als die Aufteilung des einen Begriffs „heilendes Wasser“ auf zwei Begriffe (bekanntlich läßt das Wasser des Todes in den Märchen einen zerstückelten Körper wieder zusammenwachsen), d. h. A ist als A1A2 dargestellt. Genauso ist ein „Typ“ in Gogol’s Revisor verdoppelt. Zweifellos sind Bob"inskij und Dob"inskij eine Verdoppelung, was man schon an der Paarigkeit der Namen sieht. Hier ist A auch als A1 A2 gegeben. Die übliche Antwort ist: Märchenritual, aber dabei wird nicht beachtet, dass dieses Ritual nicht das Ritual des Märchens, sondern das Ritual und das Geheimnis der gesamten Kunst ist. […] Die Motivierung der Verzögerung [45] Allgemein wird die Existenz einer märchenhaften Ritualität von allen als etwas für das Märchen Kanonisches anerkannt. Ich greife aufs Gera-
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tewohl einige Beispiele aus Tausenden heraus: die drei unterirdischen Reiche – das kupferne, das silberne und das goldene. Drei Kämpfe und Helden und – als charakteristischster Typ – die Gradation der Aufgaben, zum Beispiel: den Feuervogel fangen, das Pferd fangen, die schöne Vasilisa fangen. […] Höchst interessant sind die Aufgaben selbst: sie sind eine Motivierung für die Schaffung von Bedingungen, die die Klärung einer scheinbar unlösbaren Situation erfordern. Hier wird das Aufgeben von Rätseln als die einfachste Weise gewählt, eine ausweglose Lage zu schaffen. […] [47] Einige Motive wurden […] besonders beliebt, zum Beispiel das Motiv des Schiffbruchs oder der Entführung der Helden in Abenteuerromanen. Der Held wird nicht sogleich erschlagen, da er noch für die Wiedererkennung gebraucht wird. Wenn man ihn aus dem Wege räumen will, wird er irgendwohin verschleppt. Sehr oft werden diese Episoden mit wechselseitigem Rauben und mit Fluchten und andern vergeblichen Bemühungen dadurch kompliziert, dass ihre Opfer sich ineinander verlieben und zu ihrem Ziel auf dem allerlängsten Wege streben. Die Episoden, die aufeinander folgen, unterscheiden sich voneinander nur unwesentlich, und sie spielen in Abenteuerromanen dieselbe Rolle der Verzögerung wie die Aufgaben oder die Märchenrituale in den Märchen oder der Parallelismus und die Retardation in Liedern. Schiffbruch, Entführung durch Piraten usw. [48] wurden nicht aufgrund lebensweltlicher, sondern aufgrund künstlerisch-technischer Umstände für das Sujet des Romans ausgewählt. Lebenswelt ist hier nicht mehr enthalten als indische Lebenswelt im Schachspiel. […] [48] Natürlich sind die gewundenen Wege [im Abenteuerroman] durch spezifische Bedingungen hervorgerufen, nämlich durch die Forderung des Sujets. […] [51] Das Verfahren der Entführung ist sehr lange jung geblieben. Interessant ist sein Schicksal. Zunächst degenerierte es und wurde nur noch in den zweitrangigen Teilen der Sujetkomposition verwendet, sozusagen unter ferner liefen. Jetzt aber ist es in die Kinderliteratur abgesunken. Ein schwaches Aufflackern war seine Erneuerung in den so genannten Kriegserzählungen der Jahre 1914 bis 1916. Aber noch vorher geschah mit ihm etwas außergewöhnlich Interessantes. Man muss hier anmerken, dass ein abgenutztes Verfahren noch einmal
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verwendet werden kann, und zwar als Parodie auf das Verfahren; so hat Pu"kin den banalen Reim morozy – rozy [„Fröste – Rosen“] verwendet und in den entsprechenden Versen seine Banalität thematisiert. Das Sujet der Entführung hat schon Boccaccio in der siebten Novelle des zweiten Tages parodiert […]. Es geht hier darum, dass der Effekt der klassischen Abenteuererzählung mit dem Mädchen als Heldin darauf beruht, dass es ihre Unschuld sogar in den Händen der Entführer bewahrt. Über diese in 80 Jahren unberührte Jungfräulichkeit hat schon Cervantes gelacht.XI […] [52] Das Wiedererkennen stellt nur einen Sonderfall der Peripetie dar. Das Grundgesetz der Peripetie ist das Gesetz der Verlangsamung, der Bremsung des Wiedererkennens. Das, was sogleich offenbar werden müßte und was dem Zuschauer schon klar ist, wird dem Helden nur langsam offenbar. […] [54] Im Kunstwerk gibt es neben den Elementen, die aus Entlehnungen entstehen, auch das Element des Schöpferischen, eines gewissen Willens des Schöpfers, der das Werk baut, ein Stück [Material] nimmt und es neben andere Stücke stellt. Die Gesetze dieses künstlerischen Willens, der auf das Schaffen spürbarer WerkeXII gerichtet ist, müssen erhellt werden. Ich zitiere einen Brief L. N. Tolstojs: An Fürstin V. Ich freue mich sehr, liebe Fürstin, über den Anlass, der mich Ihnen in Erinnerung gerufen hat. Und zum Beweis dafür eile ich, für Sie etwas Unmögliches zu tun, nämlich Ihre Frage zu beantworten. Andrej Bolkonskij [55] ist niemand, wie jede Figur eines Romanschriftstellers, nicht aber eines Biographen oder Memoirenschreibers. Ich würde mich schämen, etwas zu veröffentlichen, wenn meine ganze Arbeit darin bestünde, ein Porträt zu zeichnen, Nachforschungen anzustellen, etwas im Gedächtnis zu behalten. Ich will mich bemühen zu sagen, wer mein Andrej ist. In der Schlacht bei Austerlitz, die noch beschrieben wird, aber mit der ich den Roman begann, brauchte ich das Motiv, dass ein glänzender junger Mann erschlagen wird; im weiteren Verlauf des Romans brauchte ich nur den alten Bolkonskij und seine Tochter. Da es aber ungeschickt ist, eine Figur zu beschreiben, die mit dem Roman überhaupt nicht verbunden ist, beschloss ich, den glänzenden jungen Mann zum Sohn des alten Bolkonskij zu machen. Dann begann er mich zu interessieren, es fand sich für ihn eine weitere Rolle im Roman, und ich begnadigte ihn, indem ich ihn statt des Todes nur schwer verwundet habe. Das, Fürstin, ist also meine völlig der Wahrheit entsprechende, wenn damit vielleicht auch unklare Erklärung, wer Bolkonskij ist. Ihr… (3. Mai 1865). XIII
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Man beachte die Tolstojsche Motivierung der Verwandtschaft zwischen den Helden.XIV Wendet man sie auf die Romane Victor Hugos an, zum Beispiel auf Les misérables, wird klar, wie konventionellXV die Motivierung der Verwandtschaft und des gemeinsamen Wohnorts der Helden ist, der die einzelnen Stücke der Komposition verbindet. In dieser Hinsicht war man früher weit kühner. Wenn der Autor aus kompositionellen Gründen zwei Stücke miteinander verbinden musste, dann versuchte er nicht, dieser Verbindung eine Kausalität zu unterlegen. […] Die Rahmung als Verfahren der Verzögerung [59] Ich möchte einen Vergleich anstellen: Die Handlung eines literarischen Werks spielt sich auf einem bestimmten Feld ab; den Schachfiguren entsprechen die Typen, die Masken und Rollen des modernen Theaters. Die Sujets entsprechen den Gambits, d. h. [60] den klassischen Zügen dieses Spiels, die die Spieler in Varianten anwenden. Die Aufgaben und Peripetien entsprechen der Rolle der gegnerischen Züge. Die Methoden und Verfahren des Sujetbaus sind den Verfahren etwa der Klanginstrumentierung ähnlich und im Prinzip mit ihnen identisch. Wortkunstwerke sind ein Geflecht von Klängen, Artikulationsbewegungen und Gedanken. Ein Gedanke ist im literarischen Werk entweder ebenso Material wie die artikulatorische und phonetische Seite eines Morphems, oder er ist ein Fremdkörper. Ich zitiere einen Abschnitt aus einem Brief Lev Tolstojs an N. N. Strachov* XVI: Wenn ich mit Worten alles das sagen wollte, was ich mit dem Roman auszudrücken beabsichtigte, dann müsste ich denselben Roman, den ich geschrieben habe, noch einmal schreiben, und wenn die Kritiker das, was ich sagen will, schon jetzt verstehen und es sogar in einem Feuilleton ausdrücken können, dann kann ich ihnen nur gratulieren und freimütig versichern qu’ils en savent plus long que moi. Und wenn kurzsichtige Kritiker glauben, ich hätte lediglich beschreiben wollen, was mir gefällt, wie Oblonskij zu Mittag isst und was für Schultern die Karenina hat, so irren sie sich. In allem, fast in allem, was ich geschrieben habe, hat mich das Bedürfnis geleitet, Gedanken zu sammeln, die, um Ausdruck zu findenXVII, miteinander verkettet waren, aber jeder Gedanke, den man gesondert in Worten ausdrückt, verliert seinen Sinn, wird schrecklich trivial, wenn er aus jener Verkettung herausgelöst wird, in der er sich befindet. Die Verkettung selbst wird (so glaube ich) nicht von einem Gedanken gebildet, sondern von etwas anderem, und die Grundlage dieser Verkettung unmittelbar mit Worten auszudrücken, ist einfach unmöglich. Das ist nur mittelbar möglich, indem man mit Worten Gestalten, Handlungen und Situationen beschreibt (…)XVIII Jetzt aber,
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Viktor !klovskij da neun Zehntel alles Gedruckten Kunstkritik ist, sind Leute vonnöten, die zeigten, wie unsinnig es ist, in einem Kunstwerk einzelne Gedanken ausfindig zu machen, und die die Leser durch jenes endlose Labyrinth der Verkettungen leiteten, auf dem das Wesen der Kunst beruht, und die sie schließlich zu jenen Gesetzen hinführten, die die Grundlage dieser Verkettungen bilden.
Märchen, Novelle, Roman sind eine Kombination von Motiven; das Lied ist eine Kombination von stilistischen Motiven; deshalb sind das Sujet und die Sujethaftigkeit [sju"etnost’] eine ebensolche Form wie der Reim. Für den Begriff „Inhalt“ findet sich bei der Analyse eines Kunstwerks unter dem Aspekt der Sujethaftigkeit kein Bedarf. Die Form muss man hierbei als Konstruktionsgesetz des Gegenstands [zakon postroenija predmeta] begreifen.XIX [Aus dem Anhang zum Abschnitt „Stufenbau und Verzögerung“] [66] Die Hauptsache ist hier das Verfahren, das auf der Verlangsamung aufgebaut ist. Das Ziel dieses Verfahrens ist es, ein spürbares, wahrnehmbares Werk zu konstruieren. Bei der prosaischen Wahrnehmung dieses Verfahrens wird der Leser ungeduldig und wünscht eine Unterbrechung. Eine solche Stimmung herrscht gewöhnlich bei den Herren Märchensammlern, und dann übergehen sie gerne Verlangsamungen und Wiederholungen. Die Schöpfer der Märchen wussten von der Möglichkeit einer solchen Wahrnehmung und spielten sogar mit ihr.XX —————————
II. Auszüge aus: Der Bau der Erzählung und des Romans [68] Zu Beginn dieses Kapitels muss ich eingestehen, dass ich keine Definition für die Novelle habe. Das heißt, ich weiß nicht, welche Eigenschaften ein Motiv besitzen muss oder wie die Motive angeordnet sein müssen, damit sich ein Sujet ergibt. Ein einfaches Bild und eine einfache Parallele oder selbst eine einfache Beschreibung eines Ereignisses rufen noch nicht das Empfinden einer Novelle hervor. In der vorausgehenden Arbeit habe ich versucht, die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren zu zeigen. Insbesondere habe ich den Typus der stufenartigen Zunahme von Motiven skizziert. Solche Zunahmen sind ihrem Wesen nach unendlich, wie es
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auch die Zahl der auf ihnen aufgebauten Abenteuerromane ist. Daher alle diese zahllosen Bände des Rocambole, daher auch die Dix ans après und die Vingt ans après von Alexandre Dumas père. Daher auch die Notwendigkeit eines Epilogs in solchen Romanen. Man kann sie nur beenden, indem man den zeitlichen Maßstab ändert, ihn komprimiert. Aber gewöhnlich wird jede Anhäufung von Novellen von irgendeiner Rahmennovelle zusammengehalten. Im Abenteuerroman wird dafür sehr oft neben einer Entführung und einem Wiedererkennen das Motiv einer trotz aller Hindernisse zustandekommenden Hochzeit genommen. Deshalb erklärte Marc Twain am Schluß von Tom Sawyer, er wisse nicht, wie er seine Geschichte beenden solle, da es in der Geschichte eines Jungen keine Hochzeit gebe, mit der Romane über Erwachsene gewöhnlich endeten. Deshalb erklärte er auch, dass er sein Buch da beende, wo sich einfach eine Gelegenheit ergebe. […] [69] Aber was ist nun erforderlich, damit eine Novelle als etwas Abgeschlossenes erkannt wird? Bei der Analyse ist leicht zu sehen, dass es außer der Stufenkonstruktion noch eine Konstruktion in der Art eines Ringes oder, besser gesagt, einer Schleife gibt. Die Beschreibung einer gegenseitigen glücklichen Liebe ergibt noch keine Novelle oder, wenn sie dennoch eine ergibt, dann nur, wenn sie auf dem traditionellen Hintergrund der Liebe mit Hindernissen wahrgenommen wird. Für die Novelle ist eine Liebe mit Hindernissen erforderlich. Zum Beispiel: A liebt B, B liebt aber A nicht; wenn B dann A liebgewonnen hat, hat A bereits aufgehört, B zu lieben. Nach diesem Schema sind die Beziehungen zwischen Evgenij Onegin und Tat’jana aufgebaut, wobei die Ungleichzeitigkeit ihrer Zuneigung mit einer komplizierten psychologischen Motivierung begründet wird. […] Für die Entstehung einer Novelle ist also nicht nur eine Handlung erforderlich, sondern auch eine Gegenhandlung, irgendeine Nichtübereinstimmung. Das verbindet das „Motiv“ mit der Trope und dem Kalauer. Wie ich schon im Kapitel über die erotische VerfremdungXXI ausgeführt habe, sind die Sujets erotischer Märchen entfaltete Metaphern. So werden zum Beispiel bei Boccaccio das männliche und weibliche Geschlechtsorgan mit Stößel und Mörser verglichen. Dieser Vergleich wird durch eine ganze Geschichte motiviert, und so entsteht ein „Motiv“. Dasselbe beobachten wir in der Novelle vom Teufel und der Hölle, aber hier ist das Moment [70] der Entfaltung noch deutlicher, da es am Schluß einen
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direkten Hinweis auf eine entsprechende volkstümliche Redensart gibt. Offensichtlich ist die Novelle die Entfaltung dieser Redensart. Sehr viele Novellen beruhen auf der Entfaltung eines Kalauers. […] Ein Motiv ist keineswegs immer die Entfaltung sprachlichen Materials. Zu einem Motiv können zum Beispiel auch Widersprüche in den Sitten werden. […] Auf einem Widerspruch ist auch das Motiv der scheinbaren Unmöglichkeit aufgebaut. Bei einer „Weissagung“ haben wir den Widerspruch in den Absichten der handelnden Personen, die ihr auszuweichen suchen und ihr dadurch gerade zu ihrer Erfüllung verhelfen (Motiv des Ödipus). Beim Motiv der scheinbaren Unmöglichkeit erfüllt sich eine Weissagung, deren Erfüllung für unmöglich gehalten wurde, aber sie erfüllt sich wie im Kalauer. Beispiel: die Hexe sagt Macbeth voraus, dass er erst dann besiegt werde, wenn ein Wald gegen ihn vorrücke, und dass ihn niemand töten könne, der „aus einem Weib geboren“ sei. Beim Angriff auf das Schloss des Macbeth nehmen die Soldaten, um sich zu tarnen, Zweige in die Hände, und der Mörder Macbeths wurde nicht geboren, sondern aus dem Mutterleib herausgeschnitten.XXII […] [71] Auf der Empfindung des Kontrasts beruhen die Motive „Kampf des Vaters mit dem Sohn“, „Der Bruder als Mann seiner Schwester“ (in dem von Pu"kin bearbeiteten Volkslied ist dieses Motiv komplexer gestaltet) und „Der Mann auf der Hochzeit seiner Frau“. […] Wenn wir keine Lösung des Knotens [razvjazka] haben, dann stellt sich auch nicht das Empfinden eines Sujets ein. […] [72] Das Empfinden der Abgeschlossenheit gibt eine kleine Szene, die [in Lesages Le Diable boiteux] eine von Asmodé erzählte Novelle unterbricht: Die Geschichte, die Ihr mir erzählt, ist zwar sehr interessant, aber das, was ich sehe, hindert mich daran, Euch so aufmerksam zuzuhören, wie ich es möchte. Ich sehe in einem Haus eine hübsche Frau, die zwischen einem jungen und einem alten Mann sitzt. Sie trinken offensichtlich sehr gute Liköre, und während der Alte die junge Frau küsst, lässt sich diese Spitzbübin hinter seinem Rücken die Hand von dem jungen Mann küssen, der wahrscheinlich ihr Liebhaber ist. „Ganz im Gegenteil“, erwiderte der Hinkende, „der Junge ist ihr Ehemann und der Alte ihr Liebhaber. Dieser Alter ist ein wichtiger Herr, ein Kommodore des Kriegsordens von Calatrava. Er ruiniert sich für diese Dame, deren Ehemann eine kleine Stellung bei Hofe hat. Sie schenkt ihre Zärtlichkeiten dem alten Verehrer aus Berechnung und betrügt ihn aus Liebe zu ihrem Ehemann.
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Die Abgeschlossenheit rührt daher, dass hier zunächst ein scheinbares Erkennen stattfindet und danach die Aufdeckung der wahren Lage, das heißt, die Formel ist realisiert. […] Dafür werden ziemlich umfangreiche Novellen, in denen wir das Gefühl haben, dass sie nicht zu Ende erzählt sind, als nicht abgeschlossen empfunden. […] [73] Manchmal wird diesen „Bildern“ etwas zugefügt, was ich „Pseudoschluss“ [lo!nyj konec] nenne. Der „Pseudoschluss“ besteht gewöhnlich aus einer Beschreibung der Natur oder des Wetters in der Art der ausleitenden Worte „Der Frost wurde immer grimmiger“, die durch das Satyricon berühmt wurden.XXIII […] Einen sehr typischen Pseudoschluss hat Gogol’s Geschichte, wie sich Ivan Ivanovi! und Ivan Nikiforovi! verstritten [Povest’ o tom, kak possorilis’ Ivan Ivanovi" i Ivan Nikiforovi"], die mit der Beschreibung des Herbstes und dem Ausruf endet: „Ja, meine Herrschaften, traurig ist es, auf dieser Welt zu leben“. Einen ganz besonderen Typus bildet die Novelle mit einem „negativen Schluss“XXIV. […] Solche negativen Formen finden wir ziemlich oft in Novellen, vor allem in den Novellen Maupassants. Zum Beispiel: Eine Mutter besucht ihren unehelichen Sohn, den sie in ein Dorf zur Erziehung gegeben hat. Aus ihm ist ein grober Bauer geworden. In ihrem Kummer läuft die Mutter davon und fällt in den Fluss. Der Sohn, der von ihr nichts weiß, sucht mit einer Stange den Boden des Flusses ab und zieht die Mutter heraus. Damit endet die Novelle. Diese Novelle wird vor dem Hintergrund gewöhnlicher Novellen mit einer „Endung“ wahrgenommen. […] Normalerweise ist die Novelle eine Kombination aus Ring- und Stufenkonstruktion, eine Konstruktion, die durch das Verfahren der Entfaltung kompliziert wird.XXV [79] Ein besonderes Verfahren beim Aufbau einer Novelle ist das Verfahren der Parallele. […] [80] Ein anderes Mittel besteht darin, eine Stufenform zu schaffen. Das Ding verdoppelt und verdreifacht sich durch seine Spiegelungen und Gegenüberstellungen.
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[…] Manchmal wird das Ding aufgespalten oder zerlegt. […] Lev Tolstoj hat in seinen Werken, die der Form nach wie Musik gebaut sind, sowohl Konstruktionen vom Typus der Verfremdung (der Benennung einer Sache mit einem ungewöhnlichen Namen) realisiert als auch Beispiele für die Stufenkonstruktion gegeben.XXVI […] [81] Ich will nicht versuchen eine auch nur konspektive Skizze der Entwicklung dieses Verfahrens in der eigentümlichen Poetik Tolstojs, wie sie sich allmählich herausgebildet hat, zu geben und beschränke mich auf einige Beispiele. Der junge Tolstoj baute den Parallelismus ziemlich naiv. Um das Thema des Sterbens herauszuarbeiten, es zu zeigen, hielt Tolstoj es für nötig, drei Themen zu behandeln: den Tod einer Gutsherrin, eines Bauern und eines Baumes. Ich spreche von der Erzählung Drei Tode [Tri smerti]. Die Teile dieser Erzählung sind durch eine bestimmte Motivierung miteinander verbunden: Der Bauer ist der Kutscher der Gutsherrin, und der Baum wird gefällt, um für das Grab des Bauern ein Kreuz zu machen. […] Wenn man die Verfahren von Tolstojs Kunst mit jenen Maupassants vergleicht, stellt man fest, dass der französische Meister beim Parallelismus den zweiten Teil der Parallele gleichsam mit Stillschweigen übergeht. Wenn Maupassant seine Novelle schreibt, lässt er das zweite Glied der Parallele gewöhnlich weg, wobei er seine Existenz aber unterstellt. Ein solches zweites, impliziertes Glied ist entweder der traditionelle Aufbau der Novelle, gegen den er verstößt (so schreibt [82] er zum Beispiel Novellen ohne Schluss), oder die gewöhnliche, sagen wir: konventionelle, Einstellung des französischen Bürgers zum Leben. So zum Beispiel beschreibt Maupassant in vielen Novellen den Tod eines Bauern, beschreibt ihn einfach, aber erstaunlich „verfremdet“, wobei als Vergleichsmaßstab natürlich die literarische Beschreibung des Todes eines Städters dient, die aber in der Novelle selbst nicht erwähnt wird. Manchmal aber wird sie eingeführt, und zwar als emotionale Wertung des Erzählers. Unter diesem Gesichtspunkt ist Tolstoj primitiver als Maupassant, er braucht die ausgeführte Parallele, wie zum Beispiel in den Früchten der Aufklärung [Plody prosve"#enija], wo er Küche und Salon gegenüberstellt. Ich glaube, man kann das damit erklären, dass die französische literarische Tradition im Vergleich mit der russischen klarer ausgeprägt ist; der französische Leser spürt die Verletzung des Kanons stärker, oder er findet die Parallele leichter als der russische Leser mit seiner unklaren Vorstellung vom Normalen.
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[…] [83] Auf interessante Weise nutzte Tolstoj die „Verwandtschaft“ nicht mehr als Motivierung einer Verbindung, sondern zum Stufenaufbau.XXVII Wir sehen die beiden Brüder Rostov und ihre Schwester Nata!a, sie stellen gleichsam die Entfaltung eines einzigen Typus dar. Manchmal vergleicht Tolstoj sie miteinander, wie zum Beispiel im Abschnitt vor dem Tode Petja Rostovs. Nikolaj Rostov ist eine Vereinfachung Nata!as, ihre „Vergröberung“. Stiva Oblonskij enthüllt eine Seite in der Konstruktion der Seele Anna Kareninas, die Verbindung wird durch die Wörter „ein kleines bisschen“ [nemno"e#ko] hergestellt, die Anna mit der Stimme Stivas spricht. Stiva ist eine Stufe zu seiner Schwester. Hier wird die Verbindung der Charaktere nicht mit der Verwandtschaft erklärt; Tolstoj scheute sich nicht, auf den Seiten des Romans Helden zu Verwandten zu machen, die er unabhängig voneinander konzipiert hatte. Er brauchte die Verwandtschaft zur Konstruktion von Stufen. Dass in der literarischen Tradition die Darstellung von Verwandten überhaupt nicht mit der Notwendigkeit verbunden war, Varianten ein und desselben Charakters vorzuführen, zeigt das traditionelle Verfahren, einen von zwei Brüdern, die in derselben Familie aufgewachsen sind, als edlen, den andern als verbrecherischen Menschen zu beschreiben. Übrigens wird dieses Verfahren manchmal motiviert, indem einer der beiden Brüder ein uneheliches Kind ist (Fielding). Hier ist alles (wie immer in der Kunst) Motivierung des Handwerks.XXVIII […] [89] Wir können eine Erscheinung beobachten, die in der Kunst ganz üblich ist: Ein Verfahren ändert sich nicht, obwohl die Motivierung seiner Existenz weggefallen ist. […] So wird in Tolstojs Leinwandmesser [Cholstomer] die eigenartige Beschreibung aus der Perspektive eines Pferdes auch nach dessen Tod fortgesetzt, nun aber vom Autor selbst, und in Andrej Belyjs Kotik Letaev operieren die Wortspiele, die durch die Weltwahrnehmung eines kleinen Jungen motiviert werden, in ihrer Entwicklung mit einem Material, das dem kleinen Kind offensichtlich unbekannt ist. —————————
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III. Auszüge aus: Der Geheimnisroman [143] Jeder, der einmal über Rätsel gearbeitet hat, ist wahrscheinlich darauf aufmerksam geworden, dass ein Rätsel gewöhnlich nicht nur eine, sondern mehrere Lösungen hat. Das Rätsel ist nicht einfach ein Parallelismus, bei dem der zweite Teil der Parallele ausgelassen ist, sondern ein Spiel mit der Möglichkeit, mehrere Parallelen zu ziehen. Besonders macht sich das bei erotischen Rätseln bemerkbar. In ihnen findet ein Spiel statt, bei dem das unanständige Bild durch ein anständiges verdrängt wird. Wobei das erste Bild nicht zerstört, sondern nur unterdrückt wird. […] [144] Ein besonderer Typ des Rätsels ist derjenige, der nur eine einzige Lösung hat […] In diesen Rätseln ist die Lösung gewöhnlich ein einzelner Gegenstand, der ausschließlich dem bekannt ist, der das Rätsel aufgegeben hat. In den Märchen wird ein solches Rätsel gewöhnlich als drittes, schwerstes aufgegeben, oder es dient als Antworträtsel. Die auf einem Irrtum beruhende Novelle [145] Wie ich schon geschrieben habe, ist die einfachste Form der Sujetkonstruktion die stufenförmige Entfaltung. Bei der stufenförmigen Entfaltung unterscheidet sich jede Stufe von der vorhergehenden qualitativ und quantitativ. Normalerweise entfaltet die Stufenkonstruktion eine Ringkonstruktion. Nehmen wir zum Beispiel Le tour du monde en 80 jours von Jules Verne. In dem Roman werden die Stufen von den einzelnen Abenteuern gebildet. Die Ringnovelle besteht dagegen aus der Geschichte mit dem Irrtum um einen Tag, der sich aus der Richtung der Reise ergibt. In Abenteuerromanen baut die Ringnovelle sehr oft auf dem Wiedererkennen auf. […] [146] Der Einfachheit halber betrachten wir zunächst den Irrtum in der Novelle, dann im Roman. Sehr viele Novellen sind auf einem Irrtum aufgebaut. Nehmen wir ein Beispiel von A. "echov. Voraussetzung: Geistliche und Sozialisten haben gleichermaßen lange Haare. Man muß sie unbedingt verwechseln. Motivierung: die Badestube.XXIX
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Bei Maupassant wird echter Schmuck mit unechtem verwechselt. Möglich sind zwei Fälle: 1. Der unechte Schmuck wird für echten genommen. Das ist der Fall in La parure. Eine junge Dame leiht sich bei ihrer Freundin eine Halskette und verliert sie. Sie kauft eine ähnliche auf Pump und gibt sie der Freundin. Sie vergeudet ihre ganze Jugend auf die Rückzahlung der Schulden. Es erweist sich dann aber, dass der geliehene Schmuck unecht war. 2. Echter Schmuck wird für falschen genommen. Das ist der Fall in Les bijoux. Mann und Frau leben glücklich zusammen. Sie hat einen Fehler, eine Schwäche für unechten Schmuck. Die Frau stirbt. Der Mann leidet Not und möchte für ein paar Pfennige den „unechten“ Schmuck verkaufen. Der Schmuck erweist sich als echt. Mit ihm sind ihre Seitensprünge bezahlt worden. In der Folklore: der Sohn hält Mutter und Vater, die sich in sein Bett gelegt haben, für seine Frau und ihren Liebhaber. Er tötet sie. […] Bei !echov gerät ein Ehemann in ein falsches Zimmer und hält die schlafenden Bewohner für seine Frau und ihren Liebhaber. […] In der Liebe sucht der eine etwas zu erreichen, und der andere setzt sich zur Wehr. Im Kampf herrscht dasselbe Verhältnis. Von daher das übliche Bild der Liebe als Kampf. […] Eine umgekehrte Metapher ist in der Volkspoesie gebräuchlich: Kampf als Liebe, als Hochzeit (siehe das Igorlied). In der Liebe tobt man, beim Töten tobt man. So hat man die Möglichkeit, [147] eine Parallele zu ziehen. Bei Maupassant besteht diese Parallele als Irrtum. Das ist die Novelle Le crime au Père Boniface. Ein Alter hält das Toben der Jungverheirateten für Mord. […] So sind die auf Irrtümern aufgebauten Novellen den Novellen mit einem Kalauer ähnlich. Im Kalauer wird zuerst die gewöhnliche Bedeutung eines Wortes präsentiert, dann die neue Bedeutung des Wortes und die Begründung für die Verwechslung. Die Motivierung ist die Gemeinsamkeit des Wortzeichens für zwei unterschiedliche Begriffe. In der Novelle der Irrtümer ist die Verwechslung zweier Begriffe mit der äußeren Ähnlichkeit der Situationen motiviert, wobei man die Worte auf zwei verschiedene Weisen verstehen kann.
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Die Novelle der Irrtümer (die eine Geheimnisnovelle ist) unterscheidet sich anderseits auch von der Novelle mit einem Parallelismus. Die letztgenannte Spielart der Novelle ist typisch, wie ich schon sagte, für Maupassant. Die Novelle mit einem Parallelismus In der Novelle, die auf einem Parallelismus gründet, haben wir den Vergleich zweier Gegenstände. Zum Beispiel wird das Schicksal einer Frau mit dem Schicksal eines Hundes […] verglichen. Der Vergleich wird gewöhnlich in zwei Stücken präsentiert, in zwei gleichsam selbständigen Novellen, die oft nur durch den Erzähler oder den Ort der Handlung verbunden sind. Ich führe keine Beispiele an, da als Beispiele fast alle Novellen Maupassants dienen können. In der Novelle und im Roman der Geheimnisse haben wir dagegen keine Vergleiche, sondern die Verdrängung eines Gegenstands durch einen andern. [148] Bei der Entfaltung einer Novelle zu einem Roman verliert das Moment der Enträtselung immer mehr an Sinn. Der Parallelismus dominiert über die Überschneidung. Die Möglichkeit, die Lösung hinauszuschieben (sofern das Geheimnis erwähnt wird) bewirkt, dass Geheimnisnovellen oft für diesen Zweck gewählt werden, während auf Kalauern aufgebaute Novellen sehr selten als Rahmennovellen figurieren. Die Geschichte des Geheimnisromans besteht darin, dass die Lösung ihre Bedeutung verliert, plump, kaum bemerkbar, überflüssig wird. Mit der Technik des Geheimnisromans kämpft der Roman des reinen Parallelismus, der nicht auf das Verfahren der Verwechslung zurückgreift. Die Technik der Geheimnisse benutzte Dostoevskij, Lev Tolstoj zog ihr den reinen Parallelismus vor. Sogar als Rahmennovelle nahm er einen Parallelismus und spielte mit dem paradoxalen Größenverhältnis zwischen den Teilen der Parallele. Zum Beispiel in Chadschi Murat.1 1
Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung eines Feldes. Der Erzähler pflückt Blumen und erblickt ein prächtiges Klettengewächs, das vom Volk „Tatar“ genannt wird. Die Klette lässt sich jedoch nur mit großer Mühe pflücken, und nachdem der Erzähler die mit Gewalt abgerissenen Teile in der Hand hält, wirft er sie wegen ihrer Unahnsehn-
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Die Korrelation zwischen den Teilen des Parallelismus ist hier äußerst ungewöhnlich. Der Parallelismus wird jedoch dank der Wirksamkeit der Beschreibung der Klettenpflanze, dank des Kalauers (Klette – Tatare) empfunden; das Ende des Parallelismus, das Zusammenführen der Teile, ist betont einfach, enthält aber die Hauptmomente der Parallele: eine Klettenpflanze auf dem gepflügten Feld, ein letzter unbefriedeter Tscherkesse unter den friedlichen Kaukasusbewohnern. Das Moment der Hartnäckigkeit im Durst nach Leben ist nicht eigens wiederholt, wird aber empfunden. Der Geheimnisroman Bei Anne Radcliffe, einer der Begründerinnen des Geheimnisromans, sind die Geheimnisse auf folgende Weise montiert: Die Heldin gelangt in ein Schloss, erblickt in ihm hinter einem Vorhang einen halb zerfallenen Leichnam, im Schloss wandern Gespenster umher, jemand macht Repliken zu den Gesprächen betrunkener Räuber usw. Am Ende werden die Lösungen gegeben: Der Leichnam ist aus Wachs […], die geheimnisvolle Stimme gehört einem Gefangenen, der durch das Schloss wandert und geheime Gänge benutzt usw. Wie Sie sehen, sind die Erklärungen unbefriedigend, wie ein Zeitgenosse sagte. [150] Im zweiten Teil beginnt die Geschichte von neuem. Ein neues Schloss; neue geheimnisvolle Stimmen; schließlich erweist sich, dass sie Schmugglern gehören. Um das Schloss ertönt Musik, es kommt heraus, dass eine Nonne sie gespielt hat, usw. […] Interessant ist, dass die Geheimnisse ursprünglich falsche Lösungen (wie bei Dickens) erhalten; wir vermuten etwas Schrecklicheres, als wir vorfinden. […] Die falsche Lösung ist ein sehr übliches Element der Erzählung oder des Romans der Geheimnisse. Falsche Lösung – richtige Lösung, das organisiert die Geheimnisse. Das Moment des Übergangs von einer Lösung des Rätsels zu einer andern ist das Moment der Lösung des Knotens des Sujets. Die Wechselwirkung der Teile ist dieselbe wie in den Sujets, die aus Kalauern entfaltet sind. […]
lichkeit fort. Die schöne, aber widerborstige und tapfere Pflanze erinnert den Erzähler an die kaukasische Geschichte von Chad!i Murat, die er dann erzählt [Anm. d. Übers.].
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Die Verbindung zwischen den Parallelen als Geheimnis [169] Das Interesse am Sujet nimmt zu.XXX Die Zeit des Verfahrens von Lev Tolstoj, dessen Tod des Ivan Il’i! [Smert’ Ivana Il’i"a] mit dem Tod beginnt und jedes Was-geschieht-dann ausschließt, ist offensichtlich vorbei. Übrigens liebte L. Tolstoj selbst A. Dumas sehr und verstand viel vom Sujet, aber seine Intention war auf anderes gerichtet. Im Geheimnisroman sind sowohl das Rätsel als auch seine Auflösung wichtig. Das Rätsel gibt die Möglichkeit, die Darlegung zu pedalisieren, zu verfremden, die Aufmerksamkeit des Lesers anzuspannen und – als Wichtigstes – ihm nicht die Möglichkeit zu geben, den Gegenstand zu erkennen. Der erkannte Gegenstand ist nicht mehr schrecklich. Deshalb erfahren wir in Maturins Melmoth the Wanderer die ganze Zeit nicht das „Geheimnis“ des Vorschlags, den Melmoth verschiedenen Leuten macht, die sich in einer schrecklichen Lage befinden […]. Jedes Mal, wenn die Handlung zum Vorschlag kommt, bricht die Handschrift ab […]. —————————
IV. Auszüge aus: Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“ [177] In diesem Artikel will ich nicht den Roman von Laurence Sterne analysieren, sondern benutze ihn nur, um allgemeine Gesetze des Sujets zu illustrieren. Sterne war ein extremer Revolutionär der Form. Typisch für ihn ist die Bloßlegung des Verfahrens [obna#enie priema]. Eine künstlerische Form wird ohne jede Motivierung, einfach als solche dargeboten. Der Unterschied zwischen dem Roman Sternes und einem Roman des gewöhnlichen Typus ist genau derselbe wie der zwischen einem normalen Gedicht mit Lautinstrumentierung und dem Gedicht eines Futuristen, das in transmentaler Sprache geschrieben ist. Über Sterne ist noch nichts geschrieben worden oder, wenn doch, dann nur einige Banalitäten. Wenn man Sternes Tristram Shandy nimmt und anfängt zu lesen, so ist der erste Eindruck Chaos. Die Handlung bricht ständig ab, der Autor blendet ständig zurück oder macht einen Sprung voraus, und in die Grundnovelle, die man zudem
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nicht sofort findet, werden ständig Dutzende von Seiten eingeschoben mit grotesken Erörterungen über den Einfluss der Nase oder des Namens auf den Charakter oder Gespräche über Festungsbau. […] [179] Von Anfang an beobachten wir im Tristram Shandy eine zeitliche Verschiebung. Die Ursachen werden nach den Folgen präsentiert, der Autor selbst legt die Möglichkeit falscher Lösungen an. Dieses Verfahren ist bei Sterne durchgängig. […] [180] Bloßgelegt ist bei Sterne auch das Verfahren des Zusammennähens des Romans aus einzelnen Novellen. Überhaupt ist bei ihm der Aufbau des Romans selbst hervorgehoben, bei ihm besteht der Inhalt des Romans darin, dass man sich der Form mit Hilfe ihrer Auflösung bewusst wird. […] [186] Es ist interessant, die Rolle der Zeit in Sternes Roman zu verfolgen. Die „literarische Zeit“ ist reine KonventionXXXI, ihre Gesetze sind nicht mit den Gesetzen der prosaischen Zeit identisch.XXXII […] Bei Sterne wird die Konventionalität der „literarischen Zeit“ bewusst gemacht und als Material für das Spiel verwendet. […] [188] Sterne hat vor dem Hintergrund des Abenteuerromans gearbeitet mit dessen außerordentlich festen Formen und der formalen Regel, mit einer Hochzeit oder Heirat zu schließen. Die Formen des Sterneschen Romans sind die Verschiebung und die Verletzung der üblichen Formen. Ebenso verfuhr er auch im Schluss der Romane. Wir stürzen in ihnen gleichsam ab; wo wir auf der Treppe einen Absatz erwarten, ist in Wirklichkeit ein Abgrund. […] [192] Es ist interessant, an dieser Stelle ein wenig über Sentimentalität zu sprechen. Sentimentalität kann nicht Inhalt der Kunst sein, und sei es nur deshalb, weil es in der Kunst keinen einzelnen Inhalt gibt. Die Darstellung von Dingen „aus sentimentaler Perspektive“ ist eine besondere Methode der Darstellung, wie z. B. die Darstellung aus der Perspektive eines Pferdes (Tolstojs Leinwandmesser) oder eines Riesen (Swift). Ihrem Wesen nach liegt die Kunst jenseits der Emotion. Denken Sie daran, wie man in Märchen Menschen in ein Fass setzt, das mit Nägeln ausgeschlagen ist und dann ins Meer gerollt wird. Im Däumling schneidet
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der Menschenfresser seinen Töchtern die Köpfe ab, und die Kinder lassen nicht zu, dass man beim Erzählen dieses Detail auslässt. Das ist nicht grausam, sondern die Art des Märchens. […] Blut [krov’] ist in der Kunst nicht blutig, sondern reimt sich auf Liebe [ljubov’], es ist entweder Material für eine Lautkonstruktion oder Material für eine Bildkonstruktion. Deshalb ist die Kunst mitleidslos oder befindet sich jenseits des Mitleids, abgesehen von jenen Fällen, in denen das Gefühl des Mitleids als Material für die Konstruktion genommen wird. Aber auch in diesen Fällen muss man es, wenn man darüber redet, vom Standpunkt der Komposition betrachten, genauso wie man, wenn man eine Maschine verstehen will, den Treibriemen als Detail der Maschine sehen muss und ihn nicht vom Standpunkt eines Vegetariers betrachten darf. […] [198] Hier wird wieder neues Material eingeführt, in diesem Fall für die Realisierung einer Metapher, was bei Sterne generell sehr häufig vorkommt: Er realisiert die lexikalische (sprachliche) Metapher Steckenpferd (im Sinne einer Liebhaberei), spricht über sie wie über ein reales Pferd und präsentiert eine andere Metapher Esel (Körper). Die Entstehung dieser Metapher muss man vielleicht in einem Ausdruck des heiligen Franziskus von Assisi sehen, der über seinen Körper „mein Bruder Esel“ sagte. […] [204] Den Begriff Sujet verwechselt man allzu häufig mit der Beschreibung der Geschehnisse, also mit dem, wofür ich den Begriff Fabel vorschlage. In Wirklichkeit ist die Fabel nur Material für die Formung durch das Sujet.XXXIII Somit ist das Sujet von Eugen Onegin nicht die Liebesgeschichte des Helden mit Tat’jana, sondern die sujetmäßige Verarbeitung dieser Fabel, ausgeführt durch die Einschaltung von unterbrechenden Abschweifungen.XXXIV Ein scharfsinniger Maler (Vladimir Mila"evskij) schlägt vor, in diesem Roman hauptsächlich die Abschweifungen (z. B. die „Füßchen“) zu illustrieren. Vom Gesichtspunkt der Komposition wäre das richtig. Die Formen der Kunst erklären sich durch ihre künstlerische Gesetzmäßigkeit und nicht durch ihre lebensweltliche Motivierung. Wenn der Künstler die Handlung eines Romans nicht durch Einführung von Figuren bremst, z. B. von solchen, die Partner trennen, sondern durch eine einfache Umstellung der Teile, so zeigt er uns damit die ästhetischen Gesetze, die hinter beiden Kompositionsverfahren liegen.
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Gewöhnlich wird behauptet, Tristram Shandy sei kein Roman; für diejenigen, die das behaupten, ist nur die Oper Musik, die Symphonie ist für sie bloßes Durcheinander. Tristram Shandy ist der typischste Roman der Weltliteratur. —————————
Bibliographische Notizen I. Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren Originaltitel: Svjaz’ priemov sju!etoslo!enija s ob"#imi priemami stilja. Der Text ist in den Jahren 1918 und 1919 entstanden (vgl. !udakov 1990, 17 f.) und wurde erstmals gedruckt in: Po$tika. Sborniki po teorii po$ti#eskogo jazyka, Bd. III, Petrograd 1919, S. 115–150. Übersetzt nach: V. "., O teorii prozy, 2. Aufl., Moskva 1929, S. 24–67. Eine deutsche Übersetzung ist erschienen u. d. T. Die Beziehungen zwischen den Kunstgriffen des Handlungsaufbaus und den allgemeinen stilistischen Kunstgriffen in: V. "klovskij, Theorie der Prosa, hg. und übers. von Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1966, S. 27–61. Eine deutsch-russische Ausgabe des vollständigen Textes liegt vor in: J. Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969, S. 36–121. Der deutsche Titel des Essays lautet hier: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. Der Übersetzer ist Rolf Fieguth. II. Der Bau der Erzählung und des Romans Originaltitel: Stroenie rasskaza i romana. Der Text ist zum ersten Mal in "klovskijs Aufsatzsammlung Die Entfaltung des Sujets (1921a, 3–22) abgedruckt. Übersetzt nach: V. "., O teorii prozy, 2. Aufl., Moskva 1929, S. 68–90. Eine um einige Beispiele gekürzte deutsche Übersetzung ist u. d. T. Der Aufbau der Erzählung und des Romans erschienen in: V. "klovskij, Theorie der Prosa, hg. und übers. von Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1966, S. 62–88. III. Der Geheimnisroman Originaltitel: Roman tajn. Der Text ist zum ersten Mal in "klovskijs Aufsatzsammlung Theorie der Prosa (1925a), abgedruckt. Übersetzt nach der 2. Aufl., 1929, S. 143–176.
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IV. Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“ Originaltitel: Parodijnyj roman. „Tristram Shendi“ Sterna. Der Text ist unter dem Titel „Tristram Shendi“ Sterna i teorija romana („Sternes Tristram Shandy und die Theorie des Romans“) zum ersten Mal als selbständige Broschüre in Petrograd 1921 erschienen und unter dem geänderten Titel in der ersten Auflage der Theorie der Prosa (1925a) wiederabgedruckt worden. Übersetzt nach der 2. Aufl., 1929, S. 177–204. Eine deutsche Übersetzung ist u. d. T. Die Parodie auf den Roman: Tristram Shandy erschienen in: V. !klovskij, Theorie der Prosa, hg. und übers. von Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1966, S. 131–162. Eine russisch-deutsche Ausgabe des vollständigen Texts liegt vor in: J. Striedter (Hg.), Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969, S. 244–299. Der deutsche Titel des Essays lautet hier: Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“. Der Übersetzer ist Rolf Fieguth.
————————— Kommentar Die vorliegende Sammlung enthält Auszüge aus Texten von Viktor !klovskijs Aufsatzband Theorie der Prosa (1925a). Aus den umfangreichen, zahlreiche Beispiele enthaltenden Essays sind die für die Theorie des Sujets relevanten Partien ausgewählt worden. Beispiele wurden nur insoweit berücksichtigt, wie sie für das Verständnis der sujettheoretischen Bemerkungen unabdingbar sind. I. Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren !klovskijs Essay ist ein Schlüsselwerk der formalistischen Theorie des Sujets. Der Autor wendet hier den von ihm in Kunst als Verfahren (1917) formulierten Verfremdungsbegriff auf Erzähltexte an (grundlegend zum formalistischen Verfremdungsbegriff: Hansen-Löve 1978). In der Struktur des Erzählwerks manifestiert sich die Verfremdung in der Spannung zwischen Fabel und Sujet. Das Sujet wird aufgefaßt als ein System von Verfahren, die die Fabel, das vorgegebene Material, das an sich keinen künstlerischen Status hat, verfremdend bearbeiten. Mit seiner Dichotomie bringt !klovskij zwei Begriffe, die ursprünglich gleichermaßen den erzählten Stoff oder die erzählte Handlung bezeichnen, in eine Opposition (ausführlich zur formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie und ihrer narratologischen Nachgeschichte: Schmid 2008; dort auch weitere Literatur). !klovskijs Opposition ist vorgezeichnet in der Aristotelischen Unterscheidung von „Handlung“ und „Mythos“ (als „Zusammenfügung der Handlungen“, De arte poetica 1450a, 5, 15; vgl. Sternberg 1978, 307; García Landa 1998, 27). !klovskijs Aristotelismus macht sich in mehreren ausführlichen Berufungen auf die
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Poetik geltend. Um die Rolle der „künstlerischen Absicht“ zu illustrieren, zitiert der Formalist aus dem 17. Kapitel der Poetik, in dem ausgeführt wird, dem Dichter müsse das „erfundene Material“ zuerst im Allgemeinen vorschweben, dann könne er die Episoden bilden und das Ganze erweitern. Ein Auszug aus dem 14. Kapitel dient !klovskij als Beispiel für das Streben des Künstlers nach einer Motivierung für die Handlung, die er im Begriff ist darzustellen. In einem zweiten Ausschnitt aus diesem Kapitel zeigt !klovskij, wie man die überlieferten Mythen veränderte. Sein Interesse gilt hier der Verdoppelung der Rolle des Orest und der Verteilung seiner Funktion auf zwei Figuren (Talphybios und Orest). Er sieht hier „das übliche Verfahren“ des Sujetbaus am Werk, das er mit folgender Formel bezeichnet: A > A1A2. In den Berufungen auf Aristoteles geht es !klovskij letztlich um die Rolle des Künstlers als eines bewußt und zielgerichtet vorgehenden „Sujetkonstrukteurs“ (sju"etoslagatel’; !klovskij 1925a, 57). Dichten ist für den formalistischen Theoretiker ganz im Sinne der Poetik des Aristoteles „Machen“, „Zusammenstellen“ von vorgegebenen „Stücken“ der Wirklichkeit. Aristotelische Auffassungen prägen auch !klovskijs Auseinandersetzung mit der sogenannten „ethnographischen Schule“ und ihrem Repräsentanten Aleksandr Veselovskij* (s. den ersten Text in diesem Bd.). Die Polemik gegen die Auffassung dieser Schule, dass die Entstehung von Sujets mit Entlehnung zu erklären sei, durchzieht den Essay wie ein roter Faden. (!klovskij vereinfacht freilich Veselovskijs Konzeption – wie er es auch mit den Auffassungen anderer ‚Gegner‘ macht, die im Grunde Vorläufer gewesen sind. Veselovskij läßt die Entlehnungstheorie nur eingeschränkt gelten und vertritt eher eine polygenetische Theorie; vgl. Hauschild 2008.) Gegen die – angeblich – genetistische Auffassung stellt !klovskij sein autonomistisches Konzept, das mit immanenten künstlerischen Gesetzen und den Erfordernissen der Sujetkonstruktion argumentiert. Letztlich ist in dieser Argumentation der Wirkungsgedanke leitend. Die Sujetkonstruktion fordert das Material, das die Aufgabe des Kunstwerks, die Verfremdung, am besten zu erfüllen hilft. Verfremdung aber hat bei !klovskij zwei Aspekte und Wirkdispositionen: Zum einen ist sie auf die dargestellte Wirklichkeit gerichtet, die sie auf neue Weise wahrnehmen läßt, zum andern aber ist sie, autotelisch, auf das Kunstwerk selbst und die es konstituierenden Verfahren gerichtet, die selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung werden sollen (für eine knappe Zusammenfassung der Bedeutungen und Funktionsdispositionen von !klovskijs Verfremdungskonzept vgl. Schmid 1973a; 2005a). In dem vorliegenden Essay dominiert der zweite, der ästhetische Aspekt der Verfremdung. Die Sujetverfahren des Parallelismus, des Stufenbaus, der Verlangsamung, die !klovskij mit einer schier unüberschaubaren Fülle von Beispielen illustriert, zielen darauf ab, die Sujetkonstruktion als solche wahrnehmbar, „spürbar“ zu machen.
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II. Der Bau der Erzählung und des Romans In diesem Essay geht !klovskij der Frage nach, was der Novelle den Charakter der Abgeschlossenheit und Geschlossenheit verleiht. Das ist, wie er darlegt, keine Frage des Inhalts oder des Umfangs, sondern der Konstruktion. Das Empfinden der Abgeschlossenheit stellt sich erst bei einer bestimmten Konstruktion ein. Als wichtigste Bedingung für den Effekt der Abgeschlossenheit nennt !klovskij Strukturen, die man mit dem Begriff der Zweistelligkeit umschreiben kann. Diese Strukturen enthalten einen Widerspruch, etwa die Konstellation von Handlung und Gegenhandlung, einen Gegensatz zwischen zwei Bedeutungen eines sprachlichen Motivs, eine Opposition von Sitten und Weltsichten oder einen Wechsel der Perspektive. Zu der für die Novelle erforderlichen Zweistelligkeit gehören auch der Irrtum und seine Aufklärung, die Verkennung und das Erkennen. Das Gefühl der Abgeschlossenheit rührt nach !klovskij daher, dass der Leser im Verlauf des Sujets zu einem Umdenken, einem Anderssehen gelangt. Den Typus, der solche mentalen Umschwünge herbeiführt, nennt !klovskij Ring- oder Schleifenkonstruktion. Im Zusammenhang mit seiner Exposition der Ringkonstruktion führt !klovskij ein spezifisches, für die archaische Wortkunst charakteristisches Verfahren ein, das er „Entfaltung“ (razvertyvanie) nennt. Mit diesem Begriff bezeichnet er ein quasi-naives Wörtlichnehmen einer gewöhnlich im übertragenen Sinne gemeinten verbalen Formel, etwa einer Redewendung. In dem Verfahren werden die figural gemeinten Teile des Mikrotextes reifiziert, die Rede wird entkonventionalisiert, und das realisierte Wortmotiv zu einem Sujet ausgefaltet. !klovskij deutet hier an, dass die Sujets narrativer Kurzformen oft auf einer „Entfaltung“ von parömiologischen Mikrotexten wie Sprichwörtern, Redensarten, Phraseologismen beruhen (grundlegend zum Verfahren der „Entfaltung“ in der formalistischen Theorie: Hansen-Löve 1982, 1989; Aumüller 2008a. Zur Rolle des Verfahrens in der Prosa Aleksandr Pu"kins: Schmid 1991, 96–99). Auch Tropen können die Grundlage für eine Entfaltung bilden. So schreibt !klovskij in seiner Studie über Vasilij Rozanov Literatur ohne Sujet: „Der Titel von Dostoevskijs Erzählung Der ehrliche Dieb [#estnyj vor] ist zweifellos ein Oxymoron, aber auch der Inhalt dieser Erzählung ist ein Oxymoron, das zu einem Sujet ausgefaltet wurde“ (!klovskij 1925b, 236). Wie ist der Zusammenhang zwischen der Ringkonstruktion und der Entfaltung zu verstehen? !klovskij äußert sich dazu nur andeutungsweise, wenn er im Vorhandensein einer Nichtübereinstimmung eine Verwandtschaft der Ringkomposition mit der Trope und dem Kalauer erblickt. Wir können annehmen, dass er in den zu entfaltenden Tropen und wortspielerischen Mikrotexten tendenziell die für die Ringkomposition erforderliche Zweistelligkeit, innere Widersprüchlichkeit oder Ambivalenz der Aspekte angelegt sieht. Auch seine Beispiele für die Prophezeiung, die sich nicht in einem direkten, wörtlichen, sondern in einem übertragenen Sinne erfüllt, weisen in diese Richtung.
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In seinen späteren Schriften zu Anton !echovs Erzählungen betont "klovskij wiederholt die tropische Grundstuktur der Kurznarrative: „Man kann sagen, dass die Anekdote in einem gewissen Maß auf einer Metonymie gründet“ ("klovskij 1955, 349). Mit der Ringkomposition hat die Metonymie eine Verschiebung des Aspekts gemeinsam. Solche Verschiebungen sind charakteristisch für die frühen Humoresken !echovs. Ein Beispiel ist die Erzählung Ein Pferdename (Lo#adinaja familija), in der ein Name gesucht wird, der etwas mit Pferden zu tun hat. Nachdem alle möglichen Pferdenamen durchgegangen worden sind, kommt jemand auf den richtigen Namen. Er lautet „Heumann“ (Ovsov). Zwischen Pferd und Heu besteht eine metonymische Beziehung. Eine Novelle kann auch den Eindruck der Geschlossenheit hervorrufen, wenn das obligatorische zweite Element gar nicht ausgeführt ist. Ein „Pseudoschluss“, der etwa aus einer Naturschilderung, der Beschreibung einer Stimmung oder dem sentenzenhaften Diktum einer Figur besteht, kann das fehlende Sujetelement ersetzen. Eine andere Möglichkeit, die Geschlossenheit zu wahren, ist der „negative Schluss“ oder die „Null-Endung“, wenn sie, wie "klovskij für Maupassant beschreibt, vor dem Hintergrund gewöhnlicher Novellen mit einem ausgeführten Schluss wahrgenommen wird. Neben der Ringkomposition bespricht "klovskij einen zweiten Konstruktionstypus, den er Stufenkomposition nennt. Dieser Typus bildet in der Novelle, wie "klovskij andeutet, mit der Ringkomposition normalerweise eine Kombination. Was unter der Stufenkonstruktion zu verstehen ist, geht aus dem Essay nicht ganz eindeutig hervor. Den Ausführungen zum Parallelismus als einem konstitutiven Verfahren der Novellenkonstruktion kann man jedoch entnehmen, dass mit der Stufung die paradigmatische Struktur der Novelle, die Bildung von Parallelismen gemeint ist. Die Paradigmatisierung ergibt sich aus „Spiegelungen und Gegenüberstellungen“, d. h. – in der Sprache des Strukturalismus – aus Äquivalenzen (Similaritäten und Kontrasten) zwischen den thematischen Einheiten, den dargestellten Situationen, Personen und Handlungen. Die Paradigmatisierung, die sich in den Beispielen aus Tolstoj als „Aufspaltung und Zerlegung eines Dings“ zeigt, bringt "klovskij in einen Zusammenhang mit Tolstojs Verfahren der Verfremdung. In der ethischen Variante seiner Verfremdungskonzeption spricht "klovskij diesem Verfahren das Ziel zu, das im konventionellen Sehen verdeckte wahre Wesen der Dinge aufzudecken. Diesen Zusammenhang verfolgt "klovskij auch noch in späteren Schriften, in denen er unter dem Deckmantel der Selbstkritik und der Revision seiner frühen Theorie den Verfremdungsbegriff wieder in den sowjetischen Diskurs einbringt. So schreibt er in seinem Essay zu !echov, in dem er eine Analyse der Erzählung Der Dicke und der Dünne (Tolstyj i tonkij) gibt: „Durch das Nebeneinanderstellen des Gegensätzlichen gelangt der Künstler zum wahren Wesen des Gegenstands. […] Durch die geistreiche Gegenüberstellung wird das wahre Wesen der Beziehungen zwischen den Menschen aufgedeckt“ ("klovskij 1955, 349). Seine Ausführungen
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zu Metapher und Sujet in der Essaysammlung Die Gesetze der Verkettung eröffnet !klovskij mit der Feststellung: „Die Aufgabe des Kunstwerks ist die Wiedergabe des Lebens durch die Bildung von Verkettungen und das Aufzeigen von Gegensätzen, die das wahre Wesen des Gegenstands an den Tag bringen“ (!klovskij 1966, 86). III. Der Geheimnisroman Die Auszüge beschränken sich im wesentlichen auf die ersten drei Abschnitte der Studie. Nicht berücksichtigt ist die sehr ausführliche Analyse der Verfahren in Charles Dickens’ Roman Little Dorrit, die zahlreiche und umfangreiche Zitate enthält. In den ausgewählten Abschnitten knüpft !klovskij an die Ausführungen in der Studie Der Bau der Erzählung und des Romans (1921b) an. Die dort eingeführte Ringkonstruktion, die einen Widerspruch oder Gegensatz voraussetzt, wird hier am Beispiel des Rätsels, des Irrtums, des Parallelismus und jener Gattung vorgeführt, die im Englischen mystery fiction genannt wird. (Da die deutschen Begriffe Kriminalroman und Detektivroman, die gelegentlich für die Übersetzung von !klovskijs Titel herangezogen werden, für die Handlung ein Verbrechen voraussetzen, was in den von !klovskij behandelten Werken nicht immer der Fall ist, wird hier der Terminus Geheimnisroman gebraucht.) In dem Essay wird noch einmal die Grundstruktur der Ringkonstruktion verdeutlicht: Die Ringkonstruktion setzt immer eine Zweistelligkeit voraus, wie sie im Widerspruch, im Irrtum, im Rätsel und im Kalauer gegeben ist. Dabei werden die Dyaden Irrtum und Aufklärung, Rätsel und Lösung, erste und zweite Wortbedeutung im Kalauer strukturell vergleichbar. Um die Wahrnehmbarkeit, „Spürbarkeit“ der Sujetkonstruktion zu erhöhen, muß das zweite Element (die Aufklärung, die Lösung usw.) hinausgezögert werden. Deshalb eignet sich für den Rahmen der narrativen Konstruktion eher das Geheimnis als der Kalauer, der ja eine kurzfristige Folge der Elemente voraussetzt. Das Verfahren der Verzögerung hat !klovskij bereits im Essay Kunst als Verfahren (1917) als ein genuines Mittel der Kunst beschrieben (vgl. dazu unten Anm. IV). IV. Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“ Im Zentrum dieser Studie steht die Illustrierung der „Bloßlegung des Verfahrens“ und generell die Demonstration der Künstlichkeit der Kunst. Die Kunst folgt eigenen Gesetzen, die sich aus dem Sujetbau ergeben, und ihr eigentliches Ziel besteht darin, die Entfaltung ihrer Form sinnlich wahrnehmen zu lassen. Aber auch für die Sterne-Forschung ist der Essay von höchster Bedeutung. Vieles von dem, was !klovskij am Tristram Shandy vorgeführt hat, gehört heute zum festen Wissen um Sternes Poetik. Deshalb ist es gar nicht so leicht, die historische Lei-
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stung !klovskijs recht zu würdigen. Sterne war für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert vor allem der Autor der Sentimental Journey. Noch Lev Tolstoj rezipierte Sterne als Meister der minuziösen Detailbeschreibung und nahm den grotesken und skurrilen Posen, die Sterne vorführt, ihre Komik, indem er sie psychologisierte. Erst mit !klovkijs Essay ist Sterne als kühner Experimentator der Romanform in das Bewusstsein der russischen Öffentlichkeit getreten. Unter dem Einfluss von !klovskijs Essay entwickelte sich im Russland der zwanziger Jahre sogar eine wahre Mode des Shandyismus. In Westeuropa hat sich die Sicht auf Sterne als Experimentator des Romans sogar erst drei Jahrzehnte später etabliert (vgl. Striedter 1969, LX). !klovskij bietet in seinem Essay keine Analyse des Tristram Shandy, sondern, benutzt den Roman, wie er einleitend erklärt, um an ihm „allgemeine Gesetze des Sujets“ zu illustrieren, insbesondere diverse Fälle der „Entfaltung des Sujets“. Für Sterne, einen Revolutionär der Form, war in der Entfaltung des Sujets das Verfahren der „Bloßlegung des Verfahrens“ typisch. Solche Bloßlegung ist für die frühen Formalisten ein Modus der Verfremdung. Verfremdet wird in der Bloßlegung nicht thematisches Material, sondern das Verfahren der Präsentation des Materials selbst. Worin besteht diese Bloßlegung als Verfremdung des Verfahrens? !klovskij definiert: „Eine künstlerische Form wird ohne Motivierung, einfach als solche dargeboten“. Hinter dieser Definition verbirgt sich !klovskijs Auffassung, dass eine nicht-künstlerische Schreibweise Verfahren benutzt, die höchst künstlich und konventionell sind, ihre Künstlichkeit und Konventionalität aber durch eine „Motivierung“, eine Rechtfertigung verschleiert. !klovskij tendierte dazu, die übliche Hierarchie von Inhalt und Form umzukehren. Und so behauptete er mit der für ihn typischen provokativen Geste immer wieder, dass das Material die Sujetverfahren motiviere und nicht umgekehrt. Die thematischen Einheiten oder die Handlung seien also nicht Endzweck, sondern dienten nur dazu, bestimmte Verfahren zu rechtfertigen. Falle die Motivierung weg, stehe das Verfahren ohne rechtfertigende Kleidung nackt vor uns. Wenn die erzählte Geschichte nur Motivierung der Verfahren ist, dann kann sie nicht den eigentlichen Inhalt des Romans ausmachen. So kommt !klovskij konsequent zu dem epatistischen Schluss: „der Inhalt des Romans besteht darin, dass man sich der Form mit Hilfe ihrer Auflösung bewusst wird“. Diese radikale formalistische Sicht, die alles Thematische, Lebensweltliche zu bloßem Material für die Entfaltung des Sujets erklärt, eine Entfaltung, deren Wahrnehmung das letzte Ziel der Kunst darstellt, äußert sich auch in der Behandlung der Emotion. Emotionen zu wecken ist keineswegs das Ziel der Kunst. Emotionen und die sie auslösenden Handlungsmomente sind für !klovskij nichts anderes als Material für Laut- oder Bildkonstruktionen. Die Einklammerung der unmittelbaren Relevanz lebensweltlicher Momente und ihre Ummünzung zu Bauelementen, deren konstruktiver Zusammenhang den Gegenstand der Wahrneh-
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mung bildet, drückt !klovskij in dem schönen Aperçu aus: „Blut (krov’) ist in der Kunst nicht blutig, sondern reimt auf Liebe (ljubov’)“.
————————— Anmerkungen I
In diesem Satz gibt sich unverkennbar der futuristische Hintergrund des formalistischen Denkens kund. Die Zerlegung der Dinge und der Wörter war das Verfahren der avantgardistischen Kunst. In der Wortkunst wurde der Analytismus am extremsten vom jungen Vladimir Majakovskij gepflegt, der in seinen frühen Gedichten Wörter in zeilenfüllende Silben zerteilt. Die Rede vom „Wort als Klang“, vom „Wort als Artikulationsbewegung“ nimmt die Losungen der russischen Kubo-Futuristen auf (vgl. Aleksej Kru"enychs und Velemir Chlebnikovs Manifest Das Wort als solches von 1913). Es ging den Futuristen um die „Befreiung“ des Wortes von seiner semantischen Bindung, um die „Spürbarkeit“ seiner bloßen Materialität. II Dieser Satz drückt in bildlicher Form zwei zentrale Konzepte der Formalisten aus, zum einen die Auffassung, dass die Aufgabe der Kunst darin bestehe, das vom Automatismus der Wahrnehmung bedrohte Empfinden des Lebens wiederzugeben (vgl. !klovskijs Essay Kunst als Verfahren, 1917), zum andern das Konzept der Kunst als eines bewussten Machens, einer Konstruktion, die keinen fremden Zwecken dient, sondern autotelisch die Wahrnehmung ihrer selbst fordert. III „Weil wir pflügen“ heißt hier: ‚weil wir das Empfinden des Pflügens genießen‘. IV Das Bild vom autotelischen Pflügen, dessen äußeres Ergebnis nicht benötigt wird, nimmt die zentrale Definition der Verfremdung aus Kunst als Verfahren auf, wo es heißt: „Um das Empfinden des Lebens zurückzugeben, um die Dinge spüren zu lassen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Das Ziel der Kunst besteht darin, ein Empfinden der Sache zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen. Das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, da der Wahrnehmungsprozeß in der Kunst Selbstzweck ist und verlängert werden muss. Die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben, das Gemachte dagegen ist in der Kunst nicht wichtig“ (!klovskij 1917; dt. 1969, 15; die in dem Band enthaltene Übersetzung wird hier und im weiteren leicht revidiert). V Dieses Fazit resümiert die Polemik mit dem Postulat von Vertretern der so genannten ethnographischen Schule wie Aleksandr Veselovskij*, das – in !klovskijs Wiedergabe – besagte, dass ähnliche Märchen verschiedener Volksstämme nicht durch „psychologische Urzeugung (samozaro#denie) aufgrund von gleichen
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Vorstellungen und Lebensgrundlagen“ entstanden, sondern in historischer Zeit von einem anderen Volk entlehnt worden seien (Veselovskij 1913, II/1, 11). VI Joseph Jacobs (1854–1916), englischer Anthropologe, Ethnologe, Historiker und Folklorist, war im 19. Jahrhundert ein bekannter Erzählforscher. Er gab von 1890 bis 1893 die Zeitschrift Folklore heraus. Jacobs erklärte die Ähnlichkeit von Märchen migrationstheoretisch mit der Annahme einer Diffusion. Ähnlichkeiten „extending beyond three or four linkages of incident“ könnten nicht zufällig sein, sie seien das Ergebnis einer transmission (J. Jacobs, The Problem of Diffusion. Rejoinders, in: Folklore 5 [1894], 129–146, hier: 143). So ist wohl auch sein Argument der Unwahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung längerer Ketten von Motiven zu verstehen, das in der von !klovskij zitierten Arbeit mit einer Beispielrechnung illustriert wird. VII Der genetistischen Erklärung der Entstehung der Sujets setzt !klovskij die autonomistische Auffassung entgegen, dass die Übereinstimmungen nicht mit Entlehnung erklärt werden könnten, sondern sich den immanenten „Gesetzen der Sujetkonstruktion“ verdankten. Diese Gesetze hat er nirgendwo expliziter erklärt als in dem vorliegenden Essay, wo er sich allerdings auch nur mit Andeutungen begnügt. VIII Es folgt hier eine Anmerkung mit einem langen Zitat aus der Philosophie der Kunst (Hanau 1909, russ.: St. Petersburg 1911) des deutschen Ästhetikers Broder Christiansen*, in der der Begriff der „Differenzempfindung“ exponiert wird. Dieser Begriff, der wie auch die Konzepte der „Dominante“ und des „Wahrnehmungshintergrunds“ von den Formalisten aus Christiansens gestaltpsychologisch geprägter und dem formalistischen Denken im Grund fremder Kunstphilosophie recht unkritisch übernommen wurde (Hansen-Löve 1978, 191, 223 et passim), figurierte in der russischen Schule, insbesondere bei !klovskij und Tynjanov, als ein – uminterpretierter – Schlüsselbegriff ihrer Deviationsästhetik. IX Es folgt eine Fülle von Beispielen für verschiedene Typen des Parallelismus, insbesondere der Laut- und Wortwiederholung und der Synonymenreihung. !klovskij verallgemeinert den Fall, dass in einer Reihung von Wortpaaren ein fehlendes paariges Wort durch ein nach formaler Ähnlichkeit erfundenes Wort ersetzt wird, auf folgende Weise: „In dieser Erscheinung zeigt sich die übliche Regel: Die Form schafft sich den Inhalt“ (S. 35). Gegen Veselovskijs scharfe Unterscheidung zwischen tautologischem und psychologischem Parallelismus macht !klovskij die gemeinsame Funktion geltend: „[Beide Konstruktionstypen] zeigen den allgemeinen eigenartigen Gang der Dichtung. In beiden Fällen hat sich das Bedürfnis nach einer Bremsung der Bildmasse und einer Bildung von spezifischen Stufen aus ihr geltend gemacht“ (S. 36). An der Bildung von Parallelismen, die einem Strukturbedürfnis entspricht, verdeutlicht !klovskij ein weiteres Gesetz der Kunst: „Hier können wir eine in der Kunst übliche Erscheinung beobachten: eine bestimmte Form sucht sich eine Ausfüllung, ähnlich wie in lyrischen Gedichten Klangflecken durch Wörter ausgefüllt werden“ (S. 37). In !klovskijs
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radikal-formalistischer Konzeption werden Handlungsmomente in ein Werk nicht aufgrund ihres lebensweltlichen, ethischen, philosophischen Gehalts eingeführt, sondern weil die Sujetkonstruktion sie erfordert: „Bestimmte Fabelsituationen können nach Sujetprinzipien ausgewählt werden, d. h. in ihnen selbst kann eine bestimmte Sujetkonstruktion angelegt sein, ein Stufenaufbau, eine Inversion, eine Ringkonstruktion. So haben gewisse Steinsorten einen Schichtenaufbau und sind deshalb besonders geeignet für bestimmte Plattenmuster. Die Sujetkonstruktionen wählen zu ihnen passende Fabelsituationen aus und deformieren damit das Material. Deshalb kommen Schwierigkeiten auf der Reise, Abenteuer, unglückliche Ehen, verloren gegangene Kinder wesentlich häufiger in der Literatur vor als im Leben“ (!klovskij 1928, 220). In dem Essay Wie Don Quijote gemacht ist demonstriert !klovskij (1920), wie sogar die Figurenkonzeption von den Bedürfnissen des Sujets bestimmt wird. Don Quijote sei zunächst als „hirnlos“ konzipiert gewesen, „aber im Weiteren brauchte Cervantes ihn als verbindenden Faden für weise Reden. Cervantes hätschelte ihn auf der Grundlage seiner eigenen Gedanken“ (1920, 92). X Der Begriff „Prosa“ hat bei !klovskij verschiedene Bedeutungen. Hier bezeichnet er den Bereich der nicht-künstlerischen Texte. Das Antonym „Poesie“ bezeichnet alle verbalen künstlerischen Texte jeglicher Gattung, nicht allein solche in Versform. XI Ein Extremfall formalistischen Denkens, das unter dem Vorzeichen der Verfremdung im Sinne der Erschwerung der Wahrnehmung lebensweltliche Vorgänge auf den Effekt der verzögerten Identifikation reduziert. XII Wie schon oben im Bild des Pflügens, das man um seiner selbst willen betreibt, d. h. um den Vorgang des Pflügens zu empfinden, wird in dieser Formulierung die Vermittlung der Spürbarkeit des Prozesses als das eigentliche Ziel der Kunst postuliert. XIII Der Autor wird in dieser Äußerung zum Erfüllungsgehilfen der Sujetkonstruktion, deren Gesetze die Einführung und den Exitus der literarischen Figuren diktieren. XIV Der für die Formalisten wichtige Begriff der Motivierung bedeutet die „Rechtfertigung“ (opravdanie) der Einführung thematischen Materials mit Hilfe der Verfahren (Toma"evskij* 1925; dt. 1985, 227). Dabei ist der Gedanke entscheidend, dass nicht das thematische Material, die lebensweltlichen Beziehungen primär sind, sondern die Gesetze des Sujetbaus, die die Wahl bestimmter Motive fordern. XV Der Begriff der Konventionalität (uslovnost’) wird von den Formalisten im ursprünglichen Wortsinn als Gebundenheit an eine Übereinkunft verstanden. Dementsprechend bedeutet das Adjektiv „konventionell“ (uslovnyj) nicht ‚herkömmlich‘, ‚traditionell‘, sondern ‚auf einer Verabredung beruhend‘, ‚einen Kode voraussetzend‘ und bildet ein Antonym zu ‚natürlich‘.
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Der Brief stammt vom 23. und 26.4.1876 und stellt eine Antwort dar auf Nikolaj Strachovs* Vermutungen über den Sinn von Anna Karenina und auf die Frage, ob er, Strachov, den Roman „richtig verstanden“ habe. Der Brief ist abgedruckt in: L. N. Tolstoj, Poln. sobr. so!. v 90 t., Bd. 62, S. 268 f. XVII Es geht hier nicht um den Selbstausdruck des Autors, wie manche Übersetzer verstehen, sondern um den vollgültigen Ausdruck des Gedankens, der nur mit Hilfe der Verkettungen möglich ist. XVIII Auslassung durch "klovskij. XIX Der letzte Satz fehlt in der Fassung von 1919. XX "klovskij setzt hier die „prosaische“ Wahrnehmung des Verfahrens, die sich auf das Resultat, den Gehalt, richtet, der poetischen Wahrnehmung entgegen, die den Verlauf erfasst und zum Empfinden von Material und Struktur des Verfahrens führt. Man erkennt hier das im Eingang des Essays angeführte Bild vom Tanzen hinter dem Pflug wieder und den Gegensatz zwischen dem autotelischen Pflügen und dem unwichtigen gepflügten Acker. XXI Gemeint ist der Essay Kunst als Verfahren ("klovskij 1917). XXII Solcher Art verschobene und deshalb für die handelnden Personen nicht richtig zu verstehende Weissagungen finden wir in der Prosa Aleksandr Pu#kins, so zum Beispiel in der Novelle Der Schneesturm (Metel’). Die Eltern Mar’ja Gavrilovnas trösten sich über die Armut Vladimirs, den die Tochter zu lieben scheint, mit dem Sprichwort hinweg „Dem Zukünftigen [wörtlich: vom Schicksal Beschiedenen] entkommt man auch zu Pferde nicht“. Sie haben damit völlig und buchstäblich recht, nur bewahrheitet sich das Sprichwort nicht für Vladimir, der sich nach minuziöser Planung der geheimen Trauung auf dem Weg dorthin mit seinem Pferd im Schneesturm verirrt (übrigens als einzige der neun Personen, die an der Entführung beteiligt sind), sondern für den tollkühnen und frechen Burmin, der, im tosenden Schneesturm auf eine Hochzeitsgesellschaft treffend, sich kurzerhand mit der hübschen auf ihren Bräutigam wartenden Braut trauen lässt. XXIII In der Studie Der Geheimnisroman (Auszüge s. u.) definiert "klovskij den Pseudoschluss als „Einführung eines neuen Motivs am Ende eines Werks, das mit einem alten Motiv eine Parallele bildet und das Werk abschließt“ ("klovskij 1925c, 164). XXIV Für den Begriff „negativer Schluss“ bezieht sich "klovskij auf den russischen Linguisten Filipp Fortunatov. Das Phänomen, das "klovskij meint, wird besser durch die von ihm ebenfalls angeführte Bezeichnung „Null-Endung“ ausgedrückt, die der polnische Linguist Baudoin de Courtenay für morphemlose Formen der Grammatik geprägt hat. XXV Im Essay Der Geheimnisroman bezeichnet "klovskij (1925c) die „gestufte Entfaltung“ als einfachste Form der Sujetkonstruktion und betrachtet sie als Ausgangsform für die Entfaltung einer Ringkonstruktion. Als Beispiel erwähnt er Jules Vernes Le tour du monde en 80 jours. Die Stufen sind hier die einzelnen Abenteuer, die Ringstruktur wird durch einen Irrtum realisiert, nämlich dadurch
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dass der Reisende, der in östlicher Richtung reist, nicht registriert, dass er damit insgesamt einen ganzen Tag Zeit gewinnt (!klovskij 1925c, 145). XXVI In den vorausgehenden Absätzen reformuliert !klovskij seine Verfremdungstheorie, wie er sie in Kunst als Verfahren (1917) entwickelt hat. XXVII In den ausgelassenen Sätzen äußert sich !klovskij über die Gegenüberstellung von Figuren in Tolstojs Romanen Krieg und Frieden und Anna Karenina. XXVIII In dem im Auszug ausgelassenen Abschnitten des Essays behandelt !klovskij die Entstehung des Romans aus Novellensammlungen und demonstriert an reichem Material die Verfahren der Rahmung und der Reihung. XXIX Es handelt sich um die Erzählung In der Badestube (V bane). XXX !klovskij spricht hier aus der Perspektive der zwanziger Jahre. Nach den Experimenten der Moderne und Avantgarde in sujetloser Prosa entwickelte sich in den zwanziger Jahren eine Renaissance der Sujethaftigkeit. XXXI Zur Bedeutung dieses Begriffs vgl. oben Anm. XV. XXXII „Prosaisch“ heißt hier: ‚nicht-künstlerisch‘. XXXIII Vgl. dazu eine spätere Definition der Fabel-Sujet-Dichotomie: „Die Fabel ist ein Phänomen des Materials. Das ist gewöhnlich das Schicksal des Helden, das, was über ihn im Buch geschrieben ist. Das Sujet ist ein Phänomen des Stils, der kompositionelle Aufbau des Werks“ (!klovskij 1928, 220). XXXIV Eine ähnliche Formulierung finden wir in dem zwei Jahre später entstandenen Essay „Evgenij Onegin“ (Pu!kin und Sterne): „Das wahre Sujet des Eugen Onegin ist nicht die Geschichte Onegins und Tat’janas, sondern das Spiel mit dieser Fabel. Der hauptsächliche Inhalt des Romans sind seine eigenen konstruktiven Formen“ (!klovskij 1923a, 497).
3. Nikolaj Aseev: Der Schlüssel des Sujets (Auszug aus Der Schlüssel des Sujets, übersetzt von Marianne Dehne und Galina Potapova, kommentiert von Galina Potapova) I. Die Sujetlosen [67] Unserem literarischen Markt droht die Gefahr der Kolonisierung. Die übersetzte ausländische Literatur ringt die einheimische nieder.I […] [69] Unserer Meinung nach lässt sich dieser Umstand damit erklären, dass unsere Prosa-Autoren das Gefühl für Sujethaftigkeit [sju!etnost’] verloren haben. Der sowjetische Belletrist ist deutlich „entsujetisiert“. Er hat das Sujet entmagnetisiert und es in Tausende Splitter zerstückelt, entweder um ein „zerrissenes Bewusstsein“ zu simulieren; d. h., da er nicht fähig war, seine fragmentarischen Beobachtungen zu sortieren, hat er sie ohne jede Ordnung notiert; oder um „das Leben abzubilden“, indem er beliebige Ausschnitte des Alltags sich in den Sujetsplittern hat widerspiegeln lassen, im Glauben, dass diese irgendwie aneinander geklebten Splitter schon als Erzählen gelten könnten. […] Ein Grund, wenn nicht der Hauptgrund dieses Verlustes der Sujethaftigkeit ist die Verlagerung der Aufmerksamkeit des Schriftstellers von den Fragen des Sujets auf Fragen des Stils. Seit den Symbolisten flirtet und kokettiert die russische Literatur mit dem Stil. Ästhetizismus und Stilisierung, der beständige Seitenblick auf die Phrase und den Satz sowie die Konzentration auf eine „schöne Ausdrucksweise“ [izja"#nyj slog] verdrängen die anderen Seiten der literarischen Arbeit. Fedor Sologub, Andrej Belyj, Vasilij Rozanov experimentieren mit Prädikat und Subjekt, indem sie sie umstellen. Das Erarbeiten der eigenen Schreibmanier, die Angst vor Unoriginalität, der Wunsch, niemandem ähnlich zu sein, bringt unsere Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, sich in der Konstruktion ausgeklügelter Phrasen zu ergehen, um sie auf rein mechanischem Wege zu erneuern. Das verfestigt sich zur Tradition. Ein echter Schriftsteller muss angeblich sofort anhand der Darstellung, des Aufbaus, der Faktur seiner Erzählung unterschieden werden können. Der Grund dafür ist die Annahme, jeder große Schriftsteller habe einen originellen
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Stil. […] [70] Aber […] diese möglicherweise sehr nützlichen Suchprozesse, diese stilistischen Erkundungsgänge interessieren den Leser nicht. II […] Der Leser verlangt ein Sujet.1 II. Das Abstecken der Sujetlinien Was aber soll diese „Sujethaftigkeit“ sein, deren Abwesenheit unserer zeitgenössischen Prosa einen derartig faden Geschmack verleiht? In Ermangelung jeglicher genauen Definition des Begriffs „Sujet“ in unserer Literaturtheorie ist es notwendig, sich jedes Mal aufs Neue eine Vorstellung von ihm zu machen und ihn von verwandten Begriffen, die ihn überlagern, abzugrenzen. Vor allem handelt es sich bei dem Sujet nicht um den „Inhalt“ eines Werks, d. h. um die faktische Mitteilung einer bestimmten Menge Fabelmaterials III mittels bestimmter stilistischer Verfahren an den Leser. Das versteht sich ohne weitere Erklärungen. Einen Inhalt besitzt jede beliebige Art von Information. Über eine Zeitungsmitteilung pflegt man zu sagen: „der Inhalt dieser Nachricht“; aber niemand sagt: „das Sujet dieser Nachricht“. Die Sättigung mit Fakten erzeugt noch nicht den Eindruck von Sujethaftigkeit. Das ist jedem verständlich. Das Sujet ist auch nicht die Fabel. Unter der Fabel muss man jenen ideologischen, sozialen bzw. philosophischen Gehalt [nagruzka] begreifen, der dem Faktenmaterial, das in das Werk eingeht, seine Form gibt. Die Fabel verklammert die Teile der Erzählung und verleiht ihr eine bestimmte Färbung. Die Fabel ist eine Auswahl aus dem Material, die der 1
All das merken auch die Autoren selbst. Es gibt schon eine „nachgeahmte“ Literatur, die sich bemüht, das Russische als „ausländisch“ auszugeben. Als Beispiel kann man etwa Mess-Mend anführen [Mess-Mend, oder die Yankees in Petrograd, 1924 (MessMend, ili Janki v Petrograde), Roman von Marietta !aginjan, veröffentlicht unter dem Pseudonym „Jim Dollar“; Anm. d. Übers.] oder den Roman von Jurij Slezkin, der einen französischen Autor imitiert [Jurij Slezkin veröffentlichte 1925 zwei Romane unter dem Pseudonym „George Delarme“: Wer zuletzt lacht. Roman-Pamphlet von George Delarme. Mit einem Vorwort des Redakteurs Plume-Doré und einem Nachwort des Herausgebers E. Fasquelle, die einige Angaben zum Autor enthalten [Kto smeetsja poslednim. Roman-pamflet "or#a Delarma. S predisloviem redaktora Pljumdor$ i zaklju%eniem izdatelja &. Faskell$, v kotorych dany nekotorye svedenija ob avtore, Moskva/ Leningrad 1925]; "or# Delarm: Zwei mal zwei ist fünf. Roman. Übersetzung der siebenhundertsten französischen Auflage [Dva#dy dva – pjat’. Roman. Perevod s 700-go francuzskogo izdanija, Leningrad 1925; Anm. d. Übers.]. All das zeugt vom nachlassenden Vertrauen des Lesers in die russische Prosa, das zum völligen Verlust jeder ernsthaften Bedeutsamkeit und zu ihrer völligen Devaluierung führen kann.
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Autor notwendig braucht, damit der Leser das Werk auf gewisse Weise versteht. Daher ist die Fabel mehr oder minder tendenziös. Sie verrät die Weltanschauung des Schriftstellers und bezeichnet den Wahrnehmungshorizont eines Autors. Die Fabel ist es, die das Werk eines Schriftstellers charakterisiert, indem sie es mit einem weiten, allgemeinverständlichen Epitheton versieht, das den Gesichtskreis des betreffenden Autors ganz erfasst. So hat man Turgenev den „Sänger der [71] Adelsnester“2 genannt. Nun hat sich doch aber der „Inhalt“ von Turgenevs Werken nicht auf „Adelsnester“ beschränkt; und umso seltsamer würde die Bestimmung „ein Adelsnest-Sujet“ klingen. Genauso absurd wäre die Qualifikation eines Sujets über das „bittere Lachen“3 Gogol’s oder die „Muse der Rache und der Trauer“4 von Nekrasov. Aber eine Fabel bitteren Lachens, eine Fabel von Rache und Trauer zur Wiedergabe des Hauptthemas, das von den sekundären und nebensächlichen Merkmalen eines Autors absieht, ist allen verständlich und ruft kein Befremden hervor. Bei dem Sujet kann es also weder um den Inhalt noch um die Fabel gehen. Es handelt sich auch nicht um ein stilistisches Ornament, um eine elaborierte Schreibmanier des Autors, um seine Lexik, seine Syntax und auch nicht, wie wir weiter unten zeigen wollen, um das Konstruieren der Teile des Werks in einer bestimmten Ordnung, da dieses Konstruieren eher zur Geschichte der literarischen Formen und Arten gehört als zum Begriff des Sujets selbst.IV Bis hierhin haben wir uns an die Definition der Sujethaftigkeit herangetastet, indem wir sie von den verwandten und sie überlagernden Komponenten der literarischen Prosa unterschieden haben. Nun sei ein Versuch unternommen, eine Vorstellung von ihr unabhängig von diesen komplizierten Komponenten zu gewinnen. Ein deutscher Kritiker weigerte sich in der Rezension eines neuen Romans seine Meinung zu diesem abzugeben, da, wie er schrieb, „mit der Hauptperson während der Zeit des Romans nichts geschieht“5. Hier interessiert vor allem die hervorgehobene Erwähnung dieser „Romanzeit“ 2 3 4 5
Nach dem Roman Ein Adelsnest [Dvorjanskoe gnezdo; Anm. d. Übers.]. Dieses oxymorale Charakteristikum des eigenen Schreibens hat Nikolaj Gogol’ in Die toten Seelen [Mertvye du!i; Anm. d. Übers.] gegeben. Formel aus Nikolaj Nekrasovs Gedicht Schweige, Du, Muse, der Rache und der Trauer [Zamolkni, Muza mesti i pe"ali; Anm. d. Übers.]. Rückübersetzung aus dem Russ. Die Quelle des Zitats ist unbekannt [Anm. d. Übers.].
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[romannoe vremja], d. h. des Intervalls von der ersten bis zur letzten Seite des Werks, innerhalb dessen irgendwelche Ereignisse stattfinden, die im Erzählvorgang beschrieben werden. Dies sei zur Verdeutlichung der weiteren Argumentation festgehalten. Zweitens hat Maupassant auf die Frage, warum er ausschließlich gefallene Frauen beschreibe, warum also unter seinen Heldinnen nicht eine „ehrbare Frau“ anzutreffen sei, geantwortet: „Eine ehrbare Frau hat keine Geschichte.“ Wir haben diese zwei Zitate absichtlich hintereinander angeführt, um sie einander gegenüberzustellen. In der Tat. Wenn mit dem Helden „nichts geschieht“, weigert sich der Kritiker, mit einem solchen Werk zu tun zu haben; wenn eine Heldin „keine Geschichte hat“, d. h. wenn mit ihr ebenfalls „nichts geschieht“, dann weigert sich der Schriftsteller, sie in seinen Roman aufzunehmen. Was bedeutet dieses „es geschieht nichts“? Denn die Biographie noch des allergewöhnlichsten Menschen wird doch unbedingt von Ereignissen erschüttert. Und in der Ereignischronik gibt es vor allem „Zufälligkeiten“. Diese Zufälligkeiten taugen jedoch nicht immer als Sujetmaterial. Für ein Sujet reicht nicht ein einziges „Verbrechen“. Es bedarf auch noch der „Strafe“6. Einer Strafe nicht im Sinne einer moralischen Wiedergutmachung, sondern im Sinne einer Modifikation der „Biographie“ zur „Geschichte“, im Sinne der Abweichung dieser Biographie der „ehrbaren Frau“ in die Richtung der „Romanzeit“, d. h. wiederum des Intervalls der beschriebenen Zeit, während dessen mit dem Helden „irgendetwas geschehen“ muss. Als Anatole France im Gespräch mit seinem Sekretär folgende Bemerkung fallen ließ: „Die Menschen unterscheiden sich von den Tieren durch ihre Fähigkeit zu lügen, also durch die Literatur“7, da hatte er natürlich die Diskrepanz zwischen den Ereignissen, die im Roman stattfinden, und den Ereignissen, die wirklich geschehen, im Auge. Aber innerhalb welcher Grenzen liegt dieses Missverhältnis? Denn „ausgedachte“ Geschehnisse gibt es nicht. Jede noch so gewagte Erdichtung der Phantasie stützt sich auf ein echtes Ereignis. Bedeutet das, dass die „Lüge“ in der Literatur hier [72] als Wechselverhältnis der Biographie einer „ehrbaren“ Frau mit der 6
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Anspielung auf Dostoevskijs Roman Schuld und Sühne [Prestuplenie i nakazanie], den Svetlana Geier in der deutschen Neuübersetzung, dem Wortlaut, wenn auch nicht dem Sinn des Originaltitels näher, Verbrechen und Strafe betitelt [Anm. d. Übers.]. Vgl. Propos d’Anatole France. Recueillis par Paul Gsell, Paris 1921. Russ. Übers.: Besedy Anatolja Fransa, sobrannye Polem Gzellem. Perevod E. V. Me!nikovoj, pod red. N. Radlova, Peterburg/Moskva 1923, S. 30. [Anm. d. Übers.].
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Geschichte einer gefallenen verstanden werden kann? Denn war nicht jede „gefallene“ zu ihrer Zeit ehrbar? Ganz genau zu ihrer Zeit, aber nicht zur Zeit des Romans. Während der Zeit des Romans muss unbedingt etwas geschehen, was nicht dem durchschnittlichen normalen Niveau der Biographie aller ehrbaren Frauen der Welt entspricht; die Linie dieser Biographien muss zerrissen und zerstört werden: und diese Zerstörung der Norm, diese Unabhängigkeit des Romans vom zeitlichen und psychologischen Maßstab der Norm der „durchschnittlichen Biographie“ ist der Beginn der Romanzeit. Diese Unabhängigkeit von der „Wahrheit“ ist natürlich keine absolute Unabhängigkeit oder die Freiheit, jede beliebige Kombination und jede beliebige Reihenfolge der Ereignisse, die dem Thema der Erzählung dienen, zu wählen. Und offensichtlich müssen irgendwelche Rahmen existieren, die die einfache Ereignischronik zum Sujet, das Rohmaterial an Ereignissen zur Erzählung kurzschließen. III. Ein Beispiel für den Sujetaufbau Viktor !klovskij* weigert sich gleich am Anfang seiner hervorragenden Studie Die Entfaltung des Sujets [1921a, 3], eine Definition des Sujets zu geben: „Ich weiß nicht, welche Eigenschaften ein Motiv besitzen muss oder wie die Motive angeordnet sein müssen, damit sich ein Sujet ergibt. Ein einfaches Bild und eine einfache Parallele oder selbst eine einfache Beschreibung eines Ereignisses rufen noch nicht das Empfinden einer Novelle hervor“. Dieses Gespür für das Novellenhafte, für die Sujethaftigkeit der Erzählung ist bei den westlichen Autoren selbstverständlich. Dort fängt niemand seine schriftstellerische Betätigung mit Fragen des Stils an. […] [73] Der Stil ist dort dem Sujet unterworfen. Ohne Sujet, ohne Gespür für das Erzählen schreibt man dort nicht; ohne Fertigkeit, das literarische Werk aufzubauen, publiziert man dort nicht. Allerdings ist das Sujet bei den begabtesten westlichen Belletristen bis zum äußersten Grade vereinfacht worden: Zugunsten der Konzentriertheit hat es an Komplexität verloren. Das Sujet ist einfach geworden, pfeilgerade und bereits einer oberflächlichen Aufmerksamkeit des Lesers zugänglich. Aber ich will hier nicht auf die Geschichte des Sujets eingehen; im Zusammenhang mit der oben angedeuteten Verwestlichung der Lesersympathien möchte ich nur sein Vorhandensein in der übersetzten ausländischen Literatur und seine Abwesenheit in der unsrigen festhalten.V
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Vor Kurzem ergab es sich, dass ich den Roman Der Mensch im Zoo8 von David Garnett las. Er besitzt keine besonderen Vorzüge mit Ausnahme eines geradezu stahlgefederten Sujets. Die Stahlfeder springt fast aus dem Roman hervor, sticht durch ihre selbsttätige Hebekraft beinahe buchstäblich ins Auge. In dieser Hinsicht kann der Roman von Garnett als anschauliches Beispiel eines vereinfachten Sujetaufbaus dienen. Die Hauptfigur des Romans ist John Cromartie, ein durchschnittlicher Engländer, ausgestattet mit der diesem Volk eigenen Halsstarrigkeit und Entschlussfestigkeit sowie einem konservativen Charakter, der nur in Folge eines großen inneren Umbruchs zu starken Bewegungen fähig ist. Zu Beginn des Romans geht er mit seiner Verlobten Miss Lackett im Zoologischen Garten spazieren. Bei dieser handelt es sich um ein ebenfalls konservatives englisches Mädchen aus einer Familie, die reicher ist als ihr Bräutigam und die sie nicht verlassen kann, weil sie durch tausend Fäden gebunden ist. Die Romanzeit trifft die beiden bei der Aussprache an, während der sich vor dem Leser sowohl ihre Charaktere als auch ihre wechselseitigen Bezüge enthüllen. Beide sind sie von dem Unverständnis des Anderen gereizt. Cromartie besteht auf ihrer unverzüglichen Heirat; Miss Lackett wird dies durch ihre Herkunft verwehrt: Ihr erscheint es als heller Wahnsinn, ihr Leben jetzt mit einem Menschen zu verbinden, dessen Wochenlohn noch nicht einmal für ihn selbst reicht. Cromartie ist Ingenieur, er glaubt an seine Karriere und besteht darauf, dass sie unverzüglich sein Leben teilt. Beide gereizt, äußern sie sich in der Hitze des Gefechts scharf übereinander, aber ihr Schlag ist schmerzhafter. Sie sagt, dass seine Leidenschaft, die ihm nicht erlaubt, die Dinge in ihrem wahren Licht zu sehen, die Leidenschaft eines Affenmännchens ist, dass sein eigentlicher Platz bei den Affen im Zoo ist. Das ist natürlich [74] nur ein zugespitzter Vergleich. Das ist natürlich nur der Wunsch, sich für seinen höhnischen Satz zu rächen, sie könne ja einen der Freunde ihres Vaters heiraten. Aber der heftige starrköpfige Charakter von Cromartie hat sich unter dem Einfluss des so lange sich hinziehenden Gefühls für Miss Lackett schon erhitzt, und der Streit ist nur die letzte Temperaturerhöhung, die alles um 8
Vgl. David Garnett, Lady into Fox, and A Man in the Zoo, London 1922. Aseev hat die russische Übersetzung des zweiten dieser im gleichen Band erschienenen Romans gelesen: D. Garnet, !elovek v zoologi"eskom sadu. Roman. Per. M. M. Ljubimov. Predisl. M. Levidov, Moskva 1925. Ein Jahr früher ist auch Lady into Fox in russischer Übersetzung erschienen: D. Garnet, #en$"ina-lisica. Per. I. R. Gerba!, Leningrad 1924 [Anm. d. Übers.].
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ihn herum modifiziert. Verbittert durch den der Wahrheit allzu nahe kommenden Sinn ihrer Worte, verlässt er sie, um die ihm hingeworfene Herausforderung buchstäblich umzusetzen. Wenn sein Platz, ihren Worten nach, im Käfig ist, dann wird er sich auch darum bemühen, in ihm Platz zu finden. […] Und so sitzt John Cromartie im Käfig, der an die Bedürfnisse der menschlichen Lebensweise angepasst ist, in einer Reihe mit anderen menschenähnlichen Tieren. Neben ihm befindet sich ein gewaltiger OrangUtan, der mit seinem neuen Nachbarn nicht sehr zufrieden ist. Die Erwartungen der Zoodirektion rechtfertigten sich: Das Publikum strömt in Scharen in den Zoologischen Garten. Die Nachricht über den Menschen-als-Exponat skandalisiert ganz London. […] [75] Der OrangUtan aber wartet geduldig auf seine Gelegenheit. Und als sich Cromartie in der Nähe des Affen mit dem Rücken an die Wand lehnt, packt das Tier ihn augenblicklich bei den Haaren. Schon ist Cromartie zu seinem Maul gezogen und hat bereits einige Bisse abbekommen, da kommt dem blutüberströmten Menschen der [ihm im Käfig Gesellschaft leistende] Luchs zur Hilfe, der sich aus allen Kräften in den Schenkel des Affen verbeißt. […] Als er nach seiner Genesung halsstarrig in den Käfig zurückkehrt, besucht ihn dort Miss Lackett [die ihm bei ihrem ersten Besuch erbost den Laufpass gegeben hatte] ein zweites Mal. Beeindruckt von seiner Hartnäckigkeit, kommt sie zu ihm, um ihm zu sagen, dass sie einverstanden sei, auf der Stelle seine Frau zu werden, sobald er diesen entsetzlichen Käfig verlasse. Sie liebe ihn, ihre Familie sei ihr gleichgültig und ebenso seine traurige stadtweite Popularität als Exponat einer Menagerie. Aber er denkt gar nicht daran, seinen Käfig zu verlassen, in dem sich für ihn schon ein neues, ihm sehr liebes Leben eingespielt hat, an das sich sein Bewusstsein gewöhnt hat. Wenn, so beschließt sie daraufhin, sein Platz im Käfig sei, dann sei ihr Platz neben ihm. Sie könne so jedenfalls nicht weiterleben. Sie werde ihn heiraten, auch wenn sie ihr gemeinsames Leben in einer Menagerie fortzuführen hätten. Natürlich endet der Roman gut. Natürlich verlässt Cromartie, nachdem er sich von der Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses überzeugt hat, den Zoologischen Garten. Aber damit ist das Sujet von Der Mensch im Zoo auch zu Ende. Von ihrem glücklichen gemeinsamen Leben zu erzählen, ist für den Schriftsteller nicht von Interesse. Die Romanzeit ist ausgelaufen. Sie hat sich nur während der Ungewöhnlichkeit der Situation der Hauptfiguren gehalten. […]
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Worin besteht also in aller Kürze das Sujet dieses Romans? Darin, dass der Held (gestatten wir uns diesen altmodischen Ausdruck) – ein gewöhnlicher Mensch – in eine ungewöhnliche Lage versetzt wird. Diese Lage passt deutlich nicht zu ihm, es geschieht nicht jeden Tag, dass Menschen als Exponate in einer Menagerie landen. Das Nichtentsprechen von Lage und wirklichem Menschen macht gerade sein Sujetleben aus und ist der Beginn der Romanzeit; ab diesem Moment konzentriert sich das Interesse des Lesers auf einen normalen Engländer, wie er normaler nicht sein könnte. Und je [76] wirklicher, normaler, gewöhnlicher der Held in seinen biographischen Details gezeigt wird, desto stärker nimmt ihn der Leser während der „Romanzeit“, in seinem Sujetleben, wahr. Einfach gesagt, je feiner und deutlicher der Autor jenen Lebensalltag kennt, aus dem er die Figuren seiner Erzählung nimmt, je wahrscheinlicher, näher, verständlicher die Vorgeschichte des Romans für uns ist, die Züge, die die Figur in ihrer Biographie charakterisieren, desto schärfer wird die Kette der Episoden wahrgenommen, die die Biographie des Helden zerstören und ihm nicht erlauben, sie unter gewöhnlichen normalen Bedingungen fortzusetzen, sondern sie von der durchschnittlichen Existenz entfernen. IV. Der Schlüssel des Sujets Ich habe den Roman von Garnett als Beispiel für den zeitgenössischen Aufbau des Sujets im Westen ausgewählt. Er ist so einfach und gerade wie ein Telegraphendraht, mit dessen Hilfe die Kommunikation zwischen Leser und Autor hergestellt wird. Und in der Tat: Man braucht bloß einen Menschen in einen Käfig zu setzen, man braucht bloß ein gewöhnliches Wesen in ungewöhnliche Umstände zu versetzen, um das Interesse des Lesers zu steigern und einen Kontakt zwischen Autor und Leser zu etablieren. Der Käfig ist dabei natürlich nebensächlich. Aber ob Sie den Helden auf einer unbewohnten Insel platzieren, wie Defoe im Robinson Crusoe, ihn verjüngen wie Goethe seinen Faust, ihn wie Swift seinen Gulliver zu den Liliputanern und Riesen schicken oder ihn schließlich selbst die Inkongruenz zwischen seiner Umgebung und seiner eigenen Biographie spüren lassen, wie Cervantes es mit Don Quijote tat, – überall kann man dasselbe Sujetschema nachverfolgen: die Versetzung eines gewöhnlichen Menschen in eine für ihn ungewohnte Situation; das Nichtzusammenpassen dieser Situation (des Sujetlebens) mit seiner Biographie, mit den real gegebenen Verhältnissen seines Daseins.
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Schon auf der Grundlage dieser ganz simplen Beispiele kann man einige Rückschlüsse auf die notwendigen Bedingungen für die Existenz der allereinfachsten Sujetformen ziehen. Und zwar: Wenn man das Vorhandensein von „Helden“ im Erzählen annimmt, d. h. von Hauptfiguren, den Hauptbegleitern durch den grundlegenden Faden der ErzählungVI, so muss ihre Existenz dem Leser durch die Details der biographischen Informationen über sie gezeigt und bewiesen werden. D. h. die Realität der Hauptfiguren in der Wahrnehmung des Lesers muss vom Autor durch eine Reihe genauer Einzelheiten und einer genauen Kenntnis des Alltags, des Umfelds, der sozialen Schicht, aus der die Figur genommen wird, gefestigt werden. Aus diesem Grund sollte der Schriftsteller ganz fest mit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht verbunden sein, mit der Klasse, die er zum Ausdruck bringt. Sonst wird sein „Held“ nicht glaubwürdig sein. Der Leser wird ihn nicht als lebendig vor sich sehen und seine Existenz nicht glauben. Aber dieser Glaube ist der erste Schritt zum wechselseitigen Verständnis von Autor und Leser. Mit einem Wort, für einen Helden braucht man eine reale Biographie. Das ist eine Forderung des Sujetaufbaus. Der Engländer Cromartie muss wie in unserem Beispiel als ein echter durchschnittlicher lebensnaher Engländer gezeichnet werden, sonst hält der ganze Sujetaufbau nicht. Nur aus den Charaktereigenschaften von Cromartie lässt sich glaubhaft machen, dass er tatsächlich in einen Käfig steigt. [77] Ist diese Voraussetzung akzeptiert, können wir zur nächsten Sujetbedingung übergehen. Die wirkliche Biographie des Helden muss zerstört und zerschnitten und durch das Sujetleben des Helden abgelenkt werden. Das Sujetleben ist zugleich der Kampf zwischen der real(istisch)en Gegebenheit des Helden und dem Eingriff des Sujets in diese Biographie, in diese Realität. In unserem Beispiel setzt sich ein ausgeglichener durchschnittlicher Engländer freiwillig in einen Käfig. „Freiwillig“, denkt der Leser; „gemäß Sujetgesetz“, weiß der Autor. Und solange diese Abweichung von der realen Biographie des Helden andauert, wirkt die Kraft der Sujetfeder, und das Interesse für die Erzählung lässt nicht nach. Findet die Biographie erneut zur Norm zurück, hört der Roman auf. Neben dieser Biographie der Helden, die in der Literaturtheorie unter dem Terminus „Vorgeschichte“VII […] bekannt ist, und dem Sujetleben, gibt es im Sujet noch Konfliktknoten – Stellen, an denen sich die Widersprüche zwischen der Biographie und dem Sujetleben zuspitzen. In Garnetts Roman sind dies die Stellen, in denen der Held an seiner geistigen Gesund-
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heit zweifelt, Cromartie von dem Affen angefallen wird und schließlich Miss Lackett sich dafür entscheidet, mit ihm im Käfig zu leben. Diese Knoten – erzählerische Kulminationspunkte, an denen sich das größte Interesse für den Roman konzentriert – werden von jedem Autor auf eigene Weise geschürzt. […] Die üblicherweise nach solchen Knoten anzutreffende Senkung des Gewichts der Intrige, das „Bremsen“ der Handlung finden sich bei Garnett z. B. mit der Krankheit Cromarties, seiner Freundschaft mit dem Luchs und seiner erneuten Rückkehr in den Käfig. Folglich gibt es drei Bestandteile, die den Ursprung für das Sujet bilden: 1. die Biographie des (der) Helden 9 – die reale Vorgeschichte der Erzählung mit ihrer ganzen lebensweltlichen Wahrscheinlichkeit; 2. das Sujetleben des Helden; die Ereignisse, die nicht dem normalen Lauf dieser Biographie entsprechen und diese brechen; 3. der Konflikt bzw. die Konflikte zwischen der Biographie und dem Sujetleben. Das ist es, das einfachste Sujetschema, das wir an unserem Beispiel nachverfolgen konnten. Als ich es an allen je von mir gelesenen Romanen, die mir nur einfielen, überprüft habe, konnte ich überall eine volle Übereinstimmung der Sujetkonstruktion mit diesem Schema feststellen. Natürlich liegt es in komplizierterer Form vor und wird im Verlauf ein und desselben Romans auch mehrfach wiederholt. Hier kommt die Analyse der Sujetentwicklung zu ihrem Recht. Aber ihr grundlegendes motivierendes Prinzip, ihre einfachste Form kann im Großteil der Sujetkonstruktionen der verschiedenartigsten Literaturen wieder gefunden werden. Die Fabel und die Motivierung ändern sich; es ändert sich das Verfahren und das stilistische Ornament; aber die Formel des Sujetaufbaus ist unveränder-
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Um nicht falsch verstanden zu werden, noch ein paar Worte zur Verwendungsweise des Begriffs „Held“. Darunter wird hier der Träger der sukzessiven Darstellung des Erzählens, der Transformator seiner Energie verstanden. Ein Held kann sowohl ein Mensch als auch ein Pferd (Cholstomer [Leinwandmesser. Die Geschichte eines Pferdes – Erzählung von Lev Tostoj; Anm. d. Übers.]), aber auch eine Maschine (Karel !apek [R. U. R. Rossum’s Universal Robots, Prag 1922; russ. Übers. von Iosif Kallinikov, Praga 1924; Anm. d. Übers.]) oder eine Naturgewalt sein. Der Komfort dieses Begriffs und seiner Verwendung liegt in seiner Allgemeinverständlichkeit.
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lich, angefangen mit der antiken Tragödie bis hin zu den Erzählungen von O. Henry. Die Anwendung dieser Formel auf verschiedene Arten von Erzählungen lässt sich in groben Umrissen durch die folgende Untergliederung charakterisieren: a) Das reale Leben der Helden (Biographie) wird durch ein ebenfalls reales Sujetleben gebrochen. – Roman aus dem zeitgenössischen Alltagsleben (Zola, Maupassant). b) [78] Die Biographie wird durch ein Sujetleben zeitweilig verdrängt. – Historischer Roman (wie etwa bei Dumas). c) Die Biographie wird durch eine räumliche Versetzung im Sujetleben zerstört. – Reisebericht, Abenteuerroman, Poem (Die Fregatte Pallas10, Robinson Crusoe, Die toten Seelen11). d) Die Biographie wird durch das Motiv der Liebe zerstört (Liebesnovelle). e) Der Grund des Konflikts liegt in einer psychischen Abweichung (Dostoevskij). f) Der Grund liegt in einer mechanischen Zerstörung der Biographie. – Wissenschaftlich-utopischer Roman (Wells). Es versteht sich von selbst, dass diese Unterarten so gut wie nie in reiner Form vorkommen. Diese Untergliederung soll nur dazu dienen, verschiedene hybride Varianten des Sujetaufbaus in Schichten zu teilen; wegen ihrer äußerlichen Kompliziertheit können solche Varianten irreführend wirken. Dennoch hat jede von ihnen ihr eigenes ursprüngliches Schema. V. Das Sujet von Anna Karenina […] [85] Deutlich ist die Auflockerung der Handlungen des Sujetlebens der handelnden Figuren durch biographische Informationen sichtbar, die dem Leser als eine verdiente Erholung, als erklärende und beruhigende Seiten dargereicht werden, ich würde sogar sagen, als Medizin nach der übermä10 11
Fregat Pallada (Buchpublikation 1858), Ivan Gon!arovs Reisebericht 1853–1854 [Anm. d. Übers.]. Die Gattung von Mertvye du!i (1842) wurde von Gogol’ als Poem bezeichnet [Anm. d. Übers.].
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ßigen Hitze des erschütternden Erzählens. Tolstoj ist dem Leser gegenüber aufmerksam. Er spart nicht mit Allegorien und Hilfsvergleichen, um beständig an die heranreifenden Konflikte zwischen Biographie und Sujetleben zu erinnern. Er ist geduldig und sagt dem Leser mit viel Geschmack unzählige Male bestimmte Schlussfolgerungen vor; er paukt dem Leser das thematische Grundleitmotiv des Romans ein: „Wie wäre das Leben der Helden verlaufen, wenn nicht dieses oder jenes passiert wäre?“ Er bereitet den Leser derart auf die Bewegung der Sujetlinien vor, dass der Leser eine aufrichtige Befriedigung fühlt, wenn diese von ihm bereits erratenen Linien zu den zentralen Stellen des Romans führen – zu den Konflikten des Sujets mit der Biographie. Das Oszillieren zwischen den beiden Sphären, dem Sujetleben und der Biographie der Helden, zeigt ihm die Grenzen der Handlung. Und der Schlüssel des Sujets, den der Autor in die Hände des Lesers legt, öffnet ihm alle Türen im Labyrinth des Erzählens und lässt ihm keinen Winkel unbegehbar und keinen Konflikt unaufgeschlossen. Das Sujet von „Anna Karenina“ – wie auch aller anderen hervorragenden Werke – besteht darin, dass der Autor seine Helden durch den Alltag [byt] hindurchführt und sie in ihrem Widerstand [86] gegen den Alltag zeigt, wobei der Autor mit diesem Alltag, der das soziale Fundament eines jeden sujethaften Werkes bildet, in allen seinen Details bestens bekannt ist. […] Mit anderen Worten: In einem Sujetaufbau kann es keine glückliche Existenz der Helden geben, wenn der Alltag als glücklich wahrgenommen wird. Entweder das eine oder das andere muss negativ sein. Auch ist Anna nicht Tolstojs „Heldin“. Er liebt sie nicht als Vorbild für einen Menschen. Seine Lieblinge sind Kitty und Levin. Aber die Gestalt der Karenina war für Tolstojs Sujetaufbau unabdingbar. Ohne sie hätten Kitty und Levin wie glückliche Spießbürger ausgesehen. Und nur als Parallelfälle zur Tragödie von Anna haben sie ihren Ort im Roman. Anna aber, die dem ganzen Roman ihren Namen gegeben hat, zieht gleichsam das Uhrwerk des Sujets auf, durch das die Feder der Romanzeit gespannt wird. Anna ist entgegen ihrer Biographie unglücklich. Sie kämpft mit dem Alltag, wie Don Quijote mit den Windmühlen. Und wenn der Alltag dort und hier die Helden besiegt, so zeigt dies lediglich das dialektisch notwendige Bedürfnis, diesen Alltag zu zerstören, ihn durch ein anderes Leben einer anderen Generation und anderer gesellschaftlicher Verhältnisse zu ersetzen.
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Der Schlüssel des Sujets liegt immer im Zusammenprall des biographischen Durchschnitts der Figuren mit ihrem literarischen Sujetschicksal. Dem biographischen Schicksal ist der Autor unterworfen, das literarische Schicksal kann er selbst imaginieren. An dieser Unterscheidung kann man leicht sowohl die Aufgaben der formalen wie auch der soziologischen Werkkritik ablesen. Dort, wo es keine Ansammlung von Alltagsdetails gibt, gibt es auch keine Biographie. Wo es aber keine Biographie gibt, gibt es auch keine Realität der handelnden Figuren. Und dementsprechend keinen Roman. Wo es aber kein Sujetleben gibt, gibt es keine Freiheit des Autors, keine Phantasie, keine Bewegung, keine Zeit der Erzählung.VIII Ausschließlich Alltag ist ebenso wenig literarische Kunst wie ein nackter Abenteuerroman. Die Existenz des Sujets festzustellen, die Innovativität seiner Verfahren zu beurteilen, sie mit dieser oder jener literarhistorischen Abhängigkeit zu erklären oder Tradition in Verbindung zu bringen, das ist Sache der formalen Analyse. Das Gewicht des zeitgenössischen Alltags oder die Archaik der Tendenzen und Sympathien des Autors zu bewerten, zu verallgemeinern und abzuwiegen, ist Sache der soziologischen Kritik. Aber nur dann kann ein Werk in die Liste der großen Literatur aufgenommen werden, wenn beide Ansätze Anwendung finden können. Und noch einmal muss gesagt werden: Der Schlüssel des Sujets, die Unterhaltsamkeit der Erzählung, seine Attraktivität für den Leser besteht im Zusammenstoß von Sujetleben und biographischem Leben der handelnden Personen der Erzählung. ————————— Bibliographische Notiz Originaltitel: Klju! sju"eta. Erschienen in: Pe!at’ i revoljucija. #urnal literatury, iskusstva, kritiki i bibliografii („Presse und Revolution. Zeitschrift für Literatur, Kunst, Kritik und Bibliographie“), Jg. 1925, Nr. 7, Moskva, S. 67–88. Die Publikation wurde von einer redaktionellen Anmerkung begleitet: „Obwohl die Redaktion nicht alle in diesem Artikel geäußerten Ansichten des Autors teilt, veröffentlicht sie ihn nichtsdestoweniger als einen interessanten theoretischen Versuch, die Gesetze des Sujetaufbaus zu umreißen“ (S. 67).
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Kommentar Nikolaj Nikolaevi! Aseev, geb. 28.6.(10.7.)1889 (L’gov, Kursker Gouvernement), gest. 16.7.1963 (Moskau), Dichter, Übersetzer und Kritiker. Nach der Realschule in Kursk (beendet 1907) schrieb sich Aseev am Moskauer Handels-Institut zum Studium ein (1908–1910), wechselte dann aber zur Philologischen Fakultät der Char’kover Universität; parallel dazu besuchte er als Gasthörer Lehrveranstaltungen der Historisch-Philologischen Fakultät der Moskauer Universität. Während seines (mehrjährigen) Studiums lernte Aseev viele Literaten aus dem Kreis der Symbolisten und Futuristen kennen (Andrej Belyj, Vja!eslav Ivanov*, Velimir Chlebnikov, David Burljuk u. a.); damals machte er auch nähere Bekanntschaft mit Boris Pasternak, außerdem mit Vladimir Majakovskij, mit dem ihn eine enge Freundschaft bis zu dessen Tod verband (vgl. Krjukova 1984; Bogomolov 1989, 117). Aseev hatte maßgeblich an der Gründung des Verlags Lyrik (Lirika, 1911) Anteil, unter dessen Ägide einige Jahre später die futuristische Gruppe Zentrifuge (Centrifuga) entstand (1914). 1914 erschien Aseevs erstes Lyrikbändchen Die Nachtflöte (No!naja flejta). 1915 wurde Aseev zusammen mit Viktor "klovskij* und Vasilij Kamenskij von Majakovskij bei den Briks* eingeführt (Aseev 1990, 332). In demselben Jahr erhielt er seine Einberufung; zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution 1917 diente er in einem Reserveregiment in Irkutsk, wo er zum Abgeordneten des Soldatenrats gewählt wurde; bis 1921 übte er verschiedene Tätigkeiten in Vladivostok, dann in #ita aus. Dort organisierte er die futuristisch geprägte Literatengruppe Das Schaffen (Tvor!estvo) und führte die Tragödie Vladimir Majakovskij auf (Petrovskaja 1980, 38–40). Nach dem Bürgerkrieg kehrte Aseev durch die Fürsprache Anatolij Luna!arskijs, des Volkskommissars für Volksbildung, nach Moskau (1922) zurück, wo er sich seit 1923 gemeinsam mit Majakovskij in der literarischen Gruppe LEF* engagierte (vgl. Nikitin 1971). Nebst einer Reihe von Agitationsdichtungen (einige von ihnen gemeinsam mit Majakovskij) und neuen Gedichtsammlungen erprobte sich Aseev in den 20er Jahren auch als Literaturkritiker (Rezensionen neu erschienener Bücher in den Zeitschriften LEF, Novyj mir und Pe!at’ i revoljucija). Von den damals tonangebenden Literaten der RAPP* (Rossijskaja Associacija Proletarskich Pisatelej) wurde er allerdings als ein „literarischer Mitläufer“ bezeichnet, der „sich aufrichtig zur Revolution bekennt, allerdings durch seine Vergangenheit als Futurist und Bohemien belastet ist“ (Lelevi!* 1929, 270). Seit 1932 Mitglied im Sowjetischen Schriftstellerverband*; mehrfache Auszeichnungen mit verschiedenen sowjetischen Literaturpreisen. Nachruf von "klovskij in Literaturnaja Rossija, 1963, 19.7., S. 4: Dem Andenken an den Freund (Pamjati druga). Die Fragestellung des Aufsatzes Der Schlüssel des Sujets gilt dem oft diskutierten Begriff des „Sujets“, allerdings nicht im allgemeineren Sinne der künstlerischen Bearbeitung des „Fabelmaterials“ (s. unten, Anmerkungen III und IV), sondern in
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der zweiten Bedeutung dieses Wortes, das im Russischen häufig als Synonym zu „Handlung“ benutzt wird. Zur Bezeichnung der Eigenschaft eines Erzähltextes, den Leser „bei der Stange zu halten“, setzten die Formalisten sowohl den Begriff „sju!etnost“ als auch den Begriff „fabul’nost’“ ein. Beide Begriffe „bezeichnen als Charakteristikum einer bestimmten Genresituation die Dominanz der reinen Intrigenhandlung und der Sujetspannung über die Montage statischer Motive bzw. ,Fakten‘“ (Hansen-Löve 1978, 517); der terminologische Unterschied spielt in diesem Fall keine große Rolle. Signifikanterweise schlägt Boris Toma"evskij* in seiner Theorie der Literatur (1925) fast gleichzeitig mit Aseev eine systematische Unterscheidung zwischen „Werken mit einer Fabel“ (fabul’nye) und „fabellosen“ (besfabul’nye), „beschreibenden“ Werken“ vor. Toma"evskij betont aber einen anderen Aspekt derselben Problematik, nämlich, „dass die Fabel nicht nur ein temporales, sondern auch ein kausales Merkmal verlangt“ (1925, 136; dt. zit. nach Toma"evskij 1985, 215). Die Diskussion über die „Sujethaftigkeit“ wurde durch einige Trends auf dem russischen literarischen Markt sowie im neugeborenen „Kinematographen“ angeheizt. Die Klagen über eine drohende Überschwemmung durch westliche Abenteuer- und Kriminalromane waren in der literarischen Kritik der 1920er Jahre zu einer Floskel geworden. Diese Situation wurde auch von einem theoretischen Standpunkt aus reflektiert. Erzähltechnische Konsequenzen aus der „Kolonisierung“ des russischen Büchermarktes zogen insbesondere Lev Lunc in seiner Rede unter dem plakativen Titel Nach Westen! (Na Zapad!), die er am 2.12.1922 auf der Sitzung der literarischen Gruppe Serapionsbrüder (Serapionovy brat’ja*) hielt, sowie Boris #jchenbaum in den Aufsätzen Über Chateaubriand, klingende Münze und russische Literatur (1924b) und O. Henry und die Theorie der Novelle (1925). Auch in der marxistischen Kritik, die die „Vorherrschaft der bourgeoisen Boulevard-Literatur in der proletarischen Presse“ zu begrüßen nicht bereit war und – vor allem gegen Ende der 1920er Jahre – immer entschiedener dagegen protestierte (vgl. Bergman 1928), wurde diesen Leserpräferenzen Rechnung getragen. Als Versuch, die Errungenschaften der westlichen Unterhaltungsliteratur für neue ideologische Zwecke einzusetzen, ist die Etablierung einer neuen Gattung zu betrachten, nämlich des sowjetischen satirisch-parodistischen Abenteuerromans der 1920er Jahre, der den Leser zur gleichen Zeit unterhalten und belehren sollte (über diese Gattung, in deren Rahmen unterschiedliche Varianten des Umgangs mit den entlehnten literarischen Modellen möglich waren: von der simplen Nachahmung bis zur elaborierten Parodie, vgl. Vulis 1965, 142–165; $udakova 1987, 505–507). Zu diesen Wiederbelebungsexperimenten mit der auf Abenteuerliteratur bezogenen „Sujethaftigkeit“ zählt auch neben den in Schlüssel des Sujets erwähnten Romanen von Marietta %aginjan und Jurij Slezkin (s. o. im Text Fußnote 1) das von Aseev 1924 verfasste Drehbuch zum Film Die wunderbaren Abenteuer des Mister West im Lande der Bolschewiki (Neoby&ajnye pri-
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klju!enija mistera Vesta v strane bol’"evikov; Regie: L. Kule"ov; vgl. Lebedev 1947, 287). Im Übrigen wurde die Losung einer produktiven Aneignung der Abenteuerliteratur für die Aufgaben der proletarischen Revolution nicht ausschließlich von den marxistisch orientierten Kritikern benutzt. Unter Berufung auf diese Forderung der Zeit versucht auch der „Serapionsbruder“ Lev Lunc, der lediglich als so genannter „literarischer Mitläufer“ (poput!ik) galt, seine Neigung zur „Sujethaftigkeit“ zu legitimieren: „Wie jeder gesunde Mensch hat der Bauer und der Arbeiter Bedarf an Unterhaltsamkeit, Intrige, Fabel. Daher kommt der Erfolg eines Bre"ko-Bre"kovskijs [Nikolaj Nikolaevi! Bre"ko-Bre"kovskij, 1874– 1943, Erfolgsschriftsteller, Verf. zahlreicher Abenteuerromane; Anm. d. Übers.]. Dessen Verdienste um die Revolution werden groß sein, der dem Proletariat einen russischen Stevenson gibt“ (1923, 273). In diesem Spektrum möglicher Positionen bezüglich der „Sujethaftigkeit“ nimmt Aseev eine besondere Stellung ein. Indem er das Prinzip des Normbruchs zum Ausgangspunkt seiner Analyse des Sujets macht, schließt er sich den Formalisten und dem „westlerischen“ Flügel der „Serapionsbrüder“ an. Mit der Forderung einer lebenstreuen Motivierung aber („[…] für einen Helden braucht man eine reale Biographie. […] Nur aus den Charaktereigenschaften von Cromartie lässt sich glaubwürdig machen, dass er tatsächlich in einen Käfig steigt“) lehnt Aseev die formalistische „Bloßlegung des Verfahrens“ deutlich ab. Das Konzept des Normbruchs wurde allerdings in der ersten Hälfte der 1920er Jahre nicht nur von den Vertretern der „formalen Schule“ benutzt. In seinem Buch Psychologie der Kunst (Psichologija iskusstva, 1924/25 druckfertig, aber nicht erschienen; darin Aufsätze von 1915–1922) entwickelt z. B. Lev Vygotskij* dieses Konzept, „das er auf allen Ebenen des Kunstwerks – vom rhythmischen Normbruch bis zum moralischen Normbruch in der Tragödie – gelten lässt“ (Hansen-Löve 1978, 431). Dass der Gedanke von einer Normverletzung als Keimzelle der narrativen Bewegung nicht unvorbereitet in der russischen Literaturwissenschaft der 1920er Jahre zum Ausdruck kommt, bezeugt der Aufsatz Vladimir Fi"ers Erzählung und Roman bei Turgenev (1920), den Aseev in einer hier nicht wiedergegebenen Schlussbemerkung zu Schlüssel des Sujets erwähnt. Fi"er unterscheidet im Aufbau der Turgenevschen Erzählung drei Momente: „(1) Die Norm. Die Darstellung der menschlichen Persönlichkeit in den gewöhnlichen Verhältnissen des Alltags […]. (2) Die Katastrophe. Eine Verletzung der Norm durch den Einbruch außerordentlicher Lebensumstände, die nicht aus der gegebenen Situation hervorgehen. (3) Das Finale. Der Ausgang der Katastrophe und ihre psychologischen Folgen“ (1920, 14). Die Affinität zwischen diesem Schema und Aseevs Opposition „Biographie“ vs. „Sujetleben“ ist augenfällig. Der Einwand Aseevs gegen Fi"er besteht allerdings darin, dass „der Turgenev-Forscher in dieser kompositionellen Gliederung ein individuelles Merkmal der Turgenevschen Schreibweise sehen will. In Wirklichkeit ist es aber so, dass sich Turgenev, wie jeder bedeutende Prosaschriftsteller, dem allgemeinen Gesetz des Sujetaufbaus
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fügt: dem Zusammenstoß zwischen der ,Norm‘ (Biographie) und den ,unvorhergesehenen Umständen‘ (dem Sujetleben des Helden)“ (Aseev 1925, 87). Ein Jahr später wurden die Hauptthesen Aseevs in derselben Zeitschrift Presse und Revolution nochmals von G. Lelevi!* wiederholt, der sich um eine resümierende Bestimmung der „Sujethaftigkeit“ bemühte. Lelevi! unterstützte grundsächlich den Ansatz Aseevs und nahm an, „dass der Widerspruch zwischen der in der Erzählung dargestellten Situation und dem ,realen‘ Helden, zwischen Sujet und Biographie und die Empfindung einer gewissen Verletzung der Lebensnorm sowie der Kampf um die Rückkehr zu dieser Norm tatsächlich in die Definition der sujethaften Literatur mit einbezogen werden müssen“ (Lelevi! 1926, 36–37). Lelevi!s Definition, in der er die Äußerungen "klovskijs aus Der Bau der Erzählung und des Romans (1921b; s. Auszüge aus dieser Arbeit im vorliegenden Band, S. 22–27), Toma#evskijs Theorie der Literatur (1925) und Aseevs zusammenzufassen versucht, sieht folgendermaßen aus: „[…] ein sujethaftes Werk ist ein Erzählwerk, das folgende Merkmale aufweist: (1) Motive und Situationen sind miteinander nicht nur temporal, sondern auch kausal verknüpft: die Erzählung entwickelt sich streng deterministisch; (2) durch die Erzählung wird ein Widerspruch zwischen der in der Erzählung dargestellten Situation und der Lebensnorm, zwischen dem Sujetleben und der normalen Biographie des Helden erzeugt; (3) die Erzählung entfaltet sich, indem sie von einer Situation zu einer anderen übergeht, wobei jede Situation durch den Widerspruch der Interessen charakterisiert wird, d. h. durch die Kollision und den Kampf zwischen den Figuren oder zwischen ihnen und den äußeren Hindernissen; (4) die Sujethandlung endet mit einer Auflösung, d. h. mit der Auflösung der wichtigsten Widersprüche, die der Handlung des Werkes zugrunde liegen“ (Lelevi! 1926, 38). Als Fehler erklärt Lelevi!, dass Aseev „das Kriterium der sujethaften Literatur zum Kriterium der schönen Literatur schlechthin macht und somit in ein Fetischisieren des Sujets verfällt“ (36). Diese Feststellung wiederholt Lelevi! am Schluss seines Aufsatzes, nachdem er seine Definition des „sujethaften Werkes“ gegeben hat: „Man soll nicht, wie Aseev, denken, dass Werke, die keine Merkmale der Sujethaftigkeit aufweisen, nicht zur schönen Literatur gehören. Aber die Werke, die die oben aufgelisteten Merkmale nicht aufweisen, sind keine sujethaften Werke“ (38). In den späten 1920er Jahren wendet sich Aseev von seiner früheren Forderung der Sujethaftigkeit ab. Laut dem vom ihm verfassten Programm der LEF-Gruppe sollen klassische Erzählgattungen, die sich überlebt haben und zu einem Faktor der literarischen Stagnation geworden sind, vor neuen literarischen Formen zurücktreten: „Die LEF verlegt den Schwerpunkt ihrer literarischen Arbeit auf das Tagebuch, die Reportage, das Interview, das Feuilleton und weitere ,niedere‘ Formen der Zeitungsarbeit; die LEF betrachtet die letztere als diejenige Form der literarischen Arbeit, die unserer Zeit am besten entspricht“ (Aseev 1928).
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Anmerkungen I
Vgl. eine ähnliche Feststellung am Anfang von B. !jchenbaums* Artikel Über Chateaubriand, klingende Münze und russische Literatur: „Plötzlich (wie alles Gesetzmäßige geschieht) ist es so gekommen, dass Russland zu einem Land der Übersetzungen geworden ist. Dies fing bereits 1918 an. Die russische Literatur machte der „Weltliteratur“ Platz. Alle russischen Schriftsteller wurden plötzlich zu Übersetzern oder Redakteuren von Übersetzungen. […] Seitdem geht das so fort. Jetzt muss ein russischer Schriftsteller, will er, dass man ihn liest, sich ein ausländisches Pseudonym erfinden und seinen Roman als ,Übersetzung‘ bezeichnen“ (1924b, 366). Über die gegen Mitte der 1920er Jahre ansteigende Welle der „pseudo-ausländischen“ Romane vgl. Aseevs Fußnote 1. II Mit seiner pejorativen Bewertung der stilistischen Experimente bei den Prosaschriftstellern der russischen Moderne schließt sich Aseev einerseits den Kritikern der RAPP* an: Nicht von ungefähr greift Lelevi"* diese These Aseevs auf und steigert sie noch: „Die unbestreitbare Vorherrschaft der so genannten ornamentalen Prosa in den letzten Jahrzehnten, die ein charakteristisches Merkmal der Dekadenz ist, führte tatsächlich dazu, dass der Aufbau des Sujets auf dem Altar der sprachlichen Verschnörkelungen feierlich geopfert wurde“ (Lelevi" 1926, 34). Andererseits erkannten auch die Formalisten die Tatsache an, dass der sowjetische Leser nach einem „Sujet“ verlangt und daher die übersetzte westliche Literatur der russischen vorzieht. Vgl. dazu !jchenbaum: „Der Leser ist kein Literaturhistoriker. […] er braucht in den Mußestunden ein spannendes Buch bei der Hand. Er verlangt ein fertiges, bearbeitetes Produkt; der Rohstoff ist nur für die Professionellen interessant. Wenn man ihm auf seine Klagen antwortet, die russische Literatur suche jetzt nach neuen Wegen, sie gestalte sich neu […], wird er wohl zustimmend nicken, aber er wird sie nicht lesen: mag sie suchen und sich neu gestalten – er wartet lieber ab“ (1925, 166). III Wie aus Aseevs weiteren Ausführungen folgt, benutzt er die Bezeichnung „Fabelmaterial“ (fabul’nyj material) anders, als es vor allem bei #klovskij* der Fall ist. Bei #klovskij impliziert dieser Terminus die Vorstellung, die Fabel sei nur rohes Material für die durch das Sujet in Erfüllung tretende künstlerische Gestaltung. Vgl.: „Den Begriff Sujet verwechselt man allzu häufig mit der Beschreibung der Geschehnisse, also mit dem, wofür ich den Begriff Fabel vorschlage. In Wirklichkeit ist die Fabel nur Material für die Formung durch das Sujet“ (#klovskij 1921c; dt. s.o. S. 34). In diesem Sinne – Fabel als Material für das Sujet – spricht von „Fabelmaterial“ auch Toma$evskij* (1925), dessen Definition des Sujets mit der #klovskijs im Übrigen nicht völlig identisch ist (vgl. Schmid 2003a, 146–149; 2005b, 242–245). Bei Aseev bedeutet derselbe Ausdruck eher „Material für die Fabel“, das „Faktenmaterial“, das durch die Fabel geordnet wird. Dabei betrachtet er die „Fabel“ nicht primär aus einer erzähltheoretischen Perspektive (d. h. als eine narrative Ebene), sondern von einem ideolo-
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gischen Standpunkt aus: die Fabel ist das „Hauptthema“ des jeweiligen Schriftstellers. IV Indem Aseev das Sujet nicht als „ein stilistisches Ornament […] und auch nicht […] [als] das Konstruieren der Teile des Werks in einer bestimmten Ordnung“ verstehen will, rückt er von einer allgemeineren Deutung des Sujets als „Transformationssystem des Fabelmaterials“ (Hansen-Löve 1978, 253) ab, wie sie vor allem bei !klovskij in seinem Tristram Shandy-Aufsatz vorgenommen wurde (vgl. !klovskij 1921c). Diese Definition des Sujets im weiteren Sinne bleibt auch in !klovskijs Aufsätzen der späten 20er Jahre erhalten: „Das Sujet ist ein Phänomen des Stils, der kompositionelle Aufbau des Werks“ (!klovskij 1928, 220) (Vgl. Anm. XXXII in diesem Band auf S. 46). V Vgl. Lev Lunc’ Vorwürfe an die Adresse der zeitgenössischen russischen Literatur: „Für nichtige Boulevardpresse, für einen Kinderspaß hielten wir das, was im Westen als klassisch gilt: die Fabel! Die Fähigkeit, mit einer verwickelten Intrige umzugehen, ihre Knoten zu schürzen und zu lösen, ihre Fäden zu verflechten und zu entwirren, ist dort durch langjährige mühselige Arbeit errungen, durch eine überlieferte prächtige Kultur geschaffen worden. Wir Russen verstehen es nicht, mit der Fabel umzugehen, wir kennen die Fabel nicht, deshalb verachten wir die Fabel“ (Lunc 1923, 260–261). VI Vgl. mit der in mehreren formalistischen Arbeiten vertretenen These, der „Held“ sei bloß ein Verfahren, dessen konstruktive Funktion in der Verknüpfung der Motive bestehe (vgl. !klovskij 1920). VII Begriff auch im Original deutsch mit anschließender russischer Übersetzung in Klammern. Der Etablierung des deutschen Terminus „Vorgeschichte“ in der russischen Literaturwissenschaft wird z. B. in Toma"evskijs Theorie der Literatur Rechnung getragen: „Die zusammenhängende Darlegung eines bedeutenden Teils von Ereignissen, die den Ereignissen, mit denen diese Darlegung begann, vorangingen, wird als Vorgeschichte [im Orig. dt.] bezeichnet“ (Toma"evskij 1925, dt. 1985, 223). Die Gleichsetzung der Begriffe „Vorgeschichte“ und „Biographie“ findet sich auch in #jchenbaums Abhandlung O. Henry und die Theorie der Novelle; wie Aseev betrachtet dort auch #jchenbaum die „Biographie“ als „ein statisches Moment“, das durch die Dynamik der erzählten Ereignisse aufgehoben wird (#jchenbaum 1925, 196). VIII Die Assoziation mit dem viel später von Günther Müller erarbeiteten Begriffspaar „Erzählzeit“ vs. „erzählte Zeit“ wäre in diesem Fall irreführend. Obwohl gewisse Annäherungen an die genannte Dichotomie bereits in der für Aseev zeitgenössischen deutschen Literaturwissenschaft ihre Wirkung zeigen, nämlich bei Ernst Hirt, der zwischen „Handlungszeit“ und „Erzählezeit“ (sic!) unterscheidet (Hirt 1923, 27–31), scheint Aseev gerade für diese Unterscheidung kein Interesse zu haben. Weiter oben setzt er die Romanzeit (romannoe vremja), die er als Zeit der dargestellten Ereignisse versteht, mit dem „Intervall von der ersten bis zur letzten Seite des Werks“ gleich; dieses „Intervall“ entspräche allerdings in der
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Müllerschen Terminologie gerade der „Erzählzeit“. Aseevs Versuch geht hier wahrscheinlich in die gleiche Richtung wie die Hinwendung der Formalisten „zur Eigengesetzlichkeit der komplexen Sujetzeit, die in ihrer konstruktiven uslovnost’ sowohl die reale Leser- bzw. Rezeptionszeit als auch die illusionäre Fabelzeit verfremdet“ (Hansen-Löve 1978, 251).
4. Michail Petrovskij: Die Morphologie von Pu!kins Erzählung „Der Schuss“ (Übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller)
[173] Die Theorie der Komposition geht vom Begriff der Form aus. Der Begriff der Form ist dem Begriff der Materie (Stoff1) gegenübergestellt. Indem sie auf die Materie einwirkt, sie gestaltet (ihr eine Gestalt gibt), gebiert die Form das Kunstwerk in seinem ganzen, in seinem künstlerischen Gehalt. Den Gehalt eines Kunstwerks nenne ich daher das Ergebnis der Wechselwirkung zweier Grundelemente: eines materialen, objektiven und passiven – der Materie – und eines geistigen, subjektiven und aktiven (formenden, gestaltenden) Grundelements – der Form. Die Passivität der Materie bestimmt ihren chaotischen Charakter. Die Einwirkung des formenden Grundelements, d. h. der Form, auf dieses Chaos ist ein organisierender Prozess. In der Kosmogonie wird das Ergebnis dieses Prozesses Kosmos genannt, in der Biologie Organismus; in der Poetik ist das Ergebnis das literarische Produkt, das ganzheitliche literarische Werk I, als dessen Synonym man den Terminus „künstlerischer Gehalt“ gebrauchen kann, sofern man darunter die von der Form organisierte Materie versteht. [174] Wenn es prinzipiell Zweifel hervorruft, ob es möglich ist, die Materie als solche und an und für sich zu untersuchen; wenn das künstlerische Ganze als solches, der künstlerische Gehalt in seiner Ganzheit ebensolchen prinzipiellen Erwägungen gemäß vielleicht nichts mehr zu untersuchen übrig lässt (denn: die Materie ist Gegenstand des ästhetischen Schaffens und der künstlerische Gehalt Gegenstand der ästhetischen Wahrnehmung), dann beinhaltet die Poetik als Wissenschaft von der Literatur das Studium gerade der Form: Die Form nämlich ist Gegenstand des ästhetischen Wissens.II 1
Im Original deutsch [Anm. d. Übers.].
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Die Hauptmethoden zur Untersuchung der literarischen Form sind: 1. die unmittelbare, immanente Analyse des Gehalts im Sinne des literarischen Werks III; 2. die Analyse des Gehalts in seiner Entstehung als Ergebnis des Schaffensprozesses. Die erste Methode kann man als morphologisch, die zweite als morphogenetisch bezeichnen. Die Materie des literarischen Schaffens zeichnet sich dadurch aus, dass sie dem Dichter immer schon auf mehr oder weniger geformte Art und Weise vorausgeht. Jedes Wort ist bereits geformte, organisierte Materie, um so mehr jedes Thema, jedes SujetIV usw., d. h. alles, was auf den inneren Bestand eines literarischen Werks bezogen ist. Ich gehe in der vorliegenden Arbeit vorzugsweise auf diese innere Seite von Pu!kins Erzählung, auf ihre innere Morphologie ein. [175] Vor allem besteht diese vorliterarische elementare Ausformung in der zeitlichen Abfolge, in der die Materie des literarischen Schaffens (sagen wir, das Erzählsujet) angelegt ist, denn die Literatur ist eine Kunst, die sich vorwiegend durch das Element der Zeit bestimmt. Die räumliche Differenzierung der Materie, sofern man von ihr hier reden kann, muss man auf ganz ähnliche Weise als vorliterarische Ausformung betrachten. Eingebunden in die literarische Materie, in das Sujet selbst, geht schließlich auch die dritte Kategorie – die Kausalität bzw. die kausale Verknüpfung der einzelnen Phänomene – als formendes Grundelement gewöhnlich dem literarischen Akt voraus. Doch überall können hier verschiedene Grade vorliterarischer Organisation der Materie vorliegen. Und in diesem Sinne kann die Materie eines literarischen Werks ebenfalls Gegenstand der Untersuchung sein. Darunter fällt vor allem die Geschichte der Werkentstehung, die von jenen Elementen handelt, bei denen die schöpferische Arbeit des Dichters beginnt. Aber außer der Werkgenese, die sich in der überwältigenden Mehrheit der Fälle keiner erschöpfenden Untersuchung unterziehen lässt, können wir allein mit der morphologischen Analysemethode des literarischen Gehalts die Materie des literarischen Werks gewinnen (abstrahieren) und darüber hinaus aus ihrer Gegenüberstellung mit dem literarischen Ganzen jene formalen Grundelemente (resp. „Verfahren“) feststellen, die einen gegebenen literarischen Organismus bilden.
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Am Beispiel von Pu!kins Erzählung Der Schuss [Vystrel] versuche ich nun, einige elementare, aber [176] für die Architektonik der kurzen Erzählung (Novelle) charakteristische Erzählverfahren herauszuarbeiten. *** Machen wir zunächst eine sehr allgemeine Beobachtung über den Bau der Erzählung von außen. Der Schuss ist eine Erzählung über ein einzelnes Abenteuer bzw. über ein nach seinem Bestand komplexes, aber einzelnes Ereignis und bildet doch zugleich ein Ganzes in zwei Hauptteilen: Der Schuss ist auch äußerlich in zwei Kapitel geteilt. Die innere Grenze zwischen den zwei Teilen stellt eine Unterbrechung im Ereignisfluss dar, sozusagen die narrative Hauptzäsur. Im Schuss wird diese Unterbrechung direkt mit den Worten „Einige Jahre vergingen“ ausgedrückt.V Eine solche Teilung des Erzählens in zwei Teile erzeugt eine zweigliedrige Symmetrie in der Anordnung der Materie (des Sujets). Dieser Art ist die erste Besonderheit, die schon bei der Betrachtung des uns vorliegenden literarischen Gegenstandes von außen ins Auge fällt. Konzentrieren wir uns jetzt auf den Bau der Erzählung im Inneren jedes der Hauptteile. Das erste Kapitel des Schusses ist auf folgende Art und Weise aufgebaut: Es beginnt mit einer beschreibenden Einleitung (einer deskriptiven Introduktion), die die alltägliche Umgebung und das Milieu vorstellt (exponiert) (1. Absatz), und daraufhin die handelnde Hauptperson, den Helden (Sil’vio) in seiner Charakterisierung, die ihn aus dem ihn umgebenden Milieu heraushebt [177] (2. Absatz). Die beschreibenden Komponenten 2 der Darstellung bezeichnen wir mit dem Buchstaben D (Descriptio). Der charakteristische Zug der beschreibenden Komponenten überhaupt ist ihre statische Natur: Die Darstellung ist nicht in jedem Fall an einen bestimmten Moment angepasst, sie hat sich noch nicht in ihrer Bewegung von Moment zu Moment konkretisiert, sie wurde noch nicht in Bewegung gesetzt. Sobald diese Bewegung beginnt, gelangen wir in die Sphäre des Erzählens im eigentlichen Sinne, das wir mit dem Buchstaben N (Narratio) 2
Unter Komponenten, d. h. unter den Elementen der Komposition, verstehen wir solche Bestandteile des künstlerischen Ganzen, mit denen eine bestimmte formale Bedeutsamkeit oder eine künstlerische (literarische) Funktion verbunden ist.
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bezeichnen. N beginnt im Schuss ab dem dritten Absatz, dessen erster Satz bereits auf das zeitliche Moment wie auf einen Ausgangspunkt hinweist, an den die erzählerische Darstellung geknüpft ist: „Eines Tages speisten ungefähr zehn unserer Offiziere bei Silvio zu Mittag“. Indem es sich von Moment zu Moment bewegt, zerfällt das Erzählen in Teile, die, obwohl zusammengehörend und miteinander verbunden, zugleich mehr oder minder isoliert voneinander sind, indem sie Episoden eines komplexen Hauptereignisses bilden, von dem die Erzählung handelt. Die erste Episode, mit der die Erzählung anfängt, wird mit dem letzten Satz des zweiten Absatzes eingeführt, der die Isolierung bzw. Hervorhebung dieser Episode unterstreicht: [178] „Eine unvorhergesehene Begebenheit setzte uns alle in äußerstes Erstaunen“. „Die unvorhergesehene Begebenheit“ ist der Streit zwischen Sil’vio und einem der Offiziere, der nicht in einem Duell endet; sie bildet die erste Episode, das erste Glied der Narration. (Sie wird im 3., 4., 5. und 6. Absatz geschildert.) Ab dem siebten Absatz löst sich die Schilderung wieder in einer verallgemeinerten Form auf und konzentriert sich dabei nochmals auf die Beschreibung und Charakterisierung des Helden. Sie wird durch neue Züge bereichert und erscheint als Ergebnis jener die erste Episode ausmachenden unvorhergesehenen Begebenheit in einem neuem Licht. Doch wird nicht nur die Beschreibung des Helden wieder aufgenommen, sondern auch die Beschreibung der Alltagsumstände, die in neuen Zügen geschildert werden (Regimentskanzlei: Anfang des achten Absatzes). Wenn indes im ersten Fall die D des Helden direkt zur ersten Episode überleitete, so schließt jetzt die neue D des Helden gleichsam die erste Episode ab, erscheint als ihr Resultat, während die D der Alltagsumstände (Regimentskanzlei) direkt in die zweite Episode der Erzählung einführt. (Die Verbindung dieses Teils D der Alltagsumstände mit der Wiederaufnahme der N wird äußerlich dadurch unterstrichen, dass sie ab der Mitte des achten Absatzes wieder aufgenommen wird.) Der Anfang der Bewegung (das Ausgangsmoment) dieser neuen, zweiten Episode wird durch dieselbe Wendung „eines Tages“ ausgedrückt. „Eines Tages erhielt er eine Sendung, deren Siegel er mit dem Ausdruck größter Ungeduld erbrach“. Diese zweite Episode füllt den ganzen restlichen Teil des ersten Kapitels aus. Mit ihr bricht es ab, und wir erfahren nichts mehr über den Alltag und das Milieu, in dem die ersten Episoden des ersten Kapitels geschildert werden. Im Unterschied [179] zur ersten Episode schließt die zweite Episode eine Erzählung aus der Sicht des Helden Sil’vio über ein Ereignis (Abenteuer) aus seiner Vergangenheit ein. (Absätze 18–21). Bezeichnen
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wir die Episoden N, die an die Gegenwart der Erzählung geknüpft sind, mit dem Zeichen n1 und die Episode, die von Sil’vio erzählt wird, mit n2. Das Schema, das wir damit erhalten, lässt sich folgendermaßen formalisieren: Erstes Kapitel D d1 – d2
N n1
D d2 – d1
N n1 – n2 – n1
Gehen wir zum zweiten Kapitel über. Dieses fängt ebenfalls mit einer Beschreibung an, und zwar mit einer Schilderung der neuen Umgebung, in der sich der ErzählerVI inzwischen befindet (erster, zweiter und dritter Absatz) (d3). Das Anfangsmoment von N fällt auf das Ende des dritten Absatzes: „(ich) begab mich am ersten Sonntag nach ihrer Ankunft nachmittags in das Dorf ***, um Seiner Erlaucht meine Aufwartung zu machen“ usw. Doch gibt es hier keine scharfe Grenze zwischen D und N, denn schon innerhalb von D lässt sich eine allmähliche Konkretisierung der zeitlichen Abfolge beobachten, – eine Anknüpfung des Erzählens an fixierte Momente der Zeit: Zweiter Absatz – „im zweiten Frühjahr meines Einsiedlerlebens“, und dann: „sie trafen Anfang Juni ein“. Auf ganz ähnliche Weise schließt auch das Erzählen (N), das genau mit dem Ende des dritten Absatzes anfängt und den ganzen weiteren Fluss der Erzählung bis zum dritten Satz des letzten Absatzes ausmacht [180], einen beschreibenden Teil ein, der eine Beschreibung des gräflichen Arbeitszimmers und eine Charakterisierung des Grafen und der Gräfin enthält. Da der Graf im ersten Kapitel eine ebenso zentrale Person ist wie Sil’vio im zweiten – d. h. eine Figur, auf die sich das größte Interesse konzentriert –, nennen wir ihn den zweiten Helden und bezeichnen all jene Komponenten, die auf den Grafen bezogen sind (Beschreibungen des gräflichen Arbeitszimmers und Charakterisierung des Grafen und der Gräfin), als Beschreibung des zweiten Helden (d4). Die Narration des zweiten Kapitels ist analog zu der zweiten Erzählkomponente des ersten Kapitels gebaut und erstreckt sich zwischen einer Episode, die auf die Gegenwart der Erzählung bezogen ist, und einer anderen Episode, in der der Graf aus seinem vergangenen Leben erzählt. Bezeichnen wir die erste Episode als n3, die zweite Episode als n4 (n4 erstreckt sich über den fünften, sechsten und siebten Absatz und n3 über den
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vierten und die zwei ersten Sätze des achten sowie über den letzten Satz des sechsten Absatzes, der in Parenthese den Charakter einer Szenenanweisung zur Erzählung des Grafen hat). Schließlich enthalten die zwei Schlusssätze der gesamten Erzählung, die von Sil’vio als dem Helden der ganzen Erzählung sprechen und weder in D noch in N entfaltet werden, nur keimartige Elemente des einen wie des anderen. Bezeichnen wir sie mit Vorbehalt als (dn). Das Schema des zweiten Kapitels ist dann wie folgt: [181] Zweites Kapitel D d3
N d1 – n3 – n4 – n3
(dn)
Unser Überblick galt der Anordnung und Verteilung der Erzählkomponenten in der Reihenfolge, wie sie vom Erzähler präsentiert wird. Diese Reihenfolge fällt nicht mit der Reihenfolge der Momente des komplexen Geschehens zusammen, das das Sujet der Erzählung bildet, wie es in der Wirklichkeit abgelaufen ist (sofern man unter Wirklichkeit nicht die authentische, historische Realität des Geschehens versteht, das im Schuss dargestellt ist). Pu!kin hätte das Sujet sowohl aus dem wirklichen Leben als auch aus seiner Phantasie schöpfen können – diese Frage liegt außerhalb unserer Betrachtung. Doch woher auch immer Pu!kin das Sujet genommen hat, wir können von ihm sprechen als der Materie für die erzählerische Ausgestaltung, wir können es abstrahieren aus der gestalteten literarischen Präsentation, mit der wir konfrontiert sind, indem wir von der Inkongruenz der äußeren Reihenfolge der Komponenten der Erzählung und der inneren zeitlich-kausalen Ereignisreihe ausgehen, die das Sujet als Materie der Erzählung bildet. Nach einer Umstellung der N-Glieder in unserem Schema, die der Chronologie des Sujets entspricht bzw. seiner Disposition, wobei wir noch alle als für die Sujetbewegung weniger wesentlichen D-Glieder beiseite lassen, erhalten wir folgendes Schema: [182] Reihenfolge der Erzählung: n1 n1 n2 n1 | n3 n4 n3 Reihenfolge des Sujets: n2 n1 n4 n3 Wir sehen also, dass das Sujet seinen eigenen Bau hat – die Materie des literarischen Werks steht dem Dichter bereits in elementarer Weise geformt gegenüber, und diese elementare Geformtheit gestaltet der Dichter
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gemäß seinem künstlerischen Vorhaben um. Die Anlage der Erzählung ist bereits ein formales Moment und weist auf ein bestimmtes literarisches Verfahren der Bearbeitung der Materie hin. Doch ist Form in meiner Verwendungsweise dieses Wortes ein aktives Grundelement, und daher muss die Analyse eines jeden literarischen Verfahrens die Bestimmung seiner Zweckmäßigkeit oder Gerichtetheit einschließen, d. h. die Untersuchung der Teleologie des Verfahrens. Wenn ich jetzt zu einer solchen teleologischen Untersuchung der von uns festgestellten Konstruktion des Schusses übergehe, führe ich den auf die Komponenten der Erzählung anzuwendenden Terminus der Funktion ein, der die teleologische Bedeutsamkeit jeder Komponente kennzeichnet. Die teleologische Untersuchung führt uns von unserem statischen Schema der Konstruktion (gleichsam ihrer Anatomie) zum dynamischen Schema ihrer Komposition (gleichsam ihrer Physiologie) und konfrontiert uns mit dem literarischen Werk wie mit einer lebendigen Einheit, sozusagen dem literarischen Organismus. Die Begriffe der Konstruktion und Komposition werden überdies in einer Synthese vereinigt, die man am besten mit dem Terminus Organisation bezeichnet. [183] Der Begriff des einheitlichen organischen Ganzen setzt seine Geschlossenheit voraus. Im literarischen und besonders im narrativen Ganzen wird diese Geschlossenheit vor allem durch die Momente des Anfangs und Endes bestimmt. Der Begriff des organischen Ganzen als eines lebendigen Ganzen setzt eine innere dynamische Verbindung der Teile untereinander voraus. Die direkte Funktion der Anfangskomponente der Narration besteht darin, in die Erzählung einzuführen. Eine solche introduktive Funktion haben auch die Komponente d1, die die Alltagsumgebung des ersten Kapitels der Erzählung exponiert, und direkt anschließend die Komponente d2, die den Helden Sil’vio exponiert. Stellen wir nun diese Introduktion dem Moment des Endes der gesamten Erzählung (dn) gegenüber. Diese Komponente, die die Schlussfunktion (konklusive Funktion) innehat, ist im Hinblick auf die ganze Erzählung in ihrem Glied d („Ihren Helden habe ich nicht mehr gesehen“) an keine Umgebung geknüpft, sondern macht in ihrem Glied n eine Mitteilung über das vermutliche weitere Schicksal des Protagonisten Sil’vio. Es ist leicht zu sehen, wodurch diese zwei begrenzenden Komponenten der Erzählung zusammengehalten werden. Ihnen gemeinsam ist, erstens, die Person des Erzählers („ich“) und, zweitens, die Person des Helden. Von daher sollte Sil’vio von uns nicht so sehr als erster, sondern vielmehr als Hauptheld der Erzählung angesehen werden;
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entsprechend bezeichnen wir den Grafen als Nebenhelden und heben daneben auch die dritte Figur hervor – den Autor oder Erzähler: „ich“ (oder „Unteroffizier I. P. L.“). [184] Wichtigstes vereinigendes Element in der Konstruktion der gesamten Erzählung ist vor diesem Hintergrund nicht der Held, sondern der Erzähler. Er verschwindet nicht von der Bühne, und seiner Perspektive folgt die ganze Darstellung. Doch da ja das Sujet der Erzählung sein vereinigendes Element in der Person seines Helden Sil’vio hat, ist die gesamte Erzählung gewissermaßen auf zwei Ebenen aufgebaut: Der Erzähler erzählt von einem Ereignis aus seinem Leben (von seinen zwei bemerkenswerten Begegnungen), und dieses Ereignis, diese zwei Begegnungen schließen eine Binnenerzählung ein, die ihr organisierendes Zentrum in der Person des Helden Sil’vio hat. Dispositionell angeordnet, d. h. in chronologischer Reihenfolge, wirkt die erste Ebene der Erzählung auf die zweite Ebene in dem Sinne ein, dass sie die Umstellung der Glieder in der Ereigniskette der zweiten Ebene bedingt, deren Zentrum Sil’vio ist. Dies ist das gewöhnlichste, das natürlichste Verfahren der Umgestaltung der Sujetdisposition, die darin besteht, dass die Darstellung als ganze an die Perspektive (den Aspekt) einer Figur geknüpft ist, die jedoch nicht die Perspektive des Helden ist. Da er kein Teilnehmer, nicht einmal Augenzeuge des Sujets der Binnenerzählung ist, kommt der Erzähler mit ihm [nur] durch seine Begegnungen mit zwei ihrer Figuren (dem Haupt- und dem Nebenhelden) in Berührung. Jeder von ihnen dient auf diese Weise als Glied, das beide Ebenen der Erzählung verbindet. Doch da sich die zwei Hauptepisoden des Sujets in einer bestimmten chronologischen Reihenfolge mit den Episoden abwechseln, [185] in denen der Erzähler den Figuren begegnet, bedingt dies auch die chronologische Umstellung der entsprechenden Sujetmomente und ferner seine Zerschlagung in zwei Teile. Dadurch, dass jede der zwei Hauptepisoden des Sujets (erstes und zweites Duell Sil’vios mit dem Grafen) dem Erzähler entsprechend den Begegnungen aus der Sicht jedes seiner Teilnehmer mitgeteilt wird, sind diese beiden Episoden in selbständige narrative Ganzheiten geschlossen, die in direkter Rede wiedergegeben werden und daher beide Male an einen neuen Aspekt geknüpft sind: das erste Mal an den Sil’vios, das zweite Mal an den des Grafen.VII Sie bilden auf diese Weise zwei Binnenerzählungen. Jede von ihnen wird durch die Narration aus der Sicht des Erzählers der gesamten Erzählung umrahmt, und ihr Bau zerfällt dem gemäß in zwei
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geschlossene Kapitel, die je aus einer Umrahmung aus Sicht des Haupterzählers und einer Binnennovelle aus Sicht einer ihrer Figuren bestehen. Die Geschlossenheit jedes dieser zwei Kapitel muss überdies vor allem von festen Grenzen markiert werden – von den Momenten des Anfangs und Endes. Und so ist es auch. 1. Kapitel Der Anfang (die Introduktion) der ganzen Erzählung hat teilweise eine introduktive Funktion hinsichtlich des ersten Kapitels in dem Element, das wir als Beschreibung der Alltagsumstände (d1) bestimmt haben, aber auch natürlich als Beschreibung (Charakterisierung) Sil’vios (d2). Der Schluss des ersten Kapitels umfasst ein Nachwort [186] zu Sil’vios Erzählung, das keinen beschreibenden Charakter hat; doch obwohl es seinem Charakter nach narrativ ist, fördert es damit nicht nur deutlich seine konklusive Funktion (letzter Absatz des Kapitels) zu Tage, sondern auch die Verbindung mit der beschreibenden Introduktion – in den Worten, die uns zu der Einschätzung Sil’vios von Seiten des Erzählers zurückbringen (24. Absatz: „Ich hatte ihm zugehört, ohne mich zu rühren; seltsame, widersprechende Gefühle bewegten mich“). Es ist leicht zu sehen, dass dieser Schluss noch nicht vollständig ist, und er darf es auch gar nicht sein, denn sofern das erste Kapitel in das organische Ganze der gesamten Erzählung als Bestandteil eingeht, muss seine Geschlossenheit relativ und sein Schluss irgendwie mit dem zweiten Kapitel verbunden sein, sozusagen ohne Worte mitteilen, dass eine „Fortsetzung folgt“. Diese Funktion des Anspannens (Spannung3) des Interesses für das Folgende, die wir vom Schluss des ersten Kapitels erwarten, tritt bereits mit den letzten Worten von Sil’vios Erzählung deutlich zu Tage: „Jetzt ist meine Stunde gekommen …“, und die Wirkung dieser Funktion wird durch die Unbestimmtheit des Eindrucks von Sil’vios Erzählung auf den Zuhörer verstärkt: „Seltsame, widersprechende Gefühle bewegten mich.“ 2. Kapitel Die Beschreibung neuer Umstände, in die der Erzähler gelangt, und weiter die Beschreibung der Umgebung, in der der Nebenheld des Sujets (der
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Graf) erscheinen wird, und des Grafen selbst (d3-d4), bilden die Introduktion des zweiten Kapitels,. [187] Der Schluss der Introduktion („Der Graf verstummte“) vermischt sich mit der ganzen Erzählung (der ganze letzte Absatz) und erfordert keine besonderen Kommentare bis auf den, dass sich in ihm im Vergleich mit Sil’vio klar die Nebenrolle des Grafen in Bezug auf die ganze Erzählung ausdrückt. *** Kehren wir nun zu der Betrachtung der funktionalen Verbindung beschreibender und narrativer Komponenten innerhalb der Erzählung zurück, was uns ganz nah an die dynamische Struktur ihrer Komposition heranführt. Die Beschreibung der Alltagsumstände und des Milieus, mit dem die Erzählung beginnt, ist direkt mit Sil’vios Charakterisierung verbunden, und zwar durch seine Hervorhebung aus diesem Milieu. Ein grauer, blasser, mittelmäßiger Hintergrund („Das Leben eines Armeeoffiziers ist jedem bekannt“ usw.), und vor diesem Hintergrund hebt sich in scharfem Kontrast die Figur einer geheimnisvollen Persönlichkeit, eines Zivilen inmitten von Soldaten reliefartig ab, Sil’vio. („Etwas Geheimnisvolles haftete seinem Schicksal an“ usw.) Dieses Geheimnisvolle bildet in der Vielfalt seiner SymptomeVIII jene Aura, in der die Charakterisierung des Helden (d2) zum ersten Mal vorgestellt wird. Sie geht direkt in die Narration vom Streit und von dem nicht stattgefundenen Duell Sil’vios mit einem der Offiziere über, doch wenn diese Episode auch äußerlich alle Anzeichen einer narrativen Bewegung hat und sogar, wenn man so will, in eine dreigliedrige Novelle mit Introduktion (über den Charakter [188] des Spiels von Sil’vio), Schürzung (Streit) und Auflösung (entgegen der Erwartung nicht stattfindendes Duell) aufgeht, so tritt doch in der allgemeinen Ökonomie der gesamten Erzählung eine besondere Funktion dieser Komponente zu Tage. Diese ganze Episode entwickelt im Wesentlichen die Exposition von Sil’vio. Wir können häufig eine solche Art der Exposition beobachten: nach einer allgemeinen Charakterisierung wird ihre Exemplifikation anhand eines konkreten Falles gegeben. Allerdings exemplifiziert die hier erörterte Episode die zuvor bereits gegebene Charakterisierung Sil’vios nicht so sehr, als dass sie sie entwickelt, indem sie eine neue Stufe der Exposition von ihm bildet.
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Die erste Stufe dieser Exposition gibt den allgemeinen Hintergrund des Geheimnisvollen, das in der seltsamen Beziehung Sil’vios zu Duellen spezifiziert wird: „Untereinander sprachen wir oft von Zweikämpfen; Sil’vio … mischte sich nie in diese Gespräche ein. Auf die Frage, ob er sich schon einmal geschlagen habe, antwortete er trocken, dass dies der Fall gewesen sei, ließ sich aber auf keinerlei Einzelheiten ein, und es war zu spüren, dass ihm solche Fragen unangenehm waren. Wir nahmen an, dass irgendein unglückliches Opfer seiner schrecklichen Kunst auf seiner Seele lastete. Übrigens kam es uns überhaupt nicht in den Sinn, bei ihm etwas zu vermuten, das nach Ängstlichkeit ausgesehen hätte. Es gibt Menschen, deren Äußeres allein schon solchen Verdacht ausschließt. Eine unvorhergesehene Begebenheit setzte uns alle in äußerstes Erstaunen.“ Eben dieses „Erstaunen“ bildet die zweite Stufe von Sil’vios Exposition. Ich mache darauf aufmerksam, dass diese Exposition [189] aus der Sicht des Erzählers konstruiert ist und Sil’vios Charakterisierung folglich die ganze Zeit im subjektiven Lichte des Erzählers präsentiert wird; somit entspricht die Gradation dieser Charakterisierung den Schwankungen in der Beziehung des Erzählers zu Sil’vio. Und so ist die erste Episode der Erzählung dynamisch mit der ganzen Exposition Sil’vios verbunden; er wirkt in spezifischer Weise auf sie ein, treibt sie an, färbt sie ein: dass Sil’vio sich nicht duellierte, „sich mit einer oberflächlichen Erklärung zufrieden gab und sich aussöhnte“, „schadete ihm sehr in den Augen der jungen Leute … Allmählich jedoch fiel alles der Vergessenheit anheim, und Sil’vio erlangte seinen früheren Einfluss wieder.“ Aber: „nur ich vermochte mich ihm nicht mehr zu nähern“ usw. Auf diese Weise hat die erste Episode kompositionelle Bedeutung für die Charakterisierung, die den Helden exponiert, und ist damit eine neue Stufe oder gar ein Wendepunkt in dieser Charakterisierung. Die Charakterisierung, dargestellt aus der Perspektive des Erzählers („ich“), ändert sich drastisch nach der ersten Episode. Der unbewusste Verdacht, der Held könne ängstlich sein, den seine anfängliche Charakterisierung mit einigen ihrer Symptome geweckt hat, findet in dieser Episode gleichsam eine Bestätigung. Indem sie anderen Zügen Sil’vios gegenübergestellt wurden, hoben diese Symptome besonders die verdächtigte „geheimnisvolle Erzählung“ seiner Vergangenheit hervor. Die erste Episode verstärkt diesen Kontrast: Sil’vios Aura verblasst zeitweilig. Vgl. die graphische Darstellung der Komposition am Ende des Aufsatzes, wo der schraffierte Teil die Verdüsterung von Sil’vios Charakterisierung als Resultat der ersten Episode (n1) bezeichnet.
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In dieser Betrachtung ist dieser ganze erste Teil, wie man sieht, ebenfalls in ein dreigliedriges Ganzes eingefasst. Und äußerlich schließt er mit den Worten des siebten Absatzes: „Von dieser Zeit an sahen wir uns nur noch in Gegenwart anderer, und unsere früheren aufrichtigen Gespräche fanden ein Ende.“ Hier kommt eine Pause, und das ab dem achten Absatz wiederaufgenommene Erzählen benötigt eine eigene Introduktion, weil das Vorangegangene abgeschlossen ist. Der achte Absatz fängt mit einer solchen neuen Introduktion der Alltagsumstände (der Stabskanzlei) an. Dann folgt die zweite Episode, deren komplexer Bestand, der die Binnennovelle aus der Sicht Sil’vios einschließt, in unserem Schema die Konstruktion n1 – n2 – n1 bezeichnete. Eingeführt wird diese Episode wiederum mit einer Charakterisierung des Helden, doch schon in jenem verdüsterten Licht, das das Ergebnis der ersten Episode war. Diese zweite Episode hat ebenfalls eine bestimmte Wirkung auf die Beziehung des Erzählers zu Sil’vio; sie bildet die nächste Stufe im Verlauf der Charakterisierung Sil’vios. Aber wenn das Ergebnis der zweiten Episode auch nicht die völlige Rückkehr jener Aura ist, in der [191] Sil’vio in der Exposition am Anfang gezeichnet wurde, so verdichtet sich das Geheimnisvolle, das ihn umgibt, doch noch weiter. Indem sie in den Schluss der zweiten Episode und damit des ersten Kapitels eingehen, schlagen die versteckten Elemente der Deskription (D), die sich uns in den Worten des Erzählers offenbaren („seltsame, widersprechende Gefühle bewegten mich“), sozusagen eine innere Brücke zur nächsten Narration. Vgl. die graphische Darstellung der Komposition am Ende des Aufsatzes, wo die Pfeile die dynamische Gerichtetheit des ersten Kapitelschlusses hinsichtlich des Folgenden als Ergebnis der zweiten Episode bezeichnen (n1 – n2 – n1). Um uns jetzt nicht mit einer Detailanalyse des Baus dieser zweiten Episode in seiner ganzen Komplexität aufzuhalten – darüber später –, führen wir einige Grundzüge der Komposition des ersten Kapitels an. Im Wesentlichen stellt sie eine ausgedehnte und höchst komplexe Charakterisierung einer geheimnisvollen Persönlichkeit dar. Die Dynamik der Narration wird erreicht durch die Bewegung dieser sich von Stufe zu Stufe entwickelnden Charakterisierung in Richtung einer immer stärkeren Verdichtung des Geheimnisses. Die Aura wird durch eine Verdüsterung ersetzt; die Verdüsterung, die durch die Aufklärung ihrer Ursache zerstreut wurde, wird durch Dunkelheit und Unbestimmtheit ersetzt, die das
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Geheimnis von Sil’vios Persönlichkeit in einem Höchstmaß verdichtet. In diesem Moment höchster Spannung bricht das Kapitel ab. Es stellt [192] auf diese Weise gewissermaßen einen immer fester gezogenen Knoten dar. Seine Lösung enthält das zweite Kapitel. Die Komposition des zweiten Kapitels ist einfacher. Es besteht im Wesentlichen aus einer einzigen komplexen Episode (N = n3 + n4 + n3), die durch eine deskriptive Introduktion eingeführt wird. Der Bau ist analog zum ersten Kapitel, zieht aber dessen zwei Teile in einen zusammen, wobei die Deskription der deskriptiven Komponente des ersten Teils entspricht und die Narration der narrativen Komponente des zweiten Teils. Tatsächlich ist die deskriptive Komponente des zweiten Kapitels eine allgemeine Exposition der neuen Umgebung, in die der Erzähler mittlerweile gelangt ist. Diese Umgebung ist nicht weniger grau, eintönig und durchschnittlich als die Umgebung des ersten Kapitels, und vor diesem grauen Hintergrund hebt sich wieder besonders kontrastreich die Figur – jetzt schon nicht mehr des Haupt-, sondern des Nebenhelden des Sujets – des Grafen ab, in seinem Umfeld seine schöne Frau und das reiche Gut (synekdochisch gegeben in der Gestalt „des Arbeitszimmers, das mit allem möglichen Luxus ausgestattet ist“). Auf diese Weise ist die Funktion dieser ziemlich ausgedehnten Introduktion des zweiten Kapitels der Funktion der kurzen Introduktion des ersten Kapitels analog. Ihre größere Ausdehnung wird schon durch den Umstand bedingt, dass der Nebenheld, der mit dem Hintergrund kontrastiert, nicht direkt aus ihm heraus auftritt (wie im ersten Kapitel Sil’vio), sondern außerhalb von ihm steht. Denn Sil’vio ist ja im ersten Kapitel umgeben vom allgemeinen Leben in der Armee, und daher fließt die Exposition dieser Umgebung mit der Exposition Sil’vios zusammen. [193] Eine andere Besonderheit, die die narrative Komponente des zweiten Kapitels von der analogen narrativen Komponente des ersten Kapitels unterscheidet, besteht darin, dass der Graf keine geheimnisvolle Persönlichkeit ist; daher ist seine Exposition nicht nur deutlich weniger dynamisch als Sil’vios Exposition über die gesamte Strecke des ersten Kapitels, sondern auch überhaupt nicht hervorgehoben. Wenn die narrative Komponente auch mit einer bestimmten Bewegung auf die Charakterisierung des Grafen einwirkt (die Verstimmung des Grafen, als er sich an Sil’vio erinnert, die Erregung bei der eigenen Erzählung und weitere feine Nuancen dieser Art), so kommt diese Bewegung doch nicht vom Fleck und endet, sozusagen, in einer leeren, nichts sagenden Bemerkung: „Der Graf verstummte.“
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So laufen die in konstruktiver Hinsicht gleichartigen Rollen Sil’vios im ersten und des Grafen im zweiten Kapitel in kompositioneller (funktionaler) Hinsicht auseinander: Der Graf bleibt der Nebenheld der Narration und bildet nicht das organisierende Zentrum, das Sil’vio im ersten Kapitel war, in dem er die Dynamik der Komposition bestimmte und bedingte. Ein solches die Sujetkomposition organisierendes Zentrum ist Sil’vio auch im zweiten Kapitel; doch da er nicht auf der Bühne der Hauptnarration (der „gegenwärtigen“ Erzählung) erscheint, wirkt er nur indirekt, aus der Binnenerzählung heraus, auf die Komposition ein. Dies bedingt die schwächere (weniger gespannte) Dynamik der Komposition des zweiten Kapitels, das, wie schon bemerkt wurde, gedrängter und einfacher ist im Vergleich [194] mit dem ersten: Der Knoten ist nach und nach geschürzt worden, gelöst wird er aber sofort – durch die Erzählung des Grafen. *** Wenn wir uns nun den zwei Binnenerzählungen des Schusses (n2, n4) zuwenden, sehen wir, dass sie vollkommen analog gebaut sind: In das anfänglich gegebene Milieu mit dem Helden bricht ein neuer Held ein, was sich in einem Konflikt entlädt. n2: „Ich genoss ruhig (oder unruhig) meinen Ruhm, als ein junger Mann aus reicher und adliger Familie zu uns versetzt wurde“ usw.; n4: „Den ersten Monat, the honeymoon, verbrachte ich hier auf dem Dorf. Diesem Hause verdanke ich die schönsten Minuten meines Lebens und eine der schlimmsten Erinnerungen … man sagte mir, in meinem Arbeitszimmer sitze ein Mann, der zwar seinen Namen nicht nennen wolle, doch gesagt habe, er komme zu mir in einer bestimmten Angelegenheit“ usw. Solcherart sind die analogen Schürzungen beider Binnenerzählungen. Dass ihre Lösungen analog sind, ist auch ohne Zitate offensichtlich. Doch da sie ja beide als Teile eines großen organischen Ganzen zusammengehören (obwohl jeweils isoliert und in dreigliedrigem Bau in sich geschlossen), ist die Lösung der zweiten Erzählung zugleich die Lösung des Ganzen: Sil’vios Schuss in das Gemälde ist eben diese Lösung. Diese allgemeine Lösung ist isoliert von der Teil-Lösung der zweiten Erzählung: Die zweite Erzählung vollendet sich innerlich bereits in den Worten Sil’vios: „Ich bin zufrieden: Ich habe deine Bestürzung, deine Furchtsamkeit gesehen; ich habe dich gezwungen, auf mich zu schießen. Das genügt mir. Du wirst an [195] mich denken. Ich überlasse dich deinem Gewissen.“ Nach dieser Teil-Lösung folgt direkt die allgemeine Lösung, mit einem charakteristisch ausgedrückten Übergang: „Hier
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wollte er hinausgehen, doch blieb er in der Tür stehen, sah sich nach dem Bild um, das ich getroffen hatte, schoss nach ihm, fast ohne zu zielen, und verschwand“ usw. Sil’vios Pistole ist entladen und das Sujet zu Ende. Aber hier – oder fast hier – endet auch die gesamte Erzählung. Sil’vio verschwindet aus der Erzählung, und für den Erzähler gibt es nichts mehr zu erzählen. Rein formal gesehen, führt er die Endpunkte im Ende der Umrahmung zusammen: Vom Grafen wird lediglich gesagt: „Der Graf verstummte.“ Und über sich selbst: „Auf diese Weise erfuhr ich das Ende der Erzählung, deren Anfang mich einst so erstaunt hatte. Ihren Helden habe ich nicht mehr wieder gesehen.“ Allein über Sil’vio gibt es – jenseits des Erzählerwissens – eine inhaltsreichere Mitteilung: „Es wird erzählt, dass Sil’vio während des Aufstandes des Alexander Ypsilantis eine Abteilung Hetäristen angeführt habe und in der Schlacht bei Skuljani gefallen sei.“ Dieses epische „Nachwort“, diese epilogische Nachgeschichte4 Sil’vios, mit der die ganze Erzählung schließt, und die explizite Bezeichnung der Binnenerzählungen mit dem Terminus „Erzählung“IX und Sil’vios als „ihren Helden“, weisen darauf hin, dass auch aus der Perspektive Pu!kins das kompositionelle Übergewicht im Schuss nicht der Umrahmung zukommt, sondern der umrahmten zweiteiligen Novelle (bzw. Erzählung), die in der Verflechtung mit der umrahmenden Narration sorgfältig komponiert ist. [196] Zum Schluss würde ich gern die individuelle Besonderheit der Komposition des Schusses unterstreichen und das Genre zu bestimmen versuchen. In meinem Aufsatz über die maupassantsche Novelle (in: Na!ala 1, 1921) habe ich den Versuch gemacht, den Gebrauch zweier Termini in die Theorie der narrativen Komposition einzuführen: „Abenteuernovelle“ und „psychologische Novelle“. Der Schuss gehört sowohl dem einen als auch dem anderen Genre an. Sein Sujet besteht natürlich aus einem komplexen und außergewöhnlichen Geschehnis, einem Abenteuer (eine[r] sich ereignete[n], unerhörte[n] Begebenheit5, um mit den Worten Goethes aus seinen Gesprächen mit Eckermann zu sprechen); dieses Abenteuer wird in einer entwickelten und nuancierten psychologischen Motivierung der Episoden erzählt, aus denen es besteht. Doch das organische Zentrum der gesamten Erzählung ist nicht das psychologische 4 5
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Thema und auch nicht das „Abenteuer“ an und für sich, sondern die Persönlichkeit des Helden in ihrer geheimnisvollen Natur und ihrer sich über die ganze Zeit hin entwickelnden Charakterisierung. Daher schlage ich auch vor, das narrative Genre des Schusses als „Persönlichkeitsnovelle“ zu bezeichnen. Darauf kann man Entgegnungen erwarten, und ich könnte eine solche Entgegnung im Voraus in Boris !jchenbaums* Aufsatz Probleme der Poetik Pu!kins [Problemy po"tiki Pu#kina] (Sbornik Doma Literatorov: Pu#kin — Dostoevskij, Petrograd 1921) erblicken. !jchenbaum bestimmt die Erzählung Pu#kins allgemein als Sujetnovelle („komprimierte Sujetnovelle mit zunehmendem Gewicht auf der Lösung mit feinen Verfahren der Sujetfügung“). Diesbezüglich [197] halte ich es für nötig, einige Worte anzumerken. Ich fange mit den Termini an. Ich würde das Wort Sujet lieber im Sinne des Stoffs [materija] des Kunstwerks verwenden.X Das Sujet ist gewissermaßen das System der Ereignisse und Handlungen (oder ein einzelnes Ereignis, das einfach oder komplex sein kann), das dem Dichter in einer bestimmten Formung vorlag, die allerdings noch nicht das Resultat seiner eigenen, individuellen schöpferischen Arbeit ist. Das literarisch bearbeitete Sujet würde ich hingegen Fabel nennen. Bei !jchenbaum finde ich nur eine ungenaue Differenzierung dieser zwei Begriffe, obgleich er sie zweifellos einander gegenüberstellt. Auf Seite 90 versteht er unter einer Fabel ungefähr das, was wir als Sujet bezeichnen: „Mit einer einfachen Fabel kann man einen komplexen Sujetbau erhalten“, sagt er. „Der Schuss lässt sich in einer geraden Linie ausziehen – die Geschichte von Sil’vios Duell mit dem Grafen. Doch Pu#kin schafft“ noch mehr: „Die Besonderheit der Erzählung ist ihr Zugang, ihr Zugriff, ihre Einstellung auf die Sujetkonstruktion“. Dagegen lesen wir auf der nächsten Seite 91: „Im Sargmacher [Grobov#$ik] gründet das Spiel mit der Fabel auf einer falschen Bewegung: Die Lösung bringt uns zurück zu jenem Moment, mit dem die Fabel begonnen hat und löscht sie aus, indem sie die Erzählung in eine Parodie verwandelt. Die Parodierung des Sujetschemas ist auch im Stationsaufseher [Stancionnyj smotritel’] zu entdecken …“ – die Lösung fällt nicht mit der Geschichte des verlorenen Sohnes zusammen, deren Abbildung im Stationszimmer hängt …“ usw. D. h. hier werden von Anfang an beide Begriffe vermischt (in der Bestimmung [198] der Struktur des Sargmachers), und der Terminus „Sujet“ wird in demselben Sinn gebraucht wie bei uns, denn das „Sujetschema“
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des verlorenen Sohnes, wo es doch im Stationsaufseher parodiert wird, bezieht sich – klarerweise – auf die Kategorie der Materie (Stoff6) der Erzählung und nicht auf die Kategorie seines literarisch ausgeformten Inhalts. Aber übernehmen wir "jchenbaums erste Terminologie, da sie ja gerade in seiner Analyse des Schusses Anwendung findet, und klären die Frage ihrem Wesen nach. „Die Einstellung auf die Sujetkonstruktion“ im Schuss sieht "jchenbaum im Folgenden: „… Pu!kin schafft, erstens, den Erzähler, durch dessen Persönlichkeit der Zerfall der Novelle in zwei Momente und die Bremsung zwischen ihnen (Anfang des zweiten Kapitels) motiviert wird; zweitens wird die Novelle durch zwei weitere Erzähler bestimmt, durch Sil’vio und den Grafen. Dabei wird ein Moment des Unerwarteten eingeführt – die Bremsung führt plötzlich zur unterbrochenen Erzählung zurück. Sil’vios Charakter spielt eine sekundäre Rolle – nicht umsonst wird am Ende mit solcher Nachlässigkeit von seinem weiteren Schicksal gesprochen“ (90). Hier wird meines Erachtens eine in ihrer Knappheit scharfe und treffende Charakterisierung der Konstruktion und teilweise der Komposition des Schusses gegeben; ich schließe mich sogar der Schlussfolgerung über die „Einstellung auf die Sujetkonstruktion“ an, wenn man sie nur als Umgestaltung der „geraden Linie“ des Sujets von den zwei Duellen Sil’vios mit dem Grafen in die „gebrochene Linie“ der Fabel versteht, wie sie von Pu!kin komponiert [199] wurde. In diesem Sinn gibt es hier zweifellos ein „Spiel mit dem Sujet“, und man kann den Schuss durchaus als „Sujetnovelle“ bestimmen. Darauf könnte ich meine Schlussfolgerungen hinsichtlich des Unterschieds zwischen meiner Bestimmung des Genres der pu!kinschen Erzählung und derjenigen "jchenbaums beschränken, denn auf Grund einiger prinzipieller Erwägungen halte ich eine solche Genresystematik von literarischen Werken gemäß den Merkmalen ihres inneren Gehaltes immer für in gewissem Maße fragwürdig. Ein Gedicht in vierzehn Versen mit einem bestimmten System von Reimen wird immer ein Sonett sein, aber die Erzählung Der Schuss lässt sich zugleich als „Sujetnovelle“ (im #jchenbaumschen Sinn) wie als „Persönlichkeitsnovelle“ bestimmen, ganz zu schweigen davon, dass auch die Persönlichkeit an und für sich mit 6
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ihren Handlungen das Sujet organisieren kann, und dann würde die eine Bestimmung mit der anderen sich im Sinne einer Subsumption vermischen. Doch !jchenbaum unterstreicht die Sujethaftigkeit des Schusses absichtlich, indem er mit ihr jene organisierende Funktion verdeckt oder verringert, die Sil’vios Persönlichkeit für die Erzählung hat. Und eben dieser These !jchenbaums über die Zweitrangigkeit Sil’vios kann ich nicht zustimmen, und so halte ich es für angezeigt, noch einige weitere Überlegungen zu diesem Thema anzustellen. Unmittelbarer Grund für !jchenbaums Meinung ist für ihn jene „Nachlässigkeit“, mit der am Ende der Erzählung das weitere Los [200] von Sil’vio mitgeteilt wird. Doch mir fällt es schwer, die Gedrängtheit und Unbestimmtheit des Epilogs (Nachgeschichte7) des Schusses als „Nachlässigkeit“ zu deuten. Der Dichter ist mit einem bestimmten Sujet als Materie befasst, die ihm schon in bestimmter Ausformung bzw. in bestimmten Grenzen vorlag. Natürlich kann man sich einen Typ von ErzählerVerfasser (Erfinder) des Sujets vorstellen, und ein solcher Erfinder des Sujets könnte auch Pu"kin selbst sein. (Ich glaube sogar, dass er ein solcher als Autor des Schneesturms [Metel’] ist.) Das ist natürlich eine Frage der Morphogenetik. Doch auch wenn man den Schuss rein morphologisch analysiert, denke ich, gibt es keinen Grund, den Epilog (oder die Nachgeschichte8 Sil’vios) als nachlässiges Postskriptum über das weitere Schicksal des Helden anzusehen. Was wissen wir über die Vorgeschichte9 Sil’vios? Nichts. Was wissen wir über seine Nachgeschichte10? Fast nichts. Falls der Erzähler, wenn er sowohl um die Vor-, als auch um die Nachgeschichte11 wüsste, es nicht für nötig erachtete, sie mitzuteilen, so hätten wir nur in diesem Falle objektive Gründe, über die Zweitrangigkeit der Persönlichkeit Sil’vios für die Komposition der Erzählung zu sprechen. Für Sil’vio als die Erzählung organisierendes Grundelement aber ist es gerade wesentlich, dass er aus der Unbekanntheit kommt und in Unbekanntheit wieder verschwindet. Das nämlich gibt seiner ganzen Figur jene Färbung, jene Aura des Geheimnis7 8 9 10 11
Im Original deutsch [Anm. d. Übers.]. Im Original deutsch [Anm. d. Übers.]. Im Original deutsch [Anm. d. Übers.]. Im Original deutsch [Anm. d. Übers.]. Im Original deutsch [Anm. d. Übers.].
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vollen, die sie die ganze Erzählung hindurch umgibt. Die geheimnisvolle Persönlichkeit ist sozusagen der innere Dreh- und Angelpunkt der Novelle, und nicht umsonst – so paraphrasieren [201] wir "jchenbaum – wird am Ende der Erzählung das weitere Schicksal ihres Helden Sil’vio mitgeteilt. Wie wenig der Erzähler über dieses weitere Schicksal Sil’vios auch weiß, er baut den Epilog der Erzählung doch gerade auf dieser sogar nur vermuteten Nachgeschichte12 auf, denn Sil’vio, die geheimnisvolle Persönlichkeit, ist ihr Held und ihre zentrale Figur, die das Zentrum der ganzen Erzählung organisiert. So kann Der Schuss aus unserer Sicht nur dann als Sujetnovelle aufgefasst werden, wenn man unter dem Sujet ihr geheimnisvolles Phänomen – Sil’vio – versteht. Mit dieser Auffassung charakterisieren wir überdies vielleicht noch genauer den organischen Kern der Erzählung. Sil’vios Charakter spielt mithin keineswegs eine sekundäre Rolle: Die Entwicklung des Charakters erzeugt keine geringere Erzähldynamik als das „Abenteuer“ seines Duells mit dem Grafen. Dies habe ich in der Kompositionsanalyse der Erzählung zu zeigen versucht. Die Persönlichkeit Sil’vios und Sil’vios „Abenteuer“ sind unverbrüchlich miteinander verbunden, und mir scheint, wenn man schon abwägen will, was in der Novellenorganisation überwiegt, dann doch eher die Persönlichkeit das Abenteuer und nicht umgekehrt: Das Abenteuer dient der Vertiefung von Sil’vios Charakterisierung, aber sein Charakter nicht der Erklärung des Abenteuers. Das ist schon deshalb klar, weil das Abenteuer als Tatsache, als „Gegebenheit“ präsentiert wird, alles liegt auf der Hand; das Phänomen Sil’vio aber, das sich dynamisch im Lauf der Novelle entwickelt, bleibt bis zum Ende ungeklärt, und dieser Dunst des Unaufgelösten färbt die ganze Novelle ein und erzeugt ihren #$%&'. [202] Diese Genrecharakterisierung der pu!kinschen Novelle führt uns geradewegs auch zu jenen rätselhaften Symptomen, die bei einer anderen Interpretation sozusagen von der Feder des Künstlers zufällig hingeworfene Striche geblieben wären, vor allem zu den rätselhaften Worten Sil’vios an den Grafen: „Ich überlasse dich deinem Gewissen.“ Sie werden immer ein psychologisches Rätsel bleiben, aber darin liegt gerade ihre Funktion in der Novellenkomposition. Mit diesen Worten verschwindet Sil’vio von unserem Horizont, wie auch vom Horizont des Erzählers, so geheimnisvoll, wie er auch schon in diesen Horizont eingetreten war. Seine Charak12
Im Original deutsch [Anm. d. Übers.].
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terisierung entwickelte sich dynamisch im Lauf der Erzählung, sie wurde vom komplexen Abenteuer der Erzählung sozusagen befruchtet, aber die Hauptspannung des Geheimnisvollen wurde nicht gelöst, denn das war die Absicht des Dichters. Noch eine Antwort auf die von mir vorausgesehene Entgegnung. Im Titel der Novelle kann man natürlich nach einem Hinweis auf ihr organisches Zentrum suchen. Der Titel „Der Schuss“ scheint in diesem Fall auf ein „Abenteuer“ hinzuweisen. In Übereinstimmung damit sind auch die beiden Epigraphen zu verstehen. Doch scheint mir, es gibt in der Erzählung Pu!kins auch ein anderes Element, dessen Funktion gewissermaßen äquivalent zum Titel ist – nämlich der Name „Sil’vio“. Nicht umsonst ist dies der einzige Name in der ganzen Erzählung. Der Erzähler ist einfach „ich“, der Graf einfach Graf, sogar ohne Sternchen und ohne Initialen, einzig Sil’vio wird genannt (wenn auch nur unter VorbehaltXI). Und dieser Umstand hebt ihn natürlich in den Vordergrund des narrativen Bildes, das Pu!kin entworfen hat. Sicherlich handelt es sich um eine Geschichte über einen Schuss, aber eben auch über Sil’vio. Hinter dem äußeren Titel „Der Schuss“ steht der innere, verborgene Titel „Sil’vio“, wie hinter dem äußerlich klaren, offen entfalteten „Abenteuer“ des Schusses die Persönlichkeit des Helden der ganzen Erzählung als organisches Zentrum steht und geheimnisvoll durch sie hindurchschimmert – Sil’vio. P. S. Ich füge noch graphische Darstellungen (a) der Konstruktion und (b) der Komposition an: (a) D N D N d1 – d2 n1 d2 – d1 n1 – n2 – n1 D d3
N d1 – n3 – n4 – n3
(dn)
(b)
n1
I
n1 – n2 – n3
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I
n3 – n4 – n3
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C
Erläuterung: I C
(= Introductio): Eingangskomponenten der Erzählung. (= Conclusio): Schlusskomponente der Erzählung.
Die beiden vertikalen Linien markieren die Kapitelgrenze. Die Pfeile bei C zeigen an, dass das Geheimnis des Helden auch im Ergebnis von n 3 – n 4 – n 3 im zweiten Kapitel nicht endgültig geklärt und die Spannung auch nicht durch das Ende der gesamten Erzählung gelöst wird. Die anderen Symbole werden im Text erläutert. —————————
Bibliographische Notiz Originaltitel: Morfologija pu!kinskogo „Vystrela“. In: Problemy po!tiki. Sbornik statej pod redakciej V. Ja. Brjusova, Moskva/Leningrad 1925, S. 171–204.
————————— Kommentar Der Sammelband ist eines der letzten Projekte des symbolistischen Dichters Valerij Brjusov und vereinigt Texte Moskauer Literaturwissenschaftler (darunter Leonid Grossmans und der auch als Dichter hervorgetretenen Wissenschaftler Georgij "engeli und Jakov Zundelovi# sowie des vor allem als Volkskommissar für Volksaufklärung bekannten Anatolij Luna#arskij). Petrovskij beschreitet in seinem Text den Weg weiter, den er in seinem Maupassant-Aufsatz von 1921 eingeschlagen hat. Dort wie hier versucht er durch eine exemplarische Analyse einer kurzen Erzählung literarische Erzählverfahren namhaft zu machen. Darüber hinaus ist Petrovskij um eine stringente Handhabung seiner Terminologie und eine systematische Orientierung über ihren Status bemüht. Dies lässt sich etwa
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Michail Petrovskij
daran erkennen, dass er verschiedene Ebenen des Untersuchungsobjektes (Form, Materie und Gehalt in Bezug auf literarische Kunstwerke im allgemeinen und Konstruktion, Komposition in Bezug auf Erzählliteratur) und der Untersuchungsmethode (morphologisch, morphogenetisch) unterscheidet und aufeinander bezieht. Dabei kommt er zu Einsichten, die den späteren Überlegungen der strukturalistischen Narratologie ähneln. Ohne dass ein direkter Einfluss erkennbar wäre (da erst Lubomír Dole!el im Jahr 1973 wieder auf die in Vergessenheit geratenen Texte Petrovskijs aufmerksam gemacht hat), bestimmt Petrovskij wie später auch Genette und andere die Temporalität als konstitutives Moment des Narrativen und stellt ihm das Moment des Stativen, das Deskriptivität konstituiert, gegenüber (vgl. Schmid 2005b, 17 f.). Wie aus seiner Abhandlung ersichtlich, besteht jede Erzählung aus beiden Momenten. Im vorliegenden Aufsatz beschäftigt er sich vorwiegend mit der ‚inneren‘ Morphologie von Aleksandr Pu"kins Erzählung Der Schuss, d. h. der Ebene der histoire nach Genette. Dabei stellt er außerdem interessante Überlegungen darüber an, wie die Erlebnisse des Helden (Sil’vio) mit dem Leben des Erzählers verbunden sind und wie ihre Verflechtung die spezifische Komposition der Novelle bedingt. Petrovskij beschließt seine Abhandlung mit einer Polemik gegen Boris #jchenbaums* Interpretation der Novelle. Der Dissens zwischen den beiden formal arbeitenden Wissenschaftlern ist dabei nicht auf theoretischem Gebiet angesiedelt, sondern auf dem der Interpretation der Figur Sil’vios. Petrovskij möchte nachweisen, dass die Figur (und durch sie auch die Beziehung des Erzählers zu dieser Figur) Form und Handlung der Erzählung bedingt, während #jchenbaum umgekehrt die Figur Sil’vio dem Sujet unterordnet. Der Streit betrifft die Zuordnung der Novelle zu einer bestimmten Gattung (Abenteuer- oder Charakternovelle) und ist daher nicht geeignet, theoretische Unterschiede in ihren formalen Ansätzen zu begründen (für einen Vergleich der beiden Ansätze vgl. Aumüller 2008b).
————————— Anmerkungen I
Wörtl. „Gegebenheit“. Der Ausdruck „po$ti%nyj“ wird hier und im Weiteren als terminus technicus mit „literarisch“ wiedergegeben; er bedeutet so viel wie dichterisch oder literarisch-künstlerisch. Petrovskijs Stil ist von einer technischen Ausdrucksweise geprägt und verrät das Bemühen um eine philosophische Argumentation. Bereits in diesen ersten Zeilen wird deutlich, dass sein Ansatz anders ist als der der Leningrader Opojaz*-Formalisten. Petrovskij geht gewissermaßen deduktiv vor und versucht, seine Poetik theoretisch zu fundieren, während seine Leningrader Konkurrenten induktiv vorgehen und sich überwiegend mit Beobachtungen konkreter Beispiele begnügen. II Dieser Absatz ist im Original in seiner syntaktisch-grammatischen Struktur nicht klar. Die Intention dahinter ist aber die, dass Petrovskij den Untersuchungs-
Die Morphologie von Pu!kins „Der Schuss“
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bereich eingrenzt und Fragen nach der Produktion und Rezeption des dichterischen Kunstwerks aus der Poetik ausschließt. III Wenn oben die Form als Gegenstand der Poetik bestimmt wurde, wird hier die Analyse des Gehalts als Ausgangspunkt für die Formulierung der Poetik gesehen. Denn das literarische Werk bzw. die literarische „Gegebenheit“, wie es wiederum wörtlich heißt, ist für Petrovskij identisch mit dem Gehalt, der Synthese aus Form und Materie/Stoff. Das Ziel ist die Form (Poetik), der Weg dorthin aber führt über den Gehalt bzw. über das Werkganze, aus dem man die formalen Elemente mit Hilfe der morphologischen Methode isolieren muss. IV Unter „Sujet“ versteht Petrovskij das, was "klovskij „Fabel“ nennt (s. Anm. XII unten). V Die Wiedergabe der Zitate folgt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Übersetzung von Michael Pfeiffer, in: Alexander Puschkin: Meisterwerke. Berlin/Weimar 1986, S. 204–219. Außerhalb der Zitate wird der Eigenname in der wissenschaftlichen Transliteration („Sil’vio“) wiedergegeben. VI Petrovskij unterscheidet terminologisch nicht zwischen Autor und Erzähler. Er benutzt hier den Ausdruck avtor, der mit „Erzähler“ übersetzt wird. VII Wie aus dem vorigen Absatz hervorgeht, ist Petrovskijs Ausdruck aspekt ein Synonym für Perspektive. VIII Zu Petrovskijs Begriff des Symptoms vgl. Aumüller 2008b. IX Im Original povest’, das in der literarischen Übersetzung mit „Geschichte“ wiedergegeben wird. Der Ausdruck bezeichnet aber das literarische Erzeugnis, worauf Petrovskij hier auch hinweist. X Hier folgt eine umgekehrte Bestimmung der Fabel-Sujet-Dichotomie. Zu den feinen Unterschieden vgl. Schmid (2008a, 2008b). XI Petrovskij spielt hier auf die erste Nennung des Namens an, bei der der Erzähler zu erkennen gibt, dass er den Namen erfunden hat. In Parenthese heißt es nämlich nach der Namensnennung gleich einem Taufakt: „so will ich ihn nennen“.
5. Aleksandr Skaftymov: Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ (Auszug aus Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Galina Potapova) Willst du dich am Ganzen erquicken, So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.I Goethe
[131] Die grundlegende methodologische Überzeugung des Verfassers des vorliegenden Aufsatzes ist die Anerkennung des teleologischen Prinzips in der Formung des Kunstwerks.II Der Entstehung eines Kunstwerks geht eine Aufgabe voraus. Diese Aufgabe des Autors bestimmt alle Teile und Details seines Werkes. „Der Künstler beobachtet, wählt aus, errät, stellt zusammen – schon diese Handlungen setzen zu allererst eine Frage voraus.“1 Es gibt in einem Kunstwerk nichts Zufälliges, nichts, was nicht letztlich durch die teleologische Bestrebtheit des suchenden schöpferischen Geistes hervorgerufen worden wäre. Der Künstler wählt aus der Vielzahl von möglichen Formen, die ihm vorschweben, nur deshalb diese oder jene aus, weil er in ihnen eine Entsprechung zu dem erkannt hat, was er bereits unklar in sich trägt und dessen Verkörperung er sucht. Dies darf man natürlich nicht im Sinne eines primitiv auferlegten Tendenzcharakters des Schaffensprozesses verstehen. Es besteht keine Notwendigkeit, die schöpferische Idee in einer intellektuellen Instanz zu verorten und sie sich als eine logische Konzeption vorzustellen. Diese Aufgabe ist vielmehr jenes allgemeine psychische Durchdrungensein, welches der Künstler in seinem Inneren als Appell zum Schaffen empfunden hat. Der Künstler erinnert sich (natürlich nicht nur verstandesmäßig) und gibt sich diesem Durchdrungensein hin, solange sich der darin enthaltene Aufruf zum Schaffen in einer adäquaten ästhetisch-materialisierten Realität verwirklicht. In diesem Sinn werden alle Komponenten des Kunstwerks 1
A. P. !echov, Pis’ma [Briefe], Moskva 1912, T. 2, S. 196 [Brief an Aleksej Suvorin vom 27. Oktober 1888; Anm. d. Übers.].
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von dem emotional-psychischen Zustand bestimmt, dessentwegen und als Entsprechung zu dem sie vom Autor evoziert und gebilligt worden sind. Die Komponenten des Kunstwerks befinden sich in einer bestimmten hierarchischen Subordination zueinander: Einerseits ist eine jede [132] Komponente in ihrer Aufgabe einer anderen Komponente als Mittel untergeordnet, andererseits dient sie selbst einer weiteren als Ziel.III Die hierarchische Position gleichartiger Komponenten kann in unterschiedlichen Werken ganz verschieden sein. Das hängt von der ästhetischen Einstellung [ustanovka !steti"eskogo soznanija] des Autors ab. Theoretisch denkbar ist sowohl eine Situation, in der die Farben und das Licht eines Bildes seinem Sinngehalt untergeordnet sind, als auch die umgekehrte Situation, in der der ganze gegenständliche Gehalt in Hinblick auf die zum Selbstzweck gewordene Anordnung von Farben und Licht ausgewählt und kombiniert wird. Vor der Erforschung des inneren Gehalts [vnutrennij sostav]IV eines Kunstwerks sollte die Frage der Aufdeckung der inneren, immanent formenden Kräfte stehen.V Der Forscher deckt die wechselseitige Abhängigkeit einzelner Kompositionsteile des Werkes auf, dann bestimmt er die aufsteigenden Dominanten und unter diesen den letzten und abschließenden Punkt, der folglich auch die formgebende Grundintention des Autors darstellt.VI In der gegenwärtigen Zeit hat sich bei einer gewissen Gruppe von Wissenschaftlern eine Auffassung eingebürgert, die den Sinngehalt [smyslovoj sostav] der Dichtung unberücksichtigt lässt.2 Die kompositionelle Ausrichtung des Werkes wird hier vollständig auf rein formale Effekte zurückgeführt, denen der ganze Sinngehalt untergeordnet ist. Die aufrichtige Einmischung der Seele des AutorsVII wird aus der Analyse ausgeklammert; und der Wissenschaftler fühlt sich nicht berechtigt, in den Komponenten des Werkes etwas anderes als „ein bestimmtes künstlerisches Verfahren“ zu sehen.3 Das Verfahren ist für sie Selbstzweck, und hinter dem Verfahren stehen keine weiteren Kräfte des Formtriebs [formoustremlenie]VIII. 2 3
Die Gruppe des „OPOJAZ“*: Boris #jchenbaum*, Viktor $klovskij*, Roman Jakobson*, Osip Brik* u. a. B. #jchenbaum, Kak sdelana „$inel’“ [Wie Gogol’s ,Mantel‘ gemacht ist]. In: Poetika. Sbornik „OPOJAZ“, Petrograd 1919, S. 161. Vgl. B. #jchenbaum, Molodoj Tolstoj [Der junge Tolstoj], Petrograd 1922; B. #jchenbaum, Nekrasov. In: Na!ala, 1922, Nr. 2, S. 158–170.
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Eine derartige Auffassung scheint uns eine Übertreibung zu sein. Die organisierenden Dominanten können sich sowohl im Sinn als auch in der Form zeigen, und die formende Grundkraft kann zwischen dem gedanklich-psychologischen Sinn des Werkes und seiner formalen Struktur schwanken.IX Auf jeden Fall soll der Forscher kein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Sinngehalt und dem formalen Aufbau als eine Prämisse festlegen, sondern es als ein Problem begreifen, das erst im Prozess der Analyse aufgelöst werden kann. Das Prinzip der Zielgerichtetheit umfasst nicht nur die rein formale Komposition, sondern auch den Sinngehalt des Werkes. Was ist wem untergeordnet: die Form dem sinntragenden Thema oder das sinntragende Thema der formalen Aufgabe? Gibt es solche Aufgaben, die in formaler oder thematischer Hinsicht voneinander zu trennen sind? Wie verhalten sie sich [133] zum Ganzen? Alle diese Fragen der inneren Teleologie eines Kunstwerks können erst dann geklärt werden, wenn die Aufgabe aller es bildenden Komponenten aufgedeckt ist. Tritt man unter diesen methodologischen Voraussetzungen an Dostoevskijs Œuvre, um die inneren Gründe aufzudecken, um derentwillen er die jeweiligen Elemente der Komposition in seine Werke eingeführt hat (Sujet, Figuren, Szenen, Episoden, Gespräche, Autorrepliken usw.), entdeckt man eine erstaunliche Folgerichtigkeit und Kontinuität in der organisierenden Wirksamkeit der Aufgaben des Autors, die den Sinn und die Ideen betreffen. Die Figurenkonzeption, die Struktur der einzelnen Figuren und ihr Verhältnis zueinander, jede Szene, jede Episode, jedes Detail ihrer Interaktion in der Handlungsdynamik, jedes ihrer Worte und jede ihrer Handlungen, jede Einzelheit ihrer theoretischen Urteile und Gespräche – alles wird jedes Mal von neuem durch ein einheitliches, für den gesamten Text verbindliches gedanklich-psychologisches Thema des Autors bedingt. Der innere thematische Sinn dominiert ohne Einschränkung alle Bestandteile des Werkes. Mir wurde die völlige Unmöglichkeit klar, über formale Besonderheiten von Dostoevskijs Œuvre zu sprechen, ohne zunächst dessen thematische Motive zu entfalten. Alle Beobachtungen, die die Verfahren der Ausstattung und Situierung der Figuren und ihre Rollen in der Sujetentwicklung des ganzen Romans betreffen, hätten sonst nur den Status zufälliger, vereinzelter, in keiner Beziehung zueinander stehender Tatsachen, denen es an jeglicher inneren Bedingtheit fehlte. Im Hinblick auf die Aufgabe, das literarische Werk zu erfassen, ist die Konstatierung und Qualifizierung eines jeden Verfahrens nur dann von Wert, wenn die Bedeutung dieses
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Verfahrens in der gegebenen Anwendung und an der gegebenen Stelle aufgedeckt wird.4 Das war der Grund, weshalb ich – die wichtigste organisierende Kraft des Romans in seiner thematischen Idee erkennend – es für unvermeidbar und erforderlich gehalten habe, zuerst den Aufbau seiner thematischen Komposition zu entfalten.5 Die Literaturkritik und -wissenschaft beschäftigte sich schon immer mit der Thematik der literarischen Werke, und diese Aufgabe ist im Grunde genommen [134] nie überflüssig oder unnötig gewesen. Aber derartige Kritik hat sich dadurch kompromittiert, dass sie nicht mit ausreichender Genauigkeit und Strenge das literarische Werk selbst beachtete, sowie dadurch, dass ihr die gebührende Einstellung zum Wesen des künstlerischen Schaffens fehlte. Es wird hier z. B. der Inhalt eines literarischen Werks häufig als lebendige Realität behandelt, und man vergisst dabei, dass die Figuren dieses Werkes keine lebendigen Menschen, sondern lediglich die Vorstellungen des Autors von Menschen sind und dass die Maßstäbe der realen (d. h. außerhalb des Werkes stehenden) soziologischen, psychologischen und psychopathologischen Kategorien unvermit4
5
Vgl. V. !. Sezeman*, !steti"eskaja ocenka v istorii iskusstva [Die ästhetische Wertung in der Geschichte der Kunst]. In: Mysl’, 1922, Nr. 1, S. 129. [Ausgehend vom Konzept des Kunstwerks als eines teleologisch bestimmten Ganzen, betont Sezeman auf der angegeben Seite, dass die „formale Analyse der Kunstwerke“, die sich mit der „bloßen Konstatierung sämtlicher Strukturelemente der künstlerischen Komposition“ begnügt, „ohne sie einer Wertung zu unterziehen […] noch nicht eine stilistische Analyse im wahren Sinne des Wortes ist, d. h. eine Analyse der künstlerischen Form als solcher. […] Denn eine bloße Konstatierung und Aufzählung einzelner künstlerischer Verfahren und kompositioneller Elemente führt noch nicht zur Aufdeckung und Rechtfertigung ihrer künstlerischen Bedeutung, ihres ästhetischen Sinns“; Anm. d. Übers.] Auf Momente der thematischen Bedingtheit in der formalen Struktur des literarischen Werkes wurde von Prof. V. M. #irmunskij* hingewiesen. Siehe V. M. #irmunskij, Melodika sticha (po povodu kn. B. !jchenbauma) [Die Melodik des Verses (anlässlich des Buches von B. !jchenbaum)]. In: Mysl’, 1922, Nr. 3; V. M. #irmunskij, K voprosu o formal’nom metode [Vstupitel’naja stat’ja k kn.: Oskar Val’cel’ „Problemy formy v po$zii“. – Zur Frage der „formalen Methode“. Einleitung zum Buch Oskar Walzels „Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters“; Anm. d. Übers.], Petrograd 1923, S. 5–23. Vgl. auch A. A. Smirnov*, Puti i zada"i nauki o literature [Wege und Aufgaben der Literaturwissenschaft]. In: Literaturnaja mysl’, 2, 1923; Prof. P. N. Sakulin, K voprosu o postroenii po$tiki [Zur Frage nach den Grundlagen der Poetik]. In: Iskusstvo, 1, 1923, S. 79–93; L. Grossman, Metod i stil’ [Methode und Stil]. In: Liri!eskij krug, Bd. 1, Moskva 1922.
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telt nur auf den Autor (eine lebendige Person) angewandt werden können, auf keinen Fall aber auf die „handelnden Personen“ in seinen Romanen.X Darüber hinaus betreffen entsprechende Beobachtungen in der Regel nur das vom Kritiker ganz zufällig assoziierte und wahrgenommene Material, ohne Rücksicht auf die notwendige Vollständigkeit und ohne Bestimmung der Wechselbeziehung, in der das Material im Werk als einem Ganzen lebt. Der Kritiker reißt gewaltsam hier und da einige Zitate aus dem Kontext und ignoriert uneingeschränkt alles, was er nicht verstanden oder nicht wahrgenommen hat. Das führt oft zu erstaunlichen Entstellungen. Ohne das Werk als Ganzes zu begreifen, ist es nicht möglich, das Angesicht des Autors [lik avtora]XI auf richtige Weise von den Ideen und Urteilen zu trennen, mit denen er seine Figuren versehen hat; daraus resultieren irrtümliche Schlussfolgerungen bezüglich der Autorintention. Und was schließlich den Leser völlig verwirrt, das ist der Überfluss an Subjektivität, die dem Kritiker zur Last gelegt werden muss: Hierzu gehören willkürliche Erfindungen, die mit dem Text nicht in Verbindung stehen; außerdem Bewertungen der im jeweiligen Text behandelten Ideen und Gefühle, deren Kriterien dem Text nicht immanent sind; und letztlich – was allerdings am häufigsten vorkommt – gehören hierzu zufällige geschichtliche, psychologische oder mystische Exkurse „aus gegebenem Anlass“. Dies alles verdeckt und verdunkelt in hohem Maße die vereinzelt auftretenden, sich durch Talent auszeichnenden Leistungen, die der Erfassung der Autorintention dienen könnten und dies sogar häufig auch tun. Mir hingegen scheint das oben erwähnte teleologische Prinzip eine Stütze für eine objektive und methodisch durchdachte Deutung des im jeweiligen Werk enthaltenen thematischen Inhalts zu sein,6 die sowohl konkrete Beobachtungen als auch Schlussfolgerungen der Kommentatoren verifizierbar macht. 6
Ich halte es für möglich, über den Inhalt eines Werkes im thematischen, ideenbezogenen Sinne zu sprechen, ohne dadurch eine allgemeinere Auffassung des „Inhalts“ als gesamter emotionaler Ganzheit eines im Werk gestalteten Erlebnisses beiseite zu schieben (in diesem Sinn definiert den Inhalt A. A. Smirnov in seinem oben erwähnten Aufsatz, S. 103) [gemeint ist die folgende Stelle: „Unter dem Inhalt verstehen wir jenes Einzigartige und Ganze in unserem Erlebnis, das durch das Kunstwerk zum Ausdruck kommt und in keiner anderen Weise zum Ausdruck kommen kann“; Anm. d. Übers.]. Im jeweiligen Werk treten die beiden Aspekte des Inhalts untrennbar und in wechselseitiger Bedingtheit auf: Das Thema ruft die Emotionen hervor, oder die emotionale Erregung bringt ein Thema hervor; im Verschmelzen der beiden Momente besteht die Ganzheitlichkeit eines ästhetischen Erlebniswissens.
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[135] 1. Zum Ersten ergibt sich aus dem teleologischen Prinzip eine methodologisch begründete Fragestellung für die Forschung. Die Forschung, die auf die Feststellung des Wesentlichen an einem teleologisch aufbereiteten Objekt ausgerichtet ist, muss sich notwendigerweise zum Ziel setzen, dieses Objekt als eine Ganzheit zu erfassen, was sich in der Darstellung der Bezogenheit aller seiner Komponenten auf das gesamte koordinierende und subordinierende System des Ganzen äußert. Damit sei gleichzeitig vor der methodologischen Gefahr einer Verwechselung zweier unterschiedlicher Aufgaben der Erforschung eines künstlerischen Objekts gewarnt: der Aufgabe, die innere Zielgerichtetheit und die Koordiniertheit der Teile zu erfassen (die Untersuchung eines Werkes als solchen in seinem Inneren; seine Erfassung als eine Ganzheit, d. h. die „Phänomenologie des Schaffens“), und der Aufgabe, den psychologischen Prozess seiner Entstehung zu erklärenXII (die Untersuchung der Arbeit des Autors sowie sämtlicher Gründe, die die Geburt eines Werkes hervorrufen, d. h. die „Psychologie des Schaffens“).7 In unserem konkreten Fall soll diese Warnung, was die Verfahren und Mittel der Untersuchung angeht, zur Einschränkung und Beseitigung des Psychologismus führen. Solange es um die Erfassung des inneren Gehalts des Werkes geht, dürfen Fragen der Psychologie des Autors (individuelle psychische Eigenschaften der Person des Autors, Einflüsse, Angeeignetes, Abhängigkeit vom gesamten „Lebensgefühl“ der Epoche usw.) nur eine Hilfsfunktion haben. Dies bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch psychologisches, historisches oder wie auch immer geartetes anderes Material in der Analyse eine Rolle spielen kann. Gerade im Falle eines Werkes, das selbst mit Psychologie gesättigt ist, wäre es befremdlich, von der Beseitigung der Psychologie aus der Analyse zu sprechen. Psychologische, historische und weitere Elemente müssen – in dem Maße, in dem sie vom Autor selbst ins literarische Werk eingeführt worden sind (wie z. B. in die Charaktere der Figuren) – verstanden und berücksichtigt werden, aber ausschließlich als zu einer Ganzheit gehörendes Material und nicht als 7
Siehe dazu T. Rajnov, Vvedenie v fenomenologiju tvor!estva [Einführung in die Phänomenologie des Schaffens]. In: Voprosy teorii i psichologii tvor!estva, 5, 1914, S. 1– 103. Vgl. auch A. P. Skaftymov, O sootno"enii teoreti!eskogo i istori!eskogo znanija v istorii literatury [der genaue Titel lautet: K voprosu o sootno"enii teoreti!eskogo i istori!eskogo znanija v istorii literatury (Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte); Anm. d. Übers.]. In: U!enye zapiski Saratovskogo universiteta, 1, 1923, Nr. 3, S. 54–68.
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Selbstzweck der Untersuchung. Anders ausgedrückt, die in einem Werk in fragmentarischer Form enthaltenen Elemente der Psychologie, Geschichte, Soziologie u. ä. sollen für den Wissenschaftler nicht als solche von Interesse sein, sondern nur in ihrer teleologischen Zuspitzung, die sie in der Einheitlichkeit des Ganzen angenommen haben. Daraus geht eindeutig die Unzulässigkeit jeder Abwendung von der Gegebenheit des Textes selbst hervor. Der Begriff „Autor“ wird hier immanent abgeleitet und tritt nur als eine notwendigerweise für jede koordinierte Einheit vorauszusetzende Instanz auf. Um das psychologische Material dieser Einheit zu erkennen und zu verstehen, soll sich der Forschende natürlich unbedingt auch selbst mit allen psychischen Fähigkeiten seiner Persönlichkeit [136] ins Forschungsobjekt versenken (einleben, einfühlen), sonst können ästhetische und psychologische Tatsachen in seinem Bewusstsein nicht aktualisiert werden, und sie werden nur tote Zeichen bleiben.8 Doch ergibt sich der Forscher in diesem Fall ganz dem Künstler und wiederholt lediglich seine ästhetischen Erlebnisse. Sein Subjektivismus ist keine Willkür, er lässt sich lediglich durch das Gegebene anstecken und lebt schon in der Gefühlswelt eines Anderen. Allerdings muss der Forscher, um die Emotionen, falls sie zum Material des zu gestaltenden Ganzen gehören, zu erkennen, nach Möglichkeit mit gleicher Gemütstiefe und Gewissenhaftigkeit der unterschiedlichsten und entgegengesetzten Emotionen aller Figuren des Werkes innewerden und auf sie antworten. Hier ist eine völlige Lossagung vom eigenen realen Ich erforderlich, so wie dies bereits von Brunetière dargestellt wurde.9 Es darf keine bewertende Beziehung zu den Gefühlen und Ideen als solchen aufnehmen; seine Sache besteht nur darin zu erkennen, zu reflektieren und zu konstatieren, um letzten Endes die Rolle dieser Gefühle und Ideen in der teleologischen Konzeption des Ganzen begreifen zu können. 8
9
V. !. Sezeman, !steti"eskaja ocenka v istorii iskusstva [1922], S. 120 f.; A. A. Smirnov, Puti i zada"i nauki o literature [1923; eine sehr ähnliche Formulierung tritt auch in Skaftymovs Aufsatz Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte auf; Anm. d. Übers.]. F. Brunetière, Evolution des genres, Paris 1898, S. 225–227; vgl. dazu Brunetières Einwände gegen die impressionistische Kritik in seinem Aufsatz La critique impressioniste [in: F. Brunetière, Essais sur la litterature contemporaine, Paris 1892, S. 1–30]. Vgl. weiter A. M. Evlachov, Einführung in die Philosophie des künstlerischen Schaffens [Vvedenie v filosofiju chudo#estvennogo tvor"estva], Rostov-na-Donu 1917, t. 3, S. 481–488.
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2. Das teleologische Prinzip liefert auch das Kriterium für eine Interpretation. Wenn das Werk ein teleologisch organisiertes Ganzes darstellt, dann setzt es in seinen sämtlichen Bestandteilen eine bestimmte grundlegende Einstellung des schöpferischen Bewusstseins [ustanovka tvor!eskogo soznanija] voraus, und diese bewirkt, dass jede Komponente auf ihre eigene Art und Weise in einigen für sie vorherbestimmten Punkten die einheitliche Zielbestimmtheit des Ganzen tragen muss. Folglich müssen alle Komponenten ihren Bedeutungen gemäß in einem gemeinsamen abschließenden Punkt ihre funktionale Übereinstimmung haben. Daraus folgt auch das wichtigste Kriterium der Interpretation: eine einheitliche funktionale Kreuzung der teleologischen Bedeutungen aller Komponenten. 3. Daneben tritt selbstverständlich eine andere methodologische Forderung: die Vollständigkeit der Bestandsaufnahme aller das Werk konstituierenden Einheiten (das Figurenensemble in seinem vollen Umfang, Beschreibungen, Episoden, Szenen, Explikationen des Autors [avtorskie "ksplikacii]XIII usw.). Jede Ingredienz weist, indem sie der gesamten Ausgerichtetheit des Werkes dient, auf seinen zentralen Kern hin, ist an seiner Gestaltung mitbeteiligt und muss folglich in der Wechselbeziehung der textformenden Kräfte berücksichtigt werden. Werden andernfalls einige Ingredienzen übersehen oder weggelassen, wird dies gewiss zu einer Entstellung des ganzen Systems, zu einer irreführenden Verlagerung des wichtigsten Punktes führen, [137] in dem sämtliche Bauteile zu einer vollendenden Kreuzung zusammenlaufen.XIV Das thematische Spektrum der Analyse sollte das des Werkes nicht unterschreiten. Das literarische Werk beinhaltet viele Ideen, aber unter ihnen gibt es die eine, wichtigste, und diese schließt alle anderen nur deshalb ab, weil sie aus ihnen erwächst.10 10
Die These Potebnjas* von der „Mehrdeutigkeit des Bildes“ legitimiert keinesfalls die Unstimmigkeiten in der kritischen Beurteilung des jeweiligen Werkes, sie gibt nur eine kausale Erklärung ab, aus welchem Grund es so unähnliche Wahrnehmungen und Interpretationen gibt. In der Interpretationsgeschichte vorkommende Widersprüche als Norm zu setzen, scheint uns der Grundfehler der Nachfolger und Fortführer Potebnjas zu sein. Vgl. A. Gornfeld, O tolkovanii chudo#estvennogo proizvedenija [Über die Deutung des Kunstwerks]. In: Voprosy teorii i psichologii tvor!estva, Bd. 7, Char’kov 1916, S. 11–31; auch in: A. Gornfeld, Puti tvor!estva, Petrograd 1922, S. 95–153. [In diesem Aufsatz zeigt sich Gornfel’d kritisch hinsichtlich der Annahme „einer einheitlichen Bedeutung eines Kunstwerks, von seiner einheitlichen Idee“ (S. 99). Skaftymovs Vorwurf des interpretatorischen Relativismus trifft allerdings auf Gornfel’ds Position nur teilweise zu, weil die vom Letzteren im Anschluss an Potebnjas Sprachtheorie an-
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4. Wenn der Einzugsbereich der Analyse nicht geringer als der des Werkes selbst sein darf, so sollte er ihn aber auch nicht überschreiten. Nur das Werk kann für sich selbst sprechen. Der Prozess der Analyse und ihre Schlussfolgerungen müssen immanent aus dem Werk erwachsen. Jede Abschweifung, sei es in den Bereich der Entwürfe, der handschriftlichen Fassungen oder in den Bereich biographischer Daten, brächte die Gefahr mit sich, die qualitativen und quantitativen Verhältnisse zwischen den Ingredienzien des Werkes zu entstellen und zu verändern. Das wiederum hätte Auswirkungen auf die Klärung der Grundintention. Der Autor hat womöglich während des Entstehungsprozesses seine Absicht geändert, sowohl hinsichtlich einzelner Teile als auch hinsichtlich des Ganzen; eine Beurteilung aufgrund der Handschriften und Briefe wäre somit die Beurteilung dessen, wie das Werk hätte sein sollen oder können, nicht aber in seiner jetzigen Gestalt, in seiner endgültigen, vom Autor abgesegneten Form. Bei der Bestimmung der Komposition des Werkes (nicht seiner Genese) braucht man aber gerade nur diese.11 Um einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen, will ich hier anmerken, dass ich von dieser Art der theoretischen Arbeit am literarischen Werk keinesfalls eine adäquate, erschöpfende Vollständigkeit erwarte: Kein theoretisches Instrument kann die lebendige Fülle des literarischen Werkes vermitteln, sie ist ausschließlich der unmittelbaren lebendigen Anschauung des Betrachters zugänglich. Nicht von dieser „lebendigen“ Fülle war hier die Rede. Die Analyse kann im Endergebnis nur ein Schema des thematischen Aufbaus liefern, nicht aber seine Aktualisierung im lebendigen Erlebnis. Im literarischen Werk existiert das Thema als lebendige Konkretheit, als Erlebniswissen [znanie-pere!ivanie]; bei der rationalen Analyse müssen die gleichen Themen notgedrungen als abstraktes Wissen, als etwas theoretisch Vorstellbares, Spekulatives erscheinen; das eine wie das andere Wissen ist auf dasselbe Ziel gerichtet, dennoch können sie einander nicht adäquat sein. Aber eine solche Übersetzung [138] der lebendigen dichterischen Form in die abstrahierte logische
11
gekündigte „Gleichberechtigung unterschiedlicher Deutungen“ (S. 103) in demselben Aufsatz stark reduziert wird, und zwar durch das Kriterium der Plausibilität einer jeden vorgeschlagenen Deutung aus der Perspektive des „gesamten Antlitz des Dichters“ (S. 152), vgl. dazu auch unten Anm. XI; Anm. d. Übers.] Siehe dazu ausführlicher in unserem Aufsatz Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte [Skaftymov 1923].
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Sprache ist in jeder wissenschaftlichen Arbeit über ein künstlerisches Werk unvermeidlich.12 Die Analyse gewinnt Sinn und Bedeutung erst dadurch, dass sie die Ausrichtung der Anschauung und der dichterischen ,Ansteckung‘ aufzeigt und erfasst; auch wenn sich diese erst konkret vollzieht, kehrt man zur Aufnahme des Werkes in vivo zurück. Wenn ich von Vollständigkeit spreche, meine ich nur die Vollständigkeit der potentiellen thematischen Energie, die in ein Werk hineingelegt wurde und die vom Forscher selbstverständlich nur durch die Erkenntnis der ganzen Fülle von konkret erlebten formalen Faktoren aufgedeckt werden kann. In den Schlussfolgerungen der Analyse ist sie aber nicht als Erlebnis, sondern als theoretisches Schema vorhanden. Bei der analytischen Gliederung des zu untersuchenden Ganzen habe ich mich von denjenigen natürlichen Knotenpunkten leiten lassen, um die herum die thematischen Komplexe gruppiert sind, die das Ganze ausmachen, wobei diese Gruppierung selbstverständlich nicht zufälliger Art ist. Als tragende Kettenglieder des Ganzen erscheinen mir die Figuren des Romans. Die Binnengliederung der in sich einheitlichen Figuren habe ich entsprechend den Episoden vorgenommen, die im Roman am deutlichsten abgegrenzt und hervorgehoben sind, um anschließend auf die kleineren unteilbaren thematischen Einheiten zu kommen, die ich im Folgenden mit dem Terminus „thematisches Motiv“ bezeichne. Daraus ergibt sich die Einteilung der vorliegenden Darstellung in Abschnitte, die den jeweiligen Figuren gewidmet sind. Diese zerfallen wiederum in thematische Motivketten und -schichten nach Episoden, Szenen, Explikationen usw. Erhebliche Schwierigkeiten waren mit der Darstellung an sich verbunden. Thematische Motive und Motivkomplexe, wie sie in jeder einzelnen Szene und Figur präsent sind, gewinnen ihren Inhalt und Sinn nicht für sich allein, sondern in der Gegenüberstellung und Wechselbeziehung mit anderen Motiven und Figuren. Im Bewusstsein gewinnen die einzelnen Komponenten ihre Bedeutung bei gleichzeitigem inneren Erfassen des Ganzen, wenn sie, nebeneinander auftretend, einander Hintergrund, Relief und notwendige Schattierungen geben. Wenn sich die Aufgabe stellt, diesen kontinuierlichen Kreis enger und komplexer Wechselbeziehungen in einer linearen Darstellung abzubilden, hat man keine Fäden in der Hand, die als Ausgangspunkt dienen könnten, von dem aus eine vollständige, 12
Vgl. dazu V. !. Sezeman, Die ästhetische Wertung in der Geschichte der Künste [Sezeman 1922], S. 124–127.
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immer in gleichem Maße erschöpfende Klarheit über die ganze [139] Ausdehnung der Untersuchung hin zu erreichen wäre. Jede Komponente und jede Figur erweist sich als ein Mittelglied, zu dessen Aufdeckung andere, ihm vorausgehende oder benachbarte Glieder erforderlich sind. […] *** […] [177] Jede Figur in Dostoevskijs Roman erscheint unter zwei Aspekten: (1) in einer gewöhnlichen, durchschnittlichen menschlichen Wahrnehmung, sozusagen bei Tageslicht, und (2) aus einer vertieften, verborgenen individuellen Kenntnis heraus, gleichsam wie aus den Tiefen der Seele, die der Autor immer durchschaut und bei jedermann voraussetzt. Im explikativen Instrumentarium des Autors ist immer eine entsprechende Einstellung auf diese zweifache Resonanz zu verspüren. Die Schattierungen von explikativen Hinweisen werden vom Autor entweder auf verschiedene Romanfiguren verteilt, entsprechend ihrem individuellen Charakter, oder in den Ansichten ein und derselben Figur untergebracht, dann jedoch in unterschiedlichen Seelenzuständen. Der Autor selbst nimmt eine dritte, gleichsam neutrale Position ein. […] Von Fürst My!kin abgesehen, agieren die Figuren untereinander vor allem auf einer niedrigeren, durchschnittlichen Ebene und größtenteils in der Weise, dass sie einander ihren Stolz und Ehrgeiz zeigen […]. In den Urteilen und den Worten des Fürsten zeichnet sich immer die Funktion einer tiefer greifenden Aufdeckung geheimer, unsichtbarer Elemente einer fremden Seele ab. Sein Verständnis von Nastasja Filippovna, Ippolit, Aglaja, Rogo"in, General Ivolgin und allen Anderen geht über eine oberflächliche Wahrnehmung weit hinaus. Das hat […] für den Autor einen thematischen Sinn: Der Fürst gelangt, indem er alles ignoriert und umgeht, was im Menschen ausschließlich persönlich, prätentiös und oberflächlich vorhanden ist, unmittelbar zu den wahren Tiefen der Seele und findet hier den Kern, der dem neidischen Auge des Selbstverliebten verborgen bleibt. Die zweifache Einrahmung und Beleuchtung der Figur des Fürsten stellt sich dar als zweifache Weise, in der ein und dieselben Personen auf ihn reagieren. Das gehört zur allgemeinen thematischen Konzeption des Romans. Jede Romanfigur trägt in ihrem Inneren das Schillern dieses zweifachen Lichtes, jede hat je zwei wahrnehmende und reagierende Punkte in ihrer Seele, und für den einen ist Fürst My!kin nah und liebens-
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wert, für den anderen fern, unnütz, lächerlich und auf würdelose Weise bemitleidenswert. […] [180] Ungeachtet aller Kraft des entgegengesetzten, feindlichen Pols erstrahlt zuletzt, abschließend und auflösend, das Ideal My!kins. […] Die Wege aller überheblichen Figuren des Romans kreuzen sich in diesem alles liebevoll hinnehmenden und verzeihenden Fürsten My!kin, alle Figuren beugen sich im Inneren ihres Herzens vor seiner Wahrheit […]. *** [180] Keine einzige Minute bilde ich mir ein, dass dieser schematische Durchgang durch den Roman die ganze Tiefe seiner Themen mit all ihren filigranen peripheren Verzweigungen hat erschöpfen können. Doch darin bestand auch nicht unsere Aufgabe, die vielmehr darauf abzielte, nur die hauptsächliche formende Kraft der Verkettungen aufzudecken. Und ich nehme an, dass die vorliegende Darstellung es ermöglicht, das Vorhandensein einer einheitlichen und grundlegenden Ausrichtung des Romans festzustellen, die die ganze Vielfalt seiner Beschreibungen, Episoden, Charaktere und Ereignisse umfasst. Wie in allen Romanen Dostoevskijs tritt auch in diesem Roman der Autor deutlich hervor, indem er das für den Leser zunächst rätselhafte, herumirrende und komplizierte geistige Suchen seiner Figuren voraussieht und lenkt. Dem Autor geben seine Figuren keine Rätsel auf, er sieht deutlich alle Motive und Impulse ihrer Handlungen. Die Rätselhaftigkeit und Unbewusstheit ihres Verhaltens liegt immer in der Absicht des Autors und ist thematisch bedingt. […] [181] Dostoevskij verwendet das Verfahren der Rätselhaftigkeit, der Unerwartetheit, der Plötzlichkeit häufig nicht um eines technischen Effektes willenXV, sondern entsprechend der inneren thematischen Zielbestimmtheit, um die Unfähigkeit der Figuren zu zeigen, ihre inneren Seelenkräfte zu beherrschen. Die Figuren des Romans handeln daher häufig nicht aus einer überlegten Absicht heraus, sondern aus einem plötzlichen Gefühlsüberschwang, d. h. nicht aufgrund dessen, was sie denken, sondern aufgrund dessen, was sie empfinden. Diese Unterscheidung und die Trennung zwischen Verstand und Gefühl wird bei Dostoevskij streng durchgeführt.
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[…] [182] „Wir dürfen nicht vergessen“, vermerkt an einer Stelle der Autor (der „Autor“-Erzähler [„avtor“-rasskaz!ik] ist nicht Fedor Dostoevskij selbst13)XVI, „dass die Ursachen der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich viel komplizierter und verschiedenartiger sind, als wir sie uns im Nachhinein immer erklären, und dass sie selten genau zu bezeichnen sind.“14 Aber diese irrationalen Elemente des menschlichen Geistes treten uns in den Romanen in der Bewusstheit des Autors entgegen (d. h. des richtigen Autors und nicht des untergeschobenen Erzählers). Die gesamte Atmosphäre der Rätselhaftigkeit und Unerwartetheit der Ausbrüche und Wendungen des Handlungsverlaufs des Romans wird bei Dostoevskij von der psychischen Irrationalität hervorgerufen, die er auf seine Figuren projiziert, nicht etwa von der Blindheit des schöpferischen Prozesses im Künstler selbst. Die Figuren wissen oft selbst nicht, was sie tun und warum sie es tun, der Autor aber setzt sich in solchen Fällen zum Ziel, auf diejenigen unterschwelligen Kräfte der Seele hinzuweisen, über die weder der menschliche Verstand noch der Wille Macht haben; er selbst durchschaut diese verborgenen Gründe und macht den Leser auf die eine oder andere Weise durch besondere Verfahren auf sie aufmerksam. […] In seiner Ausrichtung auf eine grundlegende Idee überrascht der Roman Der Idiot (wiederum wie alle Romane von Dostoevskij) durch eine unerwartete Einheitlichkeit, entgegen der von einigen Kritikern geäußerten Behauptung, er sei verworren und uneinheitlich. Die Gespaltenheit, die Dostoevskij als Mensch in seinem Wesen trug, [183] hat keinen Platz in seiner ideellen künstlerischen Einstellung gefunden. In seinen Romanen sind seine Figuren Doppelgänger, nicht jedoch er selbst. […] [184] Dostoevskij sah sich immer mit dem Problem konfrontiert, wie der Stolz zu überwinden sei, die Hauptursache für die Trennung und Isolierung der Menschen voneinander und von der Welt. Jeder seiner Romane variiert und vertieft dieses Grundthema seines Schaffens auf seine Weise. Jedes neue Werk vertieft und erweitert die Sphäre des Suchens. Im Roman Der Idiot wird eine Quelle der inspirierenden und einheitlichen Zielgerichtetheit genannt, gleichsam als abschließender, alles durchdrin13
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Vgl. dazu die Bemerkung Lev Karsavins im Artikel Fedor Pavlovi! Karamazov kak ideolog ljubvi [Fedor Pavlovi! Karamazov als Ideologe der Liebe]. In: Na!ala, 1921, Nr. 1, S. 50. Dt. Übers. von Klara Brauner (Fedor Dostojewski: Der Idiot. Roman, Bd. 1, Berlin 1930, S. 150) [Anm. d. Übers.].
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gender und alles lenkender Zielpunkt des ganzen Werkes. Diese Quelle ist die geistige Erfahrung der epileptischen Entrücktheit des Fürsten My!kin, die ekstatische Erkenntnis der Freude zu lieben. 15 […] [185] Die Reflexion des Lebens von der Höhe dieses endgültigen Wissens auszudrücken und es sozusagen durch das Leben zu rechtfertigen – durch die künstlerische Darstellung des Lebens – darauf ist der Roman in all seiner inneren künstlerischen Dialektik ausgerichtet. Der dialektische Aufbau des Romans ist offensichtlich. Jede Figur ist als Gegenüberstellung und Auflösung von Repliken pro und contra komponiert. Jede Figur und Beschreibung sowie ihre Verknüpfung zeigen nicht nur etwas, sondern beweisen, bejahen und verneinen etwas in einer bestimmten und spezifischen künstlerischen Weise. Die vielfältigen Themen und die aufeinander bezogenen Gefühle der Figuren werden nicht einfach aneinander gereiht, sondern erscheinen in einem sich einer hierarchischen Ordnung unterwerfenden und sich in ihr vollendenden System. […] ————————— Bibliographische Notiz Originaltitel: Temati!eskaja kompozicija romana „Idiot“. Erschienen in: N. L. Brodskij (Hg.), Tvor!eskij put’ Dostoevskogo. Sbornik statej („Dostoevskijs Schaffensweg. Sammelband wissenschaftlicher Abhandlungen“), Leningrad 1924, S. 131–185. Entstanden im Winter 1922/23, wie unter dem Text der Erstpublikation angegeben; in einer einleitenden Anmerkung (S. 131) bezeichnet der Verfasser seinen Aufsatz als „den ersten Teil einer geplanten Arbeit zur Poetik dieses Romans“; die Fortsetzung ist unbekannt. Nachgedruckt posthum in: A. Skaftymov, Nravstvennye iskanija russkich pisatelej. Stat’i i issledovanija o russkich klassikach, hrsg. u. eingel. von E. Pokusaev und A. "uk, Moskva 1972, S. 23–87 (mit aktualisierten bibliographischen Angaben). Der einleitende Abschnitt wurde unter dem Titel Das teleologische Prinzip in der Formung des literarischen Kunstwerks („Teleologi#eskij princip v formirovanii literaturnogo proizvedenija“) in die von Gyula Király und Árpád Kova$s herausgegebene Anthologie Po"tika aufgenommen (Kiraj/Kova# 1982, 690–696).
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In Der Jüngling (Makar Ivanovi#) und in den Brüdern Karamazov (Ale!a) ist dies schon ohne jeden Zusammenhang mit der Epilepsie dargestellt.
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Kommentar Der Aufsatz Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ dokumentiert diejenige Linie der zeitgenössischen Formalismus-Diskussion, deren Schwerpunkt auf der Frage nach den grundlegenden philosophisch-ästhetischen Voraussetzungen der neuen literaturwissenschaftlichen Methodologie lag. Als defizitär hinsichtlich einer allgemeinen ästhetischen Fundierung empfanden nicht nur Philosophen wie etwa Vasilij Sezeman* und Michail Bachtin* (vgl. Sezeman 1922; Bachtin 1924; Medvedev* 1928) die Methodologie der „formalen Schule“, sondern auch diejenigen Literaturwissenschaftler, die sich am Anfang der zwanziger Jahre zum OPOJAZ* bekannten oder ihm zumindest nahe standen; charakteristisch in diesem Zusammenhang ist z. B. eine Tagebuchnotiz Boris !jchenbaums* vom 9.7.1922: Hier wird über einen heftigen Streit mit Viktor "irmunskij* und Aleksandr Smirnov* berichtet, die „auf einer Klärung der philosophischen Voraussetzungen bestehen“ (zit. nach #udakova 1977, 454). Einen programmatischen Ausdruck hat diese Tendenz in Smirnovs Aufsatz Wege und Aufgaben der Literaturwissenschaft (1923) gefunden, dem seitens Tynjanovs* (1923a) und !jchenbaums (1924a, 7) mit scharfer Kritik begegnet wurde. Für Skaftymovs Position ist kennzeichnend, dass er sich gerade auf diesen Artikel Smirnovs mehrmals beruft. Unter den von Skaftymov gern zitierten Autoren fallen auch die Namen von Sezeman und "irmunskij auf; die höchstwahrscheinlich persönliche Bekanntschaft Skaftymovs mit diesen beiden Wissenschaftlern zur Zeit ihrer Lehrtätigkeit in Saratov (darüber siehe S. 94) verdeutlicht auch den Kontext, in dem sich Skaftymovs theoretische Ansichten herausbildeten. Den wichtigsten Anstoß zu seinen theoretischen Überlegungen im einleitenden Abschnitt des Artikels erhielt Skaftymov aus Sezemans Abhandlung Die ästhetische Wertung in der Geschichte der Kunst (1922). Im Vergleich zu Sezeman, der konsequent von den wahrnehmungsästhetischen Postulaten Broder Christiansens* ausgeht, mögen Skaftymovs Ausführungen etwas eklektisch anmuten. Trotz aller in Skaftymovs Aufsatz angeführten Nebenbemerkungen darüber, dass die ästhetische Qualität des literarischen Werks erst im Akt der Wahrnehmung entsteht, neigt er doch grundsätzlich zur Gleichsetzung des ästhetischen Objekts mit dem Text als solchem (zum überaus häufigen Vorkommen solcher Gleichsetzung in der russischen Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre siehe Nikolaev 2003, 777 f.). Mit seiner Abkehr von der Wahrnehmungsästhetik Christiansenscher Prägung erzielt Skaftymov indessen eine Möglichkeit, den teleologischen Ansatz für die Textanalyse produktiv zu machen. Dies rückt ihn gewissermaßen in die Nähe der formal orientierten Linie in der Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre – wenn auch nicht zu den Formalisten im engeren Sinne, mit denen er polemisiert, so doch zumindest zu den Theoretikern der thematischen Komposition (vgl. Hansen-Löve 1978, 263–273); zur These Skaftymovs von der
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Strukturiertheit des thematischen Inhalts des literarischen Werkes siehe unten (Anm. IV). Uneindeutig ist auch die Position Skaftymovs hinsichtlich des „Psychologismus“ in der Literaturwissenschaft, gegen den er zwar polemisiert, von dem er sich selbst aber nicht völlig losmachen kann, insofern für ihn die Bedingung einer „richtigen“ Interpretation darin besteht, dass die „Einstellung des Bewusstseins des Lesers“ mit der „Einstellung des Bewusstseins des Autors“ eins werde. Trotzdem wird die Distanz, die zwischen diesem Ansatz und der Methodologie der „psychologischen Schule“ besteht, schon aus einem Vergleich mit seinem noch zur Zeit des Studiums an der Warschauer Universität begonnenen Artikel Lermontov und Dostoevskij deutlich (Skaftymov 1916; zur Entstehungsgeschichte siehe Popkova 1981, 40, 59). In diesem frühen Aufsatz gilt Skaftymovs Interesse noch ganz den biographischen Umständen der beiden Schriftsteller, obgleich seine Absicht, „die Grundlage und das dynamische Prinzip allen geistigen Strebens“ zu finden, die These der späteren Dostoevskij-Studie von einem „abschließenden Punkt“, aus dem „das Ganze“ verständlich wird, bereits vorwegnimmt. Mit der Anerkennung des „teleologischen Prinzips“ vollzieht Skaftymov eine Umkehrung seiner eigenen früheren Fragestellung: Anstatt der Suche nach der Grundintention des Autors als einer realen Person tritt nun die Suche nach der Grundintention des Textes, die aus seiner ganzen Struktur deduziert werden muss (über die daraus folgende Fragestellung nach dem textimmanenten Begriff des Autors siehe Anm. XI). Obwohl Skaftymovs Aufsatz keine große Resonanz in der zeitgenössischen theoretischen Diskussion fand, wurde er von den anderen philosophisch-ästhetisch interessierten Teilnehmern der Polemik um die „formale Schule“ dennoch positiv aufgenommen. Als Zeichen der Anerkennung schenkte Boris !ngel’gardt* Skaftymov sein Buch Die formale Methode in der russischen Literaturwissenschaft (1927), in dem er sich insbesondere mit teleologischen Ansätzen befasst (vgl. Popkova 1981, 42). Nachhaltiger war die Wirkung dieses Aufsatzes auf die DostoevskijForschung (hier ist auch die zweite Dostoevskij-Studie Skaftymovs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ in der Publizistik Dostoevskijs [„Zapiski iz podpol’ja“ v publicistike Dostoevskogo], zu nennen; Erstpublikation 1929 in Slavia). In seiner Ablehnung der früheren psychologistischen, symbolistischen und impressionistischen Dostoevskij-Deutungen und in seinem Versuch, methodologische Ansätze für die textanalytische Untersuchung der Romane Dostoevskijs zu finden, zählt Skaftymov zu den Dostoevskij-Forschern der zwanziger Jahre, die nach erster Annäherung an Dostoevskij versuchten, auch seine Poetik zu analysieren (Grossman, Komarovi", Zundelovi", Bem u. a.). Unter diesem Aspekt war Skaftymovs Arbeit auch für Bachtin als Autor von Probleme des Schaffens Dostoevskijs (1929) nicht ohne Interesse. Unter den Konspekten, die für die Arbeit am Dostoevskij-Buch bestimmt waren (sie wurden von Bachtins Frau angefertigt,
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wahrscheinlich nach Bachtins Vermerken in den entsprechenden Büchern), befindet sich ein ziemlich ausführliches Exzerpt aus dem vorliegenden Artikel Skaftymovs. Ihn ließ Bachtin als einzigen aus dem ganzen Sammelband Dostoevskijs Schaffensweg exzerpieren (neben drei Seiten aus A. Gizettis Aufsatz über die Frauengestalten bei Dostoevskij). Dabei richtet Bachtin sein Augenmerk stärker auf die konkrete Textanalyse, vor allem auf den Schluss des Artikels (siehe Bachtin 2000, 654–655). Im Sinne seines Entwurfs des „Anderen“ als notwendiger Instanz für das Selbstbewußtsein der Figuren Dostoevskijs hebt Bachtin in Skaftymovs Aufsatz diejenigen Stellen hervor, die eine derartige „polyphone“ Lektüre vorwegnehmen: „Völlig richtig hat A. P. Skaftymov in seinem Artikel Die thematische Komposition des Romans ,Der Idiot‘ die Rolle verstanden, die dem ‚anderen‘ (im Verhältnis zum Ich) innerhalb der handelnden Personen zukommt. Er sagt: ‚Dostoevskij […] verteidigt damit die Idee, dass der Mensch sich vor seinem inneren, intimen Selbstgefühl nicht selbst annehmen kann. Weil er aber sich selbst nicht heiligt, leidet er an sich und sucht Heiligung und Bestätigung für sich im Herzen des anderen‘. […] Skaftymov bleibt allerdings im Bereich rein psychologischer Analyse. Er zeigt nicht, welche wirklich künstlerische Bedeutung dieses Moment für die Anordnung der Helden und die Struktur des Dialogs hat“ (Bachtin 1929, 163; dt. Übers. von Adelheid Schramm – Bachtin 1971, 319 f.). Es ist signifikant, dass der einleitende Abschnitt über das „teleologische Prinzip“ in Bachtins Lektüre kaum auf Interesse stößt, obwohl sich Bachtin in seiner Formalismuskritik auf die „teleologischen“ Aufsätze von Sezeman, Smirnov und !ngel’gardt bezieht. Wahrscheinlich war Skaftymov für Bachtin gerade im Vergleich zu diesen Theoretikern nicht sonderlich neu, was die allgemeine ästhetische Seite seines Aufsatzes betraf. Darüber hinaus wäre es auch kaum zu erwarten gewesen, dass Bachtin als Verfasser von Probleme des Schaffens Dostoevskijs Skaftymovs Verständnis des „teleologischen Prinzips“ für akzeptabel gehalten hätte. Die Überzeugung Skaftymovs von der Auffindbarkeit eines „abschließenden Punktes“ setzt eine den Figurenperspektiven übergeordnete Autorperspektive voraus und damit gerade eine erzähltheoretische Vorgehensweise, mit der Bachtin polemisierte. Als exemplarischen Fall für eine solche Position zieht Bachtin im ersten Kapitel des Dostoevskij-Buches den Aufsatz Vasilij Komarovi"s (1924) heran, in dem zeitgleich zu Skaftymovs Arbeit der Versuch unternommen wird, den thematischen Aufbau eines anderen Romans von Dostoevskij, nämlich des Jünglings, unter der teleologischen Voraussetzung zu analysieren; Bachtin wirft Komarovi" charakteristischerweise vor, dass er sich „der monologischen Ästhetik Broder Christiansens“ verpflichtet fühle (Bachtin 1929, 28). Obwohl die (noch vor Bachtin „antibachtinische“) Position Skaftymovs später auf grundsätzliche Zustimmung bei denjenigen Dostoevskij-Forschern hätte stoßen sollen, die die übergeordnete Rolle der Autorinstanz in Dostoevskijs Romanen für gültig erachten, wurde er unter diesem Aspekt überraschend wenig rezipiert. Sogar eine so dezidierte Anhängerin dieses Standpunktes wie Valentina
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Vetlovskaja äußert sich in ihrer Untersuchung der Poetik der Brüder Karamazov in dem Sinne, dass „das Ziel der Autorinvention und folglich die Ideen-Dominante des Romans“ in seiner ethischen Problematik liege (Vetlovskaja 1977, 5–6). Sie begleitet diese so sehr an Skaftymov erinnernde Formulierung nicht etwa mit einem Hinweis auf Skaftymov, sondern auf die Tynjanovsche Bestimmung des dominanten Faktors (wobei Tynjanovs kritische Einstellung zum Begriff der Autorintention unberücksichtigt bleibt; siehe unten, Anm. III). Dafür erwies sich diese Arbeit Skaftymovs in der späteren Forschung zur Poetik von Dostoevskijs Idiot als eine der maßgebenden Interpretationen dieses Romans. Als „the first monographic study of the novel“ bezeichnet sie Victor Terras, der insbesondere in seiner Analyse des „moral level“ des Romans auf Skaftymovs interpretatorische Ergebnisse zurückgreift (Terras 1990, 14, 69–71). Dabei wirft Terras dem teleologischen Ansatz Skaftymovs vor, dass er durch seine eindeutige Dominante die Möglichkeit ausschließt, den Roman auf prinzipiell unterschiedlichen Deutungsebenen zu interpretieren: „Skaftymov makes a good case for this conception (‚teleological principle‘), though he is somewhat selective in choosing the material that he finds structurally relevant. The levels of meaning extracted from the text depend on the reader’s understanding of them“ (Terras 1990, 42).
————————— Anmerkungen I
Gedicht aus der Rubrik Gott, Gemüt und Welt der Gedichtsammlung von 1815. Gründliche Erörterungen zu Goethes „synthetischer“ Betrachtungsweise, die der „analytischen“ Betrachtungsweise entgegengestellt wird, entwickelte in seiner Abhandlung Goethes Gnoseologie unter Anführung desselben Verszitats der Philosoph Semen Frank (1910), Skaftymovs unmittelbarer Vorgänger als leitender Professor des Lehrstuhls für Geschichte der russischen Literatur an der Saratover Universität. Die Bekanntschaft Skaftymovs mit diesem Aufsatz Franks scheint schon deshalb sehr wahrscheinlich zu sein, weil dessen Nachdruck in der Reihe Voprosy teorii i psichologii tvor!estva erschien, auf die sich Skaftymov in den Fußnoten wiederholt beruft. Mit seiner Bemühung, Goethe als Verbündeten zu gewinnen, ist Skaftymov keine Ausnahme unter seinen russischen Zeitgenossen; vgl. z. B. Goethe-Mottos in Propps* Morphologie des Märchens. Die Forderung Skaftymovs, nach einem „abschließenden Punkt“ in der Hierarchie aller Werkkomponenten zu suchen, lässt an die oft zitierte Maxime Goethes denken: „Ich suche in allem einen Punkt, aus dem sich vieles entwickeln lässt“ (vgl. z. B. Lichten!tadt 1920, 10–11). II Vgl. die These Christiansens* von der „teleologischen Struktur“ des Kunstwerks, die auf Heinrich Rickerts Unterscheidung zwischen der auf die mechanische Kausalität orientierten „Naturwissenschaft“ und der auf ein „Telos“ (Ziel, Wertung, Sinn) hin ausgerichteten „Kulturwissenschaft“ zurückgreift (Christian-
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sen 1909, 130). Diese Auffassung hat einen weitreichenden Einfluss auf die russische Literatur- und Kunsttheorie ausgeübt (siehe Nikolaev 2003, 782–787). Der Begriff der „Teleologie“ wird mehrmals auch von den Formalisten benutzt, wobei allerdings ihre teleologischen Ansätze nicht über die Dichotomie von Material und Verfahren hinausgreifen; so behauptet z. B. !jchenbaum* in der Melodik des russischen lyrischen Verses: „Die Poetik gründet auf dem teleologischen Prinzip und geht daher vom Begriff des ,Verfahrens‘ aus“ (!jchenbaum 1922, 337). Im Unterschied zu den Formalisten versteht Skaftymov (wie vor ihm auch Sezeman* und Smirnov*) das „teleologische Prinzip“ im notwendigen Zusammenhang mit der Kategorie der Wertung. Ausführlicher über den Gebrauch des Begriffs „teleologisch“ bei den Formalisten siehe Toddes/"udakov/"udakova (1977, 528) und Nikolaevs Bachtin-Kommentar (Nikolaev 2003, 784). III Diese These geht auf Christiansen zurück: Aus dem Postulat, dass alle „Glieder“ des Kunstwerks auf ein Telos bezogen sind, folgt auch, dass „ein Glied Mittel und Stufe für das folgende [ist]“ (Christiansen 1909, 14). Unter Berufung auf Christiansen und auf !jchenbaum, der sich wohl als erster im OPOJAZ* um die Aneignung der Christiansenschen Begrifflichkeit bemühte, resümiert auch Tynjanov* in Die Ode als oratorisches Genre (1927b): „Das Werk stellt ein System aufeinander bezogener Faktoren dar. Die Korrelation eines jeden Faktors zu den übrigen ist seine Funktion in Bezug auf das ganze System“ (Tynjanov 1927b, 227; dt. hier nach Stempel [Hg.] 1972, 273), fügt dann allerdings in einer Fußnote hinzu: „Aus dem Terminus ,Ausrichtung‘ ist die finale Bedeutungsnuance notwendig zu eliminieren. Der Begriff der Funktion schließt den Begriff der Teleologie aus. Eine Literaturbetrachtung, die sich auf der teleologischen Ebene bewegt, sieht eine ,schöpferische Absicht‘ vor; was sich damit nicht vereinbaren lässt, wird als Zufall erklärt oder einfach aus der Analyse ausgeklammert. Jedoch erweist sich das, was von der ,schöpferischen Absicht‘ her als ,Zufall‘ erscheint, im Literatursystem als durchaus nicht zufällig“ (Tynjanov 1927b, 228; dt. nach Stempel [Hg.] 1972, 275). Vgl. auch Tynjanovs Kritik der teleologisch orientierten literaturwissenschaftlichen Methoden im Aufsatz Über die literarische Evolution (1927a). IV Der Begriff „sostav“ (wörtlich: ‚Zusammensetzung‘) wird bei Skaftymov nicht genügend klar definiert und nicht ganz einheitlich verwendet. In der deutschen Übertragung werden an den entsprechenden Stellen die Begriffe „Bestand“, „Gehalt“ oder „Inhalt“ benutzt. Aus Skaftymovs weiteren Ausführungen auf derselben Seite geht hervor, dass er dazu neigt, über eine „formale Struktur“ (formal’naja struktura) und einen „formalen Aufbau“ (formal’noe postroenie) zu sprechen, aber den Terminus „sostav“ vorwiegend auf die thematische Ebene des Werks bezieht. Dass „sostav“ für Skaftymov nicht identisch mit dem Aufbau ist, lässt sich auch aus der weiter unten folgenden Formulierung schließen: „postroenie ego temati#eskogo sostava“ (Aufbau seines thematischen Gehalts). Unter „sostav“ scheint er, im Unterschied zu „Struktur“, die Gesamtheit aller Elemente
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des Werks zu verstehen; vgl. seine Formulierung im Aufsatz Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte: „Der Gehalt (sostav) des Werkes trägt in sich selbst die Normen für seine Deutung“ (Skaftymov 1923, 166). Die Gesamtheit der thematischen Elemente wird bei Skaftymov aber als eine in sich schon strukturierte, angeordnete Gesamtheit gedacht. Gerade dies ist der wichtigste Punkt seiner Polemik mit dem Formalismus: Der „gedankliche Gehalt“ sei nicht rohes Material, das durch den „formalen Aufbau“ zu einem Werk gestaltet wird, sondern beherberge schon in sich eine Anordnung; das ins Kunstwerk aufgenommene Material sei vom Autor bereits selektiert worden (über die Rolle der selektiven Operationen siehe am Anfang seines Aufsatzes). Die Vorliebe zum Wort „sostav“ passt auch zu der für Skaftymov charakteristischen Betonung der Statik als Zustand des „endgültigen“ Textes in der Gegenüberstellung mit der historischen Dynamik der „Genese“. In Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte entwickelt er ausführlich eine Dichotomie der „stationar-theoretischen“ und der „genetischen, kausalen Betrachtungsweise“ (stacionarno-teoreti!eskoe rassmotrenie vs. geneti!eskoe, pri!innoe – siehe Skaftymov 1923, 169 et passim): Diese habe mit der Entstehungsgeschichte des Textes, mit den literarischen Einflüssen und der Biographie des Autors zu tun, während jene ausschließlich der Analyse des Textes als gegebenem Objekt gelte (dabei geht Skaftymov charakteristischerweise von dem Postulat einer „vom Autor abgesegneten endgültigen Textgestalt“ aus; siehe 1923, 165). Im Zusammenhang mit dem Statischen, Standhaften kommt in Skaftymovs Dostoevskij-Aufsatz auch die Baukunstmetaphorik vor (siehe Anm. XIV). V Im Anschluß an die Kantsche Definition des Schönen („Es ist ein in sich zweckmäßig Geformtes, aber ohne einem äußeren Zwecke zu dienen“) entwickelte u. a. der akademische Lehrer Skaftymovs, Prof. Aleksandr Michajlovi! Evlachov (1880–1966) seine Ausführungen zur „Immanenz“ des Kunstwerks (vgl. Evlachov 1917, 200). VI Die Wahl der „Dominante“ hatte Christiansen zum wichtigsten Punkt im Prozess der (auf den „Wahrnehmungsdaten“ gründenden) Synthese des „ästhetischen Objekts“ erklärt. Vgl. Christiansens Ausführungen dazu: „Es handelt sich um Folgendes. Selten wird es geschehen, dass die Stimmungsfaktoren eines ästhetischen Objekts an der Gesamtleistung zu gleichen Teilen mitwirken, vielmehr ist es natürlich, dass ein einzelner Faktor oder die Verknüpfung mehrerer sich in den Vordergrund schiebt und die Führung übernimmt. Die andern begleiten die Dominante, verstärken sie durch Gleichklang, heben sie durch Kontrast hervor, umspielen sie mit Variationen. Die Dominante ist wie der Knochenbau im organischen Körper, sie enthält das Thema des Ganzen, trägt das Ganze und alles hat darauf Bezug. […] Zum Verständnis des Kunstwerks ist aber erforderlich, die Dominante herauszufühlen und sich von ihr tragen zu lassen; sie erst gibt jedem andern Element und dem Ganzen die letzte Deutung“ (Christiansen 1909, 241–
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242; vgl. Sezeman 1922, 127). Über die außerordentlich große Bedeutung von Christiansens Philosophie der Kunst (russ. Übersetzung 1911) für die russische philosophische Ästhetik der zehner und zwanziger Jahre vgl. Nikolaev (2003, 718–719). Auf Christiansen beruft sich auch !jchenbaum, der den Begriff „Dominante“ aktiv in die textanalytische Praxis der OPOJAZ einführt (!jchenbaum 1922, 332 u. 1923, 106) und ihn dann auch im abschließenden Teil seines Aufsatzes Theorie der formalen Methode retrospektiv erläutert (!jchenbaum 1927, 148). Dabei ist der Terminus bei den Formalisten nicht mehr wahrnehmungsästhetisch geprägt (vgl. dazu Jakobson* 1935, 45; Tynjanov 1977, 494). VII Die Naivität der Leser, die in den Kunstwerken „eine echte Einmischung ,der Seele‘“ sehen möchten, ironisierte !jchenbaum in dem von Skaftymov erwähnten Artikel Wie Gogol’s „Mantel“ gemacht ist (1919). VIII Wahrscheinlich versucht Skaftymov, eine russische Lehnübersetzung für Schillers Begriff „Formtrieb“ (Briefe über ästhetische Erziehung des Menschen) zu finden. Die Bezogenheit des „Formtriebs“ auf ein Telos, in dem sich das vernünftige Zielwollen des Subjektes zeigt, wird bei Skaftymov dem von ihm bloß kausal verstandenen Begriff des „Verfahrens“ entgegengestellt. IX Vgl. dazu bei Christiansen: „Nun ist aber a priori nicht gegeben, welches Moment führen soll. Jedes Formale, aber auch das Gegenständliche kann Dominante sein“ (1909, 242). X Wahrscheinlich zielt Skaftymovs Bemerkung zu den literarischen Figuren als „lebendigen Menschen“ auch konkret gegen Valerian Pereverzev (1882–1968), einen der bedeutendsten Vertreter der „soziologischen Schule“ in der russischen marxistischen Literaturwissenschaft, der in seinem gerade zur Entstehungszeit dieses Aufsatzes von Skaftymov erschienenen Dostoevskij-Buch schrieb: „Der Dichter erschafft lebendige Personen, Charaktere, aber nicht Systeme von [abstrakten] Ideen, und die Analyse eines Kunstwerks soll eine auf seine lebendigen Gestalten gerichtete Analyse sein“ (Pereverzev 1922, 65). XI Dem Wortlaut nach trifft sich Skaftymov hier mit Viktor Vinogradov* (vgl. zu „lik avtora“/„obraz avtora“ den Kommentar von Christine Gölz in diesem Band, S. 209-216). Obgleich der Verfasser an dieser Stelle seines Aufsatzes noch den realen Autor meint, der seinen Figuren Worte und Gedanken in den Mund legt, wird schon aus den Erläuterungen unter Punkt 1 der Skaftymovschen Definition des „teleologischen Prinzips“ deutlich, dass er ebenfalls zur Bestimmung des Autors als einer textimmanenten Instanz tendiert; vgl. im Weiteren folgenden Satz: „Der Begriff ‚Autor‘ wird hier immanent abgeleitet und tritt nur als eine notwendigerweise für jede koordinierte Einheit vorauszusetzende Instanz auf“ (S. 107). Dass das für Vinogradov wichtige Problem des „Autorbildes“ vor einem breiten Hintergrund entsteht, belegen auch die Annäherungen an das Konzept eines „Gesamtbilds des Dichters“ (ob"#ij oblik po$ta), die sich in der von Skaftymov weiter unten erwähnten Abhandlung Aleksandr Gornfel’ds Über die Deutung des Kunstwerks (1916) finden. Anders als Skaftymov versteht Gornfel’d
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darunter das Bild, das sich der Leser aufgrund des gesamten Œuvres des jeweiligen Dichters formt (vgl. Gornfel’d 1916, 152). XII Vgl. auch in Über das Verhältnis von theoretischer und historischer Betrachtung in der Literaturgeschichte: „Bevor nach dem ,Warum‘ gefragt wird, muss man die Frage nach dem ,Was‘ stellen. Der Erklärung der Genese muss eine statische Betrachtung der zu untersuchenden Erscheinung vorangehen“ (Skaftymov 1923, 162). XIII „Explikationen des Autors“ werden hier als eine der Techniken der Figurencharakterisierung genannt. Unter diesem Terminus fasst Skaftymov solche Figurencharakterisierungen, die in den kommentierenden Passagen des Erzählers auftreten (zu Skaftymovs Inkonsequenz bei der Benennung der narrativen Instanzen vgl. Anm. XVI). Darüber hinaus gehören zum „explikativen Instrumentarium des Autors“ (so Skaftymov weiter unten) auch die Charakterisierungen einer Figur in ihrem Eigenkommentar und im Fremdkommentar durch andere Figuren. XIV Die Baukunstmetaphorik, deren sich Skaftymov hier bedient, war auch bei anderen russischen Literaturwissenschaftlern der Zeit gebräuchlich, wozu unterschiedliche Einflüsse vor allem von Seiten der deutschen Kunstwissenschaft (Adolf von Hildebrand, Heinrich Wölfflin) beigetragen hatten. Vgl. dazu Nikolaevs ausführliche Erörterungen zum Begriff der „Architektonik“ bei Bachtin (Nikolaev 2003, 779–782). XV In dieser Passage kann man eine implizite Polemik gegen diejenigen Dostoevskij-Forscher vermuten, die sich zu Beginn der zwanziger Jahre der Frage nach der Tradition des Abenteuerromans bei Dostoevskij zuwandten (vgl. z. B. Grossman 1921). Im selben Sammelband, in dem Skaftymovs Aufsatz veröffentlicht wurde, erschien auch M. Davidovi!s Abhandlung, die jene aus der Abenteuerliteratur stammende Verfahren behandelte, die zur „Unterhaltsamkeit“ und Spannung der Romane Dostoevskijs beitragen (Davidovi! 1924). XVI Skaftymov versucht an dieser Stelle seine terminologischen Inkonsequenzen teilweise zu korrigieren: Einerseits wird in diesem Aufsatz das Wort „Autor“ häufig in der Bedeutung von „Erzähler“ verwendet; andererseits fungiert es auch in Bezug auf den realen biographischen Autor. Aber neben diesen beiden Varianten des Wortgebrauchs zeichnet sich in diesem Aufsatz schon deutlich die Vorstellung von einem werkimmanenten Autor ab (siehe Anm. XI). Dieser „richtige Autor“ (wie er am Anfang des nächsten Absatzes bezeichnet wird) ist in Skaftymovs Modellierung genauso wenig mit dem konkreten Autor F. M. Dostoevskij gleichzusetzen, wie der fiktive „Autor“-Erzähler.
6. Aleksandr Skaftymov: Poetik und Genese der Bylinen. Skizzen (Auszug aus Poetik und Genese der Bylinen. Skizzen, ausgewählt, übersetzt und annotiert von Christiane Hauschild, kommentiert von Galina Potapova)
I. Zeitgenössische Methoden der BylinenforschungI [36] Die BylineII ist gleichsam ein Schiff ohne Anker. Es ist gut ausgerüstet, gehorcht seinem Steuermann und ist leicht zu lenken. Weil es jedoch keinen Anker hat, kann es nirgendwo Halt machen und ist dazu verurteilt, ewig zu wandern. […] An der Byline ist alles im Fluss. Sie befand und befindet sich immer im Prozess ihrer Gestaltung, an unbekanntem Ort, zu unbekannter Zeit; ihre Anfänge liegen im Dunkeln, sie wird niemals abgeschlossen. Sie ist nichts Geschaffenes, sondern immer etwas Erschaffendes. Es gibt keinen wie auch immer gearteten ‚Kern‘, über den der Forscher als Basis verfügen könnte. Die Fakten der Byline sind veränderlich und vieldeutig – und das gilt nicht nur bezogen auf das Gesamtrepertoire der Bylinensujets, sondern auch auf ein und dieselbe Byline in den von ihr aufgezeichneten Varianten. In der Byline verändern sich die Namen der Figuren, das Sujet, die Psychologie usw. Auch können ein und dieselben Namen verschiedene Orte, Personen und Völker bezeichnen. Darüber hinaus verleihen unterschiedliche Sänger einem gleich erscheinenden Inhalt die Prägung ihres je individuellen Verständnisses. Deshalb stellt jede einzelne Variante den anderen gegenüber in gewissem Sinne eine Ausnahme dar, ist nicht rückführbar auf gemeinsame Kriterien und Maßstäbe. […] [37] Die Veränderung der Byline erfolgt durch den Bylinensänger, und auf diese unbekannte Person (es sind eigentlich viele, dennoch sind sie unbekannt) richtet sich die Untersuchung. Der Bylinensänger ist ein lebendiger Mensch; und daher – um gar nicht erst von allen Einflüssen seiner Umgebung und seiner Epoche, von allen Umständen seines Lebens zu reden –
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ist er im vollen Besitz der Freiheit, in seinem künstlerischen Geschmack willkürlich zu sein. Schon aus diesem letzten Grund allein sind die Zufälligkeiten der mündlichen Umformung „unzählbar und unvorhersehbar“. Die Irrationalität menschlich-individueller Faktoren [38] spielt in der Geschichte der Kunst eine herausragende Rolle, da gerade die Individualität der Ausgangspunkt des Schaffens ist. Doch kommt bei der Volksdichtung noch ein weiteres Problem hinzu. Ihre Kunstwerke sind anonym und verfügen über keinen fixierten Ursprung – weder in der Geographie des Raums noch in der Chronologie der Zeit, noch in der Individualität ihrer Schöpfer. Wie soll man die sich kreuzenden Lichtstrahlen der Ursachen enträtseln, wenn man ihren Fokus nicht kennt? Und wenn jede Hervorbringung des menschlichen Geistes an sich schon eine veränderliche, unbeständige und multikausale Größe ist, wo soll man den Schlüssel zu ihr suchen, da doch jede ihrer Manifestationen nur eine Seite ihrer unbegrenzten Möglichkeiten darstellt? Aus dieser Sicht verwundert auch nicht die auffallende Wankelmütigkeit und Wechselhaftigkeit der bisherigen Forschung zur Genese der Byline: Es hätte nicht anders sein können. Und man muss noch dafür dankbar sein, dass die genetischen Möglichkeiten, die in der Bildung und Existenz der Bylinen latent enthalten sind, auf diese Weise wissenschaftliche Beachtung erfahren haben. So werden an der flüchtigen Wesenheit der Byline zumindest einige der Fäden sichtbar, die sie mit der menschlichen Geisteswelt im Allgemeinen verbinden. Und man kann an dieser Stelle bereits einige Schlussfolgerungen hinsichtlich der Problematik ziehen, mit der sich jeder Literaturhistoriker in Zukunft wird befassen müssen – nämlich die der psychologischen Gesetzmäßigkeiten der künstlerisch-literarischen Tätigkeit. Es hat sich herausgestellt, dass die Byline sich zwar aus dem Leben speist, dass sie aber dennoch von der historischen Wirklichkeit meilenweit entfernt und ganz von ihrer künstlerischen Entstellung durchdrungen ist. All die Analogien zur historischen Vergangenheit, die man so eifrig herausgesucht und dokumentiert hat, sind im Grunde genommen gar nicht kennzeichnend für die Byline an sich, sondern entsprechen ihr nur in gewissen Elementen. Es hat sich weiterhin herausgestellt, dass die Byline in ihrer Geschichte ihr Aussehen immer wieder verändert hat und gleichsam eine andere wird in der Stimme jedes neuen Überlieferers – des Sängers oder Erzählers, der ihr den Stempel seines ästhetischen Geschmacks aufprägt.
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Es hat sich schließlich herausgestellt, dass die Byline nicht unabhängig von den anderen Formen der Volksdichtung existiert: Sie nimmt Bilder aus Legenden, Märchen und Liedern in sich auf, und zwar aus eigenen wie aus fremden, aus gedruckten wie aus mündlichen. Die Byline ist ein Glied im Leben der Kunst. Sie befindet sich in lebendiger Wechselbeziehung mit anderen Kunstwerken. Solche Schlussfolgerungen liegen natürlich jenseits des Horizontes eines einzelnen Beispiels. Für die Genauigkeit oder Notwendigkeit der einen oder anderen Verbindung kann man im Einzelfall nicht garantieren, es bleibt immer Raum für Zweifel, doch das Gemeinsame an Beobachtungen über Fakten dieser Art macht Schlussfolgerungen in einer weitgefassten Formulierung verbindlich und notwendig. […] [40] Zweitens möchten wir an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hinweisen (sozusagen als Ergänzung zu der bereits existierenden wissenschaftlichen Tradition), dass eine ästhetische Interpretation der Byline für jedwede Forschung unumgänglich ist, die sie zu ihrem Gegenstand macht. Die ästhetischen, soziologischen und kultur-anthropologischen Faktoren existieren im Kunstwerk nicht unverbunden nebeneinander, sondern durchdringen und bedingen sich gegenseitig. Es hat keinen Sinn, ein ästhetisches Ganzes und seine Bestandteile zu untersuchen, ohne den ihm (und nur ihm) gegebenen, spezifischen Inhalt zu betrachten. Niemand hat jemals bezweifelt, dass Bylinen als Kunstwerke anzusehen sind. Die bisherige Forschung hat ihnen den Kunstcharakter nicht abgesprochen. Sie hat diesen Gegenstand gelegentlich gestreift, manchmal dazu aufgerufen, sich dieser Seite der Byline zuzuwenden, doch eher zufällig und episodisch, während im Gegenteil die ästhetische Natur des Untersuchungsgegenstands zur organisierenden Grundlage der Forschung, der Konzepte und Verfahrensweise dieser Wissenschaft insgesamt hätte gemacht werden sollen. Die Byline als solche hat man übersehen, man hat in ihr immer nur den musealen Widerhall der Vergangenheit gesucht, weshalb die wissenschaftlichen Untersuchungen über sie den Charakter von Traktaten über allgemeine und politische Geschichte angenommen haben. Es gibt nun tatsächlich einige Anhaltspunkte dafür, dass man mit der Byline wie mit einer historischen Überlieferung umgehen sollte. Hier erweckt unsere Aufmerksamkeit vor allem das Bestreben der Erzähler, den Text der Byline in jedem Fall und in jeder Einzelheit so zu erhalten, wie er auf sie gekommen ist. Dieses Bestreben ist ein eindeutiger Hinweis
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darauf, dass der Wert der Byline für den Erzähler in ihrer Bedeutung als Überlieferung besteht, unabhängig von ihrer Unterhaltsamkeit. Die Byline vermittelt Relikte der alten Zeit, in ihr liegen die Vermächtnisse der Ahnen, die für die Nachfahren gerade aufgrund ihrer faktischen Seite heilig sind – und eben diese bemüht sich der Sänger zu bewahren. Hier tritt der Erzähler nur als Bewahrer des Erbes auf: Sein ganzer Stolz ist die Reinheit des Vermächtnisses der alten Zeit. Als Gil’ferding seinen Erzählern gegenüber anmerkte, sie hätten hier und da etwas ausgelassen oder unzusammenhängend gesungen, da bemühten sich einige, die entsprechenden Stellen besser darzubieten, doch „niemandem kam es in den Sinn, die Lücke oder die Holprigkeit mit etwas zu glätten, das sie sich selbst ausgedacht hätten.“1 […] Neben Zeugnissen dieser Art verfügen wir jedoch auch über entgegengesetzte. Derselbe Gil’ferding spricht von der Neigung des Erzählers zur Improvisation. Gil’ferding unterscheidet in der Byline veränderliche und feste TopoiIII. Die festen Topoi werden seiner Meinung nach von den Erzählern auswendig gelernt, die veränderlichen (in denen die Handlung ausgeführt wird) „verfasst der Erzähler jedes Mal neu in dem Moment, in dem er erzählt, wobei er mal etwas weglässt, mal etwas hinzufügt, die Reihenfolge der Verse oder den verbalen Ausdruck variiert“. In die Varianten der Byline gehen dann z. B. Topoi aus dem allgemeinen epischen Repertoire ein. „Und dieses Auswählen geschieht nicht nur unbewusst: Oft speist es sich aus dem Bestreben des Erzählers, eine Byline ‚schön‘ zu singen, die er eigentlich vergessen hat.2 Rybnikov, Gil’ferding, Markov, On!ukov – alle zeugen von der Unbeständigkeit des Inhalts der Byline, in Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Sängers. Dabei tragen die Modifikationen manchmal eindeutig den Stempel bewusster Tätigkeit. N. V. Vasil’ev bemerkt über den Erzähler "!egolenok, dass seine Bearbei-
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2
Vgl. A. F. Gil’ferding, One!skie byliny [Onega-Bylinen], Bd. 1–3, Sankt-Peterburg 1873. 2. Aufl., Bd. I (= Sbornik Otd. Russ. Jaz. i Slov. AN., LIX), Sankt-Peterburg 1894, S. XXIV. Vgl. S. K. "ambinago, Pesni-pamflety XVI veka. Issledovanie [Satirische Lieder des 16. Jahrhunderts. Eine Untersuchung], Moskva 1913, S. 19.
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tung der Bylinen nicht unbewusst erfolgt: [42] „Er führt zur Steigerung des Interesses Einzelheiten ein, die Neugierde wecken“3. Auf diese Weise lässt sich der Bylinensänger, wenn er die Byline singt, außer von der Treue zur Überlieferung auch von einer bestimmten Motivation künstlerischer Ordnung leiten: Er improvisiert, sorgt für die „Steigerung des Interesses“. Man geht allgemein davon aus, dass es erlaubt sei, die Byline auszuschmücken, und entsprechend wird das ihr entgegengebrachte Interesse aus dem Bereich der Belehrung und des historischen Wissens in die Sphäre der Unterhaltung und des ästhetischen Spiels verschoben. […] Die ästhetische Einstellung zur Byline sowohl auf Seiten ihrer Schöpfer wie auch der Zuhörer verweist auf ihre zentrale innere Formungskraft. Offensichtlich muss es ein Prinzip gegeben haben, das ihre Zusammensetzung bestimmte und dem der Sänger folgt, wenn er lebensweltliche und phantastische Elemente auswählt, um sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Außer den „unvorhersehbaren und unzähligen Zufälligkeiten“ des Gedächtnisses war immer zugleich [43] diese verborgene einheitliche Kraft am Werk, die die vielfältigen Einflüsse des Lebens und Gedankens nach dem Prinzip einer bestimmten Zielgerichtetheit ausgewählt und bewahrt hat. […] Diese formende Kraft hat folglich über die ganze Dauer der Jahrhunderte währenden Existenz der Bylinen existiert und an der Transformation, der Verkürzung und Aufschichtung des Erzählstoffs der Byline partizipiert. Wie konnte man sie bei der Untersuchung der Frage nach der Genese der Byline unberücksichtigt lassen? Und dennoch hat man gerade sie bei der Projizierung der Stadien der Byline in der Vergangenheit niemals in Betracht gezogen. Wenn die Byline ein inneres Organisationsprinzip besitzt, dann wurde sie auch entsprechend diesem Prinzip geschaffen und weist innere Kernpunkte auf, in Bezug auf die es nicht gleichgültig ist, ob ein bestimmtes inhaltliches Element bewahrt oder verworfen wird. Im Wechselverhältnis ihrer Details zueinander existiert dann eine innere Hierarchie, und der Sänger, der die Byline rezitiert, trägt ihr jedes Mal aufgrund seines künstlerischen Gefühls Rechnung, indem er die einen Elemente verwirft, fallen 3
N. V. Vasil’ev, Iz nabljudenij nad otra!eniem li"nosti skazitelja v bylinach [Beobachtungen zum Ausdruck der Persönlichkeit des Erzählers in den Bylinen]. In: Izvestija Otd. Russ. Jaz. i Slov. AN, 1 (1907) 4, S. 1–42.
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lässt und kaum merklich ersetzt, die anderen jedoch bewahrt, da er gerade in ihnen den Sinn seiner Erzählung spürt. Was muss man tun, um diese selektierende und formende Kraft zu verstehen und zu extrapolieren? Wo ist sie? Sie ist überall, in jeder Byline, in jeder ihrer Varianten. Sie war es, die die Reichtümer der Bylinen-Sammlungen bis zu uns getragen hat. Sie hat dasjenige geformt, was auf uns gekommen ist, und dasjenige, was nicht auf uns gekommen ist. Was uns erreicht hat, erlaubt uns, ihre Natur und Eigenschaften aufzudecken und zu verstehen. Um diese Kraft in der Vergangenheit zu begreifen, müssen wir sie in der Gegenwart untersuchen. Das hat aber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch niemand unternommen. Bisher ist man an die Byline herangetreten, einmal um sie herum gegangen, hat dabei einige ihrer Eigenschaften erfasst und gibt schon, von ihrer Wesenheit absehend und blind für ihr Zentrum, Erklärungen über ihr Alter, ihre Entwicklung ab. Man vergleicht periphere Enden und Bruchstücke, zerlegt die Byline in ihre Einzelteile, fügt sie dann erneut zusammen, alles in dem Glauben, man habe auf diese Weise ihre vergangenen, überlebten Formen rekonstruiert. Aus einem lebendigen Organismus hat man eine Mechanik gemacht. [...] Der genetischen Untersuchung eines Gegenstandes muss die beschreibende, stationäre Untersuchung vorausgehen. Natürlich [44] gibt es bereits auch auf dem Gebiet der beschreibenden Untersuchung einige Arbeiten und sogar ausgezeichnete4, aber all das wurde nicht mit den richtigen Zielen und aus dem richtigen Blickwinkel getan. Über die künstlerische Bedeutsamkeit der untersuchten Elemente hat nie jemand nachgedacht.5 4
5
Siehe die Arbeiten von V. Miller: Russkaja bylina, ee slagateli i ispolniteli [Die russische Byline, ihre Schöpfer und Sänger]. In: V. M., O!erki russkoj narodnoj slovesnosti [Skizzen über die russische Volksdichtung] [Der russische Begriff „narodnaja slovesnost’“ ist umfangreicher als der deutsche Begriff „Volksdichtung“; Anm. d. Übers.], Bd. 1, Moskva 1897, S. 23–64; dazu gehört zum Teil auch sein Aufsatz: Nabljudenija nad geografi!eskim rasprostraneniem bylin [Beobachtungen zur geographischen Verbreitung der Bylinen] (ebd., S. 65–96). Eine sorgfältige Bestandsaufnahme und Systematisierung von Alltagselementen der Byline findet sich bei: A. Markov, Bytovye !erty russkich bylin [Alltagselemente der russischen Bylinen], Moskva 1904; S. !ambinago, Drevnerusskoe "ili#$e po bylinam [Die altrussische Wohnstatt nach den Bylinen]. In: Jubilejnyj sbornik v !est’ V. Millera [Festschrift zu Ehren von V. Miller], Moskva 1900, S. 51–85. In dieser letzten Hinsicht ist nur die oben genannte Abhandlung Millers Die russische Byline, ihre Schöpfer und Sänger wichtig.
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Vieles, was, unter einem nicht ästhetischen Kriterium betrachtet, als künstlich, verstreut und nicht zusammenpassend erscheint, kann vom Standpunkt der ästhetischen Zweckmäßigkeit [celesoobraznost’] aus eine natürliche Erklärung erhalten. […] All dies spricht für die Notwendigkeit einer vorbereitenden Untersuchung der Byline in ihrem gegenwärtigen Zustand, unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Gestaltung der Varianten, um ihre Komposition als künstlerisches Ganzes zu verstehen. II. Die architektonische Wechselbeziehung der inneren Komposition in den Bylinen von HeldentatenIV [46] Kann man von der inneren Einheitlichkeit [cel’nost’] der Byline sprechen, auch wenn sie nicht von nur einem Schöpfer, nicht in nur einem inspirierten Atemzug geschaffen wurde und wenn sie – von Erzähler zu Erzähler wandernd – jedes Mal einer neuen Auffassung, einer neuen Umdeutung ausgesetzt war? Kann man noch von ihrer Einheit [edinstvo] sprechen, wenn sie sich dauerhaft im Zustand des Werdens befindet und weder Abgeschlossenheit noch Bestimmtheit der inneren Grenzen je kannte? […] Natürlich darf man von der Byline keine Dauerhaftigkeit im strengen Sinne und keine Abstimmung der einzelnen Abschnitte aufeinander erwarten, wie bei einem von einer Einzelperson erschaffenen und schriftlich fixierten Kunstwerk. Viele Bylinenvarianten würden eine solche Erwartung bitter enttäuschen. Die Launen des Gedächtnisses, die Wechselhaftigkeit der Geschichte und die Unberechenbarkeit der künstlerischen Begabung der Sänger haben vielen aufgezeichneten Bylinen den Stempel des Chaotischen verliehen. Einige Varianten weisen eher mechanische, äußerlich assoziierte Ausschmückungen oder merkwürdig unmotivierte, vereinzelte Veränderungen auf. Manchmal begegnen einem riesige Lücken, die durch den Verlust größerer Fragmente – gleichsam Fetzen des einstmals ganzen organischen Körpers – entstanden sind. Alle diese Fälle kann man jedoch im Voraus in Betracht ziehen; sie geben sich de facto bei der Analyse auf eine bestimmte Art zu erkennen. Trotzdem ist das Anliegen der Bestimmung der inneren organisierenden Achse der Byline nicht ohne Aussicht auf Erfolg. Gesetzt den Fall, man stellt den Gedanken an eine Einheit der Bylinen aufgrund eines einzigen, allen Varianten gemeinsamen Sujets für eine gewisse Zeit zurück, – was ja auch plausibel erscheint, insofern jede Variante ihren individuellen
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Autor hat, der sich als Individuum von den Sängern anderer Varianten unterscheidet [47] – dann bleibt immer noch die natürliche und gesetzmäßige Möglichkeit einer Einheit jeder gegebenen Variante als solcher. Jeder Sänger singt sein Lied, glüht in seinem Pathos, verleiht der Byline Gestalt im Lichte seiner Anschauungen und seines Empfindens. Sofern er keine rein mechanische Einstellung zur Wiedergabe der Byline hat, wird er bei ihrer Aneignung, Weitergabe und Umformung jedes Mal sein ‚eigenes‘ Lied miterleben, mitdenken und es unter dem Aspekt einer einheitlichen Zielsetzung empfinden, die er dann auch seiner Wiedererzählung verleiht. Im Lichte dieses lenkenden Einheitlichkeitsempfindens werden auf ganz natürliche Weise auch der Erzählgegenstand, die Farben, das Licht, und die gesamte sprachliche Organisation des Ganzen eine einheitliche Form annehmen. Unter der Einwirkung des einen Impulses, den man mit einer zentralen Aufgabe vergleichen könnte, ordnen sich alle Teile der Erzählung einem bestimmten, ihnen bewusst oder unbewusst aufgegebenen Formbestreben unter, als dessen Effekt sich ganz natürlich jene hierarchische Aufeinanderbezogenheit und Verbundenheit der Komponenten, jene Ganzheit und Einheitlichkeit herstellt, ohne die kein Artefakt der Kunst zu denken ist. […] Da in den Varianten einer Byline unterschiedliche, einander widersprechende textuelle Daten möglich sind, muss man zunächst eine eigene, abgeschlossene Untersuchung jeder Variante im Einzelnen unternehmen. Erst dann, wenn die immanente künstlerische Struktur der Varianten im Einzelnen bestimmt ist, kann man ihre Eigenschaften und Merkmale, die Ähnlichkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Behandlung des einen ihnen gemeinsamen Sujets in Beziehung zueinander beschreiben. Auf der Grundlage der nun bereits verallgemeinerten textuellen Daten kann man dann die Einheit der künstlerischen Ausrichtung ‚der‘ Byline auf das gegebene Sujet beurteilen, wenngleich nur die einzelnen Varianten von unterschiedlichen Individuen mit individuellen Modifikationen überliefert sind. An den für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Bylinenvarianten konnten wir tatsächlich eine zentrale formende Kraft, die einheitliche Verbindung und funktionale Bedeutungshaftigkeit [funkcional’naja zna!imost’] aller Komponenten beobachten. Bei der Analyse der von uns als erster ausgewählten „Byline von Ilja und Solovej dem Räuber“ [48] zeigte sich in allen Varianten eine Übereinstimmung der künstlerischen Zielsetzung. Sogar in denjenigen Fällen, in denen sie in Einzelheiten und in unterschiedlichen, aus anderen Bylinen übernommenen Episoden von-
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einander abweichen, sind diese wiederum Träger derselben künstlerischen Funktion, die auf das gemeinsam zentrale Anliegen [central’noe zadanie] gerichtet ist. Deshalb schien es uns möglich, hinsichtlich der „Byline von Ilja und Solovej dem Räuber“ von der grundlegenden Ausgerichtetheit aller Varianten insgesamt zu sprechen. Anschließend haben wir versucht, eine Übersicht über alle Bylinen von Heldentaten zu geben. Dabei fanden jeweils alle Varianten der Bylinen von Ilja und Idoli!"e, Ilja und Kalina, Mamaj, Batyga, von Ale!a und Tugarin, Dobrynja und dem Drachen Goryni" und weiterer eine entsprechende Berücksichtigung.6 Auch in diesem Fall gestatteten die Ergebnisse der Untersuchung erstens die Bestimmung der übereinstimmenden Kompositionsstruktur jeder Byline für sich (für ihre Varianten, bis auf Einzelfälle und seltene Ausnahmen) und, zweitens, den Nachweis der Ähnlichkeit aller Bylinen von Heldentaten in ihrem grundlegenden Typus des Aufbaus und ihrem Formbestreben [formoustremlenie]. Auf diese Weise eröffnete sich die Möglichkeit, die Komposition aller Bylinen von Heldentaten insgesamt zu beschreiben. Damit wären sowohl die Grenzen als auch Aufgaben der vorliegenden Arbeit hinreichend bestimmt. […] [95] Unsere Beobachtungen lassen sich in thesenhafter Form wie folgt zusammenfassen: 1) Im Zentrum der künstlerischen Spannung der Bylinen von Heldentaten stehen allein der Held [geroj-bogatyr’] und seine Tapferkeit und Kraft. 2) Alle Figuren der Byline, mit Ausnahme des Helden und seines Gegenspielers, nehmen in Bezug auf die Hauptaufgabe die zweitrangige Rolle einer Resonanz gebenden Umgebung ein, die mit ihrem Verhalten und ihren Klagen die Grundintention und -emotion des entsprechenden Sujets aktualisiert. 3) Ihrer werkimmanenten Funktion nach haben sämtliche zum Sujet gehörenden Motive einen hierarchisch festgelegten Ort, der der Hauptaufgabe dient, der Auszeichnung und Hervorhebung des Helden.
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Sujets, die den Tod des Helden oder das Zusammentreffen zweier russischer Helden behandeln, wurden aufgrund ihrer komplexen Motivik nicht in die Untersuchung mit einbezogen.
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4) Das grundlegende Verfahren der Hervorhebung ist der Effekt der Unerwartetheit und der Überraschung. 5) Auf diesen Effekt hin ist der ganze innere Aufbau des Sujets angelegt: vom anfänglichen Misstrauen und der Unterschätzung des Helden bis hin zur allgemeinen Anerkennung seines Ausschließlichkeitsanspruchs und seines Ruhmes. 6) Die Differenzierungen der Gestaltung des sprachlichen Gewebes der Erzählrede sind durch die Aufgabe bedingt, die wichtigsten Momente im Prozess der Anerkennung und der Auszeichnung des Helden festzuhalten und zu markieren (z. B. Verlangsamung des Erzählens; Dialoge). 7) Das ideologische (in ethischer, religiöser, klassenmäßiger oder nationaler Hinsicht charakteristische) Element wird in der Byline entweder als Hilfsmittel eingesetzt, um eine bestimmte emotionale Prägung zu erzeugen, oder es spielt eine Rolle als Anlass zur Bewertung, was wiederum zur Erhöhung der Erfolge des Helden dient.
III. Über die Wechselbeziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit in den Bylinen […] 1) [127] Die realistische Anschaulichkeit verschiedener Elemente der Byline variiert je nach ihrer Funktion in der Gesamtorganisation des Ganzen. 2) Die Frage nach der Genese jedes betreffenden (künstlerisch bearbeiteten) realistischen Elements kann erst dann gestellt werden, wenn seine Funktion in der Gesamtkonzeption des Werkes bestimmt ist. 3) Die historische Wirklichkeit in ihrer durch das Sujet angeeigneten Form wird dem Ziel einer größtmöglichen Konzentration auf die hauptsächliche ästhetisch-psychologische Aufgabe des gegebenen Sujets angepasst. 4) Die Beziehungen zwischen den Figuren der Byline und ihren historischen Prototypen werden durch die Rolle bestimmt, die den entsprechenden Figuren in der allgemeinen Konzeption der Erzählung zukommt. 5) Inwieweit die Alltagselemente der Byline als historische Zeugnisse angesehen werden können, ist davon abhängig, ob sie eine aktive Rolle
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in der Sujetkonstruktion spielen oder nur als Stilelemente dienen, d. h. zu den peripheren dichterischen Ausdrucksmitteln gehören. 6) Jede genetische Untersuchung der Byline setzt eine Aufdeckung der inneren konstitutiven Bedeutung ihrer Elemente voraus. —————————
Bibliographische Notiz Originaltitel: Po!tika i genezis bylin. O"erki. Moskva/Saratov 1924. Auf diese Erstausgabe beziehen sich die Seitenzahlen im Text. Zu Lebzeiten Skaftymovs erschien eine teilweise überarbeitete Fassung des zweiten und dritten Kapitels in seinem Sammelband Stat’i o russkoj literature, Saratov 1958, S. 3–76 (die bibliographischen Anmerkungen des Verfassers entfielen in dieser Ausgabe; der Text wurde zeitbedingt aus ideologischen Gründen leicht verändert). Dem Erstdruck folgt die neue textkritische Ausgabe: A. P. Skaftymov, Po!tika i genezis bylin, Saratov 1994 (eingeleitet von V. Archangel’skaja). Englische Ausgabe: The Structure of the Byliny [Auszug]. In: F. Oinas, S. Soudakoff (Hgg.), The Study of Russian Folklore, The Hague/Paris 1975, S. 37–154.
————————— Kommentar Aleksandr Pavlovi" Skaftymov, geb. 11.10.1890 (Dorf Stolypino, Saratover Gouvernement), gest. 26.1.1968 (Saratov). Aus einer geistlichen Familie stammend, begann Skaftymov seine Ausbildung an einem Priesterseminar im Saratover Gouvernement, gab aber das theologische Studium auf, um 1909–1913 an der Warschauer Universität Geschichte und Philologie zu studieren. Unter seinen akademischen Lehrern findet sich einer der bekanntesten damaligen Forscher der russischen Romantik, Prof. Ivan Zamotin (1873–1942), in dessen LermontovSeminar Skaftymov seine erste wissenschaftliche Abhandlung verfasste (später veröffentl. in überarb. Fassung; siehe Skaftymov 1916), und der Privat-Dozent (später Professor) Aleksandr Evlachov (1880–1966), Spezialist für romanische und germanische Literaturen mit stark ausgeprägten literaturtheoretischen Interessen (über persönliche Kontakte Skaftymovs zu den beiden siehe Popkova 1981, 24, 38–39, 59). Evlachovs Kritik an der kulturgeschichtlichen Schule, die die Literaturgeschichte von der Kulturgeschichte und der allgemeinen Geschichte nicht zu unterscheiden wisse (ausführlicher siehe Gri!unin 1975, 190–194), wird in Skaftymovs Arbeiten der zwanziger Jahre aufgegriffen und weitergeführt.
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Zur Zeit des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs ist Skaftymov Gymnasiallehrer für russische Sprache und Literatur, zunächst in Astrachan’, dann in Saratov, wo er 1919 aller Wahrscheinlichkeit nach Viktor !irmunskij* und Vasilij Sezeman* kennen lernt, die in jenem Jahr dort an der Universität lehren. 1921 erhält Skaftymov eine Stelle an der Saratover Universität; nach einer glaubwürdigen Annahme Nikitinas (2001, 19) erfolgt die Anstellung mit Unterstützung des Philosophen Semen Frank (1877–1950), der 1917–1921 in Saratov als Dekan der historisch-philosophischen Fakultät lehrt. 1923 wird Skaftymov zum Professor und Leiter des Lehrstuhls für russische Literatur ernannt; parallel dazu unterrichtet er auch an der Saratover Pädagogischen Hochschule. Wegen des zunehmenden ideologischen Drucks in der Literaturwissenschaft gibt Skaftymov seine theoretischen Studien wie auch die Dostoevskij-Forschung auf, die seinen Arbeitsschwerpunkt gebildet haben, und beschäftigt sich seit den dreißiger Jahren vorwiegend mit dem Leben und Werk des revolutionären Demokraten Nikolaj "erny#evskij und seiner Epoche, wozu ihm der in Saratov vorhandene "erny#evskijNachlass reiche Materialien bietet. Gleichzeitig arbeitet er zu weiteren russischen Schriftstellern, insbesondere zu "echov. Der auffällig „apolitische“ Duktus seiner "echov-Aufsätze und seine unabhängige Haltung während der auch an der Saratovschen Universität durchgeführten Kampagnie gegen den „Kosmopolitismus“ führt gegen Ende der vierziger Jahre zu administrativen Repressalien. 1950 wird Skaftymov der Professorentitel entzogen, im folgenden Jahr wird er von der Leitung des Lehrstuhls „befreit“ und 1953 sogar zum wissenschaftlichen Assistenten degradiert (Nikitina 2001, 10; Krivonos 1996/1998); in den Chru#$ev-Jahren wird er in seine früheren Funktionen wiedereingesetzt. Bibliographien zu den Aufsätzen Skaftymovs und der ihm gewidmeten Sekundärliteratur siehe in: Medvedev/Suponickaja 1957; Biblioteka Skaftymova 1981, 81–95. In Poetik und Genese der Bylinen fasst Aleksandr Skaftymov seine jahrelangen Erfahrungen auf dem Gebiet der Erforschung der russischen Volksdichtung zusammen. Bereits in den Jahren seines Studiums an der Warschauer Universität hatte er in den Lehrveranstaltungen von Prof. Ivan Zamotin umfangreiche Kenntnisse auf dem Gebiet der Bylinenforschung erworben: Gerade diese Gattung hatte Vorrang in Zamotins Lehrplänen (s. dazu Archangel’skaja 1994, 15). Zamotins Studie Russische mündliche Literatur. Das Bylinenepos (Russkaja ustnaja slovesnost’. Bylevoj %pos, Warschau 1912) war seinem Studenten Skaftymov gut bekannt (dafür spricht das Exemplar des Buches in Skaftymovs Privatbibliothek, s. Archangel’skaja 1994, 15). Sehr wahrscheinlich ist auch die frühe Bekanntschaft Skaftymovs mit Andrej Nikolaevi$ Sirotinins (1864–1922) vor allem pädagogisch orientiertem Buch Unterhaltungen über die russische Literatur (Besedy o russkoj slovesnosti, St. Petersburg 1913; der Verfasser war Gymnasiallehrer in Warschau; die letzten Jahre seines Lebens unterrichtete er an der Saratover Universität an demselben Lehrstuhl, an dem Skaftymov tätig war). Sirotinins Forde-
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rung, „die Bylinen vom Standpunkt ihrer künstlerischen Konzeption aus zu betrachten“ (1913, VI), fand insbesondere das Einverständnis des Literaturhistorikers Vasilij Vasil’evi! Sipovskij (1872–1930) (vgl. seine Rezension in: !urnal ministerstva narodnogo prosve"#enija, Jg. 1909, Nr. 5, S. 106) und war wohl für Skaftymov als Verfasser von Poetik und Genese der Bylinen anregend (ausführlicher dazu Archangel’skaja 1994, 11–14). 1919 rezensiert Skaftymov zwei Sammlungen von Bylinen, vorbereitet jeweils von Michail Speranskij und Boris Sokolov (M. Speranskij, Denkmäler der Weltliteratur. Russische mündliche Literatur. Bylinen, Moskva 1916; B. Sokolov, Bylinen. Eine historische Skizze. Texte und Kommentare, Moskva 1918). In diesem kurzen Aufsatz äußert er seine Zweifel an der Tragfähigkeit der Methodologie der sogenannten „historischen Schule“, der die beiden Herausgeber zuzurechnen sind, und betont, dass „eine Analyse des künstlerischen Aufbaus der Byline noch nicht geleistet wurde“ (Skaftymov 1919, 122). In das nächste Jahr fällt die Bekanntschaft Skaftymovs mit dem Ethnographen und Folkloristen Boris Matveevi! Sokolov (1889–1930), der in den Jahren 1920–1923 den Lehrstuhl für russische Literatur an der Saratover Universität innehatte. Im Rahmen der von B. Sokolov initiierten folkloristischen Projekte arbeitet Skaftymov an einem umfangreichen bibliographisch-kritischen Verzeichnis Bylinen in neuesten Ausgaben und Untersuchungen (Byliny v novych izdanijach i issledovanijach; N. K. Piksanov erwähnt diese von ihm redaktionell vorbereitete, aber nicht erschienene Arbeit in einem nicht datierten Brief an P. N. Sakulin, s. Bachtina 1993, 75). Einen wichtigen Anstoß zur Erforschung der Volksdichtung unter dem Aspekt ihrer Poetik erhielt Skaftymov durch Viktor "irmunskij, dessen Vorlesungen über die epische Volksdichtung er 1919 in Saratov besuchte (Popkova 1981, 52–53; aus diesen Vorlesungen entstand später "irmunskijs fundamentale Abhandlung Das Heldenepos der Turkvölker [Tjurkskij geroi!eskij #pos], Leningrad 1974). Vor allem aber weist sich Skaftymov in Poetik und Genese der Bylinen als Schüler seines Warschauer Universitätslehrers Aleksandr Evlachov aus, der die historische Schule stark kritisiert hatte und der Ansicht war, dass „im Grunde genommen jede Untersuchung eines Kunstwerks nicht historisch sein kann, sondern ästhetisch sein soll. Das historische Element kann nur ein Hindernis sein, das das Wesen der Kunst verdunkelt” (Evlachov 1917, 390). An Evlachovs Grundthese von der Notwendigkeit einer „ästhetisch-psychologischen“ Methode anschließend, versucht Skaftymov auch die Werke der Volksdichtung gerade als dichterische Werke zu verstehen und dementsprechend ihre Poetik zu analysieren. Das erste Kapitel von Poetik und Genese der Bylinen ist einer kritischen Auseinandersetzung mit der Methodologie der historischen Schule gewidmet (V. F. Miller und seine Schüler A. V. Markov, A. V. Rystenko, S. K. $ambinago, B. M. Sokolov). An mehreren Beispielen wird gezeigt, wie die Vertreter der historischen Schule z. B. die Namen der Bylinenfiguren aus dem Kontext der Byline lösen und – zumeist willkürliche – Annäherungen zwischen ihnen und aus ge-
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schichtlichen Quellen bekannten Persönlichkeiten vornehmen. Derartige Versuche, den ,wahren‘, geschichtlichen Kern der Bylinensujets herauszuschälen, können nach Skaftymovs Überzeugung keine zuverlässigen Resultate erbringen; Schuld daran trügen die im Wechsel vieler Generationen auftretenden „Zufälligkeiten der mündlichen Veränderung“ (37). Dennoch besäßen die Bylinensujets eine gewisse Beständigkeit, die ihren Grund nicht in ihrem historischen Substrat habe, sondern im einheitlichen formenden Prinzip ihres Aufbaus (vgl. zum „teleologischen Prinzip“ den Kommentar zu Skaftymovs Aufsatz Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ in diesem Band, S. 105–108). Dementsprechend konzentriert sich Skaftymov auf eine synchronische Beschreibung der Bylinensujets in der Absicht, die künstlerische Spezifik der Byline zu klären. Skaftymov gerät in eine gewisse Nähe zu der formalistischen Deviationsästhetik, wenn er den „Effekt der Unerwartetheit und der Überraschung“ (95) im Aufbau der Byline unterstreicht. So müsse das Motiv des „anfänglichen Misstrauens und der Unterschätzung des Helden“ (95) den Überraschungseffekt der darauf folgenden Erzählung über seine Heldentaten vorbereiten. Hansen-Löve (1978, 271) nennt „Skaftymovs These, dass der Überraschungseffekt das Hauptverfahren der Bylinen sei“, formalistisch, allerdings mit der Einschränkung, dass die Einstellung der Formalisten zur Ästhetizität der Folklore eher ablehnend war (ebd., 263; die Bezeichnung von Poetik und Genese der Bylinen als eine formalistische Studie bei Erlich [1965, 111] erscheint übertrieben; vgl. den Kommentar zu Skaftymovs Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ in diesem Band, S. 105–108). Durch die Hervorhebung des wahrnehmungsästhetisch orientierten Kriteriums der Überraschung unterscheidet sich Skaftymovs Analyse der Sujetfügung grundsätzlich auch von der Vladimir Propps*; der Letztere hat im Übrigen die Abhandlung Skaftymovs hoch geschätzt (dazu unten). Eine kritische Auseinandersetzung mit Skaftymovs Studie wurde von B. Sokolov vorgenommen. Bei der Sitzung der GACHN* vom 4.12.1924 hielt Sokolov einen Vortrag über die neu erschienene Abhandlung Skaftymovs (erstmals erst ein halbes Jahrhundert später durch Gacak veröffentlicht [1977, 304–309]). !rna Pomeranceva, die bei dieser Sitzung anwesend war, berichtet, dass der Vortragende mit dem Buch Skaftymovs aufmerksam und respektvoll umgegangen sei, aber gleichzeitig „stete polemische Nebenbemerkungen zum Schutze der historischen Schule“ gemacht habe (Gacak 1977, 279). B. Sokolov erkannte die von Skaftymov gestellte Frage nach den „inneren Verfahren der Komposition der Bylinen“ als wichtig an (ebd., 280), sprach aber auch von Skaftymovs „Hyperkritizismus“ (ebd., 305–306) und der Gefahr des „Schematismus“, dem er gelegentlich verfalle (ebd., 307). Als sich B. Sokolov in einem seiner späten, posthum veröffentlichten Aufsätze über die neuesten Angriffe gegen die historische Schule „von Seiten einiger ausländischer Literaturwissenschaftler und unserer Formalisten oder Halbformalisten“ äußerte, bezog er die letztere Bezeichnung auch auf Skaftymov (B. Sokolov 1931, 268; von den „ausländischen Literaturwissen-
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schaftlern“ ist hier Alexander Brückner genannt; über die zweite, nicht publizierte Hälfte dieses Aufsatzes, die speziell dem Buch Skaftymovs gewidmet war, s. Archangel’skaja 1994, 26–29). Bei seiner im Grunde genommen vorsichtigen Einschätzung von Poetik und Genese der Bylinen griff B. Sokolov einige konkrete Ergebnisse der Untersuchung Skaftymovs auf (dies betrifft vor allem das Motiv der anfänglichen Unterschätzung des Helden) und trug zu ihrer Etablierung in der späteren Bylinenforschung bei (s. Gacak 1977, 280). Der Bruder B. Sokolovs, Jurij Sokolov (1889–1941), ebenfalls ein anerkannter Folklorist, bewertete in seiner Übersicht der Folklore-Forschung in den Jahren der Revolution (1926) das Buch Skaftymovs als einen bedeutenden Anstoß zur weiteren Präzisierung und Ausarbeitung des methodologischen Instrumentariums der historischen Schule und lehnte dementsprechend die radikale Kritik Skaftymovs an derselben ab. Er merkte darüber hinaus mit einer gewissen Skepsis an, dass der Verfasser von Poetik und Genese der Bylinen „von den modernen Anforderungen einer theoretischen Poetik ziemlich weit entfernt“ sei (Ju. Sokolov 1926, 169). In ähnlicher Weise beurteilte Ju. Sokolov die Leistung Skaftymovs auch in den 1930er Jahren in seinem Werk Die russische Folklore: Skaftymovs Kritik an der historischen Schule sei von „halbformalistischen, halbästhetisch-psychologischen Voraussetzungen“ ausgegangen (Ju. Sokolov 1938, 92). Mehr Verständnis fand die Position Skaftymovs bei einem anderen bedeutenden russischen Folkloristen, Nikolaj Andreev*. „Ihre Arbeit ist außerordentlich interessant“, schrieb Andreev im Brief an Skaftymov vom 8.3.1925 (Popkova 1981, 60); als Zeichen der Anerkennung schickte Andreev an Skaftymov fünf Jahre später sein wichtigstes Werk, das erste russische Typenverzeichnis der Märchen nach dem System Aarnes (1929; über das Exemplar mit der Widmung in Skaftymovs Bibliothek s. Popkova 1981, 46). Vladimir Propp hob in seiner Abhandlung Das russische Heldenepos als Skaftymovs Verdienst hervor, dass er zum ersten Mal in der sowjetischen Folkloristik auf die methodologische Unzulänglichkeit der historischen Schule deutlich hingewiesen habe: „Schritt für Schritt führt Prof. Skaftymov an konkreten Beispielen die Unrichtigkeit der Voraussetzungen, die Unbeständigkeit der Argumentation, die mangelnde Überzeugungskraft der Schlussfolgerungen [ihrer Anhänger] vor“ (Propp 1958a, 14; die Materialien aus Skaftymovs Nachlass dokumentieren auch persönliche Kontakte zwischen Skaftymov und Propp, s. Popkova 1981, 49–50). Eine ähnliche Einschätzung der Rolle Skaftymovs findet sich auch bei dem bekannten Bylinenforscher Boris Putilov (1966, 125–126). Dagegen haben viele Vertreter der empirisch orientierten sowjetischen Bylinenforschung den „antihistorischen“ Ansatz Skaftymovs verurteilt (Pliseckij 1962, 95–97, 115; Astachova 1966, 47–50, 133–134; Anikin 1974; Anikin 1978, 8–32). Viele der zeitgenössischen Beurteilungen sind aus heutiger Sicht zu relativieren. Insgesamt gesehen korrespondiert Skaftymovs Arbeit trotz aller Unterschiede
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mit Vladimir Propps Morphologie des Märchens insofern, als auch seiner Ansicht nach jeder genetischen Untersuchung eine ‚statische‘ vorausgehen soll. Wie Propp entwickelt Skaftymov ein ‚Metasujet‘ über eine Gruppe von Texten und stellt es deduktiv dar (in Abgrenzung zum bisherigen induktiv-synthetischen Vorgehen der Anhänger der geographisch-historischen Methode). Dabei definiert er narrative Rollen (Held, Gegenspieler, zweitrangige Figuren), und verwendet einen Begriff von Episode, den er aber (im Unterschied zu Propp und Nikiforov*) in einer traditionellen Begrifflichkeit formuliert (s. dazu Jason 1977b, 481–485).
————————— Anmerkungen I
Im hier wiedergegebenen letzten Abschnitt aus dem ersten Kapitel setzt Skaftymov der im vorangehenden Abschnitt kritisierten historischen Schule seinen eigenen Ansatz entgegen. Er geht zunächst auf die besondere Textualität der Folklore ein, d. h. ihre in der russischen zeitgenössischen Diskussion als variativnost’ bezeichnete Eigenschaft, über keine fixierte, abgeschlossene Textgestalt zu verfügen. Skaftymov vertritt zu seiner Zeit innerhalb der Folkloristik die sicherlich radikalste Position der Gleichwertigkeit von Folklore- und literarischen Texten als Objekten der ästhetischen Anschauung, die ohne unmittelbare Nachfolge geblieben ist. Die Aufwertung des Erzählens zur Kunst entsprach jedoch der sich bereits ankündigenden Akzentverlagerung innerhalb der Erzählforschung, die sich in der Folgezeit dem Erzähler und seinem Repertoire verstärkt zuwendete (s. z. B. die gleichzeitig auf Deutsch erschienene Pionierarbeit Mark Konstatinovi! Azadovskijs (1888–1954): Eine sibirische Märchenerzählerin (1926). II Der Terminus Byline (von bylina, in der Grundbedeutung ‚Bericht über eine wahre Begebenheit‘) bezeichnet das russische epische Volkslied, das in einer besonderen Form des Sprechgesangs rezitiert wird. Unter den Sängern heißt sie auch starina (etwa: Mär von der alten Zeit). Die Erforschung der Bylinen beginnt in Russland mit der Edition der Sammlung Alte russische Dichtungen, gesammelt von Kir!a Danilov (Drevnie rossijskie stichotvorenija, sobrannye Kir"eju Danilovym), Moskau 1804. Im 19. Jahrhundert entstehen monumentale Archive und wichtige Sammlungen, bes. von Pavel N. Rybnikov (Lieder [Pesni], (1861–67) und Aleksandr F. Gil’ferding (Onega-Bylinen [One#skie byliny], 1873). Die Byline ist neben dem Märchen ein zentrales Genre für die russische Erzählforschung. Wegen ihres ‚realen‘ historischen Substrats bot sie – anders als das Märchen – den Anhängern der historischen Schule Stoff zur Spekulation. – Zum Verständnis der folgenden Ausführungen Skaftymovs ist wichtig, dass Bylinen in Zyklen mit bestimmten Kristallisationsfiguren korreliert sind, nach denen sie auch in den Aufzeichnungen betitelt werden. Mit den von Skaftymov genannten Helden – Dobrynja, Ale"a Popovi!, Il’ja Muromec usw. – verbindet sich ein charakteristischer Kanon thematischer Episoden. Den Begriff ‚Sujet‘ verwendet Skaftymov
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in Übereinstimmung mit der Erzählforschung seiner Zeit etwa im Sinne von ‚Erzähltyp‘ (man vgl. den Ausdruck Märchentyp [„skazo!nyj sju"et“] im Titel des schon erwähnten ersten Typenkatalogs russischer Märchen von Andreev* 1929). III Gil’ferdings Unterscheidung fester und veränderlicher Topoi (russ.: mesta tipi!nye, mesta perechodnye) betrifft formelhafte Redewendungen oder auch mehrere Verse umfassende Konstruktionsschemata, die der Sänger entweder unverändert reproduzieren oder aktuell variieren kann. Gil’ferding antizipiert hier teilweise die Befunde der Formeltheorie von M. Parry, die später von A. B. Lord fortgeführt und an der südslavischen Heldenepik dokumentiert wurde. IV Aus dem zweiten Kapitel sind hier nur einleitende Bemerkungen und das Resümee wiedergegeben. Im Weiteren legt Skaftymov deduktiv – unter Einbeziehung reichen Variantenmaterials – ein von ihm auf der Basis der ‚Bylinen von Heldentaten‘ (byliny o geroi!eskich podvigach) gewonnenes Sujetschema dar. Es besteht aus einer Abfolge von Episoden, die Skaftymov als Glieder einer „architektonischen Kette“ bezeichnet. Die Sequenz der Episoden entwickelt sich von anfänglichem Misstrauen gegenüber dem Helden, seiner Bedeutungslosigkeit und Schwäche über den Hilferuf an ihn und den Sieg über den Gegner bis hin zu seiner maximalen Anerkennung. Dieses Ziel stiftet den funktionalen kompositorischen Zusammenhang zwischen den Episoden; diesem telos ist die ganze Sequenz untergeordnet. Unter der „formenden Kraft“ versteht Skaftymov die Ausrichtung der Performanz des Sängers auf die Wahrung dieses Schemas.
7. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens (Auszug aus Morphologie des Märchens, übersetzt von Christel Wendt, ausgewählt und kommentiert von Christiane Hauschild Vorwort Die Morphologie muss sich als eine besondere Wissenschaft erst legitimieren, indem sie das, was bei andern gelegentlich und zufällig abgehandelt ist, zu ihrem Hauptgegenstande macht, indem sie das, was dort zerstreut ist, sammelt, und einen neuen Standort feststellt, woraus die natürlichen Dinge sich mit Leichtigkeit und Bequemlichkeit betrachten lassen. Sie hat den großen Vorteil, dass die Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt, höchst bedeutend sind, und dass die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so dass auch ein fehlgeschlagener Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut verbinden könnte. Goethe
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[5] Das Wort Morphologie bedeutet Formenlehre. In der Botanik versteht man unter diesem Begriff die Lehre von den Bestandteilen der Pflanze, deren Verhältnis zueinander und zum Ganzen, mit anderen Worten die Lehre vom Bau der Pflanze. An die Möglichkeit, von einer Morphologie des Märchens zu sprechen, hat noch niemand gedacht.II Indessen ist auf dem Gebiet des Volksmärchens eine Formanalyse sowie die Ableitung von Strukturgesetzmäßigkeiten ebenso gut möglich wie bei Organismen. Wenn diese Behauptung auch nicht für alles, was als Märchen bezeichnet wird, zutrifft, so doch auf jeden Fall für die so genannten Zaubermärchen oder „Märchen im eigentlichen Sinne des Wortes“, mit denen sich diese Arbeit ausschließlich befasst.III […]
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I. Zur Geschichte des Problems […] [11] Während es in den exakten Wissenschaften (Physik, Mathematik) eine strenge Klassifizierung, eine von speziellen Kongressen bestätigte einheitliche Terminologie und eine sich ständig weiter entwickelnde Methodik gibt, fehlen alle diese Voraussetzungen auf dem Gebiet der Märchenforschung. Die bunte Vielfalt und der ausgesprochene Formenreichtum des Märchenmaterials machen eine exakte Fixierung und Lösung der Probleme sehr schwierig. […] […] [Kritik der Klassifikation nach Genres]IV [12] Am gebräuchlichsten ist die Einteilung der Märchen in folgende Gruppen: Märchen mit übernatürlichem Inhalt, Alltags- und Tiermärchen.1 Auf den ersten Blick scheint diese Klassifizierung richtig zu sein, doch dann ergibt sich notgedrungen die Frage, dass doch auch Tiermärchen manchmal zahlreiche übernatürliche Elemente enthalten und umgekehrt gerade Tiere in den Zaubermärchen eine sehr große Rolle spielen. Sind diese Kriterien wesentlich genug? Afanas’ev* beispielsweise zählt das Märchen vom Fischer und dem FischleinV zu den Tiermärchen. Hat er damit Recht? Und wenn nicht, warum? Im Folgenden werden wir sehen, dass Märchen mit größter Leichtigkeit ein und dieselbe Handlung Menschen, Gegenständen und Tieren zuordnen können. Diese Regel trifft besonders auf die so genannten Zaubermärchen zu, findet sich aber auch in den Märchen allgemein. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist das Märchen von der Ernteteilung („Mir, Bär, die Spitzen, dir die Wurzeln“)VI. In dem russischen Märchen ist der Bär der Geprellte, in den westeuropäischen Versionen dagegen der Teufel. Folglich fällt dieses Märchen unter Berücksichtigung dieser Fassung aus dem Rahmen der Tiermärchen heraus. Zu welcher Gruppe zählt es dann aber? Natürlich ist es auch kein Alltagsmärchen, denn wo wird im täglichen Leben der Ernteertrag jemals in der angegebenen Weise aufgeteilt. Ein Märchen mit über-
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Diese Klassifizierung wurde von Vsevolod F. Miller vorgeschlagen. Sie deckt sich im Prinzip mit der mythologischen Schule, die mythologische, Tier- und Alltagsmärchen unterscheidet.
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natürlichem Inhalt ist es jedoch auch nicht, und damit lässt es sich überhaupt nicht in das angeführte Schema einordnen. Und dennoch werden wir behaupten, [14] dass diese Klassifizierung VII im Prinzip richtig ist. Die Forscher ließen sich hier vom Instinkt leiten, doch ihre Formulierungen entsprechen nicht dem, was sie in Wirklichkeit empfanden. Niemand wird das Märchen vom Feuervogel und dem grauen Wolf zu den Tiermärchen rechnen. Für uns ist ebenfalls völlig eindeutig, dass sich auch Afanas’ev im Falle des Märchens vom Fischer und dem Fischlein geirrt hat; doch erkennen wir das nicht daran, dass in einem Märchen Tiergestalten auftreten oder nicht, sondern weil Zaubermärchen eine ganz spezifische Struktur aufweisen, die unmittelbar zu spüren ist und die Gattung bestimmt, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Jeder Forscher, der sagt, er klassifiziere nach dem angeführten Schema, klassifiziert tatsächlich anders. Aber gerade in diesem Widerspruch mit sich selbst handelt er richtig. Wenn die Dinge so liegen und der Unterscheidung der Märchen unbewusst ihre Struktur [stroenie] zugrunde gelegt wird, die bisher weder näher untersucht noch beschrieben wurde, so muss die gesamte Märchenklassifizierung in neue Bahnen gelenkt werden. Wie auch in anderen Wissenschaften muss sie sich an Form- und Strukturmerkmalen orientieren, und zu diesem Zweck ist eine Untersuchung eben dieser Merkmale notwendig. […] […] [Kritik an der Klassifikation nach den SujetsVIII] [14] Alle bisher behandelten Klassifizierungen teilen die Märchen in bestimmte Gattungen [razrjady] ein. Daneben gibt es eine Unterscheidung nach den Sujets. […] Wenn die Situation im ersten Fall schon unbefriedigend ist, so setzt bei der Klassifizierung nach Sujets ein völliges Chaos ein. Wir wollen dabei gar nicht erwähnen, dass ein so diffiziler und unbestimmter Begriff wie Sujet entweder überhaupt nicht oder von jedem Autor subjektiv interpretiert wird. Vorausgreifend können wir sagen, dass eine Klassifizierung der Zaubermärchen nach Sujets im Prinzip überhaupt unmöglich ist. Die Klassifizierung muss vielmehr ebenso wie die Einteilung nach bestimmten Gattungen in völlig neue Bahnen gelenkt werden. Die Märchen haben [15] eine spezifische Eigenschaft. Die Bestandteile eines Märchens können nämlich völlig unverändert auf ein anderes übertragen werden. Weiter unten soll dieses Gesetz der Permutation genauer behandelt werden, hier
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genügt zunächst der Hinweis, dass z. B. die Gestalt der Baba-Jaga [Hexe] in den unterschiedlichsten Märchen und Sujets auftreten kann. Es handelt sich dabei um eine spezifische Besonderheit des Volksmärchens. Bisher wird ein Sujet ohne Berücksichtigung dieser Erscheinung gewöhnlich folgendermaßen bestimmt: Man wählt irgendeinen Abschnitt des Märchens aus (häufig einen zufälligen, gerade ins Auge fallenden), fügt die Präposition „von“ hinzu, und die Definition ist fertig. So ist ein Märchen, in dem der Kampf mit dem Drachen oder der böse Ko!"ej vorkommen, ein Märchen „vom Drachenkampf“ bzw. „von Ko!"ej“ usw., wobei es kein einheitliches Prinzip für die Auswahl der wesentlichen Elemente gibt. Denkt man jetzt an das Gesetz der Permutation, so gelangt man zwangsläufig in eine Sackgasse oder, genauer gesagt, zu Überschneidungen; eine solche Klassifizierung wird nie das Wesentliche des Forschungsobjekts erfassen. Dazu kommt noch die mangelnde Stichhaltigkeit des Grundprinzips der Unterscheidung, d. h. es wird eine der elementarsten Regeln der Logik verletzt. So ist die Situation bis auf den heutigen Tag geblieben. […] [20] Wir sehen also, dass die Dinge bei der Märchenklassifikation nicht allzu glücklich liegen; dennoch stellt die Klassifikation eine der primärsten und wichtigsten Etappen der Forschung dar. Denken wir daran, welche fundamentale Bedeutung Linnés erste wissenschaftliche Klassifizierung für die Botanik hatte. Die Märchenforschung befindet sich dagegen noch in einem prälinnéischen Stadium.IX [Kritik an Veselovskijs Motivbegriff] [21] Gehen wir nun zu einem anderen sehr wichtigen Gebiet der Märchenforschung über: zur systematischen Beschreibung des Märchens. […] A. N. Veselovskij* hat nur wenige, aber grundlegende Gedanken zur deskriptiven Darstellung des Märchens geäußert. Jedoch hat das, was er dazu gesagt hat, hervorragende Bedeutung. Er versteht unter Sujet einen Komplex von Motiven. Ein Motiv kann mit verschiedenen Sujets verbunden werden.2 („Eine Reihe von Motiven bildet ein Sujet. Ein Motiv entwickelt sich zum Sujet.“ „Die Sujets variieren: In die Sujets dringen einige Motive ein, oder die Sujets werden miteinander kombiniert.“ – „Unter 2
A. N. Veselovskij, Poetik des Sujets. In: A. N. V., Gesammelte Werke, Serie I, Bd. 2, Lfg. 1, Sankt Petersburg 1913, S. 1–133.
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zusammenfließen.“3). Für Veselovskij ist das Motiv etwas Primäres, das Sujet dagegen eine sekundäre Erscheinung. Er betrachtet das Sujet bereits als Ergebnis eines schöpferischen Prozesses bzw. einer Kombination, woraus sich für uns die Notwendigkeit ergibt, die Forschung nicht so sehr auf das Sujet als vielmehr auf das Motiv auszurichten. Hätte man sich in der Märchenforschung Veselovskijs These die Frage nach den Motiven [ist] von der Frage nach den Sujets abzugrenzen4 (bei Veselovskij hervorgehoben) besser zueigen gemacht, dann wären viele Unklarheiten bereits beseitigt.5 Veselovskijs Auffassung von den Motiven und Sujets stellt nur ein allgemeines Prinzip dar; seine konkrete [22] Auslegung des Terminus Motiv dagegen kann heute schon nicht mehr als gültig akzeptiert werden, denn er betrachtet es als eine unteilbare Größe der Erzählung. („Unter Motiv verstehe ich die einfachste narrative Einheit; Kennzeichen des Motivs ist sein bildlicher eingliedriger Schematismus; solcherart sind die nicht weiter zerlegbaren Elemente der einfachen Mythologie und Märchen.“6) Indessen lassen sich die von ihm als Beispiele angeführten Motive noch weiter zergliedern. Wenn das Motiv etwas in sich Abgeschlossenes darstellt, dann enthält jeder Satz eines Märchens ein Motiv (z. B. „Ein Vater hatte drei Söhne“, „Die Stieftochter verlässt das Haus“, „Iwan kämpft mit dem Drachen“ usw.). Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn sich diese Motive tatsächlich nicht weiter zerlegen ließen. Man könnte auf diese Weise einen Motiv-Index aufstellen. Aber betrachten wir das folgende Motiv „Der Drache raubt die Tochter des Zaren“ (Das Beispiel stammt nicht von Veselovskij). Dieses Motiv lässt sich in vier Elemente zerlegen, von denen wiederum jedes einzelne verschiedene Varianten bilden kann. Für den 3 4
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Vgl. S. 8–9 im vorliegenden Band [Anm. Ch. Hauschild]. A. N. Veselovskij, Poetik des Sujets. In: A. N. V., Gesammelte Werke, Serie I, Bd. 2, Lfg. 1, Sankt Petersburg 1913, S. 1–133 [vgl. die Übersetzung im vorliegenden Band, S. 8; Anm. Ch. Hauschild]. Volkovs Kardinalfehler besteht in folgender Auffassung: „Das Märchensujet ist zugleich jene feste Größe, von der man allein bei der Erforschung des Märchens ausgehen kann“ (s. R. M. Volkov, Das Märchen. Untersuchungen zum Sujetaufbau [sju!etoslo!enie] des Volksmärchens, Bd. I, Odessa 1924, S. 5). Dem halten wir entgegen: Das Sujet ist keine feste Größe, sondern eine komplexe Erscheinung, es ist nicht konstant, sondern variabel und kann niemals Ausgangspunkt für die Erforschung des Märchens sein. A. N. Veselovskij, Poetik des Sujets. In: A. N. V., Gesammelte Werke, Serie I, Bd. 2, Lfg. 1, Sankt Petersburg 1913, S. 11, 3 [vgl. Auszüge aus dieser Arbeit Veselovskijs im vorliegenden Band, S. 2, 8; Anm. Ch. Hauschild].
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nen wiederum jedes einzelne verschiedene Varianten bilden kann. Für den Drachen können Ko!"ej, ein Wirbelsturm, der Teufel, ein Adler oder ein Zauberer auftreten, das Element des Menschenraubs kann durch das Eingreifen von Vampiren oder andere Handlungen ersetzt werden, die im Märchen zum Verschwinden einer Person führen. Statt der Zarentochter können Schwester, Braut, Gattin oder Mutter, für den Zaren sein Sohn, ein Bauer oder Pope auftreten. So muss man entgegen Veselovskijs These konstatieren, dass Motive weder eingliedrig noch unteilbar sind.X Die kleinste unteilbare Größe als solche ist weder ein logisches noch ein künstlerisches Ganzes. Wenn wir auch Veselovskij in dem Punkte zustimmen, dass für eine Beschreibung die einzelnen Bestandteile wichtiger sind als das Ganze (seiner Auffassung nach rangiert das Motiv auch seinem Ursprung nach vor dem Sujet), so werden wir das Problem der Unterscheidung bestimmter primärer Elemente doch anders lösen müssen. [Kritik an Bédier] Was Veselovskij misslang, vermochten auch andere Märchenforscher nicht zu lösen. Als Beispiel eines methodisch sehr interessanten Versuchs kann man Joseph Bédiers* XI Form der Märchenanalyse zitieren. Seine Bedeutung besteht darin, dass er als erster [23] im Märchen die Existenz bestimmter Beziehungen zwischen konstanten und variablen Größen erkannte und schematisch darzustellen versuchte.7 Die Konstanten und wesentlichen Größen definiert er als Elemente und bezeichnet sie mit Omega (!). Für alle übrigen, variablen Größen verwendet er lateinische Lettern. So können die einzelnen Märchen durch folgende Formeln schematisch dargestellt werden: ! + a + b + c; ! + a + b + c + n; ! + 1 + m + n usw. Dieser im Prinzip richtige Gedanke scheiterte daran, dass die Größe ! nicht exakt erfasst werden konnte. Was Bédiers Elemente objektiv darstellen und wie sie zu unterscheiden sind, bleibt ungeklärt.8 […] [24] Veselovskijs und Bédiers Methoden gehören mehr oder weniger schon der Vergangenheit an. Obwohl beide Wissenschaftler tatsächlich als Historiker auf dem Gebiet der Folklore arbeiteten, so stellten ihre Metho7 8
Joseph Bédier, Les fabliaux, Paris 1893. Vgl. S. F. Ol’denburg [sic.], Fabeln orientalischer Herkunft. In: Zeitschrift des Volksbildungsministeriums, Teil 345 (1903), Nr. 4, Abt. 2, S. 217–238. In diesem Aufsatz wird Bédiers Methode eingehender gewürdigt.
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Erkenntnis dar, die dann aber nicht weiter ausgeführt und angewendet worden ist. Heute dagegen wird die Notwendigkeit einer Erforschung der Form des Märchens allgemein anerkannt.XII […] Daraus erkennen wir, dass sehr viel von einer Analyse der Formen abhängen wird. […]XIII II. Methode und Quellenmaterial Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten. Goethe
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[28] Zunächst wollen wir unsere Aufgabe formulieren. Wie bereits im Vorwort gesagt wurde, befasst sich diese Untersuchung mit den Zaubermärchen. Die Existenz dieser Märchen als einer besonderen Kategorie wird hier als notwendige Arbeitshypothese zugelassen. Unter Zaubermärchen werden hier die im Katalog von Aarne/Thompson unter den Nummern 300–749 erfassten Märchen verstanden. Dies soll eine vorläufige Definition sein, später wird sich die Gelegenheit bieten, aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse eine exaktere Begriffsbestimmung zu geben.XV Wir wollen die einzelnen Sujets dieser Märchen untereinander vergleichen. Zu diesem Zweck isolieren wir die Bestandteile der Zaubermärchen nach speziellen Methoden und vergleichen anschließend auf dieser Basis die einzelnen Märchen. So gelangen wir zu einer morphologischen Darstellung, d. h. zu einer Beschreibung der Märchen auf der Grundlage ihrer Bestandteile sowie deren Beziehungen untereinander und zum Ganzen. Welche Methoden führen aber zu einer exakten Beschreibung des Märchens? Vergleichen wir folgende Beispiele: 1. Der Zar gibt dem Burschen einen Adler. Dieser bringt den Burschen in ein anderes Reich (171). 2. [29] Der Großvater gibt Su"enko ein Pferd. Das Pferd bringt Su"enko in ein anderes Reich (132). 3. Der Zauberer gibt Ivan ein kleines Boot. Das Boot bringt Ivan in ein anderes Reich (138).
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4. Die Zarentochter gibt Ivan einen Ring. Die Burschen, die in dem Ring stecken, bringen Ivan in das fremde Zarenreich (156) usw. In diesen Beispielen gibt es konstante und variable Größen. Es wechseln die Namen und die entsprechenden Attribute der handelnden Personen, konstant bleiben ihre Aktionen bzw. Funktionen. Daraus kann man folgern, dass das Märchen häufig völlig gleichartige Handlungen verschiedenen Gestalten zuordnet, wodurch eine Analyse des Märchens auf der Basis der Funktionen der handelnden Personen möglich wird. Zu diesem Zweck muss festgestellt werden, inwieweit diese Funktionen tatsächlich die wiederkehrenden konstanten Größen des Märchens darstellen. Alle weiteren Probleme werden von der Lösung der Hauptfrage abhängen: Wie viele Funktionen gibt es im Märchen? Die Analyse wird zeigen, dass die Funktionen erstaunlich häufig wiederkehren. So stellen z. B. sowohl die Baba-Jaga als auch Morozko, der Bär, der Waldgeist und der Kopf der Stute die Stieftochter auf die Probe und belohnen sie anschließend. Weiter zeigt sich, dass die verschiedenen Märchengestalten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, oft ein und dasselbe tun. Art und Weise der Funktionsausübung können dabei wechseln, denn sie stellen eine variable Größe dar. Morozko handelt selbstverständlich anders als die Baba-Jaga. Die Funktion als solche ist aber eine konstante Größe. Für die Erforschung der Märchen ist daher die Frage primär, was die Märchengestalten tun; die Frage nach dem wer und wie sind nur noch sekundärer Art. Die Funktionen der handelnden Personen sind jene Elemente, die an die Stelle der Motive bei Veselovskij oder der Elemente bei Bédier treten. Die Wiederkehr bestimmter Funktionen bei unterschiedlich handelnden Personen ist schon längst von Religionshistorikern in Mythen und volkstümlichen Glaubensvorstellungen nachgewiesen worden, die historische Märchenforschung indessen ist bisher an dieser Tatsache vorübergegangen.XVI [30] Ebenso wie Eigenschaften und Funktionen der einzelnen Götter wechseln und schließlich sogar auf christliche Heiligengestalten übertragen werden, ebenso werden auch die Funktionen der einen Märchenhelden auf andere übertragen. Vorausgreifend kann man konstatieren, dass eine ausgesprochen geringe Zahl von Funktionen gegenüber einer Vielzahl von Gestalten existiert, woraus sich der gewisse Doppelcharakter des Zaubermärchens erklärt, denn seiner erstaunlichen Vielfalt an Formen und Bildern stehen eine nicht minder überraschende einheitliche Struktur und die ständige Wiederkehr bestimmter Elemente gegenüber. Damit bilden die Funktionen der handelnden Personen die Grundelemente des Märchens und müssen in erster Linie herausgearbeitet werden.
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Zu diesem Zweck müssen die Funktionen unter zwei Aspekten bestimmt werden. Einerseits darf sich die Definition auf keinen Fall nach der Gestalt richten, die die betreffende Funktion ausübt. Die Definition wird meistens ein Substantiv sein, das die entsprechende Handlung bezeichnet (z. B. Verbot, Ausfragen, Flucht usw.). Andererseits kann eine Handlung niemals isoliert von ihrer Stellung im Gang der Erzählung definiert werden. Man muss also von der Bedeutung ausgehen, die die betreffende Funktion im Handlungsablauf besitzt. Vermählt sich z. B. Ivan mit der Zarentochter, so ist das etwas völlig anderes, als wenn ein Vater eine Witwe mit zwei Töchtern heiratet. Oder ein anderes Beispiel: Bekommt der Held in einem Falle vom Vater 100 Rubel und kauft sich für dieses Geld ein Kätzchen mit übernatürlichen Eigenschaften und wird er in einem anderen Falle für eine Heldentat mit Geld belohnt, womit das Märchen gleichzeitig endet, so haben wir es bei aller Identität der Handlungen (Aushändigung von Geld) mit morphologisch unterschiedlichen Elementen zu tun. So können identische Handlungen unterschiedliche Bedeutungen tragen und umgekehrt. Unter Funktion wird hier die Aktion einer handelnden [31] Person verstanden, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird. Diese Feststellungen lassen sich kurz folgendermaßen formulieren: 1. Die konstanten und unveränderlichen Elemente des Märchens sind die Funktionen der handelnden Personen, unabhängig davon, von wem oder wie sie ausgeführt werden. Sie bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens. 2. Die Zahl der Funktionen ist für das Zaubermärchen begrenzt.XVII Sind die Funktionen bestimmt, so taucht die Frage auf, in welchen Gruppierungen und in welcher Reihenfolge diese Funktionen auftreten. Zunächst zum zweiten Punkt. Es besteht die Meinung, diese Reihenfolge sei rein zufällig. Veselovskij sagt: „Auswahl und Reihenfolge der Aufgaben und Begegnungen [als Beispiele für Motive – V. P.] [...] setzen bereits eine gewisse Freiheit voraus.“9 Noch deutlicher formulierte #klovskij* diesen Gedanken: „Es ist völlig unverständlich, warum bei Entlehnungen die zufällige [Hervorhebung von #klovskij – V. P.] Reihenfolge der Motive beibehalten werden muss. Bei Zeugenaussagen wird doch gerade der 9
A. N. Veselovskij, Poetik des Sujets. In: A. N. V., Gesammelte Werke, Serie I, Bd. 2, Lfg. 1, Sankt Petersburg 1913, S. 33 [im vorliegenden Bd. S. 3;Anm. Ch. Hauschild].
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Ablauf der Ereignisse am allerstärksten entstellt.“10 Dieser Vergleich ist unglücklich gewählt. Wenn Zeugen in ihrer Aussage den Ablauf der Ereignisse entstellen, dann ist ihr Bericht ohne logischen Zusammenhang, denn die Reihenfolge der Ereignisse hat ganz spezifische Gesetze, und ähnliche Gesetze gelten auch für eine künstlerische Erzählung. Logisch gesehen, setzt Diebstahl Einbruch voraus. Was aber das Märchen angeht, so hat es seine ganz spezifischen Gesetze. Die Reihenfolge der Elemente ist, wie wir später feststellen werden, immer ein und dieselbe. Abweichungen von dieser Regel sind auf einen äußerst kleinen, genau abzugrenzenden Kreis beschränkt. So kommen wir zur dritten Hauptthese der Untersuchung, die im Folgenden näher ausgeführt und bewiesen werden soll: 3. Die Reihenfolge der Funktionen ist stets ein und dieselbe. [32] Man muss allerdings die Einschränkung machen, dass dieses Gesetz nur auf die Folklore zutrifft. Es ist kein spezifisches Merkmal des Märchens als Gattung. Kunstmärchen sind dieser Regel nicht unterworfen. Zur Gruppierung der Funktionen ist vor allem zu sagen, dass bei weitem nicht jedes Märchen sämtliche Funktionen enthält, was aber das Gesetz der Reihenfolge in keiner Weise beeinflusst, denn das Fehlen einzelner Funktionen verändert nicht die Anordnung der übrigen Funktionen. Auf diese Erscheinung werden wir noch eingehen; zunächst beschäftigen wir uns mit den Gruppierungen selbst. Schon auf Grund der Fragestellung kann man vermuten, dass nach Bestimmung der Funktionen festgestellt werden kann, welche Märchen ein und dieselben Funktionen aufweisen. Solche Märchen kann man dann zu einem bestimmten Typ rechnen. Auf dieser Basis lässt sich dann später ein Typen-Katalog zusammenstellen, der nicht von den etwas vagen und verschwommenen Sujet-Merkmalen, sondern von konkreten Strukturmerkmalen ausgeht. Tatsächlich wird sich ein solcher Weg als möglich erweisen.XVIII Doch bei näherem Vergleich der einzelnen Strukturtypen werden wir zu der völlig überraschenden Feststellung gelangen, dass die Funktionen sich nicht nach einander ausschließenden Prinzipien ordnen lassen.XIX Diese Erscheinung wird sich ganz deutlich erst im folgenden, sowie im letzten Kapitel zeigen. Vorläufig kann sie folgendermaßen erklärt werden: Bezeichnen wir eine Funktion, die immer an erster Stelle steht, mit dem Buchstaben A und eine weitere, die, falls vorhanden, stets auf die erste folgt, mit B, so sind alle im 10
V. #klovskij, Teorija prozy [Theorie der Prosa], Moskva/Leningrad 1925, S. 23.
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Märchen möglichen Funktionen in einer einzigen Erzählung vorhanden, keine fällt aus der Reihenfolge heraus, keine schließt die andere aus oder steht im Widerspruch zu ihr. Eine solche Feststellung war durchaus nicht vorauszusehen. Zu erwarten war natürlich, dass dort, wo die Funktion A vorhanden ist, keine solchen Funktionen auftreten können, die zu anderen Erzählungen gehören. Anzunehmen war, dass wir zu mehreren Prinzipien der Gruppierung von Funktionen gelangen würden, doch es ergibt sich für sämtliche Zaubermärchen ein einziges Grundprinzip. Sie bilden alle einen Typ, und die oben erwähnten Kombinationen stellen Untergruppen dieses Grundtyps dar. Auf den ersten Blick erscheint diese Feststellung ungereimt, ja sogar unsinnig, doch sie lässt sich ganz exakt nachweisen. Diese Typengleichheit bildet das schwierigste Problem, auf das noch näher [33] eingegangen werden muss, denn an diese Erscheinung schließt sich eine ganze Reihe von Fragen an. So kommen wir zur vierten Hauptthese unserer Untersuchung: 4. Alle Zaubermärchen gehören hinsichtlich ihres Aufbaus zu einem einzigen Typ. Gehen wir jetzt an den Nachweis und die spezielle Ausführung dieser Thesen. Dabei ist zu bemerken, dass die Erforschung der Märchen streng deduktiv erfolgen muss (was auch in der vorliegenden Arbeit prinzipiell getan wird), d. h. ausgehend vom Quellenmaterial gelangt man zu allgemeinen Erkenntnissen. Doch kann man bei der Darstellung der Probleme umgekehrt verfahren, denn der Leser wird den Ausführungen leichter folgen können, wenn ihm die allgemeinen Grundlagen im Voraus bekannt sind.XX Ehe wir aber an die Analyse gehen, muss die Frage entschieden werden, welches Material die Arbeitsgrundlage bilden könnte. Zunächst scheint es unbedingt erforderlich, sämtliche existierenden Quellen heranzuziehen. In Wirklichkeit ist das aber gar nicht nötig. Da wir nämlich die Märchen nach den Funktionen der handelnden Personen untersuchen, kann in dem Augenblick auf weiteres Material verzichtet werden, wo sich herausstellt, dass neue Märchen keine neuen Funktionen mehr enthalten. Natürlich muss der Fachmann zur Kontrolle eine Menge Material sichten, braucht aber nicht sämtliche Beispiele anzuführen. Wir haben festgestellt, dass 100 Märchen zu den verschiedenen Sujets mehr als ausreichend sind. Zeigt sich, dass keine neuen Funktionen mehr nachzuweisen sind, kann der Morphologe seine spezielle Analyse abschließen, denn alle weiteren Untersuchungen können dann in anderer Richtung verlaufen (Zusammen-
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stellung von Katalogen, Gesamtsystematik, Erforschung aller künstlerischen Methoden usw.). Wenn sich das Material auch rein zahlenmäßig einschränken lässt, so bedeutet das doch nicht, dass man die Auswahl nach eigenem Ermessen, ohne Berücksichtigung bestimmter äußerer Merkmale, vornehmen kann. Wir nehmen Afanas’evs SammlungXXI und gehen an die Analyse der Märchen von Nr. 50 (das ist nach Afanas’evs Meinung das erste Zaubermärchen seiner Sammlung) bis Nr. 151.11 Gegen eine solche knappe Materialauswahl lassen sich zweifellos [34] Einwände erheben, doch ist sie theoretisch gerechtfertigt. Um sie genauer zu begründen, wäre noch die Frage nach dem Häufigkeitsgrad der Wiederholung bestimmter Elemente des Märchens zu stellen. Ist dieser hoch, kann man sich auf eine bestimmte Materialauswahl beschränken, im umgekehrten Falle natürlich nicht. Der Häufigkeitsgrad der Grundelemente des Märchens übersteigt jedoch, wie sich zeigen wird, alle Erwartungen. Folglich kann man sich theoretisch auf wenig Material beschränken. Praktisch ist dieser Schritt insofern gerechtfertigt, als durch allzu viel Beispielmaterial der Umfang der Untersuchung übermäßig anwachsen würde. Es geht in erster Linie nicht so sehr um die Quantität des Materials als um die Qualität der Analyse. 100 Märchen – das ist unsere Arbeitsgrundlage, alles weitere Material dient lediglich der Kontrolle. Es ist zwar für den Fachmann von großem Interesse, sonst aber ohne wesentlichere Bedeutung. III. Die Funktionen der handelnden Personen [36] I.
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Ein Familienmitglied verlässt das Haus für einige Zeit. Definition: Zeitweilige Entfernung; Symbol a […]
In den neueren Ausgaben entspricht das den Nr. 93–268, da hier jede Variante eine neue Nummer hat, während in der von Afanas’ev selbst besorgten Ausgabe eine neue Nummer ein neues Sujet bezeichnet und die entsprechenden Varianten jeweils unter derselben Nummer durch lateinische Buchstaben zusätzlich markiert werden. So wird das Märchen Nr. 104 (Das Märchen von dem kühnen Burschen, von den Äpfeln, die wieder jung machen und dem Wasser des Lebens) in den alten Ausgaben vor 1917 unter den Nummern 104a, 104b, 104c, 104d, 104e usw., in den neuen Ausgaben unter den Nummern 171, 172, 173, 174, 175 usw. geführt. Alle weiteren Verweisungen beziehen sich auf die neue Zählung.
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II.
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Dem Helden wird ein Verbot erteilt. Definition: Verbot; Symbol b […] [37] III. Das Verbot wird verletzt. Definition: Verletzung des Verbots; Symbol c […] [38] IV. Der Gegenspieler versucht, Erkundigungen einzuziehen. Definition: Erkundigung; Symbol d […] V. Der Gegenspieler erhält Informationen über sein Opfer. Definition: Verrat; Symbol e […] [39] VI. Der Gegenspieler versucht, sein Opfer zu überlisten, um sich seiner selbst oder seines Besitzes zu bemächtigen. Definition: Betrugsmanöver; Symbol f […] [40] VII. Das Opfer fällt auf das Betrugsmanöver herein und hilft damit unfreiwillig dem Gegenspieler. Definition: Mithilfe; Symbol g […] VIII. Der böse Gegenspieler fügt einem Familienmitglied einen Schaden oder Verlust zu. Definition: Schädigung; Symbol A […] [45] VIIIa. Einem Familienmitglied fehlt irgendetwas, es möchte irgendetwas haben. Definition: Mangelsituation; Symbol ! […] [46] IX. Ein Unglück oder der Wunsch, etwas zu besitzen, werden verkündet, dem Helden wird eine Bitte bzw. ein Befehl übermittelt, man schickt ihn aus oder lässt ihn gehen. Definition: Vermittlung, verbindendes Moment; Symbol B […] [48] X. Der Sucher ist bereit bzw. entschließt sich zur Gegenhandlung. Definition: Einsetzende Gegenhandlung; Symbol C […]
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XI.
Der Held verlässt das Haus. Definition: Abreise; Symbol " […] [49] XII. Der Held wird auf die Probe gestellt, ausgefragt, überfallen usw., wodurch der Erwerb des Zaubermittels oder des übernatürlichen Helfers eingeleitet wird. Definition: erste Funktion des Schenkers; Symbol Sch […] [52] XIII. Der Held reagiert auf die Handlungen des künftigen Schenkers. Definition: Reaktion des Helden; Symbol H […] [53] XIV. Der Held gelangt in den Besitz des Zaubermittels. Definition: Empfang eines Zaubermittels; Symbol Z […] [59] XV. Der Held wird zum Aufenthaltsort des gesuchten Gegenstandes gebracht, geführt oder getragen. Definition: Raumvermittlung, Wegweisung; Symbol W […] [60] XVI. Der Held und sein Gegner treten in einen direkten Zweikampf. Definition: Kampf; Symbol K […] [61] XVII. Der Held wird gekennzeichnet. Definition: Kennzeichnung, Markierung; Symbol M […] XVIII. Der Gegenspieler wird besiegt. Definition: Sieg; Symbol S […] XIX. Das anfängliche Unglück wird gutgemacht bzw. der Mangel behoben. Definition: Liquidierung, Aufhebung des Unglücks oder Mangels; Symbol L […] [64] XX. Der Held kehrt zurück. Definition: Rückkehr; Symbol # […]
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XXI.
Der Held wird verfolgt. Definition: Verfolgung; Symbol V […] [65] XXII. Der Held wird vor den Verfolgern gerettet. Definition: Rettung; Symbol R […] [67]
[68]
XXIII.
VIIIbis Die Brüder rauben Ivan seine Beute (stoßen ihn selbst in einen Abgrund). […] bis X-XI Der Held begibt sich erneut auf die Suche (Symbol C"): Vgl. die Funktionen X-XI. […] bis XII Der Held wird wieder Handlungen unterworfen, die zum Erwerb eines Zaubermittels führen. (Sch; vgl. Funktion XII). bis XIII Der Held reagiert erneut auf die Handlungen des künftigen Schenkers (H; vgl. Funktion XIII). bis XIV Der Held bekommt ein neues Zaubermittel zur Verfügung (Z; vgl. Funktion XIV). bis XV Der Held wird an den Aufenthaltsort des gesuchten Objekts gebracht (W; vgl. Funktion XV): In diesem Fall gelangt er nach Hause. […]
Der Held gelangt unerkannt nach Hause zurück oder in ein anderes Land. Definition: Unerkannte Ankunft; Symbol X […] XXIV. Der falsche Held macht seine unrechtmäßigen Ansprüche geltend. Definition: Unrechtmäßige Ansprüche; Symbol U […] XXV. Dem Helden wird eine schwere Aufgabe gestellt. Definition: Prüfung, Schwere Aufgabe; Symbol P […] [70] XXVI. Die Aufgabe wird gelöst. Definition: Lösung; Symbol Lö […]
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XXVII. Der Held wird erkannt. Definition: Erkennung; Symbol E […] XXVIII. Der falsche Held, Gegenspieler oder Schadensstifter wird entlarvt. Definition: Überführung, Entlarvung; Symbol Ü […] XXIX. Der Held erhält ein anderes Aussehen. Definition: Transfiguration; Symbol T […] [71] XXX. Der Feind wird bestraft. Definition: Strafe, Bestrafung. Symbol St […] XXXI. Der Held vermählt sich und besteigt den Thron. Definition: Hochzeit und Thronbesteigung; Symbol H** […] [72] Damit endet das Märchen. Zu ergänzen wäre noch, dass in Einzelfällen bestimmte Handlungen der Märchenhelden auf keine der angeführten Funktionen zutreffen, doch kommt das selten vor. Hierbei handelt es sich entweder um Formen, die ohne entsprechendes Vergleichsmaterial nicht zu erklären sind, oder um Elemente, die aus anderen Märchengattungen (Schwank, Legende usw.) übernommen sind. Wir definieren sie als unklare Elemente und verwenden das Symbol N. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den angeführten Beobachtungen ableiten? Zunächst einige allgemeine Feststellungen: Wir sehen, dass die Zahl der Funktionen tatsächlich äußerst begrenzt ist; insgesamt lassen sich nur 31 Funktionen nachweisen, auf deren Basis sich die Handlung sämtlicher hier analysierter Märchen entwickelt. Sie treffen darüber hinaus auch für sehr viele weitere Märchen der verschiedensten Völker zu. Betrachten wir sämtliche Funktionen nacheinander im Zusammenhang, so erkennen wir, wie sich mit logischer und künstlerischer Konsequenz die eine Funktion aus der vorhergehenden entwickelt. Wir stellen fest, dass keine einzige Funktion die folgende ausschließt. Sie alle gehören in eine geschlossene Linie, nicht zu verschiedenen, wie bereits eingangs betont wurde. [73] Jetzt einige spezielle, aber äußerst wichtige Feststellungen: Wir sehen, dass zahlreiche Funktionen paarweise angeordnet sind (Verbot – Verletzung des Verbots; Verhör – Verrat; Kampf – Sieg; Verfolgung –
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Rettung). Andere Funktionen treten in bestimmten Gruppen auf, z. B. bilden die Elemente Schädigung – Aussendung – Entschluss zur Gegenhandlung – Auszug von zu Hause (A B C !) den Knoten der Handlung. Die Funktionen Prüfung des Helden durch den Schenker – Reaktion des Helden und Belohnung stellen ebenfalls einen bestimmten Komplex dar. Daneben gibt es Funktionen, die isoliert auftreten (z. B. Abwesenheit, Bestrafung, Vermählung u. ä.). Diese speziellen Schlussfolgerungen sollen hier zunächst lediglich erwähnt werden. Die Erkenntnis, dass bestimmte Funktionen paarweise angeordnet sind, sowie die allgemeinen Feststellungen werden uns noch zustatten kommen. Im Folgenden müssen wir zu den Märchen direkt übergehen, d. h. zu den einzelnen Texten. Die Frage, wie das entworfene Schema auf die Texte anzuwenden sei und was die einzelnen Märchen in Bezug auf dieses Schema darstellen, kann nur durch Textanalysen geklärt werden. Umgekehrt kann die Frage, was das Schema in Bezug auf die Märchen darstellt, sofort beantwortet werden, es ist nämlich eine Maßeinheit für Märchen. Ähnlich wie ein Textilstoff zur Längenbestimmung an das Metermaß gelegt werden kann, so lassen sich die Märchen an diesem Schema messen und dadurch definieren. Gleichzeitig kann bei unterschiedlichen Märchen deren wechselseitiges Verhältnis bestimmt werden. Damit zeichnet sich bereits ab, dass die Frage nach der Verwandtschaft der Märchen sowie das Problem der Stoffe und Varianten dank dieser Methode eine ganz neue Lösung erfahren können. […] VIII. Zu den Attributen der handelnden Personen und deren Bedeutung Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre Goethe
XXII
[96] Die funktionsmäßige Analyse der Gestalten, ihre Einteilung in bestimmte Kategorien sowie die Untersuchung der Formen ihres Eintritts in die Handlung, alle diese Faktoren führen zwangsläufig zur Frage der Märchengestalten überhaupt. Oben haben wir das Problem der handelnden Personen streng von dem der Handlungen an sich getrennt, denn Nomenklatur und Attribute der handelnden Personen sind variable Märchenelemente. Unter Attributen verstehen wir sämtliche äußere Eigenschaften der Gestalten, wie z. B. Alter, Geschlecht, Stand, äußere Erscheinung, besondere Kennzeichen usw. Sie verleihen dem Märchen sein spezifisches Ko-
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lorit und einen besonderen Reiz. Spricht man vom Märchen, so denkt man vor allem an die Hexe mit dem Hexenhäuschen, an den vielköpfigen Drachen, an den Königssohn und die wunderschöne Prinzessin, an fliegende Pferde mit übernatürlichen Eigenschaften und vieles mehr. Wir haben aber bereits festgestellt, dass die einzelnen Märchengestalten sehr leicht gegeneinander ausgetauscht werden können. Diese Erscheinung hat ihre spezifischen und bisweilen äußerst komplizierten Ursachen. Die reale Wirklichkeit schafft neue, markante Gestalten, die die alten Märchenfiguren verdrängen. Von Einfluss sind solche Faktoren wie die historische Wirklichkeit in ihrer ständigen Entwicklung, die epische Dichtung der Nachbarvölker, Schrifttum und Religion, sowohl Christentum als auch volkstümliche Glaubensvorstellungen gleichermaßen. Das Märchen bewahrt Spuren uralter heidnischer Vorstellungen und längst vergangener Sitten und Gebräuche. Es durchläuft eine allmähliche Metamorphose, [97] die ebenfalls bestimmten Gesetzen unterworfen ist. Alle diese Prozesse führen zu einer solchen Vielfalt an Formen, die sich nur schwerlich erfassen lässt. Und dennoch ist die Erforschung möglich, denn die Funktionen bleiben konstant, und dadurch können auch jene Elemente, die sich um die Funktionen gruppieren, systematisiert werden. Wie gelangt man aber zu diesem System? Der beste Weg ist eine tabellenmäßige Zusammenstellung. Bereits Veselovskij sprach von einem solchen Verfahren, ohne allerdings allzu sehr von dessen Realisierbarkeit überzeugt zu sein.XXIII Wir haben solche Tabellen zusammengestellt, in deren Einzelheiten wir den Leser hier aber nicht einführen können, obwohl sie nicht allzu kompliziert sind. Die Analyse der Attribute einer Gestalt ergibt lediglich folgende drei Hauptrubriken: Äußeres und Nomenklatur, besondere Merkmale ihres Auftauchens im Märchen, Wohnsitz. Dazu kommt eine Reihe minder wichtiger Hilfselemente. So ergeben sich für die Hexe folgende charakteristische Merkmale: Name und Äußeres (Hexe mit dem Knochenbein, ihre Nase ist in die Stubendecke eingewachsen u. a.), Form ihres Auftauchens im Märchen (sie kommt auf einem Mörser geflogen mit Pfeifen und Brausen), Wohnsitz (ihr Hüttchen, das sich auf Hühnerbeinchen dreht). Haben wir eine Gestalt funktionsmäßig z. B. als Schenker, Helfer usw. definiert und in den genannten Rubriken alles erfasst, was über sie gesagt wird, dann ergibt sich ein sehr interessantes Bild. Das gesamte Material einer Rubrik lässt sich völlig selbständig durch das gesamte Märchenmaterial verfolgen. Obgleich es sich um variable Elemente handelt, kann man
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doch auch hier eine häufige Wiederholung feststellen. Die häufigsten und künstlerisch besten Formen bilden einen gewissen Kanon, der sich gesondert darstellen lässt, wozu allerdings festgelegt werden muss, wie die Grundformen von abgeleiteten und heteronomen Formen zu unterscheiden sind. Es gibt einen internationalen Kanon, es existieren nationale Formen, wie z. B. indische, arabische, russische, deutsche, und es finden sich bestimmte lokale Formen, wie z. B. für den Norden Russlands, für das Gebiet von Perm, Novgorod, Sibirien usw. Schließlich gibt es Varianten, [98] die sich auf bestimmte soziale Schichten beschränken, wie z. B. Soldaten, Landarbeiter und Bevölkerungskreise, die an der Grenze zwischen Stadt und Land leben. Weiter kann man feststellen, dass Elemente einer bestimmten Rubrik unvermutet in einer ganz anderen auftauchen. Dann haben wir es mit einer Transposition zu tun. So kann z. B. der Drache die Rolle eines Schenkers und Ratgebers übernehmen. Solche Transpositionen spielen eine Rolle bei der Herausbildung neuer Märchenformen, die häufig für neue Sujets gehalten werden, obwohl sie durch bestimmte Transformationen und Metamorphosen aus alten Sujets entstanden sind. Die Transposition ist nicht die einzige Art der Transformation. Ordnet man das Material jeder Rubrik zu bestimmten Gruppen, so lassen sich sämtliche Arten von Transformationen bestimmen. Es würde hier zu weit führen, auf die einzelnen Arten einzugehen; sie bieten reiches Material für spezielle Untersuchungen.XXIV Die Übersichtstabellen und die Zusammenstellung der Attribute der handelnden Personen ermöglichen jedoch noch andere Schlussfolgerungen. Dass das Märchen auf konstanten Funktionen basiert, ist bereits klar geworden. Nicht allein die Attribute, sondern auch die Funktionen sind Transformationsgesetzen unterworfen, obwohl diese Tatsache weniger augenfällig und bedeutend schwieriger zu fassen ist. (Formen, die wir als die primären ansehen, stehen in unseren Listen immer an erster Stelle.) Durch spezielle Untersuchungen ließe sich die Urform des Zaubermärchens nicht nur schematisch, wie es hier gemacht wird, sondern auch konkret-historisch rekonstruieren, wie das bei Einzelsujets längst praktiziert worden ist. Durch Eliminierung aller lokalen und sekundären Elemente und Isolierung der Grundformen würden wir zu jenem Märchen gelangen, zu dem sich sämtliche Zaubermärchen wie Varianten verhalten. Unsere Untersuchungen in dieser Richtung deuten auf jene Märchen – als Grundform der Zaubermärchen überhaupt –, in denen der Drache die Zarentochter raubt, Ivan der Hexe begegnet, ein Ross erhält und auf diesem davonfliegt, mit Hilfe des Rosses den Drachen besiegt, den Rückweg antritt, von
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den Drachenfrauen verfolgt wird, seinen Brüdern begegnet usw. [99] Der Beweis dafür lässt sich allerdings nur mit Hilfe exakter Untersuchungen zur Metamorphose und Transformation des Märchens erbringen. […] […] IX. Das Märchen als Ganzes Die Urpflanze wird das wunderreichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssten, d. h., die, wenn sie nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles Lebendige anwenden lassen. Goethe
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[ 1. Redefinition des Zaubermärchens] […] [101] In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, was unter einem Märchen zu verstehen ist. Morphologisch gesehen kann als Zaubermärchen jede Erzählung bezeichnet werden, die sich aus einer Schädigung (A) oder einem Fehlelement (!) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit (H*) oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt. Den Abschluss bilden manchmal auch Funktionen wie Belohnung (Z), Erbeutung des gesuchten Objekts oder Liquidierung des Unglücks allgemein (L). Eine solche Funktionskette haben wir als Sequenz bezeichnet. Jede neue Schädigung und jedes neue Fehlelement führen zu einer neuen Sequenz. Ein Märchen kann mehrere [102] Sequenzen aufweisen. Bei der Analyse eines Textes muss zuerst die Zahl der Sequenzen bestimmt werden. […] […] [108] Im Eingangsteil haben wir das Scheitern aller bisherigen Klassifikation der Märchen nach Stoffen umrissen. Wir werden jetzt unsere Schlussfolgerungen für eine Klassifikation nach Strukturmerkmalen benutzen. Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden:
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1. Aussonderung der Klasse der Zaubermärchen aus anderen Märchengattungen; 2. Klassifizierung der Zaubermärchen selbst. Die stabile Struktur der Zaubermärchen gestattet folgende Definition als Hypothese: Das Zaubermärchen ist eine Erzählung, die auf einer regelmäßigen Aufeinanderfolge der angeführten Funktionen in verschiedenen Formen beruht, wobei in einzelnen Fällen bestimmte Funktionen fehlen, andere mehrmals wiederholt werden können. Bei einer solchen Definition verliert der Terminus ‚Zauber‘-Märchen seinen Sinn, denn man kann sich sehr leicht Zauber-, Feen- oder phantastische Märchen mit völlig anderer Struktur vorstellen […]. Andererseits können vereinzelte Märchen, die keine Zaubermärchen sind, nach dem hier angeführten Schema aufgebaut sein. Bestimmte Legenden, vereinzelte Tiermärchen und Novellen zeigen tatsächlich dieselbe Struktur. Deshalb muss für den Terminus Zaubermärchen eine andere Bezeichnung gefunden werden. Da das sehr schwierig ist, belassen wir es vorläufig bei der alten Bezeichnung. Mit der Erforschung weiterer Märchenklassen wird es möglich sein, hier eine Korrektur vorzunehmen und eine entsprechende Terminologie festzulegen. Man könnte sie auch als Märchen bezeichnen, die dem 7-Personen-Schema unterworfen sind. Dieser Terminus ist zwar sehr exakt, aber zugleich umständlich. Wollte man diese Märchen vom historischen Standpunkt klassifizieren, so käme ihnen die alte, heute nicht mehr akzeptierte Bezeichnung mythologische Märchen zu. […] [109] In diesem Zusammenhang könnte man noch anführen, dass auch eine Reihe uralter Mythen eine ähnliche Struktur aufweist, manche sogar in einer erstaunlich genauen Form. Hier handelt es sich augenscheinlich um jene Sphäre, aus der das Märchen seinen Ursprung genommen hat. Andererseits weisen z. B. auch einige Ritterromane dieselbe Struktur auf. Dies ist wahrscheinlich ein Bereich, der seinerseits auf das Märchen zurückgeht. Genaue vergleichende Forschungen auf diesem Gebiet sind eine Aufgabe für die Zukunft. […] [Zu 2. Klassifikation der Zaubermärchen] […][110] Nun müssen wir noch die Zaubermärchen selbst klassifizieren. Um logische Fehlschlüsse zu vermeiden, rufen wir uns ins Gedächtnis, dass eine richtige Klassifikation nach drei Gesichtspunkten vorgenommen werden muss:
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1. Nach den Spielarten eines Merkmals […]; 2. Nach dem Vorhandensein ein und desselben Merkmals […]; 3. Nach einander ausschließenden Merkmalen […]. […] Betrachten wir jetzt unsere Strukturformeln (siehe Beilage III)XXVI, so kann man fragen, ob nicht eine Klassifikation nach einander ausschließenden Kriterien möglich sei. Doch bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass es zwei Funktionspaare gibt, die nur äußerst selten innerhalb einer Sequenz auftreten, und zwar so selten, dass ihr gegenseitiger Ausschluss als Regel, ihre gleichzeitige Verwendung als Ausnahme anzusehen ist (was allerdings, wie wir noch feststellen werden, unserer These von der Typengleichheit der Zaubermärchen nicht widerspricht). Es handelt sich um die beiden Funktionspaare Kampf mit dem bösen Gegenspieler – Sieg über ihn (K–S) und schwere [111] Aufgabe – Lösung derselben (P–Lö). Das erste Paar findet sich in den 100 Märchen 41 Mal, das zweite 33 Mal, dreimal treten beide in einer Sequenz auf. Weiterhin lässt sich feststellen, dass es Sequenzen gibt, die keines der beiden Funktionspaare aufweisen, so dass sich insgesamt vier Kriterien unterscheiden lassen: Die Entwicklung der Erzählung verläuft entweder über das Funktionspaar K–S (Kampf – Sieg), über das Funktionspaar P–Lö (schwere Aufgabe – Lösung derselben), über beide Paare zugleich oder über keines von beiden. […] […][112] Damit kommen wir folglich zu vier Märchentypen. Widerspricht das nicht unserer These von den der einheitlichen Struktur aller Zaubermärchen? Wenn die Elemente K–S (Kampf – Sieg) und P–Lö (Aufgabe –Lösung) einander innerhalb einer Sequenz ausschließen, bedeutet das dann nicht, dass es entgegen unserer Ausgangsthese nicht einen, sondern zwei Grundtypen von Zaubermärchen gibt? Das ist jedoch nicht der Fall, denn bei eingehender Betrachtung der Märchen mit zwei Sequenzen stellen wir folgendes fest: Enthält die eine Sequenz die Funktion K (Kampf), die andere die Funktion P (Aufgabe), dann steht der Kampf immer in der ersten, die Aufgabe in der zweiten Sequenz. Diese Märchen haben dann einen für die zweite Sequenz typischen Anfang: Der Held wird durch die verräterischen Brüder in den Abgrund gestoßen usw. Für diese Märchen ist die aus zwei Sequenzen bestehende Struktur die Regel. Es handelt sich um ein Märchen mit zwei Sequenzen, und das ist der Grundtyp aller Märchen. Es lässt sich sehr leicht in zwei Teile zerlegen.
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Die Komplikation entsteht durch die Brüder. Wenn die Brüder nicht von Anfang an in die Handlung einbezogen sind oder ihre Rolle nur eine beschränkte ist, so kann das Märchen mit Ivans glücklicher Heimkehr enden, d. h. mit dem Schluss der ersten Sequenz, und die zweite kann dann nicht einsetzen. Auf diese Weise existiert der erste Teil als selbständiges Märchen, aber auch der zweite Teil bildet ein in sich geschlossenes Märchen. Man braucht nur die Gestalten der Brüder durch andere Schadensstifter zu ersetzen oder einfach mit der Suche nach einer Braut zu beginnen, dann erhält man ein Märchen, das sich über die Funktion der schweren Aufgabe entwickeln kann. So kann also jede Sequenz einzeln existieren, aber erst die Verbindung von zwei Sequenzen ergibt ein ganz vollständiges Märchen. Es ist sehr gut möglich, dass historisch gesehen zwei Typen existieren, von denen jeder seine eigene Geschichte hat, und dass sich in einer weit zurückliegenden Epoche zwei überlieferte Formen gekreuzt haben und zu einem einheitlichen Gebilde verschmolzen sind. Was aber die russischen Zaubermärchen betrifft, so handelt es sich dabei heute um ein geschlossenes Märchen, von dem sich sämtliche Märchen unserer Kategorie ableiten lassen. XXVII […] —————————
Bibliographische Notiz Originaltitel: Morfologija skazki, Leningrad 1928. 1969 erschien eine 2. Auflage, in der ein Teil der Fußnoten gestrichen ist. Der Text übernimmt mit freundlicher Genehmigung von Herausgeber und Verlag mit leichten Modifikationen die von Karl Eimermacher edierte deutsche Übersetzung von Christel Wendt (Propp 1972). Da diese Übersetzung die 2. Auflage zur Grundlage hat, wurden die in dieser Auflage fehlenden Fußnoten im hier vorliegenden Anmerkungstext ergänzt.
————————— Kommentar Die 1928 erschienene Morphologie des Märchens von Vladimir Propp nimmt in der Narratologie eine Sonderstellung ein. Nicht nur gilt sie als genealogischer Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erforschung von Erzähltexten, neben der
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Poetik des Aristoteles wird sie am häufigsten genannt, wenn es um die historischen Quellen der Narratologie geht. Symptomatisch sind die Einschätzung Genettes (1983, 12), mit Propp beginne die ‚moderne‘ Erforschung narrativer Texte und Dole!els Aussage (1989, 13), die Morphologie sei die erste „funktionale Morphologie narrativer Texte“. Propps Funktionsbegriff ist bis heute für bestimmte Bereiche, besonders für das von der künstlichen Intelligenz beeinflusste story generating, modellgebend geblieben. Der Folklorist und Philologe Vladimir Jakovlevi" Propp (d. i. Herman Waldemar Propp) wurde am 16. April 1895 in Petersburg geboren. Sein Vater Johann Jakob Propp entstammte der deutschen Kolonie im Saratover Gouvernement. Propp wuchs zweisprachig auf, wovon seine deutschen Gedichte zeugen, unter anderem ein für die Publikation vorbereitetes Manuskript (Erstabdruck in: Martynova/Prozorova 2002, 335–358). Von 1913 bis 1918 studierte er Deutsche Literatur und Slavische Philologie an der Petersburger Universität. Nach 1918 wirkte er als Gymnasial- und Hochschullehrer. In der Zeit der Entstehung der Morphologie war Propp aufgrund seiner engen Kontakte zu den Vertretern der komparatistisch-philologischen Schule Aleksandr N. Veselovkijs* und zu den Formalisten Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen, darunter des Instituts für Kunstgeschichte (III)* und der 1924 gegründeten Märchenkommission (Skazo"naja komissija)* der Russischen Geographischen Gesellschaft (Russkoe geografi"eskoe ob$"estvo). Die Märchenkommission war eine zentrale Koordinationsstelle der Forschung. Sie finanzierte Publikationen und Feldforschungen. 1924 hatte sie Nikolaj P. Andreev* mit der Erstellung eines russischen Typenkatalogs der Märchensujets nach Antti Aarnes* System beauftragt, der 1929 erschien (Andreev 1929). Die Arbeit an dem Typenkatalog wurde begleitet von einer kritischen Diskussion um das Konzept des Erzähltyps, an der Propp partizipieren konnte. Die Entwicklungen auf dem Gebiet der Erzählforschung hatten maßgeblichen Einfluss auf den Formalismus, dessen Exponenten sich z. T. selbst intensiv mit Folklore befassten (z. B. #klovskij*, %irmunskij* sowie Bogatyrev und Jakobson*, die schon 1914–1916 an Feldforschungen teilnahmen). Die Morphologie entstand gleichsam aus der Überschneidung zweier Diskurse: Einerseits steht sie in der Tradition der hero-patterns, der Schematisierung und Tabulatur von Märchensujets, die mit Johann Georg von Hahn* begann (von Hahn 1864, vgl. auch Veselovskij über Märchenschemata [Skazo"nye schemy] in der Historischen Poetik, Veselovskij 1884–1885, 445– 450), andererseits korrespondiert sie mit der Prosatheorie des Formalismus und der russischen Kompositionstheorie (zur letzteren vgl. Aumüller 2008b). Im Kontext der Erzählforschung ihrer Zeit stellt die Morphologie des Märchens eine hochspezielle Arbeit über ein Genre der Volksdichtung dar. Propps Argumentationsziel ist es, nachzuweisen, dass es ein ‚Ur-Märchen‘ gibt, das in genetischem Zusammenhang mit der Sphäre des Mythos steht und entwicklungsgeschichtlich primär für die Zaubermärchen insgesamt ist. Die Argumentation in
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der Morphologie ist nicht zu trennen von zwei weiteren Arbeiten Propps: der Transformation des Zaubermärchens (1928b), die ursprünglich ein Teil der Morphologie war und erst im Verlag endgültig von ihr getrennt wurde (vgl. Eimermacher in Propp 1975, 289) und seiner Habilitation Die Historischen Wurzeln des Zaubermärchens (1946). Der Zusammenhang zwischen den drei Arbeiten ist so eng, dass man von einem einzigen Erkenntnisprojekt sprechen muss, worauf Propp selbst hinweist (vgl. Propp 1975, 223). In den Historischen Wurzeln des Zaubermärchens wendet Propp die morphologische Tabularisierung auf ethnographische Berichte und mythologisches Textmaterial zu Initiationspraktiken und Bestattungsriten an. Das in der Morphologie beschriebene Märchensujet bildet die organisierende, syntagmatische Achse des Ganzen. Als ‚Ur-Märchen‘, rekonstruiert Propp eine Erzählung, die Berichte über Initiationshandlungen mit bestimmten Glaubensvorstellungen über die so genannte Jenseitswanderung verbindet, als die man die Initiationshandlung ursprünglich imaginierte. Propp behauptet die Herkunft des Ur-Märchens – seiner Sujetkonstruktion als Ganzes – aus dem Ritus (bzw. Mythos). Differierende Thesen über die Verwandtschaft von Mythos und Märchen begleiten die Erzählforschung seit ihrer Begründung durch die Gebrüder Grimm. Fünf Jahre vor Propp hatte Pierre Saintyves Märchen aus der klassischen Sammlung Perraults Contes des fées in ihrer Beziehung zu Brauchtum und religiösen Vorstellungen untersucht und die Contes d’origine initiatique als eigenständige Gruppe ausgesondert. Doch setzt er diesen Typ nicht als Ursprung aller Märchen an (Saintyves 1923, VII–XXIII). Propp selbst verweist mehrfach auf die Völkerpsychologie Wilhelm Wundts, der u. a. die Ansicht vertrat, das Märchen sei profanierter Mythos. Veselovskij hielt es hingegen für möglich, dass der Mythos eine spätere Entwicklung als das Märchen sein könnte. Er behauptete in der Historischen Poetik die polygenetische Entstehung von Motiven aus dem Kontext von Glaubensvorstellungen und Praktiken. Und obwohl Propp sich mit der Morphologie gerade gegen diese These Veselovskijs wendet, korrespondiert er mit ihm in einer anderen Frage: Er teilt Veselovskijs Überzeugung, Mythos und Märchen verbinde eine „Einheit von Material, Verfahren und [Sujet-]Schemata, die nur anders angewendet wurden“ (vgl. den Text von Veselovskij in diesem Band). Im letzten Kapitel der Historischen Wurzeln, „Das Märchen als Ganzes“, behandelt Propp diese Differenz in der Anwendung, indem er die Geburt des Märchens (d. i. einer Erzählung im künstlerisch ‚freien‘ Sinn) als Ablösung von der rituellen Praxis beschreibt. Dem ‚Sprechen im Ritus‘ steht die ‚Lösung aus dem Ritus‘ (bei Zerfall der entsprechenden religiösen Sphäre) oder das ‚Erzählen über den Ritus, außerhalb des Ritus‘ (bei intakter religiöser Sphäre) gegenüber (vgl. Propp 1946 [21987], 454–462). Auf Propps Darstellung nimmt implizit auch Lotman* mit seinem Sujetbegriff in der Struktur des künstlerischen Textes (1970) Bezug (vgl. den Auszug in diesem Band). Die Grenzüberschreitung als Bestandteil der Initiationszeremonie
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Vladimir Propp
wird bei Lotman zum Ausgangspunkt der Ereignisdefinition. Der Übergang vom mythischen Sprechen zum Erzählen stellt ihm zufolge die Geburt der Narration im modernen Sinne dar; vgl. seine Abhandlung Die Genese des Sujets aus typologischer Sicht (Lotman 1973). Berücksichtigt man, dass Lotmans Begriff der Sujethaftigkeit innerhalb seiner semiotischen Kulturtheorie als äquivalent zum Begriff der Narrativität angesehen werden muss (vgl. Hauschild 2008), dann hat Propp in den Historischen Wurzeln eine protonarratologische Definition des Erzählens (als Gegenteil des rituellen, magischen Sprechens) gegeben, die auch gegenwärtig für die narratologische Diskussion Bedeutung hat.
————————— Anmerkungen I
Vgl. J. W. von Goethe, Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen. Weimarer Ausgabe, Abt. II, Bd. 6, 298 f. Insgesamt fünf Goethe-Zitate hat Propp als Mottos einzelnen Kapiteln vorangestellt. Goethes naturwissenschaftliche Schriften waren in Russland insbesondere durch die von Wilhelm Troll betreute Ausgabe Goethes morphologische Schriften (1926) bekannt. Propp verweist in seiner Antwort auf Lévi-Strauss’ einflussreiche Kritik zur englischen Erstübersetzung der Morphologie (Lévi-Strauss 1960) auf diese Ausgabe und betont die Wichtigkeit der Mottos für das Verständnis seines Werks (vgl. Propp 1975, 218 f.). Die Mottos fehlen in der englischen Übersetzung von 1958, ebenso in allen weiteren Auflagen, nicht aber in den frz. Übersetzungen (Propp 1970a, 1970b). Die Mottos (Nachweise im Einzelnen, s. u.) sind so gesetzt, dass sie jeweils einen Begriff Propps mit einem Konzept Goethes parallelisieren. Im ersten Motto weist sich Propp die Position eines Neuerers im Sinne der ‚Morphologie‘ als Gesamtwissenschaft zu. Das zweite Motto ist dem 2. Kapitel „Methode und Material“ vorangestellt und betrifft Goethes Begriff des „sich durch Metamorphose erhebenden Typus“, der im Folgenden auf Propps vierte Hauptthese bezogen werden kann: „Alle Zaubermärchen gehören hinsichtlich ihres Aufbaus zu einem einzigen Typ“. Die dann im dritten Kapitel erfolgende Darstellung der 31 Funktionen leistet die Kennzeichnung dieses hypothetisch angesetzten Typs. Das dritte Motto, „Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre“, leitet das achte Kapitel ein, in dem Propp die variablen Elemente des Märchens (Attribute, Namen, Eigenschaften der handelnden Figuren) bespricht, und setzt seinen Begriff der Transformation mit Goethes Metamorphose gleich. Die ‚Gestalt‘ der handelnden Personen ‚wandelt‘ sich und bleibt doch in den Transformationen des Märchens gesetzmäßig auf den Grundtypus bezogen. Das Motto zum 9. Kapitel „Das Märchen als Ganzes“ deutet die von Propp aufgestellte Strukturformel explizit im Sinne der „UrPflanze“ Goethes.
Morphologie des Märchens II
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Die Aussage, an eine Morphologie habe noch niemand gedacht, kann hier nur rhetorische Funktion haben. Propp wusste, dass schon Aleksandr Veselovskij* das Programm einer Morphologie des Märchens in Grundzügen skizziert hatte (Veselovskij [1884–1885] 1940, 459); Propp bezieht sich in der Morphologie einmal auf diese Stelle (Propp 1972, 87). Darüber hinaus war in russischen Folkloristenkreisen bekannt, dass Aleksandr Nikiforov* an einer Monographie gleichen Titels arbeitete, von der bisher nur ein programmatischer Artikel erschienen war, den Propp in der Erstausgabe als ‚im Druck‘ zitierte (s. u., Anm. XII). Ein Beleg für die allgemeine Bekanntheit Nikiforovs ist noch Jakobsons* Äußerung im Nachwort zur englischen Übersetzung von Afanas’evs Märchensammlung: „The remarkable studies of the Soviet folklorists, V. Propp and A. Nikiforov, on the morphology of the Russian folktale, have essentially approached the solution. Both these scholars base their classification and analysis of the tale plots on the functions of the dramatis personae. Under the concept of functions they mean the deed defined from the viewpoint of its signification for the plot“ (Jakobson 1945, 640 f.). III Der Titel der Morphologie lautete ursprünglich Morphologie des russischen Zaubermärchens. Die Kürzung geht auf Viktor %irmunskij* zurück, der an der Herausgabe maßgeblich beteiligt war (vgl. Voigt 1999, 922). IV Die von Propp hier besprochene Märchenklassifikation der mythologischen Schule wurde von Antti Aarne*, dem Begründer der finnischen Schule, aufgenommen, erweitert und modifiziert. Das Ergebnis seiner Arbeit war der erste wissenschaftliche internationale Typenkatalog (Aarne 1910, erste revidierte Fassung: Aarne/Thompson 1928), auf den Propp im anschließenden, oben nicht mehr abgedruckten Abschnitt eingeht. Die zweite revidierte Fassung (Aarne/Thompson 1961) teilt Märchen ein in: 1. Animal Tales, 2. Ordinary Folk-Tales, 3. Jokes and Anecdotes [Schwankmärchen], 4. Formula Tales [Formelmärchen] und 5. Unclassified Tales. Aarnes Systematik stellt bis heute die Arbeitsgrundlage der historischen und vergleichenden Erzählforschung dar und wurde zuletzt in dem von Hans Jörg Uther herausgegebenen Typenkatalog (Uther 2004) neu gefasst. Propp kritisiert in der Morphologie zu Recht die logische Heterogenität der Einteilungskriterien dieses Systems, die zu Doppelungen von Erzähltypen in den Untergruppen führt. Dieser Kritik wurde bei der letzten Revision des Typenkatalogs Rechnung getragen (vgl. Uther 2004, 7–11). Eine exakte, ganz auf strukturelle Merkmale gegründete Typologie, wie Propp sie fordert, wurde jedoch bisher trotz einiger Versuche in seiner Nachfolge (vgl. dazu Voigt 1975) nicht verwirklicht. Eine solche erscheint aus heutiger Sicht unmöglich (vgl. Uther 2004, 7–11, vgl. auch Uther 1998 zur Entwicklung der Katalogisierung der Märchen seit 1961).
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Gemeint ist das Märchen bei Afanas’ev* 1957, Bd. 1, Nr. 75: Zolotaja rybka (Das goldene Fischchen), das in Deutschland unter dem Titel Vom Fischer und siener Fru als eines der Kinder- und Hausmärchen Grimms bekannt geworden ist (in Aarne/Thompson 1961 als Typ 555: The Fisher and his Wife klassifiziert). Bei Afanas’ev finden sich zwei Varianten, die beide den Tiermärchen zugeordnet sind (Afanas’ev 1957, Bd. 1, Nr. 75, 76). In seiner Anmerkung zu diesen Varianten stellt Propp Afanas’evs Zuordnung in Frage, weil in den häufiger belegten russischen Varianten ein sprechender Baum, der nicht gefällt werden will und dafür die Bitten der Ehefrau des Bauern erfüllt, die Funktion des übernatürlichen Helfers einnimmt (Afanas’ev 1957, Bd. 1, 478). VI Als Beispiel für eine ambivalente Zuordnung in der Systematik Aarne/ Thompsons führt Propp Märchen über die Ernteteilung (dele! uro!aja) an. In Aarne/Thompson gibt es in der zweiten Kategorie ‚Ordinary Tales‘, Untergruppe D: „Märchen vom dummen Teufel“ einen Erzähltyp 1030 The Crop Division. Das Sujet verläuft wie folgt: Der Bauer vereinbart mit dem Teufel, sich die Ernte zu teilen, und sät dann jedes Jahr so aus, dass der Teufel übervorteilt wird, weil ihm bei der Teilung der Ernte von Wurzelfrüchten das Blatt, bei Blattgewächsen die Wurzeln zufallen. Die russischen Varianten handeln aber von Bär und Bauer bzw. von Bär und Fuchs, weshalb die beiden Varianten dieses Typs bei Afanas’ev den Tiermärchen zugeordnet sind (Afanas’ev 1957, Bd. 1, Nr. 23–26). Die russischen Tierprotagonisten sind im Eintrag zu Typ 1030 als Besonderheit vermerkt. Darüber hinaus verweist der Katalog auf zwei ähnliche Erzähltypen: Typ 9B: In the Division of Crop the Fox takes the Corn, the Bear the more bulky chaff, in der Gruppe der ‚Animal Tales‘ (Fuchs und Bär teilen sich die Ernte in Korn und Spelzen, das Korn des Fuchses klingt in der Mühle viel besser) und Typ 1633 Joint Ownership of the Cow: Zwei Söhne teilen sich eine ererbte Kuh. Der eine nimmt die vordere Hälfte, der andere die hintere. Der eine muss sie füttern, der andere darf sie melken (vgl. zu den genannten Erzähltypen Köhler-Zülch 1999). VII Russ.: privedennaja klassifikacija (1928a, 13), hier im Sinne der angeführten Klassifikation als Märchen vom dummen Teufel. VIII Der Begriff Sujet hat hier die Bedeutung des Begriffs des ‚Erzähltyps‘ in der finnischen Schule. Eine Klassifikation nach Sujets ist die Zusammenfassung in Gruppen nach thematischen oder anderen Kriterien. IX Propp (1928a, 20) führt an dieser Stelle folgende Belege an: „Unsere wichtigsten Annahmen können auch anhand der folgenden Klassifikationen überprüft werden: O. F. Miller, Opyt istori!eskogo obozrenija russkoj slovesnosti [Versuch eines historischen Überblicks über das russische Schrifttum], 2. Aufl., SPb. 1865; Tridcat’ !etvertoe prisu"denie u!re"dennych P. N. Demidovym nagrad [Die vierunddreißigste Verleihung der Demidov-Auszeichnungen], SPb. 1866; J. G. von Hahn*, Griechische und albanesische Märchen, Bde 1–2, Leipzig 1864; G. L. Gomme, The Handbook of Folklore, London 1890; P. V. Vladimirov: Vvedenie v istoriju russkoj slovesnosti [Einführung in die Geschichte des russischen Schrift-
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tums], Kiev 1896; A. M. Smirnov, Sistemati"eskij ukazatel’ tem i variantov russkich narodnych skazok [Systematisches Verzeichnis von Themen und Varianten russischer Volksmärchen]. In: Izvestija Otdelenija Russkogo Jazyka i Slovesnosti Akademii Nauk, Bd. 16, Nr. 4, Bd. 17, Nr. 3, Bd 19, Nr. 4; vgl. auch A. Christensen, Motif et thème. Plan d’un dictionnaire des motifs de contes populaires, de légendes et de fables, Helsinki 1925 (= Folklore Fellows Communications, 59)“. – Aus den hier angeführten Belegen ist für den historisch vergleichenden Erzählforscher sofort erkennbar, dass Propp den aktuellen Forschungsstand seiner Zeit in der Frage der Katalogisierung von Märchensujets wie auch ihrer Tabularisierung gut kannte. Die Streichung dieser und anderer Angaben (vgl. auch unten, Anm. XIII und XVI) im Text der zweiten russischen Auflage ist wahrscheinlich aus ideologischen Gründen erfolgt. Propp musste sich nicht nur bereits in den 1930er Jahren gegen den Vorwurf des ‚Formalismus‘ verwahren, sondern wurde für die Historischen Wurzeln des Zaubermärchens auch im Zuge der Kosmopolitismus-Kampagne (1949) diskreditiert. Die auch danach fortbestehende Abwertung der komparatistisch-philologischen Schule Veselovskijs mag auch der Grund dafür sein, warum Propp noch in den 1970er Jahren den Eindruck vermittelte, er habe die Morphologie ganz auf sich allein gestellt und ohne Austausch mit Fachleuten verfasst, so z. B. in einer öffentlichen Vorlesung, gehalten 1965 (vgl. Martynova/Prozorova 2002, 359 f.). X Propp bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen Motiv und Sujet in der Historischen Poetik Veselovskijs; vgl. den Auszug aus der Historischen Poetik und den Kommentar in diesem Band. Die morphologische Teilbarkeit des Motivs war Veselovskij allerdings entgegen der Behauptung Propps selbstverständlich. Er erläutert wenig später die von Propp zitierte Formulierung vom Motiv als „bildhafter eingliedriger Mechanismus“ mit der zweiteiligen Formel (a + b): „Die Alte liebt das Mädchen nicht und stellt ihr eine unlösbare Aufgabe“ und spricht von ihrer möglichen Ausfaltung zum Sujet (vgl. auch Schwarz 2004, 407 f.). XI Der französische Mediävist und Erzählforscher Joseph Bédier* war für Propp von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Propp bezieht sich hier auf die von Bédier in Les Fabliaux vertretene Auffassung, jedes Märchen sei bestimmt durch eine invariante Substanz (substance), die man analytisch von den akzidentellen Elementen (accidents) trennen könne. Diese invariante Größe bezeichnet Bédier als die ‚forme irréductible‘ des Märchens und symbolisiert sie durch $. (Bédier [1893] 31964, 186 f.), vgl. zu Bédier: Ténèze 1975, Bremond 1973. XII Propp 1928a, 24 verweist in einer Fußnote auf den (im vorliegenden Band übersetzten) Aufsatz von Aleksandr Nikiforov* Zur Frage der morphologischen Erforschung des Märchens als „im Druck“. XIII Propp 1928a, 26 verweist auf Hoffmann-Krayer, E., Volkskundl. Bibliographie für das Jahr 1917, Strassburg 1919, dass. für das Jahr 1918: Berlin; Leipzig 1920; für das Jahr 1919: Berlin; Leipzig 1922, und auf die Forschungsüberblicke der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. – In Propp 1928a, 27 schließt das
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Kapitel mit bibliographischen Hinweisen auf die folgende „wichtige Literatur zum Märchen“: W. A. Clouston, Popular Tales and Fictions, their Migrations and Transformations, London 1887; V. F. Miller, Vsemirnaja skazka v kul’turnoistori"eskom osve$"enii (Das Märchen der Welt in kulturhistorischer Betrachtung). In: Russkaja mysl’, 1893, XI; R. Koehler, Aufsätze über Märchen und Volkslieder, Berlin 1894; M. E. Chalanskij, Skazki (Märchen). In: Ani"kov/ Borozdin/Ovsjaniko-Kulikovskij (Hgg.), Istorija russkoj literatury, Bd. 1, Lieferung 2, Kap. 6., Moskva 1908; A. Thimme, Das Märchen, Leipzig 1909; F. von der Leyen, Das Märchen. Ein Versuch, Leipzig 21917; K. Spiess, Das deutsche Volksmärchen, Leipzig/Berlin 1917; S. F. Ol’denburg, Stranstvovanie skazki (Das Wandern des Märchens). In: Vostok, Nr. 4; G. Huet, Les contes populaires, Paris 1923. XIV J. W. von Goethe, Tibia und Fibula, aus: Zur Morphologie, Bd. 2, Heft 2, 1824, 126–136 (Weimarer Ausgabe, Abt. II, Bd. 8, 221 f.). XV Auf die Definition des Zaubermärchens und im Zusammenhang damit auch auf eine Möglichkeit der Klassifizierung von Märchen kommt Propp im neunten Kapitel ausführlicher zurück, vgl. unten, Anm. XXVII. XVI In der Erstausgabe der Morphologie (Propp 1928a, 29 f.) steht hier im Haupttext eine Parenthese „(Wundt, Negelein)“, dann folgt der bibliographische Hinweis als Anm.: „W. Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklung von Sprache, Mythos, Sitte, Bd. II: Mythos und Religion, Abt. I., Leipzig 1906; J. von Negelein, Germanische Mythologie, Berlin/Leipzig 1906. Negelein prägt den außerordentlich gelungenen Begriff ,Depossidierte Gottheiten‘“. Diese Angaben sind ein wichtiger Hinweis auf die vergleichende Religionswissenschaft als eine Quelle von Propps Funktionsbegriff. XVII Vgl. die Übereinstimmung mit dem Text von Nikiforov in diesem Band. XVIII Vgl. oben, Anm. IV. XIX Die These von der strukturellen Einheit der Zaubermärchen begründet Propp erst im letzten Kapitel, vgl. unten Anm. XXVII. XX Hier liegt wohl ein Versehen vor. Propp meint offensichtlich, sein Vorgehen sei induktiv, die Darstellung erfolge deduktiv. Damit würde er sich in Entsprechung zu Skaftymov vom Vorgehen der finnischen Schule abgrenzen. In einer Typenmonographie im Sinne der finnischen Schule erfolgt die Darstellung in der Regel induktiv: Das Variantenmaterial wird erst geographisch gruppiert geordnet und analysiert; dann erfolgt die Rekonstruktion der ‚Normalform‘ des Sujets. Wie Propp wirklich vorgegangen ist, und ob er seinen Märchentyp deduktiv vorausgesetzt hat, ist bis heute nicht geklärt. XXI Aleksandr Afanas’ev* gilt als der russische Grimm. Er erstellte und redigierte eine Märchensammlung, die erstmals 1855–1863 in acht Lieferungen erschien und bis heute allgemein als repräsentativ für das russische Volksmärchen gilt. Die maßgebliche Ausgabe 1957 wurde von Propp bearbeitet und herausgegeben (Afanas’ev 1957).
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J. W. von Goethe, „Morphologie“ (handschriftliche Notiz aus dem Jahre 1807), Weimarer Ausgabe; Abt. II., Bd. 6, 446. XXIII Propp bezieht sich hier auf den Abschnitt „Skazo"nye schemy“ (Märchenschemata) in Veselovskijs Vorlesung Iz lekcii po istorii #posa (Veselovskij [1884–1885] 1940, 454–459, hier 459). XXIV Vgl. Propp 1928b. Die Transformationen stellten ursprünglich einen Teil der Morphologie dar und wurden erst im Verlag von ihr abgetrennt, vgl. Eimermacher im Nachwort zu Propp 1975, 289. XXV Goethe, J. W. von, Italienische Reise, Brief an Herder, Neapel, 17. Mai (1779), Weimarer Ausgabe, Bd. 31, S. 240, Z. 7–17. XXVI Gemeint ist die von Propp beigefügte Tabelle im Anhang mit Transkriptionen der Märchen aus der Sammlung Afanas’evs. XXVII Vgl. Propp 1972, 98–104; in der kritischen Diskussion der Morphologie wurde mehrfach auf den inneren Widerspruch in Propps Argumentation hingewiesen: Während Propp einleitend behauptet, eine der Funktionen schließe eine andere aus, muss er hier auf der Inkompatibilität der Funktionspaare Kampf – Sieg und Prüfung – Lösung bestehen, um eine komplementäre Distribution zu erhalten, die die strukturelle Einheit der Zaubermärchen gewährleisten soll; vgl. dazu die Rezensionen von Lévi-Strauss (1960) und Taylor (1964).
8. Aleksandr Nikiforov: Zur Frage der morphologischen Erforschung des Volksmärchens1 (Übersetzt und kommentiert von Christiane Hauschild) [173] § 1. Das steigende Interesse der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts an Fragen theoretischer Art hat sich, wenn bisher auch nur gering, unter anderem auf die Erforschung des Märchens ausgewirkt. Der Gedanke eines neuen methodologischen Zugangs zum Märchen, den man morphologisch nennen kann, deutet sich zunehmend in ausländischen wie russischen Arbeiten an. Man vergleiche einzelne Passagen bei K. Spiess2, W. A. Berendsohn3, A. van Gennep4, oder, in Russland, bei V. !klov1
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Die migrationstheoretische historische Schule Benfeys, die eine Reihe brillianter Namen (E. Cosquin, R. Köhler, G. Paris, A. Veselovskij*, Vs. Miller u.a.) und sekundärer Schulen hervorgebracht hat (z. B. die ägyptologische Schule Masperos, die der klassischen Philologie im Sinne Rhodes, die historisch-geographische Schule K. [im Orig. I.; Anm. d. Übers.] Krohns, J. Polívkas, Antti Aarnes*), ist in ihrem Anspruch auf alleinige Gültigkeit in letzter Zeit entscheidend durch die anthropologische Schule, die sexualwissenschaftliche Schule Freuds und die Schule der Traumdeutung (von der Leyen) in die Schranken gewiesen worden. Darüber hinaus wurde ihre Arbeitsweise durch Bédier* grundlegend in Frage gestellt, von dessen Kritik sie sich trotz energischer Selbstverteidigung (vgl. die Rezensionen zu Bédier von R. Regnaud, Ch. M. de Granges, J. Jacobs, W. Cloëtta, K. Euling, von der Leyen, S. F. Ol’denburg) bis heute nicht erholt hat (vgl. Kaarle Krohns Polemik mit Bédier in ders., Die folkloristische Arbeitsmethode, Oslo 1926, cap. 16, und das Bekenntnis von G. Huet in: Les contes populaires, Paris 1923, S. 50). K. Spiess, Das deutsche Volksmärchen, Leipzig/Berlin 21924, S. 37–47, vertritt die Auffassung, man solle bei der Erforschung der Sujets nicht vom Märchen als Ganzem ausgehen, sondern von kleineren motivischen Größen: „Wie Steine eines Kaleidoskops bleiben die einzelnen Motive des Märchens ihrem Wesen nach unverändert, doch ergeben ihre sich verändernden Verflechtungen ständig neue Bilder“ (ibid. S. 46). Interessant ist auch der von Aarne geprägte Begriff des Märchentyps (vgl. ders., Verzeichnis der Märchentypen, Helsinki 1910). W. A. Berendsohn, Grundformen volkstümlicher Erzählerkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Hamburg 1922, § 223, 224.
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skij*5 und R. Volkov6. Besonders prägnant hat !klovskij die neue Aufgabenstellung formuliert: Die Migrationstheorie reiche nicht aus, um die besondere Existenzweise des Märchens zu verstehen. Die Ähnlichkeit der Sujets „lässt sich nur mit der Existenz besonderer Gesetze der Sujetkonstruktion [zakony sju"etoslo"enija] erklären. Selbst wenn man Entlehnungen akzeptiert, erklären sie nicht die Existenz gleicher Märchen bei einem Abstand von Tausenden von Jahren und [174] Zehntausenden von Kilometern … In Wirklichkeit aber zerfallen die Märchen ständig und bilden sich neu auf der Grundlage besonderer, noch unbekannter Gesetze der Sujetkonstruktion“.I § 2. Schon erste Beobachtungen zur Morphologie der Volksprosa machen eine Differenzierung in mehrere Gattungen notwendig. Mit Recht unterscheidet W. Berendsohn Sage, Märchen und Schwank voneinander, obwohl man zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine genaue Definition dieser Gattungen geben kann. Der Schwank und die Anekdote besitzen offensichtlich eine besondere morphologische Struktur: Ihr grundlegendes Gesetz ist die Pointe, die Zuspitzung, eine Kulmination, die für jedes einzelne Sujet charakteristisch ist. Dieses Gesetz erlaubt nicht, dass Schwanksujets zerfallen und sich von neuem wieder konsolidieren, sondern es erhält sie in der einmal irgendwo gefügten Gestalt. Die Sage, die BylineII und die historische oder historisierte (z. B. hagiographische, apokryphe) Legende sind morphologisch komplexer und beweglicher im Hinblick auf die Konstruktion des Sujets, doch auch sie erreichen nicht die große innere Flexibilität und Fähigkeit des Sujets zum „Zerfall“ und zur Umgruppierung, die für das Märchen charakteristisch ist. Allerdings stellt das, was man unter die Gattung „Märchen“ fasst, im Grunde genommen ein komplexes Konglomerat von Phänomenen dar. Man kann wohl kaum von einem gemeinsamen morphologischen System sprechen, das dem Tiermärchen, dem Alltagsmärchen, dem erotischen Märchen, dem Zaubermärchen und der ‚Ursprungssage‘ [im Orig. dt.] gleichermaßen entspräche. Eine solche Synthetisierung der im Einzelnen induktiv 4 5
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A. van Gennep, Le Folklore, Paris 1924, S. 33. V. !klovskij, Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren [Svjaz’ priemov sju"etoslo"enija s ob#$imi priemami stilja]. In: Po!tika, Petrograd 1919, S. 117, nachgedruckt in ders., Teorija prozy, Moskva 1925 [Auszüge daraus siehe oben in diesem Bd.; Anm. d. Übers.] R. Volkov, Skazka, Bd I, Odessa 1924.
Zur Frage der morphologischen Erforschung des Volksmärchens
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gewonnenen morphologischen Systeme bleibt einer zukünftigen Theorie vorbehalten.III § 3. [Die morphologische Arbeit sollte in zwei Richtungen verlaufen:] Die eine Gruppe von Arbeiten gilt den Kompositionsgesetzen der MärchenvariantenIV im Einzelnen. Das Material zeigt die folgenden wichtigsten Gesetzmäßigkeiten:7 1) Das Gesetz der Wiederholung dynamischer Elemente des Märchens mit dem Ziel der Retardierung und Erschwerung des Handlungsganges8. Der häufigste Konstruktionstyp ist (2 + 1), doch kennt das Märchen auch andere, z. B. (1 + 1), (3 + 1), (5 + 1), (2 + 3).V Man muss darauf hinweisen, dass dieses Gesetz auch für komplex aufgebaute Sujetmengen giltVI: So kann ein Märchen, das eine Kette von Handlungen abgeschlossen hat, die einem Helden oder einem bestimmten Ziel untergeordnet sind, im Anschluss daran dieselbe Kette einem anderen Helden (oder Ziel) unterordnen und auf diese Weise den gesamten Handlungskreis [krug] noch zwei, drei oder mehr Male wiederholen. Daraus ergibt sich ein spiralförmiger Handlungsgang [chod]VII, in dem sich jeder neue Handlungskreis vom vorangehenden entweder durch andere Figuren, durch die anfänglichen Motivierungen der Handlung [175] oder durch spezifische Episoden unterscheidet. So sind z. B. viele Märchen über so genannte schwierige Aufgaben aufgebaut (vgl. z. B. Afanas’ev*, Nr. 106 a, b:VIII Hier lösen im ersten Handlungskreis drei Brüder schwierige Aufgaben, um eine Braut zu gewinnen; im zweiten Handlungskreis tun es die drei Schwiegersöhne des Zaren, um in den Besitz magischer Tiere zu gelangen).
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Die vorliegende Arbeit stellt die schematische Darlegung meiner noch nicht abgeschlossenen monographischen Untersuchung zur Morphologie des großrussischen Zaubermärchens dar. Nationale und ethnische Begrenzungen des Materials sind für die morphologische Forschung nicht nur zulässig, sondern auch methodologisch näher liegend als weit gefasste, internationale Vergleiche. Jedoch bestand die Methode der historischen Schulen hauptsächlich darin, verwandte Sujets miteinander zu vergleichen, während für die morphologische Analyse gerade verschiedene, weit von einander entfernte und wenig ähnliche Sujets gewählt werden sollten, um die gemeinsamen, konstruktionswirksamen Grundlagen ihrer Sujetfügung und ihrer Tradierung isolieren zu können. In Bezug auf kleinere Märchenelemente ist dieses Gesetz schon lange bekannt; vgl. die Arbeiten R. Volkovs und K. Krohns.
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2) Das zweite Strukturgesetz des Märchens ist das Gesetz der kompositorischen Achse, die der Held darstellt. Es gibt einheldige und zweiheldige Märchen (im letzten Fall sind beide Helden entweder gleichberechtigt – als Gegner – oder es handelt sich um den Helden und einen Helfer).IX Ein Märchen kann jedoch nicht ohne Held sein wie eine literarische oder historische Erzählung von Ereignissen. Das Märchen ohne Held (z. B. das auf einem Wortspiel basierende u. ä.) ist amorph und stellt ein ganz eigenes Genre der Folklore dar. Es sollte nicht zusammen mit den Märchen im üblichen Sinn untersucht werden. Hier ist die Zahl der handelnden Figuren natürlich immer größer als zwei, die organisierende Rolle kommt jedoch immer nur einer oder zweien von ihnen zu. 3) Das dritte Gesetz ist das der kategorialen oder auch grammatikalischen Formung [formovka] der Handlung. Es besagt, dass die einzelnen Handlungen des Märchens sich nach Kategorien zu einem Handlungsgang zusammenfügen, die den morphologischen Gesetzen der Wortbildung in der Sprache analog sind. Wenn man aus einer Variante einen einzelnen abgeschlossenen Handlungskreis betrachtet (und eine Variante kann, wie schon gesagt, aus mehreren dieser Handlungskreise bestehen), dann stellt man folgendes fest: Es gibt einerseits eine Kernhandlung (oder auch Wurzelhandlung) und andererseits Handlungen, die auf diese ausgerichtet sind. Letztere können vorgängig (präfixal) sein oder auf sie folgen (suffixale, flektierende Handlungen). Die Verbindung der Affixe mit dem Kern ist nicht etwa nur eine logisch-ursächliche, sondern ist in einer bestimmten Erzähltradition als solche kategorial gegeben.X Der Unterschied zwischen der präfixalen Gruppe von Handlungen und den Suffixen, den Flexionsteilen, ist so grundlegend, dass man a) von den jeweils spezifischen Prinzipien ihres Lebens im Märchen sprechen kann (z. B. in Bezug auf ihre Substituierbarkeit: Der Reichtum von Handlungen in präfixaler Position steht der relativen Armut in suffixaler bzw. flektierender Position gegenüber), und dass man b) deutliche Unterschiede hinsichtlich der Gültigkeit des Gesetzes der Wiederholung für die unterschiedlichen Kategorien der Handlungen konstatieren muss (so wird z. B. die Wurzelhandlung niemals verdreifacht). Das Gesetz der grammatikalischen Formung der Handlung ist deshalb so interessant, weil es uns zwingt, im Märchen die Geltung bestimmter natürlicher Kräfte anzuerkennen, aufgrund derer verschiedene Bereiche der kreativen Produktion des Volkes (Sprache und Märchensujets) ähnlichen formalen Kategorien entsprechend verlaufen.
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4) Außer den schon genannten grundlegenden Gesetzen der Komposition gilt im Märchen noch eine Reihe untergeordneter Gesetzmäßigkeiten, z. B. a) das Gesetz der organischen Nichtnotwendigkeit der Eingangsformel oder der Endformel,XI b) das Gesetz der Kumulation gleichartiger FunktionenXII [funkcij] und Handlungen (vgl. z. B. in Afanas’ev, Nr. 178),XIII c) das Gesetz der Abstufung sich wiederholender Elemente innerhalb einer Gruppe (z. B. wird bei einer Verdreifachung das jeweils folgende Element gegenüber dem vorangehenden verstärkt oder abgeschwächt) u. ä. § 4. Die zweite Gruppe morphologischer Analysen sollte auf die Schematisierung der Märchenhandlungen ausgerichtet sein. Sie sollte den Handlungsverlauf konstruieren, der sich ergibt, wenn [176] den Gesetzmäßigkeiten der strukturell-kompositorischen Ordnung des Märchens genügend Rechnung getragen worden ist. Auf der Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten wird es möglich sein, jede konkrete Variante auf ein einfaches Schema zu komprimieren, etwa in der Art des folgenden für Afanas’ev Nr. 169 mit dem Titel „Verlioka“XIV (und es sind sogar noch weiter vereinfachte Schematisierungen denkbar): Dieb [übernatürlich] + 3 (Wache [des Schwachen] + Wache [des Erfolglosen]) + (Wache [des Helden] + Treffen [mit Feind] + Kampf [des Helden] + Flucht [des Helden]) + (Aufbruch [des Helden]) + 4 (Erlangung [von Helfern] + Treffen [mit dem Feind] + Kampf [körperlich] + Sieg [des Helden]).XV Bei der Betrachtung einer größeren Anzahl solcher Schemata fallen folgende konstante Phänomene ins Auge: 1) Die konkreten Märchenfiguren sind in keiner Weise beständig. Sie sind von Variante zu Variante unendlich wandelbar. Beständig ist nur ihre Funktion, ihre dynamische Rolle im Märchen. Z. B. treten als Feind des Helden oft Drache oder Hexe auf, doch begegnen sie auch als Freunde des Helden (vgl. Afanas’ev, Nr. 120 a)XVI; anscheinend dieselbe Figur bewirkt einerseits den Tod Ko!"ejs für den Helden (Afanas’ev, Nr. 93)XVII, andererseits genauso den Tod des Helden für seinen Feind (Afanas’ev, Nr. 120 a, b) usw. Ganz offensichtlich sind hier nur die Funktionen beständig
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(Freundschaft, Feindschaft und das Bewirken des Todes), nicht aber ihre Träger.9 2) Im Märchen gibt es zwei Typen von Figuren: den Helden bzw. die Achsenfigur [ster!nevoj persona!] und die zweitrangigen Figuren – Helfer, Mitstreiter des Helden oder seine Feinde, Gegner. Die Heldin nimmt im Männermärchen (s. u.) Funktionen einer zweitrangigen Figur wahr, insofern sie als aktiv Handelnde auftritt. 3) Die Menge der Funktionen jedes dieser Figurentypen ist zahlenmäßig sehr klein; zumindest gilt das für das großrussische Zaubermärchen: a) die Hauptfigur ist Träger von Funktionen gewissermaßen biographischen Charakters (wundersame Geburt und unwahrscheinlich rasche Entwicklung des Helden, Kraftprobe, Erlangung von Waffen, Pferd und Helfer, Auswahl eines Ziels, Reise, Kämpfe, Entscheidungen, Lösung schwieriger Aufgaben, Erlangung eines bestimmten Gegenstands, Heirat usw.); b) die zweitrangigen Figuren dagegen sind Träger von Funktionen ‚abenteuerlich-erschwerenden‘, die Handlung retardierenden Charakters: Sie leisten dem Helden auf unterschiedliche Art und Weise Hilfe oder behindern ihn (in Form unmittelbarer Feindschaft oder mittelbarer Störung). Oder aber es ist ihre Funktion, gesuchtes Objekt, Ziel der Handlungen des Helden zu sein (Braut, magische Gegenstände usw.). Dabei stellt die Gruppierung der spezifischen Funktionen des Helden und der zweitrangigen Figuren zu einer bestimmten Anzahl sehr freier (aber nicht absolut freier) Kombinationen die Triebfeder [pru!ina] der Sujetkonstruktion [sju!etoslo!enie] des Märchens dar. Die maßgeblichen Faktoren für die Verbindung der Funktionen zu Gruppen sind seltener Voraussetzungen kausal-logischen Charakters, es handelt sich häufiger um spezifische Motivierungen einzelner Funktionen (wunderbare oder solche der Alltagswelt). Dabei werden in der Regel in eine gegebene Verbindung von Funktionen neue einbezogen, die in der gegebenen territorialen, ethnischen oder kulturellen Umgebung gängig sind [177]. 4) Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die funktionale Verbindung der zweitrangigen Figuren mit den Achsen-Figuren immer die Form beständi9
R. Köhler, Kleinere Schriften, Weimar 1898, S. 1–3, führt den interessanten Fall an, dass ein und dasselbe Schema eines Sujets in der Form des Märchens, in der Form der Fabel mit Tieren als handelnden Personen und sogar in der Form der Legende über die heilige Barbara oder den heiligen Georg belegt ist.
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ger, typisierter thematischer Zweiteiler, Dreiteiler oder sogar Vielteiler annimmt (z. B.: Wegweisung + Rat oder: Treffen mit dem Feind + Kampf + Sieg des Helden usw.). Wenn man diese Mehrteiler als typisierte Episoden bezeichnet, dann kann man behaupten, dass die Episoden der magischen Flucht,XVIII des Kampfes mit dem Drachen, der Grabwache, der Wegweisung usw., die an sich wiederum komplexe morphologische ‚Nester‘ darstellen, in ihrer Beziehung zum Märchen als Ganzem in verschiedene kombinatorische Verbindung miteinander treten können, und zwar als invariante morphologische Einheiten. Die Komplexität der einzelnen Komponenten der Sujetfügung erklärt auch die Tatsache, dass es im Märchen keine absolute Freiheit für die Kombination kleiner Einheiten (Funktionen, Themen, Motive) gibt, sondern dass das Märchen eine relativ begrenzte (obschon nicht geringe) Anzahl ihrer [Kombinationen] vorgibt, wodurch manchmal die Illusion der Unveränderlichkeit der Märchensujets im Allgemeinen entsteht. Zeitlich begrenzte, auch längerfristig unveränderliche Kombinationen einiger morphologischer Sujetkomplexe sind natürlich durchaus möglich. Und eben auf diese lässt sich der von Walter Anderson geprägte Begriff der „Normalform“ des Märchens anwenden.10 Davon auszugehen, sie seien über sehr lange Zeit hinweg beständig, erscheint jedoch unmöglich, da die grundsätzliche Beweglichkeit der morphologischen Zusammensetzung des Märchens ununterbrochen [auf den Prozess des Erzählens bzw. der Tradierung] wirkt. § 5. Das konkrete Sujetschema eines Zaubermärchens, d. h. einer Märchenvariante wird – wofern sie keine bloß mechanische Wiederholung darstellt (was auch vorkommt) – geprägt von dem jeweiligen Ziel, das der Held anstrebt. Unter diesem Gesichtspunkt zerfällt die Gesamtheit der Zaubermärchen in drei große Gruppen: Männermärchen, Frauenmärchen und neutrale Märchen. 1) Die Männermärchen sind nach spezifischen Sujetschemata konstruiert. Unter diesen sind drei besonders charakteristisch: a) Märchen vom Gewinn eines Gegenstandes oder einer Person (hauptsächlich der Braut); b) Märchen von der Lösung schwieriger Aufgaben; 10
W. Anderson, Kaiser und Abt, Helsinki 1923, cap. II. § 2 (vgl. auch meine Rezension in: Izvestija Otdelenija Russkogo Jazyka i Slovesnosti Akademii Nauk, Bd. 31, 1926).
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c) Märchen von einer irgendwie bemerkenswerten Täuschung (einem geschickten Diebstahl, einem Wettkampf mit irgendjemandem usw.). 2) Das Frauenmärchen kennt zwei vorherrschende Typen von Schemata: a) Märchen vom Gewinn eines Gegenstandes oder einer Person (hauptsächlich des Bräutigams, doch mit einem morphologischen Bestand an Episoden, der von den entsprechenden Männermärchen entscheidend abweicht), b) Märchen vom Leiden einer unschuldig verfolgten Frau (oder eines Mädchens). 3) Das neutrale Märchen umfasst alle übrigen Schemata. Am häufigsten handelt es sich um ‚Beispielmärchen‘ [im Orig. dt.], die eine ethische Maxime oder moralische Sentenz illustrieren („Wahrheit und Lüge“, Klugheitsproben, Märchen vom dummen Teufel usw.), oder um ‚Ursprungssagen‘ [im Orig. dt.]. Jeder dieser Typen verfügt über einen gesonderten Fundus funktionaler Verbindungen der Figuren untereinander, die für ihn spezifisch sind und nach den oben angeführten Gesetzen der Sujetfügung zu konkreten Märchenvarianten kombiniert werden. [178] § 6. Worin besteht nun die Bedeutung der morphologischen Studien für die Erklärung der internationalen Ähnlichkeit der Sujets? Der Morphologe kann die bereits bekannten Faktoren der Migration und der Geschichte des Märchens nicht leugnen, doch wird er, indem er einige nicht historisch bedingte, sondern rein formale Gesetzmäßigkeiten der Sujetfügung aufdeckt, notwendigerweise noch eine andere Erklärung vorschlagen: Die Anzahl möglicher Funktionen einfacher menschlicher Beziehungen ist – de facto und auf dem Gebiet der Phantasie – (und das Märchen reicht nicht in die Sphäre komplexer Beziehungen der höher entwickelten Zivilisation hinein) – auf natürliche Weise begrenzt und weist – ungeachtet der Vielfalt der Formen des Alltags und der Erlebnisse, in denen sie sich über Jahrhunderte hinweg bei verschiedenen Völkern verkörpern – eine gewisse Parallelität auf. Dies führt uns zur hypothetischen Annahme einer Erklärung für die internationale Ähnlichkeit der Sujets, in der alle Widersprüche der historischen Schule offensichtlich ihre Auflösung finden. Die Theorie der Polygenese des Märchens als Ganzen wird berichtigt zu einer Theorie der polygenetischen Sujetkonstruktion [sju!etoslo!enie] (nicht der Schaffung bzw. der Prägung einzelner Märchentypen [sju!etosozdanie]). Der Historismus der finnischen Schule behält dann seinen Wert, wenn man die historische Forschung anstatt auf das Sujet als Ganzes auf Episo-
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den, auf die invarianten morphologischen Elemente des Ganzen richtet. Mehr noch, die Annahme einer morphologischen Beweglichkeit der das Märchen formierenden Teile erleichtert die historisch-genetischen Untersuchungen, indem sie die einfacheren Episoden des Märchens zu ihrer Erhellung an die Sphären der ‚primitiven‘ Mythologie, der Ethnographie der Sitten und Bräuche oder der Ästhetik der Volkskunst rückbindet. —————————
Bibliographische Notiz Originaltitel: K voprosu o morfologi!eskom izu!enii narodnoj skazki. In: Sbornik Otdelenija Russkogo jazyka i slovesnosti Akademii nauk SSSR, 101 (1928), S. 173–178. Der Text entstand 1926 und wurde 1928 erstmals gedruckt. 1973 erschien eine ausführlich kommentierte und annotierte Übersetzung ins Englische von Heda Jason: On the Morphological Study of Folklore. In: Linguistica Biblica, 27/28 (1973), S. 25–35 (im weiteren Nikiforov [1928] 1973). 1975 erschien in einer Textsammlung für Studenten der Folklore-Studies eine zweite Übersetzung von Stephen Soudakoff: Towards a Morphological Study of the Folktale. In: F. J. Oinas, S. Soudakoff (Hgg.), The Study of Russian Folklore, The Hague 1975 (= Slavistic Printings and Reprintings, Bd. 4), S. 155–161 (im weiteren Nikiforov [1928] 1975). Hier entfielen sämtliche Anmerkungen und bibliographischen Hinweise des Originals.
————————— Kommentar Mit dem Projekt einer ‚Morphologie‘ des Märchens assoziiert man allgemein Vladimir Propp*, dessen so betitelte Monographie Morphologie des Märchens (Morfologija skazki) (1928a) international bekannt wurde und bis heute unterschiedlichen Disziplinen Impulse gibt. Für die Narratologie ist insbesondere Propps Begriff der Funktion von Bedeutung (vgl. den Kommentar zu Propp in diesem Band). International kaum bekannt ist die Tatsache, dass Propp nicht der einzige war, der im Russland der 1930er Jahre den Begriff der Funktion verwendete und an einer Morphologie des Märchens arbeitete. Der hier in deutscher Erstübersetzung vorliegende Artikel Aleksandr Isaakovi! Nikiforovs (*1893 †1941) stellt die Programmatik einer geplanten Morphologie des russischen Volksmärchens dar, die von 1924 bis 1929/30 entstand und von der ein 200 Seiten umfassendes Teil-
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manuskript erhalten ist, das sich heute im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften zu Petersburg befindet (s. Nachweis bei Kostjuchin 1994, 303). Warum diese Monographie unabgeschlossen blieb und auch der vorliegende Text, der bereits 1926 vorlag, erst 1928 erscheinen konnte, ist bisher nicht geklärt. Nikiforov studierte von 1912 bis 1917 in Petersburg Folkloristik und altrussische Literatur und kam in Kazan’ durch Nikolaj Petrovi! Andreev* in intensiven Kontakt mit der geographisch-historischen Methode. 1922 kehrte er nach Leningrad zurück und trat 1924 in die neu gegründete Märchenkommission (Skazo!naja komissija)* der Russischen Geographischen Gesellschaft (RGO) ein. Von 1924 bis 1926 dokumentierte er neben eigenen Publikationen in zahlreichen Rezensionen den internationalen Stand der Märchenforschung und arbeitete u. a. zusammen mit Propp an N. P. Andreevs erstem russischen Märchentypenkatalog (Andreev 1929). Auf das Jahr 1924 datieren die ersten Aufzeichnungen zur „Morphologie“. In der Zeit von 1926 bis 1928 unterbrach Nikiforov die Arbeit an diesem Projekt und sammelte auf ausgedehnten Expeditionen im Norden Russlands (Zaone"’e, Pinega, Mezen) umfangreiches Material, das erst posthum und nur zum Teil veröffentlicht werden konnte (vgl. Propp 1961, 4–24). 1928 erschienen dann gleichzeitig Propps Buch und Nikiforovs Artikel. Nikiforov setzte nach 1928 die Arbeit an seinem Projekt fort, offensichtlich in der Überzeugung, dass mit Propps Monographie das Problem einer Morphologie des Märchens nicht adäquat gelöst worden sei (vgl. Kostjuchin 1994, 303; zu Leben und Werk Nikiforovs vgl. Kostjuchin 1999; 2000). Dass in Russland zu dieser Zeit überhaupt zwei solche Projekte gleichzeitig entstehen konnten, ist weniger erstaunlich, als man meinen könnte: Auch zum Typenkatalog Andreevs, der sich international unbestritten als Referenz auf die russische Erzähltradition durchsetzte und erst 1979 vom ostslavischen Typenverzeichnis (Barag u. a. 1979) abgelöst wurde, existierten Parallelprojekte von A. M. Smirnov* und N. T. Sumcov (vgl. Levin 1975, 495), die heute vergessen sind. Darüber hinaus war der Begriff „Morphologie“ – wenn auch in unterschiedlicher Bedeutung – in der russischen wie der deutschen Literaturwissenschaft präsent (vgl. dazu auch Aumüller 2008b). Von einer ‚Morphologie des Märchens‘ im Besonderen hatte schon Aleksandr Veselovskij* in seiner 1884–1885 erstmals veröffentlichten Vorlesung Zur Geschichte des Epos (Iz lekcii po istorii #posa) gesprochen. Sein Konzept einer Morphologie beruht auf der Annahme der analytischen Zerlegbarkeit des gegenwärtigen Märchenrepertoires zu einem zahlenmäßig begrenzten ,Lexikon‘ elementarer Bausteine, die er im Sinne der Völkerpsychologie zu einem Thesaurus der formelhaften Prägungen universalen Charakters ausbauen wollte. Veselovskij geht auch hinsichtlich anderer Genres (Legenden, Mythen, Epen) von einer analytischen Reduzierbarkeit in diesem Sinne aus. Dennoch weist er gerade einer möglichen Morphologie des Märchens eine Schlüsselrolle für die Erforschung aller erzählenden Formen (Volksdichtung wie Literatur) zu und spricht in diesem Zusammenhang von der „Unumgänglichkeit, eine Mor-
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phologie des Märchens zu konstruieren, was bisher aber noch niemand geschafft hat“ (Veselovskij [1884–1885] 1940, 459). Die wenigen bisher veröffentlichten Stellungnahmen zu Nikiforov zeigen, dass seine Bewertung von der Rezeption der Morphologie Propps nicht zu trennen ist. Wo die universale Gültigkeit der Formel Propps angenommen wird, kann Nikiforovs Ansatz kein Verständnis finden, denn dieser lehnte schon aus theoretischen Gründen ein universales Sujetschema für alle Märchen ab (vgl. auch oben, § 4, 4). Als repräsentativ für eine negative Bewertung Nikiforovs kann Eleazar Meletinskijs Nachwort zur 2. russischen Auflage der Morphologie Propps (Meletinskij [1969] 1972, 181 ff.) angesehen werden, von dem eine kanonisierende Wirkung ausging, weil es mit Propps Arbeit in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde (z. B. in Propp 1970, 1972). Meletinskij, der selbst in Zusammenarbeit mit anderen Theoretikern der Moskau-Tartu-Schule auf der Basis der „Morphologie“ ein neues Klassifikationssystem des Märchens vorgeschlagen hat (vgl. Meletinskij u. a. 1969; 1971), bewertet Nikiforov durchaus positiv und macht darauf aufmerksam, dass seine Schematisierung verschiedener Rollen im Märchen Greimas’ Strukturmodell der Aktanten in der Sémantique structurale (1966) nahezu wörtlich vorwegnimmt. Letztlich wirft er ihm jedoch „mangelnde Überwindung der atomistischen Auffassung“ vor (Meletinskij 1972, 181 ff.). Unter ‚Atomismus‘ ist hier die isolierte Betrachtung von Sujets zu verstehen, wie sie für die finnische Schule typisch war. Aus Anlass des 100. Geburtstags Nikiforovs erschienen eine ihm gewidmete Nummer der Zeitschrift !ivaja Starina (1995, Heft 2) und ein wichtiger Artikel Evgenij A. Kostjuchins: Zwei Morphologien des Märchens, von A. I. Nikiforov und V. Ja. Propp (Kostjuchin 1994). Kostjuchin unternimmt aus der Sicht der Folkloristik einen Vergleich beider Ansätze. Er sieht eine grundlegende Differenz in der Anlage der Projekte Propps und Nikiforovs, die seiner Ansicht nach jeden Streit um die Priorität hinsichtlich des Funktionsbegriffs überflüssig mache. Der Autor ist bestrebt zu zeigen, dass Nikiforovs Arbeit gegenüber der Propps schon im Ansatz verfehlt sei und deshalb unvollendet bleiben musste, doch ist seine Argumentation nicht überzeugend. So stellt er Propps Orientierung an Goethes Morphologie die Rückständigkeit Nikiforovs gegenüber, der zeitgemäßen Theorien der Biologie des Erzählguts verhaftet geblieben sei, übersieht aber, dass Nikiforovs Redeweise von den ‚Skeletten der Sujetschemata‘ und seine Forderung nach einer ‚Osteologie der Literatur‘ sich eben an Goethe orientiert. Man kann sich überhaupt des Eindrucks einer grundsätzlichen Voreingenommenheit des Autors nicht erwehren. Dennoch liefern bereits die wenigen von Kostjuchin zitierten Auszüge aus dem Archivmaterial Anhaltspunkte dafür, dass die Arbeit von großer Bedeutung für die Narratologie sein könnte. In Nikiforovs eigenen Worten umfasste die geplante Monographie drei Teile, von denen nur der erste in Form eines Manuskripts ausgeführt ist. Zu den übrigen existieren lediglich Aufzeichnungen und Notizen. Die drei Teile sind im Einzelnen:
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1.) die „Morphologie des Sujets“; 2.) die „Syntax“ bzw. die „Gesetze der Komposition des Märchens“; 3.) die „Genesis“ des Märchens. An einer anderen Stelle bezeichnet Nikiforov sein Projekt als „die erste Grammatik des russischen Märchens“ und rechnet ihr folgende Elemente zu: I. Die Morphologie des Sujets; II. Die Komposition des Märchens; III. Die formal beschreibbare Seite des Märchenstils. Der Darstellung Kostjuchins lässt sich entnehmen, dass Nikiforov unter dem Begriff ‚Grammatik‘ die formal beschreibbaren synchronen Aspekte des Märchens versteht. Insgesamt umfasst die geplante Monographie aber den synchronen wie den diachronen Aspekt. Damit entspricht sein Erkenntnisprojekt dem Propps, denn entgegen einer weit verbreiteten Ansicht sind dessen Historische Wurzeln des Zaubermärchens (Propp 1946) und die Morphologie des Märchens Teile einer Untersuchung. Zu einer der Bewertung Kostjuchins und Meletinskijs entgegengesetzten Einschätzung Nikiforovs kommt Heda Jason, die sich im Rahmen ihrer strukturalistischen Märchenforschung in den 1970er und 1980er Jahren intensiv mit Propp und dessen Umfeld auseinandergesetzt hat (Jason 1968, 1977b, auch Jason/Segal [Hgg.] 1977) und von der auch die erste Übersetzung des vorliegenden Artikels ins Englische stammt. Sie stellt den Ansatz Nikiforovs als ‚generativ‘ dem ‚taxonomischen‘ Modell Propps gegenüber und stützt sich dabei auf die Äußerungen Nikiforovs über die Parallelität der Formkräfte in Bezug auf Sprache und Sujetkonstruktion. Jason deutet diese Äußerungen im Sinne einer Vorwegnahme der Chomskyschen Vorstellung von grammatischer Kompetenz deutet (Jason in Nikiforov [1928] 1973, 26). Ihrer Ansicht nach geht der Funktionsbegriff auf Nikiforov zurück, Propp habe ihn von Nikiforov übernommen (das vermuten auch Oinas/Soudakoff in ihrem Kommentar, vgl. Nikiforov [1928] 1975, 163). Bezeichnenderweise geht die Aufwertung Nikiforovs bei Jason mit einer Revision des Ansatzes Propps Hand in Hand: Jason, wie auch die mit ihr assoziierte Forschergruppe (Ilona Dan, Dmitrij Segal u. a.) sowie unabhängig davon Satu Apo und Juha Pentikäinen kommen angesichts des seit 1928 wesentlich umfangreicher dokumentierten Märchenmaterials zu dem Ergebnis, dass die Märchenformel Propps auf eine bestimmte Subkategorie der Zaubermärchen zugeschnitten und deshalb nicht universal gültig ist (vgl. Jason 1988, 9, Holbek 1987, 380 ff.). Wenn man die hier vorliegende Arbeit und die spärlichen, bisher vorliegenden Fakten über die Morphologie daraufhin befragt, welchen Ort Nikiforovs Ansatz in der (Vor-)Geschichte der Narratologie einnimmt, dann kann man hypothetisch dreierlei konstatieren:
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(1) Das Erkenntnisprojekt der Morphologie Nikiforovs ist dem Propps parallel. Wichtiger als die Frage nach der eigentlichen Urheberschaft des Funktionsbegriffs, die sich damit erhebt, ist jedoch die nach seiner unterschiedlichen Bedeutung bei Propp und Nikiforov. Nikiforovs Konzept der Funktion unterscheidet sich von dem Propps dadurch, dass es eine typisierte Handlung an mindestens eine narrative Rolle und eine Positionsregel (nicht aber eine Position) bindet. Die Regel gilt für die Episode als nächsthöhere morphologische Einheit. (2) Nikiforov hat mit seinem Gesetz der grammatischen Formung der Handlung entsprechend der Wortbildung (§ 3, 3) eine Analogie zwischen Sprache und Erzählen gesetzt. Die ‚Funktion‘ entspricht dem Morphem, die ‚Episode‘ dem Wort, der Text (eine konkrete Märchenvariante) dem Satz. Dieses Vorgehen ist avant la lettre narratologisch. (3) Die von Jason vorgenommene Einschätzung der Programmatik Nikiforovs als generativistisch erscheint berechtigt, wenn man sich seinen Begriff der Episode genauer ansieht. Eine „typisierte Episode“ (§ 4, 4) ist ein über einen bestimmten Zeitraum hin innerhalb einer bestimmten Erzähltradition invariantes Pattern von Funktionen und Rollen, über die der Erzähler in der Performanz als gleichsam formelhaftes Element verfügt. Man betrachte unter diesem Aspekt die von Nikiforov oben notierte Variante. Sie besteht aus dem generativen Kern des antithetischen Zweiteilers (1+1) (FluchtHeld & RettungHeld) + (KampfHeld und SiegHeld). Die Konstruktion eines konkreten Sujets geht nun so vor sich, dass ein Handlungskreis von der Wurzelhandlung her strukturiert wird, wobei der „Gang der Handlung“ durch Suffixe und Affixe ,erschwert‘ und zu immer mehr Episoden ausgefaltet werden kann. Dieser Vorgang ließe sich in einer Baumstruktur darstellen. Aus dieser Sicht erschiene auch die Annahme dreier „Textgeschlechter“ in Analogie zur Grammatik plausibel (§ 5). Dieser Gedanke ist u. a. von Propp als rein induktive Einteilung in thematische Gruppen missverstanden worden. ‚Generativ‘ gedacht, ließ er sich so formulieren: Dem Geschlecht der Helden (in Verbindung mit einem spezifischen Telos) kommt eine determinierende Funktion für das den Handlungskreis formende Repertoire an Episoden zu, die auf einer sehr hohen/frühen Stufe der Baumstruktur angesiedelt ist. Zusammenfassend kann man sagen, dass Nikiforovs Artikel in nuce die Programmatik einer Erzählgrammatik darstellt. Ob Nikiforov allerdings eine generativistische Vorstellung von der Erzählkompetenz allgemein formuliert und wie er den Begriff der ‚Funktion‘ im Einzelnen verwendet, kann allerdings nur durch Einsichtnahme in die Archivbestände geklärt werden.
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Anmerkungen I
Vgl. den Auszug aus !klovskijs Schriften zum Sujet und seiner Konstruktion in diesem Bd. S. 16; Anm. d. Übers. II Vgl. zur Byline die Auszüge aus Skaftymovs* Poetik und Genese der Bylinen in diesem Band. III Der Begriff „erotische Märchen“ ist unklar, da er keine anerkannte Gattung der Folklore bezeichnet. In einem späteren Artikel Erotik im großrussischen Märchen (Nikiforov 1931) behandelt Nikiforov Märchen satirischen, agressiven Charakters – meist über den Popen, seine Frau und deren Knecht. Propp* (1961, 14) votiert aufgrund dieses Artikels für eine Klassifizierung dieser Texte als eigene Gattung. IV Nikiforov spricht allgemein im Hinblick auf jeden konkreten Märchentext von „Variante“, meint damit aber nicht Variante eines Erzähltyps, wie die Vertreter der geographisch-historischen Methode. Er geht davon aus, dass es in der mündlichen Erzähltradition nur Varianten gibt und dass alle als Märchentyp katalogisierten ‚Sujets‘ historisch kontingente Phänomene von zeitlich begrenzter Beständigkeit sind. Hierin besteht einer seiner Hauptkritikpunkte am Konzept der ‚Normalform‘ der finnischen Schule. V Die hier angegebenen Konstruktionstypen beziehen sich auf Formverhältnisse innerhalb einer Variante. Diese Formverhältnisse können sich auf Episoden oder andere Märchenelemente beziehen. Das Märchen kann z. B. aus drei Episoden bestehen, von denen zwei negativ enden, die dritte dagegen positiv endet (2 + 1), es kann drei Helden geben, von denen nur der jüngste Erfolg hat (2 + 1). Nikiforov betont, dass hinter Phänomenen wie dem Dreischritt im Märchen eine abstrakte morphologische Gesetzmäßigkeit stehe, die auch in Bezug auf größere Einheiten des Sujets (Funktion, Episode, Handlungskreis) formale Konstruktionen nach den von ihm angegebenen Mustern (2 + 1), (3 + 2) etc. bewirken könne. VI Der Begriff „komplexe Sujetmengen“ bezieht sich auf Kontaminationen, d. h. Verschmelzungen mehrerer Erzähltypen in einer Variante. Die national repräsentativen Sammlungen des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts tendieren zu einem kurzen Märchentyp, der meist nur aus ein oder zwei Handlungskreisen besteht. VII Mit chod bezeichnet Nikiforov den ‚Gang der Handlung‘ einer Variante insgesamt – im Gegensatz zu Propp, der chod für die Funktionsepisode bzw. Handlungssequenz (engl. move) gebraucht. Dem entspricht wiederum bei Nikiforov der Begriff ‚Handlungskreis‘ (krug). VIII Afanas’ev* 1957, Nrn. 182, 183; in Andreev 1929 als 530 B typisiert. IX Es wird nicht deutlich, was unter zwei Helden als Gegnern zu verstehen ist, da die Rolle des Gegners von Nikiforov weiter unten als zweitrangige Rolle der des Helden gegenübergestellt wird (vgl. Jason in Nikiforov [1928] 1973, Anm. 4b). X Nikiforov meint mit „kategorial mit der Existenz gegeben“, dass ein Repertoire von Episoden immer historisch kontingent ist und dass die Gegebenheit in einer Tradition immer Vorrang vor der Motivierbarkeit hat. Man kann das Prinzip der
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Bildung konkreter Episoden nicht vollständig einer kausalen Ereignislogik oder einer speziellen ‚magischen‘ Logik unterordnen. Zu dieser Annahme passen Beobachtungen der Erzählforschung, denen zufolge gegebene funktionale Episoden beim Übergang von einem Kulturkreis in den nächsten erhalten bleiben, auch wenn sie in der Zielkultur nicht mehr verstanden werden. Sie werden dann umgedeutet oder neu motiviert. XI „Organisch“ bedeutet: für das Ganze notwendig. Eingangsformeln und Endformeln sind unabhängig von der eigentlichen Erzählung. XII Der Begriff „Funktion“ wird hier zum ersten Mal erwähnt, jedoch erst weiter unten erläutert. Die „Anhäufung gleichartiger Funktionen“ bezieht sich im erwähnten Märchen (Afanas’ev 1957, Nr. 313, AaTh 400) auf eine Reihe so genannter schwieriger Aufgaben, die eine Schwanen-Jungfrau für den Helden erfüllt, sowie auf eine Reihe von ihr erteilter Verbote. XIII Afanas’ev 1957, Nr. 313. XIV Afanas’ev 1957, Nr. 301, AaTh 210. Verlioka ist ein riesenhafter Unhold, der im Wald lebt und einem alten Mann regelmäßig die Ernte ruiniert. Der Alte entsendet deshalb zunächst seine beiden Enkelinnen zur Wache über das Feld. Verlioka erschlägt beide und am Tag darauf die Ehefrau des Alten. Eine dritte Wache des Alten selbst endet mit seiner Flucht vor Verlioka. Daraufhin begibt er sich auf Reisen, gewinnt drei Tiere als Helfer und tötet schließlich Verlioka im Zweikampf. XV Die schematische Notation von Handlungsverläufen kam mit der Märchentabularisierung auf. Es handelte sich aber keinesfalls um ein standardisiertes Verfahren. Auch Bédier* (1893) und Volkov (1924) verwendeten algebraische Notationsverfahren zu unterschiedlichen argumentativen Zwecken. Nikiforovs Notation besteht aus einer Reihe zweiteiliger Terme, in denen ein substantiviertes Verb die Handlung bezeichnet und der Index in eckigen Klammern Auskunft über die Zuordnung zu Figuren und manchmal über Eigenschaften der Handlung gibt. Die arabische Ziffer bezieht sich auf die Zahl der Funktionen in einer Episode. Die von Nikiforov für das Beispiel „Verlioka“ gegebene Notation lässt sich dann so lesen: Der übernatürliche Dieb ist der Gegenspieler: Verlioka. Das Märchen beginnt mit einem Dreiteiler nach dem Muster (2 + 1) (vgl. § 3, 1): Zwei Wachen verlaufen unglücklich, die dritte endet abweichend mit der Flucht, also insgesamt auch negativ, weil der Gegenspieler noch nicht besiegt wird. Die Abreise des Helden ist ein isoliertes vermittelndes Element, das bei Propp der Raumvermittlung entspräche (Funktion 11). Dann folgt eine zweite, vierteilige Episode. In beiden Episoden stellt die Begegnung Held – Gegenspieler die Wurzelhandlung dar, so dass der Variante insgesamt eine antithetische zweigliedrige Komposition zugrunde liegt (1 neg. +1 pos.). XVI Afanas’ev 1957, Nr. 208. XVII Afanas’ev 1957, Nr. 156. XVIII Beispiele für eine „magische Flucht“ sind folgende Episoden: Die Heldin flieht vor ihrer Mutter, einer Hexe, indem sie sich in einen Fluss, in einen Garten
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und einen Wald verwandelt. Oder aber sie wirft drei Mal magische Gegenstände hinter sich (Kamm, Haar u. ä.), die sich in schwer überwindbare Hindernisse verwandeln.
9. Il’ja Gruzdev: Über die Maske als literarisches Verfahren (Übersetzt und kommentiert von Christine Gölz) I Jurij Tynjanovs* Buch Dostoevskij und Gogol’ zählt zu denjenigen Arbeiten, die keine erschöpfenden Antworten geben, sondern neue Wege auf dem noch ziemlich unklaren und chaotischen Gebiet der Literaturtheorie aufzeigen.I Doch gerade der theoretische Teil von Tynjanovs Untersuchung ist in der Folge nicht näher beleuchtet worden. Sowohl beim Vortrag seiner Arbeit in der Gesellschaft zur Erforschung der LiteraturII als auch in der Rezension von Viktor Vinogradov* (in !izn’ iskusstva, Nr. 806) richtete sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Frage, ob Dostoevskij in der Figur des Foma Opiskin den Schriftsteller Gogol’ selbst oder nur seinen Stil im Briefwechsel parodiert habe1, auf eine Frage also, die zur Hälfte literarische Realien berührt und die für die Stilanalyse keine sonderliche Bedeutung hat.III Dabei behandelt die Arbeit Tynjanovs in ihrem Hauptteil zwei theoretische Probleme: 1) die Parodie und ihr Verhältnis zur Stilisierung, 2) die „Charaktere“ und „Typen“ und ihre Ausarbeitung in Bezug auf ein bestimmtes literarisches Verfahren. Was den ersten Punkt betrifft, so scheint mir Tynjanovs Definition der Parodie als Mechanisierung eines bestimmten Verfahrens oder als Organisation eines mechanisierten Verfahrens2 (was in seinem Kern ein und dasselbe ist) nicht umfassend und überzeugend genug zu sein. Die „Mechanisierung“ des Verfahrens allein (z. B. durch Umstellung der Teile) 1
2
Foma Fomi! Opiskin, ein gescheiterter Literat in Fedor Dostoevskijs Das Gut Stepan"ikovo und seine Bewohner. Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten (Selo Stepan!ikovo i ego obitateli. Iz zapisok neizvestnogo), 1859; Briefwechsel: Nikolaj Gogol’, Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden (Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami), publ. 1847 in zensierter Fassung, 1867 vollständig [Anm. d. Übers.]. Jurij Tynjanov, Dostoevskij und Gogol’, Petrograd 1921, S. 23.
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stellt noch keine Parodie dar. Diese entsteht erst durch die deutlich wahrnehmbare Gegenüberstellung zweier heterogener Stile. Hierfür gibt es zwei Wege. Entweder werden die Verfahren des alten Stils durch Vereinfachung und Übertreibung3 bis an ihre Grenze getrieben, und es entsteht dadurch aufgrund des Kontrasts ein neues Formverständnis; oder aber die neue Entwicklung präsentiert sich im Werk selbst als eine scharfe und unerwartete Konfrontation mit der bisherigen Form. Nachahmung, Stilisierung und Imitation sind unterschiedliche Stufen der Verschmelzung mit einem Stil. Parodie aber bedeutet Divergenz – nicht hin zum Stil, sondern weg von ihm. Wenn es „von der Stilisierung zur Parodie nur ein Schritt“4 ist, dann, so könnte man hinzufügen, ist dies ein Schritt zurück oder zur Seite. Eben dieses Merkmal des „Gewollten“, die „Ausrichtung auf die Negation“, gehört unbedingt zum Begriff der Parodie. Allerdings enthält die „Mechanisierung“, da sie die alten Verfahren vereinfacht, unterstreicht und hervorhebt, bereits ein „parodistisches Potential“. In diesem Sinne wäre es richtiger, Sternes Tristram Shandy nicht als „den typischsten Roman der Weltliteratur“ (Viktor !klovskij*)IV zu bezeichnen, sondern, da er das Sujetschema des Romans „mechanisiert“, als die „Parodie“ des Romans schlechthin. In ihm wird nicht ein einzelnes Werk „parodiert“ und auch nicht der Stil im Ganzen, sondern nur ein einzelnes Stilelement – der Bau des Sujets. Entsprechend ist es möglich, jedes Stilelement einer solchen Bearbeitung zu unterziehen, ganz besonders aber die Figurengestaltung. Das, was Jurij Tynjanov „Maske“ nennt, ist nichts anderes als eine vereinfachte Figur, die in eckigen, überzeichneten, „mechanisierten“ Formen auftritt und einen „charakteristischen“ Namen trägt (bei Gogol’: Nos [Nase], Korobo"ka [wörtl. Schächtelchen], Jai"nica [Eierkuchen] u. a.5). 3 4 5
Entsprechend nimmt die Parodie häufig die Form eines volkstümlichen Bilderbogens [lubok] oder einer Karikatur an. Jurij Tynjanov, Dostoevskij i Gogol’, S. 9. Nos: der phantastische Nasen-Held der gleichnamigen Erzählung von Nikolaj Gogol’ aus dem Jahr 1836; Korobo"ka: Gutsbesitzerin aus Gogol’s Roman Die Abenteuer !i"ikovs oder Tote Seelen. Ein Poem (Pocho#denija $i"ikova ili Mertvye du%i. Po&ma), publ. 1842; Jai"nica: Held aus der Komödie Die Heirat. Eine ganz unwahrscheinliche Begebenheit in zwei Akten ('enitba. Sover%enno neverojatnoe sobytie v dvuch dejstvijach), 1842 [Anm. d. Übers.].
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Tynjanov hebt nicht etwa das parodistische, holzschnittartige Verfahren dieser Konstruktionen hervor, sondern weist lediglich auf ein anderes ihrer Merkmale hin: auf die Eigenschaft dieser „Masken“, sich nicht zu verändern, keinerlei „Umbrüche“ und „Entwicklungen“ zu durchleben (S. 15).V Dies lieferte einem Rezensenten den Vorwand, die Gogol’schen „Typen“ mit typischen literarischen Figuren wie Faust, dem geizigen Ritter6, Harpagon u. ä. in eins zu setzen und auch diese als „auf immer erstarrte Masken“ zu bezeichnen.VI Eine solche Gleichsetzung führt zu nichts. Faust und der geizige Ritter sind mit psychologischer Tiefe ausgestattet; die Figuren Gogol’s hingegen sind scharf gezeichnete Primitive, echte „schiefe Fratzen“ 7. Allerdings handelt es sich in beiden Fällen um Figuren, die in die Erzählung oder das Drama eingeführt worden sind, um Masken der handelnden Personen. Unabhängig davon stellt sich die Frage nach der Autormaske, nach einer weiteren, scheinbar zusätzlichen Figur, die im Prozess des Erzählens selbst entsteht. Es gibt drei Arten von erzählender Rede: 1. Die unpersönliche Rede, die keinerlei charakteristische Einfärbung aufweist und nur der faktischen Darlegung der Ereignisse dient. 2. Die Rede, in der der Autor sich selbst als Erzähler in den Vordergrund schiebt. Mit ihr wird die Illusion seiner echten Stimme erzeugt, der Ausdruck einer Autorfigur [avtorskoe lico] entsteht. Dies ist ein Spiel mit der Identität von Autor und erzählendem Augenzeugen. (Persönliche Abschweifungen, Verweise auf allgemein bekannte Tatsachen aus dem eigenen Leben usw., z. B. in Eugen Onegin.)VII 3. Die Rede, in der der Autor sich absichtlich die Maske eines Anderen aufsetzt, in der er das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt und nicht mit voller Stimme, sondern wie im Falsett spricht.
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Hauptfigur in Pu!kins „kleiner Tragödie“ Der Geizige Ritter. Szenen aus Shenstones Tragikomödie: The Covetous Knight. (Skupoj rycar’. Sceny iz "enstonovoj tragikomedii: The Covetous Knight), 1830 [Anm. d. Übers.]. Anspielung auf das Sprichwort: „Unnötig auf den Spiegel zu schelten, wenn die Fratze schief ist“, das als Motto zu Gogol’s Komödie Der Revisor (Revizor), 1836–1842 dient [Anm. d. Übers.].
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In seinem hervorragenden Aufsatz zum Mantel analysiert Boris !jchenbaum* ein Muster einer solchen Rede und stellt zwei Besonderheiten dieser Struktur fest: 1. das „System von mimisch-artikulatorischen Gesten“ und 2. die „Illusion des Skaz“, den Schein improvisierter Rede, ungeschickt und verworren, mit eingeschobenen Witzen und Wortspielen.VIII Sowohl die eine als auch die andere Besonderheit ist mit dem Verfahren der Autormaske eng verbunden (ohne den Begriff des Skaz kommt man hier nicht aus, denn die Maske wird im Prozess des Erzählens aufgedeckt), aber keine der beiden ist für dieses Verfahren entscheidend. Hauptmerkmal des Verfahrens ist vielmehr die Tatsache, dass die sich im Prozess des Skaz herausbildende Maske alle Gegenstände, Ereignisse und Beziehungen durch ihre Verstehensweise bricht. In der Erzählung selbst wird die Autormaske nicht eigens markiert. Sie scheint unsichtbar, obgleich sie im Vorwort oder Nachwort realisiert werden kann (Belkin, Rudyj Pan’ko8). Obwohl sie die Ereignisse nicht verdeckt und auch nur zeitweise erscheint, gibt sie doch die ganze Zeit über den Ton an. In Übereinstimmung hiermit schließe ich aus der reinen Form der Maske aus: 1. die Fälle, in denen der Erzähler als reale handelnde Figur in das Werk eingeführt wird (hierin besteht auch der Unterschied zum Skaz, der allein durch die Struktur der Rede charakterisiert ist, unabhängig von den Verfahren ihrer Einführung), 2. die Form des Tagebuchs, der Notizen, des Briefwechsels usw., in der sich die Ereignisse für gewöhnlich um die 1. Person konzentrieren, und 3. die Fälle, in denen die erzählende Person weder im Zentrum der Ereignisse steht noch eine intensive Beziehung zu ihnen zeigt, keine charakteristische Verzerrung des Tons erzeugt (Ein Held unserer Zeit, B!la 9). 8
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Belkin – der fiktive Verfasser des Zyklus von Aleksandr Pu"kin Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovi" Belkin (Povesti pokojnogo Ivana Petrovi#a Belkina), erschienen 1831; Rudyj Pan’ko – der fiktive Herausgeber und Erzähler des Novellenzyklus von Nikolaj Gogol’ Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka. Erzählungen, herausgegeben von dem Imker Rudyj Pan’ko (Ve#era na chutore bliz Dikan’ki. Povesti, izdannye pasi#nikom Rudym Pan’ko), erschienen 1830/31 [Anm. d. Übers.]. Michail Lermontov, Ein Held unserer Zeit (Geroj na"ego vremeni), 1840. – Die einzelnen Teile dieses Romans werden von unterschiedlichen Erzählern präsentiert, unter ih-
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Genau in diesem Ton, in ihrer Beziehung und nicht in der Handlungsbeteiligung der Maske liegt das Wesen dieses Verfahrens. Dabei gilt: je primitiver das Denken des Erzählers, je naiver sein Blick auf die Welt, umso größer und bedeutender erscheint ihm alles Geschehen. In seiner Präsentation stellen sich uns die allergewöhnlichsten Dinge als erstaunlich, grandios und phantastisch10, als hyperbolisch dar. Spräche der Autor in seinem eigenen Ton, der dem Leser geläufig ist, wäre die Verteilung von Licht und Schatten nicht so scharf umrissen und „theatralisch“ … Er verschärft den Ton, und indem er sich eine „Maske“ aufsetzt, „parodiert“ er gleichsam irgendjemanden … Parodie und Maske sind sehr eng verwandte Begriffe. Ist doch die Maske in ihrer eigentlichen Bedeutung nichts anderes als die Parodie des menschlichen Gesichts, seine Überzeichnung oder Verzerrung. Ich will nun eine Reihe von Werken vergleichen, die zwar völlig verschiedenartig sind, dennoch aber ein und dieselbe ausgeprägte Tradition der russischen Erzählprosa widerspiegeln. II Im ersten Teil habe ich davon gesprochen, dass das von mir literarische Maske genannte Verfahren eines des parodistischen Stils ist. Gogol’ hat, formal betrachtet, keine Parodien geschrieben. Sein ganzes Werk ist aber in seiner Ausrichtung auf Übertreibung, Verzerrung und jegliche Art von „Unangemessenheit“ in einem gewissen Sinne „parodistisch“. Und daher war für Gogol’ mit seinem Hang zur Hyperbolik und Groteske und zu allen möglichen Verschiebungen das Verfahren der Skaz-Maske ein natürliches und notwendiges. Was wüssten wir vom Streit zweier Adelsmänner des Mirgoroder Kreises 11, wenn nicht die Überra-
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nen auch vom Haupthelden Pe!orin selbst, was zu einer komplexen perspektivischen Brechung dieser Figur führt. Verbindendes Glied der Teile ist ein Reiseschriftsteller in der Rahmenhandlung, der in der ersten Novelle B!la die Erzählung Maksim Maksimy!s, eines Augenzeugen der Ereignisse um die Entführung eines Tscherkessenmädchens, wiedergibt [Anm. d. Übers.]. Nicht zufällig haben [die Wörter] Skaz und märchenhaft [skazo!nyj] dieselbe Wurzel. Nikolaj Gogol’, Geschichte, wie sich Ivan Ivanovi" und Ivan Nikiforovi" verstritten (Povest’ o tom, kak possorilsja Ivan Ivanovi! s Ivanom Nikiforovi!em), 1835 [Anm. d. Übers.].
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schung und die Begeisterung des Erzählers, eines Bewohners von Mirgorod, wäre? Betrachtet man allerdings sein gesamtes Prosawerk unter dem Gesichtspunkt der Skaz-Maske, so ist die Erzählung Der Nevskijprospekt mit den Worten Pu!kins als Gogol’s vollkommenstes Werk zu bezeichnen.IX Die Maske ist im Nevskijprospekt besonders stark ausgeprägt, wobei das Ziel des Verfahrens auch hier dasselbe bleibt: die Vergrößerung einer kleinen Welt und kleiner Ereignisse bis hin zu der Grenze, an der sie Bedeutsamkeit erlangen, zumindest ironische Bedeutsamkeit. Die Groteske, die ein Detail des Bildes auf Kosten anderer über die Maßen vergrößert, und die Phantastik, die vom Leser oder Hörer einen weiteren Blick als den gewöhnlichen fordert, unterstützen diese Illusion. „Nicht nur, wer fünfundzwanzig Lebensjahre, einen herrlichen Schnurrbart und einen bezaubernd genähten Anzug sein eigen nennt, sondern selbst jene, denen schon weiße Haare auf dem Kinn sprießen und deren Köpfe glatt wie silberne Schüsseln sind, schwärmen noch vom Nevskijprospekt. Und erst die Damen! Oh, den Damen ist der Nevskijprospekt noch viel angenehmer.“12 Die unsichtbare Maske der Groteske führt uns direkt auf die Trottoirs des Nevskijprospekts, wo so viele Füße ihre Spuren hinterlassen! Von hier, von diesem Trottoir aus, sieht man nicht die Menschen, nicht einmal ihre Gesichter, sondern nur die „herrlichen Backenbärte“, die „Halsbinden, die einen in Erstaunen versetzen“ oder die „Neid erregenden Schnurrbärte“. Die Abenteuer des Leutnants Pirogov, der von den Deutschen Schiller und Hoffmann Prügel bezieht, fußen auf diesem grotesken Prinzip, während die Begebenheit um den Künstler Piskarev mit Phantastik angesetzt ist. Die Phantastik wird in einer leichten, kaum merklichen Wendung der Ereignisse eingeflochten: „Doch sobald sich die Dämmerung auf die Häuser und auf die Straßen senkt und der Nachtwächter, in eine Bastmatte gehüllt, auf die Leitern klettert, um die Laternen anzuzünden, […] dann bricht jene geheimnisvolle Zeit an, da die Lampen allem und jeglichem einen verlockenden, wunderbaren Schein verleihen.“
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Übersetzung aus Gogol’ hier und im Folgenden von Josef Hahn [Anm. d. Übers.].
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Mit dem Beginn der Fabel reißt dann die sich des Skaz bedienende Einführung in die Erzählung abrupt ab. Es beginnt das Gespräch der beiden Freunde, und damit beginnen auch ihre Abenteuer, in der Art einer Abschweifung vom eigentlichen Ton, als ob der Knoten für einen neuen Angriff geschürzt würde. Der Skaz wird im Folgenden durch einen märchenhaften Tausch der Masken wieder aufgenommen, durch jenen Wechsel unterschiedlicher Stile, in dem Gogol’ ein unnachahmlicher Meister war. Mal tritt die Maske des Romantikers auf („Alles […] was Schwärmerei und stille Begeisterung beim Schein der Ampel vor den Heiligenbildern eingibt“), mal die der sentimentalen Deklamation („wo der Mensch gotteslästerlich alles Reine und Heilige, das unser Leben verschönt, unterdrückt und verhöhnt“) oder der hochtrabenden Rhetorik („aber o weh! sie war […] unter Hohngelächter in den schrecklichen Schlund gestürzt“). Darauf folgt erneut Phantastik („als hätte ein Dämon die ganze Welt in eine Unmenge kleiner Stücke gerissen“) und wieder Groteske („Er […] träumte abermals von irgendeinem Beamten, der ein Beamter und ein Fagott zugleich war“) … Die Verflechtung von Groteske und Phantastik setzt sich auch im Weiteren fort. Auf dieser Zweiteilung ist die ganze Erzählung aufgebaut. Der „verlockende und wunderbare Schein der Lampen“ trügt den armen Piskarev durch phantastische Traumgespinste. Für den Leutnant Pirogov verkehren sich die „Annehmlichkeiten“ des Nevskijprospekts in die allerunangenehmsten Prügel. Beide Episoden entwickeln sich aus dem jeweils zu ihnen passenden Ton, der im Skaz-Beginn der Erzählung vorgegeben wurde. Das Ende der Erzählung unterstreicht in zwei Absätzen noch einmal diesen Parallelismus. Da ist zum einen der „Streit von Traum und Wirklichkeit“ für den Leutnant Pirogov: „Wie merkwürdig, wie unbegreiflich unser Schicksal mit uns spielt! […] Alles geht verkehrt zu. […] der andere hat einen Mund von der Größe des Schwibbogens am Generalstabsgebäude, aber, o weh! er muss sich mit irgendeinem deutschen Essen aus Kartoffeln begnügen“. Die Schlusssequenz der Erzählung knüpft zum anderen zweifelsohne an die Geschichte um Piskarev an: „Oh, traut diesem Nevskijprospekt nicht! […] Alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint! […] Weg, um Gottes Willen weg von der Laterne! und geht schnell, so schnell ihr könnt, an ihr vorbei. […] Er lügt zu jeder Zeit, der Nevskijprospekt,
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doch am meisten dann, wenn […] der Dämon selber die Lampe anzündet – einzig deshalb, um alles nicht in seiner wahren Gestalt zu zeigen“.13 Bei der Erzählung Der Nevskijprospekt habe ich länger verweilt, weil sie mir als ein Musterbeispiel für das hier behandelte Verfahren erscheint, sowohl was die gegenseitige Abhängigkeit von Sujet und Skaz-Prinzip angeht, als auch die in sich abgeschlossenen und vollwertigen Formen der Maske. Dostoevskij wendet das Verfahren in einer gemischten Form an. Zugestandenermaßen hören wir bei ihm überall einen persönlichen Ton heraus. Aber dieser persönliche Ton bei Dostoevskij gehört in seiner Vorsätzlichkeit und „Verzerrtheit“ ohne Zweifel zum Ton der Maske. „Allerverehrtester“, „Ausgezeichnetster“, „Kognäkchen“, „Familchen“ – diese Über- und Untertreibungen erzeugen samt der verworrenen Syntax die Illusion von Krankhaftigkeit und seelischer Verzerrtheit der Figuren, die der körperlichen Verzerrtheit der Gogol’schen Helden entsprechen. Die reine Erzählung wird bei Dostoevskij allerdings beständig durch Dialoge und szenische Darstellungen unterbrochen. Dann verschwindet der Erzähler, manchmal wird er mechanisch beseitigt. Die reine Skaz-Form schien Dostoevskij nicht angemessen. Der Aufbau seiner Romane konzentriert sich auf eine verworrene Handlung mit einer Vielzahl von Szenen – der Skaz aber verlangsamt immer die Handlung. „Ich fürchte, […] der Anfang könnte lebendiger sein. Auf fünfeinhalb Druckbögen habe ich noch kaum die Intrige geschürzt“, schrieb Dostoevskij in einem Brief aus Anlass der Dämonen [Besy]. Dieses Geständnis ist umso charakteristischer, da man gerade in den Dämonen stärker als in den anderen Romanen Skaz vorfindet, der zudem durch das Verfahren der Maske verkompliziert ist, da die Wahrnehmung aller Ereignisse mittels einer vorgeschobenen Figur erfolgt. In den Dämonen ist diese Figur ein alteingesessener Bewohner der Stadt, ein Freund und Vertrauter Stepan Trofimovi! Verchovenskijs. In der Folge erfahren wir, dass sein Familienname G-v lautet. Das ist aber auch alles. Es handelt sich nicht eigentlich um eine Figur, sondern um ein unpersönliches Schema, einen Mittelsmann, der laut Innokentij Annenskij den Roman „durch seine offensichtliche Nutzlosigkeit“ „kompromittiert“.X 13
„Lampen“ und „Laternen“ begleiten durchgehend die Linie der Phantastik.
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Und wirklich, wofür braucht man ihn? Er hastet hin und her und treibt sich in all den Szenen herum, in denen eine hervorgehobene Pathetik oder Karikaturhaftigkeit gebraucht wird: „Ich sprang vor Schrecken auf“ … „Ich warf mich ihm entgegen“ … „Ich war erschüttert“ … „Mir drehte sich alles“ – er steigert die Spannung des Lesers, er denkt und fühlt für ihn, er ist die lebendige Kursivsetzung des Romans. Was die Komposition anbelangt, sind die Dämonen vielleicht der originellste und schärfste Roman Dostoevskijs. Diese Schärfe entsteht durch den Kontrast. Eine Reihe missgestalteter Karikaturen, Menschenaufläufe und Zänkereien einer kleinen Stadt14, ein Melodrama und ein Vaudeville als Vereinfachung des Tragischen und Komischen und über allem die Illusion von Monumentalität und Bedeutsamkeit, der Weg zur Lösung höchster moralischer und politischer Probleme. Die Maske, die die Stadtchronik führt und hilflos zwischen den erschütternden Ereignissen herumirrt, verstärkt diese Illusion von etwas Gewaltigem. Somit erscheint der äußerst dumme Skandal im Hause der Marschallin als kolossale Katastrophe. —————————
Bibliographische Notiz Der Artikel erschien unter dem Titel O maske kak literaturnom prieme in zwei Teilen in der Wochenzeitung !izn’ iskusstva (Das Leben der Kunst), Nr. 811 (4.10.1921), S. 6, und Nr. 817 (15.11.1921), S. 4. Der zweite Teil trug bei der Erstpublikation zusätzlich den Untertitel Gogol’ i Dostoevskij (Gogol’ und Dostoevskij). Übersetzungen in westliche Sprachen sind nicht bekannt.
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Die Stadt macht einen so kleinen Eindruck, dass Jurij Tynjanov in seinem Buch Dostoevskij und Gogol’ von einer „Kreisstadt“ spricht und dabei den Gouverneur aus den Augen verliert.
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Kommentar Die in dem Aufsatz Über die Maske als literarisches Verfahren angestellten Überlegungen zur Autormaske sowie die Ansätze einer Skaz-Theorie sind im Zusammenhang mit den Diskussionen zu sehen, die Ende der zehner und zu Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in den Seminaren und aus Anlass der Publikationen der Formalen Schule geführt wurden und an denen auch die Seminarteilnehmer bzw. Rezipienten regen Anteil hatten. Entsprechend ist das theoretische Feld, in dem Gruzdev sein Konzept einer Beschreibungsfigur für die Sprechinstanz im Narrativ entwirft, deutlich von Tynjanovs* Parodie- und !jchenbaums* Skaz-Begriff geprägt. Als Theoretiker der Schriftstellervereinigung Serapionsbrüder* stand Gruzdev in direktem Kontakt mit den Formalisten. Viktor "klovskij* (1923b, 193) nennt ihn in seiner dokumentarischen Autobiographie Sentimentale Reise (Sentimental’noe pute#estvie) einen Schüler Tynjanovs und !jchenbaums. Doch lassen sich neben dieser deutlichen formalistischen Ausrichtung auch divergierende, verdeckte Nuancen einer anderen Ausrichtung erkennen. Sie veranlassen z. B. Valerij Tjupa (1987; 1997) dazu, Gruzdevs Entwurf in die Nähe Michail Bachtins* zu rücken. Der verborgene „bachtinsche“ Charakter (Tjupa 1997, o. S.) von Gruzdevs Maskenkonzept lässt sich deutlicher noch in der bereits ein Jahr später folgenden Ausarbeitung erkennen. 1922 erscheint beinahe zeitgleich in Russland und in Berlin unter zwar unterschiedlichen Titeln, jedoch mit nur verschwindend geringen Abweichungen Gruzdevs Schrift Gesicht und Maske (1922a; dt. 1987) bzw. Verfahren des künstlerischen Erzählens (1922b). Die Berliner Fassung setzt mit der programmatischen Formel ein: „Der Künstler ist immer eine Maske“ und verallgemeinert damit die Autormaske, die in der frühen Fassung noch dem Skaz-Erzähler vorbehalten war, zur Bezeichnung aller Sprechinstanzen im künstlerischen Text. In Gruzdevs Argumentation soll die Metapher explizit zur Abgrenzung gegen die psychologische Schule dienen: „Diejenigen, die in der Kunst die direkte Widerspiegelung der Seele des Autors sehen, seiner Gefühle, Gedanken und Ideale, erinnern an ,naive Realisten‘, die von der wirklichen Existenz der sichtbaren Dinge überzeugt sind“ (Gruzdev 1922a, 207). Dennoch transportiert die Bildlichkeit der Maske den Autor, der durch sie spricht, als schöpferisch tätiges und damit verantwortliches Sinnzentrum des Textes immer mit. Entsprechend wird dann im Weiteren das Kunstwerk als ein über die mechanische Summe von Verfahren hinausgehendes „ganzheitliches und ausgewogenes Konstrukt“ bestimmt. „Natürlich ist eine lebendige Kunst nicht in ihren Verfahren zu finden. Das nackte Verfahren, seine ,Entblößung‘ (obna$enie) (in der Terminologie der neuen philologischen Wissenschaft), ist noch keine Kunst, sondern lediglich die Mechanik der Kunst, eine tote Maske. Beseelt wird die Kunst eben mit dem ,Aufdecken‘ (otkrytie) des Verfahrens, mit der Maskierung seiner Schemata durch Einführung von unendlich vielfältigem Material aus dem Leben, der Ideenwelt und der Psychologie, was auch die Illusion
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nicht einer künstlichen, sondern einer ,realeren‘ Welt entstehen lässt. Das sind jene ,unendlich kleinen Momente‘ (Tolstoj Was ist Kunst?), aus denen sich das einmalige Kunstwerk zusammensetzt. Und nur mittels dieser ,unendlich kleinen Momente‘, die durch allgemeine künstlerische Aufgabenstellungen organisiert sind, lassen sich Schlussfolgerungen über den Künstler, über seine künstlerischen Besonderheiten, seine Wahrnehmung der Dinge, über die Größe und Eigenart seines Brechungswinkels ziehen“ (Gruzdev 1922a, 215). In Russland wurde dieser Folgeartikel 1922 in mehreren Nummern der Zeitschrift Aufzeichnungen des Wandertheaters (Zapiski Peredvi!nogo teatra) publiziert, deren Redakteur und Autor zu dieser Zeit Bachtins Mitstreiter Pavel Medvedev* war und zu deren ständigen Autoren auch Valentin Volo"inov* gehörte. Somit gibt es zudem gewissermaßen „biographische“ Verbindungen zwischen Gruzdev, der in einem Jahrgang mit Bachtin an der Petersburger Universität studierte, und dem Bachtinkreis (Tjupa 1997, o. S.). Tjupa sieht eben in dieser Bachtin vorbereitenden Rolle Gruzdevs Bedeutung: „Solch fundamentale Konzeptionen wie die Bachtins entstehen nicht aus dem Nichts. Auch wenn die wissenschaftliche Bedeutung des Artikels von Gruzdev […] nicht sonderlich groß ist, so ist es sein historischer Wert umso mehr. Sie [Gruzdevs Artikel und Sezeman* 1922] lassen die intellektuelle „Schicht“ des kulturellen ,Bodens‘ sichtbar werden, auf dem die wissenschaftlichen Fragen Bachtins erwachsen sind“ (Tjupa 1987, 10). Gruzdev, der sich in der Folge als Biograph Maksim Gor’kijs einen Namen machte (Scherr 1999), verfolgte seine literaturtheoretischen Interessen nur noch in einigen wenigen Artikeln weiter (Gruzdev 1923 u. 1927). Auch wenn sein Ansatz keine unmittelbare Fortsetzung gefunden hat, ist sein Name heute dort zu finden, wo die Ursprünge der theoretischen Beschäftigung mit der Sprecherinstanz in literarischen Texten und insbesondere ihre Konzeption als Maske des Autors in den Blick genommen werden (z. B. Osovskij 2001). Außerdem lässt sich im Kontext von Analysen postmodernistischer Erzählverfahren ein Rückgriff auf Gruzdevs Autor- und Erzählermodellierung beobachten. In ihren Arbeiten zu Nabokov reanimiert z. B. Marina Gri"akova (2002) Gruzdevs Maskenbegriff als Gegenentwurf zum formalistischen Konzept der Entblößung der Verfahren, da sich mit ihm die bereits in Gruzdevs Verständnis konstitutive Illusionserzeugung der Kunst als Verschleierung von Verfahren beschreiben lasse.
————————— Anmerkungen I
Die Broschüre Dostoevskij und Gogol’. Zur Theorie der Parodie, Tynjanovs* erste gedruckte Arbeit, erschien 1921(a) im Verlag OPOJAZ*. Entstanden war sie allerdings bereits 1919 (Toddes/#udakov/#udakova 1977, 483). Neben den textanalytischen Ausführungen zur Figurengestaltung und Stilistik bei Gogol’ und zum parodistischen Verhältnis von Dostoevskijs Roman Das Gut Stepan!ikovo
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und seine Bewohner zu diesen Verfahren hat Tynjanovs Arbeit auch eine allgemeinere theoretische Ausrichtung. Sie steht in engem Zusammenhang mit seinen in dieser Zeit stattfindenden Seminaren zur Theorie der Parodie (vgl. !udakov 1977b, 537), die Gruzdev vermutlich besuchte. – Tynjanov benennt in seiner Arbeit Dostoevskij und Gogol’ mit dem Verfahren der Mechanisierung ein Grundmerkmal der Parodie, mit dessen Hilfe sich eine Abgrenzung zur Stilisierung vornehmen und eine Typologie unterschiedlicher Parodien aufstellen lässt. II Am 12. Juni 1921 trug Tynjanov seine Arbeit in der am Staatlichen Institut für Kunstgeschichte (GIII)* neueingerichteten Gesellschaft zur Erforschung von Literatur (Ob"#estvo izu#enija chudo$estvennoj slovesnosti) vor (!udakov 1977a, 483). Das GIII bot, neben dem Studio der Übersetzer des Verlags Weltliteratur, später Studio im Haus der Künste genannt (Studija Diska), von 1919– 1923 den institutionellen Rahmen für die Bildung einer Generation von formalistischen Schülern, den so genannten Jungformalisten (Zlobina 2002, o. S.). III Tynjanovs Arbeit rief eine lebhafte Diskussion hervor, die sich nicht nur, wie von Gruzdev hier unterstellt, um die Prototypen-Frage drehte (Vinogradov 1921b, Cejtlin [Hg.] 1930, Slonimskij 1921, Toma"evskij 1921, Gornfel’d 1921 u. a.), sondern auch mit den theoretischen Überlegungen Tynjanovs polemisierte. Dem Problem der Abgrenzung von Parodie und Stilisierung in Tynjanovs Ansatz widmeten sich neben Gruzdev auch Gornfel’d (1921), Toma"evskij (1921), Komarovi# (1925) und Vinogradov (1925). Während die beiden letzteren Tynjanov methodologische Unsauberkeit vorwerfen, nämlich die Vermischung eines textimmanenten Zugangs mit einer „biographischen“ Vorgehensweise (vgl. !udakov 1977a, 484), sieht hingegen Vinokur (1921) bei Tynjanov bereits avant la lettre eine für die Entwicklung einer Autortheorie kategoriale Unterscheidung: die Trennung des textexternen Schriftsteller-Künstlers von der sich im Text stilistisch niederschlagenden Schriftsteller-Persönlichkeit („dem Autor, der Phänomene untersucht, die beinahe an der Grenze liegen, die den Schriftsteller-Künstler von der Schriftsteller-Persönlichkeit trennt, ist es gelungen, sich genau im Rahmen seiner gestellten Aufgaben zu bewegen und die stilistischen Fragestellungen nicht mit den psychologischen zu vermischen“, Vinokur 1921, o. S., zit. nach !udakov 1977a, 486). Während die „biographische“ Größe außerhalb des Textes Gegenstand von Spekulationen bleibt (vgl. Tynjanov 1921a, 216: „einen wahren Freund scheint Gogol’ sein ganzes Leben lang nicht gehabt zu haben“; kursiv die Verf.), werden die „mechanisierten“ Verfahren der Biographie, die Tynjanov offensichtlich als Text auffasst und aus (faktualen) Texten ableitet, Teil der komplexen Parodie in Dostoevskijs Roman: „Was die Persönlichkeit Gogol’s angeht, so arbeitet Dostoevskij überhaupt gern mit historischem und zeitgenössischem Material“ (Tynjanov 1921a, 214) und „[…] Opiskin ist eine parodistische Figur, als Material für die Parodie diente die Persönlichkeit Gogol’s; die Rede Fomas parodiert Gogol’s Briefwechsel mit Freunden“ (Tynjanov 1921a, 212 f.).
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Vgl. den Schluss von !klovskijs Aufsatz Der parodistische Roman Sternes „Tristram Shandy“: „Gewöhnlich wird behauptet, Tristram Shandy sei kein Roman; für diejenigen, die das behaupten, ist nur die Oper Musik, die Symphonie ist für sie bloßes Durcheinander. Tristram Shandy ist der typischste Roman der Weltliteratur“ (!klovskij 1921c, dt. 299). Siehe Auszüge hieraus im vorliegenden Band, S. 32–35. V Auch "jchenbaum* betont in seinem Skaz-Konzept die Statik der Gogol’schen Helden, er vergleicht sie allerdings nicht mit (Theater-)Masken, sondern mit Marionetten: „Wie stets bei Gogol’ […] stehen solche Sätze [die Personenrede] außerhalb der Zeit, außerhalb des Augenblicks – unbeweglich und ein für allemal: Es ist eine Sprache, die Marionetten sprechen könnten“ ("jchenbaum 1919, 143). Die Metaphorik des Puppentheaters wird in der Folge fester Bestandteil der Gogol’-Forschung, besonders dort, wo auf die stilistische Nähe dieses Autors zur Tradition des Vertep, des ukrainischen Puppentheaters, verwiesen wird. Schon in der grundlegenden und einflussreichen Studie zu Gogol’ von Vasilij Gippius (1924), die ausdrücklich Anregungen von "jchenbaum aufgreift, heißt es: „Das ganze Geschehen auf dem Nevskijprospekt ist in den Tönen des Puppentheaters gezeichnet. […] Das alles [die Figuren] sind Marionetten, die von irgendjemandes Hand geführt werden“ (Gippius 1924, 47). VI Mit dem „Rezensenten“ ist wohl Aleksandra Veksler gemeint, eine !klovskijSchülerin, die zum weiteren Kreis der Serapionsbrüder* gehörte. Mit ihr führte !klovskij bereits 1919/1920 eine Polemik um die Figur im Erzählwerk (vgl. !klovskij 1923b, 193 und 200: „Ich hatte eine junge, sehr gute Zuhörerschaft. Wir beschäftigten uns mit der Romantheorie. Gemeinsam mit meinen Schülern schrieb ich mein Buch über Don Quijote und über Sterne. Ich habe nie mehr so wie in diesem Jahr [1920] gearbeitet. Ich stritt mich mit Alexandra Veksler über die Bedeutung der Figur im Roman“). – Bereits 1919 hatte Aleksandra Veksler einen Artikel zur literarischen Figur mit dem programmatischen Titel Masken veröffentlicht, in dem sie die ausschließliche Literarizität von Figuren in Erzähltexten betont, ihre Abhängigkeit von kompositorischen Gesetzmäßigkeiten und ihren autonomen Status im Verhältnis zu außertextuellen Prototypen. „Tatsächlich existieren die handelnden Personen eines Romans, einer Novelle ebenso wie die eines Theaterstücks ausschließlich als Elemente der Konstruktion. Sie bewegen das Ganze voran und sind vollständig dem Kompositionsplan untergeordnet“. Veksler leitet die Genese der literarischen Figuren aus dem (Volks)-Theater ab und kommt zu dem Schluss: „Alle handelnden Figuren sind Masken“. Selbst nicht-typisierte Figuren mit psychologischer Tiefe sind für die Verfasserin in ihrer Tiefenstruktur Masken, die nur oberflächlich individualisiert sind: „[S]ie sind mit einem Lack von Psychologie überzogen. Man bemüht sich, der Maske Leben einzuhauchen und sie einem Menschen ähnlich zu machen, aber ihrem Wesen nach bleibt sie eine Maske“. In diesem Zusammenhang findet sich bei Veksler auch die in Gruzdevs Artikel als angebliche Fehllektüre eines Rezensen-
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ten paraphrasierte und kritisierte Verallgemeinerung: „Aber sind Don Juan, Faust, der Geizige Ritter, Harpagon, Plju!kin usw. [d. h. alle so genannten Typen] etwa keine auf immer erstarrte Masken? Sie werden in vielen Werken gebraucht, da sie Ideen verkörpern, die häufig den literarischen Konstruktionen zugrunde liegen“ (Veksler 1919). Dieser verdeckte Seitenhieb auf die Kollegin stellt ein Beispiel für die Diskurspraxis der Formalisten dar, deren mündliche und schriftliche Polemiken vielfältig „maskiert“ und an unerwarteten Orten Spuren hinterlassen haben. VII Pu!kins Versroman Eugen Onegin mit seiner Vielzahl von „lyrischen Abschweifungen“ und seiner Aufspaltung der Erzählinstanz in mindestens drei zu unterscheidende Erzählstimmen (vgl. Lotman* 1975/1980, 416–417) dient in formalistischen Arbeiten zur Erzählprosa immer wieder als augenfälliges Beispiel, um das Verhältnis Autor – Erzähler – Held genauer zu beleuchten. Vgl. z. B. den frühen, von formalistischen Überlegungen inspirierten Aufsatz von Marija Rybnikova* Der Autor in „Eugen Onegin“ (1924). Siehe hierzu Hielscher 1966. VIII Gruzdev bezieht sich hier auf "jchenbaums (1919) berühmten Aufsatz zu Gogol’s Mantel. "jchenbaum unterscheidet hier den „narrativen“ vom „reproduzierenden“ Skaz. Letzterer „führt die Verfahren der Wortmimik und -gestik ein, erfindet besondere, komische Artikulationen, vom Lautlichen bestimmte calembours, kapriziöse, syntaktische Konstruktionen usw.“ ("jchenbaum 1919, 123). Hinter dieser Form des Skaz „verbirgt sich oft so etwas wie ein Schauspieler, so dass der Skaz den Charakter eines Spiels annimmt und die Komposition nicht durch eine einfache Verkettung von Witzen bestimmt wird, sondern durch ein gewisses System verschiedenartiger mimisch-artikulatorischer Gesten“ (1919, 125). Bereits hier findet sich die auch von Gruzdev ausgefaltete Theatermetaphorik: Die Illusion der Skaz-Rede werde vom Erzähler dadurch erzeugt, dass er sich wie ein Schauspieler bestimmter gestischer und artikulatorischer Kunstgriffe beim Erzählen bediene, die zur Motivation der Sujetverknüpfung würden. „Die Komposition einer Novelle hängt in hohem Maße davon ab, welche Rolle der persönliche Ton des Autors in ihrem Bau spielt, d. h. davon, ob dieser Ton Organisationsprinzip ist und damit mehr oder weniger die Illusion eines Skaz erzeugt oder ob er mehr als formales Bindemittel zwischen den Ereignissen dient und daher eine Hilfsfunktion übernimmt“ (1919, 123). Vgl. auch den Titel des ersten publizierten Skaz-Aufsatzes von "jchenbaum Die Illusion des Skaz (1918). Zur Geschichte der Skaz-Theorie und zu "jchenbaums Beitrag vgl. Schmid 2005b, 168– 174. IX In Pu!kins Rezension zu Gogol’s Abenden auf dem Vorwerk zu Dikan’ka findet sich diese hier von Gruzdev angeführte Wertschätzung der Erzählung: „Der Nevskijprospekt ist das vollkommenste seiner Werke“ (Pu!kin 1836, 217). X Gruzdev bezieht sich hier auf Innokentij Annenskijs Zweites Buch der Reflexionen (1909), in dem der Autor den Roman Schuld und Sühne mit anderen, nach Meinung des Autors weniger gelungenen Werken Dostoevskijs vergleicht. „Als
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Roman ist Schuld und Sühne in seiner ganzen künstlerischen Gefügtheit im Schaffen seines Autors unübertroffen geblieben. […] Er hat einen Anfang und ein Ende, und diese Teile werden dargestellt und nicht nur durch einen Chronisten wiedergegeben. […] Und schließlich wird der Roman nicht einem dieser von Dostoevskij geliebten Mittelsmänner übereignet, die in ihrer offensichtlichen Nutzlosigkeit sogar Die Dämonen an einigen Stellen kompromittieren. Um ehrlich zu sein, es gibt auch in Schuld und Sühne einen Mittelsmann – das schien offenbar Dostoevskijs Bestimmung zu sein –, aber dieser ist zudem als handelnde Person motiviert, und zwar vortrefflich motiviert“ (Annenskij 1906, 592). Für Annenskij liegt die Kunstfertigkeit dieses Romans im Unterschied z. B. zu den Dämonen in der überzeugenden Motivierung der vermittelten Erzählsituation. Anders als dieser in die Handlung involvierte Erzähler (Mittelsmann) oszilliert die Erzählinstanz für gewöhnlich bei Dostoevskij zwischen explizit und implizit und zwischen diegetisch und nicht-diegetisch. Mal treten die Erzähler als Chronisten des Geschehens mit entsprechend eingeschränktem Wissen und personaler Wertung auf, dann wieder sind sie allwissende Erzählstimmen (vgl. z. B. Schmid 1973b, 80–84).
10. Viktor Vinogradov: Zum Autorbild* (Auszüge aus Über die künstlerische Prosa, Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben, Das Problem des Autorbildes in der Literatur, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Christine Gölz)
I. Auszug aus: Über die künstlerische Prosa [76] Die Untersuchung unterschiedlicher Typen des MonologsI ist eng mit der Frage nach den Verfahren verbunden, die das künstlerisch-sprachliche BewusstseinII, das Bild der im literarischen Werk sprechenden oder schreibenden Person, konstruieren. Man schreibt den Monolog allgemein einer Person zu, deren Bild in dem Maße unscharf wird, in dem sie, von den Bezügen zu einer alltäglichen, „sozialen Charakterologie“ losgelöst, in Beziehung zum künstlerischen Ich des Autors gesetzt wird. Häufig […] mag es so scheinen, als sei die Person [lico] des Autors charakterologisch und ideologisch abwesend, und doch stellt sie immer das Zentrum der sprachlichen Expression dar. Denn selbst dann tritt im zugrunde liegenden, das Wortmaterial organisierenden System und in den Verfahren des expressiven „Ausdrucks“ der individuellen künstlerischen Welt das nach außen hin verborgene Angesicht [lik] des „Schriftstellers“ deutlich hervor (vgl. Die Bauern [Mu!iki] von "echov). [77] Die sprachlichen Schwankungen des künstlerischen Ich des Autors oder des Bilds des „Schriftstellers“ am konkreten Material zu verfolgen, ist dann interessant, wenn sie sich zum Beispiel in der Sphäre der Formen literatursprachlicher und gebildeter Erzählrede [re#’] zusammenschließen.III Dabei kann man an einen Punkt gelangen, an dem die Frage nach sozial-sprachlichen, das Subjekt charakterisierenden Formen zu einem Problem der emotional-ideologischen Ebene wird, auf der das künstlerische Angesicht des Autors oder das dem Leser nicht zugewandte Bild des „Schriftstellers“ situiert sind.IV Auf jeden Fall ist die Frage nach den Subjekttypen und den Formen, in denen sich unmittelbar sprachlich das Bild des Autor-Erzählers, das Bild des Redners oder des Schriftstellers
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ausdrücken, eine der wesentlichsten Aufgaben einer Lehre von der Rede in literarischen Werken. Hinzu kommt die Untersuchung der Formen und Funktionen der „dialektalen“ Einengung des Autorbildes und der Verfahren, mit denen die Bilder der Erzähler oder die Bilder der „Schriftsteller“ als „Stellvertreter“ des Autors oder im Gegenteil als Figuren seines Werks konstruiert werden. Jede Überschreitung der Normen der Literatursprache, jede Orientierung an dialektalem Sprechen oder Schreiben fordert vom Autor, die Summe der Redeformen zu einem künstlerisch sprachlichen Bewusstsein zusammenzuschließen und die Grenzen der „sozialen Dialektologie“ auf individuell-charakteristische Art zur literarischen Norm hin zu öffnen. Natürlich hängt es von der Rolle eines solchen Bilds im Sujet ab, ob die Sprachstruktur des Subjekts sich verschiebt, als gleite sie an einer Linie entlang, die vom Bild innerhalb eines wohlbekannten literarischen und sozialen Rahmens bis zum Bild des Autor-„Ich“ oder zum Bild des „Schriftstellers“ reicht, oder ob die sprachliche Struktur ihre stilistische Homogenität innerhalb des einen künstlerischen Ganzen den gesamten Verlauf der mit dem Bild verbundenen Rede über bewahrt. Dieses Problem der Subjekte, die die Substrate des Monologs darstellen, ist keinesfalls eines der „Psychologie“ der künstlerischen Rede, sondern eines ihrer Phänomenologie, ja sogar ihrer „Soziologie“. Diese besondere „Soziologie“ der Erzählrede [re!’] literarischer Werke (die noch nicht existiert und bislang noch nicht einmal konzipiert wird), korrespondiert, natürlich nur zeitweise und dann auch nur von weitem, wie durch Signale, mit der geläufigen Soziologie der Sprache. Die hier formulierten Probleme in Bezug auf das Bild des künstlerischen „Ich“, des Autorbildes, des Bilds des „Schriftstellers“ und überhaupt in Bezug auf die Träger der Monologe in der Prosa sowie auf die möglichen Formen ihrer Wechselbeziehungen werden vermutlich anders aussehen, untersucht man die Rede in Verssprache1.V 1
Der Struktur des Autorbildes habe ich ein eigenes Buch gewidmet: Das Autorbild im Kunstwerk [Obraz avtora v chudo"estvennom proizvedenii; Ursprünglich sollte Vinogradovs Monographie alle seine Überlegungen der zwanziger Jahre zusammenfassen. Diese Konzeption erwies sich dann aber als zu umfangreich, so dass sich Vinogradov entschloss, das Material auf vier in sich abgeschlossene, größere Arbeiten aufzuteilen: 1) Über die künstlerische Prosa, 2) Literatur und mündliche Literatur, 3) Das Autorbild im Kunstwerk, 4) Die Sprache des Dramas. Allerdings kam es zu Beginn des Jahrhunderts nicht mehr zur Realisierung dieser Publikationsvorhaben. Obgleich im Weiteren das Problem des Autorbildes alle stilistischen Studien Vinogradovs zur Sprache in der Literatur durchzieht und der Wissenschaftler zudem in Wiederauflagen seiner frü-
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Zweifelsohne stellt das lyrische Ich eines der wichtigsten Momente der Komposition im lyrischen Vers dar (vgl. Oskar Walzels Aufsatz Schicksale des lyrischen Ichs)2. Häufig sind die Besonderheiten der Semantik durch die Struktur des lyrischen Ich bedingt. Zur Poetik einer jeweiligen Schule gehören vorgegebene Normen der emotionalen Amplitude und der thematischen Ausrichtung, innerhalb derer sich das Bild vom lyrischen Ich entwickelt (vgl. die Poetik des „natürlichen“ Verses bei Nekrasov und die Poetik der Symbolisten, unter denen der Kommentar Aleksandr Bloks zur Struktur des Ich-Bildes in seiner lyrischen Dichtung in der Rede über den Symbolismus und die philosophisch-linguistische Charakterisierung des Bildes vom symbolistischen Autor bei Vja!eslav Ivanov* hervorzuheben sind).VI Manchmal kann die Verschiebung des Ich-Bilds in eine andere Gefühls- und Handlungsebene und damit folglich in einen anderen Bau der Rede einen Bruch und eine Veränderung der gesamten Semantik des Verses mit sich bringen, obgleich die Prinzipien semantischer Umgestaltungen, die mit vorausgegangenen Schulen geteilt werden, beibehalten werden (von solcher Art ist die Beziehung von Achmatovas Lyrik zur Poetik des Symbolismus).VII [78] Diese Illustrationen waren notwendig, um den Gedanken zu untermauern, dass die Subjektformen der monologischen Erzählrede wesentliche Kategorien der literarischen Komposition darstellen3. —————————
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hen Arbeiten Abschnitte zum Autorbild ergänzte oder terminologische Vereinheitlichungen vornahm, sollte er erst am Ende seines Lebens zu seinem monographischen Vorhaben zurückkehren. In den späten Sechzigern des 20. Jahrhunderts widmete Vinogradov der Thematik eine umfassende Studie, in der er die verstreuten Beobachtungen und Ausführungen zusammenfasste (siehe unten Auszug III); Anm. d. Übers.]. Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk, Leipzig 1926. Interessant sind hier die Anmerkungen Herman Hefeles: „Alles Dichterische geschieht nur als Sprache und ist undenkbar ohne den Leib des Sprachlichen. Der Dichter selber ist nur sprachgewordene Idee, und nichts im ganzen Bestand seines Wesens und seiner Art, seiner Erfahrungen und seines ideellen Gehalts, seiner Natur und seines Schicksals gibt es, das nicht Sprache wäre und nicht als Sprache und aus der Sprache begriffen würde“ (Herman Hefele, Das Wesen der Dichtung, Stuttgart 1923, S. 24) [dt. im Original; Anm. d. Übers.].
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II. Auszüge aus: Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben [26] Das Bild des Autor-Schriftstellers verkörpert sich genau wie das Bild des Redners in der Geschichte der Literatur in unterschiedlichen Gesichtern [liki] und unterschiedlichen funktionalen Formen.VIII Nicht nur das Bild des Autor-Schriftstellers selbst ist beweglich und verändert seine Struktur im Laufe der Literaturgeschichte, es ändern sich auch die Formen seiner, wenn man so sagen kann, Gattung. Dabei ist nicht nur das Prinzip einer Genreaufteilung in Novellist, Romanschriftsteller usw. wesentlich, sondern wichtig sind auch die funktional differenzierten Typen des Schriftstellertums. […] Außerdem spaltet das Autorbild sich in den unterschiedlichen Epochen in unterschiedliche Kategorien auf. So treten zu Beginn der vierziger Jahre [des 19. Jh.], der Geburtsstunde der russischen Natürlichen Schule, der Poet, der Belletrist, der Künstler, der Literat und der Verfasser [so!initel’] als unterschiedliche Gattungen einer Schriftsteller-Persönlichkeit, eines Prosaautors, auf, was sowohl unterschiedliche Bewertungen als auch prinzipiell unterschiedliche Verfahren bei der Interpretation der von ihnen dargestellten Welt erfordert. Unabhängig von den Unterschieden im Inhalt und in der Bestimmung können sich im Autorbild einer Epoche allgemein verbindliche Züge literarischer „Schauspielerei“ erhalten. Das sind z. B. besondere expressive Formen, die an die „Pose“ oder die „Geste“ eines Literaten erinnern und die den Charakter seines Werks, seine sprachlichen Auftritte auszeichnen. Diese spezifische „Literarizität“ hat ihre Analogie in der szenischen Kunst. Dort gibt es ebenfalls die Tradition eines stereotypen Schauspielers [oblik aktera] mit erstarrten Ausdrucksformen. [27] Gegen diese Theatralizität hat in der unlängst zu Ende gegangenen Epoche Konstantin Stanislavskij gekämpft. Die „literarische Schauspielerei“ oder „Posiererei“ ändert im Verlauf der Literaturgeschichte ihre Formen, und zwar unter dem Einfluss des literarischen Geschmacks von Klassen oder sozialen Gruppen, von dem die typischen Züge der stilistischen Posen im Autorbild in der Literatur abhängen. […] [35] Aus allen angeführten Illustrationen (deren Anzahl bis ins Unendliche ausgedehnt werden könnte, besonders wenn man sich über die Grenzen der russischen Literatur hinaus begäbe) wird deutlich, dass das Autorbild als organisatorisches Zentrum und als Angelpunkt der Komposition eines literarischen Werks samt seiner wichtigen Rolle im individuellen
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Stilsystem sowie dem Stilsystem ganzer literarischer Richtungen sowohl als Problem der Literaturwissenschaft und Ästhetik als auch als Problem einer Wissenschaft von der Sprache in der Literatur untersucht und beleuchtet werden kann. Natürlich werden diese unterschiedlichen Zugänge und Methoden der Untersuchung ein und desselben Problems, ein und desselben Gegenstands sich gegenseitig bereichern und vertiefen. Und nicht nur das: Ein und derselbe Schriftsteller kann sein ideologisch-künstlerisches Vorhaben in Bezug auf das Autorbild in verschiedenen Werken mit unterschiedlichen Mitteln realisieren. So schafft Fedor Dostoevskij z. B. in seinem Roman Arme Leute [Bednye ljudi] eine sehr komplizierte Struktur des Bildes vom „armen Menschen“ in Gestalt des Makar Devu!kin, indem er ihn mit Autorfunktionen und sozialistischen Ideen im Geiste Belinskijs und Majkovs ausstattet.4 „Das Aussehen des Autors [oblik], seine ideologische Position in der Struktur der Armen Leute lässt sich nicht so sehr in den lexikalischen und syntaktischen Formen der Sprache finden als vielmehr in den Verfahren der Figurengestaltung des Devu!kin, für die publizistische Ausdrucksmittel und ideologische Konzepte genutzt werden, deren Ort für gewöhnlich die Sphäre der Intelligenzija ist. Sie werden somit nicht in Abhängigkeit von der Persönlichkeit Devu!kins gedacht, sondern abhängig vom Autorbild, von der Poetik des Autors.“5 Dabei versteht es sich aber von selbst, dass in den Fällen, in denen nicht eine handelnde Person, sondern ein vorgeschobener Erzähler die Taten und Handlungen der Person kommentiert und von einem moralischen und didaktischen Standpunkt aus verallgemeinert und erklärt, das Angesicht des Autors [lik], sein Bild, unmittelbar im Skaz auftritt oder durchscheint, und dass somit dem Erzähler die Maske abgerissen, die ideologisch-stilistische Schminke [abgewischt] wird. […] —————————
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Viktor Vinogradov, Realizm i razvitie russkogo literaturnogo jazyka [Der Realismus und die Entwicklung der russischen Literatursprache]. In: Voprosy literatury, 9, 1957, S. 51–63. Ibid., S. 62–63.
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III. Auszüge aus: Das Problem des Autorbildes in der Literatur [113]IX Das Autorbild ist ein Bild, das sich aus den grundlegenden Zügen eines schriftstellerischen Werkes zusammensetzt oder aus ihnen gebildet wird. Es kann manchmal auch Elemente der künstlerisch umgestalteten Biographie des Dichters darstellen und widerspiegeln. Potebnja* hat richtig darauf hingewiesen, dass der lyrische Dichter „die Geschichte seiner Seele schreibt (und indirekt die Geschichte seiner Zeit)“. Das lyrische Ich ist nicht nur das Bild des Autors, es ist darüber hinaus ein Stellvertreter der großen menschlichen Gemeinschaft.X !erny"evskij charakterisierte das Autorbild in einem Gedicht Nikolaj Ogarevs folgendermaßen: „die Person, deren Gefühle und Gedanken Sie aus der Dichtung Ogarevs erfahren, ist eine typisierte Person“6. […] [116] Das Problem des Autorbildes hängt eng mit Theorie und Geschichte von Vers und Prosa zusammen. Besonders auf dem Gebiet der lyrischen Dichtung ist seine Erforschung schwierig und [die Ergebnisse sind] widersprüchlich. Die bei uns bisher auf diesem Feld erreichten Resultate sind noch nicht völlig klar. Allerdings ist zur Untersuchung von Geschichte und Varietät des Autorbildes in der Prosa bereits sehr viel Material zusammengetragen worden, auch wenn es noch nicht schlüssig und klar klassifiziert wurde.XI Hierzu zählt übrigens auch das Prinzip oder der Begriff der „Subjektivierung“XII, der nicht selten von Erzählforschern zeitgenössischer Prosa in verschiedenen Ländern verwendet wird, um Grad und Ausdehnung von persönlicher Ausdrucksweise oder Perspektive der verschiedenen Figuren (Erzähler, Charaktere u. ä.) im Erzähltext zu bewerten 7. […] [117] In heutiger Zeit wird immer schärfer und nachdrücklicher das Problem des inneren Monologs aufgeworfen. Auch diese Frage hängt eng mit dem Problem des Autorbildes und seiner Struktur zusammen. In einer offenen Form sind Autorbilder und Bilder der Erzähler im Skaz und seinen schillernden Spielarten verflochten und vermischt. XIII Venjamin Kaverin merkt dazu an : 6 7
Nikolaj !erny"evskij, Polnoe sobranie so!inenij, Bd. 3, Moskva 1947, S. 565. Siehe Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen 1967; Milan Kundera, Um"ní románu, Praha 1960. [Die Kunst des Romans. Essay, München 1987.]
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Nachdem die Weltliteratur den inneren Monolog mit Hilfe der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts entdeckt und ihn dann in umgearbeiteter Form in der neuen amerikanischen und dann in der englischen Literatur eingesetzt hat, ist sie meiner Meinung nach an einen Punkt gelangt, an dem sich diese Entdeckung erschöpft hat. Die Zeit des inneren Monologs ist, so scheint mir, vorbei, und wir kehren zum objektiven Erzählen eines Tolstoj oder Flaubert zurück. In jedem Buch, in jedem wirklich künstlerischen Werk muss in erster Linie die Position des Autors definiert sein. Der innere Monolog des Helden wird zum äußeren Monolog des Autors. Damit lässt sich das Genre bestimmen. Der Roman als Rede. Das heißt nicht, dass der Roman die „Äußerung“ des Autors sei. Ich meine die Personalisierung des Autors, die meiner Meinung nach den inneren Monolog ablöst. Dies ist ein überall zu beobachtender Prozess, er ist beeindruckend weit verbreitet; er hat auch den Film erreicht. Was ist das für eine Stimme aus 8 dem Off? Der Autor.
[…] [118] Das Autorbild ist kein einfaches Redesubjekt, es wird meistens nicht einmal in der Struktur des literarischen Werks genannt. Es ist die konzentrierte Verkörperung der Werkessenz, die in sich das gesamte System von Redestrukturen der Figuren in ihrer Wechselbeziehung zum [neutralen] [povestvovatel’] oder [sprachlich markierten] Erzähler [rasskaz!ik] oder zu mehreren Erzählern vereint und durch diese den ideologischen und stilistischen Konzentrationspunkt, den Fokus des Ganzen darstellt. In den Formen des Skaz fällt das Autorbild für gewöhnlich nicht mit dem Erzähler zusammen. Der Skaz ist nicht nur eine der wichtigsten Evolutionsformen der Novelle, der Erzählung und des Kurzromans, sondern zudem eine kraftvolle Quelle zur Bereicherung der literarischen Sprache. Der Skaz, eine in der russischen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Form des künstlerischen Erzählens, ist an einen Erzähler gebunden, der als „Mittelsmann“ zwischen Autor und erzählter Wirklichkeit auftritt. Das Erzählerbild im Skaz lässt seine Ausdrucksweise und seinen Stil auch auf die Formen der Figurendarstellung abfärben. Der Erzähler ist das sprachliche Erzeugnis des Autors, der SkazErzähler die Form seiner literarischen Kunstfertigkeit. Das Autorbild lässt sich in ihm entdecken wie das Bild des Schauspielers in der von ihm geschaffenen Bühnenfigur. Die Korrelation zwischen Erzählerbild und Autorbild ist dynamisch, sogar innerhalb einer einzelnen Skaz-Komposition, sie ist eine variable Größe. […] 8
Venjamin Kaverin, Ideja prizvanija [Die Idee der Berufung]. In: Voprosy literatury, 6, 1969, S. 129.
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[128] Das Bild des Subjekts, des Erzählers, „definiert“ die Skaz-Struktur, stellt sie in einen mehr oder weniger strengen sozialen und charakterologischen Rahmen, sobald der Akt seiner Benennung erfolgt. Der Name enthält potentiell einen Hinweis auf die Grenzen und die allgemeine Richtung, in der das Wesen des Erzählerbildes und des hinter ihm stehenden Autors zu verstehen ist. Die Benennung ist das Kernstück der sozialen Charakteristik der Person, das Zeichen ihrer semantischen Einheit, ihrer künstlerischen Substanz. In literarischen Werken sind die Namen nicht selten metaphorisch, symbolisch, bildhaft, und nicht etwa eine terminologische Bezeichnung des Subjekts. Besonders augenfällig wird das bei der Verwendung von Pseudonymen. Daher ist selbst das Personalpronomen als Bezeichnung des Erzählers metaphorisch. Jedes „Ich“ in einem Kunstwerk ist ein Bild. Und seine Funktion ist eine zweifache: Es ist gleichzeitig der Name eines Subjekts und ein Personalpronomen, da es nur ein vorgetäuschtes Zeichen für die Einheit dieses Subjektes darstellt. Denn „Ich“ wird nur durch Prädikate näher bestimmt und nicht durch seinen nominativen Inhalt. Daher ist die Frage nach der Struktur des Bildes eines literarischen „Ich“ im Skaz deutlich vom Problem der Nomination der Sprecher zu trennen. Für gewöhnlich eignet sich die literarische Rede die Skaz-Formen mittels eines verallgemeinerten „Ich“ an. Das Bild dieses „Ich“ lässt mehr Möglichkeiten des Schwankens zu, besonders in den Fällen, in denen es beinahe mit dem Autor [avtorskij lik] verschmilzt, weil es jeglicher Begrenzungen und Bestimmungen durch die „Situation“ enthoben ist. Der Skaz, der von einem Autor-„Ich“ aus geführt wird, ist noch freier. Das Schriftsteller-„Ich“ ist bereits kein Namen-Bild, sondern ein Pronomen-Bild. Folglich kann man hinter ihm widersprüchliche Formen verbergen, die Dialektik seines Schwankens ist überaus komplex. Das Pronomen-Bild kann Redeformen umfassen, die aus Elementen unterschiedlicher literarischer Genres sowie aus dialektalen oder SkazKonstruktionen bestehen. Zudem sind feste Abgrenzungen der verschiedenen Typen einer „sozialen Charakterologie“ für den Schriftsteller eine überflüssige Last. Dem Künstler hat man immer schon das Recht zuerkannt, die Realität umzuformen und zu verändern. In der literarischen Maskerade kann der Schriftsteller im Verlauf eines Werks die stilistischen oder bildlich-figürlichen Antlitze oder Masken frei wechseln. Er benötigt dafür lediglich einen großen und formenreichen Sprachschatz. Ein solcher Künstler ist ein Reformator der künstlerischen Sprache, er verwandelt sein Werk in ein buntes Gewand, das gewebt ist aus den Variationen verschiedener schriftsprachlicher Formen, aus Skaz oder einer „deklamativ-orato-
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rischen“ Rede etc. bis hin zum Einschluss von der Verssprache entnommenen oder an sie angelehnten Formen. […] [151] Die Gesetzmäßigkeiten von strukturellen Veränderungen in literarischen Werken und von Stilentwicklungen innerhalb einzelner Nationalliteraturen sowie in der Weltliteratur insgesamt lassen sich nicht ohne eine sorgfältige Analyse der historischen und semantischen Transformationen des Autorbildes in den unterschiedlichen Typen und Systemen der Literatur erklären oder verstehen. Das Autorbild ist in der europäischen Literatur seit dem 16./17. Jahrhundert das Zentrum, der Fokus, in dem sich alle stilistischen Verfahren eines literarischen Werks überschneiden, vereinigen und synthetisieren. So zeichnen sich z. B. die Stilvarianten des Realismus im 19. Jahrhundert durch eine Vielzahl von Redestrukturen der Erzählerbilder und Autorbilder aus. Hingegen tragen in der Poetik und Stilistik der so genannten Romantik und teilweise auch der Frühromantik die dargestellte Welt und die Welt der Figuren durchgehend die Färbung der Reflexe eines einzigen Autorbildes als subjektiver Norm oder Ideal eines Künstlers. Ein solches Autorbild findet seine deutliche und breite, offensichtliche und vielgestaltige Widerspiegelung in den Formen des Schriftsteller-„Ich“. Das Problem des künstlerischen „Ich“ entsteht im Zusammenhang mit der Entwicklung eines allgemeinen Persönlichkeitsbegriffs im gesellschaftlichen Bewusstsein und auf dessen Grundlage.XIV In der Geschichte der russischen Kultur beginnt dieser Prozess mit dem 17. und 18. Jahrhundert und erhält bei den Schriftstellern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zum Teil unter dem Einfluss von JeanJacques Rousseau, seinen ausgeprägten und der Zeit entsprechenden Charakter. Das Autorbild meint die individuelle lexikalische und syntaktische Struktur, die den Bau des literarischen Textes durchdringt und die Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten aller seiner Elemente bestimmt. Die Typen und Formen dieser Beziehungen, fasst man sie als im Inneren des Kunstwerks und als Einheit auftretend auf, verändern sich historisch und in Abhängigkeit von den literarischen Stilen und Systemen, die ihrerseits wiederum vom Autorbild determiniert werden. Dem Schriftsteller des Sentimentalismus und der Frühromantik war bereits deutlich, dass (in den Worten Karamzins) „der Schöpfer sich immer in seiner
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Schöpfung widerspiegelt und dies häufig gegen seinen Willen“ (Was der Autor benötigt [!to nu"no avtoru])9. […] [155] Es versteht sich von selbst, dass das System des künstlerischen Schreibens als Ganzes, verstanden als das sukzessive Auftreten von Einzelwerken in ihrer idealen Reihenfolge, längst nicht immer realisierbar oder rekonstruierbar ist. Eine solche Methode zur Untersuchung des Autorbildes könnte man historisch nennen, unter Umständen auch chronologisch. Das Schwierigste scheint zu sein, selbst wenn man nur einen kürzeren Zeitabschnitt betrachtet, eine innere Einheit bei der Erfassung des Autorbildes […] zu erreichen. Es reicht, die Lyzeumsgedichte Pu#kins und ihre Überarbeitung 1826 anzuführen. Sehr viel gründlicher scheint sich das Autorbild in einem logischen Sinne, im Sinne einer strukturellen Einheitlichkeit von zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Werkschichten fassen zu lassen, z. B. im Eugen Onegin. Auf jeden Fall meint der Begriff des Autorbildes ein konstruktives Element eines Einzelwerks, eines Werkzyklus und des Gesamtwerks eines Schriftstellers im Ganzen. […] [159] Sergej $jzen#tejn bezieht das Autorbild auf die Komposition, auf die Methoden der Komposition. Er schreibt: Die Kompositionsmethode bleibt immer dieselbe. In allen Fällen ist sie in erster Linie durch die Bezugnahme des Autors bestimmt. In allen Fällen bleibt das Vorbild für die Komposition die Tätigkeit des Menschen und die Form menschlicher Tätigkeit. Die entscheidenden Elemente der Kompositionsform werden vom Autor aus den Prinzipien seiner Beziehung zu den Erscheinungen abgeleitet. Sie diktiert die Struktur 10 und die Eigenart, nach denen sich die Darstellung entfaltet. Die Komposition […] ist der Aufbau [postroenie], der in erster Linie dazu dient, die Beziehung des Autors zum Inhalt zu verkörpern und den Zuschauer gleichzeitig da11 zu zu bringen, sich in derselben Weise zu diesem Inhalt zu verhalten.
[…] 9
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Nikolaj Karamzin, Izbrannye so!inenija v 2 t., Bd. 2, Moskva/Leningrad 1964, S. 120. [Karamzin bezieht sich hier, wie Marianne Dehne (2005) anmerkt, auf Wieland: „Denn weil ich nun einmal im Bekennen bin, so gestehe ich Ihnen auch, dass dasjenige, was man sonst von allen Schriftstellern sagt, dass sie sich selbst, sogar wider ihren Willen, in ihren Werken abbilden, in diesem Gedichte eine meiner Absichten war“ (Wieland 1794–1802, 5 f.); Anm. d. Übers.]. Sergej $jzen#tejn, Izbrannye proizvedenija v 6 t., Bd. 3, Moskva 1964, S. 42. Ibid., Bd. 3, S. 62.
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[181] Im Autorbild, in seiner sprachlichen Struktur, vereinen sich alle stilistischen Eigenschaften und Besonderheiten eines Kunstwerks: die Verteilung von Licht und Schatten mit Hilfe sprachlicher Ausdrucksmittel, die Übergänge von einem Darstellungsstil zu einem anderen, das Ineinanderfließen und die Kombination von sprachlichen Einfärbungen, der Charakter der Wertungen, die durch die Auswahl und den Wechsel von Worten und Phrasen ausgedrückt werden, die Eigenarten der syntaktischen Bewegung. [182] So öffnet sich die tiefste Schicht in der Stilanalyse der Literatur. […] [184] „Natürlich“, sagte Lev Tolstoj, „natürlich gibt es hier einen Unterschied, aber dennoch diente den Menschen, die das Wesen Tolstojs verstehen wollten, Krieg und Frieden [Vojna i mir] als Lockvogel, ohne den sie womöglich Tolstoj gar nie kennen gelernt hätten. Allerdings haben die, die bei Krieg und Frieden stehen geblieben sind, keinerlei Vorstellung von Tolstoj.“12 Das Autorbild kann also im Werk ein und desselben Schriftstellers wesentlichen Veränderungen unterliegen, entsprechend der sich verändernden Poetik dieses Schriftstellers. Das Autorbild wird in der Literaturgeschichte unterschiedlich gefüllt, sieht unterschiedlich aus, prägt sich in unterschiedlichen Formen aus. Die Struktur dieses Bildes ist organisch mit der Entwicklung des Stilsystems der literarischen Strömungen und ihrer individuellen Varianten verbunden. […] [189] Das Problem des Autors, des Subjekts, ist untrennbar mit jeglicher Art von sprachlicher Äußerung verbunden.13 Im Kunstwerk ist das Autorbild eine Form des sprachlichen Baus, deren Kompositionstypen vielzählig sind, historischem Wandel unterliegen und bisher noch nicht erschöpfend erklärt wurden. Wie jede sprachliche Form ist das Autorbild 12
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Die Worte Tolstojs wurden von Vladimir !ertkov notiert (publ. in: Literaturnoe nasledstvo, 37–38, Moskva 1939, S. 525). Vgl. den Sbd.: Lev Tolstoj ob iskusstve i literature [Lev Tolstoj über Kunst und Literatur], Bd. 1, Moskva 1958, S. 233. Das Subjektivitätsproblem der Rede wird in den Arbeiten der Linguisten der Genfer Schule bearbeitet, besonders bei Bally (siehe ders., Traité de stylistique française und ders., Le language et la vie, Paris 1926). Vgl. außerdem Marguerite Lips, Le Style indirect libre, 1926, und in etwas anderer Richtung die Vossler-Schule (besonders E. Lorck und Leo Spitzer, vgl. ders., Stilstudien, Bd. 1 u. 2, München 1928). Vgl. außerdem Oskar Walzel, Die erlebte Rede. Genauere Literaturangaben zum Thema im Buch von Marguerite Lips.
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strukturiert, d. h. es tritt als Einheit von formalen „Bindegliedern“ auf, die durch die Vielgestaltigkeit des sprachlichen Ausdrucks bedingt sind.14 Die Struktur des Autorbildes unterscheidet sich in den einzelnen Gattungen von Prosa und Dichtung. So realisiert sich zum Beispiel die Erzählung [rasskaz] als Form literarischen Erzählens mit Hilfe eines Erzählers [190], eines Mittlers zwischen dem Autor und der Welt der literarischen Wirklichkeit. Das Bild des Erzählers drückt zudem den Formen der Personendarstellung einen Stempel auf: Die Helden erfahren keine „Selbstentblößung“ in ihren Reden, sondern der Erzähler gibt ihre Äußerungen seinem Geschmack, seinem Stil und den Prinzipien seiner monologischen Wiedergabe entsprechend wieder. In anderen Worten, die Konstruktion des Dialogs gründet sich hier auf der Illusion ihrer sekundären, erzählerischen Wiedergabe, die die Form eines in ihr durchscheinenden unmittelbaren, „szenischen“ Verlaufs voraussetzt. […] Auf der Ebene der Erzählerrede kommt es zu einem Zusammenschluss unterschiedlicher sprachlicher Sphären. Die Formen dieses Zusammenschlusses sind vielgestaltig: von einer vollständigen Vereinnahmung der sprachlichen Besonderheiten der Figuren durch die sprachliche Ausdrucksweise des Erzählers bis hin zur literarischen „Transskription“ aller individuellen Besonderheiten eines mündlichen Dialogs. In letzterem Fall scheint der Erzähler Gesprächsszenen zwischen den Helden seiner Erzählung durchzuspielen. [191] Es gilt übrigens unbedingt zu beachten, dass 14
Vgl. Gustav !pet*, !steti"eskie fragmenty [Ästhetische Fragmente], Bde II-III, in: ders., Vnutrennjaja forma slova [Die innere Wortform]. Vgl. meinen Aufsatz K postroeniju teorii po#ti"eskogo jazyka. In: Po#tika III und in: O chudo$estvennoj proze (1930) im Kapitel: Jazyk literaturno-chudo"estvennogo proizvedenija. [Vinogradov polemisierte in seinen frühen Arbeiten zwar mit dem Sprachphilosophen Gustav !pet und dessen Konzeption der poetischen Sprache, führte aber gleichzeitig !pets Überlegungen zum Subjekt und zur Subjektivität der poetischen Sprache fort. Entsprechend weist auch Vinogradovs Konzeption des Autorbildes Bezüge zu !pets Überlegungen auf. In dessen Arbeit Die innere Wortform heißt es über das sprachliche Zeichen: „Es ist gleichzeitig ein Zeichen für den verstandenen Sinn und ein Zeichen für die gefühlte Subjektivität sowie gleichermaßen ein Zeichen für die besondere Beziehung, die zwischen beiden besteht und die der Beziehung des Zeichens zu seinem Sinn analog und homolog ist. […] Während das Zeichen in seiner ersten Qualität ein Terminus für die Beziehung ist, mittels deren konstitutiv-formender Potenz wir zum dinglichen Sinn beziehungsweise zu einem zweiten Terminus gelangen, stellt dasselbe Zeichen in seiner zweiten Qualität eine direkte Zugehörigkeit dar, ein Kennzeichen, ein Symptom der Subjektivität, die den im ersten Fall ausgedrückten Inhalt begleitet.“ (!pet 1927, 203); Anm. d. Übers.]
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alle diese Beschreibungen sich auf Analogien mit anderen Künsten gründen (vor allem mit der Theaterkunst) und folglich metaphorisch sind.XV Der Erzähler ist ein sprachliches Geschöpf des Schriftstellers, entsprechend ist das Bild des Erzählers (der sich als „Autor“ geriert) eine Form seiner literarischen „Schauspielerei“. Die subjektive Schichtung ist ein wesentliches Merkmal des literarischen Skaz, der auf die eine oder andere Weise das Erzählen des Autors ersetzt. Der Erzähler erhält im Gewebe der Rede eigene „soziologische“ Eigenschaften. Natürlich ist es für einen Schriftsteller nicht obligatorisch, der sozial-expressiven Schichtendifferenzierung der pragmatischen Alltagssprache zu folgen, wenn er Figuren stilistisch und damit sozial differenziert. Dies ist eine Frage der Abhängigkeit eines Künstlers von literarischen Traditionen und den strukturellen Besonderheiten der Literatursprache. […] Je weniger in einer literarischen Erzählung Begrenzungen einer sozial determinierten Ausdrucksweise herrschen, je schwächer ihre „dialektale“ Beschränkung ist, d. h. je stärker sie zu den Formen der allgemeinen Literatursprache tendiert, umso deutlicher wird in ihr das Moment der „Schriftstellerei“ spürbar. Und umgekehrt, je stärker sich das Bild des Erzählers an das Bild des Schriftstellers annähert, umso vielseitiger können die Dialogformen sein und umso größer sind die Möglichkeiten der Differenzierung in der Ausdrucksweise der unterschiedlichen Figuren. Drückt doch der in einer großen Entfernung vom Autor positionierte „Erzähler“, indem er sich objektiviert, der Personenrede seinen subjektiven Stempel auf und nivelliert sie. Das Erzählerbild, an das literarisches Erzählen geknüpft ist, schwankt und kann sich bis an die Grenzen des Autorbildes ausweiten. […] [193] Besonders schwierig und widersprüchlich ist die Frage nach den Typen und Arten des Autorbildes in Gestalt eines „Ich“. Gleb Uspenskij macht in einem Brief an Varvara Timofeeva-Po!inkovskaja folgende Anmerkung zum Stil der Skizzenliteratur von Saltykov-"!edrin*: Saltykov schreibt von seinem eigenen „Ich“ aus, aber achten Sie darauf, ob er mit diesem „Ich“ das, was er beschreibt, verdeckte. Nein … Dieses „Ich“ ist unbeteiligt, ist ein unbeteiligter Beobachter, und mit dem Milieu, in dem dieses „Ich“ lebt, kann in 15 keiner Weise Saltykov selbst erklärt werden.
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Gleb Uspenskij, Polnoe sobranie so!inenij, Bd. 14, Moskva 1954, S. 302, 304.
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In Saltykov-!"edrins Werk lässt sich in bestimmten Genres und Zyklen […] unter der Bezeichnung „Ich“ sowohl ein unmittelbarer AutorErzähler als auch ein objektivierter Figurenerzähler entdecken. In der Struktur des „Ich“ werden polare Prinzipien offen vereint. Im „Ich“ ist der Autor verkörpert als Träger gesellschaftlicher Ideale, aber aus dem Munde des „Ich“ spricht auch [194] das von den Höhen des satirischen Publizisten demaskierte Milieu. Ungewöhnlich breit und vielgestaltig ist das Register der Verwandlungen des Erzählers innerhalb ein und desselben literarischen Werks. Das „Ich“ umfasst die ganze expressive Atmosphäre, alle ironischen Schattierungen der entlarvenden Belehrungen und die ganze untergründige Strömung der unterschwelligen und verdeckten gesellschaftlichen Ideale. Die kontrastreiche Struktur des erzählenden „Ich“ lässt sich in den expressiven und inhaltlichen Widersprüchen und Unstimmigkeiten des satirischen Stils finden, in den häufigen und „unmotivierten“ Wechseln unterschiedlich gefärbter Stimmen und im ungehemmten Dahinplätschern sowie in den Einmischungen der vollwertigen Rede des Autors. Die Gesichter [liki] des figuralen Erzählers und der Figur und die Gesichter des schulmeisterlichen Autors überdecken einander, indem sie in unterschiedliche expressive und axiologische Beziehungen zu den dargestellten Phänomenen treten16. Das komplexe Bild eines Erzählers, das auch „die höhere Perspektive des Autors [enthält] und die der Lächerlichkeit preisgegebene Beziehung des Helden zum Leben, die ungehinderten Übergänge von einer Ebene zur anderen, alles das fordert achtsame Entscheidungen in der Frage nach der Korrelation der ‚Stimmen‘ in !"edrins Erzählungen“17. Das Kunstwerk ist, indem es die Wirklichkeit widerspiegelt, ein Objekt, das auch die Beziehung des Autors zu diesem Kunstwerk sowie seine wesentlichen Besonderheiten zum Ausdruck bringt. Saltykov-!"edrin schrieb in seiner Straßenphilosophie [Uli"naja filosofija]: Jedes belletristische Werk entlarvt seinen Autor samt seiner ganzen inneren Welt nicht 18 schlechter als jeder beliebige wissenschaftliche Traktat.
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Vgl. V. Mysljakov, Iskusstvo satiri!eskogo povestvovanija [Die Kunst des satirischen Erzählens], Avtoreferat kand. dissert., Saratov 1966, S. 11. Ibid., S. 12. Michail E. Saltykov-!"edrin, Polnoe sobranie so!inenij, Moskva/Leningrad 1933– 1941, Bd. 8, S. 117.
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Bibliographische Notizen I. Über die künstlerische Prosa Originaltitel: O chudo!estvennoj proze. Fertiggestellt am 26. März 1929, Erstpublikation als Monographie im Verlag GIZ: Moskau/Leningrad 1930. Übersetzt nach: In: V. V., O jazyke chudo!estvennoj prozy. Izbrannye trudy, Moskva 1980, S. 55–97 (übersetzte Ausschnitte: S. 76–78). Der hier übersetzte Paragraph steht an achter Stelle einer Aufzählung von kompositionellen Redekategorien der Prosa im gleichnamigen Kapitel. Eine frühere, etwas kürzere Fassung findet sich im Aufsatz Zur Theorie der poetischen Sprache („K postroeniju teorii po!ti"eskogo jazyka“, 1927), dort als § 13. II. Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben Originaltitel: Nauka o jazyke chudo!estvennoj literatury i ee zada"i (na materiale russkoj literatury). In: Issledovanija po slavjanskomu literaturovedeniju i stilistike (Trudy IV Me#dunarodnogo s’’ezda slavistov pod red. V. Vinogradova), Moskva 1960, S. 5–46 (übersetzte Ausschnitte: S. 26, 35). III. Das Problem des Autorbildes in der Literatur Originaltitel: Problema obraza avtora v chudo!estvennoj literature. Entstanden um 1930. Veröffentlicht postum in: V. V., O teorii chudo!estvennoj re"i, Moskva 1971, S. 105–211 (die übersetzten Auszüge finden sich dort auf den Seiten 113, 116–118, 128, 151, 155, 159, 181, 184, 189, 191, 193). Die unterschiedlichen Hervorhebungen durch den Autor wurden in der Übersetzung vereinheitlicht.
————————— Kommentar Die hier übersetzten Ausschnitte zum Autorbild entstammen drei unterschiedlichen Arbeiten Viktor Vinogradovs (1895–1969) und repräsentieren verschiedene Phasen seiner Beschäftigung mit der sprachlichen oder „stilistischen“ Repräsentation des Textsubjekts oder der Textsubjekte. (Mit einem anderen Teilaspekt der Autorproblematik, dem Autor als Verfasser und literaturhistorischer Größe, befasste sich Vinogradov ebenfalls verschiedentlich, ganz besonders in Das Problem der Autorschaft und die Stiltheorie; 1961.) Obgleich Vinogradov in seinen Untersuchungen immer wieder auf das Konzept des Autorbildes zu sprechen kommt und es sogar als Quintessenz seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur gelten mag ($udakov 2001), findet sich keine rein theoretische Abhandlung, ja nicht einmal eine einheitliche und endgültige Definition. Denn Vi-
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nogradovs Ansatz, seine Methode einer „historisch-philologischen Analyse literarischer Formen“ (!udakov 1992, 243), ist geprägt von einem uneinlösbaren maximalistischen Anspruch, der alle Untersuchungen zu ,Vorarbeiten‘ deklariert. (Vgl. zu diesem Zug in Vinogradovs Schriften !udakov 1992, 254: „Ungeachtet des ungeheuren Umfangs an Niedergeschriebenem gehört Vinogradov nicht zu den Denkern, die ausreichend umfassend und klar ihre Ideen darzulegen vermögen. Die Besonderheit seines wissenschaftlichen Nachdenkens, ja bereits seines Stils, erschwert nicht nur die Rezeption – was immer wieder von den Rezensenten seiner Arbeiten angemerkt wurde –, sondern hindert gar manches Mal daran, die Tiefe seiner Gedanken wahrzunehmen, und lässt den Leser an ihrer Oberfläche verharren“.) Entsprechend bezeichnet Vinogradov seine letzte Arbeit zum Autorbild, die postum 1971 als zweiter Teil des Buches Zur Theorie der künstlerischen Sprache („O teorii chudo"estvennoj re#i“) erschienene Studie Das Problem des Autorbildes in der Literatur, ebenfalls nur als Vorstufe für weitere detailliertere Untersuchungen: „Im vorliegenden Buch wurde der Versuch unternommen, einige Typen des Autorbildes zu differenzieren und zu demonstrieren. Damit öffnet sich ein breiter Weg für eine Detailanalyse der eigentlichen Struktur des literarischen Kunstwerks. Dieses Thema […] soll Gegenstand meiner nächsten Untersuchung werden“ (Vinogradov 1971, 211). Entsprechend existiert ein nicht mehr realisierter Arbeitsplan für die Jahre 1968 bis 1970, den Dmitrij Licha#ev* in seinem Nachwort zu Vinogradovs Buch Zur Theorie der künstlerischen Sprache anführt. Dort wird das zu untersuchende „Autorbild“ „letzter Hand“ wie folgt definiert: „Meinem Verständnis nach ist das Autorbild das Zentrum, der Fokus, in dem sich alle Verfahren der Wortkunst kreuzen, vereinen und synthetisieren. Das Autorbild ist eine Struktur von Sprache und Rede [zu den Begriffen s. u., Anm. III], die den ganzen Bau des Kunstwerks durchdringt und die durch die Verbindung und gegenseitige Einwirkung aller seiner Elemente bestimmt ist. Das Autorbild als neue und spezifische Kategorie der Literatur in ihren individuellen Ausprägungen löst in der russischen Literaturgeschichte erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die allgemeinen, für die Genres jeweils typischen Autorschemata ab. In gewissem Maße ist das Problem des Autorbildes verbunden mit der Herausbildung eines Persönlichkeits-Begriffs in der Geistesgeschichte“ (zit. nach Licha#ev 1971, 231). I. Über die künstlerische Prosa Vinogradovs Band Über die künstlerische Prosa besteht aus einer Reihe bereits in Periodika erschienener, für die Monographie nun überarbeiteter Einzeluntersuchungen. Er stellt somit, ähnlich wie die Sammelbände von Viktor $klovskij* Die Theorie der Prosa (1925a), Viktor %irmunskij* Fragen der Literaturtheorie (1928), Boris Toma&evskij* Zum Vers (1929) und von Jurij Tynjanov* Archaisten und Neuerer (1929b) ein gewisses Resümee literaturtheoretischen Denkens am Ende der zwanziger Jahre dar, eines Jahrzehnts russischer Theoriebildung, die
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auch für die internationale Philologie fruchtbare Folgen zeitigte (siehe hierzu !udakov 1980, 286). In Vinogradovs Band sind nun allerdings ausschließlich Arbeiten versammelt, die sich mit der Stilistik in der Prosa befassen. Dem Teilaspekt Autor als stilistischer Textkategorie plante Vinogradov ein eigenständiges Buch unter dem Titel Das Autorbild im Kunstwerk zu widmen (siehe hierzu seine Fußnote 1), das dann allerdings erst viele Jahre später als Teil der Monographie Über die Theorie der literarischen Rede (1971) realisiert werden sollte. Der in der vorliegenden Anthologie ausgewählte Ausschnitt zeigt das terminologische Ringen Vinogradovs um die rechte Bezeichnung eines Phänomens, dessen Inhalt und Umfang weder hier noch in den späteren Arbeiten endgültig festgelegt werden. Es lässt sich hierbei einerseits ein enges Verständnis erkennen, bei dem das, was später Autorbild heißen wird, das Redesubjekt im Sinne eines (neutralen) Erzählers meint. Andererseits will Vinogradov von Anfang an mit seinem Begriff auch eine die Gesamtstruktur des literarischen Werks umfassende (sprachliche) Kategorie bezeichnet wissen: „Er [der Schriftsteller] scheint im Kunstwerk immer durch. Im Gewebe der Wörter, in den Verfahren der Darstellung spürt man seine Gestalt.“ (aus einem Brief an seine Frau 1927, zit. nach !udakov 1992, 239; zur Terminologie s. u., Anm. II). Außer der uneinheitlichen Begriffsintension und -extension macht dieser Ausschnitt ein weiteres Problem deutlich, das sich in allen mit dem Autorbild befassten Schriften Vinogradovs, ganz besonders aber in den frühen, finden lässt: ein gewisses Schwanken in der Modellierung des Gegenstands. Vinogradov betrachtet das Kunstwerk einerseits als ein sich außerhalb des künstlerischen Bewusstseins befindendes Artefakt. Die angemessene Methode der Betrachtung ist für ihn dementsprechend die der „Projektion“, die das Kunstwerk aus dem Bewusstsein (des Verfassers) löst und zur analytischen Betrachtung in eine objektive „äußere“ Wirklichkeit überführt. (Dieser von "ngel’gardt*, 1924, 27 f., mit dem Namen Projektionsmethode [proekcionnyj metod] belegte Analyseansatz wurde zu Beginn des Jahrhunderts in erster Linie von Veselovskij* vertreten. Zu seinen Parallelen zum Formalismus siehe Hansen-Löve 1978, 370–372.) Die Projektionsmethode schlägt sich bis in die Formulierungen nieder, die den Text zum Agens werden lassen und somit die Textimmanenz des Phänomens Autorbild unterstreichen. Damit sollte wohl jeglichem Anflug einer kreations- oder produktionspsychologischen Deutung entgegengewirkt werden. Andererseits spricht Vinogradov aber von der Analyse als einer „Einfühlung in das individuelle Sprachbewusstsein“. Am jeweils deutlichsten sieht der Herausgeber von Vinogradovs Schriften, Aleksandr !udakov (1976a, 497), diese gegensätzlichen Positionen in zwei frühen Arbeiten ausgeprägt: einerseits im Aufsatz Zur Morphologie des natürlichen Stils (1922), einem Beispiel für die Projektionsmethode, und andererseits in der das „sprachliche Bewusstsein der Dichterin“ extrapolierenden Studie Über die Symbolik Anna Achmatovas (1921a). Allerdings verwahrte sich Vinogradov selbst in dieser zweiten, der „teleologischen Methode“ verpflichteten Schrift gegen den von verschie-
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denen Seiten erhobenen Vorwurf eines Subjektivismus (s. u., Anm. II). Und auch andere nahmen ihn gegen die Kritik an diesem scheinbaren Rückfall in einen verpönten Psychologismus (und gegen sich selbst) in Schutz. So äußerte Valentin Volo!inov*, dass bei dieser „merkwürdigen Symbiose von Croce und de Saussure“ in Vinogradovs konkreten Textanalysen letztlich immer die Auffassung vom Text als System deutlich dominiere, wobei unter System sowohl die stilistischen Beziehungen als auch abstrakte, zu extrapolierende semantische Reihen und stilistisch motivierte syntaktische Schemata zu verstehen seien. „In einer solchen Konzeption bleibt natürlich kein Platz für eine ,umgestaltende Persönlichkeit‘, für ein schöpferisches Bewusstsein und dergleichen, auch wenn Vinogradov eben dieses Moment ständig hervorhebt“ (Volo!inov 1930, zit. nach "udakov 1976a, 497). II. Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben Der Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag auf dem Internationalen Slavistenkongress 1959 in Moskau. Dort stellte Vinogradov seine spezifische Form einer linguistischen Stilistik vor, für die er den Status einer eigenständigen Disziplin neben der Sprachwissenschaft und der damals in erster Linie literarhistorisch ausgerichteten Literaturwissenschaft forderte. Das Hauptaugenmerk der neuen „Wissenschaft einer poetischen Sprache“ sollte daher auch der spezifisch sprachlichen Gestaltung der Textsubjekte gelten: „Es mag am konsequentesten sein, eben an diesem Problem, einem der zentralsten und grundlegendsten der Wissenschaft von der Sprache der Literatur, die Berührungspunkte mit der Literaturwissenschaft, ihre gemeinsamen Interessen und ihre Nähe und gleichzeitig den Unterschied in den Methoden und den Voraussetzungen bei Analyse und Problemlösung aufzuzeigen“ (Vinogradov 1960, 25). In seinen Ausführungen berührt Vinogradov dann aber weniger die sprachliche Seite des Autorbildes, vielmehr hebt er auf den historischen Wandel ab, dem es unterworfen ist. Zudem weist er auf die Abhängigkeit des Autorbildes von den Vorstellungen von Autorschaft hin, die sowohl in Bezug auf die einzelnen Textsorten als auch auf verschiedene Typen des Schriftstellers selbst innerhalb einer Epoche unterschiedlich ausfallen können. Zudem kann das Autorbild, wie er darlegt, Züge einer Inszenierung von Autorschaft tragen, bei der epochenspezifische Autorrollen als Vorbilder dienen. III. Das Problem des Autorbildes in der Literatur Im dritten Ausschnitt bündelt Vinogradov die in den vorangegangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen Studien angestellten Überlegungen und ergänzt das dort gesammelte Material um weitere Beispiele. Sein erklärtes Ziel ist es, einen Überblick über verschiedene Erscheinungsformen des Autorbildes zu schaffen. Indem Vinogradov in den letzten Kapiteln des Buchs von 1971 außerdem Überlegungen zum Bild des Schauspielers, Sängers und Illustrators anstellt, versucht er ab-
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schließend zu einem allgemeineren Begriff eines Künstlerbilds zu gelangen. Die für die Übersetzung ausgewählten Ausschnitte aus der Publikation von 1971 beziehen sich allerdings in erster Linie auf das Autorbild in der Erzählliteratur und fokussieren das Verhältnis zum Erzähler, insbesondere zum Ich-Erzähler. In der sowjetischen Literaturwissenschaft bürgerte sich Vinogradovs Begriffsprägung relativ spät und in uneinheitlicher Verwendung ein. Noch 1958 führt z. B. das von Leonid Timofeev herausgegebene Kleine Wörterbuch literaturwissenschaftlicher Termini (Kratkij slovar’ literaturoved!eskich terminov) den Begriff Autorbild nur in Zusammenhang mit der so genannten Autorrede an, im Sinne der Vorstellung vom Träger der „Worte, mit denen der Autor direkt, in seinem Namen, seine Helden charakterisiert, ihre Taten beurteilt, die Geschehnisse, Gegebenheiten und die Landschaft beschreibt“. Um 1960 gerät Vinogradov mit seiner Konzeption in die nicht zuletzt von Timofeev geäußerte Kritik. Vinogradovs Gegner, die sich um Dmitrij Blagoj*, einen der führenden sowjetischen Literaturwissenschaftler der Zeit, formieren, werfen der von Vinogradov vertretenen Auslegung des Autorbildes „theoretische und sogar ideologische Fehlerhaftigkeit [poro!nost’]“ vor (vgl. Gogoti"vili 2002, 547). Um die Kategorie entbrennt im Zusammenhang mit der stark ideologisierten Diskussion über die Notwendigkeit einer unverschleierten Autorposition im literarischen Kunstwerk in der Fachpresse und im IMLI (Institut für Weltliteratur) ein heftiger Streit (vgl. die Diskussion, die 1960 unter dem Titel Slovo, obraz, stil’ [Das Wort, das Bild, der Stil] in den Fragen der Literatur [Voprosy literatury], der führenden Literaturzeitschrift des Sowjetischen Schriftstellerverbands, geführt wurde). Im Autorbild sahen Vinogradovs Gegner die Bezeichnung und Rechtfertigung für eine stilistische „Maske“, hinter der sich der Schriftsteller verbergen und sich seiner Verantwortung und ideologischen Verpflichtung entziehen könne. In der überarbeiteten Neuauflage des Kleinen Wörterbuchs literaturwissenschaftlicher Termini von 1974 erhält der Begriff dann zwar einen eigenen Eintrag, doch werden in verkürzender Auslegung (und mit zweifelhaftem Bezug auf Vinogradov) Erzählerbild und Autorbild als Synonyme zur Bezeichnung des Trägers der „Autorrede“ gemeinsam abgehandelt. Autorbild wird hier im Sinne einer Bezeichnung für die Erzählinstanz kodifiziert. Allerdings lassen sich in der Folge auch andere Auffassungen finden. Neben der Identifizierung mit einer autornahen Erzählposition wird der Begriff auch zur Bezeichnung eines Ich-Erzählers bzw. für das Ich in der Lyrik verwendet. So begrenzt z. B. die Autorin des entsprechenden Lemmas in der Kleinen Literaturenzyklopädie (Kratkaja Literaturnaja #nciklopedija) den Begriff Autorbild auf Textsorten, in denen aus der Position der 1. Person gesprochen wird (Rodnjanskaja 1978). Im frühen sowjetischen Strukturalismus setzt Jurij Lotman* den Begriff auch in Bezug auf die Lyrik ein und bezeichnet mit ihm eine die Rezeption lenkende Vorstellung vom Autor eines Gedichts. Unter Autorbild versteht er eine „streng eindeutige Struktur“, die jenseits des aktuellen
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Texts zu suchen sei. Sie setze sich im Leserbewusstsein aus den Texten eines Autors und den Kenntnissen seiner Biographie zusammen und werde bei der Lektüre zur inhaltlichen Konkretisierung auf die Semantik des aktuellen Textes projiziert (Lotman 1963, 51). Später wird Lotman diese Textkategorie als Weltmodell des Autors [avtorskaja model’ mira] bezeichnen (Gogoti!vili 2002, 571). Selbst denjenigen, die wie Sokolov (1968) und Kataev (1966) den Versuch unternommen haben, die Kategorie des Autorbildes als eine umfassende Textkategorie im Sinne Vinogradovs zu fassen oder weiterzuentwickeln, gelang es nicht, eine Vereinheitlichung oder Klärung des Begriffs herbeizuführen. (Vgl. Kataev 1966, 40: „Das Autorbild ist keine Nachbildung der biographischen Persönlichkeit des Autors, sondern eine Struktur, in der die Elemente der objektiven Wirklichkeit mit der zu ihnen hergestellten menschlichen Beziehung verbunden werden und die daher ästhetisch organisiert sind. Die Struktur des Autorbildes ist breiter als die Kategorien eines auktorialen Subjektivismus [Autorintention, Position des Autors, Stimme des Autors, Einführung des Autors als handelnde Person usw.], die zu seinen Bestandteilen zählen“) Vinogradov wird in seiner späten Arbeit gerade mit diesen Versuchen polemisieren und ihnen vorwerfen, das Autorbild nicht klar genug als Stilphänomen zu fassen, sondern vielmehr die Kategorie u. a. durch Psychologisierung aufzuweichen (Vinogradov 1971, 108–114). Bei soviel Unschärfe und beinahe beliebiger Verwendung im literaturwissenschaftlichen „Alltagsgeschäft“ nimmt es nicht Wunder, dass die rezente Literaturenzyklopädie für Termini und Begriffe (Literaturnaja "nciklopedija terminov i ponjatij) von 2001 auf ein Lemma Autorbild ganz verzichtet. Sie verzeichnet den Begriff unter dem Eintrag Poetik, in dem #udakov (2001, 792) zum Beitrag Vinogradovs ausführt: „Die zentrale Kategorie [seiner Poetik], in der sich die semantischen, emotionalen und kulturell-ideologischen Intentionen des künstlerischen Textes kreuzen, war für Vinogradov das Autorbild“. Hingegen fasst Tamar$enko (2001b, 17) in derselben Enzyklopädie den Begriff Autorbild im Lemma Autor deutlich eingeschränkt auf, indem er den Autor einerseits als konkreten Verfasser eines Textes vom Schriftsteller als historischer Person und andererseits von den textintern sich darstellenden Subjekten abgrenzt, unter denen das Autorbild neben dem neutralen und dem markierten Erzähler eines von mehreren Varianten eines konkretisierten Textsubjekts ist. Obgleich der von Beginn an unscharfe Begriff im Laufe seiner Entwicklung nicht vereindeutigt wurde und auch keine verbindliche Verwendung gefunden hat, gilt das von Vinogradov bereits in den zwanziger Jahren entworfene Konzept als ein wenn auch unterschiedlich bewerteter, so doch wichtiger Schritt in der Entstehungsgeschichte einer russischen Autortheorie. Während es dem zeitgleich seine Konzeption einer literarischen Persönlichkeit [literaturnaja li$nost’] entwickelnden Jurij Tynjanov als Gegenstand der Polemik diente (s. u., Anm. II), schätzte Vinogradovs Antipode Michail Bachtin* am Autorbild die Vorstellung von einer Kombination unterschiedlicher Reden. Er meinte in ihm sogar ein be-
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reits in seine Richtung der „Verantwortlichkeit“ weisendes Äquivalent der Autorposition oder Autorschaft im künstlerischen Text zu sehen. „[Vinogradov] macht an einer sehr großen Menge von Material die ganze Widersprüchlichkeit [raznore!ivost’] und Stilpluralität der künstlerischen Prosa und die ganze Komplexität der Autorposition in ihr deutlich […]“ (Bachtin 1963, 225). Allerdings sah Bachtin auch den grundsätzlichen Unterschied der beiden Konzepte, befand sich Vinogradov doch trotz seines Streits mit Blagoj wie dieser innerhalb des konzeptuellen Raums eines „personalistischen Realismus“ (Gogoti"vili 2002, 555). „Vinogradov schloss nicht nur die Möglichkeit aus, es könne […] der unmittelbar lexiko-semantische Ausdruck der Autorposition verschwinden, sondern auch der Selbstausdruck des Autors mit Hilfe vermittelter, nicht-semantischer Sprachmittel (Intonation, Auswahl, stilistische Kombination usw.). Bachtin räumte eine entsprechende Möglichkeit nicht nur ein, er bestand sogar auf ihr. […] Vinogradovs Position geht davon aus, die Sprache an sich lasse ein derartiges vollständiges Verschwinden des Autors nicht zu, die Sprache spiegele immer die Individualität wider (entlarve sie). Die Bachtinsche Polyphonie-Konzeption gründet auf der Annahme, dass die Sprache über die Möglichkeit einer vollständigen (sowohl thematischen als auch tonalen) Eliminierung der Autor-Individualität verfüge“ (Gogoti"vili 2002, 556 f.). Als Vertreter der rezenten russischen Erzählforschung seien noch Nikolaj Rymar’ und Vladislav Skobelev genannt, die mit ihrem Entwurf eines Autorkonzepts, das den Autor als „Subjekt der literarischen Tätigkeit“ modelliert, die Ausführungen Kormans* fortsetzen (siehe Kormans Texte in diesem Band). Auch sie berufen sich in ihrem Ansatz u. a. auf Vinogradov, in dem sie trotz ihrer deutlichen Bachtin-Nachfolge einen der Begründer des theoretischen Nachdenkens über den Autor sehen (Rymar’/Skobelev 1994, 38). Auch in der westlichen Slavistik gilt Vinogradovs Autorbild als Teil der Vorgeschichte narratologischer Erzähltextmodellierung, siehe hierzu vor allem Wolf Schmids Konzept eines abstrakten Autors (1973b, zuletzt 2003a, 42 f. und 2005b, 50 f.). Besonders in den letzten Jahrzehnten hat zudem die sowjetische und postsowjetische Sprachwissenschaft im Rahmen der Sozio- bzw. der Pragmalinguistik an Vinogradovs Autorbild-Konzept angeknüpft (vgl. Onipenko 1995). Dabei bieten einerseits die textimmanenten Aspekte der Konzeption Anschlussmöglichkeiten, z. B. für Arbeiten zur funktionalen Syntax, zur „egozentrischen Lexik“, zur Rolle der Deiktika in der Grammatik oder zur Textinterferenz sowie im Rahmen der Perspektivtheorie (vgl. zu den verschiedenen Forschungsrichtungen Onipenko 1995), andererseits auch die Momente, die im Rahmen von Vinogradovs „Metalinguistik“ (hierzu Lachmann 1974, 103) das sprechende Subjekt hervorheben. Sie finden ihre linguistische Fortsetzung z. B. in den Arbeiten von Jurij Karaulov (1987) zur „sprachlichen Persönlichkeit“ [jazykovaja li!nost’]. Entsprechend stellt Nade#da Onipenko die These auf: „Das ,Autorbild‘, die ,Sprecherfigur‘ – ein ,Gebiet‘, auf dem verschiedene linguistische Disziplinen, Wörterbuch und
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Grammatik, Literaturwissenschaft und Linguistik kooperieren. Das Interesse am Bild des Sprechers hat das Interesse der Linguistik an der russischen Prosaliteratur (in der zeitgenössischen Terminologie am ,narrativen Text‘, an der ,Narration‘ [narrativnyj re!im]) ,erneuert‘“ (Onipenko 1995, 6).
————————— Anmerkungen I
Vinogradov definiert Prosa als monologische Rede, die zwar von dialogischen Elementen unterbrochen werden kann, deren grundlegendes Charakteristikum aber eine „komplexe typologische Vielfalt von monologischen Konstruktionen und deren Mischformen“ ist (Vinogradov 1930, 73; § 4). Dabei unterscheidet er unterschiedliche monologische Formen: u. a. den Erzählmonolog, den SkazMonolog, den memoiristischen und den Rednermonolog, deren Kompositionsgesetze jeweils historischen Entwicklungen unterliegen (73; § 3). In dieser besonderen Profilierung des Monologs sieht "udakov die genaue Umkehrung der Dialogizität, die Bachtin* für das Prosawort reklamierte: „Obgleich er im Wort deutlich das wahrnahm, was Bachtin Dialogizität genannt hatte, spürte Vinogradov nicht weniger deutlich, dass dies in der Konkretheit der Rede dennoch gerade in Form eines Monologs ausgedrückt ist, und von dieser formalen Konkretisierung konnte er für keinen Augenblick abrücken“ ("udakov 1992, 235). II An der Vielzahl der Termini zeigt sich deutlich das Ringen des Verfassers um die Benennung des Phänomens, dem er später die Bezeichnung Autorbild geben wird. Hier treten neben der Bezeichnung dieser Entität als eines offensichtlich textuell verstandenen Subjekts auch Angesicht des Autors in der Literatur sowie Bild des „Schriftstellers“ auf. Zudem spricht Vinogradov vom Angesicht des „Schriftstellers“, dem das „Ich“ des Autors bzw. die Person des Autors offenbar gegenübergestellt werden. In den frühen Arbeiten, vor allem in deren ersten Redaktionen, dominiert die Bezeichnung sprachliches Bewusstsein [jazykovoe soznanie], die Vinogradov in überarbeiteten Fassungen dann durch Subjekt und später durch Autorbild ersetzt. Dieser Begriff des individuellen sprachlichen Bewusstseins und die von Vinogradov zur Untersuchung eingesetzte teleologische Methode, die ein „Vordringen in das sprachliche Bewusstsein des Dichters“ verlangt, hatten bereits bei ihrem ersten Auftreten in Vinogradovs Arbeit Über die Symbolik Anna Achmatovas (1921a) vor allem bei den Formalisten eine heftige Polemik hervorgerufen: #irmunskij* kritisierte den Rückgriff auf eine psychologische Kategorie ("udakov/Du$e%kina/Toddes 1980, 320) ebenso wie &jchenbaum*, den Vinogradov eigentlich als „Freund, aber in Fragen der Poetik mein prinzipieller Gegner “ bezeichnete (zit. ibid.), der sich aber mit den von Vinogradov für Achmatovas Dichten postulierten „assoziativen semantischen Nestern“ nicht einverstanden erklären konnte (&jchenbaum 1923, 145). Besonders streng ging Tynjanov* in seinem unveröffentlichten Vorwort zu Das Problem der Vers-
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semantik (Problema stichovoj semantiki, 1923[b]; 1924[c] publ. unter dem Titel „Problema stichotvornogo jazyka“ [dt.: Das Problem der Verssprache. München 1977]) mit Vinogradov ins Gericht: „An derselben Untugend [wie Potebnja*] – dem Ignorieren des Konstruktionsmoments, des Moments der Gebautheit in der Sprache – krankt auch eine andere Richtung […], die den Sinn des poetischen Worts vom Standpunkt des individuellen sprachlichen Bewusstseins eines Dichters aus erforscht. Bei dem einen oder anderen Dichter psychologische Assoziationen sowie die Verbindung von Wortgruppen zu verfolgen und das dann als Erforschung der poetischen Semantik auszugeben, ist offensichtlich nur dann möglich, wenn man die Dichtung gegen den Dichter eintauscht und davon ausgeht, es gäbe ein stabiles, eingliedriges individuelles Sprachbewusstsein des Dichters, das nicht von der Konstruktion abhängt, in der es sich bewegt“ (Tynjanov 1923b, 253). Zur ambivalenten Polemik um die Kategorie des Teleologischen in der russischen Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre vgl. !udakov/Du"e#kina/Toddes 1977c, 528 und den Kommentar zu Skaftymovs* Aufsatz Die thematische Komposition des Romans „Der Idiot“ von Galina Potapova, in diesem Band S. 106 f.). III Vinogradov nimmt hier und in anderen Arbeiten eine Unterscheidung in Sprache (jazyk) und Rede (re#’) vor, die trotz ihrer suggestiven Ähnlichkeit mit der Saussure’schen Opposition von langue und parole nicht mit dieser gleichzusetzen ist, nicht zuletzt weil Vinogradov selbst die „Antithese“ Saussures für ungeeignet hielt, das Problem der poetischen Sprache zu erhellen (vgl. Vinogradov 1930, 83). Renate Lachmann sieht daher (oder zumindest vermutet sie) hinter dieser terminologischen Unterscheidung eine Dichotomie zwischen der mittels einer linguistique de la langue beschreibbaren standardsprachlichen Norm und einer individuellen, künstlerisch überformten Sprache (Lachmann 1974, 111–112 u. Fn. 27). Für diese poetische Sprache (bei Vinogradov po!ti"eskaja re"’ oder po!ti"eskij jazyk), die als „individuelle, poetische Spracheigenheit“ eines Schriftstellers gegen die nichtpoetische Norm verstößt, fordert Vinogradov in der Schrift Zum Entwurf einer Theorie der poetischen Sprache (1927, 7) eben gerade nicht eine linguistique de la parole, sondern eine Performanzlinguistik (siehe auch Lachmann 1974, Fn. 27). Ganz offensichtlich denkt Vinogradov bei der Verwendung von „Rede“ im Unterschied zu der eine Norm und eine allgemeine Struktur implizierenden „Sprache“ immer auch das Subjekt der Rede mit. In der vorliegenden Übersetzung soll daher, um den spezifischen Charakter dieser individuellen Sprache oder Rede zu markieren, „re#’“ dort explizit mit „Erzählrede“ wiedergegeben werden, wo sich ihr artifizieller Kontext und ihre Gebundenheit an ein erzählendes (oder schreibendes) Subjekt nicht bereits aus der Argumentation ergibt. IV Mit den Begriffen Bild des „Schriftstellers“ und Angesicht des Autors scheint Vinogradov hier eine später fallen gelassene Differenzierung in zwei diametrale Ausprägungsformen des Autorbildes vorzunehmen. Die erste Variante des Text-
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subjekts, das Bild des „Schriftstellers“, beschreibt Vinogradov als dem Leser abgewandt und damit offenbar als Größe, die aus der Stilistik eines Textes erst noch zu rekonstruieren ist. Somit wäre sie einer neutralen Erzählsituation ohne explizite Sprecher-/Schreiberfigur zuzuordnen. Für das Angesicht des Autors in der Literatur lässt sich aus der Gegenüberstellung zur ersteren Form folgende nähere Bestimmung ableiten: Dieses Autorbild ist offenbar als textuelle Manifestation einer expliziten, markierten Erzählerfigur zu denken, die den Autor im Werk „spielt“. (Zur Theatermetaphorik s. u., Anm. XV.) V Vinogradov verfolgt seine hier geäußerte Einschätzung, in der Lyrik läge ein sich von der Prosa unterscheidendes Autorbild vor, im Weiteren nicht konsequent. Seine Beispiele für das Autorbild in der Schrift Über die künstlerische Prosa sowie in späteren, mit der Autorproblematik befassten Arbeiten entstammen sowohl Prosatexten als auch Gedichten und verfolgen nicht das Ziel einer differenzierten Typologisierung. !udakov führt allerdings in seinem Kommentar ein Fragment aus Vinogradovs Archiv an, dem zu entnehmen ist, dass sich Vinogradov Mitte der zwanziger Jahre um eine genauere Bestimmung eben des lyrischen Textsubjekts bemühte. Die Untersuchung des „Held[en] des lyrischen Verses“ hielt Vinogradov – dem Autorbild in der Prosa analog – für das Zentrum einer auf die Verssprache ausgerichteten Textwissenschaft. „Am häufigsten trifft der Leser auf das Bild des lyrischen Ich. Das Problem des künstlerischen Konstruierens dieses Ich ist der Fokus, in dem alle Fäden der literarhistorischen Interpretation der lyrischen Dichtung zusammenlaufen. Dieses Bild des lyrischen Ich, des psychologischen Zentrums, in dem sich die verströmenden Strahlen des Gefühls konzentrieren, ist häufig ein trügerisches Bild, das sich hinter der gleichförmigen Vieldeutigkeit der Antlitze verschiedener Helden verbirgt. Es gibt kaum einen gröberen Fehler, als direkt auf dieses lyrische Ich das psychische Ich des Autors zu applizieren. Sie sind Homonyme, die mittels des schöpferischen Autorwillens in Bezug gesetzt werden können, mit dem Ziel, mit Masken zu spielen oder sogar eine Reihe von Sujetlinien in einem Verhältnis der Analogie zusammenfließen zu lassen, aber sie können auch scharf voneinander getrennt auftreten. Das lyrische Ich lässt sich nicht durch die Unterschrift des Autors entschlüsseln. Und diese Bestimmung bleibt sogar dann bestehen, wenn der Dichter mit der landläufigen Vorstellung spielt, man habe einen offenherzigen Menschen vor sich, der vor dem Publikum sein persönliches Ich offenbart und ihm scheinbar sogar entgegen kommt, indem er seinen eigenen Namen in die Verskomposition überträgt und die Helden seiner Dichtung zu seinen Namensvettern macht. […] Vom empirischen Ich des Dichters ausgehende Assoziationen, die sich ungehindert in die Wahrnehmung der Erscheinung des lyrischen Helden mischen, färben seine Struktur mit dem eigentümlich ,sinnlichen Ton‘ eines biographischen Dramas ein“ (Anfang 1926, zit. nach !udakov/Toddes 1980, 341–342). Diese Ausführungen sind ein weiteres Beispiel dafür, dass Vinogradov in den Paratexten zu seinen publizierten Arbeiten die Probleme konkreter und präziser benannte als in
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seinen auf erschöpfende Darstellung bedachten wissenschaftlichen Arbeiten mit ihrer wuchernden Fülle an Beispielen. Auch für das Autorbild finden sich in einem Brief an die Ehefrau 1927 und im Arbeitsplan für die späten sechziger-siebziger Jahre die kompaktesten und widerspruchfreiesten Definitionen (s. o., meinen Kommentar). – Dem Textsubjekt in der Lyrik unter einer funktionalen Fragestellung widmete sich ebenfalls Jurij Tynjanov, der seit Anfang der 1920er Jahre seine Konzeption eines lyrischen Helden, später dann einer literarischen Persönlichkeit entwickelte (vgl. Tynjanov 1921b, 1924a, 1927a, 1929a). Tynjanovs Begriff wurde in seiner spezifisch funktionalen Bedeutungsextension von Lidija Ginzburg* weiterentwickelt (u. a. Ginzburg 1964; zur Entstehung des Begriffs siehe Gölz 2000, 42–45; zu seinen ideologischen Verstrickungen vgl. Tschöpl 1988). VI Dem Kommentar von !udakov/Toddes (1980, 342) ist zu entnehmen, dass Vinogradov die Rede Bloks Über den derzeitigen Zustand des russischen Symbolismus im Jahre 1910 im Sinn hatte. Auf Vja"eslav Ivanovs* Entwurf eines symbolistischen Textsubjekts in Vermächtnisse des Symbolismus (Zavety simvolizma, 1910) geht Vinogradov im weiteren Verlauf seiner Arbeit noch ausführlicher ein, um die Differenz zwischen dem literarischen Redesubjekt und seinen Selbstdarstellungsmöglichkeiten im Rahmen des literarischen Kodes einer Epoche und dem Redesubjekt der Alltagssprache in derselben Zeit aufzuzeigen (Vinogradov 1930, 85 f.). Ivanov reklamierte für den symbolistischen Dichter die Rolle des Theurgen, der zu einer „göttlichen Sprache“, zur „heiligen Sprache der Priester und Zauberer“, denen die geheimen Bedeutungen der Sprache offenbar sind, zurückkehren soll (Ivanov 1910, 593, 595). Vom deutlichen Bewusstsein einer Differenz zwischen dem Verfasser und dem textuellen Bild des Dichters [obraz po#ta] im Symbolismus zeugt auch Innokentij Annenskijs (1906) Besprechung Valerij Brjusovs, in der er deutlich das lyrische Ich von einem biographischen Ich scheidet (499) und damit bereits die formalistische Modellierung eines literarischen Helden bzw. der literarischen Persönlichkeit vorweg zu nehmen scheint. „Aber, erlauben Sie, vielleicht ist das Ich überhaupt nicht K. D. Bal’mont hinter der Maske seines Verses. Wie, nicht er? […] das Ich des Herrn Bal’mont ist weder ein persönliches, noch eines einer Gruppe, sondern am ehesten noch unser Ich, eben von Herrn Bal’mont erkannt und zum Ausdruck gebracht […] Der Vers ist kein Geschöpf des Dichters, er gehört ihm sogar, wenn Sie so wollen, gar nicht. […] Das Ich des Dichters bringt sich nur insofern zum Ausdruck, als es den Vers ausgewählt schön gestaltet hat“ (Annenskij 1906 [1988, 492 f.]). (Zu den russischen Symbolisten als Vorläufern der Formalisten vgl. Hansen-Löve 1978, 43–58.) VII Anna Achmatovas Verhältnis zu den symbolistischen Vorläufern, ganz besonders zu Aleksandr Blok, hat Vladimir Toporov (1981) in seiner Arbeit Achmatova und Blok untersucht. Dort zeigt er, wie Achmatova sich durch Zitation markanter „Stützwörter“ symbolistische Paradigmen aneignet und sie durch die neue Kon-
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textualisierung in ihrer „diesseitigen“, akmeistischen Poetik umwertet. Zu einem konkreten Analysebeispiel für die Verschiebung von Textsubjekten aus dem symbolistischen Paradigma in das des Akmeismus siehe Gölz 2000, 181–203. VIII Obgleich der Begriff Autorbild sich in Vinogradovs Arbeiten nicht zu einem abschließend definierten und eindeutig verwendeten Terminus entwickelt hat, dominiert er doch spätestens mit seiner Verwendung in Kapitelüberschriften und nachträglichen Einfügungen bei Neuauflagen die vielzähligen terminologischen Varianten; vgl. die Überschrift Das Autorbild in der Komposition der „Pique Dame“ in Vinogradov (1936a, 203) oder die terminologischen Angleichungen in der Übernahme eines Abschnittes aus Die Sprache Zo!"enkos (Jazyk Zo!"enki“, 1928) in Vinogradov (1971, 125–126). Zur Bezeichnung der stilistischen Einheit bzw. eines stilistischen Subsystems in literarischen Texten hatte sich im Laufe von Vinogradovs wissenschaftlicher Tätigkeit der Begriff obraz (Bild) in Kombination mit Autor, Erzähler und Figuren seit den späten dreißiger Jahren durchgesetzt. Der für die Übersetzung nicht unproblematische russische Begriff obraz (Renate Lachmann, 1974, übersetzt „Bild des Autors“, Wolfgang Eismann, 1986, „Gestalt des Verfassers“) bezeichnet nach Nina Arutjunova (1999, 314 f.) ein Konzept, das lat. forma und griech. eidos analog ist und somit mehr als nur „Bild“ im Sinne von „Erscheinung“ oder „äußerem Abzug“ meint. Es umfasst vielmehr Bedeutungsnuancen, die sich in anderen Sprachen auf mehrere lexikalische Einheiten verteilen, z. B. im Englischen form, figure, idea, image, vision. Obwohl der visuelle Aspekt in der Bedeutung dominiert, meint der Begriff ein synkretistisches Phänomen, das ein Objekt umfassend wiedergibt, ohne Form von Inhalt zu trennen. „Die Ganzheitlichkeit des obraz [Bild] enthält nicht nur die Summe rein äußerlicher Merkmale, sondern auch bestimmte ,ideale‘ (inhaltliche) Züge. Eben diese Eigenschaft unterscheidet obraz von oblik [Angesicht, Antlitz] eines Objektes“ (Arutjunova 1999, 316). Der Begriff enthält zudem ,Reproduzieren nach einem Vorbild‘ als Bedeutungskomponente: „Im Begriff des obraz [Bild] wird die Idee der Form bezeichnet, die als von der Substanz abstrahiert gedacht wird und deshalb eine reproduzierende ist“ (Arutjunova 1999, 314). Obraz bezeichnet im Russischen das Bild, nach dem Gott den Menschen schuf, und damit ein Abbildverhältnis zwischen Schöpfer und Ebenbild, das in Vinogradovs Begrifflichkeit als Verhältnis zwischen dem Autor als Verfasser und seinen textuellen Manifestationen in den Redesubjekten immer mitschwingt. IX In den hier für die Übersetzung nicht ausgewählten Einführungskapiteln der vorliegenden Schrift setzt Vinogradov seinen Begriff des Autorbildes in Bezug zu einer allgemein beobachtbaren Tendenz in der russischen Philologie und Ästhetik: Auch in anderen Arbeiten gehe die Untersuchung der Sprache in der Literatur mit der Bemühung um eine fundierte Definition des Begriffs Individualstil einher. Vinogradov allerdings ist als Sprachwissenschaftler besonders an der Beziehung des Schriftstellers zur Standardsprache interessiert, die in den literarischen Werken implizit ist und „in ihrer Stilstruktur und ihren Autorbildern (selbst wenn
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diese namenlos bleiben)“ (106) Ausdruck findet. Der von Vinogradov geforderte und ausgiebig praktizierte historisierende Blick auf Epochen- und Individualstile verlangt die vorausgehende Klärung von „Fragen nach der stilistischen Struktur der Autorbilder [obraz avtorov] und der Figurenbilder [obraz geroev]“ (107). Diese Struktur will Vinogradov zudem in Abhängigkeit zur Gattungszugehörigkeit des jeweiligen Textes betrachtet wissen, denn sie schlägt sich ebenso wie die in den einzelnen Gattungen und Genres übliche Sprachverwendung „in der Struktur des Autorbildes“ nieder (107). Wie unzureichend diese Forderungen bisher allerdings eingelöst wurden und wie wenig die vorliegenden Ergebnisse befriedigen können, belegt Vinogradov mit ausführlichen Zitaten aus entsprechenden Studien. Ohne seine feinteilige und weit von der Ausgangsfrage nach dem Autorbild wegführende Polemik mit den Kollegen nachzeichnen zu wollen, seien im Folgenden zumindest die wesentlichen Kritikpunkte aus Vinogradovs Forschungsüberblick benannt. Aleksandr Sokolov (1968) z. B. stellt in seiner Stiltheorie die Frage nach der Extension des Begriffs Autorbild, allerdings fasst er sie, wie Vinogradov kritisch anmerkt, keineswegs präzise und beantwortet sie auch nicht. Zwar fokussiert er die Abhängigkeit des Autorbildes von der sprachlichen Struktur (,gibt es ein Autorbild auch jenseits der Wortkunst?‘) und sucht somit nach einer objektimmanenten Bestimmung, zudem weisen seine Überlegungen auch einen produktions- und rezeptionsästhetischen Aspekt auf (,lässt sich ein Text unter bestimmten Bedingungen als Ausdruck der Autorpersönlichkeit verstehen, die wie ein Prisma die Wirklichkeit bricht; bzw. wann lässt sich dem Text der „Abdruck“ des Autors ablesen?‘), dennoch reduzieren Sokolovs illustrierende Ausführungen das Autorbild in den unterschiedlichen Beispielen ausschließlich auf die Erzählinstanz. Vinogradov kritisiert außerdem, dass Sokolov die Stilbesonderheiten seines engen Autorbild-Begriffs nicht zu anderen stilistischen Elementen des Textes in Bezug setze und die sich in den verschiedenen Texten unterschiedlicher Schaffensperioden modifizierenden Autorbilder eines Schriftstellers unzulässig nivelliere. Dies liege nicht zuletzt daran, dass für Sokolov nicht die sprachliche Realisierung für die stilistische Einheit eines Werkes ausschlaggebend sei, sondern „die ästhetischen und ideologischen Voraussetzungen des Stils“, unter die sich auch völlig gegensätzliche Ausformungen des Autorbildes subsumieren ließen (Sokolov 1968, 156). Das Autorbild ist in Sokolovs Modellierung somit weit weniger als die von Vinogradov mit dem Begriff anvisierte stilistische Einheit. Zudem bleibt bei Sokolov ungeklärt, woraus sich diese ideologischen Voraussetzungen ableiten lassen und wodurch die Subsumierung gerechtfertigt ist (Vinogradov 1971, 107–109). Eine ähnliche Oberflächlichkeit bei der Beschreibung der stilistischen Eigenarten des Autorbildes deckt Vinogradov auch in den Arbeiten von Boris Toma!evskij* (1961) und Boris Mejlach (1958) sowie von Lev Sidjakov (1968) auf (Vinogradov 1971, 109–111). Im Aufsatz des Letzteren zu Pu!kins Scherzpoemen (Sidjakov 1969) findet Vinogradov allerdings eine erste Annäherung an eine stilanalytische Beschreibung des Phänomens (Vi-
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nogradov 1971, 112). So klar Vinogradov an den Überlegungen anderer terminologische Unschärfen und die Reduktion des Phänomens auf einen Teilaspekt der Gesamtstruktur des literarischen Textes sieht und kritisiert, so irritierend uneinheitlich, ungenau und verkürzend ist er selbst im Umgang mit dem Terminus in seinen Ausführungen. X Während hier die Bezeichnung Autorbild einen das lyrische Ich mitenthaltenden Überbegriff für literarische Redesubjekte zu meinen scheint, spricht Vinogradov in seinem Vortrag Die Wissenschaft von der Sprache der Literatur und ihre Aufgaben (1960, 25) von der Wichtigkeit der „Redestrukturen“ für die Komposition, unabhängig ob es sich dabei um das Redesystem des Autorbildes, des Erzählers, des lyrischen Ich oder der Personen im Drama handele. In dieser Aufzählung scheint das Autorbild eines von mehreren in der Literatur möglichen Redesubjekten zu sein. Offenbar denkt Vinogradov das Autorbild an dieser Stelle seines Vortrags nicht etwa dem Erzähler in der Prosa oder dem Ich in der Lyrik übergeordnet, sondern vielmehr als deren Variante, also als Bezeichnung der Redeinstanz einer neutralen Erzählsituation. Eine solche eingeschränkte Verwendung lässt sich immer wieder in Vinogradovs Ausführungen finden. Doch bereits in der darauf folgenden Bestimmung des Autorbildes als Summe der unterschiedlichen Formen, in denen sich der Individualstil eines Schriftstellers im Text manifestiert, geht die Gesamtstruktur eines Textes im Autorbild auf: „Ab und zu lässt sich unter diesen Stilphänomenen [gemeint sind die zuvor genannten verschiedenen Bilder – Autorbild, Erzählerbild, lyrisches Ich, dramatische Figur] die Lösung für die Frage nach der kompositionellen Struktur des literarischen Werks, nach seiner inneren stilistischen Einheit, finden. Der Individualstil eines Schriftstellers, seine qualitativen Besonderheiten werden in bedeutendem Maße durch die Formen des realisierten Autorbildes in seinen Werken bestimmt“ (Vinogradov 1960, 25). XI Aus der heutigen Perspektive erscheint es geradezu umgekehrt: Spezifisch erzähltheoretische Überlegungen zur Kommunikationssituation in der Prosa haben in der größtenteils mit einem unreflektierten und naiven Autorbegriff operierenden sowjetischen Literaturwissenschaft wenig miteinander vermittelbare Einzelpositionen hervorgebracht (Vinogradov, Bachtin, Korman*), von denen sich keine im literaturwissenschaftlichen „Alltagsgeschäft“ durchzusetzen vermochte. Dort im heutigen Russland, wo im professionellen Kontext narratologisch gearbeitet wird, bezieht man sich ohne Berücksichtigung der eigenen Theoreme auf die westliche Theoriebildung (vgl. z. B. Il’in 2001). Hingegen haben gerade die bis auf formalistische Ansätze zurückzuverfolgenden theoretischen Arbeiten zum Verhältnis Autor und Sprechinstanz im lyrischen Gedicht eine kontinuierliche Forschungslinie aufzuweisen, deren Wirkmächtigkeit über die eigene Nationalphilologie hinaus nachweisbar ist. Ähnlich wie für den Terminus Autorbild gilt allerdings auch für den formalistischen Ausgangsbegriff der funktionalen Lyrikanalyse, Tynjanovs lyrischen Helden, die Feststellung Irina Rodnjanskajas (2001, 452): „obgleich der Terminus in die Literaturwissenschaft eingegangen ist, sind
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seine Grenzen und sein Inhalt umstritten“. Vgl. zu den am lyrischen Kommunikationssystem orientierten Forschungsbeiträgen den Überblick von Kraan 1991, der ein die Ansätze synthetisierendes Modell vorschlägt. Zur Verknüpfung von Lyrik- und Erzähltheorie in der westlichen Literaturwissenschaft siehe u. a. Hühn/ Schönert 2002 und Müller-Zettelmann 2002. XII Vinogradov bezieht sich im Folgenden auf einen Aufsatz von Kv!ta Ko"evniková (1968), die drei Verwendungen des Begriffs Subjektivierung in der Erzählforschung der sechziger Jahre ausmacht. Der Begriff wird demnach verwendet: (1) zur Bezeichnung der Ich-Erzählung mit ihrer spezifischen Doppelrolle des Erzählers als erzählendem Textsubjekt und gleichzeitigem Objekt des Erzählens (z. B. von Franz K. Stanzel); (2) für einen Teilbereich von (1), für den auch thematisch die Subjektivierung der epischen Materie in Form einer Selbstanalyse des Erzählers charakteristisch ist (z. B. von Milan Kundera); und (3) für personales Erzählen im Sinne einer gemischten Rede, wie das Phänomen der erlebten Rede von Dole"el (1965) genannt wurde (Ko"evnikova 1968, 236). XIII In der Theoriebildung zum inneren Monolog wird immer wieder eine russische Erzählung als Initialtext dieser Präsentationsform genannt (vgl. u. a. Wilpert 1969, 355): Vsevolod Gar#ins Vier Tage ($etyre dnja, 1877). In dieser Erzählung treten keine die Gedanken einleitenden Inquit-Formeln oder Rechtfertigungsfloskeln zur Motivierung des Verfahrens mehr auf, wie es bis dahin für Gedankenzitate in der Literatur üblich gewesen war (vgl. Martinez/Scheffel 2003, 60–61; zur Chronologie des inneren Monologs vgl. jetzt Schmid 2005 [2008, 198–200]). In der sowjetischen Literaturwissenschaft, zu deren Sprachrohr sich offenbar der ansonsten durchaus systemkritische Schriftsteller Venjamin Kaverin in diesem von Vinogradov angeführten Zitat macht, sah man allerdings in der extremen Ausprägung des inneren Monologs als stream of conciousness ein Phänomen des Modernismus, vor allem der für ihre Subjektivität kritisierten „Dekadenz“ (dekadentsvo). Als Gewährsmann galt der auch von Kaverin in Vinogradovs Zitat erwähnte Tolstoj. Dieser habe, so D. M. Urnov in der Kleinen Literaturenzyklopädie, trotz seiner eigenen Meisterschaft auf dem Gebiet des inneren Monologs, vor dem Übel der überhand nehmenden Psychologisierung gewarnt („das Interesse an den Einzelheiten der Gefühle beginnt das Interesse am eigentlichen Geschehen zu ersetzen“). (Dieses Zitat hat Urnov missbraucht. Tolstoj wollte damit sein frühes Ungenügen an der apsychologischen Prosa Pu#kins ausdrücken. Er selbst sah sich als Vertreter dieses neuen Interesses an den Einzelheiten des Gefühls. Vgl. dazu Schmid 1991, 22–25.) „Als Folge hieraus zerfällt der traditionelle Sujetaufbau, die Figur des Autors wird immer stärker maskiert und scheint gar ganz zu verschwinden“ (Urnov 1968, 918). Die von Kaverin reklamierte „Rückkehr des Autors“ ist vermutlich in erster Linie als literaturpolitische Äußerung eines selbst immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik geratenen Schriftstellers zu sehen, setzt sie doch den Sozialistischen Realismus mit seiner Forderung nach
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einem eindeutig ideologisch verpflichteten Autor als weltliterarische Norm, eine Meinung, der Kaverins schriftstellerische Praxis widerspricht. XIV Zur historischen Bedeutungsentwicklung des russischen Worts für Persönlichkeit (li!nost’) veröffentlichte Vinogradov 1946 einen thesenförmigen Aufsatz und sammelte über viele Jahre illustrierendes Material, das die Herausgeber seiner Wortgeschichte (1994/1999) zu einem eigenen Kapitel gruppierten. Vinogradovs Thesen und Beispiele machen deutlich, wie sich am Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Aufkommen einer Vorstellung von einem Einzelindividuum als ökonomischer Größe die Notwendigkeit einer Benennung ergab. Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung Russlands unterlag der Begriff vielseitigen Konnotationsverschiebungen, von u. a. der beleidigenden Bezeichnung einer Person oder der Unterstreichung einer besonderen Eigenliebe bis hin zum Synonym für das Individuum im Sinne eines ,denkenden, eigenverantwortlich handelnden Subjekts‘. XV Dmitrij Licha!ev* (1971, 216) sieht in Vinogradovs Analogisierung der Erzählkunst mit der Theaterkunst eine deutliche Wendung gegen die formalistischen Beschreibungsversuche der zwanziger Jahre, die für das Verhältnis Autor – Erzähler die Maske als Metapher bemühten. Vgl. besonders Gruzdevs* Begriff der Autormaske (1921, 1922a, 1922b; siehe Übersetzung im vorliegenden Band S. 179–193); aber auch Veksler (1919), bei der Maske das Verhältnis von Figur und Prototyp bezeichnet; ähnlich auch Lunc (1919, 88) in Bezug auf zur Maske erstarrte, typisierte Figuren im Theater; Tynjanov (1921a), der Maske im Zusammenhang mit den parodistischen Verfahren eines Autors einführt. Entsprechend ist der Terminus Autormaske (avtorskaja maska) in der russischen Literaturwissenschaft auch weiter gefasst als das auf Carl D. Malmgrem (1985) zurückgehende Konzept author’s mask in der westlichen Literaturwissenschaft, das sich auf postmoderne Textstrategien bezieht. Osovskij (2001, 511 f.) kodifiziert Autormaske als Bezeichnung eines bereits in der altrussischen Literatur aufzufindenden Spiels mit Erzählerrollen. Eine besondere Affinität zur Maske lässt sich in der Literatur des Silbernen Zeitalters in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert nachweisen. Besonders die russischen Symbolisten, aber auch Schriftsteller der Spätmoderne, z. B. die Oberiuten, weisen eine augenfällige Präferenz für Theatralizität, Karneval und Maskerade auf, die sich in den Werktiteln, den Themen und den intra- und extratextuellen Mystifizierungsstrategien niederschlägt. Neben den Formalisten (siehe oben) entwickelte auch Bachtin (Die Ästhetik des wortkünstlerischen Schaffens; 1996) ein Konzept der Maske zur Beschreibung des Verhältnisses von Autor und Figur. Entgegen Licha!evs Behauptung bedient sich Vinogradov allerdings nicht nur einer entfalteten Theatermetaphorik zur Beschreibung des Verhältnisses von Autor und Textsubjekt, sondern durchaus auch wiederholt des Bildes der Maske. So beschreibt er den Skaz-Erzähler als Maske des Autors, als dessen „ideologisch-stilistische Schminke“ (1960, 35), und das Spiel mit unterschiedlich modellierten (Ich-)Erzählern inner-
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halb eines Gesamtwerks als „literarische Maskerade“ (1971, 118). Allerdings betont die Verwendung der Theatermetaphorik seltener den Aspekt des Verbergens und Entlarvens des wahren Autors hinter der Erzähler-Maske als vielmehr die Möglichkeit der Auswahl und des Spiels mit verschiedenen, von der Tradition und den Gattungskonventionen vorgegebenen Mustern für die Subjekte der Erzählrede: „Der Schriftsteller verdoppelt, verdreifacht usw. sein Autor-Angesicht im Spiel der Larven, der ‚Masken‘, oder er zieht eine Reihe fremder Sprachbewusstseine nach sich, Erzähler, die neue Skazsysteme aus schriftsprachlichen oder archaischen Elementen kombinieren“ (1971, 127). Die Theatermetaphorik und insbesondere Vinogradovs spezifische Verwendung des Begriffs Maske beschreiben somit das Phänomen des Autorbildes und das in ihm angelegte Verhältnis von Autor und Erzähler seltener aus der Perspektive der Rezeption (,die Maske abreißen‘, ,die Schminke abwischen‘), vielmehr unterstreicht die Verwendung der Bildlichkeit vor allem das produktionsästhetische Moment einer bewussten Konstruktion des Textsubjekts durch den Autor als Verfasser.
11. Boris Korman: Zur Autor-Theorie* (Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Christine Gölz)
I. Auszüge aus: Das Problem des Autors – Forschungsergebnisse und Perspektiven [59] Der Autor gehört zu den Problemen, die in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit der russischen Literaturwissenschaftler besonders auf sich gezogen haben. Ergebnis dieser intensiven Beschäftigung sind wesentliche theoretische Erkenntnisse und eine neue Sicht auf das literarische Material. Sinnvollerweise sollten die Untersuchungen daher in zwei Richtungen fortgesetzt werden. Zum einen gilt es, die bereits entwickelte Analysemethode an konkretem Material noch breiter anzuwenden. Dies wird Aufgabe der literaturgeschichtlichen Forschung sein und umgehend sichtbare Folgen zeitigen: Zu erwarten ist neben treffenderen und stärker detaillierten Beschreibungen von Einzelwerken, vom Schaffen eines Schriftstellers und von literarischen Richtungen zunehmend auch eine allgemeine Verbesserung des theoretischen Niveaus unserer Arbeiten. Zum anderen sollte die Erforschung des Autor-Problems unter theoretischen Gesichtspunkten fortgesetzt werden. Gemeint sind: die Vervollkommnung des theoretischen Apparats, die Präzisierung einzelner Begriffe sowie des ganzen Begriffsystems und die Positionierung zu anderen literaturtheoretischen Begrifflichkeiten. Im vorliegenden Aufsatz wollen wir auf einige bisher noch nicht ausreichend untersuchte Seiten des Problems hinweisen und versuchen, ein Programm für weitere Arbeiten zu entwerfen. Beginnen wir mit dem terminologischen Problem. Der Begriff Autor wird in der Literaturwissenschaft in mehreren Bedeutungen verwendet. Zuerst einmal bezeichnet er den Schriftsteller als real existierenden Menschen. Weiterhin benennt er in einigen Fällen eine Konzeption, also einen Blick auf die Wirklichkeit, die sich im schriftstellerischen Werk manifestiert.I
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Schließlich wird der Begriff zur Bezeichnung von Phänomenen eingesetzt, die für einzelne Textarten und Gattungen charakteristisch sind. Zweckmäßig wäre es nun, bei der Strukturanalyse eines Werks mit dem Terminus Autor die zweite der angeführten Bedeutungen zu verbinden (Autor als Träger der Konzeption des gesamten Werks). [60] Die für einen wissenschaftlichen Terminus schon grundsätzlich wenig wünschenswerte Vieldeutigkeit ist im vorliegenden Fall geradezu unerträglich, handelt es sich doch hierbei um die Bezeichnung eines Schlüsselbegriffs der Literaturwissenschaft. Die Vermischung verschiedener Bedeutungen und die Ersetzung einer Bedeutung durch eine andere stellen Quellen schwerwiegender Komplikationen dar, sie verzögern und erschweren die Wahrheitsfindung. Uns scheint, dass wir es insbesondere im Falle von Michail Bachtins* Buch über Dostoevskij mit eben einer solchen Bedeutungsvermischung zu tun haben.1 Ein zeitgenössischer Wissenschaftler charakterisiert Bachtins Konzeption wie folgt: „Michail Bachtin zufolge ist Dostoevskij auf neue Weise an die Erschließung des Bewusstseins seiner Helden herangegangen. Er habe damit ein prinzipiell neues Beispiel für die Objektivität eines Künstlers geschaffen, der nicht über das Bewusstsein seiner Helden und ihre Schicksale herrsche, der ihre Worte und Gedanken nicht in der Umrahmung der eigenen Bewertungen präsentiere, der es vermeide, die geistige Welt seiner Figur in der vorgegebenen Abgeschlossenheit [zaver!ennost’]II zu zeigen […]. Seiner Meinung nach ist die Aktivität des Schriftstellers vor allem darauf gerichtet, aus dem Werk jegliches Vorhandensein einer Autorposition, ihre potentiellen Niederschläge im Wort, im Erzähldiskurs und in der Komposition zu tilgen. Die Stimme des Autors sei lediglich als eine gleichberechtigte unter den Stimmen der Helden zulässig“.2 Unserer Ansicht nach lag der paradoxen Schlussfolgerung Bachtins die Vermischung zweier Autor-Begriffe zugrunde: Der Begriff des Autors als eines Trägers der Konzeption, deren Ausdruck das gesamte Werk darstellt, wird mit der Vorstellung eines Autorbewusstseins vermischt, das sich in seinen Ausformungen als neutraler Erzähler [povestvovatel’], 1 2
Vgl. Michail Bachtin, Problemy po!tiki Dostoevskogo [Die Probleme der Poetik Dostoevskijs], Moskva 1963. Vladimir Svitel’skij, Metod Dostoevskogo i problema avtorskoj aktivnosti [Die Methode Dostoevskijs und das Problem der Autoraktivität]. In: Voprosy literatury i fol’klora, Vorone" 1969, S. 14–15.
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sprachlich markierter Erzähler [rasskaz!ik], Ich-Erzähler [rasskaz!ik-geroj], Chronist usw. manifestiert.III Diese Form des Autorbewusstseins ist in der Tat dem Bewusstsein der Helden gleichberechtigt; die ideologische und sprachliche ZoneIV des ersteren ist nur eine unter anderen. Und sie beherrscht die Helden keineswegs, sondern ist wie diese Objekt der Darstellung durch den Autor und Gegenstand der Analyse. In den Romanen Dostoevskijs allerdings ist der Autor als Träger der Konzeption des gesamten Werks durchaus aktiv.V Das haben die Untersuchungen von Jakov Zundelovi! und Aleksej "i!erin gezeigt, die die subjektgebundenen Ausdrucksformen des Autorbewusstseins bei Dostoevskij zum Gegenstand haben. Außerdem sind die Arbeiten von Aleksej Belkin, Leonid Grossman, Arkadij Dolinin, F. I. Evnin, Valerij Kirpotin, Vladimir Svitel’skij und Georgij Fridlender zu erwähnen, in denen nicht-subjektgebundene Formen des in seinem Schaffen zum Ausdruck kommenden Autorbewusstseins analysiert werden.VI Die Auseinandersetzungen um die Konzeption Bachtins wären womöglich fruchtbarer gewesen, wenn seiner Zeit die oben aufgezeigte terminologische Unklarheit bemerkt worden wäre.VII Definiert man den Autor als Träger der Konzeption, die sich im ganzen Werk ausdrückt, dann muss man unbedingt akzeptieren, dass der Autor [61] nicht unmittelbar in den Text eingehen kann: Er wird immer durch Formen vermittelt, die subjektgebunden oder nicht-subjektgebunden sein können. Die Vorstellung vom Autor entsteht aus diesen Formen, ihrer Auswahl und Kombination. Eine weiterführende Ausarbeitung einer Theorie der literarischen Gattungen setzt daher die Erstellung einer Typologie dieser Ausdrucksformen des Autorbewusstseins voraus. In Anwendung auf das Epos wurde diese Aufgabe bereits von Bachtin und Zundelovi! in ihren Untersuchungen begonnen. Bachtin hat eine gut aufgebaute und sehr differenzierte Klassifikation von Typen des Prosaworts vorgelegt, der die Vorstellung von der subjektgebundenen Funktion von Aussagen zugrunde liegt. Zundelovi! bedient sich eines differenzierten Systems von Bezeichnungen für die Redesubjekte in den Romanen Dostoevskijs.3 Die Untersuchung dieser (expliziten und impliziten) Systematisierungen der Redesubjekte in den Arbeiten der oben genannten Wissenschaftler (die zur Klassifikation genutzten Prinzipien, die Festlegung von Extension und Semantik der jeweiligen Begriffe usw.) verspricht ertragreich zu sein. Entsprechende Arbeiten nützen nicht nur der Lösung des hier zur Rede stehenden 3
Jakov Zundelovi!, Romany Dostoevskogo, Ta#kent 1963.
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Problems, sondern dienen auch als Material für eine noch nicht geschriebene Geschichte der sowjetischen Philologie. Wie verschiedenartig die Redesubjekte sein können, sollte zudem unmittelbar am Material unter Einbeziehung sowohl der klassischen russischen als auch der sowjetischen und ausländischen Erzählprosa untersucht werden. Für die Erforschung der subjektgebundenen Formen müsste die Frage leitend sein, in welcher Beziehung Redesubjekte und Autor stehen, das heißt letztlich, wie sich die Autorposition durch die Subjektorganisation des Werks ausdrückt. Prinzipielle Bedeutung kommt dabei der bisher noch nicht ausreichend gewürdigten Arbeit Irina Semenkos zu, die als eine der ersten in der russischen Literaturwissenschaft am Material von Eugen Onegin die Beziehung des Autors zu den Redesubjekten im epischen Werk untersucht hat.VIII Die hier angewandte, originelle Analysemethode ist von allgemeiner Bedeutung und sollte daher gesondert untersucht werden.4 Im Folgenden wollen wir einige Überlegungen zur Beziehung von Redesubjekten und Autor anstellen, die als Ausgangspunkt für die weitere Arbeit dienen können. Jedes epische Werk stellt einen Text dar, der einem oder mehreren Redesubjekten zugehört. Das Redesubjekt steht in umso größerer Nähe zum Autor, je stärker es im Text aufgeht und in ihm unbemerkt bleibt. In dem Maße aber, in dem [62] das Subjekt der Rede auch zum Objekt derselben wird, entfernt es sich vom Autor. Je deutlicher das Redesubjekt eine bestimmte Persönlichkeit darstellt mit einer charakteristischen Redeweise, 4
Irina Semenko, Avtor v „Evgenii Onegine“ [Der Autor in „Eugen Onegin“], Kandidatendissertation, Leningrad 1947; dies., O roli obraza avtora v „Evgenii Onegine“ [Zur Rolle des Autors in „Eugen Onegin“]. In: Trudy Leningradskogo bibliote!nogo instituta im. N. K. Krupskoj, Bd. II, Leningrad 1957. Zum Problem der Wechselbeziehung von Autor und Redesubjekt im epischen Werk siehe auch: Viktor Vinogradov, O jazyke chudo"estvennoj literatury [Zur Sprache der Literatur], Moskva 1959; Lidija Ginzburg, Tvor!eskij put’ Lermontova [Lermontovs Schaffensweg], Leningrad 1940; dies., „Byloe i dumy“ Gercena [Herzens „Erlebtes und Gedachtes“], Leningrad 1957; Grigorij Gukovskij, Realizm Gogolja [Gogol’s Realismus], Moskva 1959; Boris Korman, Avtorskaja pozicija v po!me N. A. Nekrasova „Sa"a“. (K voprosu o sootno"enii liriki i !posa Nekrasova) [Die Autorposition in Nekrasovs Poem „Sa"a“. Zum Verhältnis von Lyrik und Epos bei Nekrasov]. In: Problema avtora v chudo"estvennoj literature. Vyp. 2, Vorone# 1969; Georgij Makagonenko, Radi#!ev i ego vremja [Radi"$ev und seine Zeit], Moskva 1956.
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mit Eigenschaften und Biographie, umso weniger unmittelbar kommt die Autorposition zum Ausdruck. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, der neutrale Erzähler [povestvovatel’] stünde dem Autor näher als andere Redesubjekte, während der persönliche Erzähler [rasskaz!ik] im Skaz dem Autor fern sei.IX In Werken, in denen der ganze Text mit Ausnahme der Figurenrepliken dem neutralen Erzähler zuzurechnen ist, drückt sich die Autorposition überwiegend durch den Erzählertext aus; doch selbst dann fallen Autor und Erzähler nicht zusammen. Die Autorposition ist immer reicher als die Position des Erzählers: Sie drückt sich nicht vollständig in einem einzelnen Redesubjekt aus, wie nahe dieses dem Autor auch immer sein mag, sondern durch die gesamte subjektgebundene und nicht-subjektgebundene Textorganisation. Die Subjektorganisation des Werks besteht in der Korrelation von Text und Redesubjekten. Dabei muss zwischen formaler und inhaltlicher Subjektorganisation des Textes unterschieden werden. Die formale Subjektorganisation meint die Korrelation einzelner Textteile mit den Trägern der Rede, die durch formale Kennzeichen (den Grad ihrer Explizitheit im Text) bestimmt sind. Unter inhaltlicher Subjektorganisation des Textes ist die Korrelation von Text und Trägern der Rede zu verstehen, die weniger durch den Grad ihrer Explizitheit bestimmt sind als vielmehr durch ihre Beziehung zur Welt und durch ihren Stil. Die Untersuchung der Autorposition setzt die Bestimmung der Beziehung zwischen formaler und inhaltlicher Subjektorganisation des Textes voraus. Die Aufgabe besteht darin, nach der Beschreibung und Klassifizierung eines ausreichend umfassenden Materials eine Typologie der Subjektorganisation des Textes aufzustellen und die Verbindung der einen oder anderen Variante mit Methoden, Richtungen und Individualstilen festzustellen.5 Da sich das Autorbewusstsein nicht nur in subjektgebundenen, sondern auch in nicht-subjektgebundenen Formen ausdrückt, stellt sich als Aufgabe, die unterschiedlichen Kombinationstypen dieser Formen zu untersuchen: ihre Abhängigkeit von der Weltsicht des Schriftstellers, der konkreten ideell-künstlerischen Aufgabe, vor die er sich gestellt sieht, den Erfordernissen der Methode usw. 5
Von der Produktivität der Unterscheidung einer formal subjektgebundenen von einer inhaltlich subjektgebundenen Textorganisation zeugt insbesondere die Arbeit von L. I. Zjubina, O nekotorych formach avtorskogo povestvovanija v rasskazach A. P. Platonova [Zu einigen auktorialen Erzählformen in den Erzählungen Platonovs]. In: Tvor!estvo A. Platonova, Vorone" 1970.
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Außerdem könnte sich der Versuch lohnen, die bedeutendsten Arbeiten zur Romantheorie unter dem Aspekt der Autorproblematik zu betrachten. Wir haben dabei vor allem die Arbeiten von Vladimir Dneprov und Aleksej !i"erin im Auge.6 Dneprov konzipiert den Roman als besondere Gattungsform, in der das epische, lyrische und dramatische Element synthetisiert werden. Diese Konzeption hilft, [63] vieles in der Struktur der modernen Erzählprosa besser zu verstehen. Als aussichtsreich könnte sich der Versuch erweisen, die Subjektorganisation zu untersuchen, die den im Roman zusammengeschweißten Gattungselementen adäquat ist. Eine derartige Arbeit brächte eine Präzisierung der Formen und Funktionen eines jeden Gattungselements im Rahmen des Romanwerks mit sich. Wir wollen diesen Gedanken am Beispiel des Subtexts erläutern. Der Begriff Subtext [podtekst] hat in den letzten Jahren begonnen, sich von einem metaphorischen Bild mit uneindeutigem Inhalt in einen wissenschaftlichen Terminus mit mehr oder weniger klar konturierter Bedeutung zu wandeln. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat Tamara Sil’man unternommen, die auf den Subtext als Kompositionsmoment aufmerksam gemacht hat.7 Unter Subtext versteht sie denjenigen Inhalt oder diejenige Textschicht, die durch Wiederholung („Auftauchen“) bestimmter Elemente entsteht. Die Eigenart dieser Elemente, ihre Zusammensetzung und ihre Typologie sind noch nicht erforscht. Soweit der derzeitige Stand der Arbeit.X Wir neigen dazu, den Subtext als eine Erscheinungsform des lyrischen Elements innerhalb des Romans anzusehen. Die Dominanz eines der drei Elemente (des epischen, lyrischen oder dramatischen) zieht strukturelle Veränderungen des Ganzen nach sich. Sie begründet eine Gattungstypologie innerhalb der Textart Roman und kann zudem die Grundlage liefern, auf der sich eine Typologie der Subtexte erstellen ließe. Extremfälle sind diejenigen Subtexte im Roman, in denen epische oder lyrische Elemente dominieren. Folgende Momente sind hier zu untersuchen:
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Siehe Vladimir Dneprov, Problemy realizma [Die Probleme des Realismus], Leningrad 1960; Aleksej !i"erin, Vozniknovenie romana-!popei [Die Entstehung der Romanepopöe], Moskva 1958. Siehe Tamara Sil’man, Podtekst – #to glubina teksta [Subtext als Tiefentext]. In: Voprosy literatury, Nr. 1, 1969; dies., Podtekst kak lingvisti"eskoe javlenie [Subtext als linguistisches Phänomen]. In: Filologi"eskie nauki, Nr. 1, 1969.
Zur Autor-Theorie
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1. Was genau wiederholt sich? 2. Welche Funktionen hat diese Wiederholung? 3. Welche Verbindungen gehen die Subtextelemente mit dem Kontext ein? 4. In welchem Abstand treten die Subtextelemente auf, und welcher inhaltliche Effekt entsteht durch Veränderung des Abstands? 5. Welche Subjektorientierung haben die Subtextelemente? Die Frage nach den Ausdrucksformen des Autorbewusstseins in der Lyrik ist dank den Arbeiten Dmitrij Maksimovs, Nikolaj Stepanovs und besonders Lidija Ginzburgs* schon zu großen Teilen beantwortet.8 Eine dieser Formen hat die Bezeichnung „lyrischer Held“ [liri!eskij geroj] erhalten und wurde von Ginzburg inhaltlich umfassend und anhand einer Fülle von Beispielen bestimmt.XI Die Untersuchung einer weiteren Ausdrucksform des Autorbewusstseins enthält allerdings noch viel Fragliches und Unklares. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Terminologie. Diese Form des Autorbewusstseins wird in Absetzung zum lyrischen Helden mit dem Terminus „Autor“ bezeichnet. Eine solche Begriffsverwendung ist natürlich wenig wünschenswert, da sie zu einer Verwechslung von Begriffen unterschiedlicher Ebenen führt. Annehmbarer erscheint uns die Wortverbindung „poetische Welt“. Um sie als Terminus einzuführen, ist es zuerst einmal notwendig, [64] sie von ähnlichen Erscheinungen in epischen Werken oder im Roman abzugrenzen.9 Die weitere Untersuchung setzt dann eine Funktionsbestimmung des „Ich“ in der poetischen Welt voraus. Gemeint ist damit auch die Bestimmung der Gruppe von Funktionen, die die Lyrik als Ganzes ausmacht, sowie der Versuch, eine Typologie einiger ausgewählter konstanter Funktionsgruppen zu erstellen. Parallel dazu müssen die Wechselbeziehungen des Blicks auf die Welt, der durch das 8
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Siehe Dmitrij Maksimov, O lirike Lermontova [Zur Lyrik Lermontovs]. In: Literaturnaja u!eba, Nr. 1, 1939; ders., Po"zija Lermontova [Die Dichtung Lermontovs], Leningrad 1959; Nikolaj Stepanov, Lirika Pu#kina [Die Lyrik Pu"kins], Moskva 1959; Lidija Ginzburg, O lirike [Über die Lyrik], Moskva/Leningrad 1964. „Die Vorstellung einer poetischen Welt setzt sich aus der Vorstellung von der den Dichter unmittelbar umgebenden Lebenssphäre und dem besonderen Charakter seiner poetischen Sichtweise zusammen“ (N. A. Remizova, Poeti!eskij mir kak forma vyra#enija avtorskogo soznanija v tvor!estve A. T. Tvardovskogo [Die poetische Welt als Ausdrucksform des Autorbewusstseins im Werk A. T. Tvardovskijs]. In: Problema avtora v chudo$estvennoj literature, Bd. 1, Vorone# 1967). Vgl. den Begriff „Bild der Welt des Künstlers“ in Zundelovi!s Untersuchung von Erzähltexten (1963, 180–181).
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„Ich“ ausgedrückt wird, und des unpersönlich ausgedrückten Blicks auf die Welt untersucht werden. Ein besonderer Aufgabenkomplex entsteht, will man die Lyrik als System untersuchen. Eine wichtige Rolle kommt hierbei den Arbeiten Grigorij Gukovskijs zu. Seine Bemühungen um die Formulierung einer allgemeinen Theorie des literarischen Systems sowie einer spezifischen Theorie des lyrischen Systems sind von grundlegender Bedeutung sowohl für die zeitgenössische Literaturtheorie als auch die konkrete literarhistorische Arbeit.10 Schon mit der Einführung der Begriffe „lyrischer Held“ und „poetische Welt“ geht der Literaturwissenschaftler (explizit oder implizit) von der Vorstellung eines Systems aus, das von der Gesamtheit der lyrischen Gedichte eines Dichters gebildet wird, die durch ein bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit und durch ihren künstlerischen Bau miteinander verbunden sind. Dieses lyrische System wird durch das Autorbild [obraz avtora] organisiert.XII Je nachdem in welchem Verhältnis Autor und Ausdrucksformen des Autorbewusstseins zueinander stehen, sind unterschiedliche Typen lyrischer Systeme feststellbar. So gibt es Fälle, in denen der Autor sich durch eine einzige Form ausdrückt und sich das System in dieser einen Form erschöpft: Er steht vor uns entweder nur als lyrischer Held oder nur in der Form der poetischen Welt. Diese lyrischen Systeme nennen wir im Folgenden eingliedrig. In anderen Fällen drückt der Autor sich durch Auswahl, Kombination und Korrelierung unterschiedlicher Formen aus. Diese lyrischen Systeme nennen wir vielgliedrig. Die Untersuchung dieser vielgliedrigen lyrischen Systeme setzt die Isolierung der Glieder und die Charakterisierung der Systemstruktur voraus. Unter einem Glied des lyrischen Systems verstehen wir die Menge der Gedichte, die durch eine ganz bestimmte Ausdrucksform des Autorbewusstseins miteinander verbunden sind. Mit Struktur des lyrischen Systems bezeichnen wir das Verbindungsnetz zwischen den Gliedern. Die Untersuchung einer möglichst großen Zahl vielgliedriger lyrischer Systeme sollte die erste Etappe der Arbeit
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Siehe unseren Artikel Nekotorye predposylki izu!enija obraza avtora v liri!eskoj po"zii (ponimanie liriki kak sistemy) [Einige Voraussetzugnen für die Untersuchung des Autorbildes in der lyrischen Dichtung (Lyrik als System)]. In: Problema avtora v chudo#estvennoj literature, Bd. 1. Vorone! 1967.
Zur Autor-Theorie
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darstellen.11 Dies wird im Weiteren erlauben, eine Typologie vielgliedriger Systeme zu erstellen.12 Prinzipien und Wege der Isolierung von Subsystemen und ihren Korrelationen innerhalb eines eingliedrigen lyrischen Systems wurden bisher noch sehr wenig untersucht. Beachtung, Verallgemeinerung und Fortsetzung verdient der Ansatz Boris Buch!tabs*, der die Lyrik Tjut"evs als [65] Wechselbeziehung dreier grundlegender emotionaler Komplexe auffasst, die sich in drei Weltbildern realisieren.13 Dramatische Werke stellen, will man in ihnen die Autorposition bestimmen und die Ausdrucksformen des Autorbewusstseins beschreiben, im Vergleich zu Epos und Lyrik eine Schwierigkeit dar. Auf den ersten Blick mag es sogar erscheinen, als bestünde eine undurchdringliche Grenze zwischen Drama einerseits und Roman und lyrischem System andererseits. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass es durchaus Entsprechungen gibt und dass man, wenn man von den bereits charakterisierten Textformen ausgeht, sich dem Verstehen des Dramas nähern kann. Wie für die übrigen Gattungen ist auch für das Drama eine subjektgebundene und sujet-kompositionelle Organisation charakteristisch. Im Drama gibt es zwei grundlegende Ausdrucksmittel des Autorbewusstseins: auf der Wortebene und auf der Sujet- oder Kompositionsebene. Der Autor kann seine Position erstens durch die Stellung und Wechselbeziehung der Teile und zweitens durch die Rede der handelnden Personen übermitteln. Nachdem wir diese Vorbemerkungen gemacht haben, kann hier nun der Versuch unternommen werden, Gattungsbestimmungen für dramatische Werke nach Vorherrschaft und Kombination von Ausdrucksformen des Autorbewusstseins vorzunehmen. Für das epische Drama ist charakteristisch, dass die formal subjektgebundene und die inhaltlich subjektgebundene Textorganisation nicht zu11 12
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Zur Untersuchung eines vielgliedrigen lyrischen Systems siehe unser Buch Lirika N.A. Nekrasova [Die Lyrik Nekrasovs], Vorone# 1964. Besondere Beachtung verdienen die Fälle, in denen das vielgliedrige lyrische System als Subsystem einer komplexeren Formation auftritt. Unter dieser Perspektive lässt sich z. B. die Gattungsdifferenzierung in Nekrasovs Dichtung untersuchen. Siehe: Boris Buch!tab, F. I. Tjut"ev. In: Fedor Tjut"ev, Polnoe sobranie stichotvorenij, Leningrad 1959.
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sammenfallen: In den Reden der handelnden Hauptpersonen ist das Spezifische, das, was durch die Persönlichkeit (durch Charakter, Beruf, gesellschaftliche Stellung, Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu und dergleichen) bestimmt wird, geglättet oder abgeschwächt. Es dominiert ein allgemeiner Redestil, hinter dem unmittelbar der Autor steht.14 Im lyrischen (romantischen) Drama hingegen steht der Autor direkt hinter dem Haupthelden und seinen Reden. Hier kann als Ausdrucksmittel für das Autorbewusstsein auch die Spannung der Sujetführung dienen. Für das eigentliche Drama ist der tendenzielle Zusammenfall von formal und inhaltlich subjektgebundener Textorganisation charakteristisch: Jeder Held hat für gewöhnlich seine eigene Redeweise, die durch seinen Charakter, seine gesellschaftliche Position usw. bestimmt wird. Der Autor steht hier in der Regel nicht unmittelbar hinter den Reden seiner Helden, und daher übernimmt in diesem Fall die sujet-kompositionelle Organisation des Materials eine bedeutende Rolle als Ausdrucksmittel des Autorbewusstseins. Die hier vorgeschlagene Klassifizierung dramatischer Werke stellt nur eine erste Skizze dar; im Weiteren [66] ist eine konsequente Darlegung und eine umfassende Überprüfung am Material erforderlich. Gleichzeitig gilt es zu versuchen, eine durchgehende, gattungsübergreifende Typologie subjektgebundener und nicht-subjektgebundener Ausdrucksmittel für das Autorbewusstsein zu erstellen, für die unsere im vorliegenden Aufsatz angeführten Beispiele Einzelfälle darstellen. Wir haben nur einen Teil der Fragen berührt, vor die sich Wissenschaftler gestellt sehen, die mit dem Autorproblem befasst sind. In unserem Überblick nicht berücksichtigt werden konnten spezifische Forschungsrichtungen, die eine besondere Detailbetrachtung erfordern (z. B. das Autorbewusstsein in der Folklore15, in der satirischen Literatur16 und in der Kritik 14
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T. L. Gurina unternimmt in ihrem Artikel den Versuch, das Autorbewusstsein in einem solchen Drama zu untersuchen: dies., !pi"eskoe na"alo v tragedijach #. Rasina kak sredstvo vyra$enija avtorskoj pozicii [Das epische Prinzip in den Tragödien Racines als Ausdrucksmittel der Autorposition]. In: Problema avtora v chudo!estvennoj literature, Bd. 1, Vorone$ 1967. Siehe G. A. Jachina, Puti i metody izu"enija „obob%"enno-li"noj sub’’ektivnosti“ v fol’klornoj lirike [Wege und Methoden einer Untersuchung der ,allgemein-persönlichen Subjektivität‘ in der folkloristischen Lyrik]. In: Problemy avtora v chudo!estvennoj literature, Bd. 3, Vorone$ 1971.
Zur Autor-Theorie
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und Publizistik17, eine historische Typologie der Ausdrucksformen des Autorbewusstseins18, die raum-zeitliche Organisation des Werks 19, „Perspektive“20 u. a.). Aber auch das Gesagte reicht schon aus, um sich davon zu überzeugen, wie groß das noch nicht untersuchte Gebiet und wie weit das Tätigkeitsfeld ist, das sich unserer Wissenschaft eröffnet.21 —————————
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Siehe: Ja. E. !l’sberg, Stil’ !"edrina [Der Stil "#edrins], Moskva 1940; Valerij Kirpotin, M. E. Saltykov-!"edrin. #izn‘ i tvor"estvo [Saltykov-"#edrin. Leben und Werk], Moskva 1959; A. S. Bu$min, Satira Saltykova-!"edrina [Die Satire Saltykov-"#edrins], Moskva/Leningrad 1959; V. Mysljakov, Iskusstvo satiri"eskogo povestvovanija [Die Kunst des satirischen Erzählens], Saratov 1966; A. Bo#arov, Saltykov-!"edrin. Polemi"eskij aspekt satiry [Saltykov-"#edrin. Der polemische Aspekt der Satire], Saratov 1967. Siehe: B. F. Egorov, O forme literaturno-kriti#eskich statej N. A. Dobroljubova [Zur Form der literaturkritischen Arbeiten Dobroljubovs]. In: U"enye zapiski Tartuskogo universiteta, Bd. 43, 1956. K. G. Petrosov, O formach vyra%enija avtorskogo soznanija v liri#eskoj po&zii [Ausdrucksformen des Autorbewusstseins in der lyrischen Dichtung]. In: Russkaja sovetskaja po$zija i stichotvorenija, Moskva 1969. Siehe im Besonderen die wegweisende Arbeit Jurij Lotmans*, Problemy chudo%estvennogo prostranstva v proze Gogolja [Probleme des künstlerischen Raums in der Prosa Gogol’s]. In: Trudy po russkoj i slavjanskoj filologii, Vyp. 209, 1968 [Auszüge daraus in diesem Bd. S. 261–271; Anm. d. Übers.]. Mit der Arbeit von Boris Uspenskij* liegt eine differenzierte Klassifikation der Perspektiven, verbunden mit einer ungenauen Benennung der Redesubjekte und der Vermengung unterschiedlicher Bedeutungen des Begriffs „Autor“ vor (Boris Uspenskij, Po$tika kompozicii [Poetik der Komposition], Moskva 1970). Der vorliegende Aufsatz war bereits im Druck, als wir von dem gerade erst erschienenen Buch Viktor Vinogradovs* Zur Theorie der künstlerischen Sprache Kenntnis erhielten, in dem das Autorproblem unter dem Gesichtspunkt einer Wissenschaft von der literarischen Sprache behandelt wird (Viktor Vinogradov, O teorii chudo%estvennoj re"i, Moskva 1971) [Auszüge daraus in diesem Bd., S. 195–197; Anm. d. Übers.].
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II. Auszüge aus: Die Einheit des literarischen Werks. Ein experimentelles Wörterbuch literaturwissenschaftlicher Termini I. Vorbemerkung […] [172] Die Auffassung, das literarische Werk sei eine Einheit, findet im begrifflich-terminologischen Bereich keine logische Entsprechung; die einzelnen Begriffe und Begriffsgruppen existieren für den Literaturwissenschaftler isoliert, ohne ein System zu bilden. […] Eine unzusammenhängende Terminologie spiegelt Schwachstellen und Lücken einer an einem Untersuchungsobjekt ausgerichteten Theoriebildung wider, oder sie ist die Folge davon. Allerdings existiert Terminologie auch in gewissem Maße unabhängig, folglich kann ihr Status zudem auf die Qualität der Theorie zurückwirken, die diese Terminologie hervorbringt. [173] Seit einigen Jahren arbeite ich gemeinsam mit einer Gruppe von Mitarbeitern zuerst in Borisoglebsk, dann in I!evsk an einer systemhaften Auffassung des literarischen Werks, für die sich die wenn auch nicht ganz zutreffende Bezeichnung Autor-Theorie (Problem des Autors) etabliert hat. Die grundlegenden Prinzipien dieser Arbeit haben wir im Artikel Das Problem des Autors: Forschungsergebnisse und Perspektiven22 dargelegt, und die Ergebnisse wurden in einer Reihe von Monographien und kollektiven Aufsatzbänden zur Diskussion gestellt. Bei aller Unterschiedlichkeit des Materials haben diese Untersuchungen einen gemeinsamen Zugang und tendenziell eine einheitliche Terminologie. Über den bisher erreichten Stand der Vereinheitlichung des terminologischen Apparats mag man anhand des experimentellen Wörterbuchs literaturwissenschaftlicher Termini urteilen, zu dem diese Vorbemerkungen die Einleitung darstellen. […] II. Das Wörterbuch AUTOR – das Bewusstseinssubjekt (der Träger des Bewusstseins), dessen Ausdruck das ganze Einzelwerk oder die Gesamtheit der Einzelwerke darstellt. Der Autor, versteht man ihn in diesem Sinne, ist zu unterscheiden vor allem vom biographischen Autor, von dem Menschen, der real 22
Siehe den Sammelband Stranicy istorii russkoj literatury, Moskva 1971 [siehe den vorangehenden Auszug in diesem Bd.; Anm. d. Übers.].
Zur Autor-Theorie
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existiert oder existiert hat. Die Wechselbeziehung des biographischen Autors zum Autor, dessen Ausdruck das Werk oder die Gesamtmenge von Werken darstellt, entspricht im Prinzip der Wechselbeziehung zwischen Lebensmaterial und künstlerischem Werk überhaupt: Der reale, biographische Autor (Schriftsteller), der sich nach einer gewissen Konzeption der Wirklichkeit richtet und von bestimmten normativen und epistemologischen Einstellungen ausgeht, schafft mit Hilfe der Vorstellungskraft, der Auswahl und Bearbeitung des Lebensmaterials den künstlerischen (konzipierten) Autor. Die andersartige Daseinsform eines solchen Autors, seine Vermitteltheit, wird durch das Kunstphänomen als ganzes geleistet, durch das literarische Werk. Der Autor geht nicht unmittelbar in das Werk ein: Welches Textstück auch immer wir betrachten, wir können in ihm den Autor nicht unmittelbar entdecken; wir können lediglich von seiner mehr oder weniger komplexen Vermitteltheit durch Subjekte sprechen. Je größer der Textabschnitt ist, umso komplexer ist im Prinzip die Vermittlung des Autors über Subjekte. Wenn wir dann das Werk als ganzes betrachten, gründet sich der Autor auf die gesamte Subjektorganisation. Natürlich drängt sich die Frage auf: Wie hängen die Bewusstseinssubjekte und der Autor zusammen, inwieweit bringen sie die Autorposition zum Ausdruck? Die Nähe des Bewusstseinssubjekts zum Autor ist umso größer, je stärker das Subjekt im Text aufgelöst ist und nicht auffällt. In dem Maße, in dem das Bewusstseinssubjekt Objekt des Bewusstseins wird, entfernt es sich vom Autor. Das heißt, je mehr es eine bestimmte Persönlichkeit mit einem eigenen Redegestus, mit einem Charakter und einer Biographie wird, desto geringer ist der Grad der Unmittelbarkeit, mit dem das Bewusstseinssubjekt die Autorposition zum Ausdruck bringt. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, der neutrale Erzähler [povestvovatel’] in epischen Werken befinde sich in größerer Nähe zum Autor als die anderen Bewusstseinssubjekte, der persönliche Erzähler [rasskaz!ik] in einem Skaz-Werk hingegen in größerer Entfernung. Im System der Lyrik steht dem Autor der eigentliche Autor [sobstvenno avtor] am nächsten, am weitesten sind von ihm die Helden der Rollendichtung entfernt. In dramatischen Werken nimmt die größte Nähe zum Autor das Bewusstseinssubjekt ein, ihm sind der Text der Überschrift und die Aufzählung der handelnden Figuren, d. h. die „Bühnenanweisungen des Autors“, zuzuschreiben. Im vorrealistischen Drama treten spezielle Figuren auf, die als Verkünder der Ideen des Autors konzipiert sind: der Räsoneur im klassizistischen Drama, die positiven Haupthelden im lyrischen Drama der Romantik.
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BEWUSSTSEINSSUBJEKT – derjenige, dessen Bewusstsein im jeweiligen Textabschnitt zum Ausdruck kommt. DIREKT-AXIOLOGISCHE PERSPEKTIVE – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die ihren Ausdruck in direkten auf das Objekt gerichteten Bewertungen findet. EIGENTLICHER AUTOR [sobstvenno avtor] – eines der Bewusstseinssubjekte, die für die Lyrik charakteristisch sind. Er ist, wie der lyrische Held, durch eine direkt-axiologische Perspektive mit seinen Objekten verbunden. Aber im Unterschied zum lyrischen Helden ist der eigentliche Autor nicht sein eigenes Objekt. In Gedichten mit eigentlichem Autor steht für den Leser nicht dieser Autor selbst im Vordergrund, sondern ein Ereignis, eine Gegebenheit, eine Situation, eine Erscheinung oder eine Landschaft. Der eigentliche Autor tritt hier als Mensch auf, der die Landschaft sieht, die Gegebenheit darstellt, die Situation erzeugt und der, und das ist das Wichtigste, seine Beziehung zu allem Beschriebenen zum Ausdruck bringt. Bei einer unmittelbaren Rezeption dieser Gedichte konzentriert sich die vorrangige Aufmerksamkeit des Lesers nicht auf den Inhalt der inneren Welt des eigentlichen Autors, sondern auf die Objekte und ihre direkte Bewertung. Die Frage danach, wessen Welt dies sei und wem die Werturteile zuzuschreiben seien, kommt erst bei einer Analyse auf. Der Grad der Implizitheit des eigentlichen Autors kann unterschiedlich sein. Im bekannten Umfang wird er durch die Wahl der Personalpronomen bestimmt. So kann es Fälle geben, in denen der eigentliche Autor als „Ich“ gar nicht in Erscheinung tritt: Er scheint überhaupt nicht zwischen dem Leser und dem Dargestellten zu existieren; die ganze Darstellung ist in der 3. Person gehalten (Tjut!ev, In der Trennung liegt eine hohe Bedeutung [„V razluke est’ vysokoe zna!en’e“]). In anderen Gedichten wird der Träger des Bewusstseins genannt: Er ist durch Personalpronomen der 1. Person Singular markiert (Lermontov, Es gibt Reden von Bedeutung [“Est’ re!i — zna!en’e“]) oder durch Pronomen der 1. Person Plural (Nekrasov, Hohes Gefühl [„Velikoe !uvstvo“]). In allen diesen Fällen erfassen wir den eigentlichen Autor weniger durch die direkte Darstellung seiner inneren Welt als vielmehr durch die emotionale Einfärbung des lyrischen Monologs, durch die Auswahlprinzipien, die Bewertung und die Darstellung des Lebensmaterials, durch den besonderen Blickwinkel und die Beleuchtung der Wirklichkeit.
Zur Autor-Theorie
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ERLEBTE REDE [nesobstvenno-prjamaja re!’]XIII – Mittel zur Einführung eines sich vom Bewusstsein des Erzählers [povestvovatel’] unterscheidenden fremden Bewusstseins in den Erzähltext des Prosawerks. Dieses fremde Bewusstsein entspricht in der Regel dem Bewusstsein eines der Helden. Die erlebte Rede ist das Ergebnis eines Einschlusses von überwiegend durch die phraseologische Perspektive organisiertem Text in einen Text, der hauptsächlich durch räumliche und zeitliche Perspektive organisiert ist. Der Einschluss geht dabei nicht mit dem Wechsel des Redesubjekts einher: Die durch unterschiedliche Bewusstseinssubjekte organisierten Texte haben dasselbe Redesubjekt. Die erlebte Rede ist eines der Mittel, mit deren Hilfe die Vorherrschaft der inhaltlichen Subjektorganisation über die formale Subjektorganisation in der realistischen Literatur sichergestellt wird. [OBJEKTIVER] ERZÄHLER [povestvovatel’] – Bewusstseinssubjekt, das in der epischen Prosa vorherrscht. Es ist mittels der räumlichen und zeitlichen Perspektive mit seinen Objekten verbunden und in der Regel im Text nicht wahrnehmbar, was durch Vermeidung einer phraseologischen Perspektivierung erreicht wird. Der Erzähler, der durch Personalpronomen der 1. Person Singular markiert ist („ich“), wird persönlicher Erzähler genannt. In der Lyrik kommt zur räumlichen und zeitlichen Perspektive, durch die der Erzähler mit seinen Objekten verbunden ist, noch die direktaxiologische hinzu. [SUBJEKTIVER] ERZÄHLER [rasskaz!ik] – Bewusstseinssubjekt, das für das dramatische Epos charakteristisch ist. Er steht wie der [unmarkierte] Erzähler [povestvovatel’] in räumlichen und zeitlichen Beziehungen zu seinen Objekten. Gleichzeitig tritt diese Art von Erzähler in phraseologischer Perspektive selbst als Objekt auf. FORMALE SUBJEKTORGANISATION DES WERKS – das Bezugssystem aller, in ihrer Gesamtheit das jeweilige Werk bildenden Textabschnitte mit den ihnen zugehörenden Redesubjekten. INDIREKT-AXIOLOGISCHE PERSPEKTIVE (im Gegensatz zur direktaxiologischen) – räumliche, zeitliche und phraseologische Perspektive. Jede dieser Perspektiven weist, indem sie eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in einer bestimmten Sphäre fixiert, dem Objekt gleichzeitig auch eine Bewertung zu.
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INHALTLICHE SUBJEKTORGANISATION DES WERKS – das Bezugssystem aller in ihrer Gesamtheit das jeweilige Werk bildenden Textabschnitte mit den ihnen entsprechenden Bewusstseinssubjekten. KOMPOSITION – Beziehungsgeflecht zwischen den Sujets, die in ihrer Gesamtheit das ganze Werk umfassen. KÜNSTLERISCHE ZEIT UND KÜNSTLERISCHER RAUM. Raum und Zeit sind im literarischen Werk unmittelbar an ein Subjekt gebunden, d. h. sie sind durch Bewusstseinsträger vermittelt. Diese Unmittelbarkeit hat einen zwiefachen Charakter: Erstens hat der Träger des Bewusstseins eine gewisse Vorstellung (manchmal annähernd, manchmal genau) von Raum und Zeit, und zweitens bewegt sich jedes Bewusstseinssubjekt innerhalb bestimmter raumzeitlicher Grenzen. Die Beziehungen der Vorstellungen des Subjekts von Zeit und Raum einerseits und andererseits von Raum und Zeit zu diesen raum-zeitlichen Grenzen, in denen sich das Subjekt bewegt, sind eines der wesentlichsten Mittel zur Charakterisierung des Bewusstseinssubjekts. Die Vorstellungen des jeweiligen Bewusstseinssubjekts von Zeit und Raum werden durch die zeitlichen und räumlichen Zonen korrigiert, in denen sich das Subjekt bewegt. Doch diese Zonen sind der Kern der Zeit- und Raumvorstellungen, die dem Bewusstseinssubjekt höherer Ordnung eigen sind. Und dieses Subjekt wiederum kann sich ebenfalls innerhalb einer zeitlichen und räumlichen Zone bewegen, die die Vorstellung von jemandem darstellt (Lermontov, B!la). LESER – idealer Adressat eines literarischen Werks, eine konzipierte Persönlichkeit, die kein Element einer empirischen Realität, sondern das einer ästhetischen Realität ist. Ein in diesem Sinne verstandener Leser entspricht dem Autor als Bewusstseinssubjekt, dessen Ausdruck das ganze Werk darstellt, und lässt sich abgrenzen von: 1) dem realen Leser; 2) dem im Text genannten Leser. Der Wahrnehmungsprozess des Werkes durch den realen, biographischen Leser ist ein Prozess, in dem der Leser als Element der ästhetischen Realität herausgebildet wird. An diesem Entstehungsakt eines konzipierten Lesers haben alle Ebenen des literarischen Werks teil. So „drängt“ die direkt-axiologische Perspektive dem Leser eine offen zum Ausdruck kommende Vorstellung von Norm „auf“. Die räumliche Perspektive zwingt den Leser, das und nur das zu sehen, was das Bewusstseinssubjekt sieht. Sie bestimmt seine Positionierung im Raum, seinen Abstand zum Objekt und die Richtung seines Blicks. Das gleiche kann man, mit entsprechenden Abwandlungen, auch von der zeit-
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lichen Perspektive sagen. Die Doppelnatur des Sprechenden in Bezug auf die phraseologische Perspektive setzt auch eine Doppelnatur der dem Leser angebotenen Position voraus. Einerseits verbindet sich der Leser mit dem Sprechenden, indem er nicht nur dessen raum-zeitliche, sondern auch dessen axiologisch-ideologische Position einnimmt. Andererseits ist ihm die Möglichkeit gegeben, sich über den Sprechenden zu erheben, sich von ihm zu distanzieren und ihn in ein Objekt zu verwandeln. Je stärker diese zweite Möglichkeit realisiert wird, umso deutlicher nähert sich der reale Leser dem vom Text postulierten Leser an. Entsprechend ist der Grad der Obligatorik der vom Text vorgeschlagenen Position (der Grad, in dem sie aufgezwungen wird) für jede Perspektive unterschiedlich. Am größten ist er für die direkt-axiologische, am geringsten für die phraseologische. LYRISCHER HELD – eines der Bewusstseinssubjekte, die für die Lyrik charakteristisch sind. Er ist sowohl Subjekt als auch Objekt der direktaxiologischen Perspektive. Der lyrische Held ist Träger des Bewusstseins und gleichzeitig Gegenstand der Darstellung: Er steht offen zwischen dem Leser und der dargestellten Welt. Die Aufmerksamkeit des Lesers ist hauptsächlich darauf gerichtet, welcher Art der lyrische Held ist, wie seine Beziehung zur Welt aussieht, in welchem Zustand er sich befindet, was mit ihm geschieht usw. Für das Bild des lyrischen Helden ist eine gewisse Einheitlichkeit charakteristisch. In erster Linie handelt es sich dabei um eine innere, ideell-psychologische Einheitlichkeit: In unterschiedlichen Gedichten erschließt sich eine einheitliche menschliche Persönlichkeit in ihrer Beziehung zu sich selbst und zur Welt. Mit der Einheitlichkeit dieses inneren Erscheinungsbildes kann eine biographische Einheitlichkeit korrespondieren. In diesem Fall werden die einzelnen Gedichte wie Episoden aus dem Leben eines bestimmten Menschen aufgefasst. Der lyrische Held wird für gewöhnlich als Bild des Dichters verstanden, des real existierenden Menschen: Der Leser identifiziert das Geschöpf mit seinem Schöpfer. Aus dem Gesagten geht hervor, dass man sich anhand eines einzelnen Gedichts kein Urteil über den lyrischen Helden bilden kann: Seine direktaxiologische Zone wird entweder durch das Gesamtwerk eines Dichters [lyrisches System] repräsentiert oder durch einen Zyklus. PERSPEKTIVE – die fixierte Beziehung zwischen Bewusstseinssubjekt und dem Objekt des Bewusstseins. PHRASEOLOGISCHE PERSPEKTIVE – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Sprachsphäre, d. h. zwischen den Sprechweisen von Subjekt
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und Objekt. Aus dieser Definition ergibt sich eine Reihe von Schlussfolgerungen: 1. Nicht jeder Gegenstand, der in den Text eines literarischen Werks eingeht, kann Objekt der phraseologischen Perspektive werden: Dies kann nur der Mensch. Darin unterscheidet sich die phraseologische von den anderen Perspektiven. 2. Nicht jeder Mensch kann Objekt der phraseologischen Perspektive sein, dies kann nur derjenige, der Träger von Rede und Bewusstsein ist. Anders ausgedrückt, in der phraseologischen Perspektive ist das Objekt eines Bewusstseins der Träger eines anderen. So stellen in der Erzählung vom Kapitän Kopejkin (Gogol’, Tote Seelen) der Held selbst, die Schenke, die Koteletts, die Engländerin auf der Straße die Objekte dar, zu denen sich derjenige, der die Geschichte vom Kapitän erzählt, als Subjekt in Beziehung setzt. Er nimmt in der Beziehung zu ihnen eine klare Position in Raum und Zeit ein und ist zudem der Träger der Bewertungen. Die Eigentümlichkeit des Textes besteht nun aber darin, dass derjenige, der erzählt, nicht nur Subjekt ist, sondern durch seine Sprechweise, seine spezifischen Ausdrücke und Intonationen zum Objekt eines anderen, höheren Bewusstseins wird. 3. Nicht jedes Bewusstseinssubjekt kann in der phraseologischen Perspektive Objekt werden, sondern lediglich dasjenige, das der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich ist, unabhängig von und vor jeglicher Analyse. Ein Mittel, mit dem sich das Bewusstseinssubjekt der Wahrnehmung bemerkbar macht und wodurch es in ein Objekt verwandelt wird, ist die Verwendung von stilistisch charakteristischen Sprachressourcen: Lexik und Syntax. 4. Der den Text einfärbenden Sprechweise des Bewusstseinsobjekts steht als Norm die Sprechweise eines höheren Bewusstseinssubjekts gegenüber, die sich letztlich auf stilistisch neutrale Sprachmittel gründet. Doch diese andere als Norm dienende Sprechweise geht nicht unmittelbar in den Text ein: Sie lässt sich nur als Hintergrund der Einfärbung des Textes wahrnehmen, als ihr Gegenteil. 5. Objekte der phraseologischen Perspektive sind die Figuren als Träger direkter Rede im Prosawerk, der Erzähler [rasskaz!ik] im dramatischen Epos und die Personen im Drama. POETISCHE VIELSTIMMIGKEIT – Mittel zur Einführung eines fremden (d. h. von dem im lyrischen Monolog dominanten Bewusstsein divergierenden) Bewusstseins in ein lyrisches Werk. Meistens ist das dominante
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Bewusstsein das des Erzählers, seltener das des lyrischen Helden oder des eigentlichen Autors. Das fremde Bewusstsein wiederum ist für gewöhnlich das Bewusstsein einer Figur. Die poetische Vielstimmigkeit ist das Ergebnis des Einschlusses eines vorherrschend durch die phraseologische Perspektive organisierten Elements in einen Text, der durch die direktaxiologische Perspektive organisiert ist. Dabei wird dieser Einschluss wie bei der erlebten Rede nicht von einem Wechsel des Redesubjekts begleitet; Texte, die durch unterschiedliche Bewusstseinssubjekte organisiert werden, weisen nur ein Redesubjekt auf. Die poetische Vielstimmigkeit ist eines der Mittel, mit deren Hilfe in der realistischen Literatur die Vorherrschaft der inhaltlichen Subjektorganisation über die formale Subjektorganisation sichergestellt wird. PRIMÄRES REDESUBJEKT – dasjenige Redesubjekt, das von keinen anderen Redesubjekten eingeführt wird. RÄUMLICHE PERSPEKTIVE – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Raum. Sie wird durch zwei Momente festgelegt: erstens durch den Abstand zwischen Subjekt und Objekt und zweitens durch ihre wechselseitige Positionierung im Raum, d. h. durch den Blickwinkel. Das Bewusstseinssubjekt kann sich näher am beschriebenen Objekt befinden oder weiter von ihm entfernt: In Abhängigkeit davon verändert sich die allgemeine Ansicht des Gesamtbildes. Sie hängt zudem von der Konventionalität (Unkonventionalität) des gewählten Ausschnittes ab, dessen Veränderung Auswirkungen auf den Charakter der Beschreibung hat. Die räumliche Perspektive wird für gewöhnlich durch visuelle Bilder bestimmt, nach deren Schärfe und Klarheit: Je klarer ein visuelles Bild, je schärfer die Konturen eines Gegenstandes und je großformatiger die Details, umso geringer der Abstand zwischen Subjekt und Objekt. Manchmal werden innerhalb eines Bildes visuelle und akustische Bilder eingesetzt, die sich gegenseitig verstärken (Fet, Es tönte über dem klaren Fluss [„Prozvu!alo nad jasnoj rekoju“]). Verschiedenartige Bilder können innerhalb eines Gesamtbildes unterschiedliche Perspektiven erzeugen. Wenn wir bei Fet lesen: „Auf dem Hügel ist es mal feucht, mal heiß,/ Das Stöhnen des Tags ist im nächtlichen Atem,/ Doch die Dämmerung wärmt schon hell,/ Mit blauem und grünem Feuer“, dann helfen die Empfindungen von Warm und Kalt einen nahe gelegenen Vordergrund zu erzeugen, die Erwähnung der Morgendämmerung dagegen erzeugt eine ferne Dimension. Besondere Erwähnung verdienen die Fälle, in denen sich die verschiedenartigen Bilder nicht auf unterschiedliche Gegenstände beziehen, sondern auf ein und
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dasselbe Objekt. Dadurch entsteht der Eindruck, das Subjekt befände sich gleichzeitig in der Nähe und in der Ferne des Objekts. Fälle, in denen sich die räumliche Perspektive nicht eindeutig festlegen lässt, können mit einer komplexen Subjektgebundenheit des Texts in Zusammenhang stehen (Bunin, Auf dem Nevskijprospekt). REDESUBJEKT – derjenige, dem die Rede im jeweiligen Textabschnitt zuzuschreiben ist. SEKUNDÄRES REDESUBJEKT – Redesubjekt, das vom primären Redesubjekt eingeführt wird. So führt im Beispiel aus Pu!kins Pique Dame „,Das Spiel nimmt mich gefangen‘, sagte Hermann“ der Erzähler [povestvovatel’] (= das primäre Redesubjekt) Hermann ein (er nennt ihn). Dieser wird somit zum sekundären Redesubjekt. SPHÄRE – die Gesamtheit der für das Bewusstseinssubjekt charakteristischen Zonen. SUBJEKTORGANISATION DES WERKS – das Bezugssystem aller in ihrer Gesamtheit das jeweilige Werk bildenden Textabschnitte mit den ihnen entsprechenden Redesubjekten und Bewusstseinssubjekten. Es lässt sich eine formale Subjektorganisation von einer inhaltlichen Subjektorganisation unterscheiden. Die Subjektorganisation tritt zum einen auf der Ebene der Pragmatik auf. Aufgabe der Untersuchung ist hier Isolierung und Beschreibung des Systems von Redesubjekten und Bewusstseinssubjekten samt der entsprechenden Textabschnitte, unabhängig von der Frage ihrer Abfolge, der Logik ihrer Verknüpfung, ihres Wechsels usw. Zum anderen lässt sich die Subjektorganisation auch auf der Ebene der Syntagmatik betrachten. Zu untersuchen sind dann die Isolierung und Beschreibung jener Abfolgen, in denen sich die Redesubjekte und Bewusstseinssubjekte innerhalb eines Werkes befinden, die Abfolgen, die den Wechsel und die Verknüpfung bestimmen und die den Textabschnitten entsprechen, d. h. das Sujet. Die Beschreibung der Subjektorganisation auf der paradigmatischen Ebene ist natürlich die Voraussetzung und Bedingung für eine Untersuchung des Sujets, d. h. die Beschreibung der Subjektorganisation auf der syntagmatischen Ebene. SUJET – die Abfolge von Textabschnitten, die entweder durch ein gemeinsames Subjekt (denjenigen, der wahrnimmt und darstellt), oder durch ein gemeinsames Objekt (das, was wahrgenommen oder dargestellt wird) zusammengehören. Die einfachsten Fälle eines Sujets, die sich durch ihr
Zur Autor-Theorie
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Objekt im Prosawerk feststellen lassen, sind: die Abfolge von Beschreibungen der Handlungen, Landschaften, Porträts usw. Die einfachsten Fälle eines durch das Subjekt charakterisierten Sujets sind: die Abfolge von Abschnitten, die einem einzigen Redesubjekt zugeschrieben (Gar!in, Die Künstler) oder aus der Position eines Bewusstseinssubjekts hervorgebracht werden, z. B. die Abfolge von Abschnitten in Krieg und Frieden, in dem der Text des Erzählers durch das Bewusstsein Andrej Bolkonskijs vermittelt wird. Dies ist ein Beispiel für den weiten Bereich von Fällen, in denen sich beide Merkmale überschneiden: das eines gemeinsamen Subjekts und das eines gemeinsamen Objekts. Es wird über Bolkonskij erzählt (Merkmal: Objekt), es erzählt ein Erzähler [povestvovatel’], der die Position des Helden wiedergibt (Merkmal: Subjekt). Die Objekt- und SubjektMerkmale, die die Subjekteinheiten gliedern, können nicht nur gleich gewichtet, sondern auch auf andere Weise miteinander verbunden sein: Eines von beiden kann als dominant auftreten, das andere als untergeordnet. Innerhalb eines Abschnittes, der eine Einheit eines Objekt-Sujets darstellt, können sich feiner gegliederte Einheiten eines Subjekt-Sujets finden lassen und umgekehrt (Letzteres liegt in Die Künstler vor). Unabhängig davon, mit welchen der beiden Merkmale, Subjekt oder Objekt, sich die Einheiten des Sujets beschreiben lassen, hinter der Abfolge der Einheiten steht immer ein bestimmtes Bewusstseinssubjekt. Mit anderen Worten, das Sujet ist immer in Bezug auf ein Subjekt bedeutsam. Das Werk als Ganzes stellt die Gesamtheit einer Vielzahl von Sujets auf unterschiedlichen Ebenen und von unterschiedlichem Umfang dar, und es gibt im Prinzip nicht eine einzige Einheit im Text, die nicht einem der Sujets zuzurechnen wäre. In der Lyrik verhalten sich die Subjekt- und Objektprinzipien bei der Isolierung des Sujets anders zueinander. Jede Einheit des Sujets stellt eine wertende Vorstellung des Subjekts dar. Das Sujet ist als Abfolge von gleichartigen, direkt wertenden Urteilen eines Subjekts aufgebaut: In einem Fall (Sujet) werden die Vorstellungen vom Guten, der Norm wiedergegeben, im anderen vom Bösen, der Anti-Norm. Auch die Prinzipien der Segmentierung sind hier andere. Während in der Prosa als Sujeteinheiten mehr oder weniger umfangreiche Textabschnitte gelten, kann in der Lyrik ein einzelnes Wort, das eine direkte Bewertung wiedergibt, eine Sujeteinheit darstellen. WIDERGESPIEGELTES FREMDES WORT (Terminus Bachtins)XIV – Mittel zur Einführung eines fremden Bewusstseins in das dramatische Epos
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(Roman)XV, ähnlich der erlebten Rede. Gemeinsam haben das widergespiegelte fremde Wort und die erlebte Rede, dass in beiden Fällen sich dem grundlegenden Bewusstsein (des Erzählers [povestvovatel’] in der erlebten Rede, des [markierten] Erzählers [rasskaz!ik] oder des Figurenerzählers im widergespiegelten fremden Wort) etwas Zusätzliches von demjenigen anlagert, über den gesprochen wird. Dies hängt mit der phraseologischen Perspektive zusammen. Widergespiegeltes fremdes Wort und erlebte Rede unterscheiden sich allerdings in erster Linie durch die Wahl des zugrunde gelegten Bewusstseins: Bei der erlebten Rede ist dieses Bewusstsein durch die räumliche und zeitliche Perspektive charakterisiert, beim widergespiegelten fremden Wort phraseologisch. Dadurch werden im Falle des widergespiegelten fremden Wortes sich überschneidende, jedoch durch ihre Subjektzugehörigkeit unterschiedliche Varianten einer phraseologischen Perspektive (in Abhängigkeit von verschiedenen Bewusstseinen) miteinander vermischt. Mit diesem Unterschied ist noch etwas Weiteres verbunden: Bei der erlebten Rede hat das fremde Bewusstsein sein eigenes materielles Substrat, jenes Mikrosegment des Textes, in dem es sich lokalisieren lässt und durch den es sich mehr oder weniger deutlich von seinem Kontext unterscheidet. Im Falle des widergespiegelten fremden Wortes verfügt das zusätzliche fremde Bewusstsein über kein solches Substrat: Es basiert mit dem maßgebenden Bewusstsein auf ein und demselben Text. Das widergespiegelte fremde Wort ist eines der Mittel, mit deren Hilfe in der realistischen Literatur die Vorherrschaft der inhaltlichen Subjektorganisation über die formale Subjektorganisation sichergestellt wird. ZEITLICHE PERSPEKTIVE – die Perspektive von Subjekt und Objekt in der Zeit. Sie ist für den Erzähltext der Epik von großer Bedeutung. Ihre Eigenart wird zu großen Teilen dadurch bestimmt, wie sich die Zeit, in der sich das Bewusstseinssubjekt, der Erzähler [povestvovatel’], befindet, zu der Zeit verhält, in der die Objekte (die Helden und die sie umgebende gegenständliche Welt) zu finden sind. In den Werken der Klassik erzählt der sich in der Gegenwart befindende Erzähler für gewöhnlich von Vorfällen, die sich in der Vergangenheit ereignet haben, wobei der zeitliche Abstand meistens mehr oder weniger unbestimmt bleibt. Manchmal wird die Zeit durch direkte Verweise im Text konkretisiert. Prinzipiell anders sind die Fälle, in denen der Erzähler und seine Helden nicht nur in unterschiedlichen Zeiten angesiedelt sind, sondern zudem unterschiedlichen historischen Epochen angehören (z. B. Gogol’, Taras Bulba). Der Träger
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des Bewusstseins kann in der Erzählung das Präsens einsetzen. Dies geschieht zum einen (z. B. !echov, Krankenzimmer Nr. 6), um die Überzeugung des Bewusstseinssubjekts von der Wiederholbarkeit der dargestellten Ereignisse und somit die Vorstellung von der Zyklizität des Lebensprozesses zum Ausdruck zu bringen. In anderen Fällen (!echov: Schlafen!) dramatisiert das Präsens die Handlung: Das, was bis zum Moment des Erzählens geschah, wird so beschrieben, als ob es jetzt vonstatten ginge und mit dem Augenblick des Sprechens zusammenfiele. ZONE XVI – die Gesamtheit der für ein bestimmtes Bewusstseinssubjekt möglichen gleichartigen Perspektiven. Entsprechend kann ein Bewusstseinssubjekt über eine direkt-axiologische, eine räumliche, eine zeitliche und eine phraseologische Zone verfügen. […] —————————
Bibliographische Notizen I. Das Problem des Autors: Forschungsergebnisse und Perspektiven Originaltitel: Itogi i perspektivy izu!enija problemy avtora. Erstmals publiziert in: Stranicy istorii russkoj literatury. K 80-letiju !lena-korrespondenta ANSSSR N. F. Bel’!ikova, Moskva 1971, S. 199–207. Übersetzt nach: B. K., Izbrannye trudy po istorii literatury, I"evsk 1992, S. 59–67. II. Die Einheit des literarischen Werks und ein experimentelles Wörterbuch literaturwissenschaftlicher Termini Originaltitel: Celostnost’ literaturnogo proizvedenija i "ksperimental’nyj slovar’ literaturoved!eskich terminov. Erstmals publiziert in: Problemy istorii kritiki i po"tiki realizma. Me"vuzovskij sbornik, Kujby#ev 1981, S. 39–54. Übersetzt nach: B. K., Izbrannye trudy po istorii literatury, I"evsk 1992, S. 172–189. Die Anordnung der Lemmata in der deutschen Übertragung des Wörterbuchs folgt nicht dem Original, sondern der Ordnung des deutschen Alphabets. Deshalb wird hier auf die Angabe der Seitenzahl des Originals verzichtet. Die Kursivsetzung der Begriffe verweist auf das Vorhandensein eines eigenen Eintrags.
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Kommentar In der sowjetischen Literaturwissenschaft ist der Name Boris Kormans und seiner Schule eng verknüpft mit der Entwicklung einer Autortheorie, die bis heute in Sammelbänden wie Probleme des Autors in der Literatur oder Korman-Lesungen ihre Fortsetzung findet. 1969 veranstaltete Korman eine erste große Konferenz zum Thema. 1971 publizierte er den ersten der hier übersetzten Aufsätze, in dem er auf der Grundlage eigener Untersuchungen (vor allem zur Lyrik) ein Forschungsprogramm entwarf, das dann in den Folgejahren von ihm und seinen Schülern in Teilen umgesetzt wurde. Während der erste für die Übersetzung ausgewählte Aufsatz also ein in großen Teilen zukünftiges Projekt umreißt, stellt der zweite hier gekürzt wiedergegebene Aufsatz von 1981 eine gewisse Bilanz dar. Er versteht sich als Systematisierung und Fixierung der Begrifflichkeiten, die Korman und seine Schüler in ihrer Arbeit an einer „Theorie des Autors“ entwickelt und eingesetzt haben. Kormans Anliegen ist es allerdings auch nach zehn Jahren noch, eine Lücke in der sowjetischen Theoriebildung zu schließen. War doch gerade die Konzeption des Autors immer wieder Gegenstand von ideologischen Debatten gewesen, bei denen literatur- und insbesondere erzähltheoretische Aspekte nur eine sehr geringe Rolle gespielt hatten. Auf der Grundlage einer systemorientierten Textwissenschaft unternimmt Korman in seinem Wörterbuch den Versuch einer Vernetzung von Begrifflichkeiten unterschiedlicher Beschreibungsmodelle, die für die Autortheoriebildung in seinem Sinne nutzbar gemacht werden sollen. Hierin liegt auch die Präsentationsform dieses Aufsatzes begründet, die anstelle einer linearen Darstellung des Ansatzes und seiner einzelnen Elemente die Begriffe in Form eines alphabetisch geordneten Kürzest-Nachschlagewerks mit zahlreichen Querverbindungen zwischen den einzelnen Einträgen vorstellt. In 46 Lemmata, deren Umfang von einer Zeile bis zu einer halben Seite reicht, werden Begrifflichkeiten aus dem (literarischen) Kommunikationsmodell mit denen der Gattungstheorie, Perspektivtheorie, der Rededarstellung und der Epochencharakterisierung verknüpft. Dabei definiert Korman die Termini lediglich, ohne sie begriffsgeschichtlich herzuleiten; nur an einigen wenigen Stellen finden sich nicht weiter spezifizierte Verweise auf Bachtin*. Auffällig ist die hohe Anzahl von Beispielen aus der Lyrik, was sich mit Kormans Forschungsschwerpunkt in diesem Bereich erklären lässt. Die von Korman vorgeschlagene Terminologie ist also nicht an die Narrativität gebunden (im Sinne der Darstellung von Zustandsveränderungen und damit von Ereignishaftigkeit – ein Begriff, der übrigens im Wörterbuch überhaupt nicht vorkommt). Die Auswahl der Begriffe geht augenscheinlich vom „Autor“ als Zentralbegriff aus. Unerklärt bleibt u. a., warum bei den Einträgen zu den mit der Kormanschen Begrifflichkeit definierten Epochen lediglich der Realismus und nur unter der Überschrift vorrealistische Methode Klassizismus, Sentimentalismus, Romantik (insgesamt in drei Sätzen) in einem gemeinsamen Eintrag abgehandelt werden, hingegen Moderne
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bzw. Avantgarde, der Sozialistische Realismus etc. keine Erwähnung finden. Auch das Drama bleibt im Vergleich unterbelichtet, obgleich bei der Anführung der „Mischformen“ eine Ausgewogenheit und der umfassende Zusammenschluss in einem vereinheitlichenden System suggeriert werden. Die gekürzte deutsche Übertragung des Wörterbuchs berücksichtigt, der narratologischen Konzeption der vorliegenden Anthologie entsprechend, vor allem Lemmata, die die Prosa bzw. das Kommunikationssystem im literarischen Text betreffen. Auf die Übersetzung der gattungs- und epochentypologischen Einträge wurde verzichtet. Die „Korman-Schule“ war in den fünfziger und sechziger Jahren in Borisoglebsk angesiedelt, ab den Siebzigern in I!evsk (1984–1987: Ustinov, Hauptstadt der Udmurtischen Republik der Russischen Föderation). Anders als dem sich ebenfalls an der Peripherie der damaligen Sowjetunion lebenden Jurij Lotman* und seiner Moskau-Tartu-Schule war Korman keine Erfolgsgeschichte beschieden. Erst recht wurde sein Ansatz nicht in den Westen exportiert. Trotz einer gewissen Konjunktur in den siebziger Jahren blieb die Kormansche Autortheorie selbst in der russischen Theorielandschaft eine marginale Erscheinung. Obgleich bis heute vor allem von Kormans Schülern auf seine Autortheorie Bezug genommen wird und immer wieder Konferenzen mit direktem Bezug auf seinen Ansatz stattfinden, haben sich seine Systematik und die dazugehörige Begrifflichkeit nicht durchzusetzen vermocht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diese Theoriebildung die westlichen Diskussionen um den Autor ignoriert und deshalb heute auch innerhalb des russischen theoretischen Felds als anachronistisch eingestuft wird. Dies vor allem von denjenigen Fachvertretern, die nach dem Zerfall der Sowjetunion den schnellen Anschluss an die westliche Theorie suchen und dabei leicht und pauschal eigene Ansätze von vorneherein skeptisch betrachten. (Vgl. die Rezension zu einem der Tagungsbände [Kormanovskie !tenija. Vyp. 1: Materialy me"vuzovskoj nau!noj konferencii 14–16 aprelja 1992 g. I!evsk: Izd-vo Udmurtskogo un-ta, 1994]: „Uns will scheinen, dass die produktiven Möglichkeiten der ,Autortheorie‘ schon lange erschöpft sind und dass sie im Kontext der rezenten Theoriebildungen der deutschen und amerikanischen Wissenschaft [S. Fish, T. Heidenreich u. a.] ziemlich archaisch daherkommt“ [P. S.], in: Novoe Literaturnoe Obozrenie 15 [1996], S. 357). Doch scheint auch hier das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn in unlängst erschienenen kodifizierenden Werken tauchen Kormans Termini wieder auf (Tjupa 2001; Nikoljukin [Hg.] 2001; Tamar"enko 2001a; Tamar"enko 2006) und es bleibt abzuwarten, ob die durchaus vorhandenen Anschlussmöglichkeiten dieser Autortheorie bei der auch in Russland in ersten Ansätzen wahrzunehmenden Renaissance der Erzählforschung nicht doch noch eine Rolle spielen werden. Eine wissenschaftshistorisch beachtenswerte Stufe im Nachdenken über den Autor ist sein Ansatz allemal.
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Anmerkungen I
Die hier gefasste Definition legt Korman der Verwendung des Terminus Autor in seinen eigenen Schriften zugrunde. Er differenziert damit ausdrücklich den Autor (avtor) vom Schriftsteller (pisatel’), dem Verfasser jenseits des manifesten Textes (siehe auch nachfolgendes Wörterbuch). Kormans konzipierter Autor (koncepirovannyj avtor) meint allerdings weniger das Resultat einer (Rezipienten-)Konzeption im Sinne der Konstruktion eines Autor-„Bildes“ als vielmehr einen offenbar jenseits des materiellen Textes existierenden Träger der dem Text zugrunde liegenden Sinnkonzeption. In Natan Tamar!enkos Modellierung dieses Autorkonzepts, das hier Autor-Schöpfer (avtor-tvorec) genannt wird und explizit auf Kormans konzipierten Autor zurückgeht, wird die Herkunft dieser AutorAuffassung aus Michail Bachtins* Ästhetik deutlicher. Für Tamar!enko (1999, 5 f.) ist der Autor das „ästhetisch tätige Subjekt“ (Bachtin), das entsprechend den Ausführungen Bachtins in Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit (1920– 1924) gekennzeichnet ist durch seine „Außerhalbbefindlichkeit“ (vnenachodimost’) im Verhältnis zum Sinngehalt des Textes und der darin dargestellten künstlerischen Welt (zum neokantianischen Konzept dieses „transzendentalen“ Autors bei Bachtin vgl. Freise 1993, 198–203). Gleichzeitig trägt dieser ,Autor‘ als ästhetische Instanz die Verantwortung für das Kunstwerk als sinnvoller Einheit, er ist abzugrenzen vom lebensweltlichen Schriftsteller einerseits und von den dargestellten Subjekten des Textes andererseits (zu denen Tamar!enko neben den Erzählinstanzen auch das Autor-Bild [obraz avtora] im Sinne Vinogradovs* – s. u., Anm. XII – zählt). In dieser Auffassung eines „absoluten Bewusstseins“, das sich auf einer dem Text übergeordneten „Seinsebene“ befindet, steht dem Autor der Held gegenüber, den das Autorbewusstsein aus seiner „transzendentalen“ Position mit samt seiner Sinnposition „abschließt“, „vollendet“ bzw. „objektiviert“. Siehe zum Bachtinschen Begriff der „Abgeschlossenheit“ (zaver"ennost’) Anm. II. In seinem Versuch einer Systematisierung verkürzt Korman allerdings das komplexe Bachtinsche Subjektkonzept, das eine Schnittstelle verschiedenster Disziplinen der von Bachtin in den fünfziger und sechziger Jahre entworfenen „Textologie“ darstellt. In ihm trifft das intentionale Subjekt seiner „Metalinguistik“, das den intendierten Sinn der Äußerung entwirft und mit dem „Autorschaft“ und „Verantwortlichkeit“ verbunden sind, auf das stilistische Phänomen eines Textsubjekts, das nicht nur mit individuellen Autoren, sondern auch mit Urhebersubjekten im Sinne von sozialen Typen in Verbindung gebracht werden kann (siehe hierzu Hansen-Löve/H. Schmid 1990, 438 f.). II Der Bachtinsche Begriff der zaver!ennost’, der sowohl die Bedeutungskomponenten von „vollendet sein“ als auch von „abgeschlossen sein“ im Sinne eines Ausschlusses von Anderem beinhaltet und den Freise (1993, 262 ff.) als „Objektivierung“ übersetzt, meint das intentionale Verhältnis des Autors in Bezug auf seinen Textsinn. Das Autorsubjekt ‚schließt‘ letztlich den Prozess des Dialogs der Helden untereinander und zwischen den Helden und der Position des Autors ‚ab‘,
Zur Autor-Theorie
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indem er für ihn ,die Verantwortung übernimmt‘. Damit bedeutet diese „Objektivierung“ allerdings auch, wie Ann Shukman anmerkt, das Ende für die Möglichkeit des Dialogs, der Gegenrede und damit des Verstehens des Anderen (Shukman 1983, 153). In diesem Begriff zeigt sich die im Westen oft verkannte konservative, wertethische Kunstkonzeption Bachtins. III Korman führt in seinen Arbeiten eine Differenzierung der fiktiven Erzählinstanz ein, je nachdem wie explizit sie auftritt und in welchem Verhältnis sie zur erzählten Geschichte steht. Dabei sind die verschiedenen Realisierungen der Erzählinstanz jeweils Erscheinungsformen des auf einer höheren Ebene angesiedelt gedachten Autorbewusstseins. Zur begrifflichen Explikationen der Erzählertypen siehe das nachfolgende Wörterbuch. IV Der Begriff der Zone dient Korman zur Beschreibung der Perspektivierung von Textsegmenten. Die Zone umfasst „die Gesamtheit der für das gegebene Bewusstseinssubjekt möglichen gleichartigen Perspektiven“ (Korman 1981, 45). Dabei unterscheidet Korman, offensichtlich in Anlehnung an Boris Uspenskijs* Differenzierung der Perspektivebenen (Uspenskij 1970), eine axiologische, räumliche, zeitliche und phraseologische Zone, siehe den Eintrag im nachfolgenden Wörterbuch. Vgl. zu Uspenskijs Perspektivemodell Schmid 1971, 124–134, eine Besprechung, die Bachtin (2002) exzerpiert und kommentiert hat und deren Hinweis auf den abstrakten Autor Bachtin zu einer Reihe von mehr oder weniger polemischen Repliken veranlasste; vgl. Gogoti!vili 2002, 533–701. V Bachtins Polyphoniethese war in ihrer Umstrittenheit für die Dostoevskijforschung ungeheuer produktiv. Einen Überblick über die kontroverse Diskussion gibt Schmid (1973b, 10-12). VI In seinem Wörterbuch definiert Korman die „Subjektorganisation des Werks“ (Korman 1981, 50) als Summe aller das Werk konstituierenden Textabschnitte samt den ihnen zugehörenden Redesubjekten (= den Subjekten, denen die Rede zugehört) und Bewusstseinssubjekten (= den Subjekten, deren Bewusstsein sich im Text ausdrückt). Eine doppelte Ausrichtung des Zeichenmaterials, sowohl auf die bezeichneten Objekte als auch auf das bezeichnende Subjekt, eine Idee, die im Westen am nachhaltigsten Karl Bühler (1934) in seinem Organonmodell der Sprache vertreten hat, wurde laut Valerij Tjupa (2001, 42) in der russischen Literaturwissenschaft zum ersten Mal von Korman in seinen Analysen konsequent untersucht (z. B. Korman 1972). Damit griff dieser ein Problem auf, das Bachtin u. a. in einem Die Sprache in der Literatur (Jazyk v chudo"estvennoj literature, vermutlich 1954, publ. 1992) betitelten Aufsatzentwurf folgendermaßen formulierte: „Die Sprache als Ausdrucksmittel fällt nicht mit der direkten auktorialen Rede zusammen. Das Hauptproblem ist das Problem der Wechselbeziehung von darstellender und dargestellter Rede. Zwei sich gegenseitig durchdringende Ebenen.“ (Bachtin 1997, 288, Hervorhebung im Original). Dieser von Korman vorgeschlagene Analyseapparat einer „systemhaften Subjektorganisation“ des künstlerischen Textes baut, wie Nikolaj Rymar’ und Vladislav Skobelev formulieren,
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auf einem „Beziehungssystem von Bewusstseins- und Redesubjekten auf und weist jeder Sicht auf die Welt ihren bestimmten Platz im System zu. Dadurch garantiert das System jedem Subjekt seinen einzigartigen Platz, sein Recht auf Lebensraum und selbständiges Funktionieren und legt darüber hinaus seine Beziehung zu den anderen fest, indem es in einer Ordnung zu diesen gesehen wird. Im Unterschied zu einer unkontrolliert spielerischen oder autoritär-willkürlichen Beziehung zu anderen Perspektiven, die diese zum Objekt von Manipulationen werden lassen, erlaubt eine solche Systembildung, eine Art Demokratie der Bewusstseine zu erkennen, und macht es möglich, mit jedem Bewusstsein zu rechnen, ein jedes wahrzunehmen. Eine solche Auffassung von der Subjektorganisation eines Textes macht das Problem des Autors besonders spürbar. Die Position des Autors erscheint als wichtiges Problem, dessen Lösung die Analyse der Beziehungen der Rede- und Bewusstseinssubjekte, der Wechselverhältnisse von Autorbewusstsein und anderen Stimmen im System dieses Bewusstseins voraussetzt“ (Rymar’/ Skobelev 1994, 63). Dieses Bemühen um eine textimmanente Analyse und damit um den Primat der innertextuellen Redesubjekte vor dem außertextuellen, realen Autor und seiner Textverantwortlichkeit und andererseits um die Aufwertung der unterschiedlichen Redeinstanzen innerhalb des Textes gegenüber einer auktorialen/autoritären (Autor-)Stimme spiegelt natürlich auch den historischen Kontext der sowjetischen Wissenschaftler und ihre subkutanen intellektuellen Diskurse um Autonomie wider. VII Korman widmet der Diskussion des problematischen Autorbegriffs bei Bachtin in Bezug auf Dostoevskij einen eigenen Artikel (Korman 1978b), der seinerseits zum Ausgangspunkt für die weiterführende und stärker differenzierende Studie Andrej Faustovs (1986) wurde. Vgl. zu einer grundlegenden Kritik an Bachtins Polyphoniethese auch Schmid 1973b, 14: „In Dostoevskijs Werken gibt es keine Polyphonie autonomer, vom schaffenden Autor emanzipierter Stimmen; eine solche Konfiguration ist im erzählenden literarischen Werk auf Grund seiner Seinsschichtung gar nicht denkbar.“ VIII Ein weitaus früheres Beispiel der Beschäftigung mit dem Autor in Eugen Onegin ist Marija Rybnikovas* bereits 1924 veröffentlichte Arbeit mit entsprechendem Titel. Die ursprünglich der mythologischen Schule des im 19. Jahrhundert überaus einflussreichen Philologen Fedor Buslaev und seiner historischvergleichenden Methode verpflichtete Wissenschaftlerin zeigte zeitweise zu Beginn der zwanziger Jahre mit ihrem Interesse an der Sprache und Komposition des literarischen Kunstwerkes thematisch und terminologisch eine Affinität zu den Formalisten. In ihrem Aufsatz untersucht sie die textinternen Instanzen Autor, Leser und Held, ihre Funktion und die Verfahren, mit denen Pu!kin den Autor zum einen an seine Helden annähert und zum anderen ihn zu seinem alter ego werden lässt. Siehe zum Problem des Autors bei Pu!kin auch Hielscher 1966. IX Mit Skaz wird in der russischen Prosa- und Erzähltheorie eine spezifische Art des dargestellten Erzählens bezeichnet, bei dem durch die Illusionserzeugung
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einer mündlichen, spontanen und umgangssprachlich eingefärbten Erzählsituation eine explizite erzählende Instanz modelliert wird, deren sprachlicher und informationeller Horizont beschränkt ist, so dass es zu komischen Effekten kommen kann, die durch die ironische Distanz zwischen Erzähler und dem Sinngehalt des Gesamttextes erzeugt wird. Frühe Arbeiten zum Skaz finden sich bei !jchenbaum* (1918, 1919) und Vinogradov (1926), zur Darstellung der Entwicklung des Konzepts und zur Systematisierung des Begriffs siehe Schmid 2005b, 164– 177. X Den Begriff „Subtext“ (podtekst), der sich vor allem in der "echov-Forschung etabliert hat und dort alternativ zum Bild der „Unterströmung“ (podvodnoe te#enie) verwendet wird, fasst Tamara Sil’man als Tiefenstruktur eines künstlerischen Textes auf, als zusätzliche, implizite Sujetlinie (Sil’man 1969a, 89). Um diese wahrnehmbar werden zu lassen, bedarf es so genannter „Grundmotive“ oder „Grundsituationen“, die erst durch Wiederholung eine Kette von Episoden bilden (93). Diese „subtextuelle“ Sinnlinie bleibt den Figuren der Diegese verschlossen, sie ist eine vom Autor für den Leser zusätzlich angelegte Bedeutungsschicht (90). Das Vorhandensein eines Subtextes ist für Sil’man (89) zudem eine normative Größe, an ihm misst sich die Ästhetizität eines Textes. Folglich lassen sich ihrer Meinung nach Subtexte auch vor allem in den Werken der großen Romanciers der klassischen Moderne bzw. des sowjetischen Kanons finden (Ibsen, Hamsun, "echov, Thomas Mann, Hemingway, Remarque). In Kormans Definition: „Mit Subtext ist diejenige Spielart eines Sujets gemeint, bei der Einheiten zu einer textuellen Übereinstimmung tendieren und dadurch lexikalische oder semantische Paradigmen bilden“ (1981, 47) wird eine gewisse Nähe des Subtext-Begriffs zum Äquivalenzbegriff der Jakobsonschen* „Poetics“ und des Lotmanschen* Strukturalismus sichtbar. Nicht zufällig sieht Korman im Subtext ein „lyrisches“ Element im Roman. Gerade an der „poetisierten Prosa“, dem so genannten Ornamentalismus, lässt sich das Phänomen der Paradigmenbildung bis hin zur Überformung bzw. Verdrängung des eigentlichen Sujets beobachten. Allerdings modellieren die Arbeiten in der Tradition der Moskau-Tartu-Schule das Phänomen gerade umgekehrt, nicht als Tiefenerscheinung, sondern als Oberflächenphänomen, als eine mit poetischen Verfahren besonders exponierte Diskursgestaltung. Siehe hierzu Schmid 1992 und Wächter 1992. Wie wenig sich der Subtext-Begriff im Sinne Sil’mans/Kormans letztlich etablieren konnte, zeigt eine zweite verbreitete Verwendung des Begriffs ab den siebziger Jahren, die – ohne dass die Notwendigkeit gesehen worden wäre, sich gegen die erste Bedeutung abzugrenzen – unter „podtekst“ den Intertext oder Prätext versteht. In diesem zweiten Sinne findet sich Subtext in zahlreichen Arbeiten nicht nur der russischen Slavistik, die aus der Intertextualitätsforschung der Moskau-Tartu-Schule hervorgegangen sind (u. a. bei Vladimir Toporov, Tat’jana Civ’jan, Omry Ronen, Grigorij Levinton, Elena Tolstaja, Aleksandr $olkovskij).
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Die Bezeichnung „lyrischer Held“ entspricht heute in ihrer weiten und unspezifischen Verwendung im Rahmen von Gedichtanalysen etwa dem des „lyrischen Ich“ im deutschen Sprachgebrauch. Ursprünglich war der Begriff von Jurij Tynjanov* allerdings für ein spezifisches Dichterphänomen eingeführt worden, das sich für ihn in Aleksandr Blok manifestierte, dem schon zu Lebzeiten zur Legende gewordenen russischen Symbolisten (Tynjanov 1921b, 1924a). Tynjanovs Konzept eines „lyrischen Helden“, das er in späteren Arbeiten „literarische Persönlichkeit“ nannte (Tynjanov 1924b, 1927a, 1929b), umfasst nicht nur die Instanz des Sprechers im Gedicht, sondern auch das durch die Spezifik von stark subjektorientierten Texten im Leserbewusstsein hervorgerufene Bild, also ein Stereotyp. Dieses Bild setzt sich aus Eigenschaften zusammen, die in der Regel mehr als einem Einzeltext entstammen. Auch Vinogradovs Konzept des „Autorbilds“ (obraz avtora) enthält als Komponente die Vorstellung eines solchen Œuvre-Autors, ohne dass dies allerdings genauer spezifiziert würde. In westlichen erzähltheoretischen Modellierungen entspricht der „literarischen Persönlichkeit“ z. B. der „career author“ bei Booth (1979, 270) oder Chatman (1990, 87–89) (siehe hierzu auch Schmid 2005b, 62). In Tynjanovs Modellierung lässt sich allerdings zudem eine Kontextualisierung ablesen, die das Phänomen zu einer dynamischen Textgröße werden lässt. Die Vorstellung von Blok, so kann man den Andeutungen Tynjanovs entnehmen, rekurriert nämlich zudem auf ein bereits vor den Texten im kulturellen Bewusstsein existierendes Bild vom Dichter. Damit nimmt Tynjanov bereits Vorstellungen einer pragmatischen Narratologie voraus, die die Sinngenerierung eines Textes über die Aktivierung von scripts im Rezipienten gesteuert sieht. Lidija Ginzburg* (1964) entwickelt Tynjanovs Ansatz in diesem Sinne weiter, indem sie das Textphänomen des „lyrischen Helden“ mit einem epochenspezifischen Dichterkonzept in Verbindung bringt, das aus der Persönlichkeits-Idee in der Romantik entstanden war. (Zum Fortwirken eines der Romantik verpflichteten, ausdrucksästhetischen Dichterbegriffs bis in die aktuelle Literaturtheorie siehe auch Muka!ovsk" 1937, 72–73; vgl. zur formalistischen bzw. strukturalistischen Theoriebildung in Bezug auf das Subjekt der Dichtung, insbesondere zum „lyrischen Helden“: Gölz 2000, 32–45). Der Begriff „lyrischer Held“ begann im Zusammenhang mit einer nach 1953 erneut einsetzenden Diskussion um das sowjetische Literaturverständnis, in der die lyrische Subjektivität als Abweichung von den Prämissen des Sozialistischen Realismus im Mittelpunkt stand, eine neue, unerwartete Rolle zu spielen. Obgleich er als Bezeichnung eines an textuellen Verfahren orientierten Rezeptionsphänomens entstanden war, wurde der Begriff nun im Rahmen einer Ausdruck- und Gefühlsästhetik virulent, die im Textsubjekt den direkten Stellvertreter des Verfassers sah. Carin Tschöpl sieht mehrere Gründe für diese sich ab Ende der vierziger Jahre durchsetzende Verwendung: „Einmal erlaubt er [der Terminus] es, auch für die Lyrik das Prinzip der Charakterdarstellung geltend zu machen und es damit analog zur Darstellung des zentralen Helden in der epischen Prosa zu setzen. Zum anderen dient der
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Terminus dazu, die für den lyrischen Sprecher angenommene Selbstdarstellung des Autors einer individualpsychologischen Interpretation zu entziehen und sie als typisierende Darstellung des Vertreters einer Klasse oder eines bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseins zu werten“ (Tschöpl 1988, 24). War das textorientierte Erkenntnisinteresse zu Beginn des Jahrhunderts gerade auf die begriffliche Fassung eines kategorialen Unterschieds zwischen textinterner Sprechinstanz und außertextuellem Autor gerichtet, kehrt es sich in dem Diskussionskontext, in dem der Begriff nun erneut auftaucht, regelrecht um: Die Identität der beiden Größen „Autor“ und „lyrischer Sprecher“ wird nicht nur vorausgesetzt, sondern eingefordert. Die Gegner des Begriffs kritisieren an ihm daher gerade auch die durch die Markierung als „Held“ mögliche Distanzierung zwischen Dichter und Textsubjekt, die den Autor von seiner politisch-weltanschaulichen Verantwortung seinen Aussagen gegenüber befreie (z. B. Nazarenko 1953). XII Korman verwendet hier den von Viktor Vinogradov bereits Ende der zwanziger Jahre in die Diskussion eingeführten Begriff des „Autorbilds“ in verengender Weise lediglich in Bezug auf die Lyrik. Damit erfährt der von Vinogradov als den Redesubjekten in der Literatur übergeordnete und an keine spezifische Gattung gebundene Begriff, mit dem Kormans Konzept des „konzipierten Autors“ konkurriert, eine verfälschende Bedeutungsverschiebung, die ihn in die Nähe der Tynjanovschen „literarischen Persönlichkeit“ rückt. Zum „Autorbild“ Vinogradovs siehe dessen Texte in vorliegender Anthologie und Gölz 2008; zu Tynjanovs Begriff s. o., Anm. XI. XIII Die Erforschung der „erlebten Rede“ in der russischen Literaturwissenschaft hat eine lange Geschichte (eine erste Arbeit zum Problem findet sich schon Ende des 19. Jahrhunderts: Kozlovskij 1890). Als grundlegend für die russische und teilweise auch für die internationale Theoriebildung der Textinterferenzen, zu denen die erlebte Rede zu zählen ist, gilt Valentin Volo!inovs* Arbeit mit dem etwas irreführenden Titel „Marxismus und Sprachphilosophie“ (Volo!inov 1929). Zur Konzeptgeschichte, auch im Vergleich mit Textinterferenzmodellen anderer Philologien, siehe Schmid 2003a, 195–239; Schmid 2005b, 177–222. Schmid sieht in den auf Volo!inov aufbauenden Arbeiten, von denen besonders die Untersuchungen Vinogradovs einflussreich waren (Vinogradov 1936a, 1936b, 1939), zwei in der Regel nicht deutlich voneinander getrennt auftretende Modellierungen: (1) die erlebte Rede als ein neben direkter und indirekter Rede drittes Mittel der Wiedergabe von Personenrede und (2) die erlebte Rede als eine Vermischung oder Verschmelzung der Erzählerrede mit der Rede von Personen (Schmid 2003b, 222). Diese Unklarheit wurde erst in den Arbeiten von A. Andrievskaja (1967) und L. Sokolova (1967) zugunsten einer Auffassung entschieden, die von einer „sprachlichen Kontamination von Autor und Figuren“ (Andrieevskaja) ausgeht und damit eine Beschreibung als einer rein syntaktischen Alternative zur direkten bzw. indirekten Rede aufgibt. Die bereits von Sokolova angemerkte Eigenständigkeit der erlebten Rede, in der die „Subjektebenen von
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Autor und Held“ vermischt werden (vgl. hierzu Schmid 2003a, 223), lassen Schmid in seinem die bisherigen Ergebnisse der Forschung fortführenden und systematisierenden Ansatz die erlebte Rede als Teil einer allgemeiner aufzufassenden Textinterferenz modellieren und folgendermaßen definieren: „Die erlebte Rede ist ein Segment der Erzählerrede, das Worte, Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen oder die Sinnposition einer der erzählten Personen wiedergibt, wobei die Wiedergabe des PT [Personentextes] weder graphisch noch durch irgendwelche explizite Hinweise markiert ist“ (Schmid 2005b, 201; 2008b, 208; zur erlebten Rede siehe auch die Arbeiten von Robert Hodel, z. !. 2001). Korman versteht die erlebte Rede zwar als Form des Einschlusses eines Personenbewusstseins in das Bewusstsein des Erzählers und damit als Interferenzphänomen, allerdings als ein formales, das vorrangig auf der Übernahme personaler Phraseologie in den Erzählertext beruht. Daher trifft sein Versuch, die erlebte Rede unter Ausschluss einer direkten inhaltlichen Bestimmung lediglich als Kombination von zeitlicher und räumlicher Perspektivierung durch den Erzähler und sprachlicher durch die Person genauer zu bestimmen, das Phänomen nicht in allen seinen Dimensionen. Denn gerade auf sprachlicher Ebene ist die erlebte Rede ein komplexes Transpositionsphänomen von Personentext in Erzählertext, bei dem eine Reihe von Merkmalen (Personalpronomen, Tempus) durchaus auf den Erzähler verweisen. Zudem zeichnet sich die erlebte Rede gerade dort, wo sie besonders deutlich markiert auftritt, dadurch aus, dass die Deixis in der Erzählerrede auf den Personentext verweist. Korman hält aber gerade räumliche und zeitliche Perspektivierung für Merkmale des Erzählertextes. XIV Im dritten Teil von Marxismus und Sprachphilosophie, der den „Formen der Äußerung in den Konstruktionen der Sprache“ und ihrer Geschichte gewidmet ist, spricht Volo!inov (1929) im Zusammenhang mit dem Problem der Redewiedergabe von „fremder Rede“ ("u#aja re"’) im Sinne einer „aktiven Beziehung einer Äußerung zu einer anderen“, die sich nicht thematisch, sondern sprachlich niederschlägt und die eine deutlich vom Dialog unterschiedene „Reaktion des Wortes auf das Wort“ darstellt (Volo!inov 1929, dt. 179 f. Hervorhebungen hier und im weiteren im Original). „Fremde Rede“ definiert er entsprechend als „die Rede in der Rede, die Äußerung in der Äußerung“ und gleichzeitig als „die Rede von der Rede, die Äußerung über die Äußerung“ (178). Volo!inov unterscheidet dabei zwei Richtungen „in der Dynamik der gegenseitigen sprachlichen Orientierung von Autorrede und fremder Rede“, von denen er die erste mit einem bei Wölfflin entlehnten, kunstwissenschaftlichen Begriff den linearen Stil nennt, die zweite den malerischen Stil (185 f.). Die „Haupttendenz“ des ersteren „ist die Schaffung von deutlichen äußeren Konturen für die fremde Rede, wobei die innere Individualisierung schwach bleibt. Bei völliger stilistischer Homogenität des ganzen Kontextes (der Autor und alle seine Helden sprechen die gleiche Sprache) erreicht die fremde Rede grammatisch und kompositorisch ein Höchstmaß an Geschlossenheit und standbildhafter [richtiger: „plastischer“] Elastizität“ (185). Während die
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Tendenz des malerischen Stils genau entgegengesetzt darauf ausgerichtet ist, „die scharfen Konturen des fremden Wortes zu verwischen“ (186), was sich in den unterschiedlichen Formen der Redewiedergabe dieser Richtung niederschlägt, die von der direkten Rede, über verschiedene Ausprägungen der erlebten Rede bis zur indirekten Rede reichen (188). Korman bezieht sich in seinem Verweis nun allerdings ausdrücklich auf Bachtins Konzept des „fremden Wortes“. Ohne hier die problematische Autorschaft von Volo!inovs Arbeit zu diskutieren, sei darauf hingewiesen, dass in den eindeutig zumindest unter dem Einfluss Bachtins stehenden Arbeiten Volo!inovs das Phänomen einen zusätzlich „metalinguistischen“ Aspekt im Sinne Bachtins aufweist, nämlich den der „drugost’/Alterität“, der als „Übersetzung von Bachtins Begriffen der Ersten Philosophie und der Ästhetik des literarischen Schaffens in die Sprache der Linguistik“ anzusehen ist (Machlin 1998, 494; zum Konzept des dialogischen Anderen siehe Bachtins frühe, unvollendet gebliebene Arbeit Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, 1920– 1924). Bachtin beschreibt das Phänomen bereits in seiner frühen DostoevskijArbeit Probleme der Schaffens Dostoevskijs (Problemy tvor"estva Dostoevskogo, 1929) als „Ausgerichtetheit“ des Worts auf ein anderes, „fremdes Wort“. Im Erzähltext unterscheidet Bachtin „einstimmige Wörter“ von „dialogischen Wörtern“. Während erstere entweder als intentionale Rede des Erzählers (bei Bachtin: des Autors) auftreten oder als direkte Personenrede Objekt der Erzählerrede sind und somit, obgleich sie der perspektivierenden Auswahl der sie zitierenden Erzählinstanz unterliegen, intentional der Figur zugeordnet werden müssen (Bachtin 1929, 87 f.), replizieren die „zweistimmigen/dialogischen Wörter“ auf ein fremdes Wort, und zwar nicht in der Form eines äußeren Dialogs, sondern in ihrer Binnenstruktur. In seiner Arbeit Das Wort im Roman (Slovo v romane, 1934/35) erklärt Bachtin das zweistimmige, in sich dialogische Wort in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zum zentralen Problem der Erzähltheorie überhaupt (Bachtin 1934/35, 143). XV Unter „dramatischem Epos“ möchte Korman den „polyphonen Roman“ im Sinne Bachtins verstanden wissen (Korman 1981, 14) . XVI Den Begriff der Zone entlehnt Korman bei Bachtin, der in Das Wort im Roman im Zusammenhang mit dem Interferenzproblem der erlebten Rede von einer „Zone der Helden“ spricht: „Der Held des Romans besitzt, wie gesagt, stets eine eigene Zone der Einflussnahme auf den umgebenden Autorkontext, die über die Grenzen des vom Helden abgewiesenen direkten Wortes hinausgeht […] Diese um die wichtigen Helden des Romans gelegene Zone ist stilistisch durchaus spezifisch: in ihr herrschen die verschiedenartigsten Formen hybrider Konstruktionen vor, und sie ist immer mehr oder weniger dialogisiert“ (Bachtin 1934–1935, 133 f.; dt. 209).
12. Jurij Lotman: Zum künstlerischen Raum und zum Problem des Sujets* (Auszüge aus Der künstlerische Raum in Gogol’s Prosa, ausgewählt und übersetzt von Eugenia Michahelles, kommentiert von Christiane Hauschild, und Das Problem des Sujets, übersetzt von Rainer Grübel, Walter Kroll und Eberhard Seidel, ausgewählt und kommentiert von Christiane Hauschild)
I. Auszug aus: Der künstlerische Raum in Gogol’s Prosa [413] Das Sujet literarischer Erzählwerke entwickelt sich gewöhnlich in einem bestimmten lokalen Kontinuum. Ein naiver Rezipient, der einzelne Episoden realen Orten zuordnet, neigt dazu, dieses Kontinuum mit einem realen (z. B. geographischen) Raum gleichzusetzen. Sobald man aber Darstellungen ein und desselben Sujets in den verschiedenen Künsten vergleicht, wird deutlich, dass es einen spezifisch künstlerischen Raum gibt, der sich nicht auf die bloße Reproduktion lokaler Eigenschaften einer realen Umgebung reduzieren lässt. Die Transformation in ein anderes Genre verändert den „Ort“ des künstlerischen Raums. Michail Bulgakov hat in seinem Theaterroman 1 überzeugend die Verwandlung eines Romans in ein Bühnenstück dargestellt, indem er den Handlungsort aus einem Raum mit nicht markierten Grenzen in den begrenzten Raum einer Bühne verlegte: [Ich] musste ein Exemplar meines Romans aus der Schublade holen. Es geschah, dass ich abends den Eindruck gewann, aus der weißen Seite träte mir etwas Farbiges entgegen. Wenn ich blinzelnd genauer hinschaute, sah ich, dass es ein Bild war. Mehr noch, das Bild war nicht flach, sondern dreidimensional. Es war wie ein kleiner Käfig, in dem ich durch die Zeilen hindurch Licht brennen und die Gestalten, die im Roman beschrieben waren, sich bewegen sah. Ach, war das ein spannendes Spiel! Mehr als ein1
Gemeint ist Michail Bulgakovs in den Jahren 1936–1937 entstandenes Prosawerk Der Theaterroman. Aufzeichnungen eines Toten. (Teatral’nyj roman. Zapiski pokojnika) [Anm. d. Übers.].
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mal bedauerte ich, dass die Katze nicht mehr lebte und ich niemandem zeigen konnte, wie sich die Menschen in dem Zimmerchen der Buchseite bewegten. Ich bin überzeugt, das Tier hätte die Pfote ausgestreckt und nach der Seite gehascht. Ich stelle mir die Neugier in den Katzenaugen vor und die Pfote, die an den Buchstaben kratzt! Mit der Zeit begann das Zimmerchen [wörtl.: „Kästchen“] in dem Buch zu tönen. Deutlich hörte ich die Klänge eines Flügels […]. Da läuft keuchend ein Menschlein. Durch den Tabakrauch verfolge ich seine Bewegungen, strenge die Augen an und se2 he: hinter ihm blitzt ein Schuss, und mit einem Wehlaut fällt er rücklings hin.
Da sich im Weiteren „das Kästchen“ als der Bühne isomorph erweist 3, wird offensichtlich, dass die Ausmaße des Raums für den Raumbegriff nicht konstitutiv sind. Nicht die Größe der Bühne ist bedeutsam, sondern ihre Begrenztheit. Diese Begrenztheit ist dabei von ganz besonderer Art: Die eine Seite des „Kästchens“ ist offen und entspricht nicht dem Raum, sondern der „Perspektive“ im literarischen Werk. Die anderen drei Seiten bilden formal keine Grenze (sie können die Ferne oder eine sich ins Grenzenlose erstreckende Landschaft abbilden, d. h. das Fehlen einer Grenze imitieren). Der auf ihnen abgebildete Raum soll die Illusion eines Bühnenraums erzeugen und die Bühne scheinbar fortsetzen. Zwischen der Bühne und ihrer bühnenbildnerischen Verlängerung besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied: Die Handlung kann sich nur auf der Bühne abspielen. Nur dieser Raum unterliegt zeitlichen Veränderungen, nur er modelliert die Welt mit Mitteln der Theaterzeichen. Das Bühnenbild hingegen, das den Raum der Bühne fiktiv verlängert, ist in Wirklichkeit seine Grenze. [414] Dabei muss betont werden, dass die unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene Vorstellung, der künstlerische Raum sei das Modell eines natürlichen Raums, sich keineswegs immer bewahrheitet. Der Raum im Kunstwerk modelliert verschiedene Beziehungen des Weltbilds: zeitliche, soziale, ethische usw. Dies ist möglich, weil in bestimmten Weltmodellen die Kategorie des Raums eine komplexe und feste Bindung mit Begriffen eingegangen ist, die in unserem Weltbild als getrennt oder als gegensätzlich gelten (so weist der mittelalterliche Begriff 2
3
M. Bulgakov, Izbrannaja Proza, Moskva 1966, S. 538–539 [Die Wiedergabe des Zitats folgt der Übersetzung von Thomas Reschke in: M. Bulgakov, Gesammelte Werke, Berlin 1993, Bd. 2, S. 262–263; Anm. d. Übers.]. „Das Zimmerchen [wörtl.: korobo!ka – Kästchen] klang schon längst nicht mehr […]. Vor meinen Augen stand jetzt das Geviert der Studiobühne. Die Helden wurden größer und traten stattlich und sehr munter auf“ (ebd. S. 544 [dt. Ausgabe: S. 270; Anm. d. Übers.]). Somit weist der künstlerische Raum gewisse typologische Eigenschaften auf.
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der „Russischen Erde“ nicht nur territorial-geographische, sondern auch religiös-ethische Züge auf und verfügt über das distinktive Merkmal der Heiligkeit, das im Ausdruck „Fremde Länder“ der Sündhaftigkeit der einen und der anderen hierarchischen Stellung auf der Stufenleiter der Heiligkeit der anderen entgegengesetzt wird; genannt sei auch das Merkmal der Einmaligkeit, das mit der Vielzahl der fremden Länder kontrastiert, u. a.). Eine andere Erklärung wäre ebenfalls plausibel: Im künstlerischen Weltmodell wird der „Raum“ metaphorisch zum Träger ganz und gar nichträumlicher Beziehungen der modellbildenden Weltstruktur. Somit ist der Raum im Kunstwerk das Weltmodell des jeweiligen Autors in der Sprache seiner räumlichen Vorstellungen.I Dabei ist diese Sprache, wie das auch in andern Dingen zu sein pflegt, für sich genommen wesentlich weniger individuell und in einem höheren Maße von der Zeit, der Epoche, den gesellschaftlichen und künstlerischen Gruppen geprägt als das, was der Künstler in dieser Sprache sagt, als sein individuelles Weltmodell. Die „Sprache der räumlichen Relationen“ stellt also ein abstraktes Modell dar, das als Subsysteme sowohl Raumsprachen verschiedener Gattungen und Kunstarten umfasst als auch Raummodelle unterschiedlichen Abstraktionsgrades (entsprechend dem Bewusstsein der verschiedenen sie hervorbringenden Epochen).4 Der künstlerische Raum kann punktförmig, linear, flächig oder räumlich sein. Darüber hinaus können der lineare und flächige Raum horizontal oder vertikal ausgerichtet sein. Der lineare Raum kann den Begriff der Ausrichtung einbeziehen oder ausklammern. Ist dieses Merkmal vorhanden (der linear ausgerichtete Raum, für den nicht das Merkmal der Breite, sondern der Länge relevant ist, wird in der Kunst oft als Weg dargestellt), so kann der lineare Raum als künstlerische Sprache zeitliche Kategorien angemessen modellieren (z. B. der „Lebensweg“, der „Weg“ als Mittel der Entfaltung eines Charakters in der Zeit). 4
Die Sprache des künstlerischen Raums ist hierarchisch aufgebaut. Dies äußert sich insbesondere darin, dass innerhalb ihrer Varianten aus der Perspektive abstrakterer Raummodelle ebenfalls die Ebenen der Mitteilung und des Codes (der „Subsprache“) bestimmbar sind. So kann z. B. das räumliche Raummodell als Sprache auftreten, mit deren Mitteln man gewisse nichträumliche Kategorien modelliert. Bei einem Vergleich des räumlichen Raummodells, das mit den Mitteln des Theaters einerseits und mit solchen der Malerei andererseits erzeugt wird, kann man sich jedoch davon überzeugen, dass auf dieser Ebene ein solches Modell nur als eine in verschiedenen Sprachen ausgedrückte Mitteilung auftritt.
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In diesem Sinne kann man zwischen einer Kette punktförmiger, stets achronischer Lokalisationen und einem linearen Raum unterscheiden. Dafür sei folgendes Beispiel angeführt: In der fundierten Abhandlung von Sergej Nekljudov* „Zum Verhältnis von raumzeitlichen Relationen und der Sujetstruktur in der russischen Byline“, die den Gedankengang des Autors des vorliegenden Aufsatzes stark [415] beeinflusst hat, wird hervorgehoben, dass „die Orte, an denen eine epische Handlung stattfindet, weniger in ihrer lokalen, als vielmehr in ihrer sujethaften (situativen) Konkretheit erfasst werden. Mit anderen Worten: In der Byline lässt sich eine strenge Zuordnung bestimmter Situationen und Ereignisse zu einem bestimmten Ort beobachten. Bezogen auf den Helden, bilden diese „Orte“ funktionale Felder: Gerät der Held in ein solches Feld, wird er in die für diesen Ort charakteristische Konfliktsituation gezogen. Somit lässt sich das Sujet der Bylinen als Folge räumlicher Versetzungen des Helden darstellen“.5 Indessen ist jede dieser Situationen, wie auch S. Nekljudov anmerkt, in sich statisch und besitzt einen von allen Seiten begrenzten („punktförmigen“) Charakter. Deswegen haben wir es im Falle einer flexiblen und nicht von vornherein festgelegten Abfolge von Episoden (aus einer Episode lässt sich die darauf folgende nicht eindeutig bestimmen) nicht mit einem linearen, sondern nur mit einem gedehnten punktförmigen Raum zu tun. Bei der Beschreibung des punktförmigen Raums haben wir bereits den Begriff der Abgegrenztheit verwendet. Tatsächlich erweist sich die Vorstellung von einer Grenze als ein wesentliches distinktives Merkmal von Elementen der „Raumsprache“, werden doch diese in einem beachtlichen Maße durch das Vorhandensein oder Fehlen dieser Grenze bestimmt, sowohl im Modell als Ganzem als auch in gewissen strukturellen Positionen des Modells. Der Begriff der Grenze ist nicht für alle Arten der räumlichen Wahrnehmung charakteristisch, sondern nur für jene, die bereits eine abstrakte Sprache herausgebildet haben und den Raum als bestimmtes Kontinuum von seinem konkreten Inhalt trennen. So unterscheidet sich das Fresko, das Wandgemälde, von der Tafelmalerei u. a. dadurch, dass es keinen künstlerischen Raum hat, der hinsichtlich seiner Grenzen nicht mit dem 5
S. Ju. Nekljudov, Zum Verhältnis der raumzeitlichen Relationen und der Sujetstruktur in der russischen Heldensage (Byline) [K voprosu o svjazi prostranstvenno-vremennych otno"enij s sju#etnoj strukturoj v russkoj byline]. In: Tezisy dokladov vo vtoroj letnej !kole po vtori"nym modeliruji!"im sistemam, 16–26 avg. 1966 g., Tartu 1966, S. 42.
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physischen Raum der Wände und Gewölbe der ausgemalten Räumlichkeit zusammenfiele. Innerhalb bestimmter Fresken (oder einiger Typen von Ikonen, primitiven Holzschnitzereien und volkstümlicher Malerei) können einzelne Episoden eines Sujets chronologisch dargestellt sein. Diese Episoden können durch Rahmen voneinander abgegrenzt sein, doch manchmal fehlen letztere. In solchen Fällen treten andere Funktionen auf, die anscheinend mit dem Verlust oder der Abschwächung der strukturellen Rolle der Textgrenze zusammenhängen. Obligatorisch wird die vorgegebene Relation (Syntagmatik) der Episoden, womit die Reihenfolge, in der die Episoden betrachtet werden und ihre räumliche Größe im Verhältnis zueinander gemeint sind (die zentrale Episode ist gewöhnlich größeren Ausmaßes und bleibt von der für die Seitenepisoden festgelegten Lesefolge unberührt). Darüber hinaus müssen die Episoden leicht isolierbar sein, was durch die wiederholte Abbildung ein und derselben Figur in verschiedenen Situationen erreicht wird. Die deutliche Annäherung der Struktur dieses Typus an die allgemeinsprachliche Erzählung bewirkt, dass entsprechende Texte der darstellenden Kunst als Erzählungen in Bildern aufgefasst werden (vgl. Bilderbücher, Comics u. ä.).6 6
Vgl. bei Pu"kin: Die Bilder „stellten die Geschichte vom verlorenen Sohn dar. Auf dem ersten entlässt ein ehrwürdiger Alter in Nachtmütze und Schlafrock den ruhelosen Jüngling, der eilig den Segen entgegennimmt und den Sack mit Geld. Auf dem zweiten ist in grellen Zügen das lasterhafte Leben des jungen Mannes dargestellt: Er sitzt am Tisch, umgeben von falschen Freunden und schamlosen Frauen. Weiter hütet der Jüngling, der alles durchgebracht hat, in Lumpen und im Dreispitz, die Schweine und teilt mit Ihnen die Tafel; auf seinem Gesicht dargestellt sind tiefe Trauer und Reue. Schließlich vorgestellt wird seine Rückkehr zum Vater“ (A. S. Pu"kin, Polnoe sobranie so"inenij v 16 t., Moskva 1948. Bd. 8, Teil 1, S. 99 [Das Zitat ist in einer Übersetzung von Peter Urban wiedergegeben in: Aleksandr Pu"kin, Die Erzählungen, Berlin 1999, S. 94; Anm. d. Übers.]. Die von mir kursiv gesetzten Wörter sollen das wiederholte Auftreten der zentralen Figur auf jeder Abbildung unterstreichen und uns dazu bewegen, diese Bilder als Episoden einer Erzählung mit einer festgelegten determinierten Abfolge aufzufassen. Hiermit vergleichbar wäre die Vorgabe der Episodenfolge im folkloristischen Erzählgenre. Episoden dieser Art können als „punktförmig“ aufgefasst werden, wenn sie in eine einfache Opposition zu anderweitig (z. B. „linear“) voneinander abgegrenzten Episoden treten. So werden wir feststellen, dass in den Toten Seelen [Mertvye du"i – Roman von N. Gogol’, 1842] die vom Haupthelden $i!ikov besuchten Orte, an denen er die Gutsbesitzer trifft, als Punkte markiert sind („Haus“) im Gegensatz zum linearen Raum (dem von $i!ikov zurückgelegten „Weg“). Vergliche man ausschließlich die Episoden, ließe sich kein Merkmal der räumlichen Grenze als Bedeutungsfaktor feststellen.
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[416] Die Annäherung der Malerei dieses Typus an das Erzählen zeigt sich insbesondere in der Vorgabe der Richtung, in der man das Bild oder die Zeichnung lesen soll (es wird die für das Erzählen typische Zeitachse der Sujetentwicklung eingeführt). In dieser Hinsicht sind die Illustrationen von Botticelli zu Dantes „Göttlicher Komödie“ besonders interessant. Jede der nach den Gesetzen der perspektivischen Renaissance-Malerei ausgeführten Illustrationen bildet ein Raumkontinuum, in dem sich die Figuren Dante und Vergil in einer bestimmten Richtung bewegen. Die Dynamik entsteht durch das Verfahren der vier- bis fünffachen Wiederholung dieser Figuren innerhalb einer Zeichnung an verschiedenen Orten ihrer Bewegungsabfolge. Vor dem einheitlichen Hintergrund drängt sich einem modernen Betrachter beim „Lesen“ des Bildes der Eindruck gleichzeitiger Anwesenheit mehrerer Dantes und Vergils auf. Zum „Lesen“ der Malerei siehe auch B. A. Uspenskijs* Poetik der Komposition (Moskva 1970) [Uspenskij 1970, 1975]. Die räumliche Abgegrenztheit des Textes vom Nicht-Text zeugt von der Entstehung der Sprache des künstlerischen Raums als eines besonderen modellbildenden Systems. Folgendes Gedankenexperiment verdeutlicht das: Man denke sich eine Landschaft und stelle sich diese entweder als eine Aussicht aus einem Fenster vor (die Fensteröffnung selbst fungiert dann als Rahmen) oder als ein Gemälde. Die Wahrnehmung dieses (ein und desselben) piktoralen Textes wird in jedem der beiden Fälle unterschiedlich sein: Im ersten Fall rezipiert man den Text als sichtbaren Teil eines größeren Ganzen, und die Frage, was sich in dem für den Blick des Betrachters unzugänglichen Teil befindet, ist durchaus berechtigt. Im zweiten Fall nimmt man das in einem Rahmen an der Wand aufgehängte Landschaftsbild nicht als Ausschnitt einer umfassenderen realen Ansicht wahr. Im ersten Fall empfindet man das gemalte Landschaftsbild lediglich als Wiedergabe einer real oder potentiell vorhandenen Ansicht. Im zweiten Fall gewinnt dieselbe Landschaft neben der genannten Funktion eine weitere hinzu: Von uns als eine in sich geschlossene künstlerische Struktur wahrgenommen, tritt diese Landschaft in Relation nicht zu einem Teil des Objekts, sondern zu einem universalen Objekt, wird zu einem Modell der Welt. Ist auf einem Landschaftsgemälde ein Birkenhain abgebildet, stellt sich die Frage: „Was befindet sich hinter dem Hain?“ Nun ist aber das Bild ein Weltmodell, es bildet das Universum nach, und insofern verliert die Frage „Was befindet sich hinter den Grenzen des Bildes?“ ihren Sinn. Somit hängt die räumliche Abgegrenztheit (wie auch ihre anderen in diesem Aufsatz nicht angesprochenen Varianten) mit der
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Transformation des Raums als einer Gesamtheit ihn ausfüllender Dinge in eine abstrakte Sprache zusammen, die man für verschiedene Arten von künstlerischer Modellierung anwenden kann. Das Fehlen des Merkmals der Grenze in Texten, in denen dieses Fehlen spezifisch für ihre künstlerische Sprache ist, sollte nicht verwechselt werden mit Fällen, in denen dieses Merkmal auf der Ebene der Rede (im konkreten Text) zwar fehlt, [417] im System aber erhalten bleibt. So enthält das künstlerische Symbol des Weges ein Verbot der Bewegung in die Richtung, in der der Raum begrenzt ist („vom Wege abkommen“), und natürlich ist in ihm die Bewegung in jene Richtung, in der eine solche Grenze fehlt. Da der künstlerische Raum, wie bereits erwähnt, zu einem formalen System für den Aufbau verschiedener, darunter auch ethischer Modelle wird, eröffnet sich die Möglichkeit, literarische Figuren durch den ihnen entsprechenden Typus des künstlerischen Raums moralisch zu charakterisieren, wobei der Raum als eine eigentümliche zweischichtige lokal-ethische Metapher auftritt. So kann man bei Tolstoj (natürlich mit gewissem Vorbehalt) folgende Typen von Helden unterscheiden: erstens räumlich und ethisch statische, an ihren Ort (ihre Umgebung) gebundene Helden, die, sogar wenn sie sich entsprechend den Anforderungen des Sujets fortbewegen, den für sie charakteristischen locus mit sich tragen. So bringt Fürst Beleckij aus den „Kosaken“7 Moskau (und im engeren Sinne die Moskauer Gesellschaft als einen besonderen, für ihn eigentümlichen Raumtypus) in die Kosakensiedlung mit, und Platon Karataev8 nimmt das russische Dorf in die französische Gefangenschaft mit. Das sind Helden, die sich noch nicht verändern können oder sich nicht mehr zu verändern brauchen. Sie stellen den Ausgangs- oder Endpunkt einer Bewegungslinie dar, auf der sich andere Helden bewegen, von denen im Weiteren die Rede sein wird. Den Helden des unbeweglichen, „geschlossenen“ locus stehen Helden eines „offenen“ Raums gegenüber. Letztere können ebenfalls in zwei Kategorien aufgeteilt werden: jene, die man als Helden des „Weges“ be7
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Fürst Beleckij – Nebenfigur in Lev Tolstojs Erzählung Die Kosaken [Kazaki; 1863]; einst Mitglied vornehmer Moskauer Gesellschaftskreise führt der Fürst auch in einem kleinen Kosakendorf am Terek-Fluss das Leben eines wohlhabenden Offiziers [Anm. d. Übers.]. Platon Karataev – einfacher, mit seinem Volk verbundener, russischer Soldat bäuerlicher Herkunft in Lev Tolstojs Roman Krieg und Frieden [Vojna i mir; 1868/69; Anm. d. Übers.].
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zeichnen könnte (P’er Bezuchov, Konstantin Levin, Nechljudov9 und andere), und die Helden der „Steppe“ (der alte Ero"ka, Chad#i Murat, Fedja Protasov10). Der Held des Weges bewegt sich auf einer vorgegebenen räumlich-ethischen Bahn im linearen spatium. Der diesem Helden zugehörige Raum lässt keine seitliche Bewegung zu. Der Aufenthalt im jeweiligen Punkt des Raums (und der ihm äquivalente moralische Zustand) ist als Übergang in einen anderen, den nächsten Raum zu verstehen. Tolstojs linearer Raum ist gekennzeichnet durch eine Richtungsvorgabe. Er ist nicht grenzenlos, sondern stellt die verallgemeinerte Möglichkeit einer Bewegung von einem Ausgangs- zum einem Endpunkt dar. Deshalb gewinnt der Raum eine temporale Dimension, und die sich in diesem Raum bewegende Person gewinnt den Zug einer inneren Evolution. Eine wesentliche Eigenschaft des sittlichen linearen Raums ist bei Tolstoj das Merkmal der „Höhe“ (bei fehlender „Breite“). Die Bewegung des Helden auf seiner moralischen Bahn ist ein Aufstieg oder Abstieg oder ein Wechsel von beidem. Das Merkmal der „Höhe“ ist auf jeden Fall strukturell markiert.11 Im Unterschied zum Helden des „Weges“ hat der Held der „Steppe“12 kein Verbot für Richtungsänderungen. Anstelle der Bewegung auf einer 9
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P’er (Pierre) Bezuchov: eine der männlichen Hauptpersonen im Roman L. Tolstojs Krieg und Frieden [Vojna i mir; 1868/69]; Gutsbesitzer Konstantin Levin: eine nach ständiger moralischer Vervollkommnung strebende Zentralfigur aus L. Tolstojs Roman Anna Karenina (1878); Dmitrij Nechljudov: Hauptheld in Tolstojs Roman Die Auferstehung [Voskresenie; 1899], der an der Seite der einst durch ihn verführten und nun zu Unrecht angeklagten Prostituierten Maslova eine ethisch-christliche Läuterung erlebt [Anm. d. Übers.]. Der alte Ero"ka: Gestalt eines naturverbundenen, erfahrenen, lebensfrohen Jägers aus L. Tolstojs Erzählung Die Kosaken [Kazaki;1863]; Chad#i Murat: berühmter kaukasischer Krieger, Titelheld der 1912 posthum erschienenen gleichnamigen Erzählung von L. Tolstoj; Fedja Protasov: tragischer Hauptheld im Drama von L. Tolstoj Der lebende Leichnam [%ivoj trup; uraufgeführt 1911), der seinen Drang nach Ungebundenheit und Freiheit mit einer Schattenexistenz bezahlt [Anm. d. Übers.]. Man sollte den für einen Helden typischen Raumcharakter von der realen sujethaften Bewegung des Helden in diesem Raum unterscheiden. Der Held des „Weges“ kann stehen bleiben, umkehren oder vom Wege abkommen, wodurch er in Konflikt mit den Gesetzen des ihm eigenen Raums gerät. Dabei werden seine Taten anders beurteilt als analoge Handlungen einer Figur mit einem anderen räumlich-ethischen Feld. Nach den Worten Fedja Protasovs ist die „Steppe“ ein Synonym für eine antiasketische und von inneren Verboten befreite Verhaltensnorm des Menschen: „Das ist die Steppe, das ist das zehnte Jahrhundert, das ist keine Freiheit [svoboda], sondern Unbegrenzte-
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Bahn ist hier sogar von einer nicht vorhersehbaren Bewegungsrichtung auszugehen. Dabei hängt die Bewegung des Helden im moralischen Raum nicht davon ab, ob der Held sich ändert, sondern davon, inwieweit er die inneren Potentiale seiner Persönlichkeit entfalten kann. Deshalb ist die Bewegung hier keine Evolution [418] (aus demselben Grund wird der in den Augen der Gesellschaft „gefallene“ Fedja Protasov von Tolstoj keineswegs sittlich abgewertet in dem Sinne, in dem es für Nechljudov gilt – vom Zeitpunkt seines Eintritts in die Garde bis zur Begegnung mit Maslova vor dem Gericht). Diese Bewegung hat auch kein temporales Merkmal. Die Funktion der Helden der „Steppe“ besteht darin, Grenzen zu überschreiten, die für andere unüberwindbar sind, in ihrem eigenen Raum jedoch gar nicht existieren. So ist Chad#i-Murat, der in einer Welt lebt, die strikt in Anhänger &amil’s 13 und Russen geteilt ist und in der die Grenze zwischen den beiden Welten stark markiert ist, der einzige Held im Werk, der sich frei bewegt und diese Teilung ignoriert (vgl. die Funktion des Terek-Flusses als Grenze zwischen zwei Welten in den Kosaken und die Worte des alten Ero"ka: „Nimm dir wenigstens am Tier ein Beispiel. Es lebt sowohl im tatarischen Schilf als auch in unserem. Wo es hinkommt, da ist sein Heim“14). Räumliche Beziehungen drücken bei Tolstoj oft ethische Konstruktionen aus und nehmen infolgedessen einen stark metaphorischen Charakter an. Bei Gogol’ hingegen ist die Sache anders, in seinen Werken hat eine besondere Markiertheit der künstlerische Raum. Das spatium, in dem sich der eine oder andere Held bewegt und handelt, ist nicht nur metaphorisch, sondern auch im direkten Sinne auf die eine oder andere ihm eigene Weise organisiert.15 In diesem Sinne ist der künstlerische Raum bei Go-
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heit [volja]…“ (L. Tolstoj, Polnoe sobranie so"inenij v 14 tomach, Moskva 1952, Bd. 11, S. 221). &amil’: Beherrscher des kaukasischen Berglandes in Tolstojs Erzählung Chad#i Murat, Gegenspieler des Titelhelden [Anm. d. Übers.]. L. Tolstoj, Polnoe sobranie so"inenij v 14 tomach, Moskva 1952, Bd. 11, S. 200. Eine weitere Besonderheit sei noch angemerkt: in Systemen, in denen die lokale Situation nicht über ein markiertes Merkmal der Grenze verfügt, ist die Lage einer Figurdurch eine relativ geringe Zahl von Posen und Situationen fixiert oder begrenzt. In Systemen mit einer klar markierten Grenze genießt eine Figur innerhalb des umrissenen künstlerischen Raums mehr Handlungsfreiheit. So kennt z. B. die Karnevalsmaske im Unterschied zum Bühnendarsteller keine Trennlinie zwischen dem künstlerischen und nichtkünstlerischen Raum. Die Zahl der sie einschränkenden Haltungen und Situationen ist aber deutlich höher. Der Künstler kann seine Figuren nicht außerhalb des Gemäldes
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gol’ in einem wesentlich höheren Maße konventionellII, d. h. künstlerisch gekennzeichnet. In einem literarischen Kunstwerk ist der künstlerische Raum ein Kontinuum, in dem Figuren aufgestellt sind und eine Handlung vollzogen wird. Die naive Wahrnehmung verführt den Leser dazu, den künstlerischen Raum mit dem physikalischen gleichzusetzen. Eine solche Wahrnehmung ist nicht ohne Berechtigung, da der künstlerische Raum, auch wenn seine Funktion der Modellierung außerräumlicher Relationen offen gelegt wird, in erster Linie in seiner physikalischen Natur wahrgenommen wird. Deswegen wird die Frage nach einem Raum, in den eine Handlung nicht verlegt werden kann, zu einem wesentlichen Merkmal. Die Aufzählung der Orte, an denen Episoden nicht stattfinden können, umreißt die Grenzen der zu modellierenden Textwelt; die Aufzählung der Orte, an die die Episoden verlagert werden können, ergibt Varianten eines invarianten Modells. Nehmen wir an, uns liegt ein Text vor, in dem die Handlung in Moskau stattfindet und in keine [419] andere Stadt verlegt werden kann, und ein zweiter Text, der eine Verlagerung nach Petersburg (jedoch in keine dörfliche Landschaft) zulässt. Diese Texte können in unterschiedliche Oppositionspaare einbezogen werden: „Stadt“ – „Landgut“, „Hauptstadt“ – „Provinz“, „Großstadt“ – „Kleinstadt“. Es ist offensichtlich, dass in den vorliegenden Texten die jeweiligen Räume ein unterschiedliches Objekt modellieren, obwohl in beiden Fällen das Geschehen in Moskau stattfindet. Greifen wir nun Gogol’s Komödie Die Hochzeit [%enit’ba; 1842] auf, in der sich die Handlung „im Moskauer Stadtteil“ „unweit der Pesok, im Myl’nyj pereulok“16 (Petersburg) abspielt. Die Handlung nach Zamoskvore!’e17 zu verlegen, ist natürlich eher möglich, als an den
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platzieren, doch im Rahmen des Gemäldes ist der Künstler wesentlich freier als ein Freskenmaler. Hingewiesen sei noch darauf, dass auch im konventionellen Theater des 20. Jahrhunderts in dem Maße, in dem die Gestik einfacher und „typenhafter“ und die Posen starrer werden, das Streben wächst, sich über Rampe und Dekorationen hinwegzusetzen und die Unbeweglichkeit des Theaterraums zu durchbrechen. Vgl. auch das statische Bild in der Schlussszene des Revisors [N. Gogol’, Revizor, 1836; Anm. d. Übers.] und das Durchbrechen der Grenze des Bühnenraums durch den Stadthauptmann („Über wen lacht ihr?“). Es ist anzunehmen, dass zwischen dem Grad, in dem die Grenze des Bühnenraums fixiert ist, und der Bewegungsfreiheit der Figuren ein komplementäres Verhältnis besteht. N. Gogol’, Polnoe sobranie so"inenij v 14 tomach, Moskva 1949, Bd. 5, S. 12, 15. Zamoskvore!’e: berühmtes Händler- und Künstlerviertel im Zentrum Moskaus [Anm. d. Übers.].
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Nevskij Prospekt. Der Text erzeugt also einen besonderen künstlerischen Raum, der weder Moskau noch einer anderen beliebigen russischen Stadt gleicht, sondern einem „Kaufmannsviertel einer russischen Stadt“ der 1830er Jahre. Der künstlerische Raum ist kein passiver Sammelort für Helden und Sujetepisoden. Die Korrelation dieses Raums mit den handelnden Personen und dem gesamten vom künstlerischen Text geschaffenen Weltmodell überzeugt uns davon, dass die Sprache des künstlerischen Raums kein hohles Gefäß ist, sondern eine der Komponenten einer allgemeinen Sprache, in der das Kunstwerk spricht. […] —————————
II. Auszüge aus: Das Problem des Sujets Wie wir gesehen haben, ist der Ort der Handlungen nicht nur die Beschreibung einer Landschaft oder eines dekorativen Hintergrunds. Das ganze räumliche Kontinuum des Textes, in dem die Welt des Objektes abgebildet wird, fügt sich zu einem bestimmten Topos. Dieser Topos ist stets mit einer gewissen Gegenständlichkeit ausgestattet, da ja der Raum dem Menschen immer in Form irgendeiner konkreten Füllung gegeben ist. Es ist in diesem Fall unwesentlich, dass diese Füllung des Raums bisweilen (wie z. B. in der Kunst des 19. Jahrhunderts) dazu tendiert, sich der alltäglichen Umgebung des Schriftstellers und seiner Leserschaften maximal anzunähern, während sie sich in anderen Fällen (z. B. in den exotischen Schilderungen der Romantik oder in der heutigen „kosmischen“ Science-Fiction) prinzipiell von der gewohnten „gegenständlichen“ Realität entfernt.18 […] 18
Insofern die „unwahrscheinliche“ Umgebung auf der Grundlage tief liegender Vorstellungen des Schriftstellers von den unerschütterlichen Fundamenten des ihn umgebenden Lebens geschaffen wird, treten gerade in der Phantastik die grundlegenden Merkmale desjenigen alltäglichen Bewusstseins hervor, das man vertreiben möchte. Während Chlestakov (in Nikolaj Gogol’s Komödie Der Revisor [1836]) bei der Beschreibung der von ihm in Petersburg gegebenen Bälle hemmungslos phantasiert („Die Suppe ist im Kochtopf direkt mit dem Dampfer aus Paris gekommen“), ist er in der Beschreibung der Lebensgewohnheiten eines kleinen Beamten äußerst genau (die Suppe wird im Kochtopf serviert, der Essende nimmt den Deckel selbst ab). Um es mit Gogol’ zu
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Wichtig ist vielmehr etwas anderes – hinter der Schilderung der Dinge und Gegenstände, in deren Umgebung die Figuren des Textes handeln, entsteht ein System räumlicher Relationen, die Struktur des Topos. Als Prinzip der Organisation und der Verortung der Figuren im künstlerischen Kontinuum erscheint die Struktur des Topos dabei als Sprache, die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt. Damit hängt die besondere modellbildende Funktion des künstlerischen Raums im Text zusammen. Mit dem Begriff des künstlerischen Raums wiederum hängt eng der Begriff des Sujets zusammen.III Dem Begriff des Sujets liegt die Vorstellung vom Ereignis zugrunde. So schreibt Boris Toma"evskij* in seiner – in der Exaktheit der Formulierungen klassischen – Theorie der Literatur [Teorija literatury]: „Fabel wird die Gesamtheit der untereinander zusammenhängenden Ereignisse genannt, von denen in einem Werk berichtet wird. […] Der Fabel steht das Sujet gegenüber: dieselben Ereignisse, doch in ihrer Darlegung, in derjenigen Reihenfolge, in der sie in dem Werk vorliegen, in demjenigen Zusammenhang, in dem im Werk über sie mitgeteilt wird.“19 Das Ereignis gilt als kleinste unauflösbare Einheit des Sujetaufbaus, die Aleksandr Veselovskij* als Motiv definiert hat.IV Auf der Suche nach dem Hauptmerkmal des Motivs wandte er sich dem semantischen Aspekt zu: Das Motiv ist die elementare, unauflösbare Einheit des Erzählens, die mit einem typisierten, ganzheitlichen Ereignis der außerhalb gelegenen Sphäre (der des Lebens) korreliert: „Unter Motiv verstehe ich eine Formel, die auf Naturphänomene zurückgeht, mit denen sich die Menschen überall zu Beginn des Gemeinwesens auseinanderzusetzen hatten, oder eine Formel, die besonders herausragende, wichtig erscheinende oder sich
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sagen, zeigt sich ein Mensch, der eine Lüge ausspricht, „gerade in ihr so, wie er wirklich ist“ [N. Gogol’, Otryvok iz pis’ma, pisannogo avtorom vskore posle pervogo predstavlenija Revizora k odnomu literatoru (Ausschnitt aus einem Brief, verfasst vom Autor unmittelbar nach der Uraufführung des Revisors). In: ders., Polnoe sobranie so"inenij, Bd. 4, Moskva/Leningrad 1951, S. 99; Anm. Ch. Hauschild]. Der Begriff der Phantastik selbst ist demnach relativ. B. V. Toma"evskij, Teorija literatury (Po$tika), Leningrad 1925 [dt.: Theorie der Literatur. Poetik. Hrsg. und eingel. von Klaus-Dieter Seemann. Aus dem Russ. übers. von Ulrich Werner, Wiesbaden 1985, S. 218; Anm. Ch. Hauschild].
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wiederholende Wirklichkeitseindrücke fixiert. Kennzeichen des Motivs ist sein bildlicher, eingliedriger Schematismus“.20 Wir wollen die unbezweifelbar tiefe Einsicht dieser Definition festhalten. Als Veselovskij den zweieinigen Charakter des Motivs heraushob – als verbaler Ausdruck und als ideell erfasste Alltagserfahrung – und auf seine Wiederholbarkeit hinwies, näherte er sich deutlich der Bestimmung der Zeichennatur des von ihm eingeführten Begriffs. Versuche jedoch, das auf diese Weise konstruierte Modell des Motivs zur weiteren Arbeit an der Textanalyse zu verwenden, bringen sogleich Schwierigkeiten mit sich: Weiter unten werden wir uns davon überzeugen, dass ein und dieselbe Alltagsrealität in verschiedenen Texten den Charakter eines Ereignisses annehmen oder auch nicht annehmen kann.V Anders als Veselovskij deklarierte Viktor &klovskij* eine rein syntagmatische Abgrenzung der Einheit des Sujets: „Märchen, Novelle, Roman sind eine Kombination von Motiven; das Lied ist eine Kombination von stilistischen Motiven; deshalb sind das Sujet und die Sujethaftigkeit eine ebensolche Form wie der Reim.“21 Freilich hat &klovskij selbst dieses Prinzip nicht so konsequent durchgehalten, wie das Vladimir Propp* in der Morphologie des Märchens [Morfologija skazki] tat: de facto liegt seinen Analysen nicht die Syntagmatik der Motive, sondern die Komposition der Verfahren zugrunde. Das Verfahren wird, im Zusammenhang der allgemeinen Konzeption der „langsamen Wahrnehmung“ und der Entautomatisierung der Form, als Beziehung der Lesererwartung zum Text gedacht. Dementsprechend ist „Verfahren“ bei &klovskij das Verhältnis eines Elements der einen syntagmatischen Struktur zur anderen und schließt folglich ein semantisches Element ein. Darum ist die Behauptung &klovskij: „Für den Begriff ,Inhalt‘ findet sich bei der Analyse eines Kunstwerks unter dem Aspekt der Sujethaftigkeit kein Bedarf “22 ein polemischer Ausfall und nicht eine genaue Erklärung der Position des Autors. Die Position &klovskijs resultiert aus dem Bemühen, das Geheimnis zu ergründen, warum alle automatischen Elemente eines Textes in der Kunst 20
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A. N. Veselovskij, Istori"eskaja po$tika [Historische Poetik, darin „Poetik des Sujets“ aus Po$tika sju#etov (1887–1906), Leningrad 1940, S. 494; vgl. die Auszüge aus dieser Arbeit Veselovskijs im vorliegenden Band, S. 2; Anm. Ch. Hauschild]. V. B. &klovskij, Teorija prozy, Moskva/Leningrad 1925, S. 50 [vgl. dt. Übers. in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969, S. 109; s. die Übersetzung im vorliegenden Band, S. 22; Anm. Ch. Hauschild]. Ebd. [vgl. Übersetzung im vorliegenden Band, S. 22; Anm. Ch. Hauschild].
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semantisch beladen werden. Man darf hier nicht einen Ausfall gegen diejenige akademische Wissenschaft übersehen, die mit den folgenden Worten Veselovskijs die Position Erwin Rohdes tadelte: „Poetische Werke behandelt er, als seien sie nur poetisch.“23 Und weiter: „Ein poetisches Werk ist genauso ein historisches Denkmal wie jedes andere, und ich sehe keine besondere Notwendigkeit, eine Masse archäologischer und anderer Stützen und Überprüfungen beizubringen, ehe man ihm diesen ihm angeborenen Titel zuerkennt.“24 Charakteristisch ist das darauf folgende naive Argument: „Es hat doch keiner der Zeitgenossen die Troubadours der Unwahrhaftigkeit angeklagt.“25 Keiner der Zuhörer, die ein Zaubermärchen ästhetisch erleben, klagt den Erzähler der Unwahrhaftigkeit an – bedeutet das denn aber, dass die Hexe [Baba-Jaga] und der Gebirgsdrache [Zmej-Goryny!] zu den Realien des Alltags gehörten? Doch gerade deshalb, weil an die Stelle der richtigen These, ein Kunstwerk stelle ein historisches Denkmal dar, das Postulat tritt, es sei genauso ein Denkmal „wie jedes andere“, werden in der quasi wissenschaftlichen Literatur die Versuche fortgesetzt, in mythologischen Ungeheuern fossile Dinosaurier und in der Legende von Sodom und Gomorrha die Erinnerung an eine Atomexplosion und Weltraumflüge zu sehen.26 Die tiefsinnigen Ausgangspostulate Veselovskijs fanden in seinen Arbeiten keine volle Realisierung. Dennoch haben der Gedanke Veselovskijs vom Zeichen-Motiv als Grundelement des Sujets ebenso wie die syntagmatische Analyse Propps und die syntagmatisch-funktionelle Analyse &klovskijs von verschiedenen Seiten her die gegenwärtige Lösung dieser Frage vorbereitet. Was stellt nun das Ereignis als Einheit der Sujetfügung dar? Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes. Daraus folgt, dass keine einzige Beschreibung irgendeiner Tatsache oder Handlung in ihrer Beziehung zu 23 24 25 26
A. N. Veselovskij, Izbrannye stat’i, Leningrad 1939, S. 35. Ebd. Ebd. Ausgehend von einer naiv-realistischen Vorstellung von der Wechselbeziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit, steht Veselovskij folgerichtig voller Verwunderung vor der Tatsache, dass „die Haare hellbraun sind: das ist die Lieblingsfarbe der Griechen und Römer; alle homerischen Helden sind blond, ausgenommen Hektor“ (A. N. Veselovskij, Istori"eskaja po$tika, S. 75). „Haben wir es mit dem gleichgültigen Erleben der ältesten physiologischen Eindrücke oder mit einem ethnischen Merkmal zu tun?“ fragt er. Doch haben die Physiologie des Sehens und der ethnische Typ der Mittelmeervölker in historischer Zeit schwerlich derart radikale Veränderungen erfahren.
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einem realen Denotat oder dem semantischen System der natürlichen Sprache als Ereignis oder Nichtereignis bestimmt werden kann, solange nicht die Frage beantwortet ist, welchen Ort in dem durch den Kulturtyp definierten sekundären strukturellen semantischen Feld sie einnimmt.VI Doch auch das ist noch nicht die endgültige Lösung: Innerhalb ein und desselben Schemas einer Kultur kann die gleiche Episode, je nachdem, auf welcher strukturellen Ebene sie lokalisiert ist, Ereignis werden oder auch nicht. Da aber gleichzeitig mit der allgemeinen semantischen Ordnung des Textes auch lokale Ordnungen vorhanden sind, von deren jede ihre begriffliche Grenze hat, kann sich das Ereignis als Hierarchie von Ereignissen auf untergeordneten Ebenen realisieren, als Kette von Ereignissen, d. h. als Sujet. In diesem Sinn kann das, was auf der Ebene des Textes der jeweiligen Kultur ein Ereignis darstellt, in dem einen oder anderen realen Text zum Sujet entfaltet sein. Dabei kann ein und dasselbe invariante Konstrukt eines Ereignisses auf verschiedenen Ebenen zu einer Reihe von Sujets entfaltet werden. Während es auf der höchsten Ebene ein Glied eines Sujets darstellt, kann es die Zahl seiner Glieder variieren, je nach der Ebene seiner textuellen Entfaltung. So verstanden stellt das Sujet nicht etwas Unabhängiges dar, das unmittelbar aus dem Alltag gegriffen oder passiv aus der Tradition übernommen worden ist. Das Sujet steht in organischem Zusammenhang mit dem Weltbild [kartina mira], das die Maßstäbe dafür abgibt, was ein Ereignis und was lediglich seine Variante ist, die uns nichts Neues mitteilt. Stellen wir uns vor, Eheleute haben sich zerstritten, weil sie in der Bewertung abstrakter Kunst nicht miteinander übereinstimmen, und haben sich zur Ausfertigung eines Protokolls an eine Dienststelle der Polizei gewandt. Sobald der Polizeibeamte geklärt hat, dass weder Prügeleien stattgefunden haben noch andere Verletzungen von Gesetzen des Ziviloder Strafrechts vorliegen, wird er sich aufgrund des Fehlens von Ereignissen weigern, ein Protokoll auszufertigen. Von seinem Standpunkt aus ist nichts geschehen. Für einen Psychologen jedoch, einen Moralisten, einen Kulturanthropologen oder z. B. einen Kunsthistoriker wird die angeführte Tatsache ein Ereignis darstellen. Die zahlreichen Auseinandersetzungen über den vergleichbaren Wert der verschiedenen Sujets, die im Verlauf der gesamten Geschichte der Kunst stattgefunden haben, hängen damit zusammen, dass ein und dasselbe Ereignis von bestimmten Positionen aus als wesentlich, von anderen aus als unbedeutend erscheint, während es für dritte überhaupt nicht existiert.
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Dies gilt nicht nur für künstlerische Texte. Es wäre lehrreich, unter diesem Gesichtspunkt die Rubrik „Besonderer Vorkommnisse“ in Zeitungen verschiedener Epochen durchzusehen. Ein Vorkommnis – eine bedeutsame Abweichung von der Norm (d. h. ein „Ereignis“, da ja die Einhaltung der Norm kein „Ereignis“ ist) – hängt vom Begriff der Norm ab. Aus dem, was wir über das Ereignis als revolutionäres Element, das der jeweils geltenden Klassifikation entgegensteht, gesagt haben, folgt gesetzmäßig, dass aus den Zeitungen reaktionärer Epochen (z. B. in den „finsteren sieben Jahren“ am Ende der Regierungszeit Nikolajs I.) die Rubrik „Besonderer Vorkommnisse“ verschwindet. Weil nur vorhergesehene Ereignisse stattfinden, verschwindet die Sujethaftigkeit aus den Zeitungsnachrichten. Als Alexander Herzen in einem Privatbrief (vom November 1840) seinem Vater von einem Vorfall in der Stadt berichtete (ein Polizist hatte einen Kaufmann ermordet und beraubt), wurde er auf Anweisung des Kaisers „wegen Verbreitung unbegründeter Gerüchte“ augenblicklich aus Petersburg ausgewiesen.27 Hier ist die Furcht vor „Vorkommnissen“ ebenso charakteristisch wie die Überzeugung, ein von einem Polizisten begangener Mord sei ein Ereignis und folglich dürfe man seine Existenz nicht zugeben; dass aber Privatbriefe durch Agenten der Regierung gelesen würden, sei kein Ereignis (sei Norm, und nicht etwa ein Vorkommnis) und folglich durchaus zulässig. Vergegenwärtigen wir uns die Empörung, mit der Pu"kin aus entsprechendem Anlass reagierte, für diesen war die Einmischung des Staates in das Privatleben eine äußerst unzulässige Anomalie und folglich ein „Ereignis“: „[…] was für eine abgrundtiefe Unsittlichkeit liegt in den Gewohnheiten unserer Regierung! Die Polizei bricht Briefe eines Ehemannes an seine Frau auf und bringt sie dem Zaren zum Lesen (der ein wohlerzogener und ehrenhafter Mensch ist), und der Zar schämt sich nicht, das zuzugeben […]“.28 Wir haben ein treffendes Beispiel dafür vor uns, dass die Qualifizierung eines Faktums als Ereignis vom Begriffssystem abhängt (in diesem Fall vom moralischen) und für Pu"kin und Nikolaj I. nicht übereinstimmt. In gleichem Maße ist auch in historischen Texten die Zuordnung des einen oder anderen historischen Faktums zu den Ereignissen im Verhältnis zum allgemeinen Weltbild sekundär. Das kann man leicht verfolgen, 27 28
[Vgl. A. N. Gercen, Byloe i dumy (Erlebtes und Gedachtes), Buch IV, Kap. XXVI; Anm. Ch. Hauschild]. A. S. Pu"kin, Polnoe sobranie so"inenij, Bd. 12, Moskva/Leningrad 1949, S. 329 [Zitat aus Pu"kins Tagebuch 1833–1835; Anm. Ch. Hauschild].
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wenn man verschiedene Typen von Memoirenliteratur, verschiedene historische Untersuchungen miteinander vergleicht, die auf der Grundlage des Studiums ein und derselben Dokumente geschrieben werden. Umso mehr trifft dies für die Struktur künstlerischer Texte zu. In der Novgoroder Chronik des 13. Jahrhunderts wird ein Erdbeben folgendermaßen beschrieben: „Es bebte die Erde […] um Mittag, und einige hatten das Mittagessen schon beendet.“ Erdbeben und Mittagessen sind hier in gleichem Maße Ereignisse. Es ist klar, dass dies etwa für eine Kiever Chronik unmöglich gewesen wäre. Man kann viele Fälle anführen, in denen der Tod einer Figur kein Ereignis ist. Im Heptameron der Margarethe von Navarra versammelt sich eine erlauchte Gesellschaft, auf gefährlicher Reise durch eine vom Hochwasser überschwemmte bergige Gegend auseinander gerissen, wiederum wohlbehalten im Kloster. Dass dabei Diener umkamen (im Fluss ertranken, von Bären aufgefressen wurden u. ä.), ist kein Ereignis. Es ist nur ein Umstand – die Variante eines Ereignisses. Lev Tolstoj definierte in [der Erzählung] Luzern [Ljucern] das historische Ereignis folgendermaßen: „Am siebten Juli 1857 sang in Luzern vor dem Hotel ,Schweizer Hof‘, in dem die reichsten Leute Quartier nehmen, ein armer fahrender Sänger eine halbe Stunde lang Lieder und spielte auf der Gitarre. Ungefähr hundert Menschen hörten ihm zu. Der Sänger wandte sich dreimal mit der Bitte an alle, ihm etwas zu geben. Nicht ein einziger hat ihm etwas gegeben, und viele lachten über ihn […]. Das ist ein Ereignis, welches die Historiker unserer Zeit mit feurigen, unauslöschlichen Buchstaben aufschreiben müssen. Dieses Ereignis ist bedeutsamer, ernster und hat tieferen Sinn als die Fakten, die in Zeitungen und Historien festgehalten sind.“29 Liebe ist Ereignis vom Standpunkt des Romans, doch erscheint nicht als Ereignis vom Standpunkt der Chronik, die die staatspolitisch wichtigen Eheschließungen fixiert, niemals jedoch Fakten aus dem Familienleben erwähnt (es sei denn, dass sie in das Gewebe der politischen Ereignisse eingeflochten sind). Der Ritterroman fixiert nicht die Veränderungen in der materiellen Lage des Helden – von seinem Standpunkt aus erscheint dies nicht als Ereignis – und die gogol’sche Schule hört auf, Liebe zu fixieren. […]
29
L. N. Tolstoj, Sobranie so"inenij v 14 tomach, Bd. 3, Moskva 1951, S. 25. [Vgl. Leo N. Tolstoj, Frühe Erzählungen, München 1960, S. 497 f.; Anm. Ch. Hauschild].
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Sogar der Tod des Helden wird keineswegs in jedem Text als Ereignis erscheinen. In ritterlichen mittelalterlichen Texten ist der Tod ein Ereignis, wenn er mit Ehre oder Unehre verbunden ist. In diesem Fall wird er dementsprechend auch positiv oder negativ als gutes oder schlechtes Ereignis bewertet. Für sich allein aber wird er nicht als „auffallender Eindruck von der Wirklichkeit“30 betrachtet: „Ist es verwunderlich, wofern ein Mann im Feldzug gefallen ist? Bessere sind gestorben auch von unserem Geschlecht“, schrieb Vladimir Monomach.31 Derselben Meinung war auch sein Sohn: „Wenn du auch meinen Bruder erschlagen hast, so ist das nicht verwunderlich, im Krieg kommen ja Zaren und Männer um.“32 Den Gedanken, ein Ereignis stelle nicht der Tod, sondern der Ruhm dar, hat Daniil von Gali! in einer Rede vor dem Heer mit aller Deutlichkeit ausgedrückt: „Warum entsetzt ihr euch? Wisst ihr nicht, dass ihr auf Männer, auf kriegerische gestoßen seid, aber nicht auf Frauen? Wenn ein Mann im Krieg erschlagen wird, was für ein Wunder ist das dann? Andere sterben doch zu Hause ohne Ruhm, diese aber sind mit Ruhm gestorben.“33 Das letzte Beispiel führt uns zum Kern der Frage. Ein Ereignis wird als das gedacht, was geschehen ist, obwohl es nicht zu geschehen brauchte. Je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass das betreffende Vorkommnis stattfinden kann (d. h. je mehr Information die Nachricht darüber trägt), desto höher wird es auf der Skala der Sujethaftigkeit [skala sju#etnosti] lokalisiertVII. So wird z. B., wenn im modernen Roman der Held stirbt, als Möglichkeit vorausgesetzt, dass er nicht stirbt, sondern, sagen wir, heiratet. Der Autor der mittelalterlichen Chronik aber geht von dem Bewusstsein aus, dass alle Menschen sterben, und daher enthält die Nachricht vom Tod keine Information. Doch sterben die einen mit Ruhm, die andern zu Hause – und eben dies ist es, was einzig erwähnenswert ist. Das Ereignis ist also stets die Übertretung eines Verbots, ein Faktum, das stattfand, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen. Für einen Menschen, der in den 30 31
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[Vgl. A. N. Veselovskij, wie Anm. 13; Anm. Ch. Hauschild]. Povest’ vremennych let [Erzählung von den vergangenen Jahren], Bd. 1, Moskva/Leningrad 1950, S. 165 [dt.: Die altrussische Nestorchronik]. [Vladimir Vsevolodovi! Monomach (1053–1125), Fürst von Kiev; Anm. Ch. Hauschild]. Ebd., S. 169. [Von den Söhnen Vladimir Monomachs ist hier Jaropolk Vsevolodovi! (1082–1139) gemeint, der ebenfalls Fürst von Kiev wurde; Anm. Ch. Hauschild]. Polnoe sobranie russkich letopisej [Gesamtausgabe russischer Chroniken], Bd. 2, 2. Aufl., St. Petersburg 1908, S. 822; [Daniil Romanovi! Galickij (1201–1264), Fürst von Gali! und Volyn’; Anm. Ch. Hauschild].
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Kategorien des Strafgesetzbuches denkt, wird die Übertretung der Gesetze Ereignis sein, vom Standpunkt der Verkehrsregeln das falsche Überqueren der Straße. Betrachtet man Texte unter diesem Gesichtspunkt, so lassen sie sich leicht in zwei Gruppen einteilen: sujetlose und sujethafteVIII. Sujetlose Texte haben einen deutlich klassifikatorischen Charakter, sie bestätigen eine bestimmte Welt und ihren Aufbau. Beispiele für sujetlose Texte können der Kalender, das Telefonbuch oder das lyrische, sujetlose Gedicht sein. Betrachten wir am Beispiel des Telefonbuches einige charakteristische Züge dieses Texttypus. Zuallererst haben diese Texte ihre eigene Welt. Sie bestätigen die Welt der Denotate auf allgemeinsprachlicher Ebene als Universum. Das Verzeichnis der Namen beansprucht dann die Funktion einer Inventarliste der gesamten Welt. Die Welt des Telefonbuches bilden die Familiennamen der Fernsprechteilnehmer. Alles Übrige existiert einfach nicht. In diesem Sinn ist ein wesentliches Kennzeichen für einen Text das, was von seinem Standpunkt aus nicht existiert. Die von der Abbildung ausgeschlossene Welt ist eines der fundamentalen typologischen Kennzeichen eines Textes als Modell des Universums. So existiert aus der Sicht der Literatur bestimmter Perioden keine niedere Wirklichkeit (für die Romantik) oder keine erhöhte, poetische Wirklichkeit (für den Futurismus). Eine andere wichtige Eigenschaft des sujetlosen Textes ist die Bestätigung einer bestimmten Ordnung der inneren Organisation dieser Welt. Der Text ist in einer bestimmten Weise gebaut, und eine Verschiebung seiner Elemente dergestalt, dass die errichtete Ordnung zerstört würde, ist nicht zulässig. So sind beispielsweise im Telefonbuch die Familiennamen der Teilnehmer in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt (in diesem Fall soll die Anordnung die Benutzung erleichtern; prinzipiell wären auch andere Organisationsprinzipien denkbar). Eine Umstellung irgendeines Familiennamens, die die festgelegte Ordnung zerstört, ist nicht zulässig. Nimmt man nicht ein Telefonbuch, sondern irgendeinen künstlerischen oder mythologischen Text, so ist unschwer nachzuweisen, dass der inneren Organisation der Textelemente in der Regel das Prinzip der binären semantischen Opposition zugrunde liegt: die Welt gliedert sich dann in Reiche und Arme, Eigene und Fremde, Rechtgläubige und Häretiker, Aufgeklärte und nicht Aufgeklärte, Menschen der Natur und Menschen der Gesellschaft, Feinde und Freunde. Im Text erfahren diese Welten, wie schon oben gesagt, fast immer eine räumliche Realisation: Die Welt der Armen wird als „Vorstädte“, „Elendsviertel“, „Dachstuben“, die Welt der
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Reichen als „Hauptstraße“, „Paläste“, „Beletage“ realisiert. Es entstehen Vorstellungen von sündigen und gerechten Ländern, die Antithese von Stadt und Land, von zivilisiertem Europa und unbewohnter Insel, Böhmerwald und väterlichem Schloss. Die klassifikatorische Grenze zwischen den einander gegenübergestellten Welten erhält die Merkmale einer Linie im Raum – die Lethe, die die Lebenden von den Toten trennt; das Höllentor mit der Aufschrift, die jede Hoffnung auf Wiederkehr zunichte macht; das Siegel des Ausgestoßenseins, das dem Armen die durchgelaufenen Sohlen aufdrücken, die ihm den Eintritt in den Raum der Reichen untersagen […]. Der sujetlose Text bestätigt die Unerschütterlichkeit dieser Grenzen. Der sujethafte Text wird auf der Grundlage des sujetlosen als dessen Negation aufgebaut. Die Welt teilt sich in Lebende und Tote und ist durch eine unüberwindbare Linie in zwei Teile gegliedert: man kann nicht als Lebender zu den Toten gelangen, oder als Toter die Lebenden besuchen. Der sujethafte Text hält dieses Verbot zwar für alle Figuren aufrecht, führt jedoch eine Figur oder eine Gruppe von Figuren ein, die davon befreit sind: Äneas, Telemach oder Dante steigen in das Reich der Schatten hinab, der Tote in der Folklore, bei %ukovskij34 oder Blok 35 besucht die Lebenden. So werden zwei Gruppen von Figuren herausgearbeitet – bewegliche und unbewegliche.36 Die unbeweglichen sind der Struktur des sujetlosen Grundtypus unterworfen. Sie gehören zur Klassifikation und dienen selbst als deren Bestätigung. Das Überschreiten der Grenzen ist ihnen untersagt. Die bewegliche Figur ist eine Person, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten. Das sind Rastignac, der sich von unten nach oben durchschlägt, Romeo und Julia, die die Grenze überwinden, welche die feindlichen „Häuser“ trennt, der Held, der mit dem Haus der Väter bricht, um ins Kloster zu gehen und ein Heiliger zu werden, oder der Held, der mit seinem sozialen Milieu bricht und ins Volk geht, in die Re34
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[Vasilij %ukovskij (1787–1852) verfasste zahlreiche Nachdichtungen englischer und deutscher Kunstballaden sowie eigene Versuche in dieser Gattung; Anm. Ch. Hauschild]. [Gemeint ist z. B. Aleksandr Bloks Gedichtzyklus Totentänze (Pljaski smerti; 1914); Anm. Ch. Hauschild]. S. dazu die wertvolle Arbeit von S. Ju. Nekljudov, K voprosu o svjazi prostranstvennovremennych otno"enij s sju#etnoj strukturoj v russkoj byline [Über die Wechselbeziehungen zwischen den räumlich-zeitlichen Vorstellungen und der Sujetstruktur in der russischen Byline]. In: Tezisy dokladov vo vtoroj letnej !kole po vtori"nym modeliruju!"im sistemam, 16–26 avg. 1966 g., Tartu 1966.
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volution. Die Bewegung des Sujets, das Ereignis, ist das Überqueren jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt wird. Die Versetzung des Helden innerhalb des ihm zugewiesenen Raums ist kein Ereignis. Daraus wird die Abhängigkeit des Begriffs Ereignis von der im Text geltenden Struktur des Raums, von seinem klassifikatorischen Teil deutlich. Das Sujet kann deshalb immer zu einer Grundepisode zusammengezogen werden – dem Überqueren der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen Struktur. Da aber aufgrund der Hierarchie der binären Oppositionen sich ein Stufensystem semantischer Grenzen bildet (und darüber besondere, von der grundlegenden hinreichend autonome Geordnetheiten entstehen können), ergeben sich zusätzliche Möglichkeiten für Überschreitungen der Verbotsgrenzen, untergeordnete Episoden, die zur Hierarchie der Sujetbewegung entfaltet werden. Das sujetlose System ist demnach primär und kann in einem selbständigen Text verkörpert werden. Das sujethaltige aber ist sekundär und stellt immer eine auf der sujetlosen Grundstruktur aufgelegte Schicht dar. Das Verhältnis zwischen beiden Schichten beinhaltet dabei stets einen Konflikt: Gerade dasjenige, was von der sujetlosen Struktur unmöglich gesetzt wird, macht den Inhalt des Sujets aus. Das Sujet ist im Verhältnis zum „Weltbild“ ein „revolutionäres Element“IX. Wenn wir das Sujet als entfaltetes Ereignis erklären – als Übergang über eine semantische Grenze, dann wird die Umkehrbarkeit der Sujets evident: Die Überwindung ein und derselben Grenze innerhalb ein und desselben semantischen Feldes kann zu zwei Sujetketten entgegengesetzter Richtung entfaltet werden. So impliziert beispielsweise ein Weltbild, das die Teilung in Menschen (Lebende) und Nichtmenschen (Götter, Tiere, Tote) oder in „wir“ und „sie“ einschließt, zugleich zwei Typen von Sujets: Entweder ein Mensch überwindet eine Grenze (den Wald, das Meer), besucht die Götter (die Tiere, die Toten), nimmt etwas mit und kehrt zurück, oder ein Gott (ein Tier, ein Toter) überwindet diese Grenze (den Wald, das Meer), besucht die Menschen, nimmt irgendetwas mit und kehrt zurück. Oder aber: Einer von „uns“ überwindet die Grenze (hat eine Mauer überklettert, die Grenzlinie überschritten, sich angezogen „nach deren Art“, angefangen, „nicht mehr nach unserer Art zu reden“, „den
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Mohammed angerufen“, wie Afanasij Nikitin37 empfiehlt, oder sich als Franzose angezogen, wie Dolochov38) und dringt zu „denen“ vor, oder einer von „denen“ kommt zu „uns“. Ein invariantes Ereignis kann im Verhältnis zur Entfaltung des Sujets als Sprache angesehen werden, und das Sujet als eine bestimmte Nachricht in ihr. Das Sujet als ein bestimmter Text – als ein Konstrukt, tritt jedoch seinerseits im Verhältnis zu Texten niedrigerer Ebenen als eine Art Sprache auf. Das Sujet gibt dem Text sogar innerhalb der jeweiligen Ebene lediglich eine typisierte Lösung: Für ein bestimmtes Weltbild und eine bestimmte Strukturebene existiert ein einziges Sujet. Im realen Text aber tritt es nur als eine gewisse strukturelle Erwartung in Erscheinung, die erfüllt werden kann oder auch nicht. —————————
Bibliographische Notizen I. Der künstlerische Raum in Gogol’s Prosa Originaltitel: Chudo#estvennoe prostranstvo v proze Gogolja. Erstmals in: U"enye zapiski Tartusskogo Gosudarstvennogo universiteta, 1968, Bd 209, S. 5– 50. Übersetzt nach: Ju. L.: Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury, Tallinn 1992, Bd. 1, S. 413–447. Eine deutsche Übersetzung, auf die hier nicht zurückgegriffen wurde, ist erschienen u. d. T. „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“. in: Ju. L., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, übers. von Gerhart Höfflin, Kronberg/Ts. 1974, S. 200–271. II. Das Problem des Sujets Originaltitel: Problema sju#eta. Erstmals in: Struktura chudo#estvennogo teksta. Moskva 1970, S. 280–289. Die Übersetzung folgt mit freundlicher Genehmigung von Herausgeber und Verlag mit geringen Modifikationen der von Rainer Grübel edierten deutschen Version (Jurij M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes. Herausgegeben von Rainer Grübel. Übersetzung aus dem Russischen von 37
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Kaufmann aus Tver’, der unter dem Titel Pilgerfahrt hinter die drei Meere (Cho#denie za tri morja) eine Reise nach Persien und Indien (1466–1472) beschrieb [Anm. Ch. Hauschild]. In Lev Tolstojs Roman Krieg und Frieden (Vojna i mir) [Anm. Ch. Hauschild].
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Rainer Grübel, Walter Kroll und Hans-Eberhard Seidel, © der deutschen Ausgabe, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1973, S. 347–358).
Kommentar Der russische Strukturalist und Kultursemiotiker Jurij M. Lotman (1922–1993) hat in seiner Monographie Die Struktur des künstlerischen Textes eine Definition von ‚Sujet‘ gegeben, die gleichermaßen in der Literaturwissenschaft wie in der Narratologie rezipiert worden ist. Sein Begriff des Sujets ist komplex und umfasst mehrere logisch heterogene Kriterien, die in der Rezeption ganz unterschiedlich gewichtet worden sind und darum kurz benannt werden sollen. Lotman definiert Sujethaftigkeit erstens im nichtgraduierbaren Sinn (durch das Ereignis als Grenzüberschreitung); zweitens in ihrem graduierbaren Aspekt (das Ereignis als Übertretung eines Verbots, als Normabweichung). Lotman spricht hier von der „Skala der Sujethaftigkeit“. Drittens hat der Begriff Sujet eine wertende Komponente (das Ereignis als „Revolution“ im Verhältnis zum „Weltbild“): Innerhalb des binären Gegensatzpaars ‚sujethaft/sujetlos‘ ist ‚sujethaft‘ positiv besetzt. Viertens und letztens steht der Begriff ‚Sujethaftigkeit‘ bereits in der Struktur des künstlerischen Textes im Kontext der Kultursemiotik Lotmans und weist kulturtheoretische Implikationen auf, die aus seiner formalen Definition allein nicht ersichtlich sind (vgl. dazu Lotman 1973a, 1973b). Im Gegensatz zu den überwiegend ahistorisch-typologischen Definitionen, wie sie innerhalb der Narratologie diskutiert werden (vgl. z. B. ‚Erzählen‘ im Gegensatz zu ‚Beschreiben‘), hat der Begriff Sujethaftigkeit eine diachrone Dimension: Sujetlosigkeit repräsentiert im modernen erzählenden Text das logisch und entwicklungsgeschichtlich vorgängige ‚mythische Sprechen‘ (‚Mythos‘ im Gegensatz zu ‚Sujet‘ ). Darüber hinaus bezieht der Sujetbegriff die Kategorie des ‚semiotischen Raums‘ mit ein, berücksichtigt also auch die topologisch-semiotische Dimension von Textualität. Sujethaftigkeit – als Ereignishaftigkeit aufgefasst – wird von Lotman auf den menschlichen Zeichengebrauch als Ganzes bezogen. Schon diese kurze Charakterisierung macht verständlich, warum Lotmans Sujetbegriff weitgehend außerhalb der narratologischen Diskussion um den Ereignisbegriff als Definiens von Narrativität geblieben ist. Diese hat sich, insgesamt betrachtet, in zwei Richtungen polarisiert: Die eine, sprachanalytische, stellt das Ereignis als minimale Grundeinheit des erzählenden Textes in den Vordergrund und sucht das Ereignis formal als „in die Zeit ausgefaltete Antinomie“ im Sinne Kants analytisch zu beschreiben. So profilieren die story grammars der 1970er Jahre einen am Modell des Syllogismus orientierten Begriff von minimal narrative, in ‚klassischer' Form bei Prince (1973), vgl. auch bei Danto (1968). Die andere, hermeneutische Richtung, orientiert sich in ihrer Auffassung von Ereignis an Goethes „ereigneter unerhörter Begebenheit“ und betrachtet es als globale, den Gesamttext charakterisierende Größe. Man kann mit Peter Hühn (2008), der die
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diesbezüglich geführte Diskussion innerhalb der Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg resümiert, von zwei Ereignistypen sprechen, wobei das Ereignis im emphatischen Sinne (event type 2) immer ein Ereignis im engeren, linguistischen Sinne (event type 1) impliziert. Aufgrund dieser Polarisierung ergibt sich folgendes Bild: Der mainstream der Forschung innerhalb der analytischen Richtung beurteilt Lotmans Sujetbegriff ausschließlich als ‚globalen', kontextsensitiven und emphatischen Begriff in der normativen ästhetischen Tradition des 18./19. Jahrhunderts (vgl. kritisch z. B. Meister 2003, 90–95) oder rezipiert den Sujetbegriff nicht als Ereignisbegriff, sondern unter dem Stichwort ‚Raumsemantik' (repräsentativ in diesem Sinne ist die Einführung in die Erzähltheorie von Martinez und Scheffel [2004, 140–145], die Lotman zusammen mit Propp* unter den Stichworten ‚Raumsemantik' und ‚Tiefenstrukturen erzählender Texte' behandeln). Aufgenommen und weiterentwickelt wurde Lotmans Ansatz hingegen in folgenden drei Bereichen: Erstens in der mit dem spatial turn bzw. cultural turn assoziierten Theoriebildung, zweitens in der strukturalistisch orientierten Literaturwissenschaft und Literatursemiotik und schließlich drittens in der Narratologie, die neue Ereignisbegriffe formuliert hat. Diese Ansätze sollen im Folgenden summarisch dargestellt werden. Der so genannten ‚Raumtheorie' des 20. Jahrhunderts hat Lotman mit seiner Sujetdefinition einen wichtigen Impuls gegeben. Hier sind vor allem der wertende Aspekt des Sujetbegriffs und seine kulturtheoretischen Implikationen rezipiert worden. Jörg Dünne fasst unter diesem Begriff ein Konglomerat theoretischer Ansätze aus Philosophie und Kulturwissenschaften zusammen, in denen ganz unterschiedliche Raumbegriffe formuliert worden sind. Er spricht Lotman zusammen mit Bachtin eine Initiatorenrolle insbesondere für die Raumsemiotik zu, der es um eine Analyse der kulturellen Semiotik und Pragmatik von Räumen geht (vgl. Dünne 2006, 5–7 und Dünne/Günzel 2006). Der Begriff ‚Grenzüberschreitung' bei Lotman korrespondiert darüber hinaus deutlich mit Ansätzen, die Phänomene der kulturellen Raumaneignung beschreiben und kritisch über Grenzziehung als soziale Praxis reflektieren (vgl. z. B. die Konzepte der Heterotopie bei Foucault [1967. dt. 1990] oder des third space bzw. in between space bei Homi K. Bhabha). Die ‚Grenzüberschreitung' wird hier im Sinne der Transgression als emanzipatorischer Akt gedeutet. In diesem Sinne können sich auch Rainer Warning und Gerhard Neumann gleichermaßen auf Lotman wie auf Foucaults Préface à la transgression (1963) berufen, um den Begriff der Transgression als neue literaturanthropologische Leitkategorie und als Gegenbegriff zum Ritual zu profilieren (vgl. Warning/Neuman [Hgg.] 2003, 8–12, dazu Bachman-Medick 2004, 324 ff.). Dabei weist die Lotmansche Konzeption der Grenzüberschreitung in ihrer Beziehung zur ‚Ordnung' eine gewisse Ambivalenz auf. Diese verdankt sich dem genetischen Zusammenhang mit dem mythischen Sprechen des Rituals, dem auch der neuzeitliche erzählende Text aufgrund seiner ‚sujetlosen Schicht' partiell verhaftet bleiben muss. Auch hierin besteht eine grundsätzliche Entspre-
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chung zu den Transgressionskonzepten de Certaus, Foucaults, Deleuzes, den Überlegungen Derridas zur „Rahmung“ usw. (vgl. Lotman 1973a, 1973b, zur Beziehung Lotmans zu weiteren poststrukturalistischen Konzepten vgl. Westphal 2004, Volkova 2002, Skulj 2004). In den hier umrissenen theoretischen Ansätzen spielt Narrativität kaum eine Rolle, doch finden sie in letzter Zeit verstärkt Eingang in die ‚postklassischen Narratologien' (vgl. Buchholz/Jahn 2005; zum Begriff ‚postclassical narratologies' vgl. Herman 1999). In der Literaturwissenschaft und Literatursemiotik wurde Lotmans Konzeption formalisiert und modifiziert. Allgemein findet das Konzept der Grenzüberschreitung schon seit den 1980er Jahren in einer Reihe literaturwissenschaftlicher Arbeiten interpretative Verwendung (vgl. z. B. Röttger 1981; Kaiser 1990; Taubenböck 2002; Stock 2002; Warning 1983; 1999). Narratologisch relevant ist Karl Nikolaus Renners mengentheoretische und prädikatenlogische Rekonstruktion der von ihm so benannten „klassischen Grenzüberschreitungstheorie Lotmans“ (2004, 361) und ihre Pragmatisierung für die Filmanalyse (Renner 1983, 1987, 2004), weil hier die Grenzüberschreitung mit Sujethaftigkeit im nichtgraduierbaren Sinn verbunden wird. Dies ist auch in Michael Titzmanns systematischem Entwurf einer Literatursemiotik der Fall (zuletzt Titzmann 2003; besonders Abschnitt 5.2: „Zur Theorie narrativer Strukturen“, Spalte 3075–3085). An Renner und Titzmann knüpfen weitere Untersuchungen an (vgl. Krah 1999; Frank/Lukas 2004). Renner legt seiner Rekonstruktion den Begriff des semantischen Raums als einer Menge zugrunde. Ein Ereignis in Lotmans Sinn ist, so betrachtet, ein prädikatenlogischer Widerspruch, der im Verlauf eines Textes zwischen einer Situationsbeschreibung zum Zeitpunkt t1 (diegetischer Zeit) und seiner ‚Grundordnung' (zu t1) entsteht. Die ‚Grundordnung' entspricht der sujetlosen Textschicht bei Lotman. Sie lässt sich durch eine Menge von ‚Ordnungssätzen' darstellen, die die im Text geltenden Regelhaftigkeiten und modalen Verhältnisse repräsentieren (Renner 1983, 33 ff.). Mit Renners Rekonstruktion korrespondiert die semiotische Definition von „narrativer Struktur“, die Michael Titzmann formuliert hat. Auch er fasst „semantische Räume“ abstrakt als „semantisch-ideologische Teilsysteme einer dargestellten Welt“ auf, die aus „beliebig umfänglichen Mengen von (untereinander korrelierten, ontologischen, psychologischen, soziologischen usw.) Merkmalen bestehen können“ (Titzmann 2003, 3077). Das Ereignis als Grenzüberschreitung nimmt bei ihm die Form eines Übergangs von einer in der erzählten Welt als regelhaft empfundenen Prädikation zu deren Negation an. Titzmann sieht Lotmans Sujetbegriff als definitorisch für Narrativität an und weist zu Recht auf seine Reichweite hin, da er sowohl global als auch in seinem nichtgraduierbaren Aspekt der Princeschen minimal story isomorph ist. Dennoch erscheint auch ihm Lotmans Ereignisbegriff letztlich besser „für die Beschreibung der Hierarchisierungsverhältnisse der Ereignishaftigkeit in komplexen Tex-
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ten geeignet“ zu sein als für mikrostrukturelle Untersuchungen (Titzmann 2003, 3080). Sowohl Renner als auch Titzmann geben vor, Lotmans Konzept zu präzisieren, nehmen jedoch de facto grundlegende Modifikationen vor. So umfasst ihr Raumbegriff ‚semantisierte' Räume der erzählten Welt sowie ‚abstrakte semantische Räume', die durch semantische Merkmale konstituiert werden und denen die konkrete Verräumlichung auf der Ebene der dargestellten Welt nicht mehr zukommt. Weiterhin gehen beide, Renner wie Titzmann, insofern über Lotman hinaus, als sie die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten der Grenzüberschreitung terminologisieren: Der Veränderbarkeit der Grundordnung im Verlauf des Textes, die den Effekt einer Versetzung über eine Grenze haben kann, trägt Renners Unterscheidung zwischen ‚Ordnungsverletzung' und ‚Ordnungstilgung' Rechnung (Renner 1983, 36). Titzmann trennt entsprechend „Metaereignis“ und „normales Ereignis“: Während beim normalen Ereignis die Grenze von einer Figur zu überschreiten ist, verschiebt sich beim Metaereignis die Grenze selbst, so dass „das System der semantischen Räume des Textes nach dem Ereignis nicht mehr dasselbe ist wie vorher“ (Titzmann 2003, 3081). Eine grundsätzliche Erweiterung stellt auch Titzmanns Konzept der Modalisierung von Räumen dar (Titzmann 2003). Gewissermaßen als Synthese dieser Entwicklung lässt sich die von Hans Krah formulierte Ereignistypologie auffassen (Krah 1999, 6–8). Sie umfasst sechs Subtypen, wobei jeweils drei Ereignistypen drei Tilgungstypen entsprechen und dem Metaereignis eine „Metatilgung“ gegenübersteht, bei der eine Transformation der erzählten Welt dahingehend stattfindet, „dass eine ursprünglich ein Ereignis darstellende Grenzüberschreitung nun nicht mehr als Ereignis definiert werden kann“ (1999, 8). Schließlich sind in der Narratologie selbst in Auseinandersetzung mit Lotman weitere Ereignisbegriffe formuliert worden, die z. T. mit dem graduierbaren Aspekt der Lotmanschen Sujetdefinition korrespondieren und in Untersuchungen zu Ereignisnormen aus kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Sicht Anwendung finden. Hier ist insbesondere das von Peter Hühn und Wolf Schmid geleitete Projekt „Ereignishaftigkeit in der russischen und englischen Literatur aus kulturhistorischer Perspektive“ des Hamburger Interdisziplinären Centrums für Narratologie (ICN) zu nennen. Wolf Schmid formuliert in Elemente der Narratologie (Schmid 2005b, 20–27; 2008b, 11–22) einen komplexen narratologischen Ereignisbegriff, der eine Reihe von graduierbaren Aspekten unter den Begriff ‚Ereignishaftigkeit' fasst (zuerst in Schmid 1992, in modifizierter Form 2003a, 2003b). Ist ein Ereignis im nichtgraduierbaren Sinn gegeben, dann steigt seine Ereignishaftigkeit (a) mit seiner Bedeutsamkeit in der erzählten Welt (Relevanz); (b) mit seiner mangelnden Vorhersehbarkeit (Imprädikabilität); (c) aufgrund seiner Konsequenzen, die sich in der erzählten Welt real manifestieren müssen (Konsekutivität); (d) mit der Unmöglichkeit, es zu revidieren (Irreversibilität); (e) mit seiner Einmaligkeit, die es von sich regelmäßig wiederholenden Vorgängen abhebt (Non-Iterativität).
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Anhand der genannten fünf Parameter lassen sich feine Differenzen in der Auffassung von Ereignishaftigkeit beschreiben und auch perspektivisch auf die Figuren der erzählten Welt beziehen. Schmids narratologischer Begriff von Ereignishaftigkeit ist ein hermeneutischer Begriff, der dazu geeignet ist, die Veränderungen von epochen- und genrespezifischen Ereignisnormen sichtbar zu machen, insbesondere die literarische ‚Ereignisskepsis', die sich mit der Destruktion des Realismus und dem Beginn der Moderne abzeichnet und die ihre radikale Ausformung erst in der postmodernen Narration angenommen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lotman intensiv, aber sehr selektiv rezipiert worden ist. In den benannten drei Bereichen sind einzelne Komponenten seiner Definition von Sujethaftigkeit aufgegriffen und modifiziert worden. Insbesondere in der Narratologie hat Lotmans Sujetdefinition durch die Polarisierung der Diskussion um den Ereignisbegriff eine Aufspaltung und Reduzierung auf Einzelaspekte erfahren. Diese Entwicklung findet z. T. ihre Begründung in der unreduzierbaren Differenz zwischen der Kultursemiotik, in deren Kontext sie steht, und der Narratologie im westlichen Verständnis dieses Begriffs. Dennoch hat Lotman in seiner Sujetdefinition bereits Probleme angesprochen, die in der heutigen narratologischen Diskussion überaus aktuell sind, z. B. das Problem der ‚visuellen' Narrativität und das Problem der Zeitbedingtheit des Begriffs der Narrativität selbst. Eine Auseinandersetzung mit Lotmans Sujetbegriff in seinem ursprünglichen theoretischen Kontext könnte die Narratologie zu einem besseren Verständnis dieser Probleme führen.
————————— Anmerkungen I
Mit ‚Sprache' meint Lotman hier ‚semiotische Sekundärsprache' (orig.: sekundär modellierendes System [vtori!naja modeliruju"!aja sistema]). Um das Adjektiv semiotisch zu vermeiden, das politisch unbeliebt war, einigte man sich in Tartu 1964 auf diesen sperrigen Begriff. ‚Sprache', ‚Text' und ‚System' sind in Lotmans Konzeption synonym. Lotman ging weiterhin davon aus, dass sich die semiotischen Sekundärsprachen einer Kultur analog den ‚Semiotiken' Hjelmslevs zu einer ‚Sprache der Kultur' ordnen lassen (vgl. die Explikation des Textbegriffs im ersten Kapitel der Struktur des künstlerischen Textes, Lotman 1970, dt. 1973). Die „Sprache der räumlichen Vorstellungen“ ist dann dasjenige Subsystem im System der semiotischen Sekundärsprachen einer gegebenen Kultur, das einerseits die Vorstellung von Räumlichkeit, anderseits aber auch alle Regeln der Kodierung von Werten durch räumliche Modellbildung einschließt. II Zum Begriff der Konventionalität (uslovnost’) vgl. oben die Anm. XV zum Beitrag V. &klovskijs.
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Die Definition des Sujets in Struktur des künstlerischen Textes hängt unmittelbar mit Lotmans Auffassung vom semiotischen Raum zusammen, die er in den zwei dem Problem des Sujets vorangehenden Abschnitten der Struktur erläutert. Die Rolle, die der Raum in Lotmans Definition von Sujet spielt, erschließt sich nur im Zusammenhang der Kultursemiotik der Tartu-Moskau Schule: diese machte von Beginn an die semiotische ‚Textualität' im weiten Sinne zu ihrem Gegenstand, also sowohl die topologisch-semiotische (Bild, Statue), als auch die linear-semiotische Textualität (natürliche Sprache, Musik). Die Differenz zwischen diesen grundlegenden beiden Typen semiotischer Systeme ist seit Lessings Laokoon [1766] ein vielerörtertes Problem der Ästhetik, das für die Narratologie im Zuge der Erweiterung ihres Gegenstandbereichs um intermediale Texte besondere Relevanz hat. Lotmans Ereignisdefinition stellt im Grunde genommen einen frühen Versuch dar, Merkmale beider semiotischer Textualitäten in einen Begriff zusammenzuführen. IV Zur Fabel-Sujet Dichotomie vgl. die Auszüge aus V. &klovskijs* Theorie der Prosa in diesem Band und die Abhandlung von Schmid 2008a. V Aleksandr Veselovskijs* Motivdefinition steht im Zusammenhang seiner Theorie über den Ursprung des Erzählens, dem Gesamtprojekt einer „Paläontologie erzählender Formen“, das er in der Zeit von etwa 1880 bis 1906 formulierte. Er war der Auffassung, dass sich die Prägung von Motiven in der Vorzeit nach überall gleichen universalen kognitionspsychologischen Gesetzmäßigkeiten vollzogen habe. Dementsprechend schien es ihm möglich, einen universalen Thesaurus der „Formeln“ (Motive) des Märchens zu schaffen. Lotman wendet sich hier gegen die völkerpsychologischen Implikationen des Motivsbegriffs bei Veselovskij und setzt der quasi-mechanistischen Vorstellung einer realistischen Verbindung von Zeichen und außertextueller Wirklichkeit die semiotische Relativität des Ereignisses als Zeichen entgegen. VI Diese Aussage ist im Sinn einer Analogie zur Definition der Funktion in Vladimir Propps* Morphologie des Märchens zu verstehen, die für die Struktur des künstlerischen Textes eine wichtige Rolle spielt. Man kann sagen, dass eine bestimmte, ‚grammatikalische' Lesart Propps die Textauffassung Lotmans grundlegend prägt und dass Lotman in dieser Hinsicht den frühen Programmatikern der Narratologie Todorov und Bremond nahe kommt. Propp zufolge ist z. B. eine konkrete Handung, die sich in einen Satz der Form „X tötet Y“ kleiden lässt, erst dann als eine bestimmte Funktion (Schädigung oder Sieg des Helden) klassifizierbar, wenn ihr Ort in der Sequenz (die Folgen für die Handlung und die Rolle von X) feststeht. Analog dazu sucht Lotman diejenigen Kriterien zu fassen, die ein ‚Faktum' (als das wir hier jede in einem indikativischen Satz zu fassende Mitteilung eines Veränderungssachverhalts ansehen wollen) zu einem ‚erzählten Ereignis' machen. Lotmans Kriterien müssen komplexer als die Propps sein, weil sie sich nicht auf eine Sequenz beziehen, sondern auf eine Hierarchie von ‚Texten' bzw. ‚Systemen' und ,Sprachen'.
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Die Graduierbarkeit von Ereignishaftigkeit ist bei Lotman logischer Bestandteil der Gesamtdefinition von Sujet und von der nichtgraduierbaren Definition nicht zu trennen. Sie folgt aus der Voraussetzung Lotmans, der zufolge ein erzähltes Ereignis notwendigerweise Information im Sinne der Informationstheorie enthalten muss. In Analogie zum Satz von der Entropie der Information in der kybernetischen Theorie Winners, die Lotman stark beeinflusste, spricht Lotman von der Skala der Sujethaftigkeit. VIII Der russische Ausdruck sju#etnyj wird in der Ausgabe Grübels mit ‚sujethaltig' wiedergegeben. Eingebürgert hat sich jedoch ‚sujethaft'. IX In dieser vielzitierten Formulierung deuten sich die kulturtheoretischen Implikationen an, die dann z. B. in Lotmans Abhandlung Die Entstehung des Sujets typologisch gesehen (1973a) ausgeführt werden. Für Lotman exemplifiziert sich in der Genese des Sujets aus dem Mythos der Übergang vom mythischen zum nachmythischen Denken mit der damit verbundenen emanzipatorischen Konnotation (vgl. Lotman 1973). Hier muss auf die Parallele zu Cassirer (1925) und Bachtin* (1965, dt. 1987) hingewiesen werden.
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Verzeichnis der Namen von Personen und Institutionen In diesem Verzeichnis werden kurze Erläuterungen zu den in den Texten mit einem Asterisk markierten Namen von Personen und Institutionen gegeben. Das Verzeichnis wurde von Svetlana Bogen zusammengestellt.
Aarne, Antti Amatus * 1867 Pori, † 1925 Helsinki Finnischer volkskundlicher Erzählforscher und maßgeblicher Theoretiker der geographisch-historischen Schule der Märchenforschung. Erarbeitete das erste wissenschaftliche Katalogisierungssystem für Märchen, das für die internationale Forschung bis heute verbindlich ist. Afanás’ev, Aleksandr Nikolaevi! * 1826 Bogu!ar, Gouvernement Vorone", † 1871 Moskau Russischer Erzählforscher und Herausgeber von Märchensammlungen, die wie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm auf Aufzeichnungen basieren. Seine Märchensammlung Russische Volksmärchen (Russkie narodnye skazki, Erstdruck 1855–1863) gilt noch heute als repräsentativ für das russische Volksmärchen. Andréev, Nikolaj Petrovi! * 1892 Kazan’, † 1942 Leningrad Russischer Märchenforscher, Vertreter der geographisch-historischen Methode. Seit 1924 Mitarbeit in der ! Märchenkommission. Erstellte 1929 einen Typenkatalog der Märchensujets nach Antti Aarnes System. Aséev, Nikolaj Nikolaevi! * 1889 L’gov, Kursker Gouvernement, † 1963 Moskau Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker. Organisator der futuristisch geprägten Literatengruppe Das Schaffen (Tvor!estvo) in #ita und Mitglied der Literarischen Gruppe $ Linke Front der Künste. Seit 1932 Mitglied im $ Sowjetischen Schriftstellerverband. Bachtín, Michail Michailovi! * 1895 Orel, † 1975 Moskau Russischer Philosoph, Sprach- und Literaturtheoretiker. Mit seinen poetologischen Arbeiten zu den Romanen Dostoevskijs und François Rabelais’ sowie mit seinen Studien zur Lachkultur und zum mittelalterlichen Karneval und zum Wort
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Verzeichnis der Namen von Personen und Institutionen
im Roman nahm er tiefen Einfluss auf die russische und internationale Geisteswissenschaft. Auf seine texttheoretischen Konzepte gehen wichtige Begriffe der modernen Textwissenschaft wie Intertextualität, Dialogizität und Alterität zurück. Bédier, Joseph * 1864 Paris , † 1938 Le Grand Serre Französischer Philologe und Erzählforscher, Spezialist auf dem Gebiet der mittelalterlichen französischen Literatur, der Fabliaux, der Heldensagen und des Tristanromans, den er in modernem Französisch rekonstruierte. Ein bedeutender Beitrag zur Erzählforschung ist seine Dissertation Les Fabliaux (1893). Blagój, Dmitrij Dmitrievi! * 1893 Moskau, † 1984 Moskau Russischer Literaturwissenschaftler und -historiker. Seit 1943 Professor an der Moskauer Universität, seit 1953 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Brik, Osip Maksimovi! * 1888 Moskau, † 1945 Moskau Russischer Schriftsteller, Literaturtheoretiker, Dramaturg. Mitbegründer der ! Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache. Herausgeber der Sammelbände für die Theorie der poetischen Sprache (Sborniki po teorii poeti"eskogo jazyka), zusammen mit V. Majakovskij Redakteur der Zeitschrift ! Linke Front der Künste. Búch"tab, Boris Jakovlevi! * 1904 St. Petersburg, † 1985 Leningrad Russischer Literaturwissenschaftler und -kritiker, Autor von Arbeiten über Fet, Tjut"ev, Nekrasov, Saltykov-#"edrin. Christiansen, Broder * 1869 Klixbüll in Nordschleswig, † 1958 Gauting bei München Deutscher Ästhetiker und Philosoph, Anhänger des deutschen Neukantianismus. Mit seinem Buch Philosophie der Kunst von 1909 (1911 ins Russische übersetzt) beeinflusste er maßgeblich die Kategorienbildung des Russischen Formalismus. #jchenbáum, Boris Michailovi! * 1886 Krasnyj, bei Smolensk, † 1959 Leningrad Russischer Literaturtheoretiker und -historiker der klassischen russischen Literatur, auch Filmtheoretiker. Ab 1916 Mitarbeit in der ! Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache. Einer der führenden Vertreter des Russischen
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Formalismus. Professor an der Leningrader Universität, ab 1935 Mitarbeiter im Filmkomitee im Institut für die Geschichte der Künste und im ! Pu!kin-Haus. "ngel’gardt, Boris Michajlovi# * 1887 Bati"#evo bei Smolensk, † 1942 Leningrad Russischer Literaturwissenschaftler, Übersetzer. Entwarf eine philosophische Methodologie der Literaturwissenschaft, setzte sich in seinem Buch Die formale Methode in der Literaturgeschichte (Formal’nyj metod v istorii literatury, 1927) mit Ideen des Russischen Formalismus auseinander. GACHN – siehe Staatliche Akademie für Kunstwissenschaften Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache (Ob"#estvo po izu#eniju poeti#eskogo jazyka, Abk. OPOJAZ) – 1916 von Literaturwissenschaftlern, Linguisten und Verskundlern in Petrograd gegründete und bis 1925 existierende Gesellschaft, die die ‚formale Methode‘ in der Literaturwissenschaft entwickelte. GIII – siehe Staatliches Institut für Kunstgeschichte Gínzburg, Lidija Jakovlevna *1902 Odessa, † 1990 Leningrad Russische Philologin, Literaturkritikerin, Schriftstellerin. Anfang der 1920-er Jahre Mitarbeit in der ! Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache. Ihre wissenschaftlichen Interessen galten der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, der Lyrik und der psychologischen Prosa. Grúzdev, Il’ja Aleksandrovi# * 1892 Petersburg, † 1960 Leningrad Russischer Literaturkritiker und -wissenschaftler, gemeinsam mit Lev Lunc Programmatiker der $ Serapionsbrüder. Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften. Herausgeber von Aleksandr Bloks Briefen und Maksim Gor’kijs Schriften. Hahn, Johann Georg von * 1811 Frankfurt, † 1869 Jena Deutscher Sammler griechischer und albanischer Märchen, volkskundlicher Erzählforscher. Herausgeber einer Sammlung griechischer und albanischer Märchen. Entwickelte den ersten Katalog von Märchentypen. Ivánov, Vja#eslav Ivanovi# * 1866 Moskau, † 1949 Rom Russischer Dichter, Philosoph, Übersetzer, Theoretiker der Dichtkunst und der Kultur, eine der Hauptfiguren des russischen Symbolismus. Verbreitete die Philo-
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sophie Nietzsches in Russland. Seine Wohnung in St. Petersburg, der berühmte „Turm“, war in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Zentrum des Petersburger Kulturlebens. Jakobsón, Roman Osipovi! *1896 Moskau, † 1982 Boston Russischer Philologe, Linguist und Semiotiker, Vertreter der strukturalistischen Schule in der Sprachwissenschaft. 1914 Mitbegründer des ! Moskauer Linguistenkreises, ab 1917 Mitarbeit in der ! Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache, 1926 Mitbegründer des Prager Linguistenkreises. Seit 1943 Professor an der Columbia-Universität in New-York, seit 1949 Professor in Harvard, seit 1957 zugleich auch am Massachusetts Institute of Technology (Cambridge, Mass.). Jampól’skij, Isaak Grigor’evi! * 1902 Kiev, † 1991 Leningrad Russischer Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und Sprachwissenschaftler, seit 1966 Professor an der Universität Leningrad. Mitherausgeber der belletristischen Reihe Bibliothek des Dichters (Biblioteka poeta). Kórman, Boris Osipovi! * 1922 Leninabad, † 1983 I"evsk Russischer Literaturtheoretiker, Begründer der an der Konzeption Michail Bachtins orientierten ‚Korman-Schule‘. Beschäftigte sich mit der Autorproblematik und mit der „historischen Theorie der Polyphonie“, gab zwischen 1967 bis 1998 elf Sammelbände unter dem Titel Probleme des Autors in der Literatur (Problema avtora v chudo"estvennoj literature) heraus. Lelévi!, G. (Labori Gilelevi! Kalmanson) * 1901 Mogilev, † 1937 (unbekannt) Russischer Literaturkritiker, Dichter, Redakteur der parteiabhängigen Literaturzeitschrift Auf dem Wachtposten (Na postu), des Organs der ! Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller. Vertreter der offiziellen Linie in der sowjetischen Literatur. Im Zuge des Stalinschen Terrors arrestiert und erschossen. Licha!év, Dmitrij Sergeevi! * 1906 St. Petersburg, † 1999 St. Petersburg Russischer Literaturtheoretiker und Kulturhistoriker, Textologe, bedeutender Erforscher der altrussischen Literatur und Kultur. Seit 1938 Mitarbeit im ! Pu"kin-Haus, seit 1946 Professor an der Universität Leningrad, seit 1953 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.
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Linke Front der Künste (Levyj front iskusstv, Abk.: LEF): die 1922 entstandene und bis 1929 existierende literarische Gruppe, die die Positionen des Futurismus in der sowjetischen Literatur vertrat. Lótman, Jurij Michailovi! * 1922 Petrograd, † 1993 Tartu Russischer Kultursemiotiker und Literaturtheoretiker mit großem Einfluss auf die russische und westliche Literaturwissenschaft. Seit 1950 Professor für Russische Literatur an der Universität Tartu (Estland). Mitbegründer der Moskau-TartuSchule der Kultursemiotik. Begründer der ab 1964 in Tartu erscheinenden Reihe Arbeiten zu Zeichensystemen (Trudy po znakovym sistemam, heute Signs Systems Studies). Eine Initiatorrolle für die Rezeption Lotmans im Westen spielte das Buch Die Struktur des künstlerischen Textes (Struktura chudo!estvennogo teksta, 1970). Märchenkommission (Skazo"naja komissija): die 1924 gegründete zentrale Koordinationsstelle der Folkloreforschung in der Russischen Geographischen Gesellschaft (Russkoe geografi"eskoe ob#"estvo) in Leningrad. Medvédev, Pavel Nikolaevi! * 1891 St. Petersburg, † 1938 (unbekannt) Russischer Literaturtheoretiker, -kritiker und -historiker, Textologe. Mitglied des Kreises um Michail Bachtin. Seit 1935 Professor an der Universität Leningrad. Herausgeber von Briefen und Tagebüchern Aleksandr Bloks. Autor von Arbeiten über die ‚Formale Schule‘, z. B.: Die Formale Methode in der Literaturwissenschaft (Formal’nyj metod v literaturovedenii, 1928), die er aus der Position des Neukantianismus kritisierte. Moskauer Linguistenkreis (Moskovskij lingvisti"eskij kru!ok, Abk.: MLK): eine Gruppierung linguistisch ausgerichteter Angehöriger der ‚Formalen Schule‘, die sich in den Jahren 1915–1924 dem Studium der Linguistik, der Poesie, der Metrik und der Folklore widmete. Nekljudov, Sergej Jur’evi! * 1941 Moskau Russischer Folklorist, Mythenforscher, Semiotiker. Seit 1969 Professor am Institut für Weltliteratur in Moskau, 1992–2004 stellvertretender Direktor des Instituts für humanitare Forschungen an der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, seit 2004 Direktor des dortigen Zentrums für Typologie und Semiotik der Folklore. Autor von über 350 Arbeiten über Struktur und Semiotik der Folklore.
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Nikíforov, Aleksandr Isaakovi! * 1893 St. Petersburg, † 1942 Leningrad Russischer Volkskundler und Erzählforscher. Ab 1924 arbeitete er als Mitglied der ! Märchenkommission zusammen mit Nikolaj Andreev an der Zusammenstellung des ersten russischen Märchentypenkatalogs und konzipierte gleichzeitig mit Vladimir Propp eine Morphologie des Märchens. OPOJAZ siehe Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache Petróvskij, Michail Aleksandrovi! * 1887 Moskau, † 1940 (unbekannt) Russischer Literaturwissenschaftler und -historiker, Übersetzer. Beschäftigte sich vor allem mit Poetik und Kompositionstheorie. Potebnjá, Aleksandr Afanas’evi! *1835 Dorf Gavrilovka, Gouverment Poltava, †1891 Char’kov Russischer Literaturwissenschaftler, Sprachforscher und Ethnograph, seit 1860 Dozent, seit 1875 Professor an der Char’kover Universität. Begründer der auf den Ideen des deutschen Sprachforschers Wilhelm Humboldt und auf der Philosophie Kants basierenden subjektiv-psychologischen Schule in der russischen Sprachund Literaturwissenschaft. Propp, Vladimir Jakovlevi! * 1895 St. Petersburg, † 1970 Leningrad Russischer Folklorist und Philologe, der berühmteste Erforscher des russischen Märchens, Begründer der morphologischen bzw. strukturalistischen Folkloristik. Stand der komparatistisch-philologischen Schule Aleksandr Veselovskijs und den Formalisten nahe. Ab 1924 Mitglied der ! Märchenkommission, ab 1938 Professor an der Leningrader Universität. Seine 1928 erschienene Morphologie des Märchens (Morfologija skazki) gilt als wichtigstes Frühwerk der Narratologie und als die erste funktionale Morphologie narrativer Texte. Pu"kin-Haus (Pú"kinskij Dom): das 1905 als Museum der Literatur der Pu"kinzeit gegründete und dann zu einer Forschungsstelle umgewandelte Institut für russische Literatur der Akademie der Wissenschaften. Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej, Abk.: RAPP): vor 1928 Allunionsassoziation proletarischer Schriftsteller (Vsesojuznaja associacija proletarskich pisatelej, Abk.: VAPP): eine 1925 bis 1932 existierende literatur-politische Gruppierung, die die offizielle Linie in der sowjetischen Literatur vertrat.
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R!bnikova, Marija Aleksandrovna * 1885 Dorf Aleksandrovka bei Rjazan’, † 1942 Sverdlovsk Russische Literaturwissenschaftlerin, Folkloreforscherin und Methodologin, seit 1934 Professorin an der Universität Moskau. Arbeitete an der Entwicklung der neuen ‚formalistischen‘ Methode des Literaturunterrichts, beschäftigte sich mit Problemen der Poetik und der Komposition. Saltykóv(-"#edrín), Michail Evgrafovi# * 1826 Dorf Spas-Ugol, Gouvernement Tver’, † 1889 St. Petersburg Russischer satirischer Schriftsteller. Serápionsbrüder (Serapionovy brat’ja): die 1921 in Leningrad entstandene, nach dem gleichnamigen Novellenzyklus von E.T.A. Hoffmann benannte, betont apolitische Vereinigung einer Gruppe von Schriftstellern. Existierte bis 1926. Sézeman, Vasilij $mil’evi# 1884 Vyborg, † 1963 Vilnius Russischer Philosoph, Ästhetiker. Sorgte für die Verbreitung des Neukantianismus in Russland. Kritisierte als konsequenter Neukantianer die ‚Formale Schule’. Nach seiner Emigration 1921 publizierte er in russischen Emigranten-Zeitschriften. Skaft!mov, Aleksandr Pavlovi# * 1890 Dorf Stolypino, Gouvernement Saratov, † 1968 Saratov Russischer Literaturtheoretiker und -historiker. Kritisierte die kulturgeschichtliche Schule sowie auch die Formalisten, entwickelte das Prinzip der textimmanenten ‚Teleologie‘. "klóvskij, Viktor Borisovi# * 1893 St. Petersburg, † 1984 Moskau Russischer Philologe, Schriftsteller, Drehbuchautor und Kritiker. Mitbegründer der ! Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache, einer der Haupttheoretiker der ‚Formalen Schule‘. Bahnbrechende Arbeiten zur Literatur und zum Film. Sein Essay Kunst als Verfahren (Iskusstvo kak priem, 1917) gilt als Manifest des Russischen Formalismus. Smirnóv, Aleksandr Aleksandrovi# * 1883 Moskau, † 1962 Leningrad Russischer Literaturhistoriker, -theoretiker und Übersetzer. Forschungsgebiete: europäische Literatur des Mittelalters und der Renaissance, Keltologie, Shakespeare-Forschung. Kritisierte die ‚Formale Methode‘ wegen ihrer mangelnden ästhetisch-philosophischen Begründungen. Sein theoretischer Aufsatz Wege und
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Aufgaben der Literaturwissenschaft (Puti i zada!i nauki o literature, 1923), wurde zum Gegenstand kontroverser theoretischer Diskussionen. Sowjetischer Schriftstellerverband (Sojuz sovetskich pisatelej): offizielle literarische Organisation, die nach der Auflösung der in der Literaturpolitik gegen Ende der 1920-er Jahre dominierenden " Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller und aller anderen literarischen Vereinigungen 1932 gegründet wurde. Erklärte den sozialistischen Realismus zur Hauptrichtung der sowjetischen Literatur. Staatliche Akademie für Kunstwissenschaften (Gosudarstvennaja akademija chudo#estvennych nauk, Abk.: GACHN; bis 1925: Russische Akademie für Kunstwissenschaften – Rossijskaja akademija chudo#estvennych nauk, RACHN): 1921 in Moskau gegründet und bereits 1930 geschlossen. Im Rahmen dieser Akademie entwickelten sich neue Richtungen in der russischen Wissenschaft wie z. B. die psychologische Ästhetik (V. Kandinskij) oder die phänomenologische Schule (G. $pet). Staatliches Institut für Kunstgeschichte (Gosudarstvennyj institut istorii iskusstv, Abk.: GIII): 1912 in St. Petersburg gegründet, war das erste kunstgeschichtliche Institut in Russland. Im Rahmen dieses Instituts entwickelten sich neue Richtungen in der Literaturwissenschaft, vor allem die ‚Formale Schule‘. Stráchov, Nikolaj Nikolaevi! * 1828 Belgorod, Gouvernement Kursk, † 1896 St. Petersburg Russischer Philosoph, Publizist, Literaturkritiker. Polemisierte mit den Vertretern der sog. „demokratischen“ Literatur, vertrat die Position des Slawophilentums. "pet, Gustav Gustavovi! * 1879 Kiev, † 1937 Tomsk Russischer Sprachphilosoph, Psychologe, Kunsttheoretiker. Anhänger der Philosophie Husserls. Beschäftigte sich mit Problemen der Phänomenologie und der Hermeneutik, entwickelte eine eigene philosophisch-psychologische Konzeption der poetischen Sprache. 1918–1921 Professor an der Moskauer Universität, 1923 –1929 Vize-Präsident der ! Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften. Toma#évskij, Boris Viktorovi! * 1890 St. Petersburg, † 1957 Gursuf Russischer Literaturwissenschaftler und Textologe. Bedeutender Pu%kin-Forscher. Stand den Russischen Formalisten nahe. Seit 1942 Professor an der Leningrader Universität, 1957 Leiter der Pu%kin-Abteilung im " Pu#kin-Haus.
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Tynjánov, Jurij Nikolaevi! * 1894 Re!ica (Rezekne, Lettland), † 1943 Moskau Russischer Literaturtheoretiker, Schriftsteller, Drehbuchautor und Übersetzer. Einer der Hauptvertreter des Russischen Formalismus. Gründete zusammen mit Viktor "klovskij und Boris #jchenbaum die $ Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache. Seit 1922 Professor am $ Staatlichen Institut für Kunstgeschichte. Uspénskij, Boris Andreevi! * 1937 Moskau Russischer Literaturhistoriker, Sprachforscher und Semiotiker. Ab 1977 Professor an der Moskauer Universität, seit 1993 Professur an der Universität Neapel. Sein Buch Poetik der Komposition (Po%tika kompozicii, 1970), das sich mit dem Problem der Erzählperspektive auseinandersetzt, beeinflusste maßgeblich die Entwicklung der modernen Narratologie. Veselóvskij, Aleksandr Nikolaevi! * 1838 Moskau, † 1906 St. Petersburg Russischer Literaturhistoriker und -theoretiker, Folklorist und Ethnograph. Vertreter der komparatistisch-philologischen Schule. Seit 1870 Professor an der Petersburger Universität. Erarbeitete die Grundlagen der vom Prinzip literarischer Entlehnungen ausgehenden historischen Poetik. Vinográdov, Viktor Viktorovi! * 1894/1895 Zaraisk, † 1969 Moskau Russischer Literaturtheoretiker, -kritiker und -historiker, Sprachwissenschaftler. Professor an der Leningrader, später an der Moskauer Universität. Seit 1959 Vorsitzender am Institut der russischen Sprache der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In den 1920-er Jahren stand er den Russischen Formalisten nahe. Vinokúr, Grigorij Osipovi! * 1896 Warschau, † 1947 Moskau Russischer Sprachwissenschaftler, -theoretiker und -historiker, auch Literaturwissenschaftler. 1918 bis 1924 Mitarbeit am $ Moskauer Linguistenkreis, seit 1942 Professor an der Moskauer Universität. Stand der Prager Schule nahe. Voló"inov, Valentin Nikolaevi! * 1895 St. Petersburg, † 1936 Leningrad Russischer Linguist, Philosoph, Musikwissenschaftler. Mitglied des Kreises um Michail Bachtin. In den 1970-er Jahren wurden einige seiner Arbeiten der 1920er Jahre, so z. B. das einflussreiche Buch mit dem irreführenden Titel Marxismus
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und Sprachphilosophie (Marksizm i filosofija jazyka, 1929), Bachtin selbst zugeschrieben. V!gotskij, Lev Semenovi" * 1896 Or!, Weißrussland, † 1934 Moskau Russischer Psychologe, Pädagoge, Neurolinguist. Begründer der sogenannten kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie, deren Ideen sich unter dem Einfluss der Gestaltpsychologie, der strukturellen Linguistik und der ‚Formalen Schule‘ entwickelten. #irmúnskij, Viktor Maksimovi" * 1891 St. Petersburg, † 1971 Leningrad Russischer Literaturtheoretiker und -kritiker, Sprachwissenschaftler, einer der bedeutensten Theoretiker auf dem Gebiet der Poetik. Seit 1915 Dozent, später Professor an der Petersburger Universität. Methodologisch stand er der ‚Formalen Schule‘ nahe, deren vermeintliche Einseitigkeiten er jedoch kritisierte.
Index der Namen und Werke
Aarne, Antti A. 127, 137, 154, 163, 291, 313 Achmatova, Anna A. 211, 216 Afanas’ev, Aleksandr N. 132–133, 141–142, 165, 167, 176, 291, 313 Alekseev, Michail P. 10 Anderson, Walter 169, 291 Andreev, Nikolaj P. 127, 154, 172, 176, 291, 313 Andrievskaja, A. A. 291 Anikin,Vladimir P. 127, 291 Annenskij, Innokentij F. 291 Apo, Satu 174 Apuleius, Lucius Amor und Psyche 4 Boccaccio 7 Chansons de geste 5 Archangel’skaja, Vera K. 124–125, 127, 291 Aristoteles 36 Poetik 153 Arutjunova, Nina D. 291 Aseev, Nikolaj N. VI, IX, 47, 291, 313 Astachova, Anna M. 127, 292 Aumüller, Matthias X, 1, 37, 67, 68, 154, 172, 292 Azadovskij, Mark K. 128, 292 Bachmann-Medick, Doris 292 Bachtin, Michail M. VIII, 188, 214– 216, 228–229, 247, 250, 284, 313, 316–317, 321 Bachtina,Valentina A. 125, 292 Bally, Charles 205 Barag, Lev 172, 292 Bédier, Joseph 136, 138, 163, 292, 314 Bel’!ikov Nikolaj F. 249
Belinskij, Vissarion G. 199 Belkin, Aleksej 229 Belyj, Andrej 47, 60 Kotik Letaev 27 Benfey, Theodor 163 Berendsohn, W. A. 164 Bergman, G. 292 Bhabha, Homi K. 284 Blagoj, Dmitrij D. 213, 215, 314 Blok, Aleksandr A. 197, 315, 317 Totentänze (Pljaski smerti) 280 Bo!arov, A. 237 Boccaccio, Giovanni 23 Il Dekameron 20 Bogatyrev Petr G. 154 Bogomolov, Nikolaj A. 293 Booth, Wayne C. VII, 293 Bremond, Claude 293 Breymeyer, Reinhard 293 Brik, Osip M. 18, 92, 314 Brjusov, Valerij Ja. 87, 143, 144 Buchholz, Sabine 285, 293 Buch"tab, Boris Ja. 235, 314 Bulgakov, Michail A. 261, 262 Der Theaterroman. Aufzeichnungen eines Toten (Teatral’nyj roman. Zapiski pokojnika) 261 Bühler, Karl 293 Bunin, Ivan A. 246 Burljuk, David D. 60 Bu"min, A. S. 237 !apek, Karel R. U. R. Rossum’s Universal Robots 56 Carlyle, Thomas, 18 Cassirer, Ernst 294
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Index der Namen und Werke
!echov, Anton P. 29, 38, 91, 124 Der Dicke und der Dünne (Tolstyj i tonkij) 39 Die Bauern (Mu"iki) 195 Ein Pferdename (Lo#adinaja familija) 39 In der Badestube (V bane) 28 Krankenzimmer Nr. 6 ($%&%'% ( 6) 249 Schlafen! (Spat’ cho)etsja) 249 !erny#evskij, Nikolaj G. 124, 200 Certaus de, Michel 285 !ertkov, Vladimir G. 205 Cervantes, Miguel de 20 Don Quijote 54, 58 Chatman, Seymour 294 Chlebnikov, Velimir V. 42, 60, 299 Christiansen, Broder 294, 314 Chomsky, Noam 174 !i)erin, Aleksej V. 229, 232, 294 Cloëtta, Wilhelm 163 Cosquin, Emmanuel 163 !udakov, Aleksandr P. 34, 189, 212, 216, 293, 308 !udakova, Marietta O. 189, 209–211, 216, 294, 308 Dan, Ilona 174 Dante Alighieri Divina Commedia 266 Danto, Arthur 283, 294 Davidovi), Michail G. 294 Defoe, Daniel Robinson Crusoe 54, 57 Dehne, Marianne X, 47, 204, 294 Deleuze, Gillez 285 Derrida, Jacques 284 Des Granges, Charles-Marc 163 Dickens, Charles Little Dorrit 40 Dneprov, Vladimir D. 232, 294 Dobroljubov, Nikolaj A. 237 Dole"el, Lubomír 88, 154, 294 Dolinin, Arkadij S. 229 Dostoevskij, Fedor M. 57, 82, 93, 103, 126, 138, 179, 186, 189, 229, 313
Arme Leute (Bednye ljudi) 199 Das Gut Stepan!ikovo und seine Bewohner (Selo Stepan)ikovo i ego obitateli) 179 Der ehrliche Dieb (!estnyj vor) 38 Der Idiot (Idiot) 91, 101–104, 126 Der Jüngling (Podrostok) 104 Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy) 104 Die Dämonen (Besy) 186 Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie) 50 Drohla, Gisela 35 Dünne, Jörg 284, 294 Dumas, Alexandre 23, 31, 57 Du#e)kina, Elena V. 216, 293 Eckermann, Johann Peter 5, 81, 138 Egorov, Boris F. 237 Eismann, Wolfgang 294 Eimermacher, Karl 153, 155, 282 *jchenbaum, Boris M. VI, 82–85, 88, 92, 94, 138–141, 144, 182, 188, 216, 294, 314 *jzen#tejn, Sergej M. 204 *l’sberg, Jakov E. 237 *ngel’gardt, Boris M. 211 Erlich, Victor 126, 295 Euling, Karl 163 Evlachov, Aleksandr M. 97, 123, 125, 295 Evnin, F. I. 229 Faustov, Andrej A. 295 Fénelon, François Telemach 280 Fet, Afanasij A. Es tönte über dem klaren Fluss (Prozvu)alo nad jasnoj rekoju) 245 Fieguth, Rolf 35 Fielding, Henry 27 Fi#er, Vladimir M. 295 Foucault, Michel 285, 295 France, Anatole 50 Frank, Gustav 295 Frank, Semen L. 124, 295
Index der Namen und Werke Freise, Matthias 295 Freud, Sigmund 163 Fridlender, Georgij M. 229 Gacak,Viktor M. 126–127, 296 García Landa, José Ángel 296 Garnett, David A Man in the Zoo 52, 53, 55–56 Lady into Fox 52 García Landa, José Ángel 36 Gennep, Arnold van 163 Genette, Gérard 88, 154, 296 Gercen, Aleksandr I. 276 Erlebtes und Gedachtes (Byloe i dumy) 230 Gil’ferding Aleksandr F. 116, 128, 296 Ginzburg, Lidija Ja. 230, 296, 315 Gippius,Vasilij V. 296 Goethe, Johann Wofgang von 5, 81, 91, 131, 137, 147, 150, 155, 173, 261, 269, 271, 282, 296 Faust 54 Iphigenie 5 Gogol’, Nikolaj V. 49, 179, 183, 186, 189, 230, 237 Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka (Ve!era na chutore bliz Dikan’ki) 182 Der Nevskijprospekt (Nevskij prospekt) 184, 186 Der Mantel ("inel’) 92, 182 Der Revisor (Revizor) 18, 181, 270, 272 Die Abenteuer !i"ikovs oder Tote Seelen (Pocho#denija $i!ikova ili Mertvye du%i) 49, 57, 180, 265 Die Heirat (&enitba) 180, 270 Die Nase (Nos) 180 Geschichte, wie sich Ivan Ivanovi" und Ivan Nikiforovi" verstritten (Povest’ o tom, kak possorilis’ Ivan Ivanovi! i Ivan Nikiforovi!) 25, 183 Gogoti%vili, Ljudmila A. 213–214, 296 Gölz, Christine X, 179, 195, 296
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Gon!arov, Ivan A. Die Fregatte Pallas (Fregat „Pallada“) 57 Gor’kij, Maksim M. 189, 315 Gornfel’d, Arkadij G. 98, 296 Gorskij, Ivan 296 Gozzi, Carlo 2 Greimas, Algirdas J. 173, 296 Gri%akova, Marina 189, 296 Gri%unin, Andrej L. 123, 296 Grossman, Leonid P. 87, 94, 144, 229, 296 Grübel, Rainer 261, 282 Gruzdev, Il’ja A. VIII–IX, 188–189, 296, 315 Günzel, Stephan 284 Gukovskij, Grigorij A. 230, 234, 297 Gurina, T. L. 236 Hahn, Johann Georg von 8, 154, 315 Hahn, Joseph 184 Hahn, Tatjana 297 Hamsun, Knut Pan 15 Hansen-Löve, Aage VI, 36–37, 126, 211, 297 Hauschild, Christiane X, 36, 113, 131, 155, 261, 272, 273, 276, 278, 297 Hefele, Herman 197 Herman, David 285, 297 Hielscher, Karla 297 Hirt, Ernst 297 Hjelmslev, Louis 287 Hodel, Robert 297 Höfflin, Gerhart 282 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 319 Holbek, Bengt 174, 297 Hühn, Peter 283, 286, 297 Huet, Gérard 163 Hugo, Victor Les misérables 21 Humboldt, Wilhelm 318 Husserl, Edmund 320
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Index der Namen und Werke
Il’in, Il'ja 298 Ivanov, Vja!eslav I. 60, 197, 298, 315 Jachina, G. A. 236 Jahn, Manfred 285, 293 Jakobs, Joseph 4, 16, 163 Jakobson, Roman O. 92, 154, 298, 316 Jampol’skij, Boris G. 316 Jason, Heda 128, 171, 174, 298 Kaiser, Elke 285, 298 Kandinskij, Vasilij V. 320 Karamzin, Nikolaj M. 203, 204 Was der Autor benötigt ("to nu#no avtoru) 203 Karaulov, Jurij N. 215, 298 Karsavin, Lev P. 94 Kataev, Vladimir B. 214, 298 Kaverin, Veniamin A. 201 Kiraj, D’jula 298 Kirpotin, Valerij 229, 237, 298 Köhler, R. 163, 168 Köhler-Zülch, Ines 298 Komarovi!, Vasilij L. 298 Köngas, Maranda E. 298 Korman, Boris O. VIII–IX, 215, 250– 251, 298 Kostjuchin, Evgenij A. 172–174, 299 Ko#evniková, Kv$ta 299 Kraan, Menno 299 Krah, Hans 285–286, 299 Krohn, Kaarle 163, 165 Krivonos, Vladislav %. 124, 299 Krjukova, Alisa M. 299 Kroll, Walter 261 Kru!enych, Aleksej E. 42, 299 Lachmann, Renate 215 Lebedev, Nikolaj A. 300 Lelevi!, G. 300, 316 Lermontov, Michail Ju. 123, 230, 233, 240 Ein Held unserer Zeit (Geroj na&ego vremeni) 182, 242 B!la 182, 242
Lesage, Alain René Le Diable boiteux 24 Lessing, Gotthold Efraim 300 Levin, Isidor 172, 300 Lévi-Strauss, Claude 151, 300 Licha!ev, Dmitrij S. 210, 300, 316 Lichten&tadt, Vladimir O. 300 Lips, Marguerite 205 Lorck, Etienne 205 Lotman, Jurij M. V, IX, 155, 213–214, 237, 251, 283–287, 300, 317 Lukas, Wolfgang 285, 295 Luna!arskij, Anatolij V. 87, 144 Lunc, Lev N. 301, 315 Leyen, Friedrich von der 8, 163 Machlin, Vitalij L. 301 Maeterlinck, Maurice Pelléas et Mélisande 5 Majakovskij, Vladimir V. 42, 60 Majkov, Apollon N. 199 Makogonenko, Georgij P. 230, 301 Maksimov, Dmitrij E. 233, 301 Malmgrem, Carl 301 Maranda, Pierre 298 Markov, A. V. 116, 118, 125 Martinez, Matias 284, 301 Martynova, Antonina N. 154, 301 Maspero, Gaston 163 Maturin, Charles Robert Melmoth the Wanderer 32 Maupassant, Guy de 25–26, 29–30, 38, 50, 57, 81, 87, 138, 144 Les bijoux 29 Le crime au Père Boniface 29 La parure 28 Le retour 17 Le vieux 17 Medvedev, A. P. 124, 301 Medvedev, Pavel N. 189, 301, 317 Meister, Jan-Christoph 284, 301 Mejlach, Boris S. 301 Meletinskij, Eleazar M. 173, 174, 301 Menander 15 Michahelles, Eugenia X, 261
Index der Namen und Werke Miller, Vsevolod F. 118, 125, 132, 163 Mo!alova, Viktorija V. 301 Muka"ovsk#, Jan 301 Müller-Zettelmann, Eva 301 Mysljakov, V. A. 208, 237 Nabokov, Vladimir V. 189 Navarra, Margarethe von Heptameron 277 Nazarenko,Vadim 301 Nekljudov, Sergej Ju. 264, 280, 317 Nekrasov, Nikolaj A. 49, 92, 235, 240 Sa!a 230 Verstumme, Muse der Rache und Trauer (Zamolkni, Muza mesti i pe!ali) 49 Neuman, Gerhard 284, 311 Nikiforov, Aleksandr I. VII, IX, 128, 171, 173–175, 176, 301, 318 Nikitin, Afanasij N. Pilgerfahrt hinter die drei Meere (Cho$denie za tri morja) 282 Nikitin, D. I. 302 Nikitina, Evgenija P. 124, 302 Nikolaev, Nikolaj I. 302 Nikoljukin, A. N. 251 Ogarev, Nikolaj P. 200 O. Henry 57 Oinas, Felix 171 Ol’denburg, Sergej F. 136, 163 On!ukov, Nikolaj Je. 116 Onipenko, Nade$da K. 215–216, 302 Osovskij, Oleg 189, 302 Ovid Ars amatoria 15 Paris, G. 163 Pasternak, Boris L. 60 Pentikäinen, Juha 174 Pereverzev, Valerian F. 302 Perrault, Charles 9 Contes des fées 155 Petrosov, K. G. 237 Petrovskaja, Ol’ga G. 302
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Petrovskij, Michail VI, IX, 67, 87–88, 123, 144, 145, 302, 318 Pfeiffer, Michael 145 Piksanov, N. K. 125 Platonov, Andrej P. 231 Plautus 15 Pliseckij, Mark M. 127, 302 Pokusaev, E. I. 302 Polívka, Ji"í 163 Polti, Georges 2 Pomeranceva, %rna V. 126 Ponson du Terrail, Pierre A. Rocambole 23 Popkova, Nelli A. 125, 127, 302 Potapova, Galina X, 47, 91 Potebnja, Aleksandr A. 98, 318 Prince, Gerald 283, 285, 303 Propp, Vladimir Ja. VII, IX, 126–128, 153–156, 171, 173, 174–176, 273– 274, 284, 303, 318 Prozorova, N. A. 154, 301 Pu&kin, Aleksandr 24, 37, 145, 184, 204, 233, 303, 318, 320 Der Geizige Ritter (Skupoj rycar’) 181 Der Sargmacher (Grobov&!ik) 82, 139 Der Schneesturm (Metel’) 84, 140 Der Schuss (Vystrel) VI, 67–77, 79, 81–85, 87–88, 123–128, 130–144 Der Stationsaufseher (Stancionnyj smotritel’) 82, 139 Die Erzählungen Belkins (Povesti Belkina) 182 Evgenij Onegin 20, 23, 24, 204, 230 Pique Dame (Pikovaja dama) 246 Putilov, Boris N. 127, 303 Rabelais, François 313 Racine, Jean 236 Radcliffe, Anne 31 Radi&!ev, Aleksandr N. 230 Rajnov T. I. 96 Regnaud, R. 163 Remizova, N. A. 233
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Index der Namen und Werke
Renner, Karl N. 285, 303 Rhodes 163 Rodnjanskaja, Irina B. 303 Röttger, Brigitte 285, 304 Rohde, Erwin 274 Roman de Troie 7 Rousseau, Jean-Jacques 203 Rozanov, Vasilij V. 38, 47 Rybnikova, Marija A. 304, 319 Rybnikov, Pavel N. 116, 128, 304 Rymar’, Nikolaj T. 215, 304 Rystenko, A. V. 125 !aginjan, Marietta M. Mess-Mend, oder die Yankees in Petrograd (Mess-Mend, ili Janki v Petrograde) 48 Saintyves, Pierre 155, 304 Sakulin, P. N. 94, 125 Saltykov-!"edrin, Michail E. 15, 208, 237, 319 Straßenphilosophie (Uli"naja filosofija) 208 !ambinago, Sergej K. 116, 118, 125 !"egolenok, Vasilij P. 116 Scheffel, Michael 284, 301 Scherr, Barry 304 Schiller, Friedrich 2 Schmid, Wolf 15, 36–37, 144–145, 215, 286, 304 Schmid, Herta 297 Schwarz, Wolfgang 304 Seemann, Klaus-Dieter 272 Segal, Dimitri 174 Seidel, Eberhard 261 Semenko, Irina 304 !engeli, Georgij 87, 144 Sezeman, Vitalij #. 94, 97, 100, 124, 189, 305, 319 Shakespeare, William 15, 319 King Lear 15 Macbeth 24 Romeo and Juliet 280 Scherr, Barry 189 Semenko, Irina 230 Shukman, Ann 305
Sidjakov, Lev S. 305 Sil’man, Tamara I. 232 Sipovskij, Vasilij V. 125 Sirotinin, A. N. 124 !i$marev Vladimir F. 10 Sil’man, Tamara I. 305 Skaftymov, Aleksandr P. VI–VII, IX, 91, 96–99, 104, 113, 123–128, 176, 305, 319 !klovskij, Viktor B. VI, IX, 35–38, 40–42, 51, 92, 139, 154, 164, 176, 180, 188, 210, 273, 287, 305, 319 Skobelev, Vladislav P. 215, 304 Skulj, Jola 285, 306 Slezkin, Jurij L. Wer zuletzt lacht. Roman-Pamphlet von George Delarme (Kto smeetsja poslednim. Roman-pamflet %or&a Delarma) 48 Zwei mal zwei ist fünf. Roman (Dva&dy dva – pjat’. Roman) 48 Slonimskij, Aleksandr L. 306 Smirnov, Aleksandr A. 94–95, 97, 172, 307, 319 Sokolov, Aleksandr N. 214 Sokolov, Boris M. 125–126, 307 Sokolov, Jurij M. 127, 307 Sokolova, Ljudmila A. 307 Sologub, Fedor K. 47 !pet, Gustav G. 206, 307, 320 Spiess, Karl 163 Spitzer, Leo 205 Stanislavskij, Konstantin S. 198 Stanzel, Franz K. 200 Stempel, Wolf-Dieter 307 Stepanov, Nikolaj L. 233, 307 Sternberg, Meir 36, 307 Sterne, Laurence Sentimental Journey 41 The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman 32–33, 35–36, 40, 180, 191 Stock, Markus 285, 307 Strachov, Nikolaj N. 21, 320 Soudakoff, Stephen 171 Striedter, Jurij 35, 41, 307
Index der Namen und Werke Sumcov, N. T. 172 Suponickaja, Polina A. 124, 301, 307 Suvorin, Aleksej S. 91 Svitel’skij, Vladislav A. 228–229, 307 Swift, Jonathan Gulliver’s Travels 33, 54 Tamar!enko, Natan D. 214, 251, 307 Taubenböck, Andrea 285, 307 Taylor, Archer 307 Ténèze, Marie Luise 308 Terenz (Publius Terentius Afer) 15 Terras, Victor 308 Thompson, Stith 137, 291 Timofeev, Leonid I. 213 Timofeeva-Po!inkovskaja, Varvara T. 207 Titzmann, Michael 285, 308 Tjupa, Valerij I. 188, 251, 308 Tjut!ev, Fedor I. 235, 240 Toddes, Evgenij A. 189, 216, 294, 308 Todorov, Tzvetan V, 308 Tolstoj, Lev N. 15, 20–21, 25, 30–31, 38, 41, 92, 205, 269 Anna Karenina 27, 57, 58, 268 Chad!i-Murat 30, 268, 269 Der lebende Leichnam ("ivoj trup) 268–269 Der Leinwandmesser (Cholstomer) 27, 33, 56 Die Auferstehung (Voskresenie) 268–269 Die Kosaken (Kozaki) 267–269 Drei Tode (Tri smerti) 26 Früchte der Aufklärung (Plody prosve#!enija) 26 Krieg und Frieden (Vojna i mir) 26, 205, 267–268 Luzern 277 Tod des Ivan Il’i" (Smert’ Ivana Il’i!a) 32 Was ist Kunst? ($to takoe iskusstvo?) 189 Toma#evskij, Boris V. VI, 210, 272, 308, 320 Toporov, Vladimir N. 308
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Tschöpl, Carin 308 Twain, Mark Tom Sawyer 23 Turgenev, Ivan S. Das Adelsnest (Dvorjanskoe gnezdo) 49 Tvardovskij, Akeksandr T. 233 Tynjanov, Jurij N. VIII, 179–180, 187–189, 210, 214, 216, 308, 321 Urnov, Dmitrij M. 309 Uspenskij, Boris A. 266, 237, 309, 321 Uspenskij, Gleb I. 207 Uther, Hans Jörg 309 Vasil’ev (Remizov), Nikolaj V. 116, 117 Veksler, Aleksandra 309 Verne, Jules Le tour du monde en 80 jours 28 Veselovskij, Aleksandr N. V, IX, 10, 16, 36, 42, 134–136, 138–139, 148, 154–155, 163, 172, 211, 272–274, 278, 309, 321 Vetlovskaja, Valentina E. 309 Vinogradov, Viktor V. VIII–IX, 179, 195, 197, 199, 206, 209–216, 230, 310, 321 Vinokur, Grigorij O. 311, 321 Vladimir Monomach 278 Voigt, Vilmos 311 Volkov, Roman M. 135, 164–165, 311 Volkova, Elena V. 285, 311 Volo#inov, Valentin N. 189, 212, 311, 321 Vulis, Abram 311 V%gotskij, Lev S. 322 Wächter, Thomas 311 Walzel, Oskar 94, 197, 205 Warning, Rainer 284, 311 Wells, Herbert G. 57 Wendt, Christel 131, 153 Werner, Ulrich 272 Westphal, Bertrand 285, 311 Wieland, Christoph Martin 204, 311
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Index der Namen und Werke
Wilpert, Gero 311 Wundt, Wilhelm 155 Zamotin, Ivan I. 123, 124 !irmunskij, Viktor M. 94, 124–125, 154, 210, 216, 311, 322 Zjubina, L. I. 231
Zlobina, Ekaterina A. 312 Zola, Émile 57 !uk, Alla A. 302 !ukovskij, Vasilij A. 280 Zundelovi", Jakov O. 87, 144, 229, 233, 312