suhrkamp taschenbuch wissenschaft 23 8
Hans-Georg Gadamer, geh. 1900, ist Professor emeritus der Universität Heidelberg. Publikationen u. a.: Platons dialektische Ethik, 2. A. Harnburg 1968, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19M u. ö., Kleine Schriften, 3 Bände, Tübingen 19671972, Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien, Tübingen 1971, Wer bin Ich und wer bist' du? Ein Kommentar zu Paul Gelans »Atemkristall«, 1973 (BS 352); Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, 1976 (BS 487); Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, 1983 (BS 828); (Hg. zus. mit Gottfried Boehm) Seminar: Philosophische Hermeneutik, 197!1 (stw 144); (zus. mit Jürgen Habermas) Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus An:laß des Hegel-Preises, 1979. (st 596). Gottfried Boehm, Professor für Kunstgeschichte Europas an der Universität Gießen, geh. 1942 in Braunau/Böhmen, studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik in Köln, Wien und Heidelberg. Er promovierte 1968 bei Hans-Georg Gadamer und habilitierte sich 197-4 in Kunstgeschichte. Publikationen: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Beideiberg 1969, Neuedition der.. Schriflen zur Kunst von Konrad Fiedler, 2 Bände, München 1971, Zur Dialektik der ästhetischen a. Grenze (Neue Hefte für Philosophie 5), Der vorliegende Seminar-Band verlängert die in der Sammlung Philosophische Hermeneutik (stw 144) begonnene Diskussion in die Gegenwart; dies insofern, als sich die Hermeneutik zu einem Diskurs entwickelt hat, der in vielfältiger Weise in das Selbstverständnis und !iie Forschungsstratt;gien der Wissenschaften eingreift. Die- zentrale Stellung' der Sprache und der kommunikative Vernunftbegriff in der Hermeneutik repräsentieren eine Basis, welche die einzelnen Wissenschaften nicht lediglich zu bestätigen hätte_n, ihnen vielmehr eine Öffnung für neue Erfahrungen und Verfahrensweisen ermöglicht. Verstand sich die philosophische Hermeneutik, besonders seit Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960), nicht selbst als Methode, sondern als Theorie, welche die Bedingungen der Verstehensprozesse darlegt, so hat sie doch auch Konsequenzen für Methodenkritik und Methodenbewußtsein innerhalb der Wisse.nschaften. Ein Strang dieser kritischen Auseinandersetzung ist bereits in dem Theorieband Hermeneutik und Ideologiekritik abgebildet worden. Der vorliegende Band enthält einen kurzen Abriß theoretischer Grundfragen, entwickelt von Whitehead, Mead, Ric<Eur, Plessner, Polanyi, um sich sodann der Wirkung hermeneutischer Überlegungen in den Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Psychoanalyse, der Theologie, Historie, Literaturwissenschaft und Rhetorik sowie der Kunstgeschichte zuzuwenden. Das vielfältige Spannungsverhältnis zwischen der philosophischen Hermeneutik und den Wissenschaften, welches dabei zutage tritt, bestimmt weite Bereiche der kritischen Grundlagendiskussion und scheint in seinen produktiven Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft. _ Die Einleitung von Gottfried Boehm zeigt die Zusammenhänge und Weiterungen, die sich in der und durch die breitgeführte Hermeneutik-Diskussion ergeben haben.
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Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften Herausgegeben von Hans-Georg ~adamer und Gottfried Boehm
Suhrkamp
. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Seminar: Die Hermen.eutik und die Wissenschaflen I hrsg. von Hans-Georg Gadamer u. Gottfried Boehm. - 2. Auf!. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 238) ISBN 3-518-27838-X NE: Gadamer, Hans-Georg [Hrsg.]; Die Hermeneutik und die Wissenschaften; GT
suhrkamp taschenbuch wissenschafl: 238 Erste Auflage 1978 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1978 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz: Thiele & Schwarz, Ka~sel Drurk: Nomos Verlagsgesellschafl:, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 2 3 4.5 6 7 -
90 89 88 87" 86 85
Inhalt
Gottfried Boehm Einleitung 7
I
Aspekte
h~rmeneutischer
Theorie
1 Alfred North Whitehead Verstehen 63 2 Paul Ricreur Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen 83 3 Michael Polanyi Sinngebung und Sinndeutung 118 4 Helmuth Plessner . Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie 134 5 George H. Mead Die objektive Realität der Perspektiven 152
II Die Hermeneutik in den Wissenschaften 6 Charles Taylor Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen 169 7 Josef Esser Dogmatik zwischen
Theorie~ und
Praxis 227
8 Hermann Lang Sprache - das Medium psychoanalytischer Therapie 252 9 Erich Seeberg Zum Problem der pneumatischen Exegese 272 10 Wolfhart Pannenberg Hermeneutik und Universalgeschichte 283 11 Gerhard Ebeling Hermeneutische Theologie? 320
12 Karl-Georg Faber Grundzüge einer historischen Hermeneutik 344 13 Reinhart KoseHeck über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft 362 14 Chaim Perelman Philosophie, Rhetorik, Gemeinplätze 381 15 G. B. Madison Eine Kritik an Hirschs Begriff der "Richtigkeit" 393 16 Gerhard Kaiser Nachruf auf die Interpretation? 426 17 Gottfried Boehm Zu einer Hermeneutik des Bildes 444 Bibliographie 473 Quellen- und Übersetzungsnachweise 486
GottfriecJ. Boehm Einleitung Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Zur Bestimmung des Verhältnisses Die Hermeneutik ist während zweier Jahrzehnte zu einem Schwerpunkt der wissenschaftlichen Diskussion geworden. Die Vielfalt aller sachlichen Perspektiven abzubilden, die hierbei eine Rolle spielten, überschreitet die Möglichkeiten und den Zweck dieses Bandes. Es geht im wesentlichen darum, die an der Debatte hauptsächlich beteiligten_ Wissenschaften durch Beiträge-···zu repräsentieren, die zur Einleitung in die anstehenden Problen:te geeignet sind un4 ihre produktive We~terbehandlung ermöglichen. Ein praktischer Gesichtspunkt war dabei, solche Aufsätze, die andernorts bereits gut greifbar sind, auszusondern1 und auf bisher unbeachtete, teilweise neue Linien der Diskussion hinzuweisen. Die Beitr~ge bilden untereinander vielfältige Korrespondenzen aus, so daß es gar nicht sinnvoll wäre, die einzelnen Wissenschaften stärker voneinander zu trennen. Die Historismuskritik beispielsweise. tangien die meisten Disziplinen, der Gesichtspunkt hermeneutischer Applikation gleichfalls. Die Bestandsaufnahme des Gesprächs, das zwischen der philosophischen Hermeneutik und den Wissenschaften in Gang gekommen ist, erstreckt sich auf Ursprünge, die vor der eigentlichen Entwicklung des ;engeren Fragenkreises liegen. Sie sind durch den Text von Whitehead hier nur angedeutet, da sie in der Sammlung Philosophische Hermeneutik 2 bereits ausführlich dargelegt wurden. Gleichwohl scheint es erforderlich, einige der theoretischen Grundlagen für den Austausch zwischen der Her'me)1eutik und de~ Wissenschaften einleitend kurz zu skizzieren. Wir greifen dabei auf Nietzsche, Busserl, Heidegger und Gadamer zurück. Von Interesse ist insbesondere auch, welchen philosophischen Anstößen sich der im Umlauf befindliche Begriff der »Interpretation« verdankt, der mit der Hermeneutik gängige · Münze wurde und der geeignet scheint, die verschiedensten Positionen hermeneutischer Theoriebildung unter sich zu versammeln. Interpretation oder Auslegung spielt nicht länger die Rolle eines Kampfbegriffes gegen das Ideal der Gesetzeswissen7
schaften oder dogmatischer Formen des Positivismus3 , sondern fungiert als eine Formel, in der sich - ungenau genug - abbildet, daß wir in einer Welt ohne Fakten, aber konkurrietender Interpretationen leben, einer post-histoire, die Nietzsche bereits im Auge hatte, wenn er vom »Perspektivismus« der Erkenntnis sprach: » ... Gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« Und: »Soweit überhaupt das Wort >Erkenntnis< Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen .. Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne.« 4 Wenn die Hermeneutik dazu beigetragen haben mag, bestimmte Tendenzen des Zeitgeistes aufzunehmen und zu verstärken, wie die erwähnte eines Perspektivismus, so ist dies nicht: mit ihren theoretischen Absichten und sachlichen Programmen gleichzusetzen.. Gewiß leistet der zentrale Stellenwert von »Interpretation« einem solchen Verständnis Vorschub, aber es wäre verfehlt, der Hermeneutik eine Destruktion am Methodenbewußtsein der Wissenschaften zu unterstellen, als wäre Wahrheit ohne oder gegen Methode zu erzielen. Das iterative »und« zwischen »Wahrheit« und »Methode« im Titel des Grundbuches der neueren Hermeneutikdiskussionen weist auf eine spannungsreiche dialektische Beziehung, die nicht vorschnell nach der einen oder anderen Seite aufgelöst w~rden darf. Die Debatte, die schon sehr früh zwischen E. Betti, E. -Hirsch, später Thomas M. Seebohm u. a. auf der einen und Hans-Georg Gadamer auf der anderen Seite ausgetragen wurde, hatte die Forderung zum Inhalt, das Verhältnis zwischen Wahrheit und Methode so zu gestalten, daß, in diesem Fall, der »Objektivitätsanspruch der philologisch-historischen Methode« gewahrt bleibr-5. Der bislang ungedruckte Beitrag von G. B. Madison (S. 393 ff) nimmt diese Einwände nochmals auf. Vorgreifend läßt sich die Funktion der Hermeneutik gegenüber dem wissenschaftlichen Methodengebrauch als diejenige einer Reflexion beschreiben, deren Ziel darin besteht, die naiven Dogmatismen oder perspektivischen Engführungen der wissenschaftlichen Methodik jeweils deutlich zu machen und dadurch neue Fragedimensionen zu öffnen und insgesamt die Fragwürdigkeit und Andersartigkeit der Sache gegenüber dem . methodischen Zugriff weiter aufrechtzuerhalten6 • Der Polarisierung zwischen methodenbewußten Wissenschaften und der philosophischen· Hermeneutik wirken Angebote entgegen, die geeignet sein sollen, wissenschaftliche Verfahren hin8
sichdich ihrer Reichweite selbst zu begrenzen, die wissenschaftliche Vernunft wieder mit der Frage zu konfrontieren, ob, was man wissenschafdich tun kann, auch tun soll. Für diesen Aspekt ist die Rehabilitierung der praktischen Vernunfe vo'n Bedeutung geworden, die von der Seite der Hermeneutik vor allem durch die Einsicht in die modellhafte Bedeutung der aristotelischen Ethik und des Kautischen Vernunftfaktums der Freiheit mitgetragen wurde8 • Wenn sich das Verhältnis zwischen Hermeneutik und den Wissenschaften insgesamt als ein Kontinuum umschreiben läßt, innerhalb dessen die Grenzen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften in Fluß geraten - um dabei produktive neue Erkenntnisperspektiven zu erschließen -, so bleibt doch wahr, daß die Hermeneutik das Mißverständnis, als ginge es ihr um ein neues Methödenkonzept, das mit bestehenden in Wettstreit trete, oder als sei sie eine Art genereller Methodologie mit universalem Anspruch, mit zustande kommen ließ. Einmal deshalb, weil sich die hermeneutische Theorie· auf gelingendes Verstehen beruft, um sich theoretisch auszuweisen : Interpretation als faktischer Vollzug kann so mit der Reflexion auf die Grenze allen Methodengebrauchs· verwechselt werden (anstatt ihre gegenseitige Abhängigkeit wahrzunehmen). Zum anderen aber auch, weil die Hermeneutik, aus Zeiten, bevor sie philosophische Bedeutung und theoretischen Rang erlangt hatte, in der Nähe einer ars interpretandi oder Kunstlehre stand, im Vorfeld methodischer Gesinnung. Sie suchte damals ein Wissen zu vermitteln, das aus praktischen Regeln und Kenntnissen erwuchs9 , die für die bessere Auslegung des eminenten Buches : der Bibel, nützlich, ja unabdingbar waren. Dabei glich sie bezüglich ihres theoretischen Genus stärker der Rhetorik, dem alten Streitgenossen der Philosophie, das heißt sie glich dem Gegenbild philosophischer Diskurse und war ohne gemeinsame Gesprächsbasis mit ihnen. Noch die Deklarierung der Hermeneutik· als »Methode der Geisteswissenschaften« (in der Nachfolge Diltheys z. B. bei E. Betti) ist von dieser alten Erbschaft gezeichnet, in deren Lichte leicht die Meinung aufkommen konnte, als ginge es auch heutiger Hermeneutik um eine Art Rückeroberung eines an die erklärenden Naturwissenschaften verlorenen Methoden-Terrains unter der Formel des Verstehens. Die neue Hermeneutik war nie eine Methodologie der Geisteswissenschaften, die ihre Selbstbestim9
mung aus dem Kontrast zu den Naturwissenschaften hätte finden wollen. Die Hermeneutik, über die heute zu sprechen ist, verdankt ihre Virulenz einer Verwandlung durch Philosophie. Diese erfolgte,· vom deutschen Idealismus an, in verschiedenen Schüben. Dazu gehörte auch die Orientierung an den philologischen, ästhetischen und historischen Disziplinen, auf die sich Dilthey bezog, um mit dem Zeugnis des Lebensbegriffes, das er ihnen entnahm, an den Abstraktionen der Gesetzeswissenschaften Kritik zu üben oder geschichtliche Konkretion zustande zu bringen. Diltheys Kategorie des Lebens, in deren Einheit sich Ausdruck, Erleben und Verstehen von Ausdruck zirkelhaft zusammenschließen, versuchte Hegels Begriff des Geistes konkreter zu machen, bzw .. der Kamischen Erkenntniskritik, welche die Naturwissenschaften zum Bezugspunkt hatte, ein paralleles Gebäude einer Kritik der historischen Vernunft an die Seite zu stellen10• Der bewegende Impuls, der zu einem »Hermeneutisch-werden« der Philosophie führte, läßt sich über die Grenzen der p}lilosophischen Sachpositionen hinweg als die Gemeinsamkeit einer Kritik am Methodenbegriff der modernen Wissenschaften und an der Philosophie des Selbstbewußtseins bestimmen. Darin treffen sich im einzelnen so unterschiedliche Konzepte wie diejenigen Nietzsches, Diltheys, Whiteheads, Heideggers, Gadamers und anderer. Diese Kritik schärfte die Einsicht darein, daß Verstehen ein sehr viel mehr umfassender und anders strukturierter Vorgang ist, als es die abstrakten Modelle exakten Methodengebrauchs nahelegen 11 • Wobei die Kritik am Ideal der Exaktheit sich ·nicht auf die Seite des Unexakten oder Divinatorischen schlägt, sondern auf diejenige größerer Sachangemessenheit.
Zu einigen Grundaspekten hermeneutischer Theorie Die Kategorie: »Interpretation«
Was wir heute als hermeneutische Philosophie kennzeichnenkönnen, baut weit mehr auf phänomenologischen Maximen als auf dem Lehrgehalt der Busserlsehen Philosophie auf. Der 10
systematische Husserl, der seine._ phänomenologische Deskriptionstechnik und Phänomenanalyse zur Errichtung eines an Fichte oder Kant gemahnenden Gebäudes einzusetzen suchte, führt auf die Konzeption eines transzendentalen Egos oder eines apodiktischen Selbstbewußtseins zurück, welches der Kritik hermeneutischer Philosophie verfallen muß 12 • Erhebliche Bedeutung dagegen konnte die phänomenologische Devise »Zu den Sachen selbst« behalten, wegen ihrer entdogmatisierenden Kraft, die die getroff~nen Einstellungen zu reflektieren, ihre Erschließungspotenz zu erproben und durch eine Reflexion auf den Gesamthorizont möglicher Einstellungen zu transzendieren fordert. Husserl selbst konnte deswegen schon früh sein Verfahren durch das Wort »Auslegung« beschreiben, und damit von der Interpretationskategorie Gebrauch machen, zu · welcher der gewissermaßen photographietechnische Begriff der »Einstellung« als ein Komplement hinzutritt. Sein Verfahren bringt das Moment der Perspektivität, eines jeweiligen Augenpunktes, in die Phänomenanalyse ein. Die befreiende Kraft dieser phänomenologischen Forschungsmaxime hat Husserl selbst durch seine Kritik am Psychologismus, an der Mephanik der Empfindungen (z. B. Machs), am Pragtp.atismus u. a. vorgeführt13 • Ihre Überlegenheit beruht darauf, die Phänomene nicht entindividualisieren zu müssen zugunsten eines abstrakten Erkenntnismodells, dem sie nur als aufrufbare Zeugen dienen, die dem Ziel einer »Erklärung« des Gegebenen, ein bestätigendes Nicken hinzufügen. Statt dessen zeigt Husserl, daß die Phänomene selbst die Theorie sind, indem er ihre Struktur und ihren Gehalt »auslegt« (sie nicht länger »erklären« ~öchte~ und als hilfswillige Zeugen vor die abstrakte Instanz· einer methodischen Hypothese zieht). Die Nähe solcher deskribierender Auslegung zu dem procedere des Verstehens in der Hermeneutik läßt sich leicht einsehen. Das mag am glänzendsten Paradigma Busserlscher Intentionalanalyse, der Gegenstandswahrnehmung noch deutlicher werden14 • Husserl zeigt in der Zuwt:ndung zur Gegebenheit eines Dinges auf, daß es nicht Etwas. ist, das sich dann auch noch perspektivisch erschließt, sondern daß die Perspektive der anschaulichen Erschließung der Gegenstand ist, der in einem Kontinuum von Abschattungen seine Gegebenheit auslegt. Die Differenzierung des intentionalen .Akt-Lebens erweist die Einheit von intentionalem Akt und intentionalem Gegenstand. Die wahrnehmende 11
Auffassung, Intentionaljtät qua »Interpretation«, reprasentiert zugleich den Zugang und seine Bedingungen, wie das dabei Erschlossene. Was in der Reflexion in die Momente ·bloßer Subjektivität und dinglichen >>An-sich-Seins« auseinanderfällt, vermag die phänomenologische Wahrnehmungsanalyse ohne ein anderes Konstrukt als dasjenige, welches der anschauliche Prozeß selbst liefert, in ihrer einheitlichen Verfaßtheit auszuwei~en. Hatte Busserl selbst schon in seiner mittleren Zeit die Kategorie des Lebens implizit zur Abwehr des Neukantianismus zur Geltung. gebracht (erkennbar an Wendungtm wie dem AktLeben), so hilt er sie ausdrücklich in der späten ·Philosophie der Lebenswelt ausgearbeitet. Dies erfolgt nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit, wo die Tradition des Lebensbegriffes, die vom jungen Regel, über Marx, ·Dilthey, den Grafen York von Wartenburg, Nietzsche, bis zu Simmel und Bergson u. a. eine weitverzweigte Entwicklung gehabt hatte, eine neue Radikalisierung fand. Sie drückte sich in der fundamentalontologischen Stellung des Daseins aus. Heidegger hatte neben dem Grafen Yorck15 besonders Nietzsche in sich aufgenommen, als er nach Sein und Zeit den transzendentalen Charakter der Phänomenologie abzustr~ifen begann. Erst dadurch war es möglich, der hermeneutischep. Auslegung ein neues und tiefer im Zentrum der Philosophie liegendes Fundament zu verschaffen. Die Auslegungsprozesse des menschlich Da-seienden selbst, des faktisch existierenden Lebens, werden als hermeneutische Grundphänomene bestimmbar. Einer der entscheidenden Entwicklungskeime der hermeneutischen Philosophie war damit gelegt. Bevor uns Heideggers paradigmatische Beiträge zur Hermeneutik weiter beschäftigen, wollen wir uns einem, für die Grundlegung der heutigen Hermeneutik, selten gewürdigten Denker zuwenden, Friedr1ch Nietzsche. Wir erwähnten bereits seinen emphatischen Gebrauch der Kategorie »Interpretation«, in der Gegenwendung zu sogenannten Tatsachen. Nietzsche geht es nicht länger darum, den objektiven Gehalt subjektiver Wahrnehmungen zu untersuchen16, dem Weg zu folgen, den Kant gezeigt hatte und der durch die Grenzpfähle zwischen Wahrheit und Irrtum, gangbar geworden war. Erkennen wird nicht durch die Korrespondenz von Satz und Faktum_ garantiert, die erlaubt, unbelegbares Meinen von sachhaltigen Aussagen zu unterschei12
den. »Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind : aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich ... « (a.a.O., III, 486). » ••. Erkennen heißt >sich in Bedingung setzen< : sich durch etwas fühlen und ebenso es selbst unsererseits bedingen - - es ist also unter allen Umständen ein· Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, >Ansichs<.« (a.a.O., S. 487). Erkennen ist dann in einem radikalen Sinne Interpretation. Es war Nietzsche, der diesen Begriff der Phllologie entlt!hnt-und in einem bis dahin unbekannten Maße generalisiert hat: » ••• mit ihm wird die gesamte Philosophie lnterpretation.<< 17 Wenn es aber um die universelle Konkurrenz von Interpretation geht, erfährt auch das Konzept des Sachgehaltes eine Neubestimmung, desjenigen, was interpretiert wird. Interpretationen bewähren sich nicht so sehr durch die Korrespondenz mit Sachen, als durch die Wertschätzungen, die sie enthalten. Sie sind Ausdruck einer vorgängigen Interessenlage, sie dienen der Erhaltung und Steigerung des Lebens. Interpretation stellt sich deshalb als eine univ~rselle Kategorie dar, weil sich in ihr die Tätigkeit des Lebens selbst auslegt. In ihr schematisiert sich das Chaos der Realität nach praktischen Bedürfnissen, in Horizontbildung und Perspektive. Es ist dieser in der Erkenntnis wirkende Perspektivismus der Affekte, der fortdrängende Kraftcharakter des Lebens, der es sinnlos macht, der Erkenntnis ein Maß objektiver Wahrheit zu supponieren. » .•. Das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt aus?- Unsere Affekte.<< (a.a.O. III, 480). Die Wertschätzungen, die im Perspektivismus der Affekte sich anzeigen, übernehmen eine Funktion, die man gleichsam transzendental nennen könnte 18 • Garantieren sie doch dem Erkennenden, den Ausdruck seiner Interessen zuwege zu bringen, der aber zugleich - über alle Partikularität hinaus Ausdruck des Lebens ist. Interpretieren bedeutet kein subjektives Setzen von Inhalten, von denen dann auch noch der Status intangibler »Objektivität<<, von »Dingen an sich<< ange~ommen werden müßte. Die Realität selbst hat perspektivischen Charakter, sie repräsentiert einen Prozeß der Auslegung. Nun stellt die Kategorie des Lebens nur einen gleichsam 13
transzendentalen Modus dar, der als solcher noch keine umfassende Theorie ergibt. Nietzsche hat dann das Grundlegungsproblem eines universalen Weltzusammenhangs aus Interpretationen in der Lehre vom Willen zur Macht und in derjenigen von der ewigen Wiederkehr des Gleichen weiter auszuarbeiten unternommen. Er ist dabei mitunter Beschreibungen nahegekommen, die zu einer monadologischen Verhältnisbestimmung der Interpretationen untereinander zu führen scheinen (ohne daß darin sein eigentliches philosophisches Ziel gelegen hätte), z. B., wenn er davon spricht, es gebe nur Subjekte und was die Erscheinung eines Objektes sei, verdanke sich einer Art Wirkung von Subjekt zu Subjekt, von Perspektive zu Perspektive. Für eine des Scheins fester Substanzen und objektiver Realitäten entkleidete Welt, die sich im Zustand prozessualer Bestimmung, im widerspruchsvollen System-»Zustand« des permanenten Übergangs befindet, ist der Rückgriff auf monadologische Konzepte bezeichnend. So unterschiedliche Prozeßdenker wie Adorno und Whitehead stimmen darin überein. Für den Diskussionszusammenhang heutiger Hermeneutik sind neben der Rolle, die Nietzsche dem Interpretationsbegriff einräumte, seine Bestimmung der Sprache und der Kunst sowie seine Kritik am Historismus signifikant. In der Schrift Ober Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), in der er das auf Korrespondenz beruhende Konzept von Erkenntnis verabschiedet, rückt die Sprache aus der Dienerrolle gegenüber der adaequatio intellectus ad rem in eine Selbständigkeit, die auch für hermeneutische Überlegungen wichtig werden wird: die Sprache übernimmt die Instanz aller Erkenntnisprüfung, die ehedem das transzendentale Selbstbewußtsein oder metaphysische. Entitäten innehatten. Mit der Fragwürdigkeit eines Korrespondenzmodells von Wahrheit wird zunehmend deutlich, in welchem Umfang Sprache eine Totalitätsstruktur darstellt, welche erkenntnis-schematisierende Kraft ihr innewohnt und daß sie mehr und anderes ist als ein stummer Diener autonomen Sinnes, vielmehr selbst über sinnschöpfende Möglichkeiten gebietet. In der Sprache liegt die eigentliche Gegebenheitsweise aller geistigen Erfahrungen vor, Auslegung ist in diesem Sinne ein Sprachproblem. Nietzsche zielt auf diese Einsicht, wenn er das Erkennen nicht nyr als von Interessen geleitet durchschaut, sondern die Sprache als das Medium beschreibt, in dem dieser Prozeß der Fiktionalisierung 14
und Selbstauslegung des Lebens geschieht. Er qennt dieses Vermögen einen »Trieb zur ·Metaphernbildung«, der sich angesichts der schieren Unbestimmbarkeit von Objektivität als jene Tätigkeit entpuppt, bei der sich der Mensch in ein Gespinst symbolischen Sinnes verwebt, um nicht an der Wahrheit, daß es keine Adäquatiön zu Seichgehalten gibt, zu Grunde zu gehen. 19 »Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertrage~ .geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken : die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind . . . ,« (,Ober Wahrheit und Lüge im außermoraliS. 314). Der Trieb zur Metaphernbildung schen Sinne, a.a.O., steht im Dienst der menschlichen Selbstbehauptung, des Versuches, sich die feindliche Weltdienstpar zu machen- mittels einer gewaltigen Fiktionsleistung, die so lange trägt, als sie der Mensch nicht als solche durchschaut. Nur solange Sprache nicht als schwebende Metaphernwelt erkannt wird, lebt der Mensch in Ruhe und ohne Angst. Der Objektivismus, weit entfernt eine Wahrheit zu' treffen, erweist sich als eine Schutzhaltung, als die Konvention, »nach einer festen Konvention zu lügen«, d. h. nur die gebräuchlichen Sprachbilder zu verwenden. Erst die erstarrten Metaphern erzeugen den Schein einer Korrespondenz, eines fixen »Sinnes. überhaupt«. Auch wenn sie die kühle und abstrakte Form des Begriffes angenommen haben, gilt von ihnen, daß sie das Stigma an sich tragen, einer Metaphernbildung zu entstammen. Dieses Zeichen zu lesen bedeutet ihre wirkliche Beschaffenheit erkennen, nämlich feste Formen von Wertschätzungen zu sein. »Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde mit. jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge· heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren.« (a.a.O., III, 318). Die Fiktionsleistung der Sprache folgt allerdings Regeln, - ist keine bloße Phantasmagorie jeweiliger Sprecher. Der Anstoß des Metapherntriebes, den wir einer Empfindung, einem Nervenreiz verdanken, bildet sich in sprachlichen Formen fort, in denen er sich auszuwirken und zu vollziehen vermag : » ••• nur aus dem festen Vertrauen dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe
III,
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konstituiert werden konnte.« (a.a.O., III, 318). Durch das Einüben unserer Sprache, die Betätigung unseres Metapherntriebes lernen wir, mit ihren Regeln, di.e Auffassungsform der Kausalität, von Raum und Zeit, Zahl und Gestalt. Begriffe sind nämlich nichts anderes als »eine Nachahmung der Zeit-, Raumund Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.« (a.a.O.). Der sprachlichen Poiesis sind Regelungen eingezeichnet, die uns den Begriffsgebrauch vorschematisieren und damit jene Fähigkeit zur Objektivierung und zur Wissenschaft, mit der wir leben. Die Wertschätzung, die sich in unserem Sprachtrieb äußert, begründet also auch die »objektiven« Urteilsmöglichkeiten, aber nicht als ein für allemal wahre, sondern als solche, die wir nötig haben, deren sich das Leben zur Selbsterhaltung und Reproduktion bedient, Der Wahrheitsanspruch sprachlicher Aussageperspekti-· ven leitet sich aus dem prozessualen Darstellungscharakter des Lebens selbst ab. Das Logische (von Sätzen) stellt sich dabeials notwendig heraus, nicht als Übereinstimmung mit einer Sache, sondern weil wir es brauchen, weil es lebensdienlich ist.20 Vernunft äußert somit prinzipiell immer nur Vorurteile, die sich ab_er keinem beliebige~ Meinen verdanken, sondern einem kollektiven. Prozeß, in dem durch die Bewältigung der Natur Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich die Gattung Mensch zu erhalten vermag. Diese Vorurteile sind für ihn weder wahr noch falsch, weil Nietzsche hinter den Gegensatz einer subjektiven Begründung von Objektivität auf den Lebensprozeß der Interpretation selbst zurückfragt. In ihm erweist sich die Scheinhaftigkeit der Metaphern als Bereitstellung von Schemata der W eltauslegung. Erkenntnistheorie wird zur Perspektivenlehre, d. h. zur Lehre der Interpretation. So ursprünglich wie die Sprache am Bau der Begriffe arbeitet (dazu Wissenschaft in Dienst nimmt), arbeitet sie an der Rückführung aller Fixierungen und Konventionen. Der Trieb der Metaphernbildung bestätigt sich, indem er »neue Übertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist.« (a.a.O., S. 319). Die kulturelle Gestalt dieses Rückgangs auf ihre eigentümlichen poietischen Möglichkeiten sieht Nietzsche in.der Kunst gegeben. Zwar entspringt jeder Weltentwurf einer sprachlichen Schemati16
sierung des Chaos, aber in demjenigen der Kunst ist die Wirklichkeit maskenlos als Werdende erfaßt, so daß von der Fiktion ihrer Fixierbarkeit kein Gebrauch gemacht, sie nicht in Kategorien der Substanz oder präsenter Dauer bestimmt wird. In der Kunst wird sich so das Leben selbst transparent. Als die ausdrückliche~ Tätigke~t sinnlicher Fiktionsbildung repräsentiert sie den Willen zum Schein, in dem sich der Trieb des Lebens am unverstelltesten äußert. Die Kunst verzichtet darauf, den falschen Anschein der Richtigkeit oder allgemeiner Gültigkeit zu erzeugen; sie ist febenssteigernd~r als di~ Wahrheit, sinnlich und rauschhaft, und deshalb, nach der berühmten Formulierung.der Aufzeichnungen der achtziger Jahre, mehr wert als diese. 21 Damit sind, bezüglich dreier Aspekte (Interpretation, Sprache, Kunst), die Einsic~lten Nietzsches markiert, die für die Hermeneutik von Interesse sein konnten. 22 Es ging freilich nie darum, die Lehrgestalt von Nietzsches Philosophie zu übernehmen, eher 'darum, sich der entdogmatisierenden Wirkung seiner Schriften auszusetzen. Nietzsches Beobachtung, daß ·die Kunst, mißt man sie nur nicht am wissenschaftlichen Erkenntnismodell, in ein direktes Verhältnis zur Wahrheit gerät und sich gegenüber anderen kulturellen Ausdrucksformen (besonders dem Aussagesatz) nicht benachteiligt fühlen muß, kann auf eine Philosophie Eindruck machen, der es darum geht, den Verstehensprozeß zu reflektieren. In Heideggers . Philosophie sind die Spuren von Nietzsches gedankenbildender Arbeit des Lebens fruchtbar geworden - auf andere Weise bei Bergson, Simmel und Scheler. Das gilt schon für die zwanziger Jahre (nicht nur die späte Nietzsche-Vorlesung). 23 Seine Fundierungsbeiträge zur Hermeneutik in Sein und Zeit beruhen, wie wir sahen, auf einer genuinen Bestimmung ·des >>Lebens« aus geschichtlichem Dasein. Es repräsentiert die elementare Einheitsstruktur, in der sich die Gleichartigkeit dessen ausweisen läßt, das man in der Sprache der Reflexion Subjekt und Objekt nennt oder Bewußtsein und Gegenstand. Die Einheit ist nicht(z. B. als ein transzendentaler Punkt der Identität), sondern sie stellt sich dar, legt sich aus, ist temporär str\,lkturiert. Heidegger setzt so bei der hermeneutischen Bewegtheit des Lebens in Vorgriffen und Horizontbildungen an und knüpft die Phänomene an die Erschließungskraft des Daseins und seiner »Interpretationen«. Die Kritik am Idealismus, die Nietzsche 17
bereits formuliert hatte, hat nun ihren Kernpunkt in der Verdekkungstendenz des Daseins, das über seine Erkenntnisperspektiven niemals völlige Aufklärung erlangen kann. Ihren Durchblickscharakter kennzeichnet eine »Hermeneutik der Faktizität«. Dem Versuch einer absoluten Transparenz des Selbstbewußtseins hält Heidegger die unverrückbare Schranke des existierenden Lebens entgegen. Dies Faktische kann aus Konstitutionsleistungen des Subjekts nicht abgeleitet werden, es ist keine unterste Stufe der Perzeption, auf der sich höhere Erkenntnisleistungen aufbauen. An die Stelle von Husserls transzendentaler Phänomenologie (mit hermeneutischen Grundzügen) tritt in Sein und Zeit eine »hermeneutische PhänomenQlogie«. In ihr ist die Frage nach dem erkennenden Leben (dem Seinssinn des Daseins) gleich ursprünglich mit derjenigen nach dem Sinn des Erkannten (dem Sinn von Sein). Wenn der Mensch unter den vorgängig eingeprägten Bedingungen die Sinnfrage stellt, sieht er sich mit der Unhinter-. fragbarkeit seines eigenen Daseins konfrontiert, in der ihm -was er auch immer theoretisierend erklären und verstehen kann - eine unüberwindliche Grenze gesetzt ist. Dasein weist eine doppelte Struktur auf : es ist der Ort der Eröffnung von Möglichkeiten (des Erkennens, Handelns, Verstehens), auf die hin es sich entwirft, zugleich aber steht piese Offenheit ·unter Bedingungen der Faktizität. Heidegger beschrieb diesen Tatbestand durch die gegenwendigen Kategorien Geworfenheit und Entwurf, welche die Grundverfassung existierenden Lebens ausmachen. Der so verfaßte Bedingungszusammenhang läßt sich aus der Konkurrenz von Vermögen: etwa blinder Naturbestimmtheit und klarsichtiger Vernunft nicht begründen. Er ist lediglich mittels eines zirkelhaften Verweises - nicht zu erklären - aber auszulegen. Die Artikulation des befindlichen V erstehens nennt Heidegger >>Rede«, wobei sich die Aussage in den Auslegungsprozessen des Daseins fundiert. Alle Auslegung gründet in der Vorgriffstruktur des Verstehens: Aussage ist ihr abkünftiger Modus. (Vgl. Sein und Zeit §§ 32, 33). Die »Vor-Struktur« des Verstehens beschreibt, daß es der Auslegende nicht mit einem »an sich« gegebenen Text oder Phänomen zu tun hat, sondern daß er, was er zunächst liest, dank einer eigenen Vormeinung erfaßt, die sich bewährt oder modifiziert. Die zirkulären Vorgriffe und Vorurteile gehören zum Verstehen, weil sie dem Gegebenheitscharakter der Phänomene allererst gerecht werden und es sprachlich 18
auszulegen gestatten. 14 Der Interpretationsbegriff hat daher bei Heidegger seinen Ort in der Bewegtheit, die Entwurf und Geworfenheit des Lebens austragen. Sie erweisen, in anderer, aber Nietzsche vergl~ichbarer. Weise, die Vorhandenheit der Dinge, ihre von uns festgestellte Anwesenheit als eine inadäquate, jedenfalls abgeleitete Bestimmung des Seins. Die Bewegtheit desDaseins und seine Auslegungsperspektiven sind nicht nur das ursprünglich »Hermeneutische«, sondern auch die Basis, von der aus sich zeigen läßt, daß Sinn überhaupt nicht einfach »da ist«. Die Metaphysik, auch der deutsche Idealismus, hielten einen bestimmten Zeitmodus, den der Gegenwart, für dert ·selbstverständlichen Gegebenheitstypus von Sein und Sinn, während nun die Frage, wie Zeit zum Sinn von Sein gehört, gestellt werden kann. Das Seiende begegnet nicht länger in einer distanzierenden Optik des Bewußtseins als das Vorhandene, sondern unter dem temporalen Index der Prozessualität des Daseins wird es hinsieht> lieh seiner ursprünglichen Verwiesenheit auf das sich auslegende Leben als Zuhandenes, als Zeug, als Dienliches bestimmt, d. h. auf die »Existenz« des existierenden Daseins hin. Dessen Strukturbestimmungen sind. die »Existenzialien«. Sie bezeichnen, im Unterschied zu Kategorien, alles was das Dasein als existierendes ausmacht. In der existentialen Analytik des Daseins entwickelt sich die universelle und fundamentale hermeneutische Perspektivenlehre, deren Auszeichnung darin besteht, nicht nur den Interpretationscharakter des Lebens darzulegen, sondern ·den Zusammenhang einer jeweiligen Sicht des Verstehens mit ihrer unauflöslichen Befindlichkeit. Der intentionale Bezug ist nichts, was den Gegenstäriden von außen appliziert würde, sondern er ist die Weise der A~slegung, der Sinnrealisation selber. Hermeneutik kann damit nicht länger als· Lehre von der Auslegungskunst oder. als Ausübung derselben verstanden werden, sondern sie betrifft ~e l!!!!dam_~'f!..!tf..~f!__Q~g~~C.Yfheit schlechthin: das hermeneutische Smogesellehen des Dasems. · · Verstehen, als Inbegriff·· aller Modi des Erkennens und Erfahrens, ist nichts anderes als die ursprüngliche Vollzugsform des menschlichen Lebens selbst, nicht nur eine bloß methodische Operation an gegebenen Zusammenhängen. Seiner Struktur nach hat es Entwurfscharakter, beschreibt die Bewegung des Überstiegs über das Seiende, die Entwicklung von Horizonten der 19
Auslegung - sofern es Möglichkeiten repräsentiert. Es impliziert zugleich aber auch die Faktizität dieses Entwurfs - sofern das entwerfende Dasein auch schon immer »gewesen« ist (das heißt: sich vorfindet). Heideggers hermeneutische Phänomenologie, obwohl selbst keine Kunstlehre oder Methodologie, war zugleich eine Herausforderung an die Wissenschaften. Phänomengerechtigkeit ist eine Devise, der sich Erkenntnis, gleich welchen Genus, unterwerfen muß, wenn auch die Differenz zwischen ontologischen und ontischen Fragen immer noch hinreichende Unterscheidungsmerkmale zwischen der Philosophie und den Wissenschaften garantiert. Gleichwohl ist die Ausschöpfung des kritischen Potentials der hermeneutischen Phänomenologie weniger durch Heidegger selbst erfolgt als durch die ihm folgende Generation. Die Maxime, daß eine Wissenschaft soviel wert sei, als sie sich der Krisis ihrer eigenen Grundlagen fähig erweist, ist seit Sein und Zeit unabweisbarer Bestandteil der Debatte zwischen der Hermeneutik und den Wissenschaften. Erst durch Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode wurden Heideggers Anstöße und die der älteren Hermeneutik auf der ·neuen Ebene einer. hermeneutischen Philosophie fruchtbar gemacht. Sie will verstehen, was im Geschehen der Auslegung geschieht. Die Struktur der Interpretation beruht auf unausgewiesenen Voraussetzungen, die durch keine Kunstlehre, die sagt, wie Verstehen sein müßte oder welche Regeln anzuwenden seien, geklärt werden können. Vielmehr zeigt sich die produktive Implikation eines Selbstverständnisses in der Sache. bie erläuterten Charakteristika hermeneutischer Theorie, die wir unter anderem unter den Titeln eines Vorrangs der Sprache, der Erkenntnisbedeutung der Kunst, einer Kritik am Historismus, einer strukturellen Analyse des Verstehensprozesses, erläutert haben, gelangen hier zudem in eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Methodologien (z. B. derjenigen der Geisteswissenschaften, etwa in der Ausprägung von Diltheys methodisch eingestellter Hermeneutik). Dies alles ist hier nicht im einzelnen aufzugreifen. 25 Allerdings sollte auf eine Einsicht hingewiesen werden, die für die Konzeption der Hermeneutik Gadamers und für ihre Ausstrahlungen26 von außerordentlicher Bedeutung war: nämlich die Tragweite des Erkenntnismodells
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der praktischen Philosophie, besonders dasjenige des Aristoteles und KantsY Was die Hermeneutik damit verbindet, is~, daß Wissen und Sichverständigen stets irt Situationen stehen, daß Erkenntnisprozesse an ihrem Ort im Lebenszusammenhang lokalisiert sind. Es wäre aber ganz ungenau, von der Anwendbarkeit hermeneutischen und praktischen Wissens zu sprechen. Der so Erkennende wendet nicht an, was er unter theoretischen Bedingungen, d. h. mittels Objektivierung erst einmal eingesehen hat. Anwenden kann man nur ein Wissen, das man schon_ besitzt. In dieser Lage befindet sich de~ in der Praxis des Lebens stehende und der sich verständigende Mensch nie : er kommt vielmehr schon immer in einer Situation vor, in der er handeln soll. Anwendung schließt ein, daß einer Wissen besitzt, das sich wie z. B. die Naturwissenschaften, für beliebige Verwendbarkeit offenhält. Pr~ktisches Wissen und Auslegung dagegen haben ihr eigenes Perfektionsideal, das man als kritisches Reflexionswissen bezeichnen darf. Beide berufen sich als reflexive Kritik auf eine Instanz,. die durch die hermeneutische Erfahrung und ihren sprachlichen Vollzug repräsentiert ist. Praktische und hermeneutische Einsichten sind über die Situation an die Vollzugsform eines menschlichen Soziallebens und (seine sprachlichen Artikulationen) gebunden, faßbar als universale Gesprächsgemeinschaft. In ihrem Zusammenhang ist nichts als ))objektiv« oder ))für sich richtig« :tu erweisen, sondern was gelten soll, muß sich heraus stellen, Einsichten müssen sich durchsetzen im Agon argumentativer Auseinandersetzung. Dieses Wissen unter Bedingungen, das die Hermeneutik an die Tradition der praktischen Philosophie knüpft, wurde von dieser als Prohairesis bestimmt : als Vorgriff, der normative Einschlüsse hat, in denen sich die Zielrichtung einer Entscheidung kund tut, die sehenden Auges angestrebt und realisiert werden soll. Prohairesis erfordert die Fähigkeit, das Richtige wählen zu können, erfordert Besonnenheit und Klugheit, aber auch Solidarität, die es erlaubt, beispielsweise· das einzelne Interesse einem gemeinsamen Zweck einzuordnen, kurz, der Situation gerecht zu werden. Die normative Kraft der Solidarität ist so wenig wie die konkrete Prohairesis aus der Anwendung eines allgemeinen Regelwissens zu begründen. Sozialprozesse (wie Arbeit, gesellige Organisation etc.) sind wie die Sprache selbst nicht nach dem Schema der Subsumtion des
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einzelnen unter allgemeine Bestimmungen verstehbar zu machen. Im sittlichen Wissen steht der Erkennende keinem Sachverhalt gegenüber, den er nur festzustellen hätte, vielmehr bemißt sich seine praktische Vernunft und die Fähigkeit zur Solidari~ät danach, ob er die eigene Betroffenheit durch das Faktum ·anerkennt und zur Geltung bringt. Nicht zufällig ist der humane Scopus dieses Wissens und derjenige der Geistenswissenschaften in dem alten Namen der humaniora oder der moral sciences aufbewahrt. Die Wissensform der Praxis, die man, um die parallele Kamische Bestimmung der Urteilskraft aufzugreifen, nicht lehren, sondern nur üben, nicht objektivierend bestimmen und dann auch noch praktisch machen kann, wiederholt sich in der Wissensform der juristischen Gesetzesauslegung. Ihr Ernst resultiert aus den unmittelbaren Folgen ihres Tuns. Ihr Problem beruht aber gerade darin, daß kein Gesetz vollkommen und für jede erdenkliche Situation genügend genau ist; mithin keine schematische A,nwendung erlaubt, vielmehr ausgelegt werden muß nach dem Geist des Gesetzes und dem situativen Zusammenhang, aus dem es kommt und in den es hineinwirkt. Wird an dieser Frage bereits eines der großen Spektren unserer Debatte greifbar, nämlich dasjenige der juristischen Hermeneutik28, so verknüpft sich mit ihr auch eine Kontroverse, welche das Selbstverständnis der Hermeneutik anlangt. Die Einwände gegen das hermeneutische Argument der gelingenden Verständigung folgen einem ideologiekritischen Verdacht. 29 Er erhebt sich aus der Vermutung, in die Kommunikation der Sprache, die in soziale Normen, Vormeinungen und Schematisierungen eingebettet ist, könnte sich unter bestimmten Bedingungen eine Verzerrung einschleichen, die sich hermeneutisch-reflektierend ni~ht mehr auflösen lasse. Das ideologisch falsche Bewußtsein (wie die individuelle psychische Pathologie) werden als Belege für derartig systematisch verzerrte Kommunikation aufgeboten, 30 die nach einer Überschreitung der hermeneutischen Basis verlangen und eines konstruktiven Erkennens, einer »Tiefenhermeneutik« bedürfen, die in der Theorie der kommunikativen Kompetenz dargelegt werden soll. Dagegen hat Hans-Georg Gadamer immer wieder deutlich zu machen gesucht, daß sich dieideeder Kommunikation am gelingenden Einverständnis orientieren muß, gerade auch, um seine Störungen verständlich werden zu lassen. 31
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Mi~ diesen Überlegungen ist der Überblick über die Entwicklung und theoretische Fundierung des Im:erpretationsbegriffs, als des Kernpunkts der h._ermeneutischen Diskussion, längst in das Gespräch der Hermeneutik mit den Wissenschaften übergegangen. Auch an der Lokalisie~ng herme~eutisc~er Erkenntnispr~ fung im Verhand der praktischen Phtlosophte, dem Nachweis, daß die Perspektive der Interpretation unter der Einwirkung von Interessen und einem normierenden Vorgriff steht, wurde deutlich, wie sich der Austausch zwischen einer hermeneutischen Reflexion auf das Verstehen und den methodologisch instrumentierten Verstehensprozessen der Wissenschaften vollziehen ka~m. Am Ende dieses Teils unserer Darlegungen sei an die grundle. gende Bedeutung des wirkungsgeschichtlichen Prinzips für die Hermeneutik erinnert.32 Unter anderem deshalb, weil es zu einem bevorzugten Punkt der Auseinandersetzung geworden ist. Gegenüber der offenen Antinomie des Historismus, einerseits das Geschichte schreibende Subjekt historisch verankern zu müssen, es andererseits aber instand zu setzen, die Objektivität einer Begebenheit jenseits aller perspektivischen Abschattung zu intendieren, baut die Wirkungsgeschichte auf einen Prozeß der Verständigung, der dieser Dissoziation nicht unterliegt. Der Zirkel von Vorgriff und Entwurf dient aber nicht der Stärku.ll"g der Selbstb~zieh\lng eines verstehe~den S\lbjekts .gegenüber der ·Geschichte~ sondern er rückt selbst unter ein Geschehen, in das er einbezogen ist, das der Tradition. Verständnis wird ·in dem gleichen Maße von der Sprache der Überlieferung in Gang gebracht, wie es vom fragenden Subjekt mit konstituiert. wird. »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein überlieferungsgeschehen, , in' dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.33 Der Horizont des Interpreten und des Textes verschmelzen in einem gemeinsamen Horizont, in welchem die Partikularitäten des Subjekts und eines fremden Sinnes sich vermitteln. Die Wirkungsgeschichte übergreift den Interpreten und seinen Gegenstand~ Sie als Geschehen anzuerkennen, über welches wir nicht verfügen, ermöglicht nicht nur das Verständnis von Vergangenem, oder generell von Texten als etwas anderem, sondern sie gibt zugleich jene Perspektive an, unter welcher dem Verstehenden Wahrheit erscheinen kann, und zwar eine solche,· in die er einbezogen ist. In der wirkungsge-
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schichtliehen Überlieferung bin ich nicht nur mit »Sachen« konfrontiert, sondern wir vernehmen die _»Sprache der Dinge«.· »Es ist etwas anderes, ob von der Subjektivität des Meinensund der Eigenmächtigkeit des Wollens aus eine Grenze erfahren wird· oder ob von der vorgängigen Eingespieltheit des Seienden in die spracherschlossene Welt gedacht wird.« 34
Bemerkungen zu den Texten der Sammlung Der theoretische Zusammenhang, den wir dargestellt haben, ist in den Beiträgen dieser Sammlung nu~ mittelbar gegenwärtig. Doch gehen die Aufsätze der Rubrik »Aspekte der hermeneutischen The.9rje~~ darauf beso~ders ein. (1) Mit dem erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Text »Verstehen«, aus dem Buch von Alfred North Whitehead Modes of Thought wird die Aufmerksamkeit auf eine Philosophie gelenkt, die in der anglo-amerikanischen Tradition entstanden ist, zu ihr selbst aber eine spannungsvolle Beziehung eingeht. 35 Mit der westeuropäischen Entwicklung hatte sie wenig direkte Berührung, obwohl die Nähe von Whiteheads prozessualer Theorie nicht nur zu Leibniz, sondern ebenso zum Komplex hermeneutisch-phänomenologischer wie dialektischer Philosophie überrascht, so daß von .ihr für die gegenwärtige hermeneutische Diskussion entscheidende Bereicherungen zu erwarten sind. Dafür kann der gewählte Ausschnitt freilich nür. !!inen ersten Anstoß bedeuten, der auf eine weitergehende Rezeption der Philosophie Whiteheads in Europa zielen muß. Die philosophische Tradition des Lebensbegriffes, die, wie wir sahen, für die Wissenschaftskritik und die Vorbereitung der hermeneutischen Philosophie (über Nietzsche, Heidegger u. a.) eine entscheidende Bedeutung gehabt hitt, war Whitehead nur durch Bergsous Theorie bekannt und in der Gestalt des amerikanischen Pragmatismus, besonders W. James und Dewey, die ihrerseits europäische Philosophie verarbeitet hatten. 36 Whiteheads Philosophie ist für: ~nseren Zusa~enhang deshalb ein so wertvolles Zeugnis, weil sie ohne den Kontext der kontinentalen Tradition zu sachlichen Argumenten fand, die mit der hermeneutischen Philosophie in enge Beziehung treten. Diese Übereinstimmungen bestehen sowohl in der Gesamtanlage seiner Theorie als auch in 24
Einzelheiten. Whitehea4 übt Kritik an einer Metaphysik der Substanzen, einer Theorie des Selbstbewußt!!eins und am methoöologisehen Objektivismus, insgesamt also an einer Th~oriebil ·dung, welche auf Präsenz zielt, - mittels einer Philosophie, die an die Stelle des Seins die Entfaltung der Prozeßhaftigkeit der Realität setzt. Process and Reality (1929) oder Adventures of Jdeas (1933) 37 entwickeln diese gemeinsame Struktur der Realität und des Erkennens unbeeinträchtigt von der Unterscheidung in Regionen der Natur, des Organismus, der Geschichte oder der Kunst. Die auch von der Hermeneutik erstrebte Aufhebung methodischer Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften oder überhaupt zwischen den antagonistischen Prinzipien von Natur und Geist ist in Whiteheads Philosophie von Anfang an im Blick. Sein Konzept einer prozessualen Philosophie sucht eine universale Geschichtlichkeit aller, auch der Naturvorgänge, darzulegen. Auch er zeigt, daß die Dominanz_c:les Werdens vor dem Sein zu- einer Theor~e c:ler 'lniirpretätion führt, d. h., zu einer universalen Auslegungsbezogenheit aller Realität. In ihr werden Reflexionsbestimmungen wie Bewußtsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt, Dualismen wie Leib und Seele, Natur und Geschichte einer Bestimmung zugänglich, welche die aller Kontraposition und Differenzierung vorausliegende Einheit anzugeben vermag. Die Fixierung der Wissenschaften oder der Begriff der Philosophie selbst werden in einer »Logik der Ereignisse« und derem gleichsam monadischen Zusammenhang wieder flüssig, d. h., sie werden als Perspektiven oder Auslegungen eines einzigen Wahrheitsgeschehens deutbar. Der Geschehenscharakter der Erkenntnis und die Zweideutigkeit des Wahrheitsbegriffs, die aus der Gegenwendigkeit von Sichtmöglichkeiten und unaufhebbaren Sichtgrenzen resultiert, wird von Whitehead wie von der hermeneutischen Philosophie 38 in gleicher Weise herausgearbeitet. Wie diese ist sie als Philosophie der Endlichkeit39 zu kennzeichnen: auch als Logik der Ereignisse, d. h. als universaler perspektivischer Zusammenhang 'von Interpretationen. R. Wiehl hat darauf hingewiesen, daß der Kontext der Interpretationen, die »Logik«, welche das einzelne Interpretationsereignis mit der Folge und Entwicklung aller anderen verbindet, bei Whitehead in einem Gedankengang dargelegt wird, der mit Gadamers Wirkungsgeschichte in. enger Verwandtschaft steht. 40 Das Flüssigwerden der Grenzen zwischen Regionen der Realität, zwischen
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den Dimensionen ihrer zeitlichen Bestimmtheit im Auslegungsprozeß des Erkennens bedeutet auch ein ausdrückliches Offenhalten der Grenzen zwischen Philosophie und Wissenschaften, ·. ein Angebot zu einer produktiven Neubestimmung ihrer gegenseitigen Orga~isationsverhältnisse. Whitehead hat dazu eine· eigene Theorie vorgelegtY Aus dem Ganzen seiner Konzeption soll abschließend nur noch ein, allerdings wichtiges, Detail behandelt werden, das für das Verständnis unseres Textes Bedeutung hat~ nämlich die Kritik am Vorrang des Aussagesatzes für die Legitimierung der Erkenntnis. Aus der Behandlung Heideggers wissen wir, daß das apophanti..: sehe Urteil als ein abkünftiger Modus der Auslegungsprozesse des Daseins dargestellt worden war, fundiert im Primärgeschehen einer Hermeneutik der Faktizität. 42 Aus Nietzsche ist uns bekannt, daß mit der Aufhebung des Korrespondenzmodells von Erkenntni~ die Sprache in ihren poietisch-metaphorischen Möglichkeiten (nicht als positivierendes Aussagesystem) hervortrat. Schließlich besteht ein wesentliches Prinzip phänomenologischer Forschung in der phänomenologischen Reduktion, und d. h. der Urteilsenthaltung, mit dem Ziel, beispielsweise die jeweilige Gegenstandgegebenheit: aus ursprünglicheren Schichten · als Muster eines Fl~sses yon Abschattungen auszuweisen. Vom Rückgang auf die Lebenswelt zeigt sich das Gegebene als Abwandlung perspektivischer Auslegungsprozesse, denen die logische Form des Urteils keineswegs adäquat ist. Schließlich hat auch Gadamers Hermeneutik an dem Vorrang des »Wortes« vor dem »Satz« 43 bzw. an der hermeneutischen Zweideutigkeit der Sprache festgehalten, in der die unaufhebbare Rückverwiesenheit aller Sinnaussagen an das Miß- und Nichtverstehen dargelegt wird. Gerade von da aus gelangte Gadamer (wie die deutsche Romantik und Nietzsche) zu einer ausdrücklichen Neubewertung der Erkenntnischancen der Kunst. Die dichterische Sprache, nicht nach dem Muster apophantischer Urteile begreifbar, wird zu einem Paradefall hermeneutischen Wahrheitsgeschehens. Auch Whiteheads Logik der Ereignisse hat eine Relativierung der apophantischen Aussage zum Ziel. Dem Prozeß entspricht eine sprachliche Synthesis, die ihre Relativierung und Neubestimmung durch den Zusammenhang anderer Auslegungsphasen nicht nur zuläßt, sondern ausdrücklich als Möglichkeit aufnimmt. Dies spiegelt sich auch in unserem Text, schon darin, daß 26
Whitehead den Beweis als ein ungeeignetes philosophisches Demonstrationsmittel und Erkenntnisziel beschreibt. Denn er geht von logische~ Prämissen aus, setzt ursprüngliche Evidenzen voraus, die es philosophisch erst vor Augen zu führen gilt. Er gründet sich auf Abstraktionen, während es die Philosophie im eig~ntlichen Sinne des Ausdrucks mit dem Verstehen zu tun hat, und das heißt der produktiven Erschließung von Evidenzen. Dieses Verfahren steht stets unter den Bedingungen einer Situation, die es ab~chatten, die es let?:tlich als Schein erweisen, in der Sprache des Begriffes über eine Ordnung zu verfügen,. die alle Verkürzungen außer sich hat. >~Es gibt k-einen Grund· für .die Annahme, daß U nordn~ng weniger grundlegend ist als Ordnung. Unsere Aufgabe besteht-~darm~--ein ··allgemeines Konzept zü entwickeln, in -dem.für beides Raum ist .. ·.« (vgl. S. 71) Whitehead macht auf d'as Paradox aufmerksam, daß ein vollständiges Verstehen von Etwas seine tautologische Selbstaufhebung insofern einschließt, als innerhalb seiner jeder einzelne Punkt bereits zu dem gehört, »Was bereits klar ist. Es handelt sich also nur noch um eine Wiederholung des Bekannten. In diesem Sinne ist Tautologie möglich. Tautologie ist also das intellektuelle Vergnügen des Unendlichen:« (vgl. S. 71) Eine angemessene sprachliche Beschreibung muß demnach die Verhältnissetzung von Einheit und Viellieit offenhalten4\ sie als· Bestimmungsprozeß darlegen. Whitehead diskutiert eine Reihe 'von Aspekten dieser Frage, :unter anderem denjenigen einer »Begründung der Logik auf dem Begriff der Unvereinbarkeit«, der Perspektivität der Sinneswahrnehmung45 , der Möglichkeit des Erkenntnisfortschrittes, der durch fixe Gewißheit paralysiert wird 46 , schließlich das kompletementäre Verhältnis von Logik unc;i ästhetischer Erfahrung. (2) Der Beitrag von Paul Ricceur vertieft sich ganz in hermeneu-
tische Grundlagenprobleme und die Erhellung eines interpretatorischen Paradigmas für die Sozial- bzw. die Humanwissenschaften. Ricceur sieht seine Theorie selbst in der Tradition der Reflexionsphilosophie verankert. Den Ausgang vom »Ich bin« deutet er, nach Busserls Vorbild, in eine noetisch-noematische Sachforschung um. Das Ich wird ein Selbst durch die Aneignung seiner vielfältigen Ausdrucksgestalten, es vermittelt sich durch Werke, Handlungen, Institutionen udgl. Daß darin schon eine
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Variation der Phänomenologie steckt, wird bereits an der Phänomenologie des Willens und der Symbolik des Bösens deutlich, die neben Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung die französische Rezeption Husserls nach 1945 prägt. 48 Nach 1960 gab Ricreur seiner reflexionsphilosophischen Position die Gestalt einer Interpretationstheorie, fiir die Freud, die Linguistik, ·der Strukturalismus und die angloamerikanische Sprechakttheorie (Austin, Searle) wichtigste Gesprächspartner geworden sind. An Freud wird ihm exemplarisch deutlich, daß die unmittelbare Selbstpräsenz des Subjekts eine Illusion ist, daß c:_s_~ich vielmehr selbst· interpretieren muß, d. h., es muß den Mechanismus der Entstellungen und Omprägungen seiner Wünsche und Erkenntnisse durchschauen lernen. Das Verstehen bedarf der Rekonstruktion einer Topik bzw. Energetik der Triebe in der die Selbstbeziehung des Subjekts eine unüberwindliche Barriefe erfährt. Es ist eine Instanz außerhalb der Selbstreflexion des Bewußtseins, an der es seinen Sinn interpretierend erfaßt, (in der Arb~it der Psychoanalyse). Die gleiche Brechung reflexiven Denkens sieht Ricreur in der Sprachdeutung der Linguistik. Unter Rückgriff auf Einsichten Ferdinand de Saussures, Louis Hjelmslevs und Emile Benvenistes gelangt er zu einer Grenzdialektik zwischen sprachlichem Diskurs und Sprachsysteni, wobei diskursives sprachliches · Prozedieren eines Überstiegs in die Gestalt der Schrift bedarf, um der ihm anhaftenden Schwäche abzuhelfen: »Was wir schreiben, was wir registrieren ist ~as noema des Sprechens. Es ist der Bedeutungsgehalt des Sprachereignisses, nicht das Sprachereignis als Ereignis. «49 In· dieses Verhältnis fließen die Differenzierungskategorien Austins' und Searles' ein. In ihm realisiert sich eine Überschreitung, die allerdings die Spiritualität des Diskurses garantiert, indem diesem nämlich über die situativ-kontingentenBedingungenseines Vollzugs hinaus eine Ebene der Bedeutung entgegentritt, die ihm erlaubt, entgangene und verlorene Intentionen in einer vorliegenden Nebeneinanderordnung von Bedeutungen zu überprüfen und zurückzuholen. Es ist. der ·Übergang von der Abfolge diskursiver Situationen zur Welt des Ausgesagten: dem »Ensemble der du~ch Texte eröffneten Bezüge« (S. 90). Die Enge der dialogischen Situation und ihrer wechselnden Perspektiven weitet sich aus zur Gleichzeitigkeit des Schriftlichen. In ihm wendet sich die Intention eines jeweiligen Autors u~ in eine Struktur, die an 28
den (auswechselbaren) Leser schlechthin addressiert ist. Der Text in seinem Lesbarkeitscharakter dient nun als Modell für sinnhaftorientiertes Verhalten in den Humanwissenschaften. Ricreur untersucht die Umsetzung der kontingenten Handlungen verschiedener Protagonisten zu einem noematischen Bedeutungsgeflecht. Es verzeichnet die schriftlichen Spuren abgelaufener Ereignisse, macht den Sinn der Intentionen des Handeins gegenwärtig und lesbar. Ein Werk- als Beispiel ein Text- »spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es erschließt eine neue Welt, jene Welt, die es in ~ich trägt.« (S. 99) Die Dialektik zwischen Schreiben und Lesen, deren Scharnier in der modellhaften Rolle des Textes liegt, sucht Ricreur durch eine analoge Dialektik zwischen Verstehen und Erklären zu explizieren. Allgemein gesprochen ist es die Objektivität des Textes, d. h. seine Herausgehobenheit aus Intentionen des Autors und seine Offenheit für eine unbegrenzte Zahl von Adressaten, - die ihm die Möglichkeit des Erklärens zu gewähren scheint. Er zielt auf die Rekonstruktion der Textganzheit aus Elementen und Sinnschichten, die er sich freilich nicht streng gesetzmäßig denkt, sondern einer Optik unterworfen. »Die Rekonstruktion des Textes als eines Ganzen hat notwendigerweise einen zirkulären Charakter - in dem Sinn, daß die Imputation einer bestimmten Art von Ganzem bereits in der Erkenntnis der Teilzusammenhänge impliziert ist.« (S. 103) Die Mehrdeutigkeit des Ganzen ist in gleicher Weise auch Ansatzpunkt eines dem Erklären folgenden Verstehens, welches die Konstrukte der Erklärung aneignet. Eine methodische Differenz zwischen Erklären und Verstehen soll die dialektische Abhängigkeit beider zugleich ermöglichen, aber auch trennbar halten. Der Hypothesenbildung der Rekonstruktion folgt eine Validierung, welche als Logik der Wahrscheinlichkeit dem Deckung zu geben sucht, was zunächst als bloßes abstraktum jenseits aller Verstehensakte dem Aufbau des Textes diente. Für diesen Versuch dient ihm Hirschs Validity in Interpretation als Richtschnur. 5° Entschlüsselung und Aneignung teilen sich die Arbeit der Textinterpretation, wobei die Abfolge dieses Tuns ·nur dann als zeitliches Nacheinander vorgestellt werden darf, wenn auch die Umkehrung gleiches Recht besitzt. Ricreur sucht die Vermitteltheit des Verstehens durch ein explanatorisches Verfahren aufzuweisen, das in dem Moment zum Verstehen wird, wenn die durch die Rekonstruktion aufge29
wiesenen Elemente eine Dynamik des Sinnes freisetzen. Die persönliche Aneignung scheint ihm dadurch aus subjektiver Willkür und Gefühl befreit. Erklärung und Verstehen verhalten sich in einem »hermeneutischen Zirkel«, den Ricceur mittels des Durchgangs durch die Aufgabe der Rekonstruktion aber davor schützen möchte, ein circulus vitiosus zu werden. Es bleibt freilich zu überprüfen, ob die angestrebte Dialektik nicht eine Brechung des Zirkels impliziert, insofern sie eine Innenperspektive der aneignenden Zuwendungen zu Textsinn umschlagen läßt in eine Außenperspektive der Rekonstruktion von Textelementen. Der Versuch der methodischen Ausfaltung der Hermeneutik zu den Human~issenschaften begegnet hier der Gefahr, die Ambiguität des Sinnverstehens nicht auszulegen, sondern durch eine methodische Doppeldeutigkeit, die aus einem Wechsel der Einstellungen erwächst, als die Variationsbreite eines Hofes von Bedeutungselementen zu fixieren. (3) Michael Polanyis Aufsatz Sinngebung und Sinndeutung hat einen Ort in der hermeneutischen Debatte, von dem aus sich sehr komplexe Beziehungen ergeben, sowohl zu den Naturwissenschaften, zur Psycholögie, zur Linguistik als auch zu den Grundlagen eine},' Theofie des Erkennens, die »unausdrückliche« Elemente zur .Geltung bringt und darin einen Beitrag zur Wissenschaftskritik liefert, der demjenigen der Hermeneutik nahe verwandt ist. Polanyi hat diese Überlegungen gegen Ende seiner Laufbahn als Forscher im Gebiet der physikalischen Chemie zu bilden begonnen. Sie haben ihren Niederschlag in seinem Hauptwerk Personal Knowledge (1958) gefunden und sind seitdem in Einzelstudien weitergeführt worden. 51 Es versteht sich, daß seine Versuche im engen Kontext mit Whiteheads Kritik der wissenschaftlichen Sprache und des logischen Ideals des Beweises gesehen werden können 52 , wie sie insgesamt mit dem hermeneutischen Verfahren konvergieren, die vorgebliche Präsenz des Erkannten durch den Hinweis auf den Prozeßcharakter der Erkenntnisbildung und die unüberholbare interpretative Abschattung alles Erkannten zu erweisen. ~>Alles Erkennen fällt demnach unter eine der beiden Möglichkeiten: Es ist entweder unausdrücklich oder es wurzelt in einer unausdrücklichen Erkenntnis.« (S. 128) Das in der Bedeutung sich anzeigende Unausgedrückte, die »tacit dimension«, macht sich bemerkbar, 30
wenn wir darauf achten, daß jedes Erkennen der »Hilfswahrnehmungen« bedarf, welche der Erkenntnis auf die Sprünge helfen, daß es einen Prozeß der Sinngebung beschreibt, der in der Explizitheit des Erkannten nicht aufgeht. 53 So ist bei der Wahrnehmung einer Physiognomie der Rückschluß von den verschiedenen Gesichtszügen auf die Stimmung der Person, die sich in ihnen bildet, nur möglich, wenn die Erkenntnis über eine integrierende und das heißt unausdrückliche Dimension verfügt, in welcher der Obergang von den Elementen der Bedeutung zum Sinn vollzogen wird. Dieser Übergang kann aufgrund seiner Funktion, Explizites auf Explizites zu beziehen oder eine irrexplizite Gesamtwahrnehmung zu bilden54 , nicht selbst die Form einer positiven Gegebenheit haben. Ähnlich Whiteheads Einwand gegen den wissenschaftlichen Beweis zeigt Polanyi, daß sich das Ideal eines streng expliziten Schließens auf der Linie seiner Selbstaufhebung bewegt, da es nicht anzuerkennen vermag, daß der Übergang vori der :Prämisse zum Schluß einer Instanz bedarf, die ihrerseits nicht explizit sein kann. 55 Die Dynamik unausdrücklicher Erkenntnis meldet sich aber nicht nur, wenn es gilt, jeweils über die Bildung·von Erkenntnisurteilen oder Wahrnehmungen zu reflektieren, sondern ganz besonders, wenn die Erwerbung der Sprache beim Kinde oder die Fähigkeit Neueszu erkennen oder zu formulieren erklärt werden soll. Polanyi zeigt, daß ohne eine Struktur des Übergangs, die er auch nach Kantischem Vorbild · als eine solche der Einbildungskraft beschreibt, diese Fragen gar nicht diskutiert werden können. 56 Das bloße Konstatieren von Erkanntem wäre nicht in der Lage, den Prozeß der Erkenntnis von neuem in Gang zu bringen, innerhalb dessen der Vorgriff der Verpllltung, der Akt der Imagination, Schemata bereitstellt, innerhalb derer sich Explizites neu zu deuten ver~ag, sich überhaupt he~ausstellt, was jeweils Fakten sind, und was sie »belegen«. Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit, Perspektiven zu eröffnen, nicht nur innerhalb g~wähl ter Erkenntnisralunen gegebene Fakten zuzuordnen. Das Schließen der Einbildungskraft, in anderer Weise dasjenige der Urteilskraft bzw. der praktischen Vernunft57, ist nach dem Muster logischer Subsumtion nicht beschreibbar. Seine Bedeutung für eine wissenschaftliche Heuristik, d. h. für das V erfahren der Neubildung von adäquaten Erkenntnisperspektiven ist unabweisbar. Das Erlernen der Sprache durch das Kind, die Formulierung 31
nie dagewesener Sätze kann ebenfalls nicht als »Generalisation des Bestehenden« oder Anwendung expliziter Vorschriften verstanden werden, wie Polanyi unter Rückgriff auf Theoreme Chomskys bemerkt (vgl. S. 129 f). Es erfolgt in einer Dimension, in der das fingierende Vermögen in der W ahrnehniung und der Erkenntnis auf eine »Unausdrückliche Weise die Mittel ... (seiner) Verwirklichung hervorbringt«, und· dämit jene flüssige Zuordnung von Wort und Wort ermöglicht, in -der sich em Gegebenes sprachlich benennen und deuten läßt. 58 (4) In· dem Maße, wie die Hermeneutik wichtige Einsichten der Instanz des Lebensbegriffs verdankte, mußte auch das Substrat des Lebens, sei es als lebendiger Organismus oder als ausgezeichnetes menschliches Dasein, thematisiert werden. Damit gewinnt die hermeneutische Problemlage einen engen Zusammenhang zur Au.fgabe einer Anthropologie. 59 Dazu gab es von der Phänomenologie her bereits Anstöße, sobald neben der lebensweltlichen Fundierung des Erkennens auch die leibliche eine Rolle zu spielen begann, wie das besonders bei Merleau-Ponty, aber auch bei Anthropologen wie Buytendijk60 der Fall ist. In diesen Zusammenhang gehört auch das philosophisch-anthropologische Lebenswerk Helmuth ,l>lessners, der die Anthropologie aus der Ebene einer empirischen Lehre zurückzuholen trachtete auf eine Basis, von der aus das lebende Leben in seinen vielfältigen 'Ausdrucksgestalten und Verhaltensmustern reflektiert werden konnte. Der Kern einer solchen Theorie ist die im Menschen verkörperte Beziehung von Selbstsein und Welt, die »exzentrische Positionalität« des existenzbergenden Lebens, wie es Plessner bereits 1928 60a, unabhängig von Sein und Zeit (1927) nannte. Die Spannung aber, die sich zwischen einer so konzipierten Anthropologie und Heideggers Fundamentalontologie des Daseins ergeben mußte, ist Gegenstand des hier abgedruckten Beitrages. Während in Sein und Zeit die »Hermeneutik der Faktizität« dazu dient, am Faktum des menschlichen Daseins hinter dieses zurückzugelangen in die vorlaufende Frage· der unabschließbaren Seinsbestimmung alles Seienden, muß eine Anthropologie das Faktum des Daseins bzw. des Lebens überhaupt als Ausgang und Ziel ihrer Bemühungen verstehen. Der situative Charakter des lebenden Körpers ist im Anschluß an-Heidegger in der verschie-
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densten Weise ausgelegt worden, gerade durch Anstöße, die gegen die eigentliche Intention von Sein und ~eit wirksam wurden,-u. a. in der verstehenden Psychologie, der Psychoanalyse und Psychopathologie. 61 Plessners Untersuchungen, die ihren Ausgangspunkt vom >>materialen Apriori« exzentrischer Positionalität nehmen, suchen den Zusammenhang von Körper und Leib, von Naturbestimmtheit des Lebens und Existenz als einen Bereich auszulegen, in dem sich die »Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung iri Natur und Geschichte« (5.150) erschließen. Erfahrungen dieses Typs haftet die Zweideutigkeit allen Ausdrucks an, der sich gelebtem Leben verdankt. Diese Anthropologie, mit der naturwissenschaftlichen Disziplin gleichen Titels unvergleichbar, ist eine Wissenschaft, die zwischen transzendentaler Fragestellung und Empirie Verfahren des Verstehens entwickelt, in die einerseits empirische Einsichten (aus der Vorgeschichte, der Stammesgeschichte, der genetischen Psychologie, der Verhaltensforschung u~ a.) einfließen, die aber andererseits imstande ist, eine Reflektion zu entwickeln, die dem perspektivischen Charakter des Lebens gerecht wird. >>Die menschliche Welt ist weder auf ewige Wiederkehr noch auf ewige Heimkehr angelegt. Ihre Elemente bauen sich aus dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt.«· (S. 150) (5) George Herbert Mead (1863-1931) ist als einer der Begründer einer »verstehenden Soziologie« immer wieder in Anspruch genommen worden. 62 Als Wissenschaftler ist er der Sozialpsychologie zuzurechnen; philosophisch dem Pragmatismus, zu Dewey steht er in· einem besonders engen Verhältnis. Als Pragmatist machte er den Versuch, eingeführte wissenschaftliche Dualismen wie Geist und Materie, Philosophie und Wissenschaft, Teleologie und Mechanik, Theorie und Praxis usw. zu vermeiden -Tendenzen, die er mit der späteren Hermeneutik teilt. Für den Zusammenhang der hermeneutischen Betrachtung ist von besonderem Interesse, daß sich die Grundlegung eines Verstehensbegriffs im sozialen Felde auch ausdrücklich auf Whiteheads Philosophie des Perspektivismus beruft. 63 Mead hat die mögliche fundierende Funktion dieser Theorie erkannt, er bezieht Whitehead ausdrücklich auf Leibniz' Monadenkonzeption, um dann 33
einen Schritt der Übertragung zu versuchen. Das Verhältnis von Perspektiven dient ihm als Basis, um gesellschaftlichen Prozessen ihren »Gegenstandscharakter« zu nehmen, um ihre Konstitutionsvorgänge von Innen her zu erfassen. An die Stelle der Gesellschaft tritt die Gesamtheit der Perspektiven, die Individualitäten in Wechselbeziehung zueinander versetzen. Mead's Theorie versucht den Antagonismus zwischen subjektiven und objektiven Ausgangspunkten zu vermeiden, indem er den Perspektivenzusammenhang als eine Abfolge von Ereignissen sieht, bei denen der Vollzug Wirklichkeit konstituiert, nicht ihr Ergebnis. Der Vollzug ergibt sich aus dem Faktum, · daß jede eigene Perspektive, die das Glied einer Gemeinschaft repräsentiert, zugleich in der Perspektive anderer erscheint, sich aus diesen perspektivischen Wechselverhältnissen die >>Gruppenperspektive« ergibt. Die Organisation der einzelnen Rollen schließt sich zu . einer »Gesamt-Handlung« zusammen, in welcher sich gemeinsame Eigenschaften anzeigen. Indem der einzelne seine Perspektive virtuell vom Standpunkt der anderen zu sehen vermag, gelangt er dazu, >>als >generalisierter anderer< in der Einstellung der Gruppe oder der Gemeinschaft zu sich selbst Stellung zu nehmen. Mit dieser Fähigkeit ist das Individuum gegenüber dem· sozialen Ganzen, dem es zugehört, ein definites >Selbst< geworden. Dies ist die gemeinsame Perspektive.« (S. 158) Es ist leicht ersichtlich, daß diese Theorie die Konstitution gesellschaftlicher Gruppen aus der Dynamik der in ihr ablaufenden »perspektivischen« Vorgänge verständlich machen kann, daß sich eine Gemeinschaft aus einem Prozeß wechselseitiger Anerkennung aufbaut, in dem die einzelnen Individuen gerade dadurch, daß sie an ihrer Perspektive festhalten, die Perspektive des anderen zu Gesicht bekommen. Dies beschreibt keinen Akt der Einfühlung oder der Projektion in .andere, sondern reale Vorgänge, die aus den Verhältnissen von Handlungen, Interessen, Normierungen zueinander entspringen: mit dem Selbst entsteht der andere, d. h. das gesamte soziale Gefüge. Dieses ist danach auch nicht als eine Summe von einzelnen Faktoren und Daten zu verstehen, sondern als offenes Sinngeschehen. Auf der Basis von Whitehead's Philosophie und mit Blick auf die behavioristische Psychologie gelingt es Mead auch, soziale Organisationen und Organisationsweisen der Natur in ein Kontinuum zu setzen. Was in diesem systematischen Text Meads als Skizze vorliegt, 34
hat er in den Schriftkonvolutef!, die unter anderem unter dem Titel Geist, Identität und Gesellschaft'4 von Charles Morris publiziert wurden, nach den verschiedensten Seiten hin soziologisch differertziert. Durch Alfred Schütz, der seine verstehende Theorie der gesellschaftlichen Phänomene .auf Busserls Philosophie gründete, ferner P. Bergerund Th. Luckmann und andere 65 sind Meads Ansätze fortgeführt worden. 66 Der hermeneutische Ertrag von Meads Ausführungen besteht darin, die gesellschaftlichen Prozesse ohne objektivierende Verfremdungen zu thematisieren und die k~nstitutive R,olle des Handlungsvollzugs, des sozialen Ereignisses selbst zu beschreiben. Charles Taylor entfaltet eben diese Aspekte in seinem Beitrag (S. 168) in seine _methodischen Konsequenzen, indem er sie auf Tendenzen gegenwärtiger Politikwissenschaft bezieht. Schon Mead macht deutlich, daß es eine soziale Realität >>als solche« nicht gibt, daß sie sich vielmehr aus Relationen oder Interpretationen aufbaut, die keinen Relativismus umschreiben, sondern insofern ein Verstehen als eine Perspektive realisieren, die Mit-Realität der anderen Perspektiven als ihr Umfeld einschließt, d. h. die Konstitution gemeinsamer sozialer Bedingungen. (6) Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen: der vorliegende Versuch entstammt der Feder Charles Taylors, einem der angesehensten Sozialphilosophen und Theoretiker der Gesellschaftswissenschaften im angelsächsischen SprachgebietY Das Fundament seiner Theorie besteht in einer produktiven Aneignung kontinentaler Philosophie (unter anderem Merleau-Pontys, auch Hegels 68 , die sich den Einwänden analytischen Philosophierens gestellt hat. Schon in Explanation of behavior (1963), einer Kritik am sozialwissenschaftliehen Behaviorismus und einigen· Basisannahmen analytischer Wissenschaftstheorie, zeichnete sich die Konzeption einer Hermeneutik ab, die weniger vom Rückgriff auf das Repertoire hermeneutischer Tradition lebt, als aus der Reflektion unzureichender wissenschaftlicher Verfahren und Prämissen ihre hermeneutischen Überlegungen gewinnt. Kriterium dieses refus ist die Frage der Angemessenheit wissenschaftlicher Theorien gegenüber den Phänomenen. Die Übertragung des Exaktheitsideals der Naturwissenschaften, begleitet von Objektivität und Wertfreiheit, führt auf dem Gebiet der menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen zu einer Verzerrung des 35
»Gegebenen«. Taylor setzt sich mit der »political theory« auseinander, die auf der Wissenschaftstheorie des logischem Empirismus aufbaut, Er weist nach, daß deren Prämisse, der Rekurs auf abstrakte data bruta fiktiv ist. Nomothetische Verfahren zielen darauf, gesellschaftliche Zusammenhänge unter_ Ausklammerung menschlicher ·Intentionen und der in ihnen sich vollziehenden Selbstinterpretationen zu thematisieren. Der Bezug des einzelnen Subjekts zum sozialen »Faktum« schrumpft auf eine _irrelevante Bewertung und Validierung, die für den gesellschaftlichen Prozeß keine konstitutive Bedeutung gewinnt. Diese Form wissenschaftlicher Theorie überspringt die Phänomene, insofern zu gesellschaftlichen AnerkennuJ;Igsvorgängen schon immer die wechselnde Selbstinterpretation der einzelnen Glieder der- Gruppe gehört. Praktische Vernunft69 ist Bestandteil dieses. Vollzugs menschlicher Selbst-Definition, den schon Aristoteles intendierte. Dennoch ist er »für die Hauptströmung der modernen Wissenschaft ... immer noch eine anstößige und unannehmbare · Wahrheit.« (S. 225) Das Phänomen, dem die wissenschaftliche Klärung .gerecht werde.q. int.iß, ist das situationsbezogene Handeln, in dem Bedeutungen immer schon »als solche«, zugleich aber im Scopus von Intentionen, Interessen, kurz gesagt »abgeschattet« wahrgenommen und realisiert werden. Das Handeln kann deshalb »als eine Art Proto->Interpretation< aufgefaßt werden.« (S. 184) Der lebendige Interpretationsvollzug des gesellschaftlich handelnden Menschen wird durch den Akt wissenschaftlicher Interpretation einer Klärung zugeführt. Die Auslegung hat gleichfalls Intentionali-: tätscharakter, sie steht nicht vor einer Heterogenität zwischen ihr selbst und dem, wovon sie spricht. Allerdings folgt sie Kriterien, die in der Fähigkeit zu steigender Klärung und Kohärenz bestehen, ferner darin, daß Ausdruck und Bedeutung unterscheidbar bleiben und diese jeweilige Bedeutung für ein Subjekt besteht. Der Interpret bezieht nicht Daten, sondern Lesarten aufeinander, das Geschehen der Rechtfertigung ist in die Zirkularität dieser Situation einbezogen. Was wir begründen sind Perspektiven (Lesarten) eines Textes (oder von Ausdrücken), was wir als unsere Gründe für eine jeweilige Lesart anführen, können wiederum nur weitere Lesarten sein (vgl. S. 218 u. ö.). Die Intersubjektivität der sozialen Phänomene ist aus dem kategorialen Raster der data bruta nicht-verständlich zu machen. 36
Ihre Realität ist immer schon sprachlich gedeutet. Intersubjektive Bedeutungen ~ind etwas anderes als die Konvergenz subjektiver Validierungen. »Woran es der Ontologie der Hauptströmung der Sozialwissenschaft fehlt, ist ein Begriff von Bedeutung, die nicht einfach für ein individuelles Subjekt gegeben wäre, sondern für ein Subjekt, das sowohl >wir< als auch )ich< sein kann. Der Ausschluß dieser Möglichkeit, des Gemeinschaftlichen, resultiert wiederum aus dem verhängnisvollen Einfluß der epistemologischen Tradition, für die alles Wissen aus den dem individuellen Subjekt eingeprägten Eindrücken rekonstruiert werden muß.« (S. 202Y0 Taylor diskutiert die Tragweite hermeneutischer ÜberlegungenamBegriff der politischen und gesellschaftlichen »Legitimität«. Der Verlust an normierender Kraft, der mit der Entwicklung der eur-opäischen Wissenschaften und ihrer technischen Anwendung verbunden ist, für welche die Erde in gleicher Weise datum brutum ist, nämlich Rohstoff für Bestimmungsakte, scheint nur von einer wissenschaftlichen Konzeption aufgefangen werden zu können, welche den Methodenzwang durchbricht und die Rekonstruktion der »intersubjektiven Bedeutungen der Gesellschaft« in der wir leben, verstehen lehrt. Eine hermeneutische Wissenschaft, die sich nicht auf data bruta gründet, kann nur zirkelhaft argumentieren. Darin besteht gegenüber dem Verifikationsideal exakter Methoden, und an dieser autoritativen Wissenschaftskon:zeption gemessen, ihre· Schwäche. Eine Schwäche, die sich schließlich doch als Stärke erweist. Deshalb, weil sie die Option in jeder Lesart des Erkenntnisprozesses stärkt und verdeutlicht; von der Illusion einer »wertfreien« Gesellschaftswissenschaft befreit, »Intuition«, »Imagination« und Einsicht ins Zentrum des Handeins und seiner wissenschaftlichen Auslegungen zurück bringt. Diese hermeneutische Konzeption schließt einen »Bruch mit gewissen allgemein vertretenen Auffassungen von unserer wissenschaftlichen Tradition ein«, sie impliziert Wissenschaftskritik. 71 Die Hermeneutik ist im Sinne Taylors »moralische Wissenschaft«, aber in noch radikalerem Sinne als das 18. Jahrhundert annahm. Sie verlangt, um erfolgreich betrieben zu werden, »ein hohes Maß an ·Selbsterkenntnis, die Freiheit von Illusionen - im Sinne von Irrtümern, die in der eigenen Lebensart verwurzelt sind und zum Ausdruck kommen} denn unsere Unfähigkeit, zu verstehen, wurzelt in unseren eigenen Selbst-Definitionen, folglich in dem, was wir sind.« (S. 225) 37
(7) Die juristische Hermeneutik hat für die Klärung der Verstehensproblematik eine überraschende Bedeutung gewonnen, deren exemplarische Bezüge auch für andere Wissenschaften (besonders die Historie und die Theologie) gelten dürften. Offenbar deshalb, weil die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift keine Beiseite-Setzung der Situation erlaubt, in der sie geschieht. Die Bedingungen des jeweiligen Falles und der Rahmen eines betreffenden Gesetzes schließen sich unter dem Scopus einer Anwendung zusammen, in der ein kodifizierter Text ein gerechtes Urteil ermöglicht. Die Applikation macht das Gesetz erst konkret, sie deutet seinen Sinn aus, wobei der Wortlaut des Textes den Horizont d;mtellt für die jeweils notwendige Ergänzung und Anpassung, die der zu behandelnde Fall erfordert. 72 Dieses Geschehen einer Anpassung hat mit willkürlicher Umdeutung nichts zu tun - im Gegenteil : es führt zur erforderlichen Konkretion. 73 Verstehen heißt hier:· was im Gesetz als geltend zum Ausdruck kommt, ZU erkennen und ihm zur Anerkennung in der Rechtsprechung zu verhelfen. Dazu gehört sicher auch die Frage, ob überlieferte Gesetze der Gegenwart noch entsprechen, ob sie nicht veraltet sind, die Erfordernisse einer Zeit nicht mehr treffen usw .. Insofern besitzt das , juristische Verstehen eine historische Dimension, die aber niit der Verkürzung, die eine historisch gesinnte Forschung einschließt, nichts zu tun harl4 • Während diese das Faktum feststellt und auf die in ihm erkennbaren historischen Kräfte und Antriebe schließt, kann die Rechtsprechung als der praktische Fall einer juristischen Applikationsleistung von der Zugehörigkeit Einheit des hermeneutischen Problems« wieder herzustellen sei/5 Der normative Gehalt eines Gesetzes ist auf einen gegebenen Fall hin abzuwägen. Juristisches Verstehen wäre deshalb als eine Subsumtion von Einzelfällen (vgl. unten s. 228 f) unter allgemeine Vorschriften nicht nur falsch beschrieben, sondern auch für den einzelnen Rechtsfall folgenschwer mißdeutet. Die Wir.., kung des Gesetzes erfüllt sich in der gerechten Entscheidung. Für diesen Prozeß der Rechtsfindung, der Urteilskraft und praktische
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Vernunfe6 verlangt und in den allgemeine Lebensnormen sowie gesellschaftliche Bedingungen eingehen (S. 235 f), stellt die juristische Dogmatik eine Art von Garanten dar. Sie ermöglicht die Anpassung von positivem Recht an die »Gerechtigkeitsanforderungen« , sie bewahrt die Fortschrittsfähigkeit der Gesetzesbildung. Der abgedruckte Aufsatz Josef Essers77, reflektiert die genannten Aspekte am Stellenwert rechtsdogmatischer Arbeit. Für sie hat die hermeneutische Kategori~ des Vorverständnisses · · eine wichtige Funktion. Sie erlaubt, die Anpassung des Rechts an die Realität, als einen wissenschaftlich reflektierten und damit kontraHierbaren Vorgang aufrechtzuerhalten, ein Vorg~ng, der offenbar nach zwei Seiten hin mißlingen kann: zugunsten eines Konformismus zwischen Recht und sozialer bzw. politischer Realität und zugunsten einer überständigen Antiquierung von Rechtsvorschriften. Eine wertungsneutrale Interpretationsarbeit des Richters oder Rechtsauslegers erweist sich als eine Fiktion, welche die tatsächlichen Vorgänge der Rechtsfindung unzumutbar verkürzen würde (vgl. besonders S. 246 f). (8) Freuds Entwurf der Psychoanalyse wurde hinsichtlich seines Stellenwerts für das Selbstverständnis der Philosophie und der Wissenschaften vielfach untersucht. Sein Nachweis, daß das Ich nicht Herr' im eigenen Haus sei, läßt sich zwanglos mit jener, die philosophische Hermeneutik begründenden, Bewegung in Zusammenhang bringen, die am Leitfaden des Lebensbegriffes Kritik am abstrakten Methodenideal der Wissenschaften und eben an jener Idee eines transparenten Selbstbewußtseins übte, die auch Freud zu destruieren unternahm. So wichtig die Frage scheint, ob Freud darin als Na~hfahre der Romantik verstanden werden kann, ohne seine Intentionen zu verkürzen 78 - für das Gespräch zwischen Psychoanalyse und Hermeneutik darf m~n . sich zunächst auf einen sachlichen Punkt konzentrieren. Er besteht in der Bestimmung des psychoanalytischen Gegenstandes, d. h. in der Klärung der Natur des Unbewußten. Die Bedeutung dieses Unteniehmens wird im Lichteall jener Versuche deutlicher, die das Unbewußte nicht schlüssig zu interpretieren erlauben. Zu diesen gehört u. a. das Bemühen, das Unbe:wußte als die affektive Nachtseite des Bewußtseins zu verstehen, oder als eine zusätzliche >Etage< im hierarchischen oder transzendentalen Konstitutionsprozesses der menschlichen Persönlich39
keit. Auch der Gedanke der Selbstreflexion scheint ungeeignet sich überunbewußte Vorgänge zu verständigen. Schließlich ist es auch als Bereich sprachlosen Ausdrucks kaum zu begreifen. Hermann Lang macht in seinem Beitrag den Versuch, die Sprache als das Medium analytischer Psychotherapie darzulegen, d. h. in Überlegungen hermeneutischen Typs ·e.in Interpretament für den G!;!genstand und den Vollzug der Psychoanalyse zu finden. Wir haben uns bereits klargemacht, in welchem Maße die Sprache zum Kernbereich hermeneutischer Theorie gehört. »Begegqete nicht eben die Sprache als ein Geschehen, in dem weit weniger wir die Führenden als vielmehr die Geführten waren«, schreibt Lang in seinem Lican-Buch unter Berufung auf Gadamers Analyse des Gesprächs79 und fährt fort : »bot sie ·sich nicht als ein Verhältnis dar, dem im Vergleich zu seinen Beziehungsgliedern .Subjekt-Subjekt bzw. Subjekt-Objekt das· Primat zukommt? Hat die Relation, die Freud zwischen unbewußtem und bewußtem Ich entdeckte, nicht etwas Analoges?« Die Psychoanalyse und ihren Gegenstand als Sprachgeschehen zu deuten, als eine >talking eure<, ist keine aufgesetzte Hypothese, sondern hat sein Fundament in Beobachtungen Freuds selbst, .bzw. teilweise in Wendungen seiner Patienten. >Talking eure< beispielsweise nan~te die, Patientin Anna 0. das Ereignis ihrer Behandlung im Gespräch.-mit Breuer. Lang untersucht die Rolle, die das Medium der Sprache für die Psychoanalyse besitzt unter Rückgriff auf Freuds eigene Abhandlungen80. Er zeigt dabei auf, welcher wissenschaftliche Erkenntnisrahmen Freud selbst darin hinderte, die Psychoanalyse als eine Hermeneutik des Gesprächs zu entwickeln - trotz seiner Einsicht in die Funktion der Sprache. Es 1st ihre empiristische Verkürzung, die diese Abblendung erzeugt. »In diesem Lichte erscheinen · die · Worte als eine gewissermaßen sekundäre Art von Vorstellungen, die ihre Bedeutung erst durch Assoziation mit Objekt- bzw. Sachvorstellungen erhalten. Wenn im Empirismus die Sprache hinter die Wahrnehmung zurücktritt, - ·. . . -, so reduziert die idealistische bzw. transzendentalphilosophische Tradition die Sprache zum bloßen Ausdruck ·des reinen Gedankens, zum letzlieh überholbaren Instrument des Denkens und der Reflexion.« (S. 260 f) In dem Maße, wie es gelingt, das Verstän~ nis von Sprache aus seinen Verengungen zu befreien, zu denen die erwähnten gehören, erweist es sich als die fruchtbareDimension, 40
das Verständnis des Unbewußten zu fördern. Lang führt aus, daß das analytische Gespräch den Patienten zur Erkenntnis seines U nbewußten, d. h. seiner Geschichte führen kann, weil sich diese Erinnerungen selbst schon im Rahmen einer sprachlichen Strukturierurig des Ynbewußten abspielen. Die Analyse versucht die Symbolisierungen, die von Konfliktsituationen existieren, >in das Wort einzuholen<. Der Neurotiker steht nicht außerhalb des sprachlichen Mediums, das die menschlichen Darstellungs- und Erkenntnismöglichkeiten beherbergt. »Nur weil wir vom Symbolischen her leben und uns in ihm humanisieren, schon immer >ein Gespräch sind<, kann sich·auch die geschichtliche Wahrheit der konflikthaften Originalvorfälle im Medium der symbolischen Beziehung der psychotherapeutischen Situation enthüllen.« (S. 268) (9, 10, 11) Die theologische Hermeneutik stellt nicht nur einen der Ursprünge hermeneutischer Theorie überhaupt dar81 , sie ist auch gegenwärtig mit ihren zentralen Fragen aufs engste verknüpft. So bedarf es auf diesem Feld nur weniger Hinweise. Der Aufsatz von Erich Seeberg (1927? 2 , reflektiert ein wissenschaftliches Bewußtsein, für welches sich die Kritik am. Historismus mit einem Gegenwartspathos verbindet, das der Auto! mit der Vokabel »expressionistisch« benennt. Die theologische Hermeneutik überschreitet den engen Rahmen einer bloßen Sammlung technischer Regeln für die Interpretation des Textes. Sie weitet sich aus zu umfassenderen Fragen nach den Bedingungen des Verstehens. Damit wird die Thematik der Sprache aktuell, wie insgesamt die philosophischen Implikate, die in der Einsicht in den Interpretationscharakter der Realität stecken. Seeberg bewegt sich noch vor diesen Fragen, die vor allem die Beiträge von Ebeling (S. 320) und von Pannenberg (S. 283) aufwerfen. Die Kritik an den historischen Aporien erfolgt bei Seeberg durch geistreiche Erneuerung der »pneumatischen Exegese«. Wie vernichtend der strikte Historismus für die Idee der Theologie sein müßte, hatte ihr bereits Nietzsche vorgerechnet83 , als er in der 7. Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zeigte, daß der ungebärdige historische Sinn Religion in Wissen verwandelt. Diesen Weg von der Theologie zur Religionsgeschichte ist Nietzsches Freund Franz Overbeck gegangen. Demgegenüber zeigt Seeberg auf, wie durch das Historische hindurch das biblische 41
Wort Dauer und Aktualität fordern kann. Die Verbindung zwischen dem lebendigen Geist einer Schrift oder gar des Wortes der Bibel mit dem Geist des Interpreten wird unter dem Blickwinkel eines Außer-Sich-Seins und Bei-der-Sache-Seins beleuchtet, wie sie in der theologischen Kategorie des Pneuma schon seit Alters gedacht worden ist. Diese Korrespondenz sucht Seeberg in der Frage nach dem Verständnis von »Fremdseelischem «, wie sie von Dilthey entwickelt worden war. Auch er macht von der Gemeinsamkeit des Lebens methodischen Gebrauch, welches Interpreten und Text bzw. den Gläubigen und das Wort Gottes umfaßt. Für eine Exegese, die sich dieses All-Lebens als des Pneuma versichert, gib~ es eine subjektive Wurzel, die sich zugleich als eine sachliche erweist. Erstere besteht darin, daß die »höchste Subjektivität . . . das Mittel (ist), um das wahrhaft Objektive schöpferisch zu erfassen; und das, was hier erfaßtwird, istnichtdas Individuelle, sondern das Zeitlose und Wertvolle, der Geistunddie Idee.« (S. 273) Die sachliche Wurzel aber zeigt sich, wenn man sich klar macht, daß eminente Texte (wie die Bibel oder auch die Weltliteratur), nicht als Ausdruck von Individualitäten oder einer Zeit verstanden werden können, sondern etwas »Objektives« enthalten, das jenseits aller Absichten von· Autoren oder Zeiten liegt: »Die wirk4ch grqßen Gedanken sind groß, weil sie weiter reichen, als der Pfeil träit, auf dem sie abgeschossen worden sind.« (S. 279) Das Sprechen über Gottkann sich das im Text Gesagte rucht verfügbar machen wollen. Die Idee der Offenbarung bezeichnet gerade ihre Unerschließbarkeit von seiten einer transparenten Selbsterfahrung, wie von der Welt her. Damit nennt Seeberg auch ein entscheidendes Kriterium gegenüber der historischen Exegese, welche auf die Lokalisierung eines Werkes in seinen zeitlichen und räumlichen Bedingungen zielt. Darf sich eine pneumatische Exegese mittels historisch-objektivierender Verfahren nicht aus dem Anspruch des biblischen Wortes herausreflektieren, so ermangelt ihr· doch keineswegs eine eigentümliche »gläubige« Sachlichkeit, sofern es ihr gelingt, den »Geist der über unserem Geist liegt« (S. 280) hinsichtlich seines Anspruchscharakters und seines traditionsbildenden Anrufes zur Sprache zu bringen. Wolfhart Pannenberg bewegt sich auf einem weiterentwickelten Diskussionsstand, in den die hermeneutische Begründung der Theologie durch R. Bultmann 8\ die aktuelle Tragweite Schleier42
machers und Diltheys u. a. ebenso eingehen, wie die Anstöße durch Wahrheit und Methode. Die Analyse der hermeneutischen Bestrebungen in der Theologie der Zwanziger Jahre (vgl. S. 292 f) erfolgt zum Teil nach Maßgabe der von Gadamer erhobenen Einsprüche, 85 um sich dann in eine Kritik von Wahrheit und Methode umzuwenden. Pannenbergs Beitrag kann deswegen einerseits als ein kritisches Referat wichtiger Grundlagen der neueren theologischen Hermeneutik gelesen werden, andererseits aber auch als ein Beitrag zur Diskussion ihrer philosophischen Implikate. Der Autor hält dem Theorem der Horizontverschmelzung und der hermeneutischen Applikation86 insofern K\lrzschlüssigkeit vor, als es die Dimension, welche die Abfolge vergangeuer Ereignisse mit der Gegenwart verbinde, voraussetze, ohne sie .zu einem philosophischen Thema zu machen. · Implizit sind damit die Fragen einer Wirkungsgeschichte 87, in der sich Historie und jeweilige Gegenwart des Verstehens zusammenschließen, an eine Instanz zurückverwiesen, der Gadamer kritisch entgegengetreten war : der Hegeischen Philosophie als einer Philosophie der Weltgeschichte. »Erst im Zusammenhang der Unive!salgeschichte kann das Damals des Textes mit dem Heute des Auslegers so verbunden werden, daß ihre zeitliche, historische Differenz nicht verwischt wird, sonder~ in dem beide verbindenden Geschehenszusammenhang bewahrt und doch überbrü~kt wird.« (S. 311) Ohne damit Hegel gegen die hermeneutische Philosophie der Endlichkeit des Bewußtseins einfach ins Recht setzen zu wollen; möchte Pannenberg im Grunde den spannungsvollen Diskurs, in dem sich Wahrheit und Methode zwischen Heidegger und Hegel befindet, n~u aufgerollt sehen. Als das Forum der Auseinandersetzung hätte dann die Sprachverfassung des Verstehens selbst zu dienen, wobei Pannenberg Gadamers Kritik am Vorrang der »Aussage« für Sprache und Verstehen88 überprüft und zurückzunehmen versucht. Die theologische Offenbarung wird damit an die Geschichte verwiesen. Da nur in ihr die Jeweiligkeit gläubigen Hörens hinsichtlich ihrer historischen Kontinuität greifbar wird, soll die Innenperspektive einzelner Glaubensakte durch die Außenperspektive einer Universalgeschichte übergriffen werden, in der sich das · theologische Wort historisch entrollt. 89 Gerhard Ebeling skizziert einleitend die unaufhebbare Differenz zwischen historischem und theologischem Verstehen. Wie 43
Ernst Fuchs 90 hält er die Einsicht fest, die auch diejenige Bultmanns gewesen ist, daß das Wort Gottes nicht uruversalgeschichtlich reflektiert, sondern unter den Bedingungen endlicher, geschichtlicher Horizonte in seinem Anspruch verstanden werden muß. Der Theologe kann sich dabei nicht nur als Deuter eines innerhistorischen Ereignisses verstehen, weil er so nicht bei seiner Sache ankommt, nämlich von einem Wort in Anspruch genommen zu sein, dem durch die Angabe seines geschichtsrelatiyen. Ortes ebensowenig entsprochen wäre, wie durch die positive Festlegung dessen, was dieses als Aussage darlegt. Anruf durch das Wort impliziert ein umfassenderes Verstehen, das die Dimension der Verantwortung und der Lebenspraxis desjenigen, der es vernimmt, einschließt. »>Hermeneutisch< ist das, was zur Wahrnehmung der WortverantWortung anhält und.hiHt« (S. 327), womit keine philologischen Vorgänge oder die bloß·e Innerlichkeit eines Gewahrwerdens benannt sind, sondern »ein Heraustreten in die Externität: so wie einer ein Amt oder eine Gelegenheit wahrnimmt, bzw. eine Entscheidung oder sich selbst vor einem Forum verantwortet.« (a.a.O.) Die hermeneutische Theologie in diesem Sinne geht manche theologischen Teildisziplinen an, auch diejeruge der Dogmatik, rucht weil sie eine Ar,t Meta-Methode repräsentiert, sondern aufgrund ihres Potentials an kritischem Reflexionswissen, dem die Aufgabe zuwächst, Verdinglichungen in der wissenschaftlichen Rede von Gott aufzulösen, sie transparent zu machen für das eigentlich Gesagte. Es ·geht um ein Vermögen, das in verantwortliches theologisches Sprechen einweist, das heißt die Überführung der Verkündigung in die eigene Sprachverantwortung des Menschen gestattet, unter der unauflösbaren Bedingung der jeweiligen Situation. . (12, 1,3} Die Auseinandersetzung mit der besonderen Form einer wissenschaftlichen Objektivitätssuche, wie sie in der Gestalt eines universellen Historismus - der letztlich alles historisch zu nehmen vermag - 91 vorliegt, und sich besonders in den Geisteswissenschaften einschließlich Theologie und Jurisprudenz ausbreitete, gehörte von Anfang an zum Selbstverständrus der Hermeneutik. Die Auszeichnung des Verstehens bestand, - in verschiedenen theoretischen Bestimmungen - in einer Geschichtlichkeit, die Subjekt und Objekt aus dem Verhältnis einer
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gegeneinander gewendeten Isolation befreite und in ein einheitliches Geschehen einbezog. Die Wirklichkeit der Geschichte und die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens bestimmen in ihrem wechselseitigen Auslegungsverhältnis die Sache der Historie, die einen falschen Objektivitätsanspruch dadurch einbüßt. Droysen, Dilthey, Nietzsche, selbst Max Weber in der verstehenden Soziologie92 , schließlich Gadamer mit dem wirkungsgeschichtlichen Theorem haben sich gegen die Verfremdung der Geschichte gewandt, die sie aus dem Akten des Verstehens heraussetzt, um ihr einen »objektiven« Charakter zu unterschieben. Der Historismus zeigt diese Problematik in aller Deutlichkeit an, wenn er alles Gewesene unter seinen eigenen historischen Gesichtspunkten betrachten möchte, ohne den geschichtlichen Ort und die Perspektive des Geschichtsschreibers mitzureflektieren. Gadamers Deutung der Historie als Tradition93 , welche den Historismus dadurch zu überwinden trachtet, daß sie auf die Gegebenheitsweise alles Historischen zurückgeht, ist der kritische Anknüpfungspunkt für die geschichtswissenschaftliehe Methodenüberlegung, die Karl Georg Faber unternimmt. Er möchte den Verstehensbegriff als eine Teilform historischen Erkennens akzeptieren, es darin aber nicht aufgehen lassen. Für einen Historiker sei gerade der methodisch verfremdete Sachgehalt eine ·unabdingbare Instanz, auch und gerade wenn er dem »Verstehen widersteht«. 94 Fabers Versuch, Grundzüge einer historischen Hermeneutik zu entwickeln, 'zunächst an einem Fallbeispiel, versucht allgemeine hermeneutische Einsichten auf die Ansprüche einer Methodologie der Geschichte einzugrenzen. Die historische Kritik dient ihm als Mittel, der unentbehrlichen Innenseite des Verstehens eine Rekonstruktion äußerer Bedingungen an die Seite zu stellen, als ein Element >>rationaler Kontrolle«. Dabei läuft allerdings die Universalität des Verstehens in eine methodische Zweigleisigkeit auseinander, bei der ein lediglich internalisierendes Verstehen durch die Zusammenhang und Kontrolle gewährende Arbeit objektiver Rekonstruktion sein notwendiges Komplement erhält. 95 . Die Historie sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, der Krise des Historismus mit der richtigen Therapie beizukommen. Das Angebot einer Reflexion auf Geschichtlichkeit96 , wie es vor allem
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seit Sein und Zeit gängig wurde, enthält zwar den Verzicht auf ein ausgearbeitetes System der geschichtlichen Ereignisse, d. h. auf Geschichtsphilosophie vornehmlich im Sinne Hegels, deutet zugleich aber darauf hin, daß in der Differenz zwischen historischer Veränderung und ihrem jeweiligen Rahmen ein Ansatz für historische Theoriebildung möglich sein könnte, der dem Dilemma zwischen festen, metahistorischen Konstanten der Geschichte (anthropologischer oder sonstiger Art) und historischen Variationen nicht unterliegt. Danach wäre Geschichte nur als Entwicklungsmuster relativ zu Fixpunkten beschreibbar, deren historische Instabilität ihrerseits außerhalb der Betrachtung bleiben würde. Reinhart KoseHeck .unterbreitet in dem Aufsatz Ober die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissensch{ljt dazu mehrere Vorschläge97 • Als Heilmittel gegen die Perspektive einer Historie, die alles oder nichts zu ihrem Gegenstand machen kann, ohne sich der Bodenlosigkeit ihres Wissens widersetzen zu können, schlägt er eine »Theorie der geschichtlichen Zeiten« vor, »ohne die sich die Historie als Allesfragetin ins Uferlose verlieren müßte. Ich vermute, daß in der Frage nach der historischen Zeit die metahistorischen und die historischen Kategorien .zur Konvergenz gezwungen werden.« (S.· 366) Diese Überlegungen:· zielen darauf ab, die verschiedenen »Beschleunigungsgrade«, zwischen historischen Ereignissen und ihrem historischen Bezugsrahmen ausfindig zu machen. »Veränderungs- und Beschleunigungskoeffizienten verwandeln alte Bedeutungsfelder und damit die politische und soziale Erfahrung.« (a.a.0.? 8 Dabei zeigt sich, daß die historische Begriffsbildung selbst ein Spiegelbild der Übertragung von metahistorischen Vorstellungen auf temporale Vorgänge ist. Etwa wenn die Historie zur Beschreibung in der zeitlichen Dimension sich einer >>naturalen Metaphorik« des Raumes bedienen muß 99 • In diesem Zwang meldet sich eine >>anthropologische Prämisse«, nämlich die >>Anschauungslosigkeit der reinen Zeit« mit Elementen empirisch-naturaler Erfahrung substituieren zu müssen. Die perspektivische Situation100 des jeweiligen Geschichtsschreibers führt eine stillschweigende Teleologie (S. 373) aller Historiographie mit sich, deren Unüberwindbarkeit KoseHeck nicht resignierend konstatiert, sondern als eine produktive Aneignungsform deutlich macht. Eine Theorie der vorgeschlagenen Art 46
zeigt sich imstande, die hermeneutischen Verstehensbedingungen zu reflektieren, ohne sie transzendieren zu müssen, sie ist in der Lage, Finalitäten als die notwendigen Darstellungsbedingungen von Historie auszuweisen und damit die Historie als Wissenschaft vor naiven Annahmen oder ideologischer Verblendung zu bewahren. »Im Umkreis einer naiv-realistischen Erkenntnistheorie ist jeder Zwang zur Verkürzung ein Zwang zur Lüge. Ich kann aber darauf verzi~;hten zu lügen, wenn ich einmal weiß, daß der Zwang zur Verkürzung ein inhärenter Teil unserer Wissenschaft ist.« (s.- 379) · · (14, 15, 16, 17) Für den Gesamtzusammenhang hermeneutischer Überlegungen ist die Rehabilitierung der Rhetorik bzw. rhetorischer Wahrheitsfindung von großer Bedeutung/ 01 macht sie doch Alternativen zum Wahrheitsbegriff der Wissenschaften und zum Objektivitätsideal deutlich. Der Beitrag von Cha'im Perelrrian, dem Begründer der »Nouvelle Rhetorique«, untersucht Funktion und Stellenwert der rhetorischen Beweisform. Seine Überlegungen gehören nicht nur zum Bereich hermeneutischer Philosphie, sondern auch zur Theorie des Rechts, der praktischen Philosphie, der Geschichte, Pädagogik und nicht zuletzt zu den Wissenschaften von der Sprac~e und der Literatur102 , die seit alters mit rhetorischen Topoi bekannt sind, ohne daraus zunächst Folgerungen gezogen zu -haben, die für ihren methodischen Status hätten Bedeutung haben können. Erst seit einigen Jahren ist in Deutschland in der Nachfolge von E. R. Curtius, unter anderem durch die Anregungen von W. Dockhorn 103 die Wiederbelebung rhetorischen Wissens im Gange, das nicht so sehr einen vernachlässigten Bereich der Literaturwissenschaften meint, als einen ausgezeichneten Gesichtspunkt des Verstehens von Literatur. Auf diesem Wege sind Einsichten der philosophia practica wieder in die literatur-kritische Betrachtung eingeflossen, wie sich die Rhetorik insgesamt über den Rahmen eng gezogener Fachgrenzen ausdehnt. 104 Sie gewinnt mit der Ubiquität des gesprochenen und geschriebenen Wortes und seines Verstehens ihrerseits eigene universelle Bedeutung, die mit derjenigen der Hermeneutik in ein enges Wechselverhältnis trittHis. Auf die Verknüpfung dieser Sprachlichkeit mit kommunikativen und sozialen Aspekten hat Jürgen Habermas hingewiesen 106 • Die Bestimmung des Wechselverhältnisses einer darauf aufbauenden Theorie der kommunika47
tiven Kompetenz zur Hermeneutik versucht unter anderem der Band »Hermeneutik und Ideologiekritik« (a.a.0) 107• Damit ist eine generelle Verbindung zwischen praktischer Vernunft und der Sprachlichkeit des Verstehens hergestellt, die über Texte oder die Literatur hinausreicht. Mit dem Problem des Verstehens von Texten im engeren Sinne .einer Methodologie der Interpretation beschäftigt sich G. B. Madisons Kritik an Hirschs Validity in Interpretation, die auf den Dogmatismus im Objektivitätsideal dieser Abhandlung hinweist, die sich unter anderem von Emilio Betti angeregt zeigt 108 • Unter Rückgriff auf Husserl un4 . Gadamer macht Madison deutlich, daß das Ideal einer Richtigkeit, dessen Kanon in dem .vom Autor intendierten Sinn besteht, an unauflösbaren Widersprüchen ktankt. 109 Die Intention eines Sinnes, für die sich Hirsch auf den frühen Husserl der Logischen Untersuchungen zu berufen glaubt, gerät ihm zu einem »absoluten Gegenstand«, einer »überhistorischen Essenz«, die von den Akten ihrer zeitlichen Realisation völlig abgelöst ist. Das Verstehen wird zur Rekonstruktion eines Sinnes, der auf der Übereinstimmung zwischen interpretatorischer Hypothese und einem unveränderlichen, unter der Substanzkategorie. gesehenen, Gegenstand beruht. Mit der Absicht, eine absolute Sicherung der Wahrheit zu erreichen, steuert Hirsch in die Dilemmata einer »platonisierenden<( Thebrie, für die sich Geschichte nur noch als Störfaktor der Wahrheit ausnimmt, das Verstehen lediglich als Kontrollprozeß zwischen Einzelfall und allgemeinem Hypothesenrahmen gefaßt wird. Madison macht im Gegenzug nicht nur auf die Histodsierung naturwissenschaftlicher Hypothesenbildung aufmerksam, wie sie zuletzt durch Thomas S. Kuhns Theorie des Paradigmenwechsels 110 in die Diskussion gebracht wurde, er entwickelt darüber hinaus Grundzüge einer Konzeption, die dem »An-sich-Charakter« von Sinn zu entsprechen vermag, bzw. sich den Sinnüberschuß von Texten aneignet, ohne sich in die Widersprüche Hirschs zu verwickeln. Werden aus der Konkurrenz zweier Argumentationstypen im Beitrag von Madison kritische Einsichten erzielt im Hinblick auf die Funktion hermeneutischer Reflexion, s<;> gilt das in gleichem Maße von dem Aufsatz von Gerhard Kaiser: Nachruf auf die Interpretation? (zu: Wolfgang Iser, Die Appellstrukturder Texte). Die Metakritik an Isers Interpretationskonzept111 nährt sich von dem Verdacht, daß dessen Konzeption auf einen hermeneuti48
sehen Relativismus ziele. Er resultiert nicht aus einer falschen Historisierung, auch nicht aus einer Substitutionsthese nach der, was Kunst sagt, durch Elemente äußerer Realität (sozialer, psychologischer oder anderer Art) erklärt werden soll. Dagegen wendet sich dieser selbst mit der nötigen Deutlichkeit112 . Kaiser vermutet vielmehr, daß das Wechselverhältnis zwischen Leseraktivität und dem Strukturcharakter von Texten ohne einen Scopus im Werk selbst bleibt, der das prozessuale Realisieren der Möglichkeiten, das Ausfüllen und Besetzen von Leerstellen zwischen den vom Text entworfenen. Sinnansichten- als richtig oder falsch zu beurteilen zuläßt. »Das Wissenschaftliche Textverständnis hat seinen Verifizierungsmaßstab außer in der Bewußtheit seiner Voraussetzungen und in der Differenziertheit seiner Wahrnehmungen auch in seiner Fähigkeit, möglichst viele Problem-Positionen des ihm vorausliegenden Interpretationsprozesses dialektisch in sich aufzuheben, so daß Ergebnisse nicht einfach übernommen, sondern auf die Ebene eines neuen Gesamtverständnisses gehoben, andere Ergebnisse nicht einfach falsifiziert, sondern zumindest als Fragemo~ent bewahrt werden.« (S. 431 f.) Dieser Scopus dient nach' Kaiser auch keiner falschen Vereindeutigung eines Sinnüberschusses, sondern der dialektischen Einheit von Form und Inhalt, einer Totalität künstlerischer Aussage, innerhalb derer sich der Interpret auslegend bewegt, die ihn »in das Abenteuer des offenbaren Geheimnisses einweist, des Aufleuchtensund Entzugs von Bedeutungen in dichterischer Form- Inhalt- Dialektik ... « (S. 434) Kaiser findet Isers Idee von Interpretation darin destruktiv, sofern dieser die Dichtung zu einem Leerstellengefüge erklärt, das der verschiedensten Adaption fähig ist. Damit rückt aber unsere Lebenserfahrung an die Stelle der vom Werk eröffneten Bedeutung. Die Alterität des Textes gegenüber den jeweiligen Identifikationsleistungen schwindet. Erfassen wir den Sinn des Werkes, wenn wir die Offenheit der Leerstellen, die Summe der im Werk entworfenen Einsichten mit unserem Leserverhalten besetzen? Der Struktur der Offenheit, die Iser benutzt, um die historische Resistenz der Kunst zu erklären, möchte Kaiser eine konträre Struktur gegenüberstellen, die einer absoluten Geschlossenheit, in der durch ein System innerer Beziehungen absolute Bestimmtheit erzielt wird. Diesen Werkcharakter mit Adorno durch die Kategorie der Monade 113 zu erläutern, legt Kaiser durch 49
eigene Berufungen auf diesen Autor nahe : Es ist eine geschlossene Form, die gerade deswegen unendlich bedeutsam wird, weil sie sich keiner partiellen Vereindeutigung fügt. Wie weit diese Konkurrenz von offener und geschlossener Struktur des Werkes wirklich als unversöhnlich gelten muß, bleibt noch zu prüfen. Kaiser selbst sieht Diskussionspunkte dazu, die bislang nicht aufgenommen worden sind. 114 . Isers theoretischer Vorschlag zielt auf die Akte der Lesererfahrung, ohne daß es um deren Gehalte ginge. Der Prozeß der Konstitution von Bedeutungen in der lesenden Realisation wird allein thematisch, eine Struktur, die Ähnlichkeiten mit transzendentalen Begründungszusammenhängen hat.:-lser stellt die Frage >>nach den im Text gegebenen Bedingungen der Möglichkeit, lesend Bedeutungen aus ihm hervorzubringen« (Kaiser, S. 427) Diese Überschreitung der hermeneutischen Verstehenssituation wiederholt sich in anderer Weise wieder innerhalb der laufenden Bestrebungen, strukturalistische und hermeneutische Theorie zur Begegnung, wenn nicht gar zur Konvergenz zu bringen. Dabei erweist sich die Fortentwicklung und Kritik des Strukturalismus, wie sie etwa Jacques Derrida versucht, als besonders wirksamer Ansatz. 115 Daneben tret:en Bestrebungen, die Hermeneutik einer linguistischen Emendation zu unterweden116 bzw. linguistische Verfahrensweisen' herm~neutisch zu reflektieren.l1 7 Am Schluß dieser Sammlung von Texten folgt ein Versuch, die hermeneutische Reflexion in einem Feld einzuführen, auf dem sie von ihrer Entwicklung her unbekannt war: der. Kunstgeschichte118. »Eine Hermeneutik des Bildes« stellt insofern eine Herausforderung dar, als vielfach die zentrale Stellung der Sprache für die Hermeneutik mit einem Sprach-Immanentismus verwechselt worden ist. Es ist wahr, daß Beiträge zu einer »Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks« (Plessner) kaum vorliegen. 119 Der europäische »Logozentrismus« (Derrida) hat nicht nur die Schrift als das Äußere der Sprache in eine Randstellung gebracht, auch das Bild als Darstellungsmedium von Sinn ist in den Schatten des Logos getreten. An der Bildgeschichte läßt sich der Kampf gegen die Überfremdung durch verbal verfaßten Sinn und die Eindeutigkeit von Begriff und Aussage, zugunsten eines spezifisch ikonischen Sinnes able.sen. Eine letzte Entsprechung von Wort urid Bild bleibt gleichwohl eine notwendige Voraussetzung, wobei allerdings gezeigt 50
werden muß, aufgrund welcher Eigenschaften von Sprache und »Bildsprache« diese Obertragung, von der ständig Gebrauch gemacht wird, überhaupt erfolgen kann. Die Alterität des Bildes gegenüber dem Wort meint nicht seine Unverständlichkeit, sondern sie markiert ein hermeneutisches Problem : wie läßt sich ein Sinn beschreiben, von dem gilt, daß er sich in seiner sprachlichen Darstellung nur mittelbar anzeigt, dessen sprachliche Deutung zugleich aber unabdingbar ist, sofern man sich über ihn zu verständigen sucht.
Anmerkungen 1 Dies gilt z. B. für die Beiträge des Bandes Hermeneutik und Ideologiekritik (Frankfurt 1971) oder den Bereich der Rezeptionsästhetik (hrsg. v. R. Warning, München 1975), der Bezüge zur Hermeneutik aufweist. 2 Gadamer/Boehm {Hrsg.) Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt 1976 (stw 144) (= PhHerm) 3 Unter anderem auch deshalb, weil sich positivistische und analytische Philosophie von starren Konzepten befreit haben und ihrerseits zu Einsichten tendieren, die eine partielle Übereinkunft, beispielsweise zwischen der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein und Heidegger, oder zwischen dem Energeia-Modell der Sprache und der Sprechakttheorie (Austin, Searle) andeuten. Vgl. auch Anm. 11 4 Friedrich Nietzsche, Werke, drei Bände, hrsg. v. K. Schlechta, München 1955, Band III S. 903 (>Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre<) 5 Thomas M. Seebohm, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972. - Vgl. die Rezension von Hans-Georg Gadamer, in: Philos. Rundschau Jg. 19/1972, S. 162, zur Auseinandersetzung mit Emilio Betti vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 3. Aufl., Tübingen 1965, bes. S. 482 ff. 6 Vgl. Hans-Georg Gadamer, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, a.a.O., S. 79 7 Vgl. M. Riedel (Hrsg.), Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft, 2 Bände, Freiburg 197~ 8 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode {= WuM), a.a.O., S. 295 passim 9 Vgl. in PhHerm, a.a.O., den Abschnitt: >Die Vorgeschichte der romantischen Hermeneutik<.
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10 Vgl. M. Riede!, Das erkenntniskritische Motiv in Diltheys Theorie - der Geisteswissenschaften, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, Band I, Tübingen 1970, S, 233-456
i 1 Wie wenig der Kontrast zwischen exakter Erkenntnis und Verstehen geeignet ist, die Situation zu beschreiben, zeigen Ansätze innerhalb der analytischen Philosophie selbst, u. a. die Konzeption der Sprachspiele bei Wittgenstein bzw. die Sprechakttheorie. Vgl. Hermann ·Lübbe : Wittgenstein - ein Existenzialist?, in i Bewußtsein und Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität, Freiburg 1972, S. 115 ff, ebd: Sprachspiele und >Geschichten<. Neopositivi$mus und Phänomenologie im Spätstadium (S .. 81. ff.), wobei besonders auch die Philosophie Wilhelm Schapps beachtet zu werden verdient. Ferner: K. 0. Apel, Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen. Verstehens, in: Transformationen der Philosophie, Frankfurt 1973, S. 335 ff., und: Die Entfaltung der sprachanalytischen Philosophie und das Problem. der Geisteswissenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 28 ff. 12 Dennoch bleibt die transzendentale >Verbesserung< der Hermeneutik ein wichtiger Bestandteil der gegenwärtigen Diskussion. Vgl. R. Bubner, Transzendentale Hermeneutik?, In: Simon-Schäfer/Zimmerli, Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Harnburg 1975, S. 56 ff., und, zuvor, K.-0. Apel, in: Transformationen, a.a.O. Bd. II. Husserls späte Konzeption der Lebenswelt stellt ihrerseits eine philosophische Korrektur der Transzendentalität in Aussicht. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die phänomenologische Bewegung und: die Wissenschaft von der Lebenswelt, in : Kleine Schriften Bd. III, Tiibingen 197'2, S. 150 ff. und 190 ff. 13 Vgl. besonders die Abhandlung Phänomenologie als strenge Wissenschaft (1911 ), Frankfurt/M 1965. über untergründige Beziehungen zu Mach vgl. H. Lübbe, Positivismus und Phänomenologie. Mach und Husserl., a.a.O., S. 33 ff. 14 · Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1, Den Haag 1950 15 Vgl. Martin Heidegger, Sein und.Zeit (1927), 9. Auf!., Tübingen 1960, § 77 16 Insofern ist die Kategorie der Perspektivität immer stärker ins Zentrum der Philosophie gewandert. Die neuzeitliche Entwicklungsgeschichte des Selbstbewußtseins ist dazu· n~r ein Vorspiel mit umgekehrten Vorzeichen. Vgl. G. Boehm, Studien zur Perspektivität.. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1969 17 Paul Ricreur, Die Interpretation. Ein Versuch übet Freud, Frankfurt/ M. 1969, S. 38 18 Vgl. Jürgen Habermas, Zu Nietzsches Erkenntnistheorie (ein Nachwort), zuletzt in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frank52
furt/M. 1973, S. 239 ff. 19 Nietzsche beschreibt damit auch die theoretische Basis von der aus die .Frage der Metapher grundlegende Bedeutung erlangt. Metapherntheorie wird zu einer fundamentalen Aufgabe, wenn sich die prinzipielle . Unübersetzbarkeit metaphorischen Sinnes in einen >Sachgehalt< erweist. Vgl. G. Kurz/Tb. Pelster, Metapher. Theorie und Unterrichtsmodell, Düsseldorf 1976. In Vorbereitung: G. Kurz, Die schwierige Metapher (Ms). Ferner die Bemerkungen in meinem Beitrag Zur Hermeneutik des_ Bildes (unten S. 444). 20 Vgl. J. Habermas, a.a.O., S. 250 ff. 21 Die Kunst etabliert zwischen den absolut verschiedenen Sphären von Subjekt und Objekt kein fiktives Kausalitätsverhältnis, k~ine Richtigkeit und keine Ausdrucksbeziehung, sondern ein ästhetisches Verhalten >ich meine eine andeutende Übertragung ... in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf<. (Nietzsche, a.a.O., III, S. 317) 22 An Nietzsches Kritik am Historismus in der Zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen (a.a.O., I. S. 211 ff.) kann hier nur erinnert werden. Sie hat eine >hermeneutische< Pointe darin, daß nur durch eine . Teilhabe am fortwirkenden Lebenszusammenhang der Geschichte Historie als eine Wissenschaft möglich ist, daß der selektive Vorgriff des Erkennenden historische Aufschlußkraft hat. Nur er kann Vergangenes aneignen, umbilden und tradieren. Gadamer hat in WuM, durch eine Kritik an den lebensphilosophischen Grundlagen der historischen Schule, gezeigt, daß auch die objektivierenden Methoden ·historischer Forschung den Zusammenhang des hermeneutischen Verstehens mit dem perspektivischen Vorgriff des Interpreten nicht abzuschütteln vermögen. Nietzsche wollte das Dilemma zwischen historischer Erkenntnis und Lebenspraxis durch einen Verzicht der Historie auf ihren Wissenschaftscharakter auflösen, während es der Hermeneutik um eine Begrenzung des Methodenglaubens, um die Durchleuchtung des objektivistischen Selbstverständnisses der Geschichte geht. 23 Vgl. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961 24 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: Kleine Schriften Bd. IV, Tübingen 1977, S. 58: >In Heideggers Analyse gewinnt ... der hermeneutische Zirkel eine ganz neue Bedeutung. Die Zirkelstruktur hielt sich in der bisherigen Theorie stets im Rahmen einer formalen Relation von Einzelnem und Ganzem ... Heidegger dagegen erkennt, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins ... daß
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die Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwen25 26
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dung historischer Methoden nicht bloß herausrechnet, was man. hineingesteckt hat.< Vgl. H.-G. Gadamers Beiträge in PhHerm., a.a.O., und die vier Bände der K1einen Schriften, Tübingen 1967 ff. Zum Beispiel in der Debatte mit den Sozialwissenschaften, vgl. die Beiträge von J. Habermas, K.-0. Apel und die beiden Bände der Rehabilitierung der praktischen Philosophie (hrsg. v. M. Riedel), ferner den Beitrag von Charles Taylor, unten S:. 169. WuM, a.a.O. 250 ff. Vgl. den Beitrag von Josef Esser, unten S. 227, und diese Einleitung s. 38 Er wird begleitet vom Vorwurf eines hermeneutischen Traditionalismus, da Gadamer bestreite, daß die durch die Tradition überkommenen Vorurteile auch abgewiesen werden können. Demgegenüber ging es der Hermeneutik nie darum, ein Wahrheitskriterium aufzustellen, Erkenntnis inhaltlich zu fqrmieren, sondern durch Kritik ihrer Methodologien Erkenntnischancen offenzulegen. Vgl. J. Habermas, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, a.a.O., S. 120, und die Replikvon H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 283 ff. vgl. H.-G. Gadamer, Replik a.a.O. WuM, a. a. 0., S. 284 ff WuM, S. 274 f. vgl. H.-G. Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Kleine Schriften 1, a.a.O., S. 68 Vgl. zu Whitehead u. a. P. Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of A. N. Whitehead, 2. Auf!. 1951, und die Bibliografie im Anhang von A. N. Whitehead, Abenteuer der Ideen, Frankfurt/M. 1971, S. 513, sowie die Einleitung von R. Wiehl zu diesem Band. Der pragmatistische Hintergrund gewinnt bei· G. H. Mead für die Verstehensproblematik Bedeutung. Vgl. unten den Beitrag S. 153 und die Einleitung S. 33. Auch Hans Lipps hat diese Zusammenhänge reflektiert, in: Pragmatismus und Existenzphilosophie, abgedruckt in: Die Wirklichkeit des Menschen, Frankfurt 1954, S. 38 ff. A. N. Whitehead, Processand Reality. An Essay in Cosmology, 1969, und Abenteuer der Ideen, a.a.O. Vgl. die Bemerkungen zu Heidegger in dieser EinleitungS. 17 f Vgl. die Einleitung von R. Wiehl, a.a.O., S. 19 a.a.O., S. 17 f, zum Problem der Wirkungsgeschichte vgl. oben S. 23 f Wiehl, a.a.O., S. 7 f. Heidegger gelangt zu einer ausdrücklichen Kritik am Vorrang der Aussage, vgl. Sein und Zeit, §§ 33, 34 Vgl. H.'-G. Gadamer, Sprache und Verstehen, in Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 94 ff.
44 Vgl. Wiehis Bemerkungen a,a.O., S. 32 ff, besonders auch die Analogien mit der Selbstreflexion des Urteils im spekulativen Satz. 45 Dabei >bringt ... jede Veränderung des Maßstabs zum sehr Kleinen oder zum sehr Großen hier überraschende Veränderungen in den Eigenschaften der sichtbar gemachten Geschehnisse mit sich.< (S. 76) 46 >Der Sinn für Vertiefung geht in der Sicherheit vollständigen Wissens verloren. Dieser Dogmatismus ist der Antichrist des Lernens.< (S: 78) 47 P. Ricceur, Philosophie de Ia volonte, 2 vols, Paris 1963, und: Die Fehlbarkeit des Menschen/Symbolik des Bösen,/2 vols, Freiburg/ München 1971. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrneh· mung, Berlin 1966 48 Der Konflikt der Interpretationen, 2 Bde, München 1973/74 49 V gl. unten S. 86 50 Vgl. unten den Beitrag von G. B. Madison und seine Kritik an Hirsch, die auch für Ricceur herangezogen werden kann,' S. 394 f 51 Vgl. u. a. The tacit dimension, Garden City/New York 1966. Polanyis Denken ist der von Th. A. Langford/W. H. Poteat (Hrsg.) edierte Band gewidmet: Intellect and Hope. Essays in the thought of M. Polanyi, Durharn 1968 52 Vgl. oben S. 61 53 Vgl. dazu G. Boehm, Zur Hermeneutik des Bildes, unten S. 444 54 Deren Paradigma sieht Polanyi u. a. in der Gestaltwahrnehmung wie sie von der Gestaltpsychologie beschrieben wurde. Vgl. The tacit dimension, a.a.O., S. 6 u. ö. 55 >Selbst eine exakte mathematische Theorie bedeutet nichts, sofern ihr nicht ein inexaktes, unmathematisches Wissen zugrunde liegt u~d eine Person in ihrem Urteil diese Beziehung aufrecht erhält. Das falsche Ideal einer streng expliziten Erkenntnis wurde mit größtem Eifer im 20. Jahrhundert durch den modernen Positivismus verfolgt; . es sollte aufgegeben werden.< (S. 128) 56 Vgl. Schöpferische Einbildungskraft, in: Zsch. f philos. Forschung, Jg. XXII, Meisenheim 1967/68. Die Funktion der Einbildungskraft ist auch das Kernstück von Heideggers Kam-Interpretation, in: Kant und da:s Problem der Metaphysik (1929), besonders im dritten Abschnitt. - Vgl. auch die Analyse von Wilhehn Szilasi, Ober das Einbildungsvermögen, in: Festschrift Hugo Friedrich >Ideen und Formen<, Frankfurt/M. 1965 57 Vgl. unsere Bemerkungen zur exemplarischen Bedeutung der p~akti- -, sehen VernuQft für die Hermeneutik, oben S. 21. Zur Struktur der Urteilskraft auch WuM, a.a.O., S. 35 58 Vgl. Zu den hermeneutischen Implikaten einer Theorie des >Lernens< : Günter Buck, Lernen und Erfahrung, Stuttgart 1967 passim. 59 Vgl. hierzu H.-G. Gadamer, Theorie, Technik, Praxis- die Aufgabe einer Neuen Anthropologie, in der gemeinsam mit Paul Vogler
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herausgegebenen Reihe Neue Anthropologie Bd. I, München, Stuttgart 1972, S. IX ff; besonders auch die Beiträge der beiden Bände : Philosophische Anthropologie, Nr. 6 und 7, in denen die Verflechtun.· gen einer verstehenden Anthropologie mit dem Feld der Wissenschaften deutlich werden. Im Band 7 besonders .den Beitrag von H. Plessner, Zur Anthropologie der Sinne. Vgl. den Abschlußbericht des Unternehmens yon H.-G. Gadamer in Band 7, S. 374-392 60 F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zurvergleichenden. Psychologie, Harnburg 1958; ders., Das Menschliche, Stuttgart 1958 . 60a Vgl. H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlagen einer Aesthesiologie des Geistes, Bann 1922 (2. Aufl. 1965), und zu diesem Punkt: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/Leipzig 1928. Ferner ders., Conditio Humana, Pfullingen 1964 61 Vgl. z. B. die Daseinsanalyse Binswangers, in: Ludwig Binswanger, Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, 2 Bde, Bern 1947 und 1955 62·- VgL W. L. Bühl (Hrsg.), Verstehende Soziologie, München 1972 (Einleitung), und die Einleitung von Charles Morris zu G. H. Meads Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1968 63 Vgl. diese Einleitung oben S. 24 f 64 A.a.O., Bibliografie S. 443 65 Vgi. Alfred Schütz, Der Sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932), Frankf1,1rt/M. 1974. Ders., Das Problem der Relevanz (Einleitung von Th. Luckmann), Frankfurt/M.' 1971.. P. Berger/Th. Luckrnann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969 66 Zum Problemfeld der verstehenden Soziologie vgl. die Einleitung von W. L. Bühl, a.a.O. 67 Vgl. die Einleitung von G. Kortian, zu: Charles Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/ M. 1975 S. 7 ff. 68 Charles Taylor; Hege/, Frankfurt/M. 1978 69 Vgl. S. 21 f. 70 Vgl. zum Prozeß der Anerkennung der Perspektiven von Ich und Wir den Text von G. H. Mead, S. 152 f 71 Vgl. S. 12 f 72 Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus bei Joachim Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, München 1972 passim. Zum hier angedeuteten Aspekt: »Das >Rechtliche< wird mithin .. d\lrch die positiven Rechtstexte nicht >selbständig< bestimmt, die Texte sind im Gegenteil ein Ausdruck dieses >Rechtlichen<, das ihnen prinzipiell jenseits ist ... << (S. 22)
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73 Vgl. K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und
Rechtswissenschaft unserer Zeit, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1953 74 Vgl. hierzu auch Ernst Forsthoff, Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, in: Schriften der Königsherger Gelehrten Gesellschaft, 17. 1940/41 Heft 1. Nachdruck in der Reihe
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Libelli (Bd. CXLVII) der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1964 WuM, a.a.O., 5. 307-323, bes. 311 f. Vgl. auch die Bezüge zur theologiscilen Hermeneutik . Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Fritz Rittner, Verstehen und Auslegen als Probleme der Rechtswissenschaft, in : Verstehen und Auslegen (hrsg. von W. Marx), Freiburg 1968, 5. 43-65 . Vgl. von Josef Esser auch: Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, in: Archiv für die Civilistische Praxis, Band 172, 1972, S. 97-130, und ders., Vorverständnis und Methode in der Rechtsfindung, 1970 Vgl. hierzu z. B. Odo Marquard; Ober einige Beziehungen zwischen
A'sthetik · und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt 1973, S. 85 ff. 79 Vgl. Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt 1973, 5. 40 80 Lacans Theorie, die sich, mindestens nominal, nicht als Hermeneutik begreift, ist neben dieser für Langs Thesen von ausschlaggebender Bedeutung. Vgl. das Lacan-Buch, a.a.O. · 81 Vgl. PhHerm, a.a.O., Abschn. I und Einl. 82 Vgl. von Erich 5eeberg, Luthers Theologie in ihren Grundzügen, 19502 , und Menschwerdung und Geschichte (Gesammelte Aufsätze), 1938 83 Vgl. Anm. 22 84 Vgl. PhHerm, a.a.O., 5.' 239; H.-G. Gadamer, Martin Heidegger und die Marburger Theologie, in: Kleine Schriften, a.a.O., Bd. I., 5.82-92 85 Vgl. WuM, 5. 314 u. ö. 86 WuM, 5.·289 f u. 356 f. 87 Vgl. diese Einleitung 5. 23, und WuM, S. 283 ff. u. ö. 88 Wu.tl{, 5. 443 f. 89 Vgl. von Gerhard Ebeling ferner: Einführung in die Theologische Sprachlehre, Tübingen 1971; Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit R. Bultmann, Tübingen 1962; Wort und Glaube, 3 Bde, Tübingen 1962-1975 90 Ernst Fuchs, Gesammelte Aufsätze Bd. 1 (Zum hermeneutischen Problem in der Theologie), Tübingen 1959; Glaube und Verstehen,
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in: ZTHK, 66. 1969 S. 345-368; Hermeneutik, 4. A. Tübingen 1970; lvlarburger Hermeneutik, Tübingen 1968 91 Vgl. H.-G. Gadamer, Hermeneutik und Historismus, in: WuM, Tübingen 1965, S. 477-512. Zur methodologischen Diskussion in der Geschichtswissenschaft vgl. Jörn Rüsen, Für eine erneuerte Historik. St~dien zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1976. Daneben: F. Wagner, Moderne Geschichtsschreibung. Aukblick auf eine Philosophie der Geschichtswissenschaft, Berlin 1960, R .. Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 1958, K. G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971, 3. Aufl. 1974 (daraus unser Text S. 344). M. Baumgartner, Kontinuität und
Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft,
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Frankfurt 1972. Karlfried Gründer, Perspektiven für eine Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Saeculum 22, 1971, S. 101-113. W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971 Vgl. besonders die )Soziologische Kategorienlehre<, in : Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen1956, das Nachlaßwerk, das als >Grundriß der verstehenden Soziologie< geplant war. WuM, S. 267, und Faber, a.a.O., S. 123 Faber im Abschnitt >Zur Kritik der normativen Hermeneutik<, a.a.Q., S. 120 Vgl. die Kritik von Fabers Ansatz bei J. Rüsen, Rationalität und Ges~hichtlichkeit, in: Studien, a.a.O., S. 135-141 Vgl. Gerhard Bauer, Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963 Vgl. auch R. Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Historische Zeitschrift 212, 1971, S. 1-18. Ders., Historia Magistra Vitae. Ober
die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte. Festschrift für Karl Löwith, Stuttgart 1967, S. 196-219. Ders., Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: Poetik und Hermeneutik III, München 1968, S. 129-141, ferner: Poetik und Hermeneutik V (GeschichteEreignis und Erzählung) hrsg. von R. Kaselleck und W.-D. Stempel Für Kasellecks historische Forschung ist die Zeit zwischen 1750 und 1850 als sog. Sattelzeit zum ausschlaggebenden Angelpunkt einer Theorie der historischen Zeiten geworden. Vgl. zum Problem dieser Übertragungen auch: Karl Löwith, Das Individuum in der Rolh des Mitmenschen (1928), 2. Aufl., Darmstadt 1962, bes. S. 33 .ff. KoseHeck verweist dazu auf Chladenius historische Perspektiven... lehre (S. 374), vgl. dazu auch Phiferm, a.a.O., S. 69 ff. Vgl. Gadamer, Rhetorik und Hermeneutik, in: Kl. Sehr. Bd. IV, a.a.O., S. 148-163, und Logik oder Rhetorik?, a.a.O., S. 164 ff .
102 Das belegt u. a. der Sammelband Chaim Perelman, Le Champ de l'argumentation, Bruxelles 1970, Vgl. v. Perelrnan ferner: Droit, morale et philosophie, Paris 1976, und mit L. Olbrechts-Tyteca: La nouvelle rhetorique. Traite de l'argumentation, vols, Paris 1958 103 W. Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, Bad Hornburg v. d. H. 1968, und ·die Rez. von H.-G. Gadarners WuM, in: Götting. Gelehrte Anzeigen 218, S. 169 ff. 104 Vgl. Josef Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik. Einführung in die · Theorie der Persuasiven Kommunikation, Stuttgart 1973 (Bibliografie S. ~02-211). W. Jens, Art. Rhetorik, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, Bei-lin 1971, S. 432 ff. u. a.. · 105 Vgl. H.-G. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, Kl. Schriften I, a.a.O., S. 113-130, bes. 117 ff: >Woran sonst sollte sich auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche ... und das der gemeinen . Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewißheit~anspruch der Wissenschaft verteidigt.< 106. Vgl. ]iirgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Philos. Rdsch. Beiheft 5, 1967 107 Vgl. dazu: H.-G. Gadamer, Replik, a.a.O., zuletzt in: Kl. Schriften IV, a.a.O., S. 118 108 Zur Hermeneutik in der Literaturwissenschaft vgl. auch P.eter .. Szondi, Ober philologische Erkenntnis, in: Hölderlinstudien, Frankfurt 1967, S. · 9 ff., und ders., Einführung in die literarische Hermeneutik (Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 5), Frankfurt 1975. Ferner Leo Pollmann, Literaturwissenschaft und Methode, I/ II, Frankfurt 1971 109 Vgl. auch P. Ricceurs Berufung auf Hirsch in seinem Beitrag S.99 110 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt 1967 . 111 Vgl. Isers Zurückweisung und die Bemerkungen G. Kaisers, in: Neue Antithesen. eines Germanisten, 1974-1975, KronbergTs. 1976, S. 8 ff. als. Antwort auf Isers Beitrag: Im Lichte der Kritik, in: Rezeptionsäst.hetik, a.a.O., S. 325-342 112 W. Iser, Pie Apellstruktur der Texte, Konstanz 1970, S. 7 113 Th. W. Adorno, )fsthetische Theorie, Frankfurt 1970, pass. 114 G. Kaiser, Neue Antithesen, a.a.O., S. 7 ff. 115 V gL M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation· nach Schleiermacher, Frankfurt 1977 116 Elmar Holenstein, Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt 1976 (Bibliografie S. 213 bis 222) 117 Vgl. z. B. G. Kurz, Hermeneutische Aspekte der Textlinguistik, in:
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Archiv für das Studium der neuerenSprachen und Literaturen, 214. Bd. 129, Jg. 1977, S. 262-280 . 118 Die kunstgeschichtliche Methodenreflexion folgte bislang stärker erkenntnistheoretischen oder wahrnehmungs-psychologischen Theorien. Die Sprachverfassung des bildliehen Mediums zu themati. sieren scheiterte weitgehend an einem zu engen Begriff von Spr~cht: (im Sinne gesprochener oder geschriebener Sprache) oder an einer fruchtlosen Übertragung sprachlicher Strukturen auf das künstlerische Bild (z. B. in der Semiotik) 119 V gl. H. Plessner, Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks in : Das Problem der Sprache (8. Dt. Kongreß für Philos.), hrsg . ..;. H.-G. G~damer, München 1967, S. 555-566, ferner ders. Sprachlose Räume. Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks, in: Neue Rundschau 79, 1968; S. 64-75, Th. Georgiades, Musik und Schrift, München 1962, und M. Polanyi, The tacit dimension, a.a.O.
I Aspekte hermeneutischer Theorie
Alfred N orth Whitehead Verstehen In den beiden vorangehenden Vorlesungen wurden Bedeutung und Ausdruck diskutiert. Der Begriff des Verstehens bildet den dritten der Trilogie, auf die wir unser Bemühen stützen, die menschliche Intt:lligenz zu analysieren. Was wir anstreben ist, das Verstehen zu verstehen. .. Ich gestehe Ihnen zu, daß es hoffnungslos wäre, diese A~fgabe vollständig lösen zu wollen. Wir können uns über bruchstückhafte Aspekte der Intelligenz Klarheit verschaffen, aber es gibt immer ein Verstehen jenseits des Bereichs unseres Fassungsvermögens. Der Grund liegt darin, daß der Begriff der Intelligenz in reiner Abstraktion von verstandenen Sachverhalten ein Mythos ist. Ein umfassendes Verstehen wäre also ein vollkommenes Ergreifen des Universums in seiner Totalität. Wir sind aber endliche Wesen ; und ein solches Ergreifen ist uns versagt. Das soll nicht bedeuten, daß es endliche Aspekte der Dinge gibt, die ihrem Wesen nach unfähig sind, Gegenstand menschlicher Erkenntnis zu werden. Alles was existiert kann hinsichtlich der. Endlichkeit seiner Zusammenhänge mit dem Rest der Dinge erkannt werden. Wir können, mit anderen Worten, alles in einigen seiner Perspektiven erkennen. Aber die Totalität der Perspektiven schließt eine Unendlichkeit jenseits der endlichen Erkenntnis ein. Beispielsweise kennen wir die Farbe >Grün< in einigen ihrer Perspektiven. Was aber Grün in anderen Epochen des Universums, in denen andere Naturgesetze herrschen, sein kann, liegt jenseits unseres gegenwärtigen Vorstellungsvermögens. Und doch steckt nichts prinzipiell Unmögliches in der Idee, daß die Menschheit im Laufe der Zeit zu einer phantasievollen Einsicht in eine andere Möglichkeit der Natur gelangen kann und sich dadurch ein Verständnis der Möglichkeiten. von Grün in anderen, antizipierten Epochen erschließt. Es gibt einen Reim, der auf die Tradition des Dr. Whewell paßt, der vor etwa achtzig Jahren Master am Trinity College in Garnbridge war .. Der Reim ist weithin bekannt und geht folgendermaßen: . 63
I am Master of this College ; And what I know not, Is not knowledge. (An dieser Schule geh' ich Unterricht, Was ich nicht weiß, Ist Wissen nicht.) Diese Haltung herrscht in der gelehrten Welt immer vor. Sie steri~isiert phantasievolles Denken und stellt sich dadurch dem Fortschritt in den Weg. In unserer Diskussion des Verstehens ist dies die erste Irrlehre, die ich bekämpfen möchte. Ich schreibe diese Irrlehre nicht Dr. Whewell zu, obwohl man von ihm sagt, er habe eine Arroganz an den Tag gelegt, die vielleicht durch· sein überaus umfassendes Wissen gerechdertigt war. Mir geht es darum, daß Verstehen niemals ein abgeschlossener, statischer Bewußtseinszustand ist. Es hat immer den Charakter eines Prozesses der Vertiefung, ist unvollständig und partiell. Ich gebe uneingeschränkt zu, daß beide Aspekte des Verstehens in unsere Denkweisen eingehen. Meine These lautet, daß wir ein stärkeres Selbstbewußtsein haben, wenn wir uns in einem Prozeß der Vertiefung vorfinden, als wenn wir meinen, die Arbeit der Intelligenz sei abgeschlossen. Natürlich gibt es in gewissem Sinne einen Abschluß. Dieser setzt aber den Bezug auf eine gegebene unddinierte Umgebung voraus, die eine Perspektive erzwingt und erforscht werden muß. So haben wir weitreichende Kenntnisse von der Farbe >Grün<. Aber diese Kenntnisse sind begrenzt durch die Perspektive der gegenwärtigen Epoche des Universums. Sie sind relevant für eine bestimmte unerforschte Unendlichkeit; und diese Unendlichkeit kann: selbst ·nur verstanden werden durch ihre Relevanz für andere Unendlichkeiten. Shelley schreibt in emem Chorgesang seiner dramatischen Dichtung >Hellas<: W orlds on worlds are rolling ever From creation to decay, Like the bubbles on river, Sparkling, bursting, harne away.
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Inmitten dieses ständigen Übergangs der Schöpfung ist das Verstehen durch seine Endlichkeit begrenzt. Doch inmitten der Unendlichkeit endlicher Dinge gibt es nichts Endliches, das ihm prinzipiell unzugänglich wäre. Solche Unkenntnis ist akzidentell; und eine solche Erkenntnismöglichkeit -bringt ihre Relevanz für unerforschte Aspekte bekannter Dinge ans Licht. Das Erkennen des Endlichen schließt immer einen Bezug auf Unendlichkeit ein. Die ·Spezialisierung, die für die Entwicklung des zivilisierten Denkens notwendig ist, hatte im vorigen Jahrhundert einen äußerst schädlichen Einfluß auf die philosophische Anschauungsweise der Gelehrten und damit auch ·auf die Entwicklung von Institutionen zur Förderung der Forschung. Die verschiedenen Fachbereiche der Universitäten betonten ihre Unabhängigkeit voneinander. Überdies stieg das Ansehen einer Universität im Verhältnis zu ihrer Expansion mit Hilfe einer solchen Unterteilung. Mit der Ausbreitung der Wissenschaft schrumpfte das geistige Fassungsvermögen. Das neunzehnte Jahrhundert war eine Zeit großer Leistungen, die an einen Ameisenhaufen denken lassen. Es gelang ihm nicht, gelehrte Menschen mit einem sensiblen Verständnis· für vielfältige Interessen, vielfältige Möglichkeiten hervorzubringen. Es kritisierte und zerstörte, wo es nach Verständnis hätte streben sollen. Die genaue Interessenrichtung eines jeden Zeitalters ist eine krude Mischung aus Tiefe des Verstehens und Trivialität der Umsetzung, wenn man es aus der Retrospektive betrachtet. Und doch müssen wir, um das Wesen des Seins zu verstehen, die innere Eigenart dieser Tiefe begreifen, die jenseits aller mißverstandenen Einzelh~iten die Haupttriebfeder für die im jeweiligen Zeitalter erkennbare Aufwärtsentwicklung des Lebens darstellt. Und hier muß eine weitere Einschränkung angefügt werden: Sofern es überhaupt eine Aufwärtsentwicklung gibt . . Gerade die Renaissance selbst, als deren letzte Phase das vorige -Jahrhundert verzweifelt bemüht war, seinen Nachfolger hervorzubringen, hatte ihre inneren Grenzen, die eine angemessene Ausweitung des intellektuellen Interesses verhinderten. Sie wurzelte im gri.echischen Denken, das als die einzige Quelle der Zivilisation aufgefaßt wurde. Zweifellos verdankt Europa den Griechen mehr, als sich mit Worten ausdrücken läßt. Aber selbst wenn man das griechische Denken zum griechisch-hebräisch65
ägyptischen Denken erweitert, stellt es doch nur einen endlichen Aspekt der vielseitigen Formen von Bedeutung dar, die auf die Grenzen des menschlichen Bewußtseins eindrängen. Wir müssen unsere Bemühung um Verstehen intensivieren. Im neunzehnten Jahrhundert war der Horizont der klassischen Altertumswissenschaftler etwas enger als der· der Besten unter den Griechen, die christlichen Theologen konnten sich nicht ganz mit den besten der frühen Päpste messen, und die Wissenschaftler blieben ein wenig hiriter den Begründern der Erforschung von Mathematik und Physik zurück. In seiner Gesamtheit wußte das neunzehnte Jahrhundert zwar unendlich viel mehr als die Griechen, die Päpste und die Begründer der Wissenschaft zusammengenommen. Aber die ·Modernen hatten den Sinn verloren für gewaltige, herrliche oder abscheuliche, Alternativen, die im Hintergrund lauern und darauf warten, unsere sicheren kleinen Traditionen zu zerschmettern. Wenn die Zivilisation überleben soll, dann ist die Erweiterung des Verstehens ein dringliches Gebot. 2. Was ist Verstehen? Wie können wir es charakterisieren? Zunächst schließt Verstehen immer die Vorstellung von Zusammengesetztheit ein. Diese Vorstellung kann in einer von zwei Weisen ins Spiel kommen. Wenn der verstandene Sachverhalt zusammengesetzt ist, kann man ihn mit Bezug auf seine Faktoren und deren Verflechtungsweisen verstehen, durch welche sie den vollständigen Sachverhalt bilden. Diese Weise des Verstehens macht deutlich, warum der Sachverhalt das ist, was er ist. Die zweite Form des V erstehens besteht darin, den Sachverhalt als eine Einheit zu behandeln, ob er nun der Analyse zugänglich ist oder nicht, und sich Klarheit über seine Fähigkeit zu verschaffen, auf seine Umgebung einzuwirken. Die erste Form kann man als das innere Verstehen bezeichnen, die zweite ist das äußere Verstehen. Aber diese Terminologie löst das Problem noch nicht erschöpfend. Die beiden Formen stehen in einer wechselseitigen Beziehung: Jede von ihnen setzt die jeweils andere voraus. Die erste faßt den Sachverhalt als eine Folge, die zweite begreift ihn als einen Kausalfaktor. Indem wir unsere Absicht in dieser Weise darlegen, sind wir bei der Vorstellung angelangt, den Prozeß des Universums zu verstehen. In deliTat scheint die Voraussetzung eines Prozesses selbst in unserer ersten Analyse schon angelegt zu
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sein. Wir können davon ausgehen, daß sich die dort entwickelten Formen, Bedeutung zu erklären, ·auf das Verstehen des Naturablaufs anwenden lassen. Gewiß ist nichts endgültig verstanden, solange nicht sein Bezug auf den Prozeß deutlich ge~acht ist. Und doch gibt es das Verstehen idealer Beziehungen in Abstraktion von einem Bezug auf den Ablauf nackter Tatsachen. In der Vorstellung von solchen Beziehungen gibt es keinen Übergang. Beispielsweise spielt der Übergang für die gesamte Mathematik in einem gewissen Sinne keine Rolle. Die wechselseitigen Zusammenhänge werden in ihrer. zeitlosen Ewigkeit dargelegt·. Natürlich tauchen die Begriffe Zeit, Annäherung und Approximation im mathematischen Diskurs auf. Aber in der wissenschaftlichen Anwendung wird von der Zeitlichkeit der Zeit und von der Bewegung der Annäherung abstrahiert. In der Mathematik, versteht man sie recht, tritt die ideale Tatsache als selbstverständlich (self-evident) zutage. Es gibt nur wenig weitreichendes Verstehen - selbst unter Mathematikern. Was es gibt, sind Bruchstücke des Verstehens und Bruchstücke von Zusammenhängen zwischen diesen Bruchstücken. Diese Einzelheiten des Zusammenhangs werden ebenfalls verstanden. Aber diese Fragmente der Intelligenz folgen aufeinander. Sie stehen nicht in dem Zusammenhang einer großen, selbstverständlichen Zuordnung. Bestenfalls gibt es eine vage Erinnerung. an Einzelheiten, mit denen man sich gerade befaßt hat. Diese Abfolge von selbstverständlichen Einzelheiten bezeichnet man als >Beweis<. Aber die gewaltige Selbstverständlichkeit der Mathematik bleibt den Sterblichen verwehrt. · Um ein Beispiel zu geben, scheint mir der Wissensfetzen, daß die Addition von 1 und 4 dieselbe .Vielheit ergibt wie die von 2 und 3, selbstverständlich zu sein. Es ist ein bescheidenes Stück Wissen; aber es steht mir, sofern ich mir nichts vormache, klar ·vor Augen. Ich zögere, eine solche Selbstverständlichkeit zu reklamieren, wenn es um größere Zahlen geht. Dann greife ich auf die Demütigung des Beweises zurück. Andere Menschen verfügen über größere Fähigkeiten. Man denke zum Beispiel an Ramanujan, den großen indischen Mathematiker, dessen früher Tod für die Wissenschaft einen ähnlichen Verlust bedeutete wie der von Galois. Man sagte von 67
ihm, er habe mit jeder der ersten hundert natürlichen Zahlen auf gutem Fuß gestanden. Das heißt, seine EinsiC(_hten in die Selbstverständlichkeit und seine Lust an diesen Einsichten entsprachen dem Umgang, den die meisten von uns mit den natürlichen Zahlen bis 5 haben. Ich p~rsönlich fühie mich über diese Gruppe hinaus nicht heimisch .. Und weil die Gruppe so klein ist, kommt bei mir wohl nicht das Glücksgefühl auf, das Ramanujan erlebte. Ich bekenne mich zu einem größeren Vergnügen an Beziehungsstrukturen, in denen numerische und quantitative Beziehungen völlig untergeordnet sind. Ich erwähne diese persönlichen Einzelheiten, .um die große Vielfalt von Eigenarten hervorzuhebe11, in denen die Selbstverständlichkeit sowohl hinsichtlich des Ausmaßes als auch hinsichtlich der Beschaffenheit der Zusammensetzungen, die selbstverständlich sind, auftreten kann. Der Sinn für >Vollendung<, der bereits erwähnt wurde, geht aus der Selbstverständlichkeit in unserem Verstehen hervor. Tatsächlich ist Selbstverständlichkeit dasselbe wie Verstehen. Der Sinn für Vertiefung, der auch von unserer Erfahrung der Verständlichkeit abhängt, hat mit der Entwicklung des Yerstehens zu tun. Wenn man die Vollendung ohne einen Sinn für Entwicklung empfindet, dann hat man faktisch nichts verstanden. In diesem Fall ist es nämlich nicht gelungen, die unerforschten Beziehungen zu jenseits liegenden Dingen zu erahnen. Die Vertiefung zu empfinden, ohne einen Sinn für Vollendung, entspricht ebenfalls einem Scheitern des Verstehens. Der Vertiefung seibst mangelt es dann an Bedeutung. Ihr fehlt die Ausführung. 3. Wir kommen jetzt zum Begriff des >Beweises<. Die These, die ich entwickeln möchte, versteht >Beweis<, im strengen Sinne des Wortes, als ein schwaches, zweitrangiges Verfahren. Wenn man das Wort >Beweis< ausgesprochen hat, so tritt als nächster Begriff der der >Gleichgültigkeit< ins Bewußtsein. Wenn ein Beweis. nicht Selbstverständlichkeit zur Folge hat und dadurch überflüssig wird, dann mündet er in einen untergeordneten Bewußtseinszustand und löst einen Mechanismus aus, in dem es kein Verstehen gibt. Selbstverständlichkeit ist die grundlegende Tatsache, von der alle Größe lebt. Aber >Beweis< ist einer der Wege, auf denen Selbstverständlichkeit oft erreicht wird. Als Beispiel für diese Theorie führe ich an, daß Beweise in philosophischen Schriften so wenig wie möglich vorkommen 68
sollten. Die ganze Anstrengung sollte darauf gerichtet sein, die Selbstverständlichkeit grundlegender Wahrheiten über das Wesen der Dinge und ihren Zusammenhang zu entfalten. Man sollte beachten, daß der logische Beweis von Prämissen ausgeht und daß Prämissen auf Evidenz beruhen. Evidenz ist also eine Voraussetzung der Logik ; zumindest wird sie in der Annahme vorausgesetzt, daß der Logik irgendeine Bedeutung zukommt. Philosophie ist der Versuch, die grundlegende Evidenz hinsichtlich des W ~sens der Dinge ans ·Licht zu bringen. Auf der Voraussetzung dieser Evidenz beruht alles Verstehen. Eine richtig formulierte Philosophie bedient sich dieser grundlegenden Erfahrung, die in allen Prämissen .vorausgesetzt ist. Sie macht den Inhalt des menschlichen Bewußtseins überschaubar; sie gibt fragmentarische"n Einzelheiten eine Bedeutung; sie enthüllt Disjunktionen und Konjunktionen, Konsistenzen und Inkonsistenzen. Philosophie ist die Kritik der Abstraktionen, die spezielle Denkweisen beherrschen. Daraus folgt, daß die Philosophie in irgendeinem angemessenen Sinne des Wortes nicht bewiesen werden kann. Denn Beweis stützt sich auf Abstraktion. Philosophie ist entweder selbstverständlich oder sie ist nicht Philosophie. Das Bemühen eines jeden philosophischen Diskurses sollte darauf gerichtet sein, Selbstverständlichkeit zu erzeugen. Natürlich ist es unmöglich, ein solches Ziel zu erreichen. Aber nichtsdestoweniger ist alles Schlußfolgern in der Philosophie ein Zeichen für jene Unvollkommenheit, die allen menschlichen Bemühungen ,anhaftet. Das Ziel der Philosophie ist völlige Enthüllung. Die große Schwierigkeit der Philosophie liegt im Versagen der Sprache. Der alltägliche Verkehr der Menschheit hat mit sich verschiebenden Umständen zu tun. Es ist unnötig, selbstverständliche Tatsachen auszusprechen. So hatte man schon jahrtausendelang Jagdszenen auf Höhlenwänden abgebildet, bevor die dauerhafteren räumlichen Beziehungen Gegenstand der bewußten Analyse wurden. Als die Griechen Ausdrücke für die elementaren Eigenschaften der Naturgegebenheiten brauchten, m~ßten sie Worte wie Wasser, Luft, Feuer und Holz verwenden. Als das religiöse Denken der Antike von Mesopotamien bis Palästina und von Palästina bis Ägypten Worte brauchte, um jene grundlegende Richtungseinheit im Universum auszudrücken, auf der alle Ordnung. beruht und die der Bedeutung ihren Sinn gibt,
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fiel ihnen nichts besseres ein, als Anleihen bei den typischen Eigenschaften der reizbaren, selbstgefälligen und herrschsüchtigen Tyrannen zu machen, die die weltlichen Rei~he regierten. In den Anfängen der zivilisierten Religion gleichen die Götter Diktatoren. Unsere modernen Rituale halten noch immer an diesem Makel fest. Die entschiedenste Ablehnung dieser archaischen Vorstellung findet sich verstreut in den Lehren des Buddhismus und in den christlichen Evangelien. Die Sprache hinkt hinter der Intuition her. Die Schwierigkeit der Philosophie besteht darin, das Selbstverständliche auszudrükken. Unser Verstehen geht über den gewöhnlichen Gebrauch der Wörter hinaus. Die :Philosophie ist der Dichtung verwandt. Philosophie ist der Versuch, eine konventionelle Terminologie für die lebhaften Anregungen des Dichters zu finden. Sie ist der Versuch, Miltons >Lycidas< auf Prosa zu reduzieren und dabei eine sprachliche Symbolik hervorzubringen, die sich auch in anderen Denkzusammenhängen verwenden läßt. Dieser Zugang zur Philosophie veranschaulicht die Tatsache, daß V erstehen nicht primär auf Schlußfolgern beruht. Verstehen ist Selbstverständlichkeit. Aber die Klarheit unserer Intuition ist begrenzt und desultorisch. Daher kommt das Schlußfolgern als ein Mittel hinzu" um das uns mögliche Verstehen zu gewährleisten. Beweise sind die Werkzeuge, mit denen wir unsere unvollkommene Selbstverständlichkeit ausbauen. Sie setzen eine gewisse Klarheit voraus ; und sie setzen überdies voraus, daß diese Klarheit eine unvollkommene Vertiefung unserer schwachen Erkenntnis der äußeren Welt darstellt - der Welt der Tatsachen, der Welt der Möglichkeiten, der Welt gesetzter Werte und der Welt gesetzter Zwecke. 4. An diesem Punkt unserer Diskussion schiebt sich ein anderer Aspekt der Dinge in den Vordergrund. Es handelt sich um eine allgemeine Eigenschaft, deren besondere Formen verschieden ~s >Unordnung<, >Übel< und >Irrtum< bezeichnet werden. In dem einen oder anderen Sinne gehen Dinge schief; und die Vorstellung der Korrektur vom Schlechteren zum Besseren oder des Verfalls vom Besseren zum Schlechteren geht in unser Verstehen des Wesens der Dinge ein.· Die Philosophen sind der Versuchung ausgesetzt, ein Märchen über die Regulierung von Faktoren zu erfinden und dann im Anhang den Begriff der Vereitelung als sekundären Aspekt 70
einzuführen. Ich gebe Ihnen zu. bedenken, daß dies der kritische Einwand ist, den man gegen den monistischen Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts und sogar des großen Spinoza erheben muß. Es leuchtet überhaupt nicht ein, warum das Absolute, wie es in der monistischen Philosophie begriffen wird, Unordnung unter seinen eigenen Einzelteilen aufkommen lassen sollte . .Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß Unordnung weniger g~undlegend ist als Ordnung. Unsere Aufgabe besteht darin, ein allgerneines Konz~pt z~ en~ickeln, in dem für beides Raum ist und das auch den Weg für eine weitere Vertiefung unseres Wissens andeutet. Ich schlage vor, daß wir von. der Vorstellung zweier Aspekte des Universums ausgehen. Nämlich einem Faktor der Einheit, der seinem Wesen nach die Verbundenheit der Dinge, die Einheit des Zwecks und die Einheit des Erlebens einschließt. Der Begriff der Bedeutung bezieht sich vollends auf diese grundlegende Einheit. Und genauso grundlegend gibt es im Universum einen Faktor der Vielheit. Es gibt viele Wirklichkeiten, von denen jede ihre eigene Erfahrung· hat, die individuell erl~ben und doch aufeinander angewiesen sind. Jede Beschreibung der Einheit wird auf die vielen Wirklichkeiten zurückgreifen müssen; und jede Beschreibung der vielen Dinge wird den Begriff der Einheit benötigen, von dem Bedeutung und Zweck abgeleitet sind. Aufgrund der substantiellen Individualität der vielen Dinge kommt es zu Konflikten zwischen begrenzten Realisierungsformen·. Daher schließt die Summierung der vielen Dinge zu einem, wie auch die Ableitung von Bedeutung aus dem einen in die vielen hinein, die Vorstellung von Unordnung, Konflikt und Vereitelung mit ein. Das sind die primären Aspekte des U niversurns, die der common sense, der über den Aspekten des Seins brütet, an die Philosophie weiterreicht, die sie in einen Verstehenszusarnrnenhang bringen und erklären soll. Die Philosophie weicht ihrer Aufgabe aus, wenn sie eine Seite des Dilemmas ganz übergeht. Wir können niemals alles verst~hen. Aber wir können unser Wissen immer weiter vertiefen. Beim vollkommenen Verstehen gehört jeder Einzelaspekt. zu dem, was bereits klar ist. Es handelt sich also nur noch um eine Wiederhqlung des Bekannten.· In diesem Sinne ist Tautologie möglich. Tautologie ist also das intellektuelle Vergnügen des· Unendlichen. 71
In diesem Sinne ist auch die Auswahl des hervorzuhebenden Einzelaspekts gleichermaßen willkürlich. Sie ist'flie Konvention, mittels derer das Unendliche seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt konzentriert. . Das endliche Individuum kann in seiner eigenen Erfahrung zum Neuen vordringen; und die Auswahl der Einzelheiten hängt von der Ursache ab, aus der dieses Individuum hervorgeht. Die Philosophie neigt dazu, zwischen den Standpunkten, die zum Unendlichen und zum Endlichen gehören, zu schwanken. Das Verstehen ist demnach, wie unvollkommen es auch sein mag, die Selb~tverständlichkeit einer Struktur, soweit sie herausgearbeitet ~~rden ist; und für die begrenzte Erfahrung ist das. Schlußfolgern ein geeignetes Mittel, um in solche Selbstverständlichkeit tiefer einzudringen. Eine· teilweise verstandene Struktur ist eindeutiger in dem, was sie ausschließt, als in dem, was ihre Vervollständigung einschließen würde. Hinsichtlich der Zugehörigkeit gibt es unendlich viele verschiedene Möglichkeiten der Vervollständigung. Aber sofern es angesichts der unvollständigen Ausarbeitung überhaupt etwas Eindeutiges gibt, sind gewisse Faktoren eindeutig ausgeschlossen. Die Begründung der Logik auf dem Begriff der Unvereinbarkeit wurde vor . etwa zwanzig Jahren zuerst von Professor Henry Sheffer (Harvard) entdeckt und entwickelt. Professor Sheffer betonte auch die grundlegende Bedeutung des Begriffs Struktur für die Logik. Auf diese Weise wurde einer der großen Schritte in der mathematischen 'Logik gemacht. Erstens wurde mit der Begründung der Logik durch den Begriff der Unvereinbarkeit der Begriff des Endlichen definitiv eingeführt . .Denn das Endliche ist, wie Spinoza gezeigt hat, das, was andere, ihm vergleichbare Dinge ausschließt. Unvereinbarkeit stützt also die Logik auf Spinozas Begriff der Endlichkeit. Zweitens lassen sich, wie Sheffer darlegte, die Begriffe der Negation und des Schlusses von dem der Unvereinbarkeit ableiten. Damit ist die gesamte Entwicklung der Logik gesichert. Wir können feststellen, daß diese Grundlage der Logik dafür spricht, daß die Vorstellung der Vereitelung eher einer begrenkten Geisteshaltung entspricht, während die Vorstellung einer harmonischen Verbindung aus dem Konzept eines monistischen Universums abgeleitet ist. Es obliegt der Philosophie, die beiden Aspekte zu koordinieren, mit denen uns die Welt konfrontiert. 72
Drittens erleichtert uns diese Grundlage der Logik das Verstehen des Prozesses, der eine grundlegende Tatsache in unserer Erfahrung ist. Wir leben in der Gegenwart ; die Gegenwart verschiebt sich ständig; sie leitet sich aus der Vergangenheit her; sie gestaltet die Zukunft; sie geht in die Zukunft über. Das ist der Prozeß, und. im Universum ist er eine unerbittliche Tatsache. 5. Wenn aber alle Dinge miteinander bestehen können, warum gibt es dann überhaupt einen Prozeß ? Eine Antwort auf diese Frage verkörpert eine Leugnung des Prozesses. Danach ist der Prozeß .bloße Erscheinung und besitzt keinerlei Bedeutung für die Realität an sich. Diese Lösung halte ich für äußerst unangemessen. Wie soll es der unveränderlichen Einheit des Tatsächlichen möglich sein, den trügerischen Anschein von Veränderung zu erwecken? Gewiß muß die befriedigende Antwort ein Verstehen des Ineinandergreifens von Veränderung und Dauer, ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, zum Ausdruck bringen. Dieses Ineinandergreifen ist eine primäre Erfahrungstatsache. Sie liegt unseren Begriffen der persönlichen Identität, der sozialen Identität und aller gesellschaftlichen Institutionen zugrunde. Unterdessen muß uns nun ein anderer Aspekt der Beziehung zwischen Unvereinbarkeit und Prozeß beschäftigen. Unvereinbarkeit ist die Tatsache, daß die beiden Sachverhalte, aus denen sich die entsprechenden Bedeutungen eines Paars von Aussagen ergeben, nicht zusammen bestehen können. Sie leugnet eine mögliche Verbindung zwischen diesen beiden Bedeutungen. Aber diese Bedeutungen sind ja in dem Urteil über ihre Unvereinbarkeit schon zusammengebracht worden. Auf eine solche Paradoxie spielte Platon an, als er eine seiner Dialogfiguren sagen ließ: »Das Nichtseiende ist eine Gattung des Seienden.<< Ich ziehe den Schluß, daß das Wort >ZUsammen< und in der Tat alle Worte, die ganz allgemein eine Verbindung ausdrücken, ohne eindeutige Bestimmung sehr vieldeutig sind. Beispielsweise ist das kleine Wörtchen >Und< eine Brutstätte der Vieldeutigkeit. Es ist sehr erstaunlich, mit welcher Oberflächlichkeit Worte analysiert worden sind, in denen Verbindungen zum Ausdruck kommen. Diese Worte sind Todesfallen für die Genauigkeit des Denkens. Leider tauchen sie am häufigsten in Sätzen auf, die in ihrem literarischen Stil vollkommen sind. Ein bewundernswerter literarischer Stil bietet also keine Gewähr für logische Folgerichtigkeit. 73
Bei der Lektüre philosophischer Literatur muß jedes Wort, das eine Verbindung· ausdrückt, auf die Goldwaage gelegt werden. Wird es zweimal in demselben Satz oder in benachbarten Sätzen verwendet, dann müssen wir uns vergewissern, ob die· beiden Verwendungsweisen zumindest im Rahmen der Argumentation gleichbedeutend sind. Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß die in der antiken und in der modernen Logik berühmten Widersprüche ihre Wur~el in solchen Vieldeutigkeiten haben. Viele Worte, die formal keine >Konjunktionen< sind, drücken inhaltlich eine Verbindung aus. Beispielsweise hat das Wort >Klasse< dieselbe mannigfache Vieldeutigkeit wie das Wort >und<. Das Verstehen von Strukturen und der in verschiedenen Strukturen angelegten Verbindungen beruht auf der Erforschung solcher Vieldeutigkeiten. Diesbezüglich ist die philosophische Literatur sehr einfältig. Viele schlagkräftige und zwingende Argumente gehen in diese Falle. An dieser Stelle müssen wir zu dem Thema >Unvereinbarkeit und Prozeß< zurückkehren. Die Idee, daß zwei Aussagen, die wir p und q nennen wollen, miteinander unvereinbar sind, muß besagen, daß die Bedeutungen der Aussagen p und q, so wie sie in einer vorausgesetzten Umgebung veranschaulicht werden, nicht nebeneinander möglich sind. Es kann keine der Bedeutungen auftreten oder eine von ihnen, aber nicht beide zusammen. Nun ist der Prozeß die Weise, in der das Universum den Ausschließlichkeiten der Unvereinbarkeit entgeht. Solche Ausschließlichkeiten gehören zur Endlichkeit der Verhältnisse. Durch den Prozeß überwindet das Universum die Grenzen des Endlichen. Prozeß ist die Immanenz des Unendlichen im Endlichen, die alle Ketten sprengt und alle Unvereinbarkeiten auflöst. Grundsätzlich kann keine fest umrissene Endlichkeit dem Universum Schranken auferlegen. Im Prozeß treiben die endlichen Möglichkeiten des Universums ihrer Unendlichkeit der Realisierung entgegen. . Im Wesen der Dinge gibt es keine grundlegenden Ausschließlichkeiten, die mit Hilfe der Logik formulierbar wären. Wenn wir nämlich die Spanne unserer Aufmerksamkeit auf den gesamten Zeitablauf erstrecken, dann könp.en zwei Einzelwesen, die während eines bestimmten Tages in der-fernen Vergangenheit oder während eines bestimmten Tages in der jüngeren Vergangenheit
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nicht gemeinsam auf diesem Planeten auftreten können - dann können diese beiden Einzelwesen doch miteinander vereinbar sein, wenn wir den gesamten angesprochenen Zeitraum in Betracht ziehen, indem nämlich das eine während des früheren, das andere während des späteren Tages auftritt. Unvereinbarkeit ist also relativ·zu dem jeweiligen Abstraktionsgrad. Eine intellektuelle Vereinbarkeit läßt sich leicht zuwege bringen, solange wir uns mit einem hohen Abstraktionsgrad begnügen. Die reine Mathematik ist das \>este Beispiel für einen Erfolg, der sich aus dem Festhalten an einer so starren Abstraktion ergibt. Außerdem veranschaulicht die Bedeutung der Mathematik, wie sie endgültig im·sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert aufgedeckt wurde, den Grundsatz, daß der Fortschritt des begrenzten menschlichen Verstehens das Festhalten an einer sinnvollen · Abstraktion und die Entwicklung des Denkens im Rahmen dieser Abstraktion voraussetzt. Die Aufdeckung dieser Methode hat innerhalb der letzten dreitausend Jahre zu der fortschrittlichen Wissenschaft der modernen Zivilisation geführt. 6. Aber die Entdeckung gelang nur schrittweise, und die Methode wird selbst heute noch nicht ganz verstanden. Die Gelehrten haben die· Spezialisierung des Denkens mit einem unglaublichen Mangel an Vorsicht betrieben. Es wird fast global angenommen, daß die Entwicklung eines Spezialistentums die Voraussetzungen hinsichdich der Perspektive der Umgebung unberührt .läßt, die in den Anfangsphasen hinreichend waren,_ . Man kann sich gar nicht klar genug darüber werden, daß die Erweiterung irgendeines Spezialgebiets dessen ganze Bedeutung von oben bis unten verändert. Sobald sich der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft erweitert, verringert sich ihre Relevanz für das Universum. Denn sie setzt dann eine strenger definierte Umgebung voraus. · Die Definition der Umgebung ist genau das, was bei einer speziellen Abstraktion unterbleibt. Eine solche Abstraktion besitzt keinerlei Relevanz. Sie ist irrelevant, weil sie ein Verstehen der Unendlichkeit der Dinge verlangt. Deshalb ist sie unmöglich. Alles was wir tun können, ist eine Abstraktion durchzuführen, vorauszusetzen, daß sie relevant ist, und im Rahmen dieser· Voraussetzung vorzugehen. Diese scharfe Trennung zwischen der Klarheit begrenzter Wissenschaft und dem jenseits liegenden dunklen Universum beruht
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ih~:(!rseits auf einer Abstraktion von konkreten Tatsachen. Wir können beispielsweise unsere Voraussetzungen überprüfen. Im speziellen Fall der Naturwissenschaften etwa setzen wir Geometrie voraus. Aber welche Art von Geometrie? Es gibt viele Möglichkeiten. In der Tat haben wir eine endlose Anzahl verschiedener Geometrien. Für welche sollen wir uns entscheiden? Wir alle wissen, daß dieses Thema die Physik während der letzten dreißig Jahre in Unruhe bzw. in Hochstimmung versetzt hat. Zu guter Letzt kommen die großen Wissenschaftler zu Schlußfolgerungen, die wir alle akzeptieren werden. Und doch drängt sich ein skeptischer Zweifel auf. Woher wissen wir, daß nur eine Geometrie für die komplexen Geschehnisse der Natur relevant ist? Vielleicht ist· eine dreidimensionale Geometrie relevant für eine Art von Vorkommnissen, und für ein,e andere Art wird eine fünfzehndimensionale Geometrie benötigt. Natürlich scheinen unsere deutlicheren Sinneswahrnehmungen, besonders das Sehen, nach drei Dimensionen zu verlangen. Andererseits ist der Schall, obwohl voluminös, sehr unbestimmt hinsichtlich der Dimensionen seines Volumens; es können beispielsweise drei oder fünfzehn sein. Auch bringt, soweit wir beobachten können, jede Veränderung des Maßstabs zum sehr Kleinen oder zum sehr. Großen hin überraschende Veränderungen_ in ,den Eigenschaften der sichtbar gemachten Geschehnisse mit sich. Wir haben sehr spezielle Typen sinnlicher Beobachtung entwikkelt, und folglich sind wir auf eine ähnlich spezielle Menge von Ergebnissen angewiesen, die hinreichend· richtig sind, wenn wir die geeigneten Einschränkungen hinzufügen. Aber mit der Erweiterung unserer Wissenschaft gewinnt der Bereich der Beziehungen zu anderen Aspekten der Natur zunehmend an Bedeutung. · Vielleicht ist unser Wissen verzerrt, solange wir nicht seinen inneren Zusammenhang mit Geschehnissen begreifen können, die räumliche Beziehungen von fünfzehn Dimensionen einschließen. Die· dogmatische Annahme, daß die Trinität der Natur deren einzig wichtigen dimensionalen Aspekt darstellt, war in der Vergangenheit nützlich. In der Gegenwart wird sie gefährlich. Sie kann in der Zukunft eine- verhängnisvolle Schranke für den Fortschritt der Erkenntnis bilden.
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Ferner kann sich dieser Planet oder dieser Sternnebel, zu dem unsere Sonne gehört, allmählich auf eine Veränderung des allgemeinen Charakters seiner räumlichen Relationen hin bewegen. Vielleicht wird die Menschheit in der fernen Zukunft, wenn sie dann noch existiert, auf das sonderbare, verengte dreidimensionale Universum zurückblicken, aus dem das edlere, reichere Sein hervorgegangen ist. Diese Spekulationen sind gegenwärtig weder bewiesen noch widerlegt. Sie haben jedoch einen fiktiven Wert. Sie zeigen, wie die Konzentration auf kohärente Formulierungen . bestimmter Aspekte der menschlichen Erfahrung das Vorankommen des Verstehens blockieren kann. Zu viele Äpfel vom Baum der systematischen Erkenntnis bringen den Fortschritt zu Fall. Der Sinn für das Vorankommen, für Vertiefung, ist wesentlich, um das Int~resse am Leben zu halten. Zudem gibt es zwei Arten des Vorankommens. Die eine betrifft die Verwendung festgelegter Strukturen für die Zuordnung einer reicher gewordenen Vielfalt von Einzelheiten. Aber die Zuweisung der jeweiligen Struktur schränkt die Auswahl der Einzelheiten ein. Auf diese Weise wird die Unendlichke_it des Universums als irrelevant ausgeblendet. Die Aufwärtsentwicklung, die mit der Frische der Morgenröte begann, degeneriert zu einer langweiligen Anhäufung von billigen Zuordnungskunststückchen. Die Geschichte des Denkens und die Geschichte, der Kunst veranschaulichen diese Beobachtung. Wir können dem Fortschritt nicht seine Struktur vorschreiben. Gewiß bedeutet Vorankommen zum Teil auch, Einzelheiten in festgesetzte Strukturen einzureihen. Dabei handelt es sich um das sichere Vorankommen dogmatischer Geister, die sich vor dem Wahnsinn fürchten. Aber die Geschichte weist auch einen anderen Typ des Fortschritts auf, nämlich die Einführung neuer Strukturen in die begriffliche Erfahrung. Auf diese Weise werden die bis dahin nicht differenzierten oder als zufällig und irrelevant übergangenen Einzelheiten in die zugeordnete Erfahrung erhoben. Eine neue Vision des großen Jenseits stellt sich ein. 7. Das Verstehen hat also zwei Formen des Vorgehens, das Einreihen von Einzelheiten in zugewiesene Strukturen und die Entdeckung neuer Strukturen mit ihrer Hervorhebung neuer Einzelheiten. Die menschliche Intelligenz ist durch die dogmatische Haltung gegenüber Verbindungsstrukturen gehemmt wor77
den. Das religiöse Denken, das ästhetische Denken, das Verste.hen sozialer Strukturen, die wissenschaftliche Analyse der Beobachtung sind allesamt durch diesen verhängnisvoHen Virus verkümmert. Er befiel das europäische Denken schon am Anfang seiner glänzenden Begründung. Epikur, Platon und Aristoteles waren gleichermaßen davon überzeugt, daß verschiedene Elemente ihrer Erfahrung genau in den Formen gesichert waren, in denen sie von ihnen verstanden wurden. Sie waren sich der Gefahren der Abstraktion nicht bewußt. Später gab Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine meisterhafte Darstellung der Gründe, die uns veranlassen, so sicher zu sein. Hinsichtlich dieser Gewißheit herrschte unter den ge'nialen Denkern Einverständnis. Es ist eine Tragödie der Geschichte, daß in dem Sinne, in dem diese großen Männer an diesen Überzeugungen festhielten, keine einzige ihrer Lehren das breitere Wissen der letzten beiden Jahrhunderte überlebt hat. Die Mathematik ist nicht in dem Sinne gültig, in dem Platon sie begriff. Sinnesdaten sind nicht klar, deutlich und ursprünglich in dem Sinne, in dem Epikur glaubte. Die Geschichte des Denkens ist eine tragische Mischung aus zitternder Enthüllung und abtötender Verschlossenheit. Der Sinn für Vertiefung geht in der Sicherheit. vollständigen Wissens verloren. Dieser Dogm~tismus ist der Antichrist des Lernens. Im ganz konkreten Zusammenhang der Dinge gehen die Eigenschaften der zusammenhängenden Dinge in die Eigenart der Verknüpfung ein, die sie verbindet. Jedes Beispiel der Freundschaft zeigt die besonderen Charaktere der beiden Freunde. Zwei andere Menschen sind gemessen an dieser vollständig definierten Freundschaft nicht miteinander vereinbar. Auch bilden die Farben in einem Gemälde eine teils geometrische Komposition. Wenn wir nur die abstrakte geometrische Beziehung betrachten, kann ein blauer Fleck durch einen roten ersetzt werden. In dieser geometrischen Abstraktion ist das Rot genauso vereinbar mit den verbleibenden Farbflecken, wie es vorher das Blau war. Wenn wir aber das Bild konkreter betrachten, ist dadurch vielleicht ein Meisterwerk ~erstört worden. Das Rot ist unvereinbar mit der konkreten Wirkung auf die Komposition, die das Blau entfaltete. _. Unvereinbarkeit herrscht also in dem Maße, wie wir zum konkreten Verständnis vordringen. Insbesondere sind alle Einzel-
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wesen, außer einem, unvereinb;tr mit der Erzeugung der besonderen Wirkung, die dieses eine hervorbringen würde. Je mehr wir in die Abstraktion versinken, erhöht sich die Zahl der Einzelwesen, die auf verschiedene Weise dieselbe abstrakte Wirkung hervorrufen werden. Die Vereinbarkeit wächst also mit der Abstraktion vom Konkreten. Im Begriff der Unvereinbarkeit steckt demnach eine Unklarheit. Es gibt den schlichten Unterschied, der sich aus der Unterscheidung zwischen zwei Einzelwesen ergibt. Wenn der Fleck scharlachrot ist, kann er nicht gleichzeitig hellblau sein. Die beiden Vorstellungen sind durch die schlichte Unterscheidung zwischen· Rot und Blau einfach darin unyereinbar, daß es sich um verschiedene Farben handelt. Sie unterscheiden sich auch im ästhetischen Erleben. Das Blau kann ein Faktor in einem Bild sein, das ein Meisterwerk ist, ersetzt man es aber an derselben geometrischen Stelle durch Rot, so zerstört dies. den ganzen ästhetischen Wert. Andererseits sind Blau und Rot zur Markierung des Bereichs gleich gut geeignet, wenn das Interesse allein den geometrischen Beziehungen gilt. Wir sollten jetzt verstehen, daß es zwei Typen der Unvereinbarkeit gibt. Man kann sie als den logischen und den ästhetischen Typ bezeichnen. Der logische Typ beruht auf dem Unterschied zwischen verschiedenen Dingen, die als alternative Faktoren in einer Komposition aufgefaßt ·werden. Für die Totalität einer Komposition .kann es nicht gleichgültig sein, welches von zwei unterschiedlichen Dingen eine zugewiesene Rolle in der Struktur dieses zusammengesetzten Einzelwesens ausfüllt. Der Unterschied in den Faktoren wird zu verschiedenen Zusammensetzungen führen. Und durch die Hinzufügung von Faktoren werden die zugrundeliegenden Voraussetzungen gesprengt. Wir können eine Komposition niemals in ihrer ganz konkreten Wirksamkeit für alle Möglichkeiten der Umgebung verstehen. Wir sind uns nur einer Abstraktion bewußt.FürdieseAbstraktionkann die Veränderung oder HinzufügungvonFaktorengleichgültig-seiri~ · Stets aber schwebt ein Damoklesschwert über der Gleichwertigkeit oder Vereinbarkeit verschiedener Dinge. Wenn wir die Selbstverständlichkeit erweitern, verringert sich der Abstraktionsgrad, und unser Verstehen dringt zu den konkreten Tatsachen vor. Früher oder später führt also der Zuwachs an Wissen zur Evidenz des Antagonismus, der in einem Unterschied angelegt ist. 79
8. Die in dieser Vorlesung entwickelte Theorie des Verstehens
findet jenseits der Logik Anwendung. Die ästhetische Erfahrung ist eine andere Art der Freude an Selbstverständlichkeit. Diese Schlußfolgerung ist so alt wi~ das europäische Denken selbst. Das Verhältnis der angewandten mathematischen Proportionslehre zur Musik und zur Architektur erregte das Interesse der pythagoräischen und platonischen Schule. Auch das unter den Mathematikern weit .verbreitete Empfinden, daß einige Beweise schöner sind als andere, sollte der Aufmerksamkeit der Philosophen nicht entgehen. . Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß die Analogie zwischen Ästhetik und Logik eines der unausgearbeiteten Themen der Philosophie ist. Zunächst beziehen sie sich beide auf die Freude an einer Komposition, die sich aus den Zusammenhängen zwischen ihren Faktoren ergibt. Es gibt ein Ganzes, das aus dem Wechselspiel vieler Einzelheiten hervorgeht. Die Bedeutung verdwt sich dem deutlichen Ergreifen der Interdependenz des Einen und der Vielen. Wenn eine Seite dieser Antithese in den Hintergrund absinkt, findet eine Trivialisierung sowohl der logischen als auch der ästhetischen Erfahrung statt. Die Unterscheidung zwischen. Logik und Ästhetik ergibt sich aus dem in ihnen angelegten Abstraktionsgrad. Die Logik richtet ihre Aufmerksamkeit auf hohe Abstraktionen, während sich die Ästhetik so eng an das Konkrete hält, wie es die Notwendigkeiten des begrenzten Verstehens erlauben. Logik und Ästhetik bilden also die beiden Extreme des Dilemmas, in dem sich die begrenzte Denkweise mit ihrer partiellen Durchdringung des Unendlichen befindet. Jeder dieser Gegenstände läßt sich aus zwei Gesichtswinkeln betrachten. Mankann einenlogischen Komplexerforschen und sich an diesem Komplex erfreuen, nachdem er erforscht ist. Desgleichen gibt es die Durchführung einer ästhetischen Komposition und die Freude an dieser Komposition nach ihrer .Durchführung. Diese Unterscheidung zwischen Gestaltung und Erleben darf nicht überbetont werden. Aber es gibt sie ; und der Schluß dieser Vorlesung befaßt sich mit dem Erleben und nicht mit Gestaltung. Die charakteristische Attitüde des logischen Verstehens besteht darin, bei den Einzelheiten zu beginnen und dann zu der ausgeführten Konstruktion überzugehen. Logisches Erleben bewegt sich von den Vielen zum Einen. Die Eigenschaften der
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vielen Dinge werden so verstanden, daß sie die Einheit der Konstruktion zulassen. Die· Logik verwendet Symbole, aber nur als Symbole. Beispielsweise sind die Unterschiede im Zeilenabstand, in der Randbreite und im Seitenformat (Oktav-, Quart- oder Duodezformat) bisher noch nicht in die Symbolik eingegangen. Das Verstehen der Logik ist das Erleben, in dem die abstrahierten Einzelheiten diese abstrakte Einheit zulassen. Mit der Entwicklung des Erleb_ens offenbart sich die Einheit des Konstrukts. Wir erblicken eine Möglichkeit für da:s Universum, nämlich wie das Abstrakte seinem eigenen Wesen nach über diese Annäherung an die Konkretion verfügt. Die Logik beginnt mit einfachen Vorstellungen und fügt diese dann zusammen. Die Bewegung des ästhetischen Erlebens nimmt die entgegengesetzte Richtung. Wir sind überwältigt von der Schönheit des Gebäudes, von der Freude an dem Bild, von der feinen Ausgewogenheit des Satzes. Das Ganze geht den Teilen voraus. Dann sehen wir näher hin: Gleichsam in einem Augenblick drängen sich uns die Einzelheiten als die Gründe für die Totalität der Wirkung auf. In der Ästhetik gibt es eine Totalität, die ihre einzelnen Teile enthüllt. In der Geschichte des europäischen Denkens wurde die Diskussion der Ästhetik durch die Betonung der Harmonie zwischen den Einzelheiten fast völlig zuni~hte gemacht. Die Freude an der griechischen Kunst wird stets von der Sehnsucht beeinträchtigt, die Einzelheiten möchten eine krasse Unabhängigkeit von der erdrückenden Harmonie an den Tag legen. In den größten Beispielen einer beliebigen Kunstform wird eine wunderbare Ausgewogenheit erzielt. Das Ganze entfaltet seine einzelnen Teile und erhöht den Wert eines jeden von ihnen; und die Teile führen zum Ganzen hinauf, das jenseits ihrer selbst liegt und sie dennoch nicht zerstört. Es ist jedoch bemerkenswert, wie oft die vorbereitenden Detailstudien, sofern sie überhaupt erhalten sind, interessanter sind als die endgültigen Details, wie sie im vollendeten .Werk erscheinen. Selbst die größten Kunstwerke erreichen keine Vollkommenheit. Aufgrund der größeren Konkretheit der ästhetischen Erfahrung bietet diese ein umfangreicheres Thema als die logische Erfahrung. Wenn nämlich der Gegenstand der Ästhetik hinreichend erforscht ist, läßt sich daran zweifeln, ob überhaupt noch etwas 81
für die Diskussion verbleibt. Aber dieser Zweifel ist nicht gerechtfertigt. Denn das Wesen großer Erfahrungen ist Vordringen ins Unbekannte, ins Unerfahrene. Sowohl Logik .als auch Ästhetik konzentrieren sich auf verschlossene Tatsachen. Unser Leben steht unter dem Zeichen der Erfahrung von Enthüllung. Wenn wir diesen Sinn für Enthüllung verlieren, dann begeben wir uns jener Wirkungsweise, welche die Seele ist. Wir sinken ab in die bloße Obereinstimmung mit der Quintessenz aus der Vergangenheit. Vollständige Anpassung bedeutet den Verlust des Lebens. Übrig bleibt das starre Sein der anorganischen Natur. In den drei hiermit al?geschlossenen Vorlesungen wurde versucht, die für das philosophische Denken grundlegendsten Ideen zusammenzutragen. Dabei wurde so wenig wie möglich systematisiert ; und es wurde eine Vielzahl von Vorstellungen eingeführt, die sich in den drei Vorlesungsthemen [Bedeutung, Ausdruck und Verstehen] verbargen. Hier muß eine Lehre gezogen werden. Abgesehen vom einzelnen und abgesehen vom System, bildet eine philosophische Anschauungsweise die eigentliche Grundlage des Denkens und des Lebens. Die Art von Ideen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken und die Art von Ideen, die wir als bedeutungslos in den Hintergrund . schieben, beherrschen unsere Hoffnungen, unsere Ängste und die Kontrolle unseres Verhaltens. Wie wir denken, leben wir auch. Aus diesem Grund bedeutet das Zusammentragen philosophischer Ideen mehr als die Arbeit eines Spezialisten. Es gestaltet unsere Form der Zivilisation.
Paul Ricreur Der Text als Modell: hermeneutisches V erstehen
Mein Ziel in diesem Aufsatz ist es, eine Hypothese zu überprüfen, die ich kurz erläutern will. Ich gehe davon aus, daß -die primäre Bedeutung des Wortes »Hermeneutik« mit den Regeln zu tun hat, die für die interpretation von schriftlichen Dokumenten unserer Kultur erforderlich sind. Insofern bleibe ich dem Begriff Auslegung treu, wie er von Wilhelm Dilthey gefaßt wurde ; während sich der Begriff des Verstehens (uriderstanding, comprehension) - auf der Grundlage aller Arten von Zeichen, in denen sich psychisches Leben ausdrückt (Lebensäußerungen) - auf die Erfassung all dessen bezieht, was ein: fremdes Subjekt meint oder intendiert, ist der Begriff Auslegung (interpretation, exegesis) spezifischer: er umfaßt nur eine begrenzte Kategorie von Zeichen, nämlich nur jene, welche schriftlich niedergelegt worden sind- einschließiich allerdings auch aller Arten von Dokumenten und Denkmälern, die in schriftähnlicher Form fixiert worden sind. Meine Hypothese ist nun die -folgende: Wenn sich bei der Interpretation von Texten spezifische Probleme ergeben, weil es sich um Texte und nicht um das gesprochene Wort handelt, und wenn es gerade diese Probleme sind, die. die Hermeneutik als solche konstituieren, dann können die Humanwissenschaften hermeneutisch genannt werden (1) insofern ihr Untersuchungsgegenstand einige der Züge trägt, die für einen Text als Text kennzeichnend sind, und (2) insofern als ihre Methodologie die gleiche Art von Verfahren entwickelt wie sie für die Auslegung oder Textinterpretation erforderlich sind. So sind auch die beiden Hauptfragen, mit denen sich mein Aufsatz beschäftigen wird : 1. Inwieweit können wir das Konzept des Textes als ein gutes Paradigma für das sogenannte Objekt der Sozialwissenschaften ansehen? 2. Inwieweit können wir die Methodologi~ der Textinterpretation als ein _Paradigma der Interpretation auf dem Gebiet der Humanwissenschaften im allgemeinen gebrauchen ?
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1. Das Paradigma des Textes Um die Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zu rechtfertigen, möchte ich ein vorläufiges Konzept einführen, das das Diskurses. Beim Diskurs kann die Sprache sowohl gesprochen wie geschrieben sein. Aber was ist ein Di~ku~s ?. Wir werden eine Antwort auf diese Frage nicht bei den Logikern suchen, auch nicht bei den Exponenten der linguistischen Philosophie, sondern bei den Linguisten selber. Diskurs ist das Gegenstück zu dem, was die Linguisten Sprachsystem oder linguistischer Kode nennen. Der Diskurs ist Sprachereignis oder Sprachgebrauch. Dieses Paar korrelativer Begriffe·- System und Ereignis bzw. Kode und Mitteilung - hat in der Linguistik seit seiner Einführung durch Ferdinand de Saussure und Louis Hjelmslev eine große Rolle gespielt. Der erste sprach von Sprache (language) und Redeweise (parole), der zweite von Schema und Sprachgebrauch. Wir können noch das Begriffspaar Sprachkompetenz · und. Sprachgebrauch (competence and performance) in Chomskys Terminologie hinzufügen. Es ist notwendig, die epistemologiscpen Konsequenzen aus einer solchen Unterscheidung zu ziehen, vor allem die, daß der Linguistik des Diskurses andere Regeln z~grunde liegen als der Linguistik der Sprache als Sprachsystem. . Es ist daher der französische Linguist Emile Benveniste, der diese Unterscheidung der zwei linguistischen Strukturen am konsequentesten durchgeführt hat. Nach seiner Auffassung sind diese beiden Sprachstrukturen nicht aus den gleichen Einheiten zusammengesetzt. Während das Zeichen (phonetisch oder lexikalis~}!) .die Grundeinheit der Sprache ist, ist der Satz die Grundeinheit des Diskurses. Es ist deshalb gerade die Linguistik des Satzes, die die Theorie der· Rede als eines Sprachereignisses begründet. Ich möchte vier Charakteristika dieser Linguistik des Satzes im Auge behalten, die mir es ermöglichen sollen, die Hermeneutik des Sprachereignisses und des Diskurses auszuarbeiten. Erster Grundzug: Der Diskurs wird immer in der Zeit und in einer bestimmten Gegenwart realisiert, während das Sprachsystem virtuell ist und sozusagen außerhalb der Zeit liegt. Emile Benveniste nennt dies das »Ereignis des Diskurses«. Zweiter Grundzug: Während die Sprache kein Subjekt hat- in 84.
dem Sinn, daß die Frage >>Wer spricht?« hier sinnvoll anwendbar wäre -, ist der Diskurs durch einen komplexen Satz von Indikatoren, wie z. B. Personalpronomen, auf seinen Sprecher zurückbezogen. Wir können sagen, daß das »Ereignis des Diskurses« reflexiv ist. Dritter Grundzug: Während sich die Zeichen einer Sprache lediglich auf andere Zeichen innerhalb desselben Systems beziehen, und während. die Sprache daher einer Welt ebenso ermangelt wie der Zeitlichkeit und Subjektivität, dreht sich der Diskurs immer um etwas Bestimmtes. Er bezieht sich auf eine Welt, die zu beschreiben, auszudrücken oder zu repräsentieren er beansprucht. Die symbolische Funktion der Sprache wird nur im Diskurs aktualisiert. Vierter Grundzug: Während die Sprache nur die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation, für die sie Kodes bereithält, darstellt, werden im Diskurs wirkliche Mitteilungen ausgetauscht. In diesem Sinn hat allein der Diskurs nicht nur Welt, sondeni auch einen Anderen, eine andere Person, einen Gesprächspartner, an· den er adressiert ist. Diese vier Grundzüge zusammengenommen konstituieren die Sprache. als Sprachereignis~ Es ist anzum~rken, daß diese vier Grundzüge erst i~ Zuge der Überführung einer latenten Sprache in den Diskurs in Erscheinung treten. Eine Kennzeichnung der Sprache als eines Sprachereignisses ist daher dann und nur dann gerechtfertigt, wenn der Prozeß dieser Überführung, durch den unsere sprachliche Kompetenz sich im Sprachgebrauch aktualisiert, sichtbar gemacht werden kann. Aber dieselbe Kennzeichnung ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn dieser Ereignischarakter von dieser Problematik der Aktualisierung, wo er zu Recht vorausgesetzt wird, auf eine andere Problematik : die des Versteheus insgesamt, übertragen wird. Was bedeutet es eigentlich, einen Diskurs zu verstehen? Betrachten wir nun, wie verschieden diese vier Grundzüge in der gesprochenen und geschriebenen Sprache aktualisiert werden. Diskurs gibt es, so stellten wir fest, immer nur als ein zeitliches und gegenwärtiges Ereignis von Diskurs. Aber dieses erste Charakteristikum wird in der gesprochenen und geschriebenen Sprache ganz verschieden verwirklicht. In der gesprochenen Sprache hat das Ereignis des Diskurses den Charakter des 85
Fließens. Das Ereignis taucht auf und entschwindet wieder. Deshalb gibt es hier ein Problem der Fixierung, der Aufzeichnung. Was wir festhalten wollen, ist das, was entschwindet, was vergänglich ist. Wenn wir verallgemeinernd sagen können, daß man versucht,· die Sprache - durch alphabetische Aufzeichnung, durch lexikalische Registrierung und syntaktische Kodifikation festzuhalten, dann nur um des Diskurses willen. Nur der Diskurs muß festgehalten werden, denn er entschwindet. Das zeitlose Sprachsystem tritt weder in Erscheinung noch entschwindet es ; es kommt für sich genommen gar nicht vor. Hier ist der Ort, um sich einen Mythos aus Platos »Phaidon« in Erinnerung zu rufen: Die Schrift wurde dem Menschen gegeben, um der Schwäche des Diskurses abzuhelfen, einer Schwäche, die in seinem Ereignischarakter liegt. Die Gabe ·der grammata - dieses »äußeren« Dinges, dieser »äußeren Zeichen«, dieser sich verkörpernden Entfremdung- sei geradezu_»Arznei« für unser Gedächt!lis. Der ägyptische König von Theben konnte zwar dem Gott Theuth antworten, daß das Schreiben ein falsches Heilmittel sei, weil es die wirkliche Erinnerung durch materielle Konservierung und die wirkliche Weisheit durch die Ansammlung von leerem Wissen ersetze. Diese Aufzeichnung ist aber, trotz ihrer Gefahren, der Zweck des Diskurses. Was wir durch das Schreiben nun tatsächlich festhalten, ist nicht der Sprachakt, sondern das was »ausgesagt« worden ist - wobei wir unter dem »Ausgesagten« die gewollte »Äußerung« (exteriorization) verstehen, die für das Ziel des Diskurses konstitutiv ist und durch die das Sagen zur Aussage wird, zur Kundgabe und zum Kundgegebenen. Kurz, was wir schreiben, was wir registrieren, ist das noema des Sprechens. Es ist der Bedeutungsgehalt des Sprachereignisses, nicht das Sprachereignis als Ereignis. Was wird nun im Geschriebenen wirklich festgehalten? Wenn es nicht das Sprachereignis ist, dann ist es die Rede selbst, insoweit sie in Worten ausgedrückt worden ist. Aber was heißt : in Worten ausgedrückt? An dieser Stelle möchte ich annehmen, daß sich die Hermeneutik - wie oben ausgeführt - nicht nur auf die Linguistik berufen kann (auf die Linguistik des Diskurses· im Gegensatz zur Linguistik der Sprache), sondern daß sie ebenso die Theorie des Sprachaktes heranziehen muß, wie wir sie bei Austin und Searle ausgearbeitet finden. Nach der Meinung dieser Autoren wird der Sprachakt durch eine Hierarchie von untergeordneten Akten
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konstituiert, welche auf drei ~benen zu lokalisieren sind : 1. auf der Ebene des lokutionalen oder propositionalen Aktes, d. h. des Aktes der Rede selbst ; 2. auf der Ebene des illokutionalen Aktes oder Momentes, d. h. dessen, was wir in der Rede tun ; und 3. auf der Ebene des perlokutionalen Aktes, d. h. dessen, was wir durch die Rede tun. Im Falle einer Aufforderung1 wenn ich dich z.. B. bitte, die Tür zu schließen, is.t »Schließe die Türe!« der Redeakt. Wenn ich dich aber im Ton eines Befehls (und nicht etwa im .Ton einer ·Bitte) auffordere, macht dies den illokutionalen Charakter der Rede aus. Schließlich kann ich dadurch, daß ich dir diesen Befehl erteile, bestimmte Wirkungen wie Angst hervorrufen. Diese Effekte machen einen Redeakt zu einem Stimulus, der zu bestimmten Reaktionen führt. Das ist der perlokutionale Akt. Was bedeuten diese Unterscheidungen nun für unser Problem der intentionalen Exteriorisierung, durch welche das Sprachereignis in seiner Bedeutung überhöht und materiell fixierbar wird? Der lokutionak Akt exteriorisiert sich im Satz. Der Satz kann ohne Schwierigkeit identifiziert und als der gleiche Satz wiedererkannt werden. Ein Satz'wird eine Aus-sage und wird so anderen· übermittelt als -Satz mit der und der Struktur und der und der Bedeutung. Aber der illokutionale Akt kann ebenso exteriorisiert werden ·durch grammatikalische Paradigmata (durch Indikativ-, Imperativ- und .Konjunktivformen, und durch andere Verfahren, welche geeignet sind, illokutionale Momente auszudrücken), ~ie. seine Identifikation und Wiedererkennung ermöglichen. Selbstverständlich wird das illokutionale Moment im mündlichen Diskurs durch Mimik und Gestik und durch die nichtartikulierten Aspekte des Diskurses, die wir Prosodie nennen, unterstüt~t. Damit ist das . illokutionale Moment in der grammatischen Struktur jedoch weniger gut verankert als· die propositionale Bedeutung. Jedenfalls ist ihre Fixierung in einer syntaktischen Struktur selbst wieder an spezifische Paradigmata gebunden, die eine schriftliche Fixierung wenigstens im Prinzip ermöglichen. Ohne Zweifel müssen wir sdiließlich zugeben, daß der perlokutionale Akt jener Aspekt ~ines Diskurses ist, der am schlechtesten festzuhalten ist und der vorzugsweise die gesprochene Sprachekennzeichnet. Aber das perlokutionale ist auch das Moment, das
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das am wenigsten diskursive am Diskurs ist. Es betrifft den Diskurs als Stimulus. Es funktioniert irgendwie unbewußt, durch direkten Einfluß auf die Gefühle und die affektiven.Dispositionen, nicht jedoch auf dem Weg über die Kenntnisnahme meiner Intentionen durch den Gesprächspartner. So sind der propositionale Akt, das illokutionale Moment und der perlokutionale Akt in dieser absteigenden Reihenfolge der intentionalen Exteriorisierung zuganglich, wodurch ihre Fixierung im geschriebenen Wort möglich ist. Für das »Verstehen« ist es daher erforderlich, - über die Bedeutung des Sprechaktes oder über das noema des Gesagten hinaus . :. . nicht nur den ·Satz (im engeren Sinn des propositionalen Aktes), sondern ebenso das illokutionale Moment und selbst die perlokutionale Handlung insoweit zu erfassen, daß diese drei Aspekte des Sprachaktes kodifiziert und in Paradigmata zusammengefaßt werden können, anhand deren sie dann auch identifiziert und als die gleiche Bedeutung tragend wiedererkannt werden können. Ich verstehe daher das Wort »Bedeutung« in einem sehr umfassenden Sinn, der alle diese Aspekte und Ebenen der intentionalen Exteriorisierung, . welche die Fixierung des Diskurses ermöglichen, mitumfaßt. Die Erläuterung der anderen drei Züge des Diskurses· im Übergang vom Gesprochenen zum Geschriebenen wird uns befähigen, die Bedeutung dieser U'qerhöhung des Sagens zur Aussage präziser zu fassen. 2. Im Diskurs, so wurde festgestellt- und das war das zweite Unterscheidungskriterium zwischen Diskurs und Sprache -, verweist der Satz durch verschiedene Indikatoren der Subjektivität und Personalität auf seinen Sprecher. Im mündlichen Diskurs bringt dieser Bezug auf den Sprecher einen spezifischen Charakter der Unmittelbarkeit hervor, den wir im folgenden näher erläutern wollen. Die subjektive Intention des Sprechers und die Bedeutung des Diskurses überschneiden sich hier in einer Weise, daß es fast dasselbe ist, zu verstehen, was der Sprecher meint und was sein Diskurs bedeutet. Die Ambiguität des französischen Ausdrucks vouloir-dire, des deutschen meinen und. des englischen to mean bescheinigt diese Überschneidung. Es ist ziemlich das gleiche zu fragen »Was meinst du?« und »Was bedeutet das?« Beim geschriebenen Diskurs jedoch fällt die Intention des Autors mit der Bedeutung des Textes nicht mehr ohne weiteres zusam-
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men. Diese Dissoziation von Wortbedeutung und Intention ist der entscheidende Punkt bei· der Fixierung des Diskurses. Nicht, daß wir uns einen Text ohne Autor vorstellen können; das Band zwischen dem Sprecher und dem Diskurs wird nicht aufgehoben, aber es wird ausgedehnt und verwickelter. Angesichts der Dissoziation von Bedeutung und Intention ist der Rückschluß vom Diskurs auf den Schreiber immer ein Wagnis. Das Schicksal des Textes aber entzieht sich dem begrenzten Lebenshorizont seines Autors völlig. Was der Text nun aus.sagt, zählt mehr als das, was der Autor damit auszusagen meint, und jede Exegese entfaltet sich in einem Umkreis von Bedeutungen, die ihre Verankerung in der Psyche des Autors verloren haben. Um nochmals Platos Ausdruck zu benutzen : der geschriebene Diskurs kann nicht »geheilt« .werden durch all die Prozesse, durch die der gesprochene Diskurs unterstützt wird - durch Intonation, Vortragsweise, Mimik, Gestik. In diesem Sinne macht die schriftliche Niederlegung in »äußeren Zeichen«, die den Diskurs zuerst :zu verfälschen schien, gerade die eigentlichen Geistigkeit des Diskurses aus. Von nun an kann nur noch eine Bedeutung die andere >>heilen«, ohne die Unterstützung durch die physische und psychische Gegenwart des Autors. Zu sagen jedoch, daß nur die Bedeutung die Bedeutung· heilen kann, heißt, daß nur die Interpretation der Schwäche des Diskurses, den sein Autor nicht mehr »zurückholen« kann, abhelfen wird. 3. Das 'Sprachereignis wird durch seinen Sinngehalt ein drittes Mal überschritten. Diskurs ist etwas, so stellten wir fest, was sich auf die Welt, auf eine Welt bezieht. Beim gesprochenen Diskurs heißt das, daß sich der Dialog letzdich auf die den Gesprächspartnern gemeinsame Situation bezieht. Diese Situation umhüllt in bestimmter Weise den Dialog, und ihre Grenzen können stets durch Gesten angedeutet werden; durch das Zeigen mit dem Finger, oder auch durch den Diskurs selbst: durch den indirekten Verweis auf ihre Indikatoren, z. B. durch Demonstrativa, Adverbialbestimmungen der Zeit und des Ortes, oder durch das Tempus der Verben. Im mündlichen Diskurs, so können wir sagen, ist dieser Bezug direkt und ostentativ. Wie wird dieser Bezug im geschriebenen Diskurs hergestellt? Können wir sagen, daß d~r Text keinen solchen Bezug mehr aufweist? Das würde heißen, Bezug und Darstellung bzw. die Welt selbst mit einer bestimmten Situation zu verwechseln. Ein Diskurs geht immer 89
um etwas. Mit dieser Feststellung distanziere ich mich bewußt von jeder Ideologie des absoluten Textes. Nur wenige hochstilisierte Texte erreichen dieses seltsame Ideal eines Textes ohne aktuellen Bezug. Es handelt sich hier um Texte, bei denen das Sprachspiel des Urhebers sich vom Ausgesagten ganz losgelöst hat. Aber diese Form kann nur als Ausnahme gewertet werden, und sie kann nicht als Schlüssel für alle anderen Texte gelten, die uns in der einen oder anderen Weise etwas über- die Welt sagen. Aber was ist dann das Subjekt solcher Texte, wenn keines nachgewiesen werden kann ? Weit davon entfernt zu behaupten, daß es einen Text ohne Welt gebe, möchte ich, ohne paradox sein zu wollen, sagen, daß .nur der Mensch eine Welt hat und nicht nur in einer Situation lebt. Genauso wie sich der Text in seiner Bedeutung von der Vormundschaft der Intention seines Urhebers loslöst, so löst sich sein Bezug von den Grenzen des ostentativen Bezuges. Für uns ist die Welt das Ensemble der durch Texte eröffneten Bezüge. So sprechen wir von der Welt der Griechen, nicht um in irgendeiner Weise die Situation derer zu bezeichnen, die dort lebten, sondern um die nichtsituativen und überdauernden Bezüge zu bezeichnen, die von nun an als mögliche Seinsweisen, als symbolische Dimensionen unseres Seins in der Welt verfügbar sind. Für mich ist das der entscheidende Bezugspunkt aller Literatur; nicht die Umwelt der ostentativen Bezüge des Dialogs, sondern die Welt, die durch die indirekten und nicht-os.tentativen Verweisungen jeden Textes, den wir gelesen, verstanden und geliebt haben, entworfen wird. Einen Text verstehen heißt gleichzeitig, unsere eigene Situation erhellen, oder, wenn man so will, in die Prädikate unserer Situation alle die Bezeichnungen einzufügen, die aus unserer Umwelt eine Welt machen. Es ist diese Erweiterung der Umwelt zur Welt, die es uns ermöglicht, von Bezügen zu sprechen, die durch den Text erschlossen werden - besser noch würde man sagen, daß die Bezüge erst die Welt erschließen. Hier manifestiert sich das geistige Moment des Diskurses wiederum im Schreiben, das uns von der Sichtbarkeit und Begrenztheit der Situationen befreit, indem eine Welt für uns erschlossen wird; d. h. neue Dimensionen unseres In-der-Welt-Seins. In diesem Sinne sagt Heidegger zu Recht- in seiner Analyse. des Verstehens in »Sein und Zeit« -, daß das, was wir in einem Diskurs zuerst verstehen, nicht eine andere Person ist, sondern
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ein Entwurf, d. h. die Skizz.e einerneuen Form des In-der-WeltSeins. Nur im Schreiben, in der Befreiung des Geschriebenen nicht nur von seinem Autor, sondern auch von der Enge der dialogischen Situation, enthüllt sich die Bedeutung des Diskurses als eines Entwurfs der Welt. Indem wir so Bezug nehmen auf den Entwurf einer Welt, beginnen wir nicht nur Heidegger neu zu entdecken, sondern auch Wilhelm von Humboldt, für den die einzige Rechtfertigung der Sprache darin besteht, daß sie die Beziehung des Menschen zur W dt herstellt. Wenn diese Beziehungsfunktion unterdrückt wird, bleibt nur ein absurdes Spiel von or~entierungslos~n Zeichengebern. 4. Aber es ist wohl der vierte Grundzug, der für die Erfüllung des Diskurses in der schriftlichen Niederlegung am kennzeichnendsten ist. Nur der Diskurs, nicht die Sprache, ist an jemanden adressiert. Das ist die Grundlage der Kommunikation; Aber es besteht ein Unterscheid zwischen ein.em Diskurs, der an einem gleichzeitig anwesenden Gesprächspartner adressiert ist, und einem Diskurs, der- wie es im Grunde bei jedem Schriftstück der Fall ist - an jeden adres'siert ist, der lesen kann. Die Enge der dialogischen Beziehung weitet sich aus. Anstatt nur an dich, die zweite Pers.on, adressiert .zu sein, ist das Geschriebene. an ein Publikum adressiert, das sich selbst schafft. Das kennzeichnet wiederum die Geistigkeit des Schreibens, die ein Gegenbild zu seiner Materialität und Verfremdung ist, die dem Diskurs ebenfalls anhaftet. Das vis-a-vis des Geschriebenen ist nun jeder, der lesen kann. Die gleichzeitige Gegenwart der dialogisierenden Objekte kann nicht mehr als das Modell jeden » Verstehens« gelten. Die Beziehung Schreiben-Lesen ist nicht mehr nur ein Spezialfall der Beziehung Sprechen-Hören. Im Gegenteil, der Diskurs erweist sich erst durch die Universalität seines Bezuges als Diskurs. Indem er sich vom Augenblickscharakter des einmaligen Ereign,isses, von den gelebten Bindungen des Autors und von der Enge der ostentativen Bezüge befreit, durchbricht er auch die allzu engen Grenzen der face-to-face-Beziehung~ Er hat keinen körperlich sichtbaren Hörer mehr. Ein unbek;mnter und unsichtbarer Leser ist der auswechselbare Adressat des Diskurses geworden. Inwieweit können wir nun behaupten, daß der Gegenstand der Humanwissenschaften diesem Paradigma ~es ~extes entspricht? Max Weher definiert diesen Gegenstand als sinnhaft orientierte: 91
Verhalten. Inwieweit können wir das Prädikat »sinnhaft orientiert« durch das, was ich - abgeleitet aus der vorher dargestellten Theorie der Textinterpretation - Lesbarkeits-Charakter nennen möchte, ersetzen? Um dies zu ermittel:p., wollen wir unsere vier Kriterien des Diskurses auf die Definition des Begriffes des sinnhaft orientierten Handeins anwenden. a) Die
F~ierung
der Handlung
Sinnhaft orientiertes Handeln kann für die Wissenschaft nur unter der Bedingung zum Untersuchungsgegenstand werden, daß eine' Objektivation de,r Art vor sich geht, wie sie· bei der schriftli~hen Niederlegung eines Diskurses erreicht wird. Dieser gemeinsame Grundzug wird den Gang unserer Analyse vereinfachen. Im gleichen Sinne wie der Gesprächscharakter durch die schriftliche Niederlegung überwunden wird, wird der Charakter der bloßen Interaktion in vielen Situationen dadurch überwunden, daß wir das Handeln wie einen fixierten Text betrachten. Solche Situationen werden in einer Theorie des Handeins gerne übersehen ; denn hier' gilt der Handlungs-Diskurs ausschließlich als Teil einer Handlungssituation, die von einem Partner zum anderen oszilliert~ genauso wie die gesprochene Sprache ganz innerball:~ des Prozesses der Unterredung begriffen wird. Deshalb ist das Handlungs-Verstehen auf der vorwissenschaftliehen Ebene nur ein »Wissen ohne Bewußtsein«, oder wie E. Anscombe sagt, »praktisches Wissen« im Sinne des »knowing how« im Gegensatz zum »knowing that«. Aber dieses Verstehen ist noch keine Interpretation in dem strengen Sinn, der die Bezeichnung »wissenschaftliche Interpretation« verdienen würde. Meine Behauptung ist, daß das Handeln selbst, das Handeln als sinnhaft orientiertes Handeln, zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann - ohne daß der Charakter des Sinnhaften verloren gehen müßte - durch eine Methode der Objektivation, die · det· der schriftlichen Fixierung eines Textes ähnlich ist. Vermittels dieser Objektivation ist die Handlung nicht mehr als eine bloße Transaktion zu begreifen, auf die· das Modell des mündlichen Diskurses weiter anwendbar wäre. Dem Handeln liegt eine Entwurfsstruktur zugrunde, die gemäß ihrer inneren Verbindung interpretiert werden muß. 92
Die Objektivation wird nämlich durch bestimmte innere Grundzüge des Handeins ermöglicht, die denen der Struktur des Sprechaktes gleichen und die von außen erkennbar sind. In der gleichen Weise wie die schriftliche Fixierung ermöglicht wird durch eine Dialektik det intentionalen Exteriorisierung, die dem Sprechakt selbst schon immanent ist, so ist die Loslösung des Sinnes vom Ereignis der Handlung in einer ähnlichen Dialektik im Prozeß der Transaktion selbst angelegt. Erstens hat eine soziale Handlung die Struktur eines lokutionalen Aktes. Sie hat einen propositionalen Gehalt, der _als derselbe identifiziert und. wiedererkannt werden kann. Diese »propositionale« Struktur der Handlung ist klar und überzeugend von Anthony Kenny in seinem Buch »Action, Emotion and Will« dargelegt worden. 1 Die Handlungsverben bilden eine spezifische Klasse von Prädikaten, die den Beziehungen ähnlich sind und die - ebenso wie Beziehungen selbst - auf all die anderen Arten von Prädikaten, die der Kopula »ist« folgen, nicht reduzierbar sind. Die Klasse der Handlungsprädikate ihrerseits ist auf Beziehungen nicht reduzierbar und bildef eine ganz spezifische Klasse von Prädikaten. Unter and~rem ermöglichen die Handlungsverben die Bildung einer ganzen Reihe von »Argumenten«, die zur Ergänzung des Verbs dienen können - diese Reihe reicht sozusagen von Null-Argumenten (Plato lehrte) bis zu einer unbestimmten Anzahl von Argumenten (Brutus tötete Cäsar in der Kurie; in den Iden des März, mit einem ... , mit der Hilfe von ... ). Diese. variable Vielheit von Aussagemöglichkeiten in der prädikativen Struktur der Handlungs-Sätze ist typisch für die propositionale Struktur der Handlung. Ein anderer Grundzug, der für die Übertragung des Konzeptes der Fixierung vom Bereich des Diskurses auf den Bereich der Handlung wichtig ist, betrifft den ontologischen Status der Modifikationen des Handlungsverbs. Während Beziehungen stets zwischen Termini mit gleichem ontologischen Gewicht hergestellt werden, haben bestimmte Handl;ungsverben nur ein topisches Subjekt, das als existierend vorausgesetzt wird und auf das sich der Satz bezieht ; und sie sind umgeben mit Ergänzungen, die sich a4f Nichtexistentes beziehen. Das ist der Fall bei »mentalen Akten« (glauben, denken, wollen, sich vorstellen etc.). Anthony Kenny beschreibt noch einige andere Charakteristika der propositionalen Struktur von Handlungen, die aus der 93
Beschreibung der Funktionsweise von Handlungsverben abgeleitet werden. So kann z. B. eine Unterscheidung zwischen Zuständen, Aktivitäten und Leistungen vermittels der Tempus-Beziehungen der Handlungsverben, die einige wichtige Zeitbestimmungen der · Handlung festlegen, vorgenommen werden. Die Unterscheidung zwischen dem Formal- und dem Materialobjekt einer Handlung (sagen wir der Unterschied zwischen dem Begriff des brennbaren Dinges und diesem Brief, den ich gerade verbrenne) gehört zur Logik der Handlung, wie sie in der Grammatik der Handlungsverben widergespiegelt wird. In dieser nur grob umrissenen Weise kann der propositionale Gehalt der Handlung beschrieben und eine Basis für die Dialektik von Ereignis und Sinn geschaffen werden - ganz ähnlich wie beim Sprechakt. Ich würde hier lieber von der noematischen Struktur der Handlung sprechen; denn es ist diese noematische Struktur, die fixiert undvom Prozeß der Interaktion losgelöst - Gegenstand der InterpreJ,;. t'\ , :. -~ . , · ·. ' tation werden kann. Darüber hinaus hat dieses noema 'nicht nur einen propositionalen Gehalt, sondern es trägtauch »illokutionale« Züge, die denen des kompletten Sprechaktes sehr ähnlich sind. Die verschiedenen Klassen von diskursiven Handlungsfolgen, wie sie von Austin zum Schluß seines Buches »How to Do Things with Words« beschrieben werden, können nicht nur als Paradigmata für die Sprechakte selbst, sondern auch für die den Sprechakten korrespondierenden und sie erfüllenden Handlungen gelten.2 Eine Typologie des Handelns, die dem Modell des illokutionalen Aktes folgt, ist durchaus möglich. Nicht nur eine Typologie, sondern eine »Kriteriologie«, insofern jeder Typ seine eigenen Regeln (genauer »konstitutiven Regeln«) impliziert, die - nach Searle in seinem Buch »Speech Acts« - die Konstruktion von »idealen Modellen« ähnlich den Idealtypen von Max Weber erlauben. 3 Um z. B. zu verstehen, was ein Versprechen ist, müssen wir verstehen, was die »Wesentliche Bedingung« ist, damit eine bestimmte Handlung als ein Versprechen »gelten« kann. Searles »wesentliche Bedingung« ist nicht weit von dem entfernt, was Husserl den Sinngehalt nannte, der sowohl die »Sache« (den propositionalen Gehal_t) wie die »Qualität« (das illokutionale Moment) umfaßt. Wir können nun sagen, daß eine Handlung (wie ein Sprechakt) nicht nur nach ihrem propositionalen Gehah, sondern auch nach
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ihrem illokutionalen Moment identifiziert werden kann. Beide zusammen konstituieren ihren »Sinn-Gehalt«. Wie der Sprechakt, so entwickelt das Handlungsereignis (wenn wir diesen analogen Ausdruck gebrauchen dürfen) eine ähnliche Dialektik zwischen seinem zeitlichen Status, nämlich als ein in Erscheinung tretendes und wieder entschwindendes Ereignis, und seinem logischen Status, der darin besteht, durch einen bestimmten identifizierbaren Sinngehalt ausgezeichnet zu· sein. Wenn der »Sinngehalt« das ist, was die »Fixierung« des Handlungsereignisses ermögiicht, wie ist dann eine Realisierung dieses Sinngehaltes möglich ? Mit anderen Worten, was entspricht im Bereich des Handeins der schriftlichen Notierung? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir auf das Paradigma des Sprechaktes zurückgehen. Was durch das Schreiben fixiert wird, so stellten wir fest, ist das noema des Sprechens, das Sagen als Gesagtes. ·Inwieweit können wir sagen, daß das Getane das Notierte und Notierbare sei? -An dieser Stelle können vielleicht ein paar Metaphern nützJ.ich sein. Wir sagen, daß ein bestimmtes Ereignis seine Spuren in seiner Zeit hinterlassen hat. Wir sprechen von »einschneidenden Ereignissen«. Gibt es nicht auch solche Markierungen und Zeichen in der Zeit, die eher »lesend« als »hörend« zu erschließen wären? Aber was ist mit dieser Metapher des gedruckten Zeichens anzufangen ? Die drei anderen Charaktet:istika eines Textes werden uns helfen, das Wesen eiil.er solchen Fixierung etwas zu verdeutlichen. b) Die Autonomisierung der Handlung Auf die gleiche Weise, wie sich ein Text von seinem Verfasser loslöst, so löst sich eine Handlung vom Handelnden und b~ingt ihre eigenen Konsequenzen hervor. Gerade diese Autonomisierung der menschlichen Handlung konstituiert die soziale Dimension der Handlung. Eine Handlung ist ein soziales Phänomen nicht nur, weil sie von verschiedenen Akteuren in einer Art und Weise ausgeführt wird, daß die Rolle des einen von der Rolle des anderen nicht zu trennen ist, sondern ebenso, weil sich unsere Taten unserer Herrschaft entziehen und weil sie Konsequenzen haben, die wir nicht beabsichtigten. Damit wird eine der Bedeutungen des Begriffes »Notation~. deutlich. Die gleiche Art der _;\'
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Distanz, die wir zwischen der Intention des Sprechers und dem verbalen Gehalt eines Textes feststellen, besteht auch zwischen dem Akteur und seiner Aktion. Es ist gerade diese. Distanz, die die Zuschreibung der Verantwortung für eine Handlung zum Problem macht. Wir fragen nicht: Wer.lächelte? Wer hob seine Hand ? ·Der Täter ist in seinen Taten ebenso präsent wie der Sprecher in seiner Rede. In einfad1en Handlungen, die keiner vorbereitenden Handlung bedürfen, um ausgeführt werden zu können, fällt der Sinn (noema) weitgehend mit der Intention (noesis) zusammen oder überschneidet sich mit ihr. Bei komplexeil Handlungen jedoch sind. einige Handlungssegmente so weit vom ursprünglichen Ausgangspunkt - von dem man behaupten könnte, daß er die· intention des Akteurs ·bezeichnet - e~tfernt, daß die Zuschreibung dieser Handlungen oder Handlungssegmente ein schwieriges Problem aufwirft. Dieses Problem ist zumindest ebenso schwierig, wie die Bestimmung der Urheberschaft in literarischen Kontroversen. Der Autor wird mehr oder weniger lückenhaft erschlossen; dieser Vorgang ist dem Historiker wohlvertraut, der die Rolle eines historischen Charakters aus dem.Lauf der·Ereignisse zu bestimmen sucht. Wir verwendeten gerade den Ausdruck »Lauf der Ereignisse«. Könnten wir nicht annehmen, daß dem, was wir den Lauf der Ereignisse nennen, ~. die Funktion der materiellen Grundlage zukommt, auf der der sich sonst verflüchtigende Diskurs fixiert wird? Wie wir schon auf eine metaphorische Weise sagten, sind einige Handlungen als Ereignisse zu betrachten, die ihre Spuren in der Zeit hinterlassen. Aber wo sind diese Zeichen eingeprägt? Ist es nicht etwas Räumliches, in dem der Diskurs fixiert wird ? Wie kann ein Ereignis in etwas Zeitliches e~ngeprägt werden ? Die »soziale Zeit« jedoch ist etwas, was sich nicht so leicht verflüchtigt ; sie ist auch das Medium dauerhafter Wirkungen, bleibender Strukturen. Eine Bandlung hinterläßt eine »Spur«, sie setzt ein »Zeichen«, wenn sie zur Entstehung solcher Strukturen und Handlungsmuster beiträgt, die Dokumente menschlichen· Handeins genannt werden können. Eine andere' Metapher könnte uns helfen, dieses Phänomen der sozialen »Prägung« besser abzugrenzen: die Metapher der »Aufzeichnung« oder der »Registrierung«. Joel Feinberg führt diese Metapher in seinem Buch »Reason and Responsibility« ein allerdings in einem anderen Kontext, in dem der Verantwortlich-
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keit, um zu zeigen, wie eine Handlung mit Verantwortung beladen ist. Nur Handlungen, sagt er, die für die Zukunft »registriert« werden können und die als ein Eintrag in jemandes »Bericht« erscheinen, müssen verantwortet werden. 4 Und wenn es keine formellen Aufzeichnungen gibt (wie sie durch Institutionen wie Arbeitsämter, Schulen, Banken und Polizei aufbewahrt werden), dann gibt es dennoch ein informelles Analogon dieser formellen Aufzeichnungen_~ ,w\r nepnen diese informellen Aufzeichnungen »Reputation«'<:.:;·Ünct'si~-bilden die Grundlage dafür, daß wir zur Veräntwohting gezogen werden können. Ich möchte diese interessante Metapher der Aufzeichnung und Reputation gerne auf etwas anderes als auf die quasi-juridische Situation des Verantwortlichmachens, des Beschuldigens, des Glaubenschenkens oder Bestrafens anwenden. Könnten wir nicht sagen, daß die Geschichte selbst die Aufzeichnung der menschlichen Handlungen ist? Die Geschichte ist dann dieses Quasi-»Ding~~, in dem die menschlichen Handlungen ihre- »Spuren« hinterlassen, ihre Zeichen setzen. Daher gibt es, die Möglichkeit von Archiven. Vor den Archiven, die bewußt und systematisch von Chronisten geführt werden, liegt jener kontinuierliche Prozeß der »Aufzeichnung« von menschlichen Handlungen, der die Geschichte zu einer Summe von solchen »Zeichen« macht, das Schicksal, das sich der Kontrolle der individuellen Akteure entzieht. So kann die Geschichtt: leicht als eine autonome Wesenheit ~r~~heinen, als ein Spiel zwischen Spielern ohne Plan. Diese Hypostasierhng der Geschichte kann als eine Täuschung ange5eheri-'werden, aber diese Täuschung ist unauflösbar vedlochten mit jenem Prozeß, durch den eine menschliche Handlung in ei.rie soziale Handlung umgeformt wird und durch den sie in die Archive der Geschichte eingeht. -Dank der Sedimentierung der sozialen Zeit werden menschliche Taten zu »Institutionen« in dem Sinn, daß ihre Bedeutung nicht mehr mit den gedanklichen Intentionen der Akteure übereinstimmt. Der zugrunde liegende Sinngehalt kann bis zu dem Punkt »entpsychologisiert« werden, wo der Sinn im Werk selbst zu liegen scheint. In den Worten von P. Winch, in seinem Buch »The Idea of Social Science«, ist der Gegenstand der Sozialwissenschaften das »durch Regeln geleitete Verhalten«.5 Aber diese Regeln sind nicht aufgezwungen ; sie verkörpern den Sinngehalt, der von innen heraus gewachsen und in den sedimentierten oder institutionalisierten Werken ausgeformt worden ist. 97
Dieser Art ist die »Objektivität«, die sich aus der »Sozialen Fixierung« von sinnhaftem Verhalten ergibt.
c) Relevanz und Bedeutung Unserem· dritten Kriterium eines Textes folgend, können wir sagen, daß eine sinnhaft orientierte HandlU;ng eine Handlung ist, deren Bedeutung »über« ihre Relevanz für die augenblickliche Situation hinausgeht. Dieser Grundzug ist ähnlich der Art und Weise, in der ein Text die Grenzen des Diskurses und aller seiner ostentativen Bezüge übersteigt. Als Ergebnis dieser E;na~zipa tion ·vom situationalen Kontext kann der Diskurs nichtost~ntative Bezüge entwickeln, die wir eine »Welt« in dem Sinne-~mmeii~ wie wir von der griechischen »Welt« sprechen (also nicht im kosmologischen Sinn des Wortes, sondern in seiner ontologischen Bedeutung). Was würde im Bereich des Handeins den nicht-ostentativen Bezügen des Textes entsprechen? Wir setzen in der Einleitung des gegenwärtigen Abschnittes unserer Analyse die Bideutung (importance) einer Handlung im. Gegensatz zu ihrer auf die Situation bezogenen Relevanz (relevance). Eine gewichtige Handlung, könnten wir formulieren, entwickelt Bedeutungen, die auch in ganz anderen als der · ursprünglichen Handlung aktualisiert oder edüllt werden können. Um das gleiche noch anders zu sagen: Die Bedeutung eines wichtigen Ereignisses übersteigt die sozialen Bedingungen seiner Produktion und kann in neuen sozialen Kontexten wiedererweckt werden. Seine »Bedeutung« ist »dauerhafte Relevanz« und, in einigen Fällen, allgegenwärtige Relevanz. Dieser dritte Grundzug hat, was die Beziehung zwischen kulturellen Phänomenen und ihren sozialen Bedingungen betrifft, weitreichende Implikationen. Ist es nicht der grundlegende Zug der großen Werke einer Kultur, die Bedingungen ihrer sozialen Produktion zu überschreiten, ebenso wie ein Text neue Bezüge schafft und neue »Welten« begründet? In diesem Sinne sprach Hegel in seiner »Philosophie des Rechts« von den Institutionen (im weitesten Sinn des Wortes), die die Freiheit als eine zweite Natur verwirklichen. Dieses »Reich der Freiheit<~ konstituiert sich durch diejenigen Taten und Werke, die groß genug sind;· um in neuen historischen Situationen neue Bedeutung gewinnen zu 98
können. Wenn dies richtig ~st, dann ist die Art und Weise, wie man die eigenen Produktionsbedingungen überwinden kann, der beste Schlüssel für das verwirrende, von den Marxisten aufgeworfene Problem der Bedeutung der »Überbaufaktoren«: Die Autonomie der Überbaufaktoren hat, was ihre Beziehung zu den eigenen Basisfaktoren betrifft, ihr Paradigma in den nichtostentativen Bezügen eines Textes. Ein Werk spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es erschließt eine neue Welt, jene Welt, die es in sich trägt. .
d) Menschliches Handeln als »offenes Werk« Schließlich ist, entsprechend unserem vierten Kriterium des Textes als Text, der Sinngehalt. einer menschlichen Handlung ebenfalls etwas, was an eine unbegrenzte Anzahl von möglichen »Lesern« adressiert ist. Die Richter sind allerdings nicht die Zeitgenossen, sondern, wie Hegd sagte, die Geschichte selbst : Weltgeschichte ist Weltgericht. Das heißt, daß - gleich einem Text - 'die menschliche Handlüq,· ein vollendetes und offenes Werk ist, dessen Sinn in der Schwebe bleibt. Gerade weil sie neue Bezüge »eröffnen« und neue Bedeutung für diese bekommen, verlangen die menschlichen Taten nach neuen Interpretationen, die ihren Sinngehalt bestimmen. Alle entscheidenden Ereignisse und Taten stehen auf diese Weise der praktischen Interpretation durch die gegenwärtige Praxis offen. Menschliches Handeln ist sozusagen jedem zugänglich, der lesen kann. Weil der Bedeutungsgehalt eines Ereignisses in dessen zukünftigen Interpretationen liegt, kann die Interpretation der Zeitgenossen in diesem Prozeß keine bevorzugte Sonderstellung für sich beanspruchen. Diese Dialektik zwischen dem Werk und seinen Interpretationen wird das zentrale Problem einer Methodologie der Interpretation sein, der wir uns nun zuwenden wollen.
2. Das Paradigma der Textinterpretation. Ich möchte nun die Fruchtbarkeit dieser Analogie des Textes und der Textinterpretation auf der methodologischen Ebene erweisen. Die wichtigste ~J?:lplikation unseres Paradigmas- insoweit es die Methode der Sozialwiss-enschaften betrifft -: ist, daß es .einen
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neuen Zugang zum Problem der Beziehung zwischen Erklären (explanation) und Verstehen (understanding, comprehension) in den Humanwissenschaften eröffr,tet. D_ilthey verstand diese Beziehung bekanntlich als Dichotomie. Nach seiner Meinung · ··stammt jegliches Modell de~···Erkfii~ng aus einem ganz anderen Wissensbereich: aus dem Bereich der Naturwissenschaften mit ihrer induktiven Logik. Deshalb kann ·die Autonomie der sogenannten Geisteswissenschaften nur gewährleistet werden durch die Proklamation der Unverzichtbarkeit des Verstehens, d. h. des Verstehens von Fremdseelischem auf der Grundlage von Zeichen, in denen sich dieses Leben unmittelbar ausdrückt. Wenn nun aber das Verstehen vom Erklären durch diesen logischen Abgrund getrennt ist, wie . können dann die Humanwissenschaften je wissenschaftlich sein ? Dilthey hat sich mit dies.em paradoxen Problem sein Leben lang herumgeschlagen. Er erkannte mehr und mehr, vor allem nach dem Studium von Busserls »Logischen Untersuchungen«, daß die Geisteswissenschaften Wissenschaften insoweit sind, als die Ausdruckserscheinungen des Lebens einer Art von Objektivation unterworfen sind. Erst diese Objektivation ermöglicht einen wissenschaftlichen Ansatz, der dem der Naturwissenschaften sich annähert - trotz des logischen Gegensatzes zwischen Natur und Geist, zwischen Wissen durch · Zeicheninterpretation und Wissen durch »Tatsachenbeobachtung«. Auf diese Weise schien ihm die von diesen Objektivationen bewirkte Vermittlung, für wissenschaftliche Zwecke jedenfalls, wichtiger zu sein als die unmittelbare Bedeutung der Lebenserscheinungen im Alltagsleben. , Meine eigene Fragestellung setzt bei dieser letzten, etwas überraschenden Lösung in Diltheys Denken an. Und meine Hypothese ist, daß man, ausgehend von jener Art von Objekti.vierung, die im Diskurs als einem 'Text impliziert ist, eine bessere Antwort auf das von Dilthey aufgeworfene Problem geben kann. Diese Antwort liegt im dialektischen Charakter der Beziehung zwischen Erklären und Verstehen, wie sie sich am besten beim Lesen zeigt. UJ?.~ere .Aufgabe w:ird es daher sein aufzuzeigen, inwieweit das P~adi'gln.a de~ ·L~sens, das ein Gegenstück zum Paradigma des Schreibens darstellt, uns einer Lösung des methodelogischen Paradoxons der Humanwissenschaften näherbringt . .Die im Lesen eingeschlossene Dialektik dreht sich um die Originalität der Beziehung zwischen Schreiben und Lesen und 100
ihre Nicht-Reduzierbarkeit auf die dialogische Situation, die auf der direkten Reziprozität zwischen Sprechen und Hören beruht. Ähnlich besteht zwischen Erklären und Verstehen eine Dialektik deshalb, weil die Schreib~t:'ese-Situation ihre eigene Problematik hat, welche nicht nur eine Ausdehnung der Sprech-Hör-Situation · ist, wie sie den Dialog begründet. Gerade deshalb ist unser Entwurf einer Hermeneutik in bezug auf die Romantische Tradition äußerst kritisch, insofern dort die dialogische Situation zum Standard des hermeneutischen Verfahrens der Textinterpretation gen~mmen wurde. Meine Behauptung dagegen ist, daß dieses Verfahren nur den Sinn des Hermeneutischen in der dialogischen Situation erfassen kann. Wenn uns aber die dialogische Beziehung kein zutreffendes Paradigma der Lesesituation an die Hand gibt, dann müss_en wir diese Lesesituation als ein Paradigma von eigenem Recht entwickeln. Dieses Paradigma erhält seine Grundzüge aus der Charakteristik des Textes selbst, d. h. 1. der Fixierung des Sinngehalts, 2. der Trennung von Sinngehalt und geistiger Intention des Autors, 3. der Entfaltung von nicht-ostentativen Bezügen, und 4. der unbegrenzten Reihe ihrer Adressaten. Diese vier Grundzüge zusammengenommen machen die »Objektivität« des Textes aus. Aus dieser »Objektivität« ergibt sich nun eine Möglichkeit des Erklärens, die nicht von einem fremden Bereich her begründet zu werden braucht, nämlich vom Bereich der natürlichen Erscheinungen her, sondern die genau dieser Art von Objektivität entspricht. Es gibt daher nichts Derartiges wie eine Übertragung aus dem einen Wirklichkeitshereich in den anderen - sagen wir, aus dem Bereich der »Tatsachen« in den Bereich der »Zeichen«. Der. Prozeß der Objektivierung spielt sich im gleichen Bereich der Zeichen ab und er ermöglicht Verfahren der Erklärung im gleichen Bereich. Und es ist derselbe Bereich der Zeichen, innerhalb dessen sich Erklären und Verstehen gegenüberstehen. Ich möchte diese Dialektik auf zweierlei Weise darstellen : (a) als Übergang vom V erstehen zum Erklären, und (b) als Übergang vom Erklären zum Verstehen. Die wechselseitige Beziehung zwischen beiden Verfahren wird uns den dialektischen Charakter der Beziehung erschließen. Zum Schluß jeweils dieser beiden Abschnitte werde ich kurz versuchen, eine mögliche Ausdehnung dieses Paradigmas des Lesens auf den gesamten Bereich der Humanwissenschaften zu skizzieren. 101
a) Vom Verstehen zum Erklären
Die erste Dialektik - oder vielmehr die erste Konfiguration einer umfassenderen Dialektik - kann am leichtesten verständlich gemacht werden, indem wir an unsere Feststellung erinnern, daß heißt, sich in den Autor einen Text verstehen noch ~~ge~nicht . .......... . c. hineinzuversetzen. Die :Q.i~§-~-~[at~.~-· zwischen Sinngehalt und Intention schafft eine absolut neue SitUation . welche die Dialektik von Erklären und Verstehen hervorbringt. Wenn der objektive Sinngehalt etwas anderes ist als die subjektive Intention des Autors, kann dieser Sinngehalt auf verschiedene Weise konstruiert oder rekonstruiert werden. Das Problem des richtigen Verstehens kann nicht einfach durch den Rückbezug auf die vermeintliche Intention des Autors gelöst werden. Sondern diese Konstruktion nimmt notwendigerweise die Form eines Prozesses an. Wie Hirsch in seinem Buch »Validity in Interpretation« sagt, gibt·es keine festen Regeln für die Entwicklung guter Deutungshypothesen. 6 Die Dialektik zwischen Hypothesenbildung und Hypothesenbestätigung begründet eine der Grundfiguren unserer Dialektik von Verstehen und Erklären. In dieser Dialektik sind beide Seiten gl~ich wichtig·. Das Erfinden von Hypothesen entspricht dem, was Schleiermacher das »göttliche« Moment nannte, die Hypothesenbestätigung dem, was er das »grammatikalische« Moment nannte. Mein Beitrag zur Theorie dieser Dialektik soll es sein, sie enger an die Theorie des Textes und der Textinterpretation anzuschließen. Warum brauchen wir so etwas wie eine Kunst des HypothesenErfindens? Warum müssen wir den Sinngehalt »konstruieren«? Nicht nur - wie ich in früheren Jahren schon dargestellt habe 7 weil die Sprache metaphorisch ist und weil die Doppeldeutigkeit der metaphorischen Sprache die Entwicklung einer Kunst der Entzifferung, die in der Lage ist, die verschiedenen Bedeutungsebenen zu entfalten, unumgänglich macht. Das Metaphorische in der Sprache ist nur ein Spezialfall für eine allgemeine Theorie der Hermeneutik. Oder allgemeiner gesagt: ein Text muß konstruiert und rekonstruiert werden, weil es sich nicht nur um eine Abfolge von Sätzen handelt, die alle auf der gleichen Ebene stehen und alle für sich verständlich wären. Ein Text ist ein Ganzes,-- eine Totalität. Die Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilenebenso bei Kunstwerken wie bei Lebewesen - erfordert eine ,~
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besondere Art des »Urteils«, für die Kant in seiner Dritten Kritik8 eine Theorie entwickelt hat. Streng genommen, erscheint das Ganze als eine Hierarchie von Gegenständen oder Themen bzw. von primären und sekundären Zusammenhängen. Die Rekonstruktion eines Textes als eines Ganzen hat notwendigerweise einen zirkulären Charakter - in dem Sinn, daß die ImpJfäti~il; einer bestimmten Art von Ganzem bereits in der Erke~.lltnis· der Teilzusammenhänge implizie~t ist. Und umgekehrt konstruieren wir das Gap.ze erst in der. Konstruktion der Teile. Hier gibt .es keine Notwendigkeit und keine Evidenz, keine definitive Entscheidung darüber, was wichtig sein soll und was unwichtig, was wesentlich. und was unwesentlich. Jedes solche Urteil ist eine bloße Vermutung. Um die Schwierigkeit nochmals. anders zu formulieren: Wenn ein· Text ein Ganzes ist, ist er ebenso »Individuum« wie ein Lebewesen oder ein Kunstwerk. Als Individuum kann er nur durch einen Prozeß der Einengung und Spe~ifikation vo~ Gattungsbegriffen erfaßt werden, welche sich auf die literarische Gattung beziehen, auf die Kategorie von· Texten, zu denen dieser Text gehört, und auf die Strukturen der verschiedenen anderen Kategorien, die sich in diesem '"fext überschneiden. Die Lokalisierung und die Herausarbeitung der individuellen Gestalt eines Textes beruht aber vorerst auf einer Vermutung. Um diesen dunklen Punkt weiter aufzuhellen, kann man sagen, daß der Text als ein »Individuum« von verschiedenen Seiten her angegangen werden kann. Wie ein Würfel oder ein anderes Raumgebilde zeigt der Text ein »Relief«. Seine verschiedenen Raumpunkte liegen nicht in derselben Raum tiefe. Deshalb geht in die Rekonstruktion des Ganzen unvermeidlich eine perspektivi-:sc~e Verzerrung ein, ganz ähnlich wie bei jeder Wallrriehmung. Es ist immer möglich, den gleichen Satz in ganz verschiedener Weise einmal auf diesen oder jenen Satz, der als Angelpunkt des· Textes betrachtet wird, zu beziehen. Eine spezielle Art der Verzerrung oder Einseitigkeit ist auch im Akt des l.esens eingeschlossen. Diese Einseitigkeit kennzeichnet den hypothetischen Charakter der Interpretation. Aus all diesen Gründen besteht das Problem der Interpretation nicht so sehr in der Nichtmitteilbarkeit der seelischen Erfahrungen des Autors, sondern es ist in der Struktur der verbalen Intention des Textes selbst begründet. Diese Intention ist etwas anderes als die Summe der 103
Einzelbedeutungen der einzelnen Sätze. Ein Text ist mehr als eine lineare Abfolge von Sätzen. Er repräsentiert einen kumulativen, einen ganzheitlichen Prozeß. Die spezifische Struktur des Textes kann nicht aus der Struktur der Sätze erschlossen werden. Deshalb ist die für Texte als Texte so kennzeichnende »Mehrstimrriigkeit« · etwas anderes als die Mehrdeutigkeit der einzelnen Worte der Umgangssprache und die Zweideutigkeit einzelner ihrer Sätze. Diese positive Mehrstimmigkeit ist typisch für den als Ganzes zu betrachtenden Text, und sie steht ·verschiedenen Lesarten und verschiedenen Sinnkonstruktionen offen. Was die ·Verfahren der Hypothesenbestätigung betriff~, bei denen unsere Vermutungen überprüft werden sollen, stimme ich mit Hirsch überein, daß diese einer Logik der Wahrscheinlichkeit näherliegen werden als einer Logik der empirischen Verifikation. Zu zeigen, daß eine bestimmte Interpretation im Lichte· des Bekannten wahrscheinlicher ist als eine andere, ist etwas anderes als der Nachweis, daß ein bestimmter Schluß richtig ist. In diesem Sinne geqt es um Validierung, nicht um Verifikation. Die Validierung ist ein argumentatives Verfahren, vergleichbar etwa den juristischen Verfahren der Rechtsinterpretation. Es geht hier um eine Logik der Unsicherheit und der qualitativen Wahrscheinlichkeit. In die$em Sinne können wir der Entgegensetzung von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften einen gewissen Sinn nicht abstreiten ; aber deshalb brauchen wir das Dogma von der Unerreichbarkeit des Individuums (individuum ineffabile est) noch lange nicht zu unterschreiben. Die Methode der Indexkonstruktion, wie sie typisch ist für die Logik der subjektiven Wahrscheinlichkeit, bietet eine hinreichend sichere Grundläge für eine Wissenschaft des Individuellen, die den Namen Wissenschaft verdient. Ein Text ist ein Quasi-Individuum, und die Validierung einer Textinterpretation erbringt, so kann man mit gutem Recht behaupten, ein wissenschaftlich brauchbares Wissen über den Text. In dieser oder ähnlicher Form jedenfalls ist die Balance zwischen Genie und Erfindung einerseits und dem wissenschaftlichen Charakter der Validierung andererseits .zu begreifen, die eine moderne Version der alten Dialektik von Verstehen und Erklären darstellt. Damit können wir auch dem berühmten· Konzept des hermeneutischen Zirkels eine akzeptable Fassung geben. Erfindung und Validierung sind in gewissem Sinn zirkulär aufeinander 104
bezogen wie der subjektive und der objektive Ansatz einer Textinterpretation. Aber es handelt sich hier nicht um einen circulus vitiosus. Er würde einem Käfig gleichen, wenn wir nicht jener Art von »Selbstbestätigung« entfliehen könnten, die nach Hirsch (S. 164ff.) die Beziehung zwischen Hypothesenfindung und Hypothesenbestätigung bedroht. Zu den Verfahren der Validierung gehören ebenso die Verfahren· der Invalidierung ähnlich dem Falsifizierbarkeitskriterium, das von Karl Popper in seiner »Logik der Forschung« 9 so betont wird. Diese Rolle der Falsifikation wird hier vom Konflikt zwischen konkurrierenden Interpretationen übernommen. Eine Interpretation muß nicht nur wahrscheinlich sein, sondern sie muß wahrscheinlicher sein als eine andere. Es gibt hier bestimmte Vorzugskriterien, die ohne Schwierigkeit aus einer Logik der subjektiven Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden können. Zusammenfassend ist festzustellen, daß es immer mehr als einen Weg der Konstruktion oder Rekonstruktion eines Textes gibt; es stimmt nicht, daß alle Interpretationen gleich· gut sind und daß sie mit Hilfe von Regeln des »gesunden Menschenverstandes<< miteinander verglichen werden könnten. Der Text realisiert immer nur einen bestimmten Ausschnitt möglicher Konstruktionen. Die Logik der Validierung eröffnet uns einen Interpretationsrahmen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Es ist immer möglich, für oder gegen eine Interpretation zu argumentieren, Interpretationen einander entgegenzusetzen, sich zwischen ihnen zu entscheiden und nach Übereinstimmung zu suchen, auch wenn diese Übereinstimmung nur jenseits unserer Reichweite liegen kann. Inwieweit ist nun diese Dialektik zwischen Erfindung und Validierung von Interpretationen paradigmatisch für den gesamten Bereich der Humanwissenschaften? Daß der Sinngehalt von menschlichen Handlungen, von historischen Ereignissen und von sozialen Phänomenen auf ganz verschiedene Weise konstruiert werden kann oder muß, wird von allen kompetenten Humanwissenschaftlern zugestanden. Was weniger gut begriffen wird, ist, daß die verwickelte methodelogische Problematik schon im Objekt selbst begründet ist und daß der Wissenschaftler keineswegs dazu verdammt ist, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus hin und her zu schwanken. Wie die Logik der Textinterpretation zeigt, gibt es eine spezifische Mehrstimmigkeit in der Sinndeutung des menschlichen Handelns. Aber auch das mensch..: 105
liehe Handeln repräsentiert nur ein begrenztes Feld von möglichen Konstruktionen. Ein Grundzug des menschlichen Handelns, der in der vorhergehenden Analyse noch nicht herausgearbeitet worden ist, kann eine interessante Verbindung zwischen der spezifischen Kontrapunktik des Textes und der analogen Kontrapunktik des menschlichen Handeins herstellen. Dieser Grundzug betrifft die Beziehung zwischen der Zweck- und der Motivationsdimension des Handelns. Wie viele Theoretiker der neuen Handlungstheorie gezeigt haben, wird der Zielcharakter einer Handlung erst dann voll verständlich, wenn die Frage nach dem »Was« durch eine Antwort auf die Frage »warum« erklärt werden kann. Ich verstehe, was du tun wolltest, wenn du mir erklären kannst, warum du eine so-und-so-geartete Handlung unternommen hast. Welche Antworten auf die Frage »warum« aber haben einen Sinn? Nur jene Antworten, die ein Motiv angeben, das als Grund (Begründung) für--- (und nicht als eine Ursache) gelten kann. Und was ist ein Grund für---, der nicht zugleich Ursache ist? Es ist, in der Ausdrucksweise vön E. Anscombe und A. I. Meldon, ein Ausdruck oder eine Redewendung, die uns die Handlung als diese oder jene qualifizieren läßt. Wenn du mir erklärst, daß du dieses oder jenes aus »Eifersucht« oder aus »Rache« getan. hast, forderst du mich auf, deine Handlung im Sinne dieser Gefühle oder Neigungen zu kategorisieren. Oder anders gesagt, du forderst mich auf, deiner Handlung einen allgemein bekannten Sinn zu unterlegen. Du verlangst, sie verständlich zu machen für andere und für dich selbst. Dieser Versuch ist besonders dann nützlich, wenn der·» Wertcharakter« unserer Wünsche demonstriert werden soll, wie E. Anscombe das nennt. Wünsche und Glaubensüberzeugungen gelten nicht nur als Kräfte (oder Zwänge), die die Menschen in dieser oder jener Weise handeln lassen, sondern sie rechtfertigen diese auch durch den Hinweis auf den Wert des damit verbundenen Gutes. Ich muß also die Frage stellen: als was möchtest du das? Auf der Grundlage dieses Wertcharakters und des sichtbaren, damit korrespondierenden Gutes ist es möglich,- den Sinn einer Handlung zu argumentieren, für oder gegen diese oder jene Interpretation Stellung zu nehmen. Auf diese Weise läßt der Aufweis·-der Motive bereits eine Logik des Argumentationsverfahrens sichtbar werden. Können wir nicht sagen, daß das, was im menschlichen 106
Handeln konstruiert werden kann (~nd muß), die Motivationsbasis der Handlung ist; d. h. jener Satz von Wertfiguren, die sie »erklären« können? Und könnten wir nicht sagen, daß der mit der Erklärung des Handeins d).lrch Motive verbundene Prozeß der Argumentation jene Mehrstimmigkeit deutlich zu machen hat, die die Handlung so sehr dem Text ähnlich macht? Was die Generalisierung des Konzeptes· der Sinnfindung vom Fall des Textes auf den Fall der Handlung rechtfertigt, ist, daß ich in der Arg11mentation über den Sinn einer Handlung Distanz zu meinen Wünschen und Glaubensüberzeugungen gewinne und daß ich sie e.iner konkreten Dialektik der Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Gesichtspunkten unterwerfe. Dieses In-dieFerne-Rücken meiner Handlung, um meinen eigenen Handlungen Sinn zu verleihen, ebnet nun den Weg für jene Art der Distanzierung, die auch in dem Prozeß der »sozialen Notation« von menschlichen Handlungen stattfindet, den man metaphorisch auch »Aufzeichnung« oder »Berichte« nennen kann. Die gleichen Handlungen, die in solchen »Aufzeichnungen« festgehalten werden und »weiterberichtet« werden, können wiederum auf verschiedene Weise erklärt werden - ganz der Mehrstimmigkeit der Argumente entsprechend, die ihren motivationeilen Hintergrund erhellen. Wenn wir eine konkrete Anwendung unseres Konzeptes der Sinnfindurig (das wir als synonym mit dem Begriff des Verstehens definierten) auf die Handlungsdeutung versuchen ·wollen, dann müssen wir auch das Konzept der Validierung (in dem wir ein Äquivalent zum Konzept des Erklärens sahen) berücksichtigen. Auch hier gibt uns die moderne Handlungstheorie ein Bindeglied zwischen den .. Verfahren der Literaturkritik und denen der Sozialwissenschaften an die Hand. Einige dieser Theoreti.ker haben versucht, diesen Prozeß der Unterstellung und Zuschreibung von bestimmten Bandlungen zu bestimmten Akteuren. am Beispiel des Gerichtsverfahrens zu erläutern, bei dem ein Richter oder ein Tribunal verschiedene Entscheidungen in bezug auf einen Vertragsbruch oder ein Verbrechen gegeneinander abwägt. In einem ausgezeichneten Aufsatz, »The Ascription of Responsibility and Righ~s«, kann L. A. Hart auf sehr überzeugende Weise darlegen, daß das juristische Denken in keiner Weise nur darin besteht, allgemeinverbindliche Gesetze auf Einzelfälle anzuwendenl sondern daß stets einmalige, auf den einzelnen Fall
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bezogene Entscheidungen konstruiert werden. 10 Diese Entscheidungen beenden die sorgfältige Widerlegung der Rechtfertigungen und Argumente der Verteidigung, die eine Forderung oder Anklage »ZU Fall bringen« könnten. Mit dieser Darstellung, daß menschliche Handlungen grundsätzlich »ZU Fall gebracht« werden können und daß das juristische Denken als argumentativer Pr~'zeß zu verstehen ist, der mit den verschiedenen Argumenten der Zuriickweisung eines Anspruches oder einer Anklage zurecht kommen muß, hat Hart den Weg frei gemacht für eine allgemeine Theorie der Validierung, in der das ·juristische Deilken das entscheidende Bindeglied zwischen der Validierung i;:t der Literaturkritik und der Validierung in den Sozialwissenschaften bilden könnte. Die Zwischenstellung des juristischen Denkens .zeigt klar, daß diese Verfahren der Validierung polemischen Charakter haber1. Gegenüber dem Gericht wird die den Texten und Handlungen gemeinsame Mehrstimmigkeit in der Form eines Interpretationskonfliktes dargestellt ; und noch die letzte Interpretation ist ein Urteilsspruch, gegen den Berufung eingelegt werden kann. Genau wie Gerichtsurteile können alle Interpretationen auf dem Gebiet der Literaturkritik und auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften: in Frage gestellt werden, und die Frage »Was kann einen Anspruch' zu Fall bringen?« ist allen argumentativen Situationen gemeinsam. Allerdings gibt es im Gerichtswesen einen .Punkt, wo keine weiteren Berufungsverfahren mehr möglich sind. Aber das ist nur der Fall, weil die Entscheidung des Richters mit Hilfe der staatlichen Gewalt durchgesetzt werden kann. Weder in der Literaturkritik noch in den Sozialwissenschaften gibt es ein solches letztes Wort. Oder wenn es eines gibt, dann sind die Regeln der wissenschaftlichen Interpretation verletzt 'worden.
b) Vom Erklären zum Verstehen In der gleichen Dialektik des Verstehens können neue Aspekte sichtbar werden, wenn wir den umgekehrten weg gehen : vom Erklären zum Verstehen. Diese neue Gestalt der Dialektik ergibt sich aus der Bezugsfunktion des Textes. Diese Bezugsfunktion übersteigt, wie wir schon erläuterten, die nur ostentative Verweisung auf die dem. Sprecher und Hörer gemeinsame dialogische Situation. Diese Abstraktion von derumgebenden Welt läßt zwei 108
gegensätzliche Handlungen zu. Als Leser können wir in einem Zus_tand yer}:l3:rren, in dem jede Art eines konkreten Weltbezuges ·~uspe!J.diert bleibt; oder wir können die potentiellen nichtost-~ntativen Bezüge des Textes in einerneuen Situation, in der des Lesers, zum Leben erwecken. Im ersten Fall behandeln wir den Text wie eine weltlose Erscheinung; im zweiten Fall schaffen wir einen neuen ostentativen Bezug durch die Art des »Vollzugs«, in der die Kunst des Lesens besteht. Diese zwei Möglichkeiten sind 1m Akt des Lesens jedoch gleicherweise impliziert, wenn sie in ihrem dialektischen Zusammen4ang begriffen werden. · ·. ,. · : t ·· ·: · ··' · · · Der erste Weg des Lesens wird heute durch die verschiede~~n strukturalistischen Schulen der Literaturkritik exemplifiziert. Ihr Ansatz ist nicht nur möglich, sondern auch legitim. Er geht von der Suspendierung, der epoche, der ostentativen Bezüge aus. Lesen heißt hier, diese Suspcndierung von den ostentativen Bezügen zur Welt auszudehnen und sich selbst an die Stelle des Textes zu setzen, um innerhalb der Umzäunung dieses weltlosen Platzes zu bleiben. Dieser Entscheidung entsprechend hat der Text keine Außenbezüge mehr, er hat sozusagen nur noch eine Innenseite. Ohne Zweifel, die Konstitution des Textes als eines Textes und des Systems der Texte als Literatur erlaubt diese Umdeutung eines literarischen Gegenstandes in ein geschlossenes Zeichensystem - ähnlich dem geschlossenen System, das die Phonologie als die Grundlage des Diskurses aufdeckte, und das de Saussure »la Langue« nannte. Literatur wird, nach dieser Arbeitshypothese, zu einem Analogon von »la Langue«. Auf der Grundlage dieser Abstraktion kann eine neue Art von Verstehenseinstellung gegenüber dem literarischen Gegenstand erreicht werden, die - im Gegensatz zur Erwartung Diltheys nicht mehr den Naturwissenschaften, d. h. einem sprachfremden Wissensbereich, entlehnt ist. Der Gegensatz von Natur und Geist wird hier nicht mehr als entscheidend angesehen. Wenn hier ein Denkmodell angewandt wird, dann kommt es aus dem gleichen Bereich, aus dem semiologischen Bereich. Es ist daher möglich, Texte entsprechend den Elementarregeln der Linguistik zu interpretieren, die diese mit großem Erfolg auf die Analyse von elementaren Zeichensystemen, wie sie dem Sprachgebrauch zugrunde liegen, angewandt hat. Wir haben von der Genfer Schule, der Prager und der Dänischen Schule gelernt 11 , daß es 109
stets möglich ist, Systeme von Prozessen zu abstrahieren und diese Systeme - ob sie nun phonetischer, lexikalischer oder syntaktischer Art sind - auf Einheiten zu beziehen, die nur durch ihren Gegensatz zu anderen Einheiten im gleichen System definiert sind. Dieser . wechselseitige Zusammenhang von unterschiedlichen Einheiten innerhalb einer begrenzten Reihe solcher Einheiten definiert den Begriff der Struktur in der Linguistik. Dieses strukturale Modell wird nun auf Texte angewandt, d. h. auf Zeichenfolgen, die länger als ein Satz sind, der ja die letzte Einheit ist, die die Linguisten in Betracht ziehen. In seiner »Anthropologie Structurale« formuliert Claude Levi-Strauss seine Arbeitshypothese in bezug auf eine Kategorie von Texten, von Mythen nämlich~ folgendermaßen : »Wie jede andere linguistische Einheit setzt sich ein Mythos aus verschiedenen konstitutiven Einheiten zusammen. Diese konstitutiven Einheiten impli.:. zieren das Vorhandensein von jenen Einheiten, die in jeder Sprachstruktur vorkommen, nämlich von Phonemen, Morphemen und Semantemen. Jede dieser Formen unterscheidet sich von der vorhergehenden durch einen höheren Grad der Komplexität. Aus diesem Grunde wollen wir die Elemente, die sinnvollerweise als Mythen anzusprechen sind (und die die komplexesten aller Einheiten sind), >große konstitutive Einheiten< nennen.« 12 Mit Hilfe dieser Arbeitshypothese. können diese großen Einheiten, die zumindest dieselbe Größe wie ein Satz haben und die zusammengenommen die Fabel des Mythos erzählen, nach den gleichen Regeln analysiert werden wie die kleinsten Einheiten, die der Linguistik wohlvertraut sind. Um diese Ähnlichkeit zu betonen, spricht Claude Levi-Strauss auch von Mythemen genauso wie wir von Phonemen, Morphemen und Semantemen sprechen. Um im Rahmen dieser Analogie von den Mythemen und den Einheiten niedrigeren Grades zu bleiben, muß der Textanalytiker die gleiche Art der Abstraktion vollziehen wie sie von den Phonolagen praktiziert wird. Für die letzteren ist das Phonem nicht ein konkreter Ton, in seinem absoluten Sinn einer akustischen Qualität verstanden. Er ist nicht, um mit de Sa\lssure zu sprechen, eine »Substanz«, sondern ejne »Form», d. h. ein Wechselspiel von Beziehungen. Ähnlich ist ein Mythem nicht ein einzelner herausgelöster Satz eines Mythos, sondern ein Kon,trapunkt innerhalb eines »Bündels von Beziehungen«, wie LeviStrauss es nennt. »Nur in der Kombination solcher Bündel haben 110
die konstitutiven Einheiten eine Bedeutungsfunktion.« (S. 234) Was hier »Bedeutungsfunktion« genannt wird, i~t keineswegs das, was der Mythos meint, nämlich sein philosophischer oder existentieller Gehalt oder seine Idee, sondern das Arrangement, die Anordnung der Mytheme, kurz die Struktur des Mythos. Wir können in der Tat behaupten, damit einen Mythos erklärt zu haben, aber wir haben ihn nicht interpretiert; Wir können mit Hilfe der strukturalen Analyse die Logik dieses Mythos herauspräparieren, die Operationen, durch die die verschiedenen Bü11~ del von Beziehungen miteinander verbunden sind. Diese Logik konstituiert das »Strukturelle Gesetz des analysierten Mythos« (S. 241). Dieses Gesetz ist vqr allem ein Gegenstand des Lesens, keineswegs aber des Sprechens -im Sinne einer Rezitation, durch die die Kraft des Mythos in einer bestimmten Situation wiedererweckt werden soll. Hier ist der Text nur ein Text, gerade dank der Suspendierung seiner Bedeutung für uns, dank der Vermeidung seiner Aktualisierung durch den gegenwärtigen Redeakt. Ich möchte nun zeigen, wie das Erklären auf dem Verstehen aufgebaut ist und wie es auf diese Weise zu jener inneren Dialektik kommt, in der die »Interpretation« als Ganzes besteht. In Wirklichkeit bescheidet sich nämlich niemand mit einem so formalen Begriff des Mythos und der Fabel, wie die strukttiraJistische Algebra d~r konstitutiven Einheiten dies vorschreibt. Das kann auf verschiedene Weise gezeigt werden. Erstens sind selbst in der höchst formalistischen Darstellung der Mythen durch Levi-Strauss die Analyseeinheiten, welche er »Mytheme« nennt, als Sätze mit einem bestimmten Sinngehalt und bestimmten Bezügen formuliert. Kann jemand behaupten, daß ihr Sinngehalt als solcher neutralisiert wird, wenn sie begrifflich als ein »Bündel von Beziehungen« gefaßt werden, die allein für eine »Logik« des Mythos relevant seien? Selbst dieses Bündel von Beziehungen muß nämlich in der Form eines Satzes festgehalten werden. Schließlich würde diese Art von Sprachspiel mit seinem ganzen System von Gegensätzen und Kombinationen jeden erkennbaren Sinn verlieren, wenn die Gegensätze selbst, die nach Levi-Strauss in:>: Mythos miteinander vermittelt werden, keine sinnvollen Gegensätze wie Geburt und Tod, hell und dunkel, Eros und Logos wären. Wenn es diese existentiellen Konflikte nicht gäbe, gäbe es kerne zu vermittelnden Widersprüche und der Mythos hätte keine logische Funktion als Lösungsversuch dieser Wider111
sprüche. Die strukturale Analyse schließt die gegenteilige Hypothese, daß der Mythos einen Sinngehalt als Ursprungsfabel habe, nicht aus, sondern sie setzt sie gerade voraus. Die. strukturale Analyse unterdrückt nur diese Funktion. Aber sie kann sie nicht unterdrücken.· Der Mythos würde noch nicht einmal als logischer Operator fungieren, . wenn die Aussagen, die er miteinander verbindet, nicht auf eine Grenzsituation hinweisen würden. Die s.tr~kturale Analyse, die weit davon entfernt ist, mit dieser radikalen Frage fertig zu werden, verlagert sie nur auf eine höhere Ebene. Wenn es so ist, könnten wir dann nicht sagen, daß die Funktion der strukturalen Analyse darin besteht, von einer bloßen Oberflächen'-Semantik, der nämlich des erzählten Mythos, zu einer Tiefen-Semantik zu führen, der nämlich der Grenzsituationen, die den letzten Bezug des Mythos bilden? Ich glaube wirklich, daß die strukturale Analyse auf ein steriles Spiel, auf eine algebraische Zerlegung hinausliefe, wenn dies nicht ihre eigentliche Funktion wäre. Und selbst der Mythos würde jener Funktion beraubt, die ihm Levi-Strauss zuschreibt, nämlich der, den Menschen bestimmte Gegensätze bewußt zu machen und sie auf ihre Vermittlung hinzulenken. Diesen Bezug auf die Aporien der Existenz, um die das mythische Denken kreist, a~szuschalten, würde die Theorie des Mythos zu einem Nekrolog des sinnlosen Diskurses der Menschheit machen. Wenn wir. hingegen die strukturale Analyse als eine Zwischenstufe - und zwar als eine notwendige Stufe - zwischen der naiven und der kritischen Interpretation, zwischen Oberflächen- und Tiefen-Interpretation ansehen, dann wäre· es möglich, das Erklären und das Verstehen als die zwei Pfeiler eines beide verbindenden hermeneutischen Bogens zu betrachten. Es ist .gerade diese Tiefen-Semantik, die den e.lgendichen Gegenstand des Verstehens darstellt und die eine bestimmte Affinität zwischen dem Leser und der Art von Dingen voraussetzt, von denen der Text handelt. Wir sollten uns aber durch diese Behauptung einer persönlichen Affinität nicht verführen lassen. Die Tiefensemantik des Textes ist nicht das, was der Autor selbst zum Au.sdruck bringen wollte, sondern es ist das, von dem der Text handelt, d. h. er handelt von den nicht-ostentativen Bezügen des Textes. Und der nichtostentative Bezug des Textes ist jene Welt, die von der Tiefensemantik des Textes erschlossen werden kann. Was wir deshalb 112
verstehen wollen, ist nicht etwas hinter dem Text, sondern etwas, was offen zu Tage liegt. Was verstanden werden soll, ist nicht die urspr-Üngliche Situation des Diskurses, sondern der Verweis auf eine mögliche Welt. Verstehen hat nur wenig zu tun mit dem Autor und seiner Situation. Es möchte die durch den Text eröffneten Weltdeutungen begreifen. Einen Text verstehen heißt, seiner Bewegung vom SiilJl zum Bezug, von dem, was er sagt, zu dem, wovon er handelt~ folgen. In diesem Prozeß kann die Vennittlerrolle der strukturalen Analyse sowohl der Rechtfertigung dieses· objektiven Ansatzes wie der Korrektur des subjekti.:. ven Ansatzes dienen. Wir werden dann endgültig davor bewahrt, das Verstehen mit irgendeiner Art von intuitivem Erahnen der dem Text unterliegenden Intention zu verwechseln. Was wir über die Tiefensemantik, zu der die strukturale Analyse führt, gesagt haben, läßt uns den Sinn eines Textes gerade in seinem Aufforderungscharakter suchen, in der Aufforderung nämlich, den Text als Ausgangspunkt einer neuen Weltsicht zu nehmen und in einer bestimmten Weise zu denken. Nur so hat der Bezug auf die Tiefensemantik einen Sinn. Der Text spricht von einer möglichen Welt und von einer möglichen Weise der Orientierung in ihr. Die Dimensionen dieser Welt werden durch den Text eröffnet und ·bewußt gemacht. Diese Offenlegung ist das Äquivalent in der geschriebenen Sprache zum ostentativen -Bezug in der gesprochenen Sprache. Wenn wir deshalb die Sprache der. romantizistischen Hermeneutik, die von der Überwindung der Distanz, vom Zu-eigen-Machen, von der Annäherung des Entfernten, Fremden spricht, beibehalten wollen, kann das nur möglich sein, wenn wir ein wichtiges Korrektiv einführen. Das, was wir uns zu eigen machen - was wir uns aneignen -, ist nicht eine fremde·Erfahrung, sondern es ist ein Ergebnis unserer Bemühung, eine in den Bezügen des Textes angedeutete Welt ins Bewußtsein zu heben. Dieser Zusammenhang von Entschlüsselung und Aneignung ist, für meinen Begriff, der Angelpunkt einer Hermeneutik, die einerseits die Einseitigkeiten des Historismus überwinden kann und die andererseits der ursprünglichen Intention von Schleiermachers Hermeneutik treu bleiben will. Einen Autor besser zu verstehen, als er sich verstanden hat, heißt, die in seinem Diskurs eingeschlossenen Bewußtseinskräfte über den Horizont seiner eigenen existentiellen Erfahrung hinaus zu entfalten. Der Prozeß der Distanzierung, 113
der Entzeitlichung, den wir mit dem Begriff der Erklärung verbunden haben, ist die grundlegende Vorbedingung für diese Erweiterung des Texthorizontes. Diese zweite Figuration der Gestalt der Dialektik zwischen Erklären und Verstehen hat streng paradigmatischen Charakter für den ganzen Bereich der Humanwissenschaften. Ich möchte hier besonders drei Punkte hervorheben. Erstens kann das strukturelle Modell, das als Paradigma der Erklärung definiert worden ist, von einer Analyse von Texteinheiten auf die Analyse der sozialen Phänomene selbst ausgedehnt werden. Denn es ist in seiner Anwendung nicht auf linguistische Zeichen begrenzt, sondern ist auf alle Arten von Zeichen anwendbar, die in Analogie zu den linguisti~chen Zeichen zu begreifen sind. Die Verbindung zwischen dem Modell des Textes und den sozialen Phänomenen wird durch den Begriff des semiologischen Systems hergestellt. Ein linguistisches System ist, vom Standpunkt der Semiologie aus gesehen, nur eine Unterart der semiotischen Gattung - auch wenn dieses als Paradigma der anderen Spezies der Gattung gilt. Wir können deshalb davon ausgehen, daß ein strukturales Modell der Erklärung insoweit verallgemeinert werden kann, als allen sozialen Phänomenen ein semiologischer Charakter zugeschrieben werden kann, d. h. insoweit es möglich ist, die typischen Beziehungen eines semiologischen Systems auf den verschiedenen Ebenen zu definieren : die allgemeine Beziehung zwischen Kode und Mitteilung, die Beziehungen zwischen den speziellen Untereinheiten des Kodes, die Beziehungen zwischen dem Zeichengeber und dem Bezeichneten, die typische Beziehung innerhalb der und zwischen den sozialen Mitteilungen, die Struktur der Kommunikation als eines Austausches von Mitteilungen usw. Insoweit das semiologische Modell anwendbar ist, stellt die semiotische oder symbolische Funktion, d. h.· die Funktion der S~5stitution von Zeichen, mehr als einen nur sekundären Effekt des sozialen Lebens dar. Sie ist geradezu seine eigentliche Grundlage. Entsprechend dieser generellen Funktion des Semiotischen müssen wir davon ausgehen, nicht nur daß die symbolische Funktion sozial ist, sondern daß die soziale Wirklichkeit von Grund auf symholisch ist. Wenn wir diesen Gedanken weiterverfolgen, dann scheint die Art der Erklärung, die im strukturalen Modell impliziert ist,..sich vom klassischen Kausal-Modell grundsätzlich zu unterscheiden114
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besonders wenn die Kausalit~t im Humeschen Sinn verstanden wird als eine regelmäßige Abfolge von vorausgehenden und nachfolgenden ·Ereignissen; ohne innere logische Verbindung zwischen diesen. Strukturale Systeme implizieren Beziehungen einer ganz anderen Art, eher korrelative als lfonsekutive Beziehungen. Wenn das aber richtig ist, dann verliert der alte Streit über Motive und Ursachen, der die Handlungstheorie der letzten Jahrzehnte so schwer belastet hat, seine Bedeutung. Wenn die Aufdeckung von Korrelationen innerhalb semiotischer Systeme die Hauptaufgabe der Erklärung· ist, dann müssen. wir das Problem der Motivation von sozialen Gruppen neu formulieren . .Aber es ist nicht das Z~el dieses Aufsatzes, diese Implikation weiter auszuarbeiten. Der zweite paradigmatische Faktor in unserem Konzept der Textinterpretation geht von der Rolle der Tiefensemantik aus, die wir ihr als Verbindung zwischen der strukturalen Analyse und der (naiven) Aneignung zugeschrieben haben. Diese Vermittlungsfunktion der Tiefensemantik darf nicht übersehen werden, wenn der psychologistische· und subjektive Charakter ·der»Aneignung« vermieden werden soll; ihre genuin .f?pistemologische Funktion würde. damit verfehlt. Gibt es so etwas Ähnliches ~ie die Tiefen-Semantik des Textes auch bei der Interpretation sozialer Phänomene? Ich glaube sagen zu können, daß die Suche nach Korrelationen innerhalb und zwischen -sozialen Phänomenen, welche als semiotische Einheiten betrachtet werden, jeden Sinn verlieren würde, wenn es nicht etwas Ahnliebes wie eine Tiefen-Semantik auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften gäbe. In derselben Weise wie Sprachspiele Formen des Lebens sind nach dem berühmten Aphorismus von Wittgenstein -, sind soziale Strukturen ebenfalls Versuche, mit den existentiellen . Ängsten, Schwierigkeiten und tiefverwurzelten Konflikten fertl.g zu werden. In diesem Sinne haben diese Strukturen ebenfalls eine Verweisungsfunktion. Sie verweisen auf die Aporien der sozialen Existenz, auf die gleichen Aporien, um die das mythische Denken kreist. Und diese analoge Funktion der Verweisung hat die gleichen Züge, die wir dem nicht-ostentativen Bezug eines Textes zugeschrieben haben, d. h. die Entfaltung einer Welt, die nicht mehr nur Umwelt ist, der Entwurf einer Welt, die mehr ist als eine bloße Situation. Können wir nicht sagen, daß wir auch in den Sozialwissenschaften mit Hilfe der strukturalen Analyse fort:~
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schreiten von naiven zu kritischen Interpretationen, von Oberflächen-Interpretationen zu Tiefen-Interpretationen? Und es ist die Tiefen-Interpretation, die dem ganzen Prozeß erst seinen Sinn gibt. · Dieser Gedanke nun führt uns zu unserem dritten und letzten Punkt. Wenn wir das Paradigma der Dialektik von Erklären und Verstehen zu Ende denken, dann müssen wir annehmen, daß die sinnhaften Strukturen, die von einer Tiefen-Interpretation aufge. 'deckt werden sollen, nicht ohne eine Art persönlicher Bindung verstanden werden können - ähnlich dem Leser, der sich die Tiefen-Semantik eines Textes erschließt und sie sich »aneignet«, ] eder kennt die Einwände, denen eine Ausdehnung dieses Konzeptes der »Arieignung« auf die Sozialwissenschaften ausgesetzt ist. Wird damit nicht dem Eindringen persönlicher Vorurteile und subjektiver· Verzerrungen Tür und Tor .geöffnet? Werden damit nicht alle die Paradoxa des hermeneutischen Zirkels in die Humanwissenschaften eingeführt ? Mit anderen Worten: zerstört nicht gerade das Paradigma der »EntschlüsseJung« zusammen mit dem der »Aneignung« den eigentlichen ..ßegr~ff der Humanwissenschaften? Die Art und Weise, wie wir diese beiden Konzepte im Rahmen der rextinterpretation eingeführt haben, bietet uns jedoch nicht nur ein paradigmatisches Problem, sondern auch eine paradigmatische Lösung. Diese Lösung besteht nicht darin, die Rolle der persönlichen Bindung im Verstehen menschlicher Phänomene zu leugnen, sondern sie zu qualifizieren. Wie das Modell der Textinterpretation zeigt, hat Verstehen nichts zu tun mit einem unmittelbaren Begreifen fremdseelischen Lebens oder einer emotionalen Identifikation mit einem geistigen Gehalt. Das Verstehen ist durch und durch ve~mittelt durch den ganzen Komplex der explanatorischen Verfahren, die' ihm vorausgehen und die es begleiten. Das Pendant dieser persönlichen Aneignung ist nicht irgendein Gefühl, sondern es ist der dynamische Sinn, der durch die Erklärung freigesetzt wird und den wir früher ab den Bezug des Textes definierten, d. h. die Fähigkeit, eine Welt zu erschließen. Der paradigmatische Charakter der Textü;terpretation m~ß bis in seine letzte Implikation ausgearbeitet werden. Das heißt, daß die Bedingungen einer authentischen Aneignung, wie sie anband eines Textes erkennbar werden, selbst paradigmatischen Charakter tragen. Deshalb dürfen wir den .letzten Akt der persönlichen 116
Bindung aus dem Zusammenhang der objektiven und explanatorischen Vedahren, die sie vermitteln, nicht ausschließen. Diese Modifikation des Begriffs der persönlichen Bindung kann den »hermeneutischen Zirkel« nicht beseitigen. Dieser Zirkel bleibt eine ~mausweichliche Strukturbedingung des Wissens, insoweit es menschliche Angelegenheiten betrifft ; aber diese Modifikation bewahrt ihn davor, ein Circulus vitiosus zu werden. Im Grunde besteht der >>hermeneutische Zirkel« in nichts anderem als in der dargestellten_ Beziehung von Erklären und Verstehen und_ von Verstehen und Erklären.
Anmerkungen 1 Anthony Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963. 2 John Austin, How to Do Things with Words, Cambridge, Mass., 1962. 3 John Searle, Speech Acts, London 1969, S. 56 (deutsch: Sprechakte, Frankfurt a. M. 1971). . 4 J. Feinberg, Reason and Responsibility, Belmont, Calif. 1965. 5 Peter Winch, The I dea of Social Science, London 1958 (deutsch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt 1966). 6 Eric D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven, Conn., 1967, S. 25: »The act of understanding is at first a genial (or a mistaken) guess and there are no methods for making guesses, no rules for generating insights ; the . methodological activity of interpretation commences when ~e begin to test and criticize our guesses.« Und weiter: »A mute symbolism may be construed in several ways.« 7 Paul Rica:ur, Le conflit des interpretations, Paris 1969 (ed. Anm.). 8 Immanuel Kant, Die Kritik der Urteilskraft, 1790 (ed. Anm.). 9 Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, New York 1959 (deutsch: Logik der Forschung, Tübingen 1966 ). 10 H. L. A. Hart, >>The Ascription o~ Responsibility and Rights«, in: Proceedings of the Aristotelian Society-49 (1948), S. 171-194. 11 Vgl. Jan M. Broekman, Strukturalismus, Freiburg und München 1972 (ed. Anm.). 12 Claude Levi-Strauss, Anthropologie Structurale, Paris 1958, S. 233 (deutsch: Strukturale. Anthropologie, Frankfurt a. M. 1967).
Michael Polanyi Sinngebung und Sinndeutung Ich möchte hier untersuchen, wie wir unseren Aussagen Bedeutung verleihen und wie wir vernommener Sprache Sinn geben. Ich werde zeigen, daß es sich dabei um Akte handelt, die ungeachtet ihres informalen Charakters eine charakteristische Struktur besitzen, welche ich die >Struktur · unausdrücklichen Erkennens< nennen werde. Ich werde zeigen, daß eine solche Struktur zu bilden gleichbedeutend ist mit der Verleihung von Bedeutung. In beiden Fällen, wenn wir unseren eigenen Äußerungen und den Äußerungen anderer Bedeutung geben, handelt es sich um Akte unausdrücklicher Erkenntnis, und zwar um Sinngebung und Sinndeutung. Meine Untersuchung bezieht sich auf die Gesamtstruktur der Sprache, ebenso auf die formalen Strukturen, die durch die moderne Linguistik mit Erfolg aufgewiesen worden sind, als auch auf die informale semantische Struktur, die bisher vor allem Gegenstand der Philosophie gewesen ist.
(1) D{e Trias der unausdrücklichen Erkenntnis Unausdrückliche Erkenntnis verknüpft drei Koeffizienten: eine Trias. Diese Trias ist der Trias der stoischen Logik verwandt: Für die Person A bedeutet das Ding B ein Objekt C. Anders gesagt: Eine Person A gibt dem Wort B die Bedeutung des Objektes C, oder auch: Die Person A vermag das Wort B in einen Zusammenhang mit Beziehung auf C zu integrieren. Ein Ding B in einen Zusammenhang mit Beziehung auf C zu integrieren heißt, B eine Bedeutung geben, welche sich auf C bezieht. Eine offenkundige Beziehung dieser Art besteht in der Verweisung von B auf C. Nehmen Sie einen Vortragenden, der mit seinem Finger auf ein Objekt zeigt und das Publikum auffordert: Sehen Sie dorthin. Das Publikum wird dem Zeigefinger folgen und auf das Objekt blicken. Es besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen der ATt und Weise, in der wir unsere Aufmerksamkeit auf den Zeigefinger und auf das Objekt richten. Das Objekt steht im Brennpunkt 118
unserer· Aufmerksamkeit, während der Finger nicht im Brennpunkt gesehen wird, sondern als ein Hinweis auf das Objekt. Diese richtungweisende oder vektöriale Art, dem Zeigefinger zu folgen, werde ich unsere >Hilfswahrnehmung< des Fingers ne_n~ nen. Es ist unsere >Hilfswahrnehmung< des Fingers, wdche ihm eine Bedeutung gibt: eine Bedeutung, welche auf das Objekt hinweist. Die bedeutungsvolle Beziehung eines Hilfsdinges zu dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit wird durch eine Aktion der Person gebildet, indem diese das Hilfsding auf das Brennpunktobjekt integriert. Diese Beziehung dauert an; sofern die Person diese Integration aufrechterhält. · Zusammenfassend ist- zu sagen, die Trias unausdrücklichen Erkennens besteht in Hilfsobjekten, die sich auf die Dinge um einen Brennpunkt beziehen, kraft einer von einer Person vollzogenen Integration. Wir können auch so sagen, daß wir im unausdrücklichen Erkennen von einem oder mehreren Hilfsdin...: gen aus unsere Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt richten, auf den diese Hilfsdinge zu verweisen bestimmt sind.
(2) Verschiedene Typen unausdrücklichen Erkennens Betrachten wir nun eine Reihe verschiedener Fälle, in denen wir diese Bedeutungsstruktur unausdrücklichen Erkennens vorfin-_ den. a) Nehmen wir die praktische Geschicklichkeit. Hier finden wir eine Reihe elementarer Bewegungen, die zur Erfüllung eines· gemeinsamen Zweckes integriert werden. Diese Elemente bilden die Hilfsmittel jenes zentrierten Aktes. Wir richten unsere Aufmerksamkeit von ihnen aus auf ihr integriertes Resultat; dies ist ihre Bedeutung. Unser Wissen um diese Bedeutung ist also gewissermaßen ein >Von- au/Wissen<, b) Ähnliches gilt, wenn wir eine Physiognomie deuten; Die verschiedenen Gesichtszüge, welche die Stimmung einer Person ausdrücken, sind Schlüssel oder Hilfsmittel, die auf den stimmungsmäßigen Eindruck verweisen, den sie alle gemeinsam bilden. Wir richten unsere Aufmerksamkeit von jenen Zügen auf die Stimmung selbst hin, indem wir jene in die Erscheinung der Stimmung integrieren. Diese Physiognomie und die durch sie ausgedrückte Stimmung bilden die >Bedeutung< jener Gesichtszüge. 119
c) Unser nächstes Beispiel bildet die Orientierung im Dunkeln mit Hilfe eines Stockes. Der Impuls, der vom Ende des Stockes in unserer Hand auf diese ausgeübt wird, dient dazu, die Lage des Objektes zu empfinden, welches durch das entlegene Ende des Stockes berührt wird. Tatsächlich spüren wir die Impulse, die auf unsere Handfläche und die Finger ausgeübt werden, als wären sie dort, wo der Stock sein Objekt berührt. Mit anderen Worten, der Berührungsimpuls, der- auf unsere Hand ausgeübt wird, hat die Bedeutung einer bestimmten Position des Objektes, und zwar des Ortes, wo der Stock das Objekt berührt. Sinngehung bewirkt hier .. Verlagerung von Wahrnehmungen von der eigenen Hand aufden äußeren Punkt, den der Stock berührt. d) Wir können schließlich den Fall einer geistigen Geschicklichkeit nehmen. Ein Schachspieler erkennt beim Schachspielen die Art und Weise, in der die Schachfiguren insgesamt auf seine Chancen verweisen, das Spiel zu gewinnen. Dies ist die zusammengefaßte Bedeutung der Schachfiguren für den Schachspieler, sofern er aus ihrer Stellung die Wahl für seinen nächsten Zug unmittelbar erschließt. :Oie Integration der Figuren bewirkt einen Schluß von deren Stellung auf den Zug.
· (3) Die Erkenntnis unseres Körpers als Beispiel
der unausdrücklichen Erkenntnis In all unseren Wechselwirkungen mit der uns umgebenden Welt gebrauchen wir unseren Leib als Instrument. Dieser Gebrauch ist von der Art einer Geschicklichkeit. Wenn wir unsere Augen auf ein sich bewegendes Objekt fixieren und zu erkennen suchen, was es für uns darstellt, so ist dies eine aufmerksame, von Intelligenz bestimmte Operation. Diese interpretiert Dutzende .von Seh- und Erinnerungsmethoden, von Muskularempfindungen usw., die als Schlüssel einer einheitlichen Wahrnehmung · dienen. Dies gilt für alle Beispiele unausdrücklichen Erkennens, die ich aufgezählt habe : all diese beruhen auf einer bedeutungsvollen Integration unseres Leibes und. der von ihm gespürten · Empfindungen. Es ist auf diese Art und Weise, daß wir gewöhnlich unseres eigenen Körpers gewahr werden. Unsere inneren Teile spüren wir direkt nur dann, wenn wir Schmerzen empfinden, und auch die 120
äußere Erscheinung unseres Körpers wird nur selten direkt von uns betrachtet. Es ist die hilfsweise Empfindung unseres Leibes, die uns diesen als unseren eigenen Leib spüren läßt. Dies ist die Bedeutung, die unser Leib gewöhnlich für uns hat. Dinge wie Kleider, Brillen, Geräte und Handwerkszeug funktionieren in ihrem Gebrauch wie unser Körper selbst und werden in diesem Falle wie dieser nur sehen direkt wahrgenommen. Wir spüren auch ein äußeres Objekt, wenn es hilfsweise funktioniert, analog wie unseren Körper selbst. Und daher können wir sagen, daß in diesem Sinne alle hilfsweisen Momente der Wahrnehmung sich im Inneren des Körpers befinden, in dem wir leben. Somit sind wir in allen hilfsweise ~rfahrenen Dingen selbst versenkt. Um zusammenzufassen: Bedeutung entsteht dadurch, daß Momente innerhalb oder außerhalb unseres Leibes als Schlüssel zur Wahrnehmung gebraucht und als solche zur 'Einheit einer Wahrnehmung integriert werden. Jede Bedeutung eines Äußeren geht darauf zurück, daß wir äußere Dinge hilfsweise wie unseren Leib selbst gebrauchen. Wir können sagen, daß wir diese Dinge >verinnerlichen< oder· auch daß >wir uns in sie versenken<. Durch unsere Verinnerlichung geben wir ihnen ihre Bedeutung, das heißt, den Hinweis auf etwas, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten. Diese Überlegung macht uns mit zwei wichtigen Zügen der Sinngebung bekannt. Unser Leib und seine Organe sind uns von Geburt an gegeben, und es kann offenbar keine Frage sein, daß wir sie zum Zwecke einer Sinngebung verkörpern würden. Um die Bedeutung unseres Leibes zu bereichern, müssen wir nur dessen Bewegungen ko~rdinieren und die sensorischen Elemente, sofern sie auf den Druck äußerer Ereignisse reagieren, in einer Einheit zusammenfassen. Die Lage ist anders, wenn es sich um äußere Dinge handelt, denen wir eine Bedeutung geben. Der Prozeß der Integration assimiliert sie unserem Leibe, und soweit beraubt er sie ihres Charakters als äußerliche Objekte. Nehmen wir z. B. zwei Stereobilder, von denen wir ausgehen, auf die wir als zwei getrennte Objekte blicken können. Wenn wir diese verinnerlichen, verschwinden sie in einem einzigen Bild von gewisser Raumtiefe. Ebenso entsteht eine Veränderung in der Erscheinung gesprochener oder geschriebener Worte, wenn sich ihre Bedeutung bildet und wir unsere Aufmerksamkeit von den Worten auf das hin richten, was sie meinen. Ein Wort, welches 121
direkt betrachtet wird, d. h. als eine Folge von Tönen oder von Zeichen auf dem Papier, erscheint uns als ein bedeutungsloser äußerer Gegenstand. Durch seine Assimilation, die es zu einem hilfsweisen Moment macht, verliert das Wort die undurchsichtige Äußerlichk~it eines Objektes. Sein bedeutungsvoller Gebrauch führt dahin, daß es seines gegenständlichen Charakters verlustig geht, und uns erlaubt, durch ihn hindurch auf seine Bedeutung zu blicken. Noch eine andere merkwürdige Tatsache ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Wenn wir Teile unseres Körpers koordinieren, um irgendeine äußere Bewegung zu machen, sind in unseren Operationen viele verborgenen inneren Momente eingeschlossen, die wir gewöhnlich nicht kennen. Es ist eine charakteristische Fähigkeit unseres Leibes, daß er Einzelheiten, die uns unbekannt sind, einer Operation unterwirft und daß diese weitgehend unspezifizierbaren Operationen nicht durch direkt kontrollierte Operationen ersetzt werden können. Dies gibt uns eine Evidenz unserer Fähigkeit, Dinge zu integrieren und mit Bedeutung zu versehen, von denen wir nur eine hilfsweise Wahrnehmung besitzen. Diese Tatsachen sin4 wesentlich für die Erforschung der Sprache. Es könnte keine Phonetik geben, wenn wir nicht imstande wären, ein komplexes Muster vokaler Aktionen zu kontrollieren und bedeutungsvoll zu gebrauchen, ohne explizite Kenntnisse dessen, was wir tun, indem wir diese Laute auf unsere W ortäußerungen beziehen. Dasselbe gilt hinsichtlich der Anwendung der Grammatik. Gewöhnlich vollziehen ·wir diese schwierigen und bedeutungsvollen Integrationen, ohne imstande zu sein, mehr als nur eine rohe Erklärung für diese hilfsweisen Aktionen geben zu können. Dieses nicht näher zu spezifizierende Vermögen des Verstand es wird noch verdeutlicht werden. Sinngebung hat ihr Gegenstück in einem umgekehrten Prozeß der Sinnberaubung. Ich habe die Veränderungen im Erscheinungsbild der äußeren Dinge beschrieben, die eintreten, wenn wir ihnen Bedeutung verleihen. Sie verlieren ihren körperlichen Charakter und werden gleichsam transparent, und zwar dadurch, daß wir den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit vom äußeren Objekt weg auf dasjenige richten, was seine Bedeutung geworden ist. Der umgekehrte Prozeß findet statt, wenn der Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit auf das Objekt zurückschwingt, wobei 122
dieses wiederum für uns ein .äußeres wird. Insofern es den Status der Äußerlichkeit wieder annimmt, büßt es dann auch seine Bedeutung ein. Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, daß ein Wort dadurch, daß es genügend oft wiederholt wird und wir genau auf unsere Lippen und Zunge und die von ihnen hervorgebrachten Geräusche ach~en, zu einer bedeutungslosen Äußerung von Tönen wird. Die Tatsache, daß eine Veräußerlichung die Bedeutung tötet, bestätigt das sinngebende Vermögen der Verinnerlichung~
(4) Triaden von Triaden Es mag merkwürdig erscheinen, daß das Objekt C, welches im Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit steht, oft bedeutungsvoller ist als das B, von dem aus wir auf C blicken. Während z. B. die Züge eines Gesichtes ihre Bedeutung in einer Stimmung haben, ist die Stimmung selbst bedeutungsvoller als die Gesichtszüge. Und während die Bedeutung einer Reihe von Wörtern in dem Satz liegt, den sie bilden, ist der Satz bedeutungsvoller als die Wörter, die ihn zusammensetzen. Solche aufeinanderfolgenden Stufen der Bedeutung sind weitverbreitet. Sie bilden eine Folge von Triaden. Aber es bleibt eine·besondere triadischeFolge, die uns wichtiger ist, weil sie auf das Hauptproblem der Sinngebung und Sinndeutung ein Licht wirft. Nehmen wir an, wir reisen in einem Land~ welches wir vorher noch nie besucht haben. Des Abends sind wir voll neuer Erfahrungen, die wir nun in einem Brief einem Freunde mitteilen. Der Freund wird unsere Mitteilungen lesen und unsere Erfahrungen zu verstehen versuchen. Dabei handelt es sich um eine Folge von drei Integrationen. Die erste ist ein vernünftiges Verständnis von Wahrgenommenem und Erlebtem. Die zweite ist die Synthese einer Darstellung dieser Erfahrung in Worten und die dritte die Interpretation dieser sprachlichen Darstellung in der Absicht, die mitgeteilte Erfahrung zu reproduziere1,1. Die ersten beiden Integrationen sind das Werk der einen Person, während die letzte von der anderen Person ausgeführt wird, welche die Mitteilung erhalten hat. Wir können auch eine~ Unterschied im Charakter dieser drei aufeinanderfolgenden Integrationen feststellen. Die erste Triade 123
ist im wesentlichen kognitiv; sie hat eine Struktur, die wir im W ahrnehmungsprozeß antreffen. Die zweite Triade, welche das Resultat der ersten in Worte faßt, hat mehr Ahnlichkeit mit der Verwirklichung einer praktischen Geschicklichkeit, während die dritte wiederum mehr von der Art des kognitiven Typus ist, indem sie Wahrnehmungselemente zu einer bedeutungsvollen Erfahrung integriert. Die erste Triade stellt mehr. eine Sinndeutung dar, die zweite mehr eine Sinngebung und die dritte wiederum eine Sinndeutung.
(5)
Erf~rung
und Erfahrungsbericht
Eine direkt beobachtete bedeutsame Erfahrung unterscheidet sich ihrer Struktur nach von einer indirekten, etwa durch einen Brief überniittelten. Der Brennpunkt der Bedeutung bezieht sich in diesen Fällen auf zwei sehr verschiedene Triaden. Die erste Triade (die der Erfahrung) wird durch die Integration wahrgenommener Objekte gebildet, die sich unseren Sinnen einzeichnen, während die Triade des Berichtes die Bedeutung geschriebener Wörter integriert. Im ersten Fall erfahren wir Sinnesqualitäten, die nicht durch 'die Lektüre eines Briefes gewonnen werden können. Wir können sagen, · daß die erste Bedeutung unmittelbar erfahren wird,-~ährend die zweite nur in Gedanken gegenwärtig ist. Aber der Unterschied ist nicht scharf. Wenn ich mit meinem Finger auf ein Objekt weise, meine ich dieses Objekt, und so stellt dieses Objekt die Bedeutung meines Zeigefingers dar. Diese Relation kann ich auch verbal ausführen, indem ich das Objekt benenne, auf welches ich zeige. Immerhin bildet die Erscheinung des Objektes niemals den absoluten Endpunkt unserer Aufmerksamkeit. Denn sogar, wenn wir auf ein klar umrissenes Objekt blicken, wissen wir, daß es sich auch auf mannigfache andere Weise bemerkbar machen kann. In anderen Fällen kann der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit überhaupt gänzlich unrealisierbar sein. Je weniger konkret faßlich der Brennpunkt ut1serer Aufmerksamkeit ist, desto geistiger ist die. Daseinsweise unseres Objektes. Von einer Bed~utung, die in einem Objekt besteht, gehen wir kontinuierlich über zu einer Bedeutung, die in einem Begriff gegeben ist. Auf diese Weise wird hier der Konflikt zwischen zwei Ansieh124
ten gelöst: der einen, daß die denotative Sprache sich auf Objekte bezieht, und der anderen, der klassischen Ansicht, daß die Sprache auf Begriffe bezogen ist. Beide Möglichkeiten bestehen, und zwischen ihnen gibt es einen kontinuierlichen Übergang. Aber von Begriffen zu sprechen ruft ein altes logisches Problem wieder auf den Plan. D~r Reisende, der eine Landschaft bewundert, sieht Einzelbilder von Bäumen, Feldern, Flüssen etc. Um die von ihm bewunderte Szenerie mitzuteilen, muß sich seine Erfahrung in allgemeinen Ausdrücken darstellen, welche die Einzelfälle nicht zu übertragen imstande sind. Während diese einzelnen Erfahrungen .seine privaten Erinnerungen bleiben, wird ein Bericht dem Leser nur einen Begriff von seinen Erfahrungen übermitteln. Die Frage ist, wie ein solcher Begriff auf eine Menge verschiedener Einzelfälle Anwendung finden kann, und zwar so, daß die Nennung des Begriffes eine Mitteilung davon geben kann, daß ein Einzelfall desselben beobachtet wurde. Das alte Problem, wie ein allgemeines Wort eine .Menge verschiedener Dinge umfassen kann, kehrt hier wieder als das Problem der verbalen Kommunikation. Das gleiche Problem findet sich umgekehrt wieder in der Wortwahl des Briefschreibers, der seine Erfahrungen mitteilen will. Ich habe den unausdrücklichen Prozeß des Verstehens von Erfahrung und des Verstehens des Erfahrungsberichtes als zwei Akte der Sinndeutung beschrieben. In dem Prozeß, in dessen Verlauf ein Briefschreiber Wörter auswählt, um seine Erfahrung zu beschreiben, trafen wir einen Akt von Sinngebung an. Angesichts der Weise, in der hier allgemeine Begriffe eingehen, können wir sagen, daß diese Art Sinngebung ein Akt begrifflicher Subsumtion ist, während wir das vernünftige Verständnis einer Beschreibung einen Akt begrifflicher Exemplifikation nennen können. Um sprachliche Kommunikation zu verstehen, bedarf es also einer Lösung des Universalien-Problems. Wir müssen erklären können, wie ein einzelnes Wort auf eine Vielzahl von Objekten Anwendung finden kann, die im einzelnen .differieren. Ein Versuch von F. Waismann 1945 zur Beantwortung dieser Frage hat weite Aufmerksamkeit gefunden. Er erklärte, daß allgemeine Ausdrücke eine offene Textur besitzen, welche Differenzen in den Einzelfällen gestatte. Aber auf diese Weise wird die Frage nur verschoben. Denn zu sagen, daß ein Wort >offene Struktur< hat, ist bloß eine Anspielung auf die Tatsache, daß von emer 125
unbestimmt ausgedehnten Reihe von Dingen das Wort auf eine Anzahl dieser Dinge, aber nicht auf den Rest paßt. Die Frage aber, wie dieses geschieht, bleibt genau so offen wie Z1J.VOr. Kant schrieb über den Prozeß der Subsumtion von Einzelfällen unter den Allgemeinbegriff, daß es sich dabei um eine Kunst handele, die so tief in der menschlichen Seele verborgen sei, daß wir kaum je das Geheimnis ergründen würden, welches Natur hier anwendet. Das Geheimnis war tatsächlich unzugänglich, solange man nach einer expliziten Verfahrensweise der Subsumtion Ausschau hielt und in dieser nicht das Werk einer unausdrücklichen Verstandesoperation erkannte. Ich will nun dieses Prinzip unausdrücklicher Subsumtion erklären. Nehmen wir als Beispiel die Betrachtung stereoskopischer Bilder. Es gibt hier unscheinbare, aber wesentliche Differenzen in den korrespondierenden Einzelheiten des Bilderpaares. Und sofern diese in einer Einheit zusammen gesehen werden, werden die Ungleichheiten in ein einzelnes Bild mit einer neuen Qualität ausgedrückt. Keine explizite Verfahrensweise kann diese Integration hervorbringen. Unser Begriff des Menschen ist in einer ähnlichen Weise gebildet. Er entsteht durch die unausdrückliche Integration zahlloser Edahrungen, die wir mit in jedem Punkte verschiedenen menschlichen Wesen gemacht h~ben. Alle diese verschiedenen Erfahrungen sind eingeschlossen in der Bildung des Begriffes Mensch. Sie werden alle hilfsweise gebraucht in Beziehung auf den Begriff des Menschen, den wir mit dem Wort >Mensch< bezeichnen und in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit stellen können.
(6) Unausdrückliches und explizites Schließen Lassen Sie mich hier vor einem Mißverständnis warnen : Ich habe von zwei Arten des Gewahrwerdens gesprochen, die im unausdrücklichen Erkennen als eine niedrigere und höhere Stufe inbegriffen sind. Aber es würde ein Mißverständnis se~n, die hilfsweise Wahrnehmung mit einer unterbewußten oder vorbewußten Wahrnehmung oder mit dem >Bewußtseinssaum< zu identifizieren, wie ihn William James beschreibt. Wenn ich e~_)len Brief schreibe, bin ich des Federhalters und des gebrauchten Papieres voll und ganz gewahr. Die Tatsache, daß ich meine 126
Aufmerksamkeit nicht auf diese Dinge richte, sondern von di~seU: weg auf ihre Bedeutung blicke, reduziert sie auf einen bloß~n hilfsweisen Status. Aber mein Wissen wird dadurch nicht unterbewußt oder vorbewuß_t oder von der Art des undefinierbaren Saumes im Sinne von James. Umgekehrt, wenn eine Integration auf Schwierigkeiten trifft und dadurch eine anstrengende Reflexion in uns wachgerufen wird, muß die Integration dadurch nicht weniger unausdrücklich werden. Der Seemann, der seine Augen angestrengt zusammenschließt; um auszum!lchen, was er ani Horizont sieht, oder der Athlet, der jede Fiber seines Körpers konzentriert, während er sich dem Sprungbalken nähert, verfährt nicht nach ausdrücklicher Berechnung. Und sogar in den höchsten mathematischen · Wissenschaften ist der Weg der Entdeckung wesentlich eine unausdrückliche Operation. Es ist die Funktion der hilfsweisen Wahrnehmungen, die sie als Hilfsmittel kennzeichnet. Wir können in der Tat von einer logischen Funktion der Hilfswahmehmung reden. Wenn ich z. B. visuelle Elemente als ein einziges kohärentes Objekt sehe, ist die Relation zwischen meiner Wahrne.b.mung dieser Elemente und dem davon abgeleiteten Wissen vom Objekte der Beziehung zwischen den Prämissen und einer darausfolgenden Konklusion analog. Elemente des Sehens gehen hier in ein Verfahren unausdrücklichen Schließens ein, in dem ·die Integration die Deduktion ersetzt. Auch die . Vollbringung einer Geschicklichkeit kann als eine logische Operation angesehen werden, indem man die geschickte Koordinierung verschiedener Bewegungselemente als einen Prozeß der Konstruktion ansieht, etwa der Konstruktion eines Dreiecks aus drei Elementen vergleichbar, wobei hier die Integration die Stelle der Konstruktion mit Zirkel und Lineal einnimmt. Wenn aber · diese These eines unausdrücklichen Erkennens akzeptiert wird, wie ist dann ausdrückliches Wissen zu erklären, auf welches das ausdrückliche Schlußverfahren hinführt? Scheint nicht dieser These zufolge das unausdrückliche Erkennen alles diskursive Denken zu ersetzen ? · Die Antwort auf diese Frage ist nicht weit zu suchen. In meinein Beispiel von dem Reisenden, der seinem Freund einen Brief schreibt, trafen wir zu Beginn eine rein unausdrückliche Erfahrungserkenntnis. Sowohl die hilfsweise als auch die zentrale Wahrnehmung waren unausdrücklich. In der nächsten Phase 127
wurde die zentrale Wahrnehmung hilfsweise in einem Brief überführt, der auf diese Weise ein Stück expliziten Wissens da~stellte, dessen Bedeutung aber unausdrücklich war. Alles Erkennen fällt demnach unter eine der beiden Möglichkeiten: Es ist entweder unausdrücklich oder es wurzelt in einer unausdrücklichen Erkenntnis. Das Ideal einer streng expliziten Erkenntnis ist somit selbstwidersprüchlich. Ihrer unausdrücklichen Koeffizienten beraubt, werden alle ausgesprochenen Worte, alle Formeln, alle Landkarten und graphischen Darstellungen schlechthin bedeutung$los. Selbst eine exakte mathematische Theorie bedeutet nichts, sofern. ihr nicht ein nichtexaktes, unmathematisches Wissen zugrunde liegt urid eine Person in ihrem Urteil diese Beziehung aufrechterhält, Das falsche Ideal einer streng expliziten Erkenntnis wurde mit größtem Eifer im 20. Jahrhundert durch den modernen Positivismus vedolgt; es sollte aufgegeben werden.
(7) Die Natur der Bedeutung Wir müssen uns nun der elementaren Tatsache zuwenden, daß ein Wort überhaupt etwas bede~ten kann, im einfachsten Falle ein einzelnes Objekt. Die glänzenden Fortschritte der modernen Linguistik im Bereich der Phonetik und der generativen Grammatik haben kein neues Licht auf die Tatsache gewoden, daß Spradie überhaupt etwas bedeutet. Dieser Mangel hat die gleiche Ursache, welche auch die Funktion der Universalien unerklärbar machte. Die Beziehung eines Wortes zu dem von ihm Bezeichneten wird durch eine unausdrückliche Integration hergestellt, in der wir uns einer hilfsweisen Wahrnehmung des Wortes bedienen, um unsere Aufmerksamkeit auf die Dinge zu lenken, die durch das Wort bezeichnet werden. Die unausdrückliche Erkenntnis muß anerkannt werden, um die Bedeutung eines Wortes zu verstehen ; ohne das geht es nicht. Wir haben gesehen, wie diese Integration das Wort. seiner Existenz als eines beobachteten Körpers. beraubt und es in gewisser Weise transparent macht; ebenso auch, daß die Verinnerlichung des Wortes und die dadurch verwirklichte Bedeutung ausgelöscht werden kann dadurch, daß unsere Aufmerksamkeit auf das Wort selbst zurückgelenkt · wird und dieses in ein 128
undurchsichtiges und bedeutungsloses Objekt verwandelt wird. In ein solches Objekt wird Sprache jedesmal verwandelt, wenn wir versuchen, Bedeutilng durch ein explizites Verfahren zu interpretieren. Nehmen wir die folgende Formulierung der Bedeutung eines Wortes durch Charles Morris: »Der ZeichenTräger selbst ist ein bloßes Objekt und seine Bezeichnung anderer Objekte hat darin ihren Grund, daß Gebrauchsregeln existieren, welche die beiden Objektreihen korrelativ verbinden.« Diese Anschauung .läuft darauf hinaus, daß Wörter in bloße Töne verwandelt und dann der Anwendung von Regeln unterworfen werden, die der ursprungliehen Bedeutung entsprechen sollen. Wir sehen hier das falsche Ideal einer streng expliziten Erkenntnis am Werke. Denn die Regeln, die die unausdriickliche Bedeutung ersetzen sollen, müßten ihrerseits in ihrer Bedeutung durch eine neue Reihe von Regeln bestimmt werden, und so weiter ins Unendliche. Auch kann man ja solche Regeln überhaup~ nur verstehen, indem man sich auf die Bedeutung jener Ausdrücke stützt, die die Regel angeblich ersetzen sollen.
(8) Die Dynamik unausdrücklicher Erkenntnis Ich komme nunmehr zu sprechen auf zwei Kernprobleme der Linguistik, welche von Noam Chomsky formuliert worden sind. Das erste ist, daß das Kind in der Erwerbung der Sprache eine vom formalen Gesichtspunkt aus äußerst schwierige abstrakte Theorie mit erwirbt. Man muß nur die Seiten struktureller und generativer Linguistik .durchblättern, um sich zu verwundern, woher der normal sprachkundige Mensch die Praxis eines solchen Gewebes von komplizierten Vorschriften erworben haben mag. Das zweite Problem von Chomsky bezieht sich auf eine andere fundamentale Tatsache im normalen Gebrauch der Sprache, nämlich auf die Fähigkeit des Sprechenden, neue Sätze hervorzubringen und augenbücklieh zu verstehen - Sätze, die den bisher bekannten unähnlich sind, und durch keine Art von Verallgemeinerung, wie die Psychologie oder Philosophie sie kennt, ableitbar sind. Um an diese Fragen heranzurücken, muß ich meine Grundlage erweitern. Bisher habe ich von der Fähigkeit zur unausdriicklichen Integration gesprochen, ohne klar auf die Dynamik unaus129
drückliehen Erkennens einzug~hen. Ich möchte daran erinnern, daß der Besitz praktischer Geschicklichkeit einen Fall unausdrücklicher Kenntnis darstellt. Nehmen wir also den Fall des Radfahrens und fragen wir uns, auf welche Weise ein Anfänger diese Fertigkeit erwirbt, einschließlich der Regeln, die ihn im Sattel halten werden. Die Regel, durch die der Radfahrer sich im Gleichgewicht hält, kann annähernd ausgedrückt werden durch eine mathematische Formel. Die Formel lautet, daß jede zufällige Gleichgewichtsschwankung durch eine Fahrtkurve ausgeglichen werden muß,. und zwar so, daß der Radius der momentanen Kurve proportional sei dem Quadrat der Geschwindigkeit, dividiert durch den Winkel der Abweichung des Rades von der Vertikale. Es hat offenbar keinen Sinn, eine Person, die das Radfahren erlernen will, anzuweisen, dieser Gleichgewichtsformel zu gehorchen. Diese kann niemals anders als hilfsweise wahrgenommen und hilfsweise befolgt werden. Aber das kann sie. Die allgemeine Erfahrung zeigt auch, daß diese Formel im Gebiet hilfsweiser Wahrnehmung auch sehr wohl angeeignet werden kann. Die Art und Weise, in der das geschieht, ist hier entscheidend. Sie stellt sich allmählich ein als Gegenreaktion zum festen Streben der Einbildungskraft auf die Erhaltung des Gleichgewichtes. Die forschende Einbildungskraft schießt sozusagen vorwärts, über die Hilfselemente ihrer tatsächlichen Möglichkeit hinaus, und indem sie auf diesem Vorstoß beharrt, ruft sie ihre eigenen fehlenden Hilfsgründe ins Leben. Hier haben wir das Prinzip, das die Frage von Chomsky beantwortet. Dieses Prinzip, das allen heuristischen Errungenschaften zugrunde liegt, ist die Macht der vorstoßenden Einbildungskraft, ihre fehlenden Hilfsgründe hervorzurufen. So muß denn auch das verborgene System von Sprachregeln, in all seinen Verzweigungen, durch die fest auf die Erlernung der Sprache gerichtete Einbildungskraft hervorgerufen werden. Die Selbstverwirklichung der Einbildungskraft bedarf einer wichtigen Ergänzung. Wir wissen, daß ein glücklicher Einfall oft erst dann eintritt, wenn wir aufgehört haben; unsere Einbildungskraft in der Suche nach einem Einfall anzuspannen. Die Einbildungskraft hat hier einen spontanen Vorgang hervorgerufen; den wir als intuitiven Akt ansprechen können. Eine von mir früher ausgeführte Studie des heuristischen Prozesses hat ergeben, daß 130
die Einbildungskraft in jeder Phase ihres Strebens sich auf die Intuition als Wegweiserin und Vollzugsagentin verlassen rnuß. 1 Stets sucht unsere forschende Einbildungskraft unsere bildende Intuition aufzurufen, während ihr eigenes Streben selbst von der Intuition angeregt und geleitet wird. Diese gegenseitige Förderung von Einbildungskraft und Intuition ist ein Grundzug aller :Heuristik. Aber in der Folge werde ich - der Kürze halber- den ganzen Vorgang als die Selbstverwirklichung der Einbildungskraft beschreiben. Wenden. wir uns nun zu dem anderen fundamentalen- Problern der Linguistik, das Chornsky uns aufgibt. Wie können wir die wunderbare Gabe des Menschen verstehen, stets neue, nie dagewesene Sätze zu formulieren und gleichfalls nie zuvor gehörte Sätze augenblicklich zu verstehen? Chömsky sagt ganz richtig, daß diese unausgesetzte Auswertung sprachlicher Sinngebung und Sinndeutung durch keine Generalisation des Bestehenden - wie die Psychologie oder Philosophie sie kennt - erklärt werden kann. Aber tut unser Radfahrer nicht gerade dies ? Von Augenblick zu Augenblick bringt er neue, nie dagewesene Lösungen seines Gleichgewichtsproblems. hervor. Und dieses Prinzip, durch das er seine Kunst stets neu verallgemeinert, ist in der Tat unerhört. Es scheint, daß er die Kurve seiner Fahrt jeden Augenblick aufs neue aus den· momentan gegebenen Werten seines Ungleichgewichts und seiner Fahrtgeschwindigkeit neu berechnet und praktisch ausführt. Das geschieht freilich im Gebiet der Hilfswahrnehmung, von Augenblick zu Augenblick hervorgerufen durch jene Macht, die während eines viel größeren Zeitraumes die hilfsmäßige Entdeckung der Gleichgewichtsformel erst herbeigeführt hat. . Diese Macht haben wir der Einbildungskraft zugeschrieben, durch die der Lernende auf sein Ziel eifrig strebend vorausblickt. Die Einbildungskraft, die nur einige Wochen braucht, um ein ganzes höchst kompliziertes Prinzip hilfsweise zu erfinden, kann wohl in wenigen Augenblicken eine~ nie dagewesenen Satz erfinden oder einen nie bevor vernommenen Satz verstehen. Aber es gibt ein drittes, viel umfassenderes Grundproblem der Linguistik : Wie ist es möglich, die Erwerbung der Sprache durch das Kind zu verstehen? Zur Behandlung dieser Frage müssen wir den Radfahrer verlassen und ein Modell wählen, das dem viel
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tiefer gehenden, auf Jahre ausgedehnten Charakter des Erwerbens der Sprache durch das Kind ähnlicher ist. Dieses Modell finden wir in dem Forschungsprozeß von Wissenschaft und Technik. Die Heuristik von Wissenschaft und Technik spiegelt in der Tat die Prinzipien der unausdrücklichen Dynamik am klarsten wider. Das Kind lernt sowohl die Sprache zu verstehen als die Sprache selbst zu verwenden. Das erstere ist eine Sinndeutung, das zweite eine Sinngebung. Die Wissenschaft sucht den in der Natur vorhandenen Sinn zu entdecken, sucht also eine Sinndeutung. Techo'is.ches Erfinden strebt gewöhnlich einem vorausgesteckten Ziel zu und sucht nac,h den Mitt~ln seiner Verwirklichung. Die vollzogene Erfindung erkennt in gewissen Dingen die Mittel zu diesem Zweck. Sie ist eine Sinngebung. Die Heuristik der wissenschaftlichen Entdeckung könnte also bess~r als Modell dienen für die Art, wie wir die Sprache verstehen lernen, während die Heuristik der Erfindung eher die Art und Weise darstellt, auf die wir die Sprache zu benutzen lernen. Der Kürze halber werde iCh aber hier nur auf die Heuristik der wissenschaftlichen Entdeckung eingehen. Wie macht man Entdeckungen in der Wissenschaft? Zunächst muß man ein gutes Problem erspähen. Man muß eine Anzahl von Tatsachen als mögliche Hinweise auf ein verstecktes Naturphänomen erkennen. Man muß dann weitere Einfälle haben, die auf den Weg zur Enthüllung dieser versteckten Dinge andeuten. Und so geht es von Vermutung zu Vermutung weiter mit wachsendem Vertrauen auf einen abschließenden Erfolg, der dann möglicherweise auch eintrifft. Aber worauf >weist< all dieses Weisen? Was >Vermuten< diese Vermutungen ? Sie weisen alle auf ein verborgenes Ziel : auf etwas noch nie Gesehenes. s·ie sind eben Werke der Einbildungskraft. Und das zeigt uns auch, woher all diese glücklichen Einfälle des begabten Forschers stammen. Er verdankt sie der Macht der Einbildungskraft, die auf unausdrückliche Weise. die Mittel ihrer eigenen Verwirklichung hervorbringt. . Ich habe dies schon erklärt. Das Prinzip, das allen heuristischen Errungenschaften zugrunde liegt, ist die Macht der vorstoßenden Ein~ildu.ngskraft, die ihre fehlenden Hilfsgründe hervorruft. Ich hoffe dies auch, zumindest andeutungsweise, belegt zu haben. Das ist alles, was ich hier mit fester Überzeugung über die 132
Erwerbung der Sprache durch das Kind zu sagen vermag. Ich halte es für festgestellt, daß es unmöglich, ja sinnwidrig ist, den Vorgang der Entdeckung und Erfindung in Wissenschaft und Technik durch explizite Vorschriften erklären zu wollen. Ich anerkenne daher ohne Überraschung Chomskys These, daß der ähnliche Vorgang der Spracherwerbung ebenfalls nicht durch explizite Operationen erklärbar ist. Und da mir das schöpferische Werk von Wissenschaft und Technikaufgrund des Prinzips von der Selbstverwirklichung der. Einbildungskraft erklärbar erscheint, so schließe ich daraus, daß das Problem der Spracherwerbung nunmehr ebenfalls prinzipielllösbar sei. Es wäre leicht, auf die unaufhörliche Aktivität kindlicher Einbildungskraft hinzuweisen und sich ein Bild von der kindlichen Sprachentwicklung zu machen, das meinen Ideen entspräche. Aber ich glaube nicht, daß es zur Zeit von Nutzen wäre, diese Möglichkeiten hier zu verfolgen.
Anmerkung
1 Vgl. meinen Aufsatz Schöpferische Einbildungskraft in der Zeitschrift für philosophische Forschung hrsg. von G. Schischkoff, Jahrgang XXII, Meisenheim 1967/68.
Helmuth Plessner Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie Moden kennt, wie man weiß, auch die Wissenschaft, und vielleicht in noch höherem Maße die Philosophie, von der Hege! sagen konnte, sie sei ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Die philosophische Anthropologie scheint jedenfalls zu den zwanziger Jahren zu gehören, die für Deutschland eine Zeit gesteigerter Produktivität auf vielen Gebieten war, Nun wäre es ungerecht gegen die vielen Wesensbestimmungen des Menschen, die damals unter dem Eindruck der Schrift Max Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos« aus dem Boden schossen, wenn man die Gründe für seine Wirksamkeit verkleinern wollte. Scheler arbeitete mit dem eingängigen Antagonismus von Trieb und Geist und fundierte das Ganze in einer Metaphysik der Person, die, wenn man so sagen darf, nach der göttlichen Person hin offen war. Der andere Autor, von dem die Zeit Notiz nahm, Heidegger und sein Buch »Sein und Zeit«, wehrte sich denn auch, in dieser Hinsicht unterstützt von Jaspers, gegen die Unterordnung der Frage nach dem Menschen unter eine biologische Anthropologie, eine empirische Disziplin. Daß die Sache aber auch für Heidegger nicht so einfach war, wie er bei jeder Gelegenheit bet~nte und mit großer Kunstfertigkeit unterstrich, daß auch heute die Akten nicht abgeschlossen sind, zeigt die subtile Untersuchung H. Fahrenbachs, »Heidegger und das Problem einer >philosophischen< Anthropologie«. 1 An Fahrenbachs dem Wort des Meisters folgende Darstellung werde ich mich zunächst halten.
I. Heideggers Sperrklausel Schon in ihren Anfängen schien eine philosophische Anthropologie von dem, was Heidegger· Daseinsontologie nannte, hoffnungslos überholt zu sein. Die Frage »Was ist der Mensch-?« kann in ihrer ganzen Schwere, so meint Heidegger, heute unter der Last einer jahrhundertelangen Tradition der Philosophie, die 134
von dieser Frage lebt und von jeher zu ihr getrieben wurde, nicht wieder aufgeworfen werden, wenn nicht zuvor die Frage nach dem Wörtchen »ist« geklärt wird. Die Frage nach dem Sein des Menschen reißt die Frage nach dem Sinn von »Sein« auf - nicht zu verwechseln mit der Frage nach dem Sinn des Seienden oder gar der Welt. " Insofern hat eine sogenannte Fundamentalontologie das absolute Prius. Nur sie kann das aufklären, was bei einer scheinbar direkt zu beantwortenden Frage sich unter dem »Was« und dem »Ist« versteckt. Das habe bisher noch keine Philosophie versucht, weshalb Heidegger ihr den etwas zweideutigen Vorwurf. der Seinsvergessenheit. macht. Da der Mensch in der Frage nach seinem »Was« und »Ist« offenbar nach sich selber fragt, gilt es, die Reflexivität, diese Rückbezogenheit in einer möglichen Antwort, wachzuhalten. Er darf nicht der Suggestion erliegen, daß es sich bei dieser Frage um· eine fremde Sache handeln könnte. Er selber fragt nach sich und nicht nach etwas, auf das ein der naturwissenschaftlichen Bildung entlehnter Begriff passen soll. Die üblich gewordene Kontrastierung des Menschen als einer zoologischen Spezies zum Tier operiert nach Heidegger nicht nur mit zwei unbekannten Größen, sondern täuscht eine Vergleichsmöglichkeit zwischen vorhandenen Größen vor, während es allererst darum gehen muß, den Menschen seiner Dinglichkeit zu entkleiden und ihn als einen, der nach sich fragen kann, in den Blick zu bekommen. Wenn die aristotelische Bestimmung des Menschen als eirtes Zoon logon echon der heutigen Neigung entgegenkommt, den Menschen als eirie besondere Art Lebewesen, mit der Gabe der Rede ausgestattet, zu. sehen, so stimmt das im Sinne der Erfahrung, die sich vom durchschnittlichen Verständnis der Worte leiten läßt. Was aber heißt Iogos, was -die Gabe seines Besitzes, ja, sogar seines Monopols? Um einer solchen Bestimmung mit unbekannten Größen zuvorzukommen, setzt Heidegger nicht beim Lebewesen oder bei dem vieldeutigen Leben an, sondern beim auf den J\1enschen eingeengten Begriff Dasein, welches dadurch ausgezeichnet ist, daß es ihm darum zu. tun ist, es ihm in ihm darum geht. Als solches »existiert« es, d. h. es ist sich erschlossen, versteht sich immer irgendwie auf etwas und als etwas. Zum Dasein, das der Mensch - und nur er - zu sein hat, gehört ein Horizont von Selbstverständlichkeit. Sein Können hält I
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sich jeweils in dem Rahmen dessen, als was oder. wen e,s sich versteht, gegebenenfalls sogar kunstvoll interpretiert. Daran als einem absoluten Prius für die Frage nach dem Menschen hat Heidegger immer festgehalten. Habermas zitiert Walter Schulz2 , dessen Analyse er zu den bemerkenswerten Ausnahmen zählt: »Schulz analysiert etwa die wichtige Dialektik der >Entsprechung< : wir können das Sein nur in· dem Maße denken und zur Sprache bringen, in dem das Sein selber ermöglicht und uns im Haus der Sprache wohnen läßt, mein mir nicht~ verfügbarer Seinssinn richtet mich erst in die Möglichkeit ein, in der ich ihm entsprechen kann.« Da zum Sein die Gesellschaft gehört, schon als Gegenspieler im Bereich der Verfügbarkeit, kann ein Marxist dem Heideggerschen Satz nur zustimmen, ob das Habermas oder der frühe Marcuse ist. Er ist im Konzept der Daseinsontologie mit eingeschlossen, d. h. spricht immer unter dem Horizont seines jeweiligen Könnens, worauf und als was er sich versteht. Von solcher Horizontverlagerung ins Dasein wird die methodische Haltung im Sinne der Busserlsehen Phänomenologie noch nicht berührt. Die · Orientierung am Vorverständnis von Worten als Vehikel zu dem, was die in ihnen gdaßte Sache meint, ist unabhängig vom Cliarakter der Rückgangsdimension da. Husserl geht es dabei um das transzendentale Bewußtsein, Heidegger sieht in ihm einen privativen Modus des Daseins. So gelingt ihm die Verbindung Busserls mit Dilthey im Zeichen lebenden Vorverständnisses, das befragt werden muß, einerlei, ob es sich um kulturelle Objektivationen eines hintergründigen Lebens oder um die Leistungen des Bewußtseins in der Konstitution von Seiendem handelt. Da Seiendes von der Art des Daseins sich auf den Sinn von Sein versteht- wohlgemerkt nicht losgelöst von seiner Geschichtlichkeit - so deckt sich der Horizont des Daseins mit dem der Geschichtlichkeit. »Dasein enthüllt sich zugleich als der durch und durch geschichtliche Charakter der Wahrheit, die als der offene Horizont aus der Welt des Menschen hervorgeht- die Wahrheit hat einen Kern aus Zeit<< 3• Auch diese Einsicht muß einem historischen Materialisten sympathisch sein. Daß das geschilderte Unternehmen eine Fundamentalontologie sein will, wird man Heidegger zugestehen, wenn man eine Aufklärung der Frage »Was ist der Mensch?« nicht nur von einer vorgängigen Aufklärung des Was unä des Ist abhängig machen zu 136
müssen glaubt, sondern auch die Analysen auf dem Weg dahin für stringent hält. Aber damit hat es eine besondere Bewandtnis. Die Figuren, in denen Dasein erscheint, sind Stadien wachsenden Sinnverständnisses seiner selbst in Sorge, Entschlossenheit, Verfallen, Geworfenheit, insofern Existentialien, keine Zustände eines der Selbsthaftigkeit fähigen Ichs. Daß sie Deutungen sind und insofern ein Element von Willkür enthalten, ergibt sich aus dem Verstehenscharakter des Daseins, das sich in ihnen auslegt. Die Stringenz der Fundierung der Stationen wird dabei nicht angezweifelt - und schon gar nicht die Schärfe der Analyse-, nur welche Figuren belichtet werden und welche im Schatten bleiben, entscheidet die »freie« Auslegung und der Duktus des Ganzen in Richtung Zeitlichkeit. Husserl, den Dilthey seiner Frau - und damals waren erst die >>Logischen Untersuchungen« erschienen- bei Gelegenheit seines Besuches mit den Worten vorstellte: »Darf ich dir den größten Philosophen seit Hege! bringen?«, schien diesen Platz nach Erscheinen von »Sein und Zeit« seinem Schüler überlassen zu müssen. Denn die Wirkung war nur mit der von Hegels Phänomenologie des Geistes zu vergleichen. Hier fand sich die totale Entsicherung der Epoche gespiegelt. Die Krankheit zum Tode, di~ Vergänglichkeit des Menschen bekam den alles relativierenden Aspekt der Geschichdichkeit. Die Theologie des persönlichen Gottes entfärbte sich in die Ontologie vom Sinn des Seins, das sich auch als Sinn einer bloßen Vokabel verstehen läßt, und als »Sinn von Sein« oder Ist der Konkurrenz mit den großen Weltdeutungen ausweichen und ihnen auch noch Seinsvergessenheit vorwerfen kann. »Denn daß die Seinsweise des Menschen grundlegend durch die (freilich sprachvermittelte) Erschlossenheit des Daseins (d. h. durch Seinsverständnis) ausgezeichnet und ermöglicht ist, muß in der Tat als die ontologische Grundbedingung des Menschseins ... angesehen werden.« 4 Husserl warf, bei allem Respekt, dieser Daseinsontologie Anthropologismus vor, wogegen Heidegger sich immer wieder wehrte. Er wollte seine Fundamentalontologie am Leitfaden menschlicher Daseinsweisen und ihrer Ortung im Dasein als der Frage nach dem Sein nicht mit einer philosophischen Anthropologie verwechselt wissen. Aber wider Willen hält er dieser den Weg offen. 5 137
Man kann ver~tehen, daß dieses »den Menschen« an die Fraglichkeit des Seins selbst in seiner Fragwürdigkeit bindende Unternehmen jeden Versuch zu einer Anthropologie in seinen Bann zwingen mußte. Machte sie den Anspruch, philosophisch ZU sein, d. h. sich der Mittel der Wesensanalyse von Strukturen des Menschenhaften zu bedienen, so traf sie auf den Begriff des Existenzials als der spezifischen Bedingung der Möglichkeit, »Da zu sein« oder zu existieren. Die Weisen des Existierens selber charakterisieren Dasein ontisch-faktisch, Existenzialien dagegen transzendental. Dasein kann nur der Mensch, eine Auszeichnung, die ihn von bloßem Vorhandensein - worunter z. B. seine Lebendigkeit fällt unterscheidet. Als Dasein geht es ihm darum, es versteht sich als etwas - auf etwas, d. h. ist sich erschlossen. Existieren heißt in einer Sicht auf sich und Welt dasein, unter einem Horizont von Verständlichkeit oder Transparenz, die ein immer schon leitendes Vorverständnis manifestiert. Dieses Vorverständnis ist natürlich nicht an bestimmte, womöglich wissenschaftliche oder philosophische Auslegungen gebunden, sondern universal variabel wie die - als Antwort auf Heidegger konzipierte- »Lebenswelt« im Busserlsehen Sinn. Die Verklammerung von Mensch mit Welt- beide Termini nur als Indizes genommen - ist für eine philosophische Anthropologie, die den Winken Heideggers folgen will, ebenso entscheidend wie, daß sie sich von ihrer auf den konkreten Daseinsvollzug des Menschen gerichteten Frage aus der Ebene der Sorgestruktur und der Perspektive des Seinkönnens »nicht abdrängen läßt« 6 • In der Sorge meldet sich die Zeit, auf die man primär nicht blickt, etwa, um zu wissen, wie spät es ist, sondern in deren Richtung man zu blicken hat, will man Besorgtheit erfahren. Die Perspektive ist entscheidend, weil nur in ihr das Existieren in den Blick kommt und eingehalten werden muß als die Dimension, die einzig für die transzendentale Begründung des Menschseins zuständig ist. Nicht in einem »traditionellen Rückgang auf das ... Bewußtsein ... besteht Heideggers Wendung zum existierenden Dasein ... nicht etwa in der Preisgabe des ersteren, sondern .... gerade in dem Versuch, es als eine Möglichkeit ... ein Verhalten des Menschen ... aus der Seinsart des menschlichen Daseins· zu begreifen ... « 7 Die transzendentalphilosophische Linie KantH usserl wird eingehalten, nur wird ihre Rückgangsdimension als 138
einzig von de:r ·konkreten .Seinsart abgehobener· defizienter Modus verstanden. Das magere Bewußtsein überhaupt ma~ht dem fülligen Dasein Platz. »Damit wird die transzendentale Ontologie nicht etwa auf eine empirische Basis gestellt und dergestalt aufgehoben, sondern sie wird in ihre zugleich faktische und grundlegende (ontisch-ontologische) Voraussetzung zu.. kb ezogen ... «8 . ruc So wiederholt sich - nun aber auf dem Fundament eines faktischen Selbst - das doch k~ine Tatsache sein darf, die wundersame Konstitution alles Ontischen. überflüssig zu sagen, daß ein Rückgang solcher Art, der bis an die Grenze seinsverstehenden Daseins führt, »vor« alle Psychologie, Anthropologie oder gar Biologie führt und ihre Ansprüche auf eine Wesensbestimmung des Menschen entkräftet. Denn für Heidegger schließt die Bestimmung des Menschen als Lebewesen, die seines Menschenwesens aus. »Alle Anthropologie, auch die philosophische, hat den Menschen schon als Menschen gesetzt (Kant, S. 207) und damit die Voraussetzungen dieser Setzung aus dem Fragehorizont ausgeblendet.« 9 Zwei D.i.nge sind festzuhalten; · 1, Die Rückgangsdimension der transzendentalen Fragestellung wird nicht mehr in einem absoluten Ursprung von Seinsgeltung gesucht wie bei Kant und Busserl, »sondern im faktisch existierenden endlichen >Bewußtsein< selbst« 10 , das ein ontisches Fundament im Dasein. hat und sein defizienter Modus ist. 2. Dasein darf nach diesem Konzept nicht als »Leben« verstanden werden. Denn Leben charakterisiert zu vage auch organische Natur und entbehrt der Orientierung auf den Lebensvollzug mit seinem Können, seinem Müssen, seiner Sorge. Dem Wort Leben fehlt der Hinweis auf die Offenheit ins Kommende. Leben' als Lebendigkeit verführt zu theoretischer Interpretation ala Dilthey oder gar zu biologischer Begriffsbildung. Der erste, der an die Perspektive des zu lebenden Lebens in philosophischer Absicht, aber aus christlichem Impuls (gegen Hegel) wieder erinnerte, war Kierkegaard. Nur die Abwehr der Ontologie interessierte ihn. Der Nachfolger im Begriff aber sucht ihn für eine Ontologie fruchtbar zu machen und dieser, gelöst von jeder Glaubensbindung, gleichwohl den religiösen Impuls zu bewahren. Eine philosophisch sein wollende Lehre vom Menschen, die 139
existentiell nicht spurt und solcher Perspektive entbehrt, trägt das Stigma der Halbheit, wenn nicht gar des völligen Unverstandes. So brechen, da Heidegger keine ausgeführte Ontologie des Daseins geben wollte, nur die im beengten Horizont faßbaren Strukturen auf. Sie können zwar nicht für psychologisch gelten, haben aber nicht zufällig in der verstehenden Psychologie, Psychopathologie und Psychoanalyse wissenschaftliche Resonanz gehabt. Denn bei diesen Strukturen handelt es sich um etwas; womit sich die an Situation gebundene Person auseinandersetzt. Das schließt ihre Leiblichkeit in den Verstehenshorizont mit ein. Die transzendental-ontologische Analyse der Möglichkeitsbedingungen des Bewußtseins ist besonders von MerleauPonty . bis zur These von der konstitutiven Bedeutung de.r Leiblichkeit geführt worden, und Sartre hat seine Position zu einer ausdrücklich >>anthropologischen« weiterentwickelt. 11 , Aber das sind Weiterentwicklungen, um nicht zu sagen, Ableger von Heideggers Weg. Wenn aber Dasein die · Rolle eines ontischen-ontologischen Fundamentes spielen soll, welches die Möglichkeit transzendentaler Konstitution birgt, dann kann das Konstituierende nicht nichts', s-ondern muß etwas sein und seiend in der Art des Daseins. Man wird also einem F;1ktum konfrontiert, das keine weltlichreale Tatsache sein darf. Denn damit fußte die ganze transzendentale Dimension auf einer empirischen Basis, die im Sinne einer vorhandenen ja selber konstituiert ist. Der Mensche ist nie mir vorhanden, sondern - darf man das auch an dieser Stelle sagen? birgt Existenz, ist nicht nur innerweltlich, sondern konstituiert auch Welt. Das >>auch« gibt die Verlegenheit wieder, in die eine nur auf das Existieren konzentrierte Erfassung des Menschen sich fängt. Daraus befreit auch nicht die Erin.nerung an die zugleich ontisch-ontologische Verfassung des Daseins. Als .Faktisches besagt es eine Grenze für die kritische Bestimmung der transzendentalen Rückgangsdimension. Diese Rücksicht hebt das Recht auf die Charakterisierung des eben auch vorhandenen Menschen nicht auf. Wie kann ein Seiendes bestimmt werden, das dank seiner Sonderart zur Konstituierung seiner selbst mächtig ist? Empirisch kann sie nicht sein; darf aber die Blickrichtung im· Sinne der Existenz nicht verlassen. Wenn schon Merleau-Ponty und Sartre die Leiblichkeit für das Dasein als konstitutiv in Anspruch nehmen, wird eine Horizonterweite140
rung über das Dasein (nach der Sperrklausel Heideggers) hinaus in Richtung des Lebens unvermeidlich. Der Mensch kommt in seinem-Vorhandensein »in den Blick«.
II. Leben birgt Existenz Wie muß Leben gedacht werden, das so etwas wie Existenz da sein läßt oder birgt? Dem wirklichen Menschen mit allen Attributen einer Entwicklung von der Geburt bis :zum Tode eignet das Existieren als Müssen und Können. Wie ist solche Eignung zu denken ? Denn denken muß es sich doch lassen, da es von der Erfahrung bezeugt ist. Die mühevolle Sicherung der existentiellen Daseinssphäre erfolgt ja nur in Abgrenzung gegen das wirkliche Leben in seinem Vorhandensein. Wenn Heidegger »Dasein (Mensch)« sagte, so lenkte er die Frage nach dem Menschen in die Richtung der Frage nach dem Sinn von Dasein und unterstellt sie damit der Frage nach dem Sinn von Sein schlechthin. Anthropologie setzt so Fundamentalontologie voraus und soll auch auf dem Wege zu ihr sein. Wenn man nicht in den Bannkreis solchen Argumentierens geraten und die ontologische Vorprägung vermeiden will, bietet sich das Wo.rt Leben an, das für spezifisch Menschliches wie Außermenschliches in gleicher Weise gebraucht wird. Von einer Vorentscheidung zugunsten eines biologischen Lebensbegriffs ist damit noch keine Rede. Nicht ohne Grund hält sich der Lebensbegriff offen gegen Sein und Werden. Aber er kann sich ebensogut schließen, um den Kampf eines Menschenlebens zu fassen sowie seine natürliche Genese und Nekrose, die es mit tierischem Leben verbindet. . Existieren kann nur, wer lebt, auf welchem Niveau immer. Sich dagegen zu sperren und Leben auf einer seiner Möglichkeiten, nämlich existieren, zu fundieren heißt den Einsatz der Frage des Menschen nach sich selber uin dieser Selbstbezüglichkeit willen als die einzige legitime Direktive für eine Anthropologie in philosophischer Absicht gelten zu lassen. Man kann aber auch bei den Wesenskriterien der Lebendigkeit einsetzen und nicht wie Heidegger die Frage vom Frager her, sondern im Gesichtskreis des Lebens, gewissermaßen von unten her aufrollen. Oder gilt der Satz nicht mehr: Homo est quomodo omnia? 141
Ruht die Existenzdimension dem physischen, an den Körper gebundenen Leben nur auf? So haben alle, immer wieder erneuerten Traditionen der Philosophie gedacht und damit das Problem in eine fatale Nähe zum psychophysischen Realismus oder Parallelismus gebracht. Oder · entschließt man sich zur Identitätsthese? Kein Modell kann befriedigen, denn Existenz durchherrscht die ganze Person und überspielt jede Art von Auseinanderfallen in Psyche und. Physis. Vielmehr lautet die Frage : Was macht es einem körperlichen Leib möglich, eine Existenz vorhanden sein zu lassen? Man darf sich von der seinsnahen Wucht der Wörter Angst, Sorge, Geworfenheit, Sein zum Tod nicht darüber täuschen lassen, daß sie zwar Perspektiven der Existenz besagen - in ihrer Faktizität - aber die aufgeworfene Frage nicht hören. Dazu bedarf es eines anderen Ansatzes, der sich vom vorgeblichen Primat der Frage nach dem Sinn von Sein nicht beirren läßt. Unter der Direktive des fundamentalontologischen Problems bleibt man der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet, die ihre Schwere aus der Nachdrücklichkeit des Begriffs Dasein beziehen. Diese in Heideggers Rahmen legitime Interpretation und Seinsverhaftung muß rückgängig gemacht werden.. Phänomenologische Einsichten treffen auf ein Was im Horizont eines verbalen Ausdrucks. Er leitet das, was jeweils »schon immer~ unter dem Ausdruck verstanden wird, was er spezifisch meint. Wesenseinsichten können ontologisch, etwa nach dem Vorgang Platons, interpretiert werden. Damit wird man ihm allerdings eine Verdinglichung der Idee nicht anlasten dürfen. Sie droht immer, wenn sie für sich isoliert genommen wird. Husserl erkannte früh die Gefahr und lokalisierte sie im Bewußtsein überhaupt. Heidegger faßte diese Sphäre als defizienten Modus des Daseins bei voller Beibehaltung der transzendentalen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit. Sie bleibt auch uns maßgebend. Die Frage lautet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Dimension der Existenz von der des Lebens fundiert wird ? Existenz ist faktisch, darf aber nicht als ein empirisches Faktum verstanden !"erden, weil es sich dann selber konstituieren müßte. Mit dem Modell des Aufruhens der Existenzdimension auf der des Lebens gerät man in überholte Schwierigkeiten. So muß die These gewagt werden : Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz. Heideggers 142
Argumentation gegen Husserl zugunsten der Verordnung des Daseins vor dem Bewußtsein muß nun auf das Dasein angewandt werden. Was fundiert Existenz? Wenn es keine Antwort geben kann, dann dürf!!n die Existenzcharaktere mit denen des Lebens nicht einfach zusammenfallen, aber auch ihnen nicht widerstreiten. Die Lösung scheint mir der 1928 konzipierte Begriff der exzentrischen Positionalität zu bieten. Er wurde in Unkenntnis von »Sein und Zeit« geprägt, das ein Jahr früher erschienen war, von mir aber begreiflicherweise nicht mehr in meinem Konzept mit verarbeitet werden konnte. Da sich in den letzten Jahrzehnten niemand mit der Frage befaßt hat- weil sie für Heidegger und seine Schule tabu war-, werde ich sie stellen, um sie auf eine Stufe der Reflexion zu bringen, die ich damals übersprungen hatte. Den Nachholbedarf haben die Gegner einer philosophischen Anthropologie aber immer bemerkt und ihn in den Vorwurf gekleidet, philosophische Anthropologie sei eben nicht philosophisch, und zwar, weil sie nicht wisse, was sie tue. Exzentrische .Positionalität versucht die Sonderstellung des Menschen als eines Lebewesens zu fassen. Leben im Sinne von belebt sein besagt Eigenständigkeit im Verhältnis zu dem Milieu, dem der belebte Körper angehört. Ein unbelebter Körper erleidet zwar Einwirkungen des Milieus, reagiert aber nicht auf sie, indem er sich eigenständig zu ihm verhält. Diesen Positionscharakter des belebten Körpers besagt Positionalität. Dem zentrischen Typus der Positionalität gehören alle tierischen Organisationen an. Ihre Austauschprozesse mit dem Milieu sind mittelpunktsbezogen, aber laufen - im Unterschied zum pflanzlichen Organisationstypus - über Zwischenschaltungen: Verdauung und Gedächtnis. In diesem Sinne hat die Pflanze kein Innen, wenn auch Reizbarkeit. Nur behält sie nichts und kann nichts assoziieren. Diese Möglichkeiten sind für freibewegliche Organismen, die auf Suchen und Finden angewiesen sind, unerläßlich, finden sich aber auch bei Tieren festsitzender Lebensweise wie etwa Aktinien oder Korallen. . Mit solchen typologischen oder, um es noch provozierender zu sagen: physiognomischen Charakterisierungen kann der Biologe wenig anfangen. Abgesehen davon, daß für ihn die starren Grenzen zwischen Pflanze und Tier fließend geworden sind ..:. bis auf Invariable wie etwa das Chlorophyll - wird die klare· Abgrenzung solcher Reiche klassischer Benennung im Gebiet der 143
Viren und Genstrukturen vollends fragwürdig. Trotzdem haben sie ihren Wert, ausgehend vom Untersuchungsmaterial der Biologie, versuchen sie nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gegenstände z'u fragen. Das geht einer Wissenschaftstheorie und Methodenlehre der Biologie voran, welche ihre Arbeitsweise zum Gegenstand hat. Sie orientiert sich an der vorwissenschaftliehen Erfahrung des Biologen und fragt nach dem Sinn dessen, was unter Begriffen wie Pflanze, Tier und Mensch in der Alltagswelt verstanden wird. Das heißt, sie ist phänomenologisch. Fonrial deckt sich das Verfahren mit so weit auseinanderliegenden Analysen wie denen einer Hedwig Conrad-Martius und Heideggers, soweit beide Phänomenelogen im Sinne Husserls sind.· Nur mit dem Unterschied, daß die Erstgenannte eine nichtreflektierte Wesensanalyse gibt, während Heidegger, aufbauend auf dem späteren Husserl, transzendentale ~trukturen auf ein das Bewußtsein einschließendes Dasein bezieht. Trotz dieser Divergenz eint beide das materiale Apriori, das so weit reicht wie der verbale Ausdruck, mit dem eine Sache zu Wort kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. Wir können uns ihrer nur so weit bemächtigen, als sie uns dazu ermächtigt. Nur bleibt fraglich, ob Sache im Horizont der Sprache, d. h., diekraftder Verbalisierung gemeinte Sache, 'Sein oder Seiendes manifestiert.
III. Zum materialen Apriori Wir unterbrechen die bisherige Erörterung des Tierhaften, um ihren phänomenologischen Charakter zu verdeutlichen. Husserl ist zwar nicht der Entdecker des materialen Apriori, wohl aber der erste, der von ihm einen ausdrücklich methodischen Gebrauch macht. Phänomenologische Forschung sollte als Grundlegung einer Philosophie betrieben werden, die als strenge Wissenschaft auftreten kann. Diese Zielsetzung . verrät den Mathematiker, der vom stetigen Fortgang einander überholender, bestätigender und eliminierender Einsichten überzeugt ist. Ob dazu aber die - gewiß methodische - Handhabung der Epoche ausreicht, ist fraglich. Sie dient dazu, Urteile über Wirklichkeit. oder Unwirklichkeit außer Kraft zu setzen, garantiert aber in ihrer positiven Funktion des zum Sehen-Bringens einen stetigen 144
Fortgang von Ergebnissen nicht. Damit soll nicht die Legitimität der phänomenologischen Praxis in Zweifel gezogen werden, sondern nur ihre Fähigkeit zur Gewinnung von Ergebnissen, die aufbewahrt werden können und auch müssen, soll sich so etwas wie ein Fortgang an ihnen zeigen. Das materiale Apriori, wie es z. B. Scheler für seine materiale, gegen den Kautischen Formalismus gerichtete Wertethik hantierte, darf natürlich nicht mit Kants synthetischen Urteilen a priori verwechselt werden. Diese sollen. eine Erweiterungsmöglichkeit notwendiger Erkenntnisse im berechenbaren Bereich der Natur sichern. Unter Führung des Ideals strikter Kausalität- und in ihrem Rahmen hält sich Kants Auffassung messender Naturwissenschaft - war den synthetischen tJ rteilen a priori schwer beizukommen. Das hat sich durch die Physik der letzten 50 Jahre geändert. Bume ist ihr näher als Kant. Die forscherliehe Praxis rechnet mit Wahrscheinlichkeiten, nicht mit der klassischen Starre der Kausalität. Das materiale oder konkrete Apriori hat seinen platonischen Ursprung nie verleugnet. Idee und Eidos sind in die phänomenologische Praxis übergegangen, auch wenn ihr ursprünglicher metaphasischer Sinn durch Busserls transzendentale Wendung geschwächt worden ist. Der Charismas der Idee vom Substrat der Erfahrung - ein Vorwurf im Auge des Aristoteles, der auf dem Fundamenturn in re beharrt (Eidos morphe) hat - gegen Platons Warnung- stets der Verdinglichung des Eidos Vorschub geleistet. Wie weicht man ihr aus, ohne dem eidetischen Charakter Abbruch zu tun? Die Wendung Busserls zur Ortung eidetischer Gehalte im reinen Bewußtsein und die ihr folgende im: Dasein bringt nur ihre Loslösung vom »überhimmlischen Ort« zuwege, will aber und kann sie in ihrem Gehalt nicht tangieren. Heideggers Absicht, die in der Frage nach der Ortung manifest werdende Verlegenheit auf die nie gestellte Seinsfrage zurückzuführen, trifft die Verlegenheit, bietet aber mit dem Gedanken der Fundamentalontologie kein Mittel, ihrer Herr zu werden, so einleuchtend der Vorwurf der Seinsvergessenheit auch ist und in ihrem mitschwingenden Doppelsinn der Gottvergessenheit bleibt, so wenig helfen uns Existenzialien, Geschichtlichkeit des Daseins und Ektasen der Zeitlichkeit aus der genannten Aporie. Wohl hat die Ortung im Dasein statt im Bewnßtsein nachdrückli145
eher dem naiven Glauben an einen Topos hyperuranios der Idee und des Eidos entgegengewirkt und zu ihrer V ennenschlichung beigetragen. Deshalb aber stimmt Busserls Wort vom Anthropologismus Beideggers noch lange nicht. Beide meinen in Sachen des materialen Apriori dasselbe. Das materiale Apriori faßt die für irgendein Thema der Besinnung ja schon leitenden »vorgängigen« und insofern für das Thema konstitutiven Charakter, die das Thema möglich machen. Die frühe Phänomenologie trifft insofern Busserls und Beideggers Vorviurf zu Recht, als- sie mit der Idee einer Sache ihre Essentia in originär gebender Anschauung zu treffen sicher war, wenn nur die Epoche beachtet blieb. Das konnte zu offenbaren Ungereimtheiten führen. Die phänomenologische Absicht kann am Leitfaden der Frage nach dem Wesen allein nicht eingelöst werden. Das Wesen der Kohlensäure ist C02, das Wesen der Schwerkraft ist noch ein physikalisches Rätsel und das der lebendigen Substanz ein Arbeitsgegenstand der Biochemie. Gibt man aber der Wesensfrage die Form: Was meint man mit Leben im Sinne von Lebendigkeit, init Stoff und Körper, Gesinnung oder Reue bzw. ihren je spezifischen Charakteren?, dann vertraut man die Antwort nicht etwa der Spr;tchforschung an, sondern einer ihr vorgelagerten Dimension der Doxa mit Sachgehalt. Dieser ist geschichtlichem Wandel nicht entrückt, trifft aber zu der Zeit, in der er ohne Umschweife verstanden wird, etwas, das wir darunter verstehen bzw. immer schon verstanden haben, wenn wir ihn in lebendiger Rede gebrauchen. 12 Was bis in die Anfänge neuzeitlicher, am Experiment sich zunehmend orientierender Wissenschaft Ziel und Gegenstand der Episteme, des ersten Wissens, gewesen war, findet sich jetzt in den Bereich der Meinung verbannt. Nur bekommt die Doxa einen anderen Charakter als der bloßen, subjektiven, schwankenden Meinung. Sie sucht die von der objektiv ausgerichteten, an· Verifikation und Falsifikation gebundenen Wissenschaft (die sich eben nicht mit der alten, auf ewige . Prinzipien gerichteten Episteme deckt), unterschiedene, intersubjektiv vorri lebendigen Einverständnis getragene Lebenswelt in i4rem vorwissenschaftliehen Recht zu »retten«. Nur ändert sich durch diese Verlagerung am materialen_oder konkreten Apriori als solchem nichts. Es hat nach wie vor eine Leitfunktion, ob ich sie platonisch-aristotelisch für ein ontologi146
sches Indiz halte oder für Jranszendentale Konstitutionsbedingungen der Erfahrung, wie z. B. die Existenzialien Heideggers. Läßt man der phänomenologischen Forschung den vollen Ernst einer Methode, deren Ergebnisse freilich der Beziehung auf Erfahrung - wohlverstanden nicht der Bestätigung durch Erfahrung - bedürfen, so kann ihre Handhabung des materialen Apriori nicht unter den Aspekt des Fortschritts rücken. Man hat den Phänomenologen erster Stunde, Moritz Geiger, Pfänder, Conrad-Martius, auch Scheler, zu~ Vol"WJ.lrf gemacht, daß sie Busserls transzendentaler Wendung seit den »Ideen« von 1913 nicht gefolgt sind. Scheinbar zu Recht, denn die Gefahr der »Bilderbuchphänomenologie« lag auf· der Hand. Wissen, was man tut, war das Motiv, das Husserl aus der eidetischen Deskription zur »Wiederentdeckung des transzendenten Nordpols« (Adorno) des Bewußtseins überhaupt führte. In seinen Spuren blieb Heidegger und - als An~ort auf ihn - das Konzept der Lebenswelt. Darf man in diesem Fortgang einen Fortschritt sehen, .der die frühere Handhabung der Methode überholt hat und außer Kraft setzt ? Wenn dem so wäre, hätte schon die Daseinsontologie gegen Husserls Konzept_ der Lebenswelt eine Barriere errichtet und widerspräche in ihrer Ablehnung des wissenschaftlichen Portschrittsgedankens sich selbst. Das materiale Apriori, Brücke zur Empirie, präferiert keine Deutung. Das macht freilich den Gedanken eines Fortschritts in der Philosophie zweifelhaft, wenn nicht unmöglich. Wohl gibt es bei festgehaltener Ausgangsbasis Gemeinsamkeiten im Fortgang: von Platon zu Aristoteles, in der Scholastik, von Descartes zu Spinoza, von Fichte zu Hegel. Gleiches läßt ~ich auch für die .phänomenologische Bewegung sagen. Aber die Ausgangsbasen unterliegen selber dem jew:eils maßgeblichen WahrheitsideaL Handlungen und Deutung des Apriori müsset} für Epochen, welche Philosophie mit ewigen Dingen befaßt sein lassen, die vom Wissen unabhängig sind, grundsätzlich anders sein als Epochen, denen das Rückgtat der Aeternitas fehlt. Heute dominiert das Wahrheitsideal der Verifikation und Falsifikation durchs Experiment im Rahmen möglicher Erfahrung. Die Essentialien stehen nicht mehr für sich, einerlei, ob .man von ihnen Notiz nimmt oder nicht, sondern verwandeln sich - unter dem Druck der Erfahrung - in Bedingungen ihrer Möglichkeit. ·so als Transzendentalien im Kanti147
sehen Sinn, wenn auch nicht auch Kautischern Zuschnitt, zeigen sie ihre Lebensfähigkeit in der phänomenologischen Forschung.
IV. Die Verschränkung von Leib und Körper als Schlüssel zur philosophischen Anthropologie Mit der Besprechung des Begriffs der exzentrischen Positionalität nehmen wir den Faden des Themas der Kriterien der Lebendigkeit,. insbesondere der tierischen Lebendigkeit, wieder auf. Was charakterisiert das Menschenhafte eines Lebewesens? Aufrechter Ga,ng, Großhirnentwicklung, Sprache, Hand, W erkzeugherstellung, Abstraktionsvermögen?· Offensichtlich besteht zwischen allen diesen Gaben und Funktionen eines zoologisch zu den Primaten gehörenden Wirbeltieres, das mit der Linneschen Bestimmung Homo sapiens seine Durchbrechung der Tierheit anzeigt, ein rein körperliche und unkörperliche Merkmale umfassender Zusammenhang. Dieser Zusammenhang kann nicht in der Ebene der einen oder anderen Merkmalsgruppe gefaßt werden, auch wenn man - sicher zu Recht - dem Großhirn die Führungsrolle unter ihnen zuspricht. Die Bezeichnung »exzentrisch« wahrt den Zusammenhang mit der bei den Wirbeltieren in steigendem Maße zum Ausdruck kdrnmenden zentrischen Lebensform und unterstreicht die im zoologischen Rahmen verbleibende und ihn sprengende Doppelnatur des Menschen, die nicht statisch zu fassen ist, sondern eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes in den Körper bedeutet. Die Sprache unterscheidet nicht immer scharf zwischen beiden Worten, weil beide Größen ineinander verschränkt sind, und zwar positional. Die Verschränkung wird in den spezifisch menschlichen Erscheinungen des Übermanntwerdens sichtbar. Hier lockert sich der innersomatische Zusammenhang zwischen Leib und Körper. Wir geraten außer uns : im Lachen und Weinen, il1J Affekt und in der Leidenschaft. Natürlich handelt es sich dabei um seelische und geistige Möglichkeiten, die nur· einem Lebewesen offenstehen, das zu sich in Opposition treten, mit sich und anderen eins seiri kann. Und nichts wäre unsinniger, als solche spezifisch menschlichen Möglichkeiten aus der positional 148
bedingten Verschränkung von Leib und Körper zu einer bloßen Ambiguität abzuschwächen, d. h. sie psychologisch zu sehen und dem Körper das Feld zu überlassen. Wer mehr darüber erfahren will, sei auf mein Buch »Lachen und Weinen« verwiesen. Die Verschränkung, die sich ansatzweise auch bei Anthropoiden sollte nachweisen lassen, darf nur als Indiz für die exzentrische Positionalität, den biologischen Charakter des Menschenhaften gewertet werden. Entscheidend bleibt : die innersomatische Trennung von Körper und Leib zwingt das Lebewesen exzentrischer Positionalität, sein Lehen zu leben, und erfüllt damit den Heideggerschen Begriff des Daseins. Es existiert- wobei die sonstigen dem Begriff zugemuteten Implikationen völlig offenbleiben. Die Verschränkung von Körper und Leib läßt sich also auch existentiell im Begriff des ambigu fassen, der durch MerleauPonty geprägt worden ist. Natürlich kann er auch Doppelsinn, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit bedeuten. Wie viele Obersprungsbewegtingen verraten diese Wörter Verlegenheit. Das Umspringen von corps vecu- erlebtem Leib im Körper- ist nicht einem erkenntnistheoretischen Blickwechsel allein zu danken, sondern liegt in der exzentrischen .Position selber. Corps ist nicht nur Resultat einer Objektivierung, die dinghafte Komponenten der Verschränkung wird in Grenzsituationen des Übermanntwerdens offenbar. Vom lebendigen Leib dagegen lassen sich die für das Verständnis etwa des mimischen Ausdrucks zutreffenden Begriffe der Leib-Seele.:.Einheit und der psychophysischen Einheit gebrauchen. Nur für solche Erscheinungen sollten Begriffe von Klages und Merleau-Ponty gebraucht werden. Ein Lebewesen exzentrischer Positionalität hat zu existieren, sein Leben in die Hand zu nehmen und unter Einsatz aller seiner Möglichkeiten die Mängel auszugleichen, welche sein Positionscharakter mit sich bringt: Schwächung der Instinkte, Objektivierung bis zur Verdinglichung, Entdeckung seiner selbst. Sie sind auf die Formel der vermittelten Unmittelbarkeit zu bringen. Ihre Manifestation ist kulturelle Produktivität, welche, wie sich an aller Geschichte ablesen läßt, der Sicherung von gesellschaftlichen Einrichtungen dient, deren Auflösung sie dadurch heraufbeschwört. Ortlos, zeitlos ins Nichts gestellt, treibt sich das menschenhafte Wesen beständig von sich fort, ohne Möglichkeit der Rückkehr, findet sich immer als ein anderes in den Fügungen 149
seiner Geschichte, die es zu durchschauen, aber zu keinem Ende zu bringen vermag. Die menschliche Welt ist weder auf ewige Wiederkehr noch auf ewige Heimkehr angelegt. Ihre Elemente bauen sich aus · dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt. So stellt sich eine philosophische Anthropologie als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung in Natur und Geschichte. Ihr sind die Forschungen auf dem Gebiet der Vor- und Frühgeschichte ebenso wichtig wie die über keimesgeschichtliche und kindliche Entwicklung. Dem .Gesamtgebiet der Anthropogenese steht sie offen, die durch die Fortschritte der Genetik eine Aktualität gewonnen hat, an die weder Mendel noch seine Wiederentdecker in unserem Jahrhundert zu denken wagten. Nun wäre es unbillig, diese Offenheit zur Empirie gegen die Daseinsontologie Heideggers auszuspielen. Sie will in keine Anthropologie münden, sondern in die Frage nach dem Sinn des Seins. Das bringt sie zwar, wie Fahrenbach dankenswerterweise nachgewiesen hat, entgegen ihrer Absicht in unmittelbare Nähe zur Anthropologie, irt »Sein und Zeit« wie im Kant-Buch.·Doch weiß sich Hc;;idegg~r gegen vorschnelle Identifikation seines Vorhabens mit einer. philosophischen Anthropologie abzuschirmen - durch die Betonung des Primats der Fragen nach dem Sinn von Sein vor jeder Anthropologie. Und: »Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentliche Frage. 13 In diesem Punkte stimmt er mit Kant überein, der in der »Logik« die drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? zusammenfaßte in die Frage: Was ist der Mensch? Was der Mensch sei, wird also mit einem dreifachen was ich wissen kann, tun soll und hoffen darf, mit beschränkten Möglichkeiten also umschrieben, d. h. mit Daseinsvollzug in der Perspektive faktischen Seinkönnens. Da eine philosophische Anthropologie in unserem Sinne diese Frage zwar bedacht hat, sie aber in die umfassende Lebensperspektive mit einschließt und damit den Anschluß an die Erfahrung vom Menschen gewinnt, halte ich den Aussagewert einer solchen Anthropologie anderen, auch existenzialphilosophischen, für überlegen.
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An_merkungen 1 In: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1969. 2 Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1971. 3 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 80. 4 Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und 'Reflexion. Walter Schultz zum 60. Geburtstag. Pfulüngen 1973. 5 Fahrenbach, a.a.O., S. 130/1. 6 Fahrenbach, a.a.O., S. 130. 7 Fahrenbach, a.a.O., S. 110. 8 Fahrenbach, a.a.O., s.-111. 9 Fahrenbach, a.a.O., S. 122. 10 Fahrenbach, a.a.O., S. 111. 11 Fahrenbach, a.a.O., S. 113. 12 Lothar Eley zitiert in seinem Buch Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie · Edmund Husserls (Den Haag 1962) aus Busserls Handexemplar von Sein und Zeit zu der Frage Heideggers: »An welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden . . . welches ist dieses exemplarische Seiende . . . ?«, seine Gegenfrage: »Kann es bei einer wesensallgemeinen frage den Vorrang eines Exempels geben?« (a.a.O., S. 137). Wird mit diesem Einwand Busserls gegen das Vorgehen Heideggers nicht aber die ganze phänomenologische Praxis in Frage gestellt, weil Wesen nur an ,einem als Beispiel genommenen Zufälligen aufleuchten kann?« · 13 Einführung in die Metaphysik. Zitiert nach Fahrenbach, a.a.O., S. 131.
George H. Mead Die objektive Realität der Perspektiven Des Idealismus grandioser Versuch, die Gesamtheit der Realität in die Erfahrung zu verlegen, ist gescheitert. Er scheiterte, weil er an der Vorstellung festhielt, die Perspektive des endlichen Ich sei hoffnurtgslos in die Subjektivität verstrickt und damit unwirklich. Demnach hätten die theoretischen und praktischen Lebensäußerungen des Individuums keinen Anteil am kreativen Fortschritt der Natur. Der Idealismus scheiterte außerdem deshalb, weil die wissenschaftliche Methodik - mit ihren Errungenschaften des Entdeckens und Erfindens - in seiner Dialektik keinen angemessenen Ausdruck finden konnte; er beachtete die beiden dominierenden Kräfte der modernen Zeit- das schöpferische Individuum und die schöpferische Wissenschaft- nur, um sie als Verfälschungen der Erfahrung des absoluten Ich zu verwerfen. Die Aufgabe, der Natur die Wesenszüge und Eigenschaften wiederzugeben, die eine Metaphysik des Geistes und eine Wissenschaft von Masse und Bewegung dem Bewußtsein zuzuschreiben sich gleichermaßen bemüht hatten, blieb so unerfüllt wie die, den Geist derart in der Natur anzusiedeln, daß die Natur in. der Edahrung wieder in Erscheinung treten konnte. Eine konstruktive Neuformulierung des Problems wurde von einer physiologisch und experimentell odentierten Psychologie vorgelegt, die »Geist« unlösbar an eine organische Natur band, was dann sowohl von der Naturwissenschaft als auch der Philosophie aufgegriffen wurde. Der Gewinn, den die Philosophie daraus zog, zeigt sich in der folgerichtigen Frage von William James: »Does >Consciousness< exist ?«. 1 Die Attacke gegen den metaphyschen Dualismus von Geist und Natur, der immer weniger tragbar geworden war, wurde in gemeinsamer Front vorgetragen von Bergsans evolutionistischer Philosophie, vom Neo-Idealismus, vom Neo-Realismus und vom Pragmatismus. Und doch läßt sich bisher nicht sagen, daß die .Position erfolgreich genommen sei. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf zwei voneinander unabhängige Bewegungen lenken, die sich - wie mir scheint - einer Position von strategisch wichtiger Bedeutung nähern: man könnte sie die Objektivität von Perspektiven nennen. Diese beiden Bewegungen sind - erstens - die behavioristische Psychologie insoweit, als sie Kommunikation, 152
Denken und inhaltliche Bedeutungen, ebenso wie die biologische Psychologie tierische und menschliche Intelligenz, untrennbar mit--Natur verbindet, und - zweitens - ein Aspekt der von Professor Whitehead vorgelegten Phil
phie. Perspektiven sind weder Verzerrungen von irgendwelchen vollkommenen Strukturen noch Selektionen des Bewußtseins aus einer Gegenstands menge,· deren Realität in einer Welt der Dinge an sich (noumenal world) zu suchen ist. Sie sind in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander die Natur, die die Wissenschaft 'kennt. Die Biologie operiert mit diesen [Perspektiven] in ihren Begriffen von »Arten« und ihren »Umwelten« bzw. Organisationen von Umwelten in der Ökologie; jedoch geht auch die Biologie noch von einer Welt physikalischer Partikel in einem absoluten Raum-Zeit-System aus, das unabhängig von jeder »Umwelt« eines Organismus, unabhängig von jeder Perspektive existiert. Whitehead verallgemeinert den OrganismusBegriff, indem er jede Struktur-Einheit einschließt, die ihrem Wesen nach eine gewisse Zeitspanne braucht, um sein zu können, was sie ist, die also nicht nur .räumlich, sondern auch zeitlich strukturiert, d. h. ein Prozeß ist. Jede derartige Struktur gliedert Natur durch Überschneidung in ihre Perspektive; sie hebt damit das ihr eigene Raum-Zeit-System vom allgemeinen EreignisAblauf ab. Auf diese Weise wird die Welt der Naturwissenschaften in den Bereich organischer U mwelten verschoben ; eine Welt unabhängiger physikalischer Einheiten, von denen Perspektiven lediglich Selektionen wären, gibt es nicht. An die Stelle dieser Welt tritt die Gesamtheit der Perspektiven in ihren W ~chselb.ezie hungen zueinander. Ich möchte hier weder Whiteheads - von Bergson übernommene - Variante des von Spinoza Stammetiden Begriffs der >>grundlegenden Substanz« (underlying substance) erörtern, die sich in der Struktur der Ereignisse individualisiert, noch seinen platonischen Himmel ewiger Objekte, welcher die Hierarchien von Mustern enthält, die als Möglichkeiten angesehen werden und in die Ereignisse eingehen ; ich möchte lieber auf seine Verwandtschaft zu Leibniz eingehen, die sich in seiner Konzeption der Perspektive als der Spiegelung aller anderen Ereignisse im einzelnen Ereignis zeigt. Leibniz stellt einen psychologischen Prozeß ins Zentrum seiner Naturphilosophie. Die Inhalte seiner Monaden waren psychische Zustände, Wahrnehmungen und petites perceptions, welche notwendig den Rest der Realität des Universums repräsentierten, dessen nur zum Teil entfalteter Ausdruck sie waren. Der repräsentierte Inhalt aller Monaden war identisch, insofern er klar und eindeutig war, so daß die 154
Organisation dieser Perspel5tiven eine in der Identität des rationalen Inhalts prästabilierte Harmonie darstellte. Professor Whiteheads Prinzip der Organisation von Perspektiven ist nicht Repräsentation eines identischen Inhalts, sondern die Überschneidung ein und derselben Ereignis-Reihe aufgrund verschiedener Zeit-Systeme. Das bedeutet natürlich die Preisga~e ?er einfachen Lokalisierung als Prinzip physischer Existenz, des Prinzips also, daß die Existenz eines physischen Objekts durch ein Volumen an einer bestimmten Stelle des absoluten Raumes und einen Moment der absoluten Zeit bestimmt- ist; positiv bedeutet das eine Aufwertung der Zeit, d. h. die Erkenntnis, daß es eine unbegrenzte Anzahl möglicher Gleichzeitigkeiten jedes Ereignisses mit anderen Ereignissen gibt und folglich unbegrenzt viel zeitliche Ordnungen derselben Ereignisse; deshalb ist es möglich, sich ein und dieselbe .Gesamtheit der Ereignisse in unendlich viele verschieden Perspektiven eingeordnet zu denken. Ich möchte hier nicht versuchen, die Auffassung Whiteheads von der Einbezog~nheit der Aspekte anderer Ereignisse in aie Einheit des Ereignisses zu erörtern; nach den summarischen Darstellungen, die ich in seinen Schriften gefunden habe, wäre ich dazu auch nicht hinreichend in der Lage. Ich möchte vielmehr die Konzeption einer Reihe von Ereignissen als der Organisation von verschiedenen Perspektiven dieser Ereignisse vom Standpunkt der Sozialwissenschaften und der behavioristischen Psychologie aus diskutieren. Erstens scheint hiermit ganz exakt der Gegenstandsbereich jeder Sozialwissenschaft bezeichnet zu sein. Die menschliche Erfahrung, mit der die Sozialwissenschaft sich beschäftigt, ist vornehmlich Erfahrung von Individuen.·Nur insofern ~eschehnisse., Umwelt-BediT,~gungen, Werte, ihre Gleichförmigkeiten und Gesetzmäßigkeiten in die Erfahrung von Individuen als Individuen eingehen, werden sie für diese Wissenschaft zu Gegenständen der Untersuchung. Umweltbedingungen zum Beispjel existieren nur insoweit, als sie sich auf wirkliche Individuen auswirken, und nur wenn sie auf diese Individuen wirken. Die Gesetze. dieser Geschehnisse sind lediglich die statistischen Gleichförmigkeiten der Geschehnisse für die und in den Erfahrungen vön. A, B, C und D. Weiterhin muß sich der Einfluß dieser Geschehnisse und Werte in den Erfahrungen dieser Individuen selbst finden lassen, wenn sie für diese Wissenschaften 155
überhaupt existieren sollen. Zweitens gilt, daß nur insoweit, als das Individuum nicht nur in seiner eigenen Perspektive, sondern auch in der Perspektive von anderen, insbesondere in der gemeinsamen Perspektive einer Gruppe handelt, eine Gesellschaft entsteht und die Gegebenhei'-ten in ihr Gegenstand wissenschaftlicher Fragestellungen werden. Die Grenzen sozialer Organisation sind in der Unfähigkeit von Individuen zu suchen, die Perspektive von anderen zu übernehmen; sich an ihre Stelle zu versetzen. Ich möchte auf diese Tatsa~he, die hinreichend bekannt ist, nicht weiter eingehen, sondern ich möchte behaupten, daß wir hier eine echte Organisation von Perspektive~ vorfinden. Das Prinzip ist evident : das Individuum übernimmt die Perspektive von anderen, sofern es fähig ist, ihre Einstellungen einzunehmen oder sich auf ihren Standpunkt zu stellen. Während jedoch das Prinzip zu den Gemeinplätzen der Sozialwissenschaften gehört, sind seine Implikationen von außerordentlicher Tragweite - wenn man die Objektivität von Perspektiven akzeptiert und dabei bedenkt, daß andere mit Geist begabte IncJ_iyid~en diese Perspektiven konstituieren, daß es hier keine v~n- G~ist abgetrennte Natur gibt. Die soziale Perspektive existiert in der Erfahrung des Individuums, insofern sie verstehbar ist; und ger~de ihre Verstehbarkeit ist .die Bedingung dafür, daß das Individuum die Perspektive von anderen- insbesondere die seiner Gruppe - übernehmen kann. Für jede Sozialwissenschaft sind die-objektiven Daten die Erfahrungen von Individuen, in denen sie die Einstellung der Gerneinschaft einnehmen, d. h. die Perspektiven der anderen Mitglieder der Gemeinschaft übernehmen. Natürlich kann der Sozialwissenschaftler im Kontext seiner Wissenschaft objektivieren, was in den Erfahrungen einer Gerneinschaft hoffnungslos subjektiv bleibt, ebenso wie der Psychologe erklären kann, was für das Individuum ein völlig undurchsichtiges Gefühl ist. Ich sage dies jedoch nicht als Erkenntnistheoretiker oder als Metaphysiker. Ich frage ganz einfach, was für den Sozialwissenschaftler objektiv gegeben, was der Gegenstand seiner Wissenschaft ist.- Ich möchte damit darlegen, daß der kritische Sozialwissenschaftler lediglich die engeren Perspektiven anderer Gemeinschaften durch solche einer höher organisierten und damit universelleren Gemeinschaft ersetzt. 156
Sehr aufschlußreich ist für uns die Feststellung, daß sich der Charakter dieser allgemeinen Perspektive nie vorher rapider geändert hat, als seit wir jenes Verfahren weiter in den Griff bekommen haben, durch das die individuelle Perspektive zur Perspektive der umfassendsten Gemeinschaft - der Gemeinschaft der denkenden Menschen- wird: das Verfahren der experimentellen Methode. Durch die Leichtigkeit, mit der wir über - wie man sagen könnte - eine Transformationsformel die Erfahrungen anderer Gemeinschaften in unsere. eigenen übersetzen· können, werden wir dazu verleitet, der Perspektive unseres eigenen Derikens [den Anschein] der Endgültigkeit zu verleihen. Aber ein Blick auf das verwirrende Tempo, in dem sich verschiedene Epochen, d. h. Vergangenheiten abgelöst haben und neue physikalische Systeme entstanden· sind, sollte ausreichen, um uns klarzumachen, daß keine Generation bisher so unsicher darüber war, welches die gemeinsame Perspektive der nächsten sein würde. Es war uns niemals so unklar, welches die Werte sind, die die Nationalökonomie zu definieren versucht, welches die politischen Rechte und Pflichten der Bürger, welches die Gemeinschaftswerte der Freundschaft, der Liebe, der Elternschaft, der Unterhaltung, der Schönheit, der gesellschaftlichen Solidarität in allihren unzähligen Formen, oder welches die Werte sind, die für die Beziehungen der Menschen mit der höchsten Gemeinschaft oder mit Gott gelten. Andererseits gab es niemals eirie Zeit, in der Menschen so leicht die Bedingungen angeben konnten, unter denen sich alle erdenklichen Werte bewahren lassen. Mit Hilfe von Transformationsformeln können wir unter Angabe der gemeinsamen Bedingungen aus einem Wertsystem in ein anderes überwechseln und so der Antwort näherkommen, welches das wertvollere ist, bzw. wie jedes sich erhalten läßt. Die gemeinsame Perspektive ist Verstehbarkeit (comprehensibility), und Verstehbarkeit ist Beschreibung im Rahmen der gemeinsamen sozialen Bedingungen. Das Verhältnis von individueller zu gemeinsa!Jler Perspektive ist für uns bedeutsam. Für den Biologen gibt es eine gemeinsame Umwelt eines Ameisenhaufens oder eines Bienenstockes, die er aus den komplizierten Sozialbeziehungen der Ameisen und der Bienen ersehen kann. Es ist jedoch völlig unwahrscheinlich, daß diese Perspektive in den Perspektiven individueller Ameisen oder Bienen existiert, da es keinerlei Anzeichen für eine Kommunika157
tion [zwischen ihnen] gibt. Kommunikation ist ein sozialer Prozeß, dessen Naturgeschichte zeigt, daß er sich aus kooperativen Aktivitäten - wie etwa Sexualbeziehungen, Elternschaft, Kampf etc. - entwickelt, in denen irgendeine Phase einer bestimmten Handlungsweise, die man als Geste bezeichnen kann, für andere als Stimulus wirkt, ihren Teil der sozialen Handlung auszuführen. Dies ist jedoch noch nicht Kommunikation im vollen Sinne, d. h. der Stimulus ist noch kein »signifikantes Symbol«, solange die Geste in dem Individuum, von dem sie ausgeht, nicht dieselbe Reaktion hervorruft, die sich bei den anderen auslöst. Wie die Geschichte der Sprachentwicklung zeigt, stimuliert die an den anderen adressierte vokale Geste in den ersten Entwicklungsphasen bei dem Individuum, das die Geste von sich gibt, nicht einfach die Reaktion:, die sie im anderen hervorruft- wie etwa »Waffe-ergreifen« oder »Gefahr-vermeiden«- sondern in erster Linie die soziale Rolle, die der andere in diesem kooperativen Akt zu spielen hat. Dies läßt sich sowohl an der frühen Spielperiode in der Entwicklung des Kindes als auch an den vielfältigen sozialen Implikationen der Sprachstrukturen bei primitiven Völkern zeigen. Im Prozeß der Kommunikation ist das Individuum »ein anderer«, bevor es es selbst ist. Indem es sich selbst in der Rolle eines anderen anspricht, erfährt es sich als Selbst. Die Entwicklung von organisierten Gruppenaktivitäten in der menschlichen Gesellschaft- und die Entwicklung des organisierten Spiels (game) aus dem einfachen Spielen (play) in der Erfahrung des Kindes- teilte dem Individuum eine Vielzahl verschiedener Rollen zu - sofern diese Teile der sozialen Handlung waren -, und gerade aus der Organisation dieser Rollen zu einer Gesamt-Handlung ergab sich die ihnen gemeinsame Eigenschaft : sie zeigten dem Individuum, was es zu tun hatte. Das Individuum kann jetzt als »generalisierter anderer« in der Einstellung der Gruppe oder Gemeinschaft zu sich selbst Stellung nehmen. Mit dieser Fähigkeit ist das Individuum gegenüber dem sozialen Ganzen, dem es zugehört, ein definitives »Selbst« geworden. Dies ist die gemeinsame Perspektive. Sie existiert in den Organismen aller Mitglieder der Gemeinschaft, da die physiologische Differenzierung menschlicher Lebewesen weitgehend zur Vollzugsphase der Handlung gehört. Der Bereich, in dem soziale Organisation unmittelbar stattfindet, ist voll von Gegenständen, physischen Dingen oder Instru158
menten. In den Gesellschaften· der wirbellosen Tiere, die ihrer Komplexität nach mit menschlichen Gesellschaften durchaus vergleichbar sind, hängt die Organisation weitgehend von der physiologischen Differenzierung ab. In einer derartigen Gesellschaft gibt es offensichtlich in der individuellen Handlung keine Phase, in der das Individuum sich die Einstellung des anderen einnehmen sieht. Von Geschlechtsbeziehungen und Elternschaft abgesehen, spielt die physiologische Differenzierung hingegen in der menschlichen Gesellschaft keine Rolle. Der Mechanismus der menschlichen Gesellschaft besteht darin, daß leibliche Individuen sich durch Manipulation mit physischen Dingen bei ihren kooperativen Handlungen gegenseitig unterstützen oder stören. In den frühesten Formen der Gesellschaftsentwicklung wer
>Selbst« wird, wobei derselbe Inhalt der Handlung den anderen wie auch das »Selbst« konstituiert. Aus diesem Prozeß entsteht Denken, d. h. Konversation mit seinem Selbst [zunächst) in der Rolle des spezifischen anderen und dann - in der obeiJ. yon mir dargestellten Weise- in der Rolle des generalisierten anderen. Es ist wichtig festzuhalten, daß das Selbst sich nicht. in. den- anderen hineinprojiziert. Die- anderen und das Selbst entstehen zusammen im sozialen Handeln. Der Inhalt de11 Handeins - so könnte man sag-en - liegt im Organismus, aber in den anderen wird er nur in dem Sinne projiziert, in dem er in das Selbst 159
projiziert wird- eine Tatsache, auf die sich die gesamte Psycho. -analyse gründet. Wir kneifen uns, um uns zu vergewissern, daß wir wach sind, wie wir nach einem Objekt greifen, um uns zu vergewissern, daß ·es da ist. Das andere Moment der menschlichen Intelligenz zeigt sich darin, daß sie es mit physischen Dingen zu tun hat. Physische Dinge sind wahrnehmbare Dinge ; sie entstehen gleichfalls im Handeln. Dieser Prozeß wird .von einem entfernten Stimulus ausgelöst und führt durch Annäherung oder Rückzug zum Kontakt oder zur Vermeidurig von Kontakt. Das Handlungsergebnis zeigt sich im Vollzug der Handlung, z. B. im Essen; doch tritt bei menschlichen Lebewesen eine Vermittlungsstufe der Manipulation dazwischen. Die Hand vermittelt das physische oder wahrnehmbare Ding. Der W ahrnehmungsgegen.si:and ist vollkommen »vorhanden«, solange er in Reichweite der Manipulation ist, wo. er sowohl gesehen als auch gefühlt wird, wo wir sowohl die Aussicht auf Kontakt wie· auch tatsächlichen Kontakt haben ; es ist charakteristisch für den entfernten Stimulus und das von ihm ausgelöste Handeln, daß die Einstellung der Manipulation bereits vorliegt - ich nenne dies die »Ziel-Einstellung« (terminal attitude) des Wahrnehmungsaktes: diese Bereitschaft zuzugreifen,: tatsächlichen Kontakt herzustellen, die in gewissem Sinne den Zugang zum entfernten Reiz steuert. Die spezifisch menschliche Intelligenz beginnt nun genau dort, wo in den Operationen mit diesen physischen, wahrnehmbaren Gegen-ständen der physiologische Akt nicht zum Ende gelangt. Der Mensch ist ein Werkzeug-Tier (implemental animal); er führt seine Handlungen mittelbar aus. Die Hand führt die Nahrung zum Mund oder das Kind an die Brust - aber im sozialen Handeln wird diese Vermittlung unendlich kompliziert, und es erhebt sich das Problem, die Ausführung der Handlung - oder das Ziel - in Begriffen der Mittel auszudrücken. Die beiden Gründe hierfür sind : erstens die Hemmung, die eintritt, wenn zwei sich widersprechende Möglichkeiten, eine Handlung auszuführen, jede der beiden Handlungsvollzüge blockieren ; ·und zweitens der oben beschriebene soziale Mechanismus, mit dessen Hilfe das Individuum sich selbst und andere auf wahrnehmbare Dinge hinweisen kann, die sich anfassen, manipulieren und kombinieren lassen. In diesem Bereich instrumenteller, durch signifikante Gesten herausgehobener Dinge, und nicht im Bereich physiologischer Differenzierung, hat sich die Komplexität der 160
menschlichen Gesellschaft entwickelt. Und - um auf meine vorherige Behauptung zurückzukommen - in diesem Bereich ist das Selbst ein instrumentelles physisches Ding genau so, wie bei primitiven Völkern ein physisches Ding ein Selbst ist. Meine These war, daß wir in der Gesellschaft und in sozialer Erfahrung - interpretiert man sie im Sinne einer behavioristischen Psychologie - ein Beispiel für jenen Begriff der Organisation von Perspektiven finden, der - wenigstens für mich - das unklarste Moment der Whiteheadschen Philosophie darstellt. In seiner objektiven Darstellung der Relativität ist die Existenz von· Bewegung in einer Ereignisfolge nicht davon abhängig, was sich in einem absoluten Raum-Zeit..:System abspielt, sondern von der Beziehung eines gleichsinnigen Systems zu einem Wahrnehmungsereignis. Eine derartige Beziehung gliedert Natur. Diese Gliederungen existieren nicht nur in der Natur, sondern sie sind die einzigen Formen der Natur, die existieren. Diese Abhängigkeit der Natur vom Wahrnehmungsereignis bedeutet nicht eine Zurückverlegung der Natur ins Bewußtsein. Räume und Zeiten von zeitlicher Dauer, welche Abfolgen dieser Gliederungen sind, Ruhe und Bewegung existieren, aber sie existieren nur in ihrer Beziehung zu Wahrnehmungsereignissen oder Organismen. Wir können darüberhinausgehend sagen, daß die sensuellen Qualitäten der Natur in der Natur existieren, jedoch nur in ihrer Beziehung zu lebenden Organismen. Weiter können wir andere Werte, von denen bisher angenommen wurde, sie seien abhängig von Begierden, Wertschätzungen und Neigungen und die Gesamtheit dessen, was die dualistische Doktrin dem Bewußtsein zugeschrieben hatte, der Natur zurückerstatten; denn die raumzeitliche Struktur der Welt und Bewegung, mit der sich die exakten Naturwissenschaften beschäftigen, existiert in der Natur lediglich in ihrer Beziehung zu Wahrnehmungsereignissen oder Organismen. Stillstand und Bewegung implizieren ein.ander in eben solchem Maße wie Subjektivität und Objektivität. Es gibt Perspektiven, die aufhören, objektiv zu sein, wie das Ptolemäische Weltbild, da es nicht jene gleichsinnigen Systeme mit den geeigneten dynamischen Achsen wählte, und es gibt die Perspektiven hinter dem Spiegel und die eines Alkoholiker-Hirns. In alldiesen Fällen, von den allgemeinsten bis zu den speziellsten, scheitert die verworfene Perspektive daran, daß sie nicht mit der gememsamen 161
Perspektive übereinstimmt, die das Individuum n11n einmal als Mitglied einer Gemeinschaft einnimmt und die damit für sein Selbst konstitutiv ist. Dies ist kein Fall von Kapitulation vor -der Entscheidung einer Mehrheit, sondern die Entwicklung eines neuen Selbst aus seinem Umgang mit anderen und damit mit sich selbst. Was ich behaupte, ist, daß dieser Prozeß, in dem eine Perspektive aufhört, objektiv zu sein- wenn man so will- subjektiv wird, und in dem neuen gemeinsamen Bewußtsein und neue gemeinsame Perspektiven entstehen, daß dieser Prozeß ein Beispiel für die Organisation von Perspektiven in der Natur, für den schöpferischen Fortschritt der Natur ist. Dies bedeutet, daß Bewußtsein (mind)- wie es im Mechanismus des Sozial-Verhaltens auftrittdie Organisation von Perspektiven in der Natur undzumindest ein Moment des schöpferischen Fortschritts der Natur ist. Natur in ihrer Beziehung zum Organismus, der wiederum. Teil der Natur ist, ist eine vorgegebene Perspektive. Ein Bewußtseinszustand des Organismus ist die Schaffung von Gleichzeitigkeit von Organismus und einer Reihe von Ereignissen, dadurch, daß das Handeln - wie oben beschrieben - durch Inhibition blockiert ist. Diese Handlungsblockierung bedeutet die Tendenz innerhalb des Organismus, bei der Ausführung einer Gesamt-Handlung einander widersprechende \V ege einzuschlagen. Diese Einstellung des Organismus ruft - oder ruft tendenziell- in anderen Organismen Reaktionen hervor, die der Organismus - wenn es sich um menschliche Gesten handelt - in sich selbst hervorruft ; der Organismus stimuliert sich damit selbst, auf diese Reaktionen zu reagieren. Die Identifikation dieser Reaktionen mit den entfernten Reizen stellt eine Gleichzeitigkeit her, welche diesen entfernten Stimuli ein >>Inneres« und dem Organismus ein Selbst gibt. Solange diese Simultaneität nicht besteht, sind diese Stimuli raumzeitlich vom Organismus entfernt und ihre Realität liegt in der Zukunft. Die Herstellung von Gleichzeitigkeit rückt diese zukünftige Realität in eine mögliche Gegenwart ; denn jede Gegenwart außerhalb der Reichweite unserer Manipulation ist lediglich eine Möglichkeit, soweit es ihre Wahrnehmungsrealität betrifft. Wir handeln im Hinblick auf eine zukünftige Realisation der Handlung - als sei diese Verwirklichung der Handlu.ng bereits gegenwärtig-, weil der Organismus die Rolle des anderen einnimmt. Der organische Inhalt, der in dem wahrnehmbaren 162
unbeseelten Objekt übrigbl~ibt, ist der Widerstand, den der Organismus im Bereich der Manipulation sowohl empfindet als auch ausübt. Die tatsächlichen raum-zeitlichen Strukturen von ablaufenden Ereignissen mit Eigenschaften, auf die die Wahrnehmungsfähigkeiten des Organismus ansprechen, existieren in der Natur selbst, aber sie sind zeitlich wie· räumlich vom Organismus entfernt.. Die Realität: hängt vom Erfolg des Handeins ab : gegenwärtige Realität ist eine Möglichkeit. Realität ist, was sein würde, wenn wir uns dort anstatt hier befänden. Mit Hilfe des sozialen Mechanismus der signifikanten Symbole vermag der Organismus sich »nach dort« zu versetzen- als eine Möglichkeit [seines Handeins ], welche eine zunehmende Wahrscheinlichkeit erlangt, insofern sie in die raum-zeitliche Struktur und die Erfordernisse der komplexen Gesamt-Handlung paßt, von welcher dieses Verhalten des Organismus ein Teil ist. Diese Möglichkeit jedoch existiert in der Natur selbst, denn sie ergibt sich aus tatsächlichen Ereignis-Strukturen und .ihren Inhalten und aus den möglichen Realisationen der Handlungen in Form von Anpassungen und korrigierten Anpassungen der involvierten Prozesse. Wenn wir diese als Möglichkeiten ansehen, nennen wir sie geistige oder Arbeitshypothesen. Ich gebe zu, daß das einzige Beispiel für ein zusammenfassendes Begreifen in der Erfahrung (prehension in experience) dieses Gegeneinanderhalten von Zukunft und Vergangenheit als Möglichkeiten ist . . :. denn jede Gegenwart ist ebenso wesentlich wie jede Zukunft einer möglichen Revisi9n unterworfen und ist deshalb lediglich eine Möglichkeit -; der gemeinsame Inhalt, der sich erhält, ist lediglich das, was dem Organismus und der Umwelt in der Perspektive gemeinsam ist. Dies wird im Organismus identifiziert mit den raum-zeitlich entfernten Stimuli :lls einer möglichen realen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Einheit liegt in der Handlung oder im Prozeß, und im Begreifen drückt sich diese Einheit aus, wenn der Prozeß durch widersprüchliche Tendenzen blockiert wird und die Bedingungen und Resultate .dieser Tendenzen als Möglichkeiten in einer aktuellen Gegenwart festgehalten werden. . Somit ist der soziale und psychologische Prozeß nur ein Beispiel für das, was in der Natur passiert, sofern Natur Evolution ist, d. h. wenn sie ihren Fortschritt dadurch erreicht, daß sie in Konflikt-Momen~en Rekonstruktionen hervorbringt, und wenn 163
also damit die Möglichkeiten gegeben sind, verschiedene Rekonstruktionen - der Vergangenheit ebenso wie der Zukunft hervorzubringen. Es ist die Relativität der Zeit, die unbegrenzte Anzahl möglicher Ereignis-Anordnungen also, welche in die Natur »Möglichkeit« einführt. Als es nur eine einzige anerkannte Ordnung der Natur gab, hatte der B·egriff »Möglichkeit« nirgend Platz als in den geistigen Entwürfen der Zukunft oder der unvollständig bekannten Vergangenheit. Die Realität einer raumzeitlich entfernten Situation jedoch liegt gewissermaßen immer vor ~ns, und jede gegenwärtige Existenz dieser Situation- sofern sie außerhalb der Reichweite der Manipulatiop. liegt - kann nur eine Möglichkeit sein. Bestimmte Eigenschaften sind da, aber um weJche Dinge es sich handelt, läßt sich erst feststellen, wenn die Handlungen, die diese entfernten Reize stimulieren, vollendet sind. Was sie. jetzt sind, ist in einer Menge möglicher raumzeitlicher Strukturen repräsentiert. Daß diese zukünftigen Realisierungen als gegenwärtige Möglichkeiten erscheinen, gründet sich in dem Blockieren der Handlung des Organismus und in seiner Fähigkeit, diese Möglichkeiten anzugeben. Daß · diese Möglichkeiten verschiedene Wahrscheinlichkeitsgrade haben, ergibt sich aus dem Verhältnis der verschiedenen gehemmten Tendenzen des Organismus zur Gesamt-Handlung. Die Organisation dieser Gesamt-Handlung kann der menschlich soziale Organismus anderen und sich selbst mitteilen. Die Organisation der Gesamt-Handlung hat eine Struktur, die andere Individuen, physische Dinge und den Organismus als Selbst und als Ding genau bestimmt ; die mitgeteilten Bedeutungen besitzen in der Gemeinschaft, zu der der Organismus gehört, Allgemeingültigkeit. Sie konstituieren ein Universum gemeinsamer Sprache (universe of. discourse). Wenn die speziellen Tendenzen des Organismus in diese umfassendere Struktur des Gesamt-Prozesses hineinpassen, ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, daß die Dinge, die jede Handlung impliziert, iri der Gegenwart existieren. Ihre volle Realität ist jedoch noch immer abhängig von dem Handlungsvollzug, von experimenteller Evidenz. Es ist dann also ei.ne solche Koinzidenz der Perspektive des individuellen Organismus mit der Struktur der Gesamt-Handlung - in die die individuelle Perspektive derart mit einbegriffen ist, daß der Organismus in ihr handeln kann -, welche die Objektivität der Perspektive konstituiert. 164
Das Muster der sozialen Gesamt-Handlung kann im individuellen Organismus vorhanden sein, weil sie mit Hilfe von instrumentellen Dingen ausgeführt wird, auf die jeder Organismus reagieren kann, und weil diese Reaktionen anderen und dem Organismus selbst mit Hilfe von Bedeutungssymbolen mitgeteilt werden können. Die Rekonstruktion dieses Musters kann im Organismus vor sich gehen, und sie findet in den sogenannten Bewußtseinsprozessen des Geistes statt. Der psychologische Prozeß i~t ein Beispiel des kreativen Fortschritts der Natur. In den gegenüber dem Menschen niederen Lebensformen kann die entfernte Perspektive aufgrund der Sensitivität (dieser Lebensweise) in der Erfahrung existieren, und das Erfassen [dieser entfernten Perspektive] in und durch Verhaltensanpassung mag der Gliederung der Natur entsprechen ; die Rekonstruktion des Struktur-Zusammenhangs jedoch, in dem das Leben des Organismus abläuft, liegt außerhalb der Erfahrung des Organismus. Zwar strukturiert die Beständigkeit einer Zeit-Struktur, d. h. eines Prozesses auch bei unbeseelten Organismen noch Natur und läßt damit Räume und Zeiten entstehen, aber weder diese noch die in ihnen enthaltenen Entitäten gehen als Erfahrungstatsachen in die Prozesse dieser Organismen ein. Die Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität kann sich erst da ergeben, wo die Strukturen des umfassenderen Prozesses, der die Prozesse des individuellen Organismus impliziert, bis zu einem gewissen Maße in die Erfahrung des individuellen Organismus eingehen; d. h, diese Unterscheidung gehört ausschließlich der Erfahrung eines sozialen Organismus an.
Anmerkung
1 (Ed.) William James, »Does >Consciousness< Exist ?«, The Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods, I, (1904). Aufgenommen in William James, Essays in Radical Empiricism, New York 1912, s. 1-38.
II
Die Hermeneutik in den Wissenschaften
Charles Taylor Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen I. · 1. Ist es sinnvoll zu sagen, daß in den Wissenschaften vom Menschen die Interpretation wesentlich zur Erklärung gehöre ? Die Auffassung, daß dies zutrifft, daß die Wissenschaften vom Menschen eine unvermeidliche ))hermeneutische« Komponente enthalten, geht auf Dilthey zurück. Aber seit kurzem ist die Frage wieder in den Vordergrund getreten, z. B. indenWerken von. Gadamer1, in Ricceurs Freud-Interpretation2 und in den Schriften von Habermas. 3 Interpretation, im hermeneutisch relevanten Sinn, ist der Versuch, ein Studienobjekt klar, sinnvoll zu machen. Dieses Objekt muß daher ein Text - oder ein Text-Analogen - sein, der in gewisser Weise wirr, unvollständig, verschwommen, scheinbar widersprüchlich, also auf die eine oder andere Weise unklar ist. Die Interpretation ist bestrebt, einen tieferen Zusammenhang oder Sinn ans Licht zu bringen. Dies bedeutet, daß jede Wissenschaft, die als »hermeneutisch« selbst im weiteren Sinne bezeichnet werden kann, sich mit der einen oder anderen der verwirrend ineinandergreifenden Formen von Bedeutung (meaning) befassen muß. Versuchen wir etwas klarer zu erkennen, was dies beinhaltet. 1) Wir brauchen, erstens, ein Objekt oder ein Feld von Objekten, von dem ausgesagt werden kann, daß ihm Kohärenz eignet oder fehlt, daß es Sinn oder Unsinn ergibt. 2) Wir müssen, zweitens, in der Lage sein, eine, wenn auch relative Unterscheidung zu treffen zwischen dem vorhandenen Sinn oder Zusammenhang und seiner Verkörperung in einem besonderen Feld von Trägern oder Signifikanten. Denn sonst wäre die Aufgabe, das zu klären, was fragmentarisch oder verworren ist, absolut unmöglich zu lösen. Eine solche Vorstellung wäre sinnlos. Wir müssen also in der Lage sein, über unsere Interpretationen Feststellungen zu treffen, wie: Die in diesem Text oder Text-Analogen vorhandene, verworrene Bedeutung 169
kommt hier klar zum Ausdruck. Mit anderen Worten, die Bedeutung läßt mehr als eine Ausdrucksform zu, und in diesem Sinn muß eine Unter~cheidung zwischen Bedeutung und Ausdruck möglich sein. Die obige Einschränkung, nämlich daß diese Unterscheidung nur eine relative sein kann, bezieht sich auf die Tatsache, daß es Fälle gibt, in denen es unmöglich ist, eine klare, unzweideutige, nicht-willkürliche Trennlinie zwischen dem Ausgesagten und sei~ er Ausdrucksform zu ziehen. Man kann plausibel (und, wie ich glaube, überzeugend, obgleich hier nicht der Platz ist, näher darauf einzugehen) behaupten, daß dies die normale und fundamentale Bedingung des bedeutungs- oder sinnvollen Ausdrucks ist, daß die exakte Synonymie oder Äquivalenz der Bedeutung eine seltene und örtlich beschränkte Errungenschaft spezialisierter Spracre n oder Zivilisationsgebräuche ist. Aber wenn dies zutrifft (und ich glaube, das tut es), so hebt es doch nicht den Unterschied zwischen Bedeutung und Ausdruck auf. Selbst wenn man vernünftigerweise sagen karin, daß eine in einem neuen Medium wieder-ausgedrÜckte Bedeutung nicht als identisch mit der ursprünglichen erklärt werden kann, so folgt daraus keineswegs, daß wir das Vorhaben, eine Bedeutung in neuer. Form auszudrücken, als sinnlos ansehen müßten. Gewiß ergibt sich daraus die interessarite und schwierige Frage, was unter »es in klarer Form ausdrücken« zu verstehen sei: was ist dieses »es«, welches geklärt wird, wenn eine Äquivalenz geleugnet wird? Ich hoffe hierauf zurückzukommen, wenn ich die Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen untersuche. Daher muß der Gegenstand einer Wissenschaft der Interpretation in Begriffen wie Sinn und Unsinn, Kohärenz und fehlende. Kohärenz beschreibbar sein; und er muß eine Unterscheidung zwischen Bedeutung und ihrem Ausdruck zulassen. 3) Es muß auch noch eine dritte Bedingung erfüllt sein. Wir können von Sinn oder Kohärenz oder von ihren verschiedenen Verkörperungen in Zusammenhang mit Phänomenen wie Gestalt oder Muster bei Felsbildungen oder Schneekristallen sprechen, wo der Begriff »Ausdruck« nicht wirklich angebracht ist. Was fehlt, ist der Begriff eines Subjektes, für welches diese Bedeutungen gegeben sind. Ohne ein solches Subjekt ist die Auswahl von Kriterien wie Gleichheit und Unterschied, die Wahl zwischen den verschiedenen Formen von Kohärenz, die in einem gegebe170
nen Muster identifiziert werden können, zwischen den verschiedenen begrifflichen Feldern, auf denen sie festgestellt werden kann, willkürlich. In einem Text oder Text-Analogon dagegen versuchen wir die ausgedrückte Bedeutung - und dies heißt: durch oder für ein Subjekt oder Subjekte ausgedrückt - zu explizieren. Der Begriff »Ausdruck« verweist uns auf den des Subjekts. Die Identifizierung des Subjekts ist keineswegs notwendig unproblematisch, wie wir später sehen werden ; sie kann eines der schwierigsten Probleme sein - ein Gebiet, auf dem die herrschenden epistemologischen Vorurteile uns für das Wesen unseres Studienobjekts blind machen können. Und ich glaube, daß dies der Fall ist, wie ich unten zeigen werde. Darüber hinaus versichert die Identifikation eines Subjekts uns nicht einer klaren und absoluten Unterscheidung zwischen Bedeutung und Ausdruck, wie wir oben sahen. Aber jede solche Unterscheidung, selbst eine relative, ist ohne den Appell an ein Subjekt durch nichts begründet, vollkommen willkürlich. Das Objekt einer Wissenschaft der Interpretation muß also aufweisen: einen vom Ausdruck unterscheidbaren Sinn, welcher nur für oder durch ein Subjekt ist. 2. Bevor wir untersuchen, wie, wenn überhaupt, diese Bedingungen in den Wissenschaften vom Menschen realisiert sind, mag es, wie ich glaube, nützlich sein, etwas klarer festzustellen, was diese Frage besagt, warum es entscheidend ist, ob wir die Wissenschaften vom Menschen als hermeneutische ansprechen, worum es hier eigentlich geht. Unser Problem ist im Grunde ein epistemologisches. Aber. es istunauflöslich mit einem ontologischen verbunden und daher zwangsläufig relevant- für unsere Auffassung von Wissenschaft und die korrekte Durchführung der Forschung. Wir könnten sagen, daß es sich um ein ontologisches Problem handelt, das seit dem 17. Jahrhundert stets in Form epistemologischer Fragen erörtert wurde, deren einige als unbeantwortbar erschienen. Der Sachverhalt ließe sich folgendermaßen formulieren : welches sind die Urteilskriterien in einer hermeneutischen Wissenschaft ? Eine gelungene Interpretation ist . eine solche, welche die ursprünglich in. verworrener, fragmentarischer, unklarer Form vorhandenen Bedeutung klärt. Aber woher weiß man, daß diese
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Interpretation richtig ist? Vermutlich, weil sie den ursprünglichen Text verständlich macht: was an ihm seltsam, rätselhaft, verwirrend, widersprüchlich ist, ist dies nun nicht mehr, ist erklärt. Die Interpretation appelliert durchaus an unser Verstehen der »Sprache«, in welcher der Ausdruck geschieht, denn dieses Verstehen erlaubt uns zu erkennen, daß dieser Ausdru,ck verwir.; rend ist, daß er sich in Widerspruch zu jenem anderen befindet usw., und daß diese Schwierigkeiten aufgeklärt sind, wenn die -Bedeutung in neuer Form ausgedrückt ist. _ A~er dieser Appell an unser Verständnis scheint wesentlich inadäquat. zu sein. Was, wenn jemand die Adäquanz unserer Interpretation nicht >>sieht«, unsere Lesart nicht akzeptiert? Wir versuchen ihm zu zeigen, wie sie den ursprünglichenUn-oder Teilsinn verständlich macht. Aber um uns zu folgen, muß er die ursprüngliche Sprache so lesen, wie wir es tun, er muß diese Ausdrücke als irgendwie verwirrend erkennen und daher nach einer Lösung für unser Problem suchen. Tut er dies nicht, was können wir dann tun? Die Antwort lautet offenbar: in gleicher Weise fortfahren. Wir müs~en ihm_ anhand det Lesart anderer Ausdtücke zeigen, warum dieser eine Ausdruck in der von uns vorgeschlagenen Weise gelesen werden m1,1ß. Aber damit dies gelingt, ist es erforderlich, daß er uns bei diesen anderen Lesarten folgt, und so . weite~ - offenbar ad infinitum. Letzten Endes entgehen wir nicht der Forderung nach einem gemeinsamen Verständnis der Ausdrücke, der betreffenden »Sprache«. Dies ist nur ein Versuch, das auszudrücken, was als »hermeneutischer ·Zirkel« bezeichnet wurde. Was wir zu begründen suchen, ist eine bestimmte Lesart eines Textes oder von Ausdrücken, und was wir als unsere Gründe für diese Lesart anführen, können nur weitere Lesarten sein. Dieser Zirkel kann auch in Form von Teil-GanzesBeziehungen dargestellt werden : wir versuchen eine Lesart für den ganzen. Text zu begründen, und zu diesem Zweck berufen wir uns auf· Lesarten .seiner Teilausdrücke; aber da wir es mit Bedeutung, mit Verstehen zu tun haben, wobei Ausdrücke nur in Beziehung zu anderen verstehbar sind oder nicht, beruhen die Lesarten von Teilausdrücken doch auf_- den Lesarten anderer Teilausdrücke und schließlich des Ganzen. Um dies forensisch darzustellen, wie wir es oben versuchten: wir können einen Gesprächspartner nur dann überzeugen, wenn er an einem. gewissen Punkt unser-Verständnis der betreffenden 172
Sprache teilt. Tut er dies nicht, dann gibt es keine weitere rationale Argumentation; wir können versuchen, seine Intuition zu wecken, oder wir können einfach aufgeben; die Argumentation wird uns nicht weiterführen. Aber das forensische Dilemma kann gewiß auch auf mein eigenes Urteilen übertragen werden: wenn ich so wenig in der Lage bin, einen eigensinnigen Gesprächspartner zu überzeugen, wie kann ich mich dann selbst überzeugen ? wie kann ich sicher sein ? Vielleicht sind meine Intuitionenfalsch oder verzerrt, vielleicht bin ich in einem Zirkel von Illusionen befangen. Eine, vielleicht die einzige vernünftige Antwort darauf ·würde lauten, daß diese Unsicherheit ein unablösbarer Bestandteil unserer epistemologischen Dilemmas ist. Daß diesen Sachverhalt als »Unsicherheit« zu charakterisieren sogar heißt, ein absurd scharfes Kriterium für »Sicherheit« anzulegen, welches diesen Begriff jeglicher sinnvollen Verwendung enthebt. Aber dies war nicht die einzige oder gar wichtigste Antwort, die unserer philosophischen Tradition einfiel. Und es war eine andere Antwort, die entscheidende, weitreichende Folgen für die Wissenschaften vom Menschen hatte. Es wurde ein Grad der Sicherheit gefordert, der nur erreicht werden kann, indem der Zirkel durchbrechen wird. Zwei Wege zu diesem Durchbruch wurden ins Auge gefaßt. Den ersten könnten wir den »rationalistischen« nennen und seinen Kulminationspunkt bei Hege! sehen. Er bedingt keine Negation der Intuition oder unseres Verständnisses von Bedeutung, sondern strebt vielmehr danach, ein V erstehen von solcher Klarheit zu erreichen, daß dieses mit der Gewißheit des Unleugbaren einherginge. In Hegels Fall z. B. geht unser volles Verstehen des Ganzen im »Denken« mit einem Begreifen seiner inneren Notwendigkeit einher, so daß wir erkennen, daß es nicht anders sein könnte. Kein höherer Grad von Gewißheit ist vorstellbar. Für ein solches Streben ist das Wort »Durchbruch« schlecht gewählt ; das Ziel ist vielmehr, das Verstehen zu einer inneren Klarheit zu bringen, die absolut wäre. Der andere Weg, den wir als den »empiristischen« bezeichnen können, ist ein genuiner Versuch, über den Zirkel unserer eigenen Interpretation hinauszugehen, um über die Subjektivität hinauszugelangen. Dabei wird versucht, das Wissen in der Weise zu rekonstruieren, daß es nicht notwendig ist, sich letzten Endes auf 173
Lesarten oder Urteile zu berufen, die nicht weiter überprüfbar werden können. Deshalb ist der Grundbaustein des Wissens nach dieser Auffassung der Eindruck, das Sinnesdatum- eine Informationseinheit, die etwas anderes ist als die Abgabe eines Urteils und die per definitionem kein Element von Lesart oder Interpretation enthält: die ein factum brutum ist. Das höchste Ziel wäre, unser Wissen aus solchen Bausteinen durch Urteile aufzubaU:en, die in einer Gewißheit jenseits der subjektiven Intuition verankert wären. Dies gerade bedingt die Attraktion der Vorstellung einer Assoziation von Ideen oder, faßt man dasselbe Verfahren als Methode auf: der Intuition. Wenn der ursprüngliche Erwerb dieser Informationseinheiten nicht die Frucht von Urteil oder Interpretation ist, dann braucht die Feststellung, daß zwei solcher Elemente zusammen auftreten, weder das Ergebnis einer Interpretation, einer Lesart, noch einer unüberprüfbaren Intuition zu sein. Denn wenn das Auftreten eines einzigen Elementes ein factum brutum ist, so trifft dies auch für das gemeinsame Auftreten zweier solcher Elemente zu. Der Weg zu wahrem Wissen wäre dann entscheidend von der richtigen Protokollierung solchen gemeinsamen Auftretens abhängig. Diese Überlegungen liegen einem Ideal der Verifikation zugrunde, das zent~aler Bestandteil einer bedeutenden Tradition der Wissenschaftsphilosophie ist - deren zeitgenössische Protagonisten die Vertreter des logischen Empirismus sind. Verifikation muß letzten Endes· auf der Erhebung von data bruta gründen. Unter »data bruta« verstehe ich hier und generell solche Daten, deren Validität nicht durch das Angebot einer anderen Interpretation oder Lesart in Frage gestellt werden kann, Daten, deren Glaubwürdigkeit durch weiteres Schlußfolgern nicht begründet oder untergraben werden kann. 4 Wenn gegebene Daten eine so unterschiedliche Interpretation zulassen, dann muß es möglich sein, die Argumentation so zu strukturieren, daß die fundamentalen data bruta von den aus ihnen abgeleiteten Schlußfolgerungen unterschieden sind. Die Schlußfolgerungen selbst müssen natürlich, um valide zu sein, in ähnlicher Weise über die Kritik durch eine konkurrierende Interpretation erhaben sein. Hier erweiterten die logischen Empiristen das Rüstzeug des traditionellen Empirismus, der auf die Methode der Induktion großen Wert legte, um den ganzen Bereich der logischen und mathematischen Schlußfolgerung, der 174
für den rationalistischen Standpunkt (zumindest bei Leibniz, wenngleich nicht bei Hege!) von entscheidender Bedeutung war und eine weitere Spielart fragloser Gewißheit bot. Selbstverständlich wurden die mathematische Schlußfolgerung und die empirische Verifikation so kombiniert, daß zwei oder mehr Theorien aus derselben Sphäre von Fakten verifiziert werden konnten. Aber dies war eine Konsequenz, mit der sich abzufinden der logische Empirismus bereit war. Was die SurplusBedeutung einer Theorie. betraf, die nicht mit den data bruta rigoros koordiniert werden konnte, so wurde diese als außerhalb der Logik der Verifikation liegend· betrachtet. Als eine Theorie der Wahrnehmung warf diese Epistemologie alle möglichen Probleme auf, nicht zuletzt das einer permanenten Gefahr des Skeptizismus und Solipsismus, die mit einer Konzeption, welche die fundamentalen Daten des Wissens als jeder Überprüfung unzugängliche data bruta auffaßt, untrennbar verbunden sind. Als Wahrnehmungstheorie scheint sie jedoch_weitgehend der Vergangenheit anzugehören, trotzeines überraschenden Wiederaufflackerns in der angelsächsischen Welt in den dreißiger und vierziger Jahren. Aber es ist kein Zweifel daran, daß sie weiterblüht, unter anderem als eine Theorie darüber, wie der menschliche Geist und das menschliche Wissen tatsächlich funktionieren. In gewissem .Sinn erleben wir in unseren Tagen eine bessere, rigorosere Variante dieser Epistemologie in Form der computerbeeinflußten Theorien der Intelligenz. Diese versuchen Intelligenz so darzustellen, als bestünde sie aus Operationen mit maschinen-lesbaren Inputs, die ihrerseits, mit Programmen, die von Maschinetl abgespult werden könnten, gleichzusetzen wäteri: Das Maschineri..,Kriterium bietet uns Gewißheit gegen die Berufung auf Intuition oder Interpretationen, welche nicht mit Hllfe von völlig expliziten, auf die data bruta - den Input- einwirkenden Verfahren verstanden werden können. 5 . Der Fortschritt der Naturwissenschaft hat dieser Epistemologie viel Glaubwürdigkeit verliehen, denn er kann nach. diesem Modell plausibel rekonstruiert werden, wie es z. B. die logischen Empiristen taten. Und selbstverständlich war die Versuchung groß, die Wissenschaften vom Menschen nach dem gleichen Modell zu rekonstruieren ; oder vielmehr sie auf Wege der Forschung zu führen, die_ diesem Paradigma entsprechen, denn es 175
wird ja ständig von ihnen behauptet, sie steckten noch »in den Kinderschuhen«. Die Psychologie, wo eine frühere Mode des Behaviorismus inzwischen durch einen Boom von. ComputerModellen ersetzt wurde, ist keineswegs das einzige Beispiel. Dieses epistomologische Vorurteil- man könnte sagen : Obsession - nimmt in den verschiedenen Wissenschaften verschiedene Formen an. Später möchte ich einen einzelnen Fall untersuchen, nämlich das Studium der Politik, wo diese Frage ausführlich behand~lt werden kann. Aber im allgemeinen ist die empiristische Orientierung zwangsläufig gegen eine Forschung abgeneigt, die auf Interpretation beruht und die in der oben gekennzeichneten Weise gegen den hermeneutischen Zirkel angeht. Diese kann nicht die Anforderungen der intersubjektiven, nicht-willkürlichen Verifikation erfüllen, welche sie als wesentlich für die .Wissenschaft ansieht. Und mit dem epistemologischen Standpunkt geht die ontologische Oberzeugung einher, daß die Realität dem Verstehen und der Erklärung durch eine so verstandene Wissenschaft zugänglich sein muß. Hieraus folgt eine gewisse Reihe von Vorstellungen darüber, was die Wissenschaften vom Menschen sein sollten. Andererseits würden viele, ich selbst eingeschlossen, einwenden, daß diese Auffassungen über die Wissenschaften vom Menschen steril sind, daß es uns nicht gelingen wird, wichtige Dimensionen des menschlichen Lebens innerhalb der durch diese epistemologische Orientierung gezogenen Grenzen zu verstehen. Zumindest in der einen oder anderen ihrer Verzweigungen ist diese Auseinandersetzung allen bekannt. Was ich hier behaupten möchte, ist, daß diese Frage mit Hilfe der Auffassung von Interpretation, wie ich sie oben zu skizzieren begann, fruchtbar gestellt werden kann. Und ich glaube, daß eine solche Art der Fragestellung nützlich ist, weil sie es UJ1.S ermöglicht, die nachhaltigen epistemologischen Überzeugungen, welche der orthodoxen Auffassung der Wissens~l}aften vom Menschen in unserer akademischen Gemeinschaft zugrunde liegen, ans Licht zu bringen, und gleichzeitig die in der Gegenthese implizierte Auffassung von unserem epistemologischen Dilemma explizit zu machen. Dies wäre tatsächlich ungewöhnlicher und schockierender für die Tradition des wissenschaftlichen Denkens, als von seiten der Gegner eines engen Scientismus häufig zugegeben oder erkannt wird. Vielleicht wird eine volle Klärung dessen, was eine hermeneutische Wissenschaft 176
eigentlich ist, den Stand der Opposition, was das überzeugen von Unentschlossenen betrifft, nicht stärken, aber ein Gewinn an Klarheit ist gewiß eine Lichtung der Reihen wert - zumindest in der Philosophie. · 3. Bevor wir im weiteren das Beispiel der politischen Wissenschaft untersuchen, mag es sich lohnen, eine andere Frage zu stellen: warum sollten wir überhaupt die Frage aufwerfen, ob die Wissenschaften vom Menschen hermeneutisch sind? Was bringt uns überhaupt auf den Gedanken, daß Menschen und ihre Handlungen ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten darstellen, welche die oben skizzierten Bedingungen erfüllen? Die Antwort lautet, daß auf phänomenologischer Ebene oder derjenigen der Alltagssprache (und für die Zwecke dieser Beweisführung fallen die beiden zusammen) ein gewisser Begriff von Bedeutung wesentlicher Bestandteil der Charakterisierung menschlichen Verhaltens ist. In diesem Sinn können wir davon sprechen, daß eine Situation, eine Handlung, eine Forderung, eine Aussicht für die Person eine bestimmte Bedeutung haben. Nun wird aber häufig angenommen, daß »Bedeutung« hier in einem Sinn verwendet werde, der irgendwie eine illegitime Erweiterung des Begriffs »linguistische Bedeutung« sei. Ob hier von einer Begriffserweiterung gesprochen werden kann oder nicht, ist eine andere Frage; auf jeden Fall weicht »Bedeutung« hier von »linguistischer Bedeutung« ab. Aber daraus ist schwerlich zu folgern, daß dies eine illegitime Verwendung des Begriffs sei. Wenn wir von der »Bedeutung« eines bestimmten Dilemmas sprechen, so verwenden wir einen Begriff, der folgende Gedankenverbindungen hat: a) Bedeutung ist für ein Subjekt gegeben; es handelt sich nicht um die Bedeutung der Situittion in vacuo, sondern um deren Bedeutung für ein Subjekt, ein spezifisches Subjekt, eine Gruppe von Subjekten oder vielleicht um das, was sie für das menschliche Subjekt als solches bedeutet (selbst wenn einzelne Menschen der Vorwurf treffen mag, dies nicht zuzugeben oder zu erkennen). b) Bedeutung ist Bedeutung von etwas; das heißt, wir können zwischen einem gegebenen Element- einer Situation, Handlung oder dergleichen - und ihrer Bedeutung unterscheiden. Aber dies besagt nicht, daß diese physisch voneinander zu trennen wären. Vielmehr haben wir zwei Beschreibun177
gen des Elements .vor uns, in deren einer es durch seine Bedeutung für das Subjekt charakterisiert ist. Aber die Beziehungen zwischen den beiden Beschreibungen sind nicht symmetrisch. Denn einerseits kann die Beschreibung durch die Bedeutung nicht statthaben, wenn nicht Beschreibungen der anderen Art ebenfalls zutreffen; oder anders gesagt, es kann keine Bedeutung ohne ein Substratum geben. Aber andererseits kann es sein, daß die gleiche Bedeutung einem anderen Substratum eigen ist - z. ß. kann eine Situation mit derselben Bedeutung unter verschiedenen physikalischen Bedingungen erkannt werden. Eine notwendige Bedingung ist, daß das Substratum potentiell substituierbar ist; oder, alle Bedeutungen sind Bedeutungen von etwas. Und drittens, c) Dinge haben nur Bedeutung innerhalb eines Feldes, d. h. in Beziehung zu den Bedeutungen anderer Dinge. Dies bedeutet, daß es so etwas wie ein einzelnes, außerhalb aller Beziehungen stehendes sinnvolles Element nicht gibt; und es bedeutet, daß Veränderungen der anderen Bedeutungen inne~ halb des Feldes Veränderungen des gegebenen Elements bedingen können. Bedeutungen können ausschließlich in Beziehung zu anderen identifiziert werden, und in dieser Hinsicht gleichen sie Wörtern. Die Bedeutung eines Wortes ist z. B. von den Wörtern abhängig, zu denen es einen Gegensatz bildet, von jenen, die seinen Platz innerhalb der Sprache definieren (z. B. solche, die »bestimmbare« Dimensionen wie Farbe oder Form definieren), von jenen, welche·die Aktivität oder das »Sprachspiel« definieren, in dem ersteres auftritt (beschreiben, sich berufen .auf, Gemeinsamkeit feststellen) usw. In diesem Sinn verhält es sich mit den Beziehungen zwischen Bedeutungen ähnlich wie mit jenen zwischen Begriffen in einem semantischen Feld. Genau wie unsere Farbbegriffe ihre Bedeutung durch das Kontrastfeld erhalten, das sie zusammen bilden, so daß die Einführung neuer Begriffe die Abgrenzungen der übrigen verändern würde, so werden auch die verschiedenen Bedeutungen, die das Verhalten eines Untergebenen für uns haben kann: ehrerbietig, respektvoll, kriecherisch, leicht spöttisch, ironisch, anmaßend, provozierend, regelrecht grob, .durch ein Kontrastfeld hergestellt; und in dem Maß, wie mit feineren Abstufungen unsererseits oder einer entwickelteren Kultur neue MöglichkC!iten entstehen, werden die anderen Begriffe dieser Reihe sich verändern. Wie die Bedeutung unserer Begriffe »rot«, »blau«, »grün« 178
durch die Definition eines Kontrastfeldes mittels des bestimmbaren Begriffs »Farb~« festgelegt ist, so sind alle diese alternativen Arten des Benehmens nur in einer Gesellschaft vorhanden, die, unter anderen Formen, hierarchische Macht- und Befehlsbeziehungen aufweist. Und dem Sprachspiel, das der Bezeichnung farbiger Objekte zugrunde liegt, entspricht das System sozialer Praktiken, welche diese hierarchischen Strukturen stützen und in ihnen erfüllt werden. Bedeutung in diesem Sinn - wir wollen sie empirische Bedeutung nennen - besteht also für ein Subjekt, von etwas, in einem Feld. Dies unterscheidet sie von der linguistischen Bedeut4ng, die keine drei-, sondern eine vierdimensionale Struktur hat. Lingu.istische Bedeutung besteht für Subjekte und in einem Feld, aber sie ist auch die Bedeutung- von Signifikanten und betrifft ein Universum von Bezügen. Sobald wir uns über die Ähnlichkeiten und Unterschiede verständigt haben, ist kaum zu bezweifeln, daß der ·Begriff »Bedeutung« keine Fehlbezeichriung, kein Prödukt einer illegitimen Erweiterung des Begriffs in diesem Kontext von Erfahrung und Verhalten ist. Es gibt also einen ganz legitimen Begriff von Bedeutung, den wir verwenden, wenn wir von der Bedeutung einer Situation für einen Handelnden sprechen. Und daß dieser Begriff statthat, ist integraler Bestandteil unseres Bewußtseins von und daher unserer Sprache über unsere Handlungen. Unsere Handlungen sind für gewöhnlich durch die mit ihnen verfolgten Zwecke charakterisiert und durch Wünsche, Gefühle und Emotionen erklärt. Aber die Sprache, ·mit der wir unsere Ziele, Gefühle, Wünsche beschreiben, ist ebenfalls eine Definition der Bedeutung, welche die Dinge für uns haben. Der Wortschatz, der Bedeutung definiert -Wörter wie »beängstigend«, »attraktiv« -,·ist mit dem Vokabular verbunden, das Gefühle beschreibt - »Furcht«, »Wunsch« - sowie mit demjenigen, das Ziele beschreibt »Sicherheit«, >>Besitz«. Außerdem bewegt sich unser Verstehen dieser Begriffe unausweichlich in einem hermeneutischen Zirkel. Ein Gefühlswort wie z. B. »Scham« verweist uns im wesentlichen auf eine bestimmte»beschämende« oder »demütigende«- Situation sowie auf einen gewissen Reaktionsmodus - sich verstecken, den dunklen Fleck bemänteln od_er sonstwie »auslöschen«. Das heißt: damit dieses Gefühl als Scham identifiziert wird, ist es wesentlich, daß es zu 179
dieser Situation in Beziehung gesetzt wird und diese Art der Disposition verursacht. Aber diese Situation wiederum kann nur in Beziehung zu den Gefühlen, die sie hervorruft,. identifiziert werden; und die Disposition ist auf ein Ziel gerichtet, das ähnlich nur unter Bezug auf die erlebten Gefühle verstanden werden kann: Das besagte» Verstecken« soll meine Schande bemänteln; es ist nicht dasselbe, wie wenn ich mich vor einem bewaffneten Verfolger verstecke; was das »Verstecken<~ bedeutet, ist nur zu verstehen, wenn wir verstehen, von welcher Art Gefühl oder Situation die Rede ist. Wir müssen innerhalb des Zirkels sein. Ein- Gefühlswort wie »Scham« läßt sich nur unter Bezug auf andere Begriffe erklären, die wiederum nicht ohne den Bezug auf Scham verstanden werden können. Um diese Begriffe zu verstehen, müssen wir uns mit einer bestimmten Erfahrung auskennen, wir müssen eine bestimmte Sprache verstehen, nicht nur die der Worte, sondern auch eine bestimmte Sprache der wechselseitigen Aktion ·und Kommunikation, durch welche wir einander tadeln, ermahnen, bewundern, wertschätzen. Schließlich kennen wir uns damit aus, weil wir im Bereich. gewisser gemeinsamer Bedeutungen aufwachsen. Aber wir machen häufig die Erfahrung, wie es ist, außen zu stehen, wenn wir der Sprache der Gefühle, J-I;tllc.{lungen und empirischen Bedeutungen einer anderen Zivilisation begegnen. Hier gibt es keine Übersetzung, keine Möglichkeit der Erklärung in anderen, zugänglicheren Begriffen. Wir können derlei nur erfassen, wenn wir uns irgendwie, und sei es in der Phantasie, in deren Lebensart hineinversetzen. So werden wir, wenn wir menschliches Verhalten als ein vor einem Hintergrund von Wunsch, Gefühl und Emotion geschehendes Handeln auffassen, eine Realität vor uns haben, die mit Hilfe von Bedeutung charakterisiert werden muß. Aber besagt dies schon, daß sie der Gegenstand einer hermeneutischen Wissenschaft sein· kann, wie sie oben skizziert wurde ? · Es gibt, erinnern wir uns, drei Charakteristika, die der Gegenstand einer wissenschaftlichen Interpretation hat: er muß Bedeutung oder Kohärenz haben; diese muß von ihrem Ausdruck unterscheidbar sein ; und diese Bedeutung muß für ein Subjekt bestehen. Insofern wir nun über Verhalten als Handlung, mithin in Begriffen von Bedeutung sprechen, muß für dieses die Kategorie Sinn oder Kohärenz gelten. Dies besagt nicht, daß unser gesamtes 180
Verhalten »sinnvoll« sein muß, wenn wir damit meinen, daß es rational sein, Widersprüc}:le, Verwechslung von Zwecken usw. vermeiden muß. Eindeutig bleibt ein großer Teil unserer Handlungen hinter diesem Ziel zurück. Aber in einem anderen Sinn wird sogar widersprüchliches, irrationales Handeln >>sinnvoll«, wenn wir verstehen, warum es unternommen wurde. Wir verstehen den Sinn einer Handlung, wenn zwischen den Handlungen des Handelnden und der Bedeutung, die seine Situation für ihn hat, Kohärenz besteht. Solange wir keine solche Kohärenz feststellen, werden wir sein Handeln verwirrend finden. Vielleicht sollte an dieser Stelle wiederholt werden, daß die Kohärenz keineswegs impliziert, daß die Handlung rational ist; die Bedeutung, welche die Situation für einen Handelnden hat, kann voller Verwirrung und Widersprüche sein; aber die adäquate Beschreibung dieser Widersprüche macht sie sinnvoll und verständlich. Ein solches Sinnvollmachen mittels der Kohärenz von Bedeutung und- Handlung, der Bedeutungen von Handlung und Situation, kann sich nur in einem hermeneutischen Zirkel bewegen. Unsere Überzeugung, daß die Erklärung sinnvoll ist, hängt von unserer Lesart der Handlung und Situation ab. Aber diese Lesarten können nur durch den Bezug auf andere solche Lesarten und ihren Zusammenhang mit dem Ganzen erklärt und gerechtfertigt werden. Wenn. ein Gesprächspartner diese Lesart nicht versteht oder sie nicht als valide akzeptiert, dann ist jede weitere Argumentation abgeschnitten. Eine gute Erklärung ist schließlich eine solche, die ein Verhalten sinnvoll erscheinen läß't; um aber_ eine gute Erklärung anzunehmen, muß man darin übereinstimmen, was sinnvoll ist; was sinnvoll ist, hängt von den jeweiligen Lesarten ab ; und diese wiederum beruhen auf dem, was man unter Sinn versteht. Wie verhält es sich aber mit dem zweiten Charakteristikum, nämlich daß der Sinn von seiner Verkörperung unterscheidbar sein sollte ? Dies ist notwendig für eine Wissenschaft der Interpretation, weil die Interpretation den Anspruch erhebt, eine verworrene Bedeutung zu klären ; in gewissem Sinn muß daher die »selbe« Bedeutung - aber anders - ausgedrückt werden. Daraus ergibt sich unmittelbar eine weitere Schwierigkeit. Als oben von der empirischen Bedeutung die Rede war, erwähnte ich, daß wir zwischen einem- gegebenen Element und seiner Bedeutung, zwischen Bedeutung und Substratum unterscheiden kön181
nen. Dies führte zu der Behauptung, daß eine gegebene Bedeutung in einem anderen Substratum realisiert sein kann. Aber heißt dies, daß wir immer dieselbe Bedeutung in einer anderen Situation verkörpern können? Vielleicht gibt es Situationen, z. B. wenn einem der Tod bevorsteht, die eine Bedeutung haben, welche nicht anders verkörpert werden kann. Aber glücklicherweise ist diese schwierige Frage für unsere Zwecke unerheblich. Denn hier haben wir einen Sachverhalt, bei dem die im Begriff einer hermeneutischen Wissenschaft vom Menschen implizierte Analogie von Text und Verhalten nur mit entscheidenden Modifikationen gilt. Bei der Interpretation wird der Text durch einen anderen Text ersetzt, welcher klarer ist. Das Text-Analogon Verhalten wird nicht durch ein anderes solches Text-Analogon ersetzt. Wo dies geschieht, da haben wir es mit revolutionärem Theater oder Terrorakten im Dienste einer Propaganda der Tat zu tun, wobei die versteckten Beziehungen einer Gesellschaft angeblich in einer dramatischen Konfrontation aufgezeigt werden. Doch dies ist kein wissenschaftliches Verstehen, auch wenn es vielleicht auf einem solchen Verstehen beruhen oder dies beanspruchen mag. In der. Wissenschaft aber wird das Text-Analogon durch einen Text, eine Erklärung ersetzt. Dies könnte Anlaß zu der Frage geben, wie wir hier auch nur ansatzweise von Interpretation, von einem klareren Ausdruck derselben Bedeutung sprechen können, wenn wir es mit zwei so äußerst verschiedenen Vergieichsgegenständen, einem Text und einem Verhaltensakt, zu tun haben. Ist das ganze nicht nur ein schlechtes Spiel mit Worten? Diese Frage eröffnet uns einen weiteren Aspekt der empirischen Bedeutung, von dem wir vorhin abstrahierten. Empirische Bedeutungen sind in Kontrastfeldern definiert, gerade so wie Worte in semantischen Feldern. Was aber oben nicht erwähnt wurde, ist der Umstand, daß diese beiden Arten der Definition nicht unabhängig voneinander sind. Die Skala der menschlichen Wünsche, Gefühle, Emotionen und mithin Bedeutungen ist an den jeweiligen Grad und Typ der Kultur gebunden, der wiederum von den durch die Sprache, die die Menschen sprechen, bezeichneten Unterscheidungen und Kategorien untrennbar ist. Das Feld von Bedeutungen, in dem eine gegebene Situation statthaben kann, ist an das semantische Feld der Begriffe gebunden, welche diese Bedeutungen und die 182
ihnen zugehörigen Gefühle, .Wünsche und Schwierigkeiten charakterisieren. Aber die hier vorliegende Beziehung ist keine einfache. Es gibt zwei einfache Modelltypen von Beziehung, die hier angeboten werden könnten, aber beide sind inadäquat. Wir könnten uns vorstellen, daß das Gefühlsvokabular einfach prä-existente Gefühle beschreibt, Unterscheidungen bezeichnet, die auch ohne es vorhanden wären. Dies trifft jedoch nicht zu, denn wir erleben häufig bei uns selbst oder bei anderen, wie z. B. der Erwerb eines komplizierten Vokabulars der Emotionen unser Gefühlsleben, und nicht unsere Beschreibungen desselben, komplizierter macht. Die Lektüre eines guten, eindringlichen Romans kann mir das Bild eines Gefühls vermitteln, dessen ich mir vorher nicht bewußt war. Aber wir können keine klare Trennlinie ziehen zwischen einer gesteigerten Fähigkeit, Emotionen zu identifizieren, und einer veränderten Schwierigkeit, Emotionen zu fühlen, welche dies ermöglicht. Das andere einfache, inadäquate Modell der Beziehung besteht darin, daß man vom oben Gesagten zu der Schlußfolgerung springt, daß das Denken dies bewirke. Aber auch dieses ist sichtlich nicht geeignet, denn es kann uns nicht einfach jede neue Definition aufgezwungen werden, noch können wir sie uns selbst aufzwingen ; und einige, die wir gern übernähmen, können als inauthentisch oder als von anderen in böser Absicht oder einfach irrtümlich abgegeben beurteilt werden. Diese Urteile können falsch sein, aber sie sind· nicht prinzipiell unzulässig. Lieber sollten wir uns bemühen, Klarheit über uns und unsere Gefühle zu gewinnen und einen Menschen, der dies erreicht, bewundern. Also ist weder die Auffassung von einer einfachen Entsprechung, noch die Auffassung, daß das Denken diese herstellt, richtig. Aber beide haben prima facie-Rechtfertigungsgründe für sich. Es gibt so etwas .wie Klarheit über sich selbst, die uns auf die Auffassung einer Entsprechung hinweist; aber das Erreichen einer solchen Klarheit bedeutet moralische Veränderung, d·. h. es verändert den bekannten Gegenstand. Und gleichzeitig. ist der Irrtum über sich selbst nicht einfach das Fehlen einer Entsprechung; er ist auch eine Form der Inauthentizität, der bösen Absicht, der Selbsttäuschung, der Unterdrückung der eigenen menschlichen Gefühle oder etwas dieser Art ; genau wie die Selbst-Kenntnis, ist es ebenso eine Frage der Qualität dessen, was 183
wir fühlen, wie dessen, was wir darüber wissen. Wenn dies zutrifft, dann müssen wir den Menschen als ein sich selbst interpretierendes Tier vorstellen. Er ist dies notwendig, denn es kann keine Struktur von Bedeutungen für ihn unabhängig von seiner Interpretation derselben geben : die eine ist in die andere verwoben. Aber dann ist der Text der Interpretation nicht so sehr heterogen gegenüber dem, was interpretiert wird ; denn was interpretiert wird, ist selbst eine Interpretation, eine SelbstInterpretation, die in einen Fluß von Handlungen eingebettet ist. -.Es, ist eine Interpretation der empirischen B~deutung, welche zu der Entstehung dieser Bedeutung beiträgt. Oder anders gesagt : dasjenige, bei dem wir die Kohärenz feststellen wollen, entsteht selbst zum Teil durch Selbst-Interpretation. Unser Ziel ist nun, diese verworrene, unvollständige, zum Teil irrige Selbst-Interpretation durch eine richtige zu ersetzen. Und indem wir dies tun, untersuchen wir nicht nur die SelbstInterpretation, sondern auch den Verhaltensfluß, in welch_en diese eingebettet is~ ; genau wie wir bei der Interpretation des historischen Dokuments dieses in den Fluß der Ereignisse, auf die es sich bezieht, stellen müssen. Aber diese Analogie ist selbstverständlich nicht exakt, denn hier interpretieren wir die Interpreta-ti6n- und den Verhaltensstrom, in den sie eingelagert ist, gemeinsam, und nicht nur die eine oder den anderen. Es besteht also letzten Endes keine Heterogenität zwischen der Interpretation und dem, wovon sie handelt ; vielmehr ist der Begriff der Interpretation fließend. Ein lebendiger Handelnder zu sein heißt ja schon, die eigene Situation in Form gewisser Bedeutungen zu erfahren; und dies kann in gewissem Sinn als eine Art Proto-»Interpretation« aufgefaßt werden. Diese wiederum wird interpretiert und geformt durch die Sprache, in welcher der Handelnde diese Bedeutung erlebt. Dieses Ganze ist also eine dritte Ebene, welche durch die Erklärung interpretiert wir
wird sie dazu angetan sein, das Verhalten irgendwie zu verändern, wenn der Handelnde es als eine Selbst-Interpretation verinnerlichen- würde. Daher muß eine hermeneutische Wissenschaft, welche ihr Ziel erreicht, d. h. mehr Klarheit erbringt als das unmittelbare Verstehen des Handelnden oder des Beobachters, uns eine Interpretation bieten, die folglich in wesentlicher Hinsicht nicht mit dem Explicandum übereinstimmt. So bietet das menschliche Verhalten, verstanden als Handlung von Handelnden, die Wünsche und Motive, Ziele und Bestrebungen haben, notwendig einen Gewinn für Beschreibungen durch Bedeutung - jene, die ich als »empirische Bedeutung« bezeichnet habe. Die postulierte Norm der Erklärung verlangt, daß diese das Verhalten »sinnvoll« macht und eine Bedeutungskohärenz nachweist. Dieses »Sinnvollmachen von« ist das Anbieten· einer Interpretation ; und wir sahen, daß das, was interpretiert wird, die Bedingungen einer Wissenschaft der Interpretation erfüllt : erstens, daß wir von ihrem Sinn oder ihrer Kohärenz sprechen können; und zweitens, daß dieser Sinn in einer anderen Form ausgedrückt werden kann, ·so daß wir davon sprechen können, daß die Interpretation einen klareren Ausdruck dessen bietet, was im Explicandum nur implizit enthalten ist. Die dritte Bedingung, nämlich daß dieser Sinn für ein Subjekt sein muß, ist in diesem Fall offensichtlich erfüllt, wenngleich die Frage, wer dieses Subjekt ist, keineswegs unproblematisch ist, wie wir später sehen werden. Dies sollte genügen, um zu zeigen, daß es gute prima facieGründe gibt, die besagen, daß ·Menschen und ihre Handlungen Erklärungen hermeneutischer Art zugänglich sind. Es ist daher begründet, die Frage aufzuwerfen und die epistemologische Richtung zu bezweifeln, welche die Interpretation aus den Wissenschaften vom Menschen verbannen möchte. Es muß noch sehr viel mehr gesagt werden, damit wir erkennen, um was es bei den hermeneutischen Wissenschaften vom Menschen geht. Aber bevor wir zu diesem Thema kommen, mag es hilfreich sein, das Problem durch einige Beispiele aus einem spezifisch~n Feld, nämlich dem der Politik, zu verdeutlichen.
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II. 1. Auch in der Politik führte das Ziel einer verifizierbaren Wissenschaft zur Konzentration auf Merkmale, die angeblich unter Abstraktion von unserem Verstehen oder Nicht-Verstehen empirischer Bedeutung identifiziert werden können. Diese nennen wir sie data-bruta-Identifikationen - sind das, was uns angeblich befähigt, aus dem hermeneutischen Zirkel auszubrechen und unsere Wissenschaft von Grund auf in einem V erifika,.. tionsverfahren zu begründen, das die Anforderungen der empiristischen Tradition erfüllt. Aber in der Politik wurde die Suche nach solchen data bruta nicht so weit getrieben wie in der Psychologie, wo viele den Gegenstand der Wissenschaft im Verhalten qua »farbloser Bewegung« oder in maschinenlesbaren Eigenschaften sehen. In der Politik ist man geneigt, sich mit etwas weniger Fundamentalem zu begnügen als - so glaubt man - der Identifikation dessen,. was nicht durch das Aufgebot einer anderen Interpretation oder Lesart der betreffenden Daten in Zweifel gezogen werden kann (S. 174-177). Dies ist es, was in der Rhetorik der politischen Wissenschaft als »Verhalten<( bezeichnet wird, aber es hat nicht dieselbe Eigenschaft eines felsenfesten Grundsteins wie sein psychologisches Homonym. Zum politischen Verhalten gehört·das, was wir für gewöhnlich als Handlungen bezeichnen, allerdings solche, die angeblich identifizierbare data bruta sind. Wie kann dies sein? Nun~ Handlungen werden für gewöhnlich durch die erreichten Zwecke oder Endzustände beschrieben. Aber diese Zwecke mancher Handlungen können durch das bestimmt sein, was man als data bruta bezeichnen mag; manche Handlungen z. B. haben physische Endzustände, etwa wenn man das Auto in die Garage fährt oder einen Berg besteigt. Andere haben Endzustände, welche eng an institutionelle Regeln für irgendeine unmißverständliche physische Bewegung gebunden sind ; wenn ich etwa in der Parteiversammlung meine Hand zum richtigen Zeitpunkt hebe, dann stimme ich für den Antrag. Solche Bewegungen oder die Verwirklichung solcher Endzustände vorausgesetzt, können wir bezüglich der korrespondierenden Handlungen nur solch~ Fragen stellen, wie etwa, ob der Handelnde sich dessen bewußt war, was er tat, ob er handelte - im Gegensatz zur Bekundung
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einfachen Reflexverhaltens ·-, ob er die institutionelle Bedeutung seines Schrittes kannte, usw. Alle Fragen zu diesem Thema erweisen sich in den Kontexten, mit denen die politische Wissenschaft befaßt ist, als ziemlich künstlich ; und wo sie wirklich auftreten, können sie durch relativ einfache Mittel überprüft werden, z. B. die Frage an das Subjekt: beabsichtigen Sie, für den Antrag zu stimmen? Daher gibt es offenbar Handlungen, die identifiziert werden können, ohne daß ein Disput um Interpretationen zu befürchten wäre; und dies bietet die Begründung der Kategorie »Politisches Verhalten«. Es gibt also Akte von offensichtlich politischer Relevanz, die folglich in physikalischen Begriffen spezifiziert werden können, wie etwa das »Töten«, die Entsendung von Panzern in die Straßen, die Verhaftung von Menschen und ihre Einweisung in Gefängniszellen ; und es gibt eine gewaltige Skala von anderen, die von physikalischen Akten durch institutionelle Regeln unterschieden werden können, wie z. B. die Abstimmung. Diese können der Gegenstand einer Wissenschaft von der Politik sein, die hoffen darf, die stringente Anforderung der Verifikation zu erfüllen. Insbesondere die letztere Gruppe bot in den letzten Jahrzehnten das Material für Untersuchungen -' vor ·allem Untersuchungen des Wählerverhaltens. Aber selbstverständlich wäre eine auf solche Akte beschränkte Wissenschaft von der Politik viel zu eng gefaßt. Denn auf einer anderen Ebene haben diese Handlungen auch für die Handelnden eine Bedeutung, die sich nicht in den data-bruta-Beschreibungen erschöpft und die häufig wesentliche Voraussetzung ist, um zu verstehen, warum sie getan wurden. Indem ich für den Antrag stimme, wahre· ich -daher auch die Ehre meiner Partei, verteidige den Wert der Redefreiheit, trete für die öffentliche Moral ein oder rette die Zivilisation. vor dem Zusammenbruch. Genau in diesem Sinn sprechen die Handelnden über die Motivation ~ines großen Teils ihres politischen Handelns, und es läßt sich schwerlich eine Wissenschaft von der Politik vorstellen, die sich damit nicht auseinandersetzen würde. . Die behavioristische Politische Wissenschaft geht diese Frage an, indem sie- die im Handeln enthaltenen Bedeutungen als Faltteil über den Handelnden, seine Überzeugungen, seine affektiven Reaktionen, seine »Werte«, wie der häufig verwandte Ausdruck lautet, ansehen. Denn im Sinne von data bruta läßt sich als 187
verifizierbar vorstellen, daß Menschen bereit wären, emer bestimmten Form von Wörtern (die z. B. eine Überzeugung ausdrücken), beizupflichten oder nicht; eine positive oder negative Reaktion auf gewisse Ereignisse oder Symbole zum Ausdruck zu bringen; oder mit der Behauptung, daß irgendeine Handlung richtig oder falsch ist, übereinzustimmen. Durch die Techniken der Meinungsumfrage und der Inhaltsanalyse können wir daher Meinungen einfach als eine andere Form von data bruta erfassen. Dagegen drängt sich unmittelbar ein Ei~wand auf. Wenn wir ver~uchen, den Bedeutungen, die das politische Handeln beseeien,-gerecht zu werden, dann bedarf es zweifellos scharfsinniger Interpretation. Nehmen wir an, wir versuchten, die Ziele und Werte einer gewissen Gruppe zu verstehen oder ihre Vision der politischen Gemeinschaft zu begreifen; wir könnten versuchen, dies durch einen Fragebogen zu ermitteln, in dem wir sie fragen, ob sie einer Reihe von Aussagen, welche verschiedene .Ziele, Wertungen und Überzeugungen ausdrücken sollen, zustimmen oder nicht. Aber wie würden wir diesen Fragebogen entwerfen ? Wie würden wir diese Aussagen auswählen? Hier müßten wir uns auf unser Verständnis der betreffenden Ziele, Werte und Visionen verlassen. Aber dann kann dieses Verständnis, und mi"t~~ die Sig~ifikanz unserer Befragungsergebnisse, in Zweifel gezogen werden. Vielleicht ist das Resultat unserer Studie, die Kompilation der Bejahungen und Verneinungen dieser Aussagen irrelevant und ohne jede Signifikanz für das Verständnis der betreffe~den Handelnden oder der politischen Gemeinschaft. Ein solcher Angriff wird häufig von den Kritikern der Hauptströmung der Politischen Wissenschaft, oder in diesetri Fall der Sozialwissenschaft im allgemeinen, vorgetragen. Hierauf antworten die Repräsentanten dieser Hauptströmung mit einem Standardargument des logischen Empirismus : sie trennen den Prozeß der Entdeckung von der Logik der Verifikation. Gewiß befähigt unser Verstehen dieser Bedeutungen uns, den Fragebogen zu entwerfen, welcher die Einstellung der Leute bezüglich jener Bedeutungen testen soll. Und gewiß ist die Debatte um die Interpretation dieser Bedeutungen potentiell endlos ; auf dieser Ebene gibt es keine data bruta, jede Behauptung kann durch eine konkurrierende Interpretation bezweifelt werden. Aber dies hat nichts mit ve:rü;izierbarer Wissenschaft zu 188
tun. Was eindeutig verifiziert wird, das sind die Korrelationen z. B. zwischen der Zustimmung zu gewissen Aussagen und zu gewissen Verhaltensweisen. Wir entdecken z. B., daß Menschen, die politisch aktiv sind (definiert durch die Beteiligung an einer gewissen Reihe von Institutionen), eher bereit sind, einer gewissen Reihe von Aussagen zuzustimmen, welche vermutlich die dem System zugrunde liegenden Werte ausdrücken. 6 Dieser Befund ist eine eindeutig verifizierte Korrelation, ganz gleich was man über die Schlußfolgerungen oder über die simplen Ahnungen denken mag, die in die Planung der Untersuchung, welche jene Korrelation feststellte, eingegangen sein mögen. Politische Wissenschaft als ein Wissenskodex besteht aus solchen Korrelationen. Sie verleiht den hinter ihr stehenden Schlußfolgerungen oder Ahnungen keinen Wahrheitswert. Ein guter Riecher für die Interpretation kann nützlich sein, um die richtigen Korrelationen aufzuspüren, die überprüft werden sollen, aber es ist nie Aufgabe der Wissenschaft, den Disput zwischen Interpretationen zu schlichten. Zusätzlich zu jenen offenen Akten, die physikalisch oder institutionell definierbar sind, umfaßt die Kategorie des politischen Verhaltens auch die Zustimmung zu der Ablehnung von verbalen Formeln, das Vorkommen oder Nicht-Vorkommen verbaler Formen in der Redeoder Beifalls- bzw. Mißfallenskundgebungen zu gewissen, im institutionell definierten Verhalten beobachteten Vorgängen oder Maßnahmen (z. B. der Aufmarsch zu einer Demonstration). Gegen diese Auffassung von politischem Verhalten kann nun eine Reihe von Einwänden erhoben werden; man könnte auf jede erdenkliche. Weise fragen, wie frei von Interpretation sie tatsächlich sei. Aber ich möchte sie unter einem anderen Gesichtspunkt in Frage stellen. Eines unserer fundamentalen Charakteristika der Politischen Wissenschaft ist, daß sie die Realität in Übereinstimmung mit gewissen kategorialen Prinzipien rekonstruiert. Diese ermöglichen eine intersubjektive soziale Realität, welche aus data bruta, identifizierbaren Fakten und Strukturen, gewissen Institutionen, Verfahren und Handlungen besteht. Sie berücksichtigt Überzeugungen, affektive Reaktionen und Wertungen als psychologische Eigenschaften von Individuen. Und sie ermöglicht Korrelationen zwischen diesen beiden Ordnungen der Realität: z. B. daß gewisse Überzeugungen mit gewissen Handlungen, 189
gewisse Werte mit bestimmten Institutionen übereinstimmen, usw. Anders gesagt, was objektiv (intersubjektiv) real ist, das sind die identifizierbaren data bruta. Diese sind die soziale Realität. Soziale· Realität, beschrieben im Rahmen ihrer Bedeutung für die Handelnden, so daß Streit über die Interpretation ausbrechen könnte, der nicht durch data bruta beigelegt werden könnte (z. B. rotten die Menschen sich zusammen, um ein Hearing zu erzwingen, oder rotten sie sich zusammen, um ihre Erniedrigung zu beenden, oder aus blinder Wut, oder weil sie im Aufstand ihre Menschenwürde wiederfinden?) -dies ist die gegebene subjektive Realität, d. h. e!l gibt gewisse Überzeugungen, affektive Reaktionen und Wertungen, welche die Individuen in bezug auf die soziale Realität haben oder machen. Diese Überzeugungen oder Reaktionen können einen Effekt auf diese Realität haben ; und die Tatsache, daß solch eine Überzeugung vertreten wird, ist eine Tatsache von objektiver sozialer Realität. Aber --die soziale Realität, welche der Gegenstand dieser Einstellungen, Überzeugungen und Reaktionen ist, kann nur aus data bruta bestehen. So kann jede Beschreibung der Realität durch Bedeutungen, die der Interpretation offensteht, nur dann in dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugelassen werden, wenn sie sozusagen in Anführungszeichen gesetzt und Individuen als deren Meinung, Überzeugung, Einstellung zugeschrieben wird. Daß diese Meinung, Überzeugung usw. vertreten wird, wird als datum brutum angesprochen, denn sie wird als eine bestimmte Antwort des Befragten auf den Fragebogen umdefiniert. Dieser Aspekt der sozialen Realität, welcher deren Bedeutung für die Handelnden betrifft, wurde in verschiedener Weise abgehandelt, aber in jüngster Zeit spricht man von ihm als der politischen Kultur. Die Art, wie diese definiert und studiert wird, illustriert anschaulich die oben genannten kategorialen Prinzipien. Almond und PowelV z. B. bezeichnen die politische Kultur als die »psychologische Dimension des politischen Systems« (23). Weiter führen sie aus : »Politische Kultur ist die Struktur der individuellen Einstellungen und Orientierungen gegenüber der Politik bei den Angehörigen eines politischen Systems. Es ist der subjektive Bereich, welcher politischem Handeln zugrunde liegt und ihm Sinn verleiht« (50). In der Folge unterscheiden die Autoren drei verschiedene Arten der Orientierung: die kognitive 190
(Wissen und Überzeugungen); die affektive (Gefühle) und die wertende (Urteile und Meinungen). Unter dem Gesichtspunkt der empiristischen Epistemologie läßt dieses System von kategorialen Prinzipien nichts aus. Sowohl die Realität als auch die Bedeutungen, die sie für die Handelnden hat, werden einbezogen. Was es aber tatsächlich nicht berücksichtigen kann, das sind die intersubjektiven Bedeutungen, d. h. es kann die Validität von Beschreibungen der sozialen Realität durch Bedeutungen, mithip als data bruta, die nicht in .Anführungszeichen gesetzt und Individuen als Meinung, Einstellung usw. zugeschrieben werden, nicht gelten lassen. Gerade diese Ausschließung aber möchfe ich im Namen eines anderen Systems von kategorialen Prinzipien, die durch eine ganz andere Epistemologie inspiriert sind, in Frage .stellen. 2. An früherer Stelle sprachen wir von der Identifikation von Handlungen als data bruta mittels institutioneller Regeln. Kreuzt man auf einem Stück Papier einen Namen an und steckt es in einen Kasten, so gilt dies im richtigen Kontext als Stimmabgabe für diese Person; verläßt man den Raum, indem man eine gewisse Formel von Worten sagt oder schreibt, so gilt dies als Abbruch der Verhandlungen; schreibt man seinen Namen auf ein Stück Papier, so gilt dies als Unterzeichnung einer Petition usw. Was aber wirklich wert wäre untersucht zu werden, ist das, was diesen Identifikationen jeweils zugrunde liegt. Diese Identifikationen sind die Anwendung einer Sprache auf das soziale Leben, einer Sprache, welche Unterscheidungen zwischen verschiedenen möglichen sozialen Handlungen, Beziehungen und Struktur.en bezeichnet. Aber· was liegt dieser Sprache zugrunde? Nehmen wir z. B .. den obengenannten Abbruch von Verhandlungen. Die Sprache unserer Gesellschaft kennt Zustände_ oder Handlungen -· wie die folgenden : Aufnahme der Verhandlungen, Abbruch der Verhandlungen, Verhandlungsangebote, Verhandlung in guter (böser) Absicht, Beendigung der Verhandlungen, Abgabe eines neuen Angebots, usw. In einer eher jargonverseuchten Sprache ist der semantische »Raum« dieser Skala der sozialen Aktivität in gewisser Weise, durch eine gewisse Reihe von Unterscheidungen, die unser Wortschatz bezeichnet, zerstückelt; und Form un:d Wesen dieser Unterscheidungen machen das Wesen unserer Sprache auf diesem Gebiet aus. Diese Unterscheidungen werden 191
in unserer Gesellschaft in verschiedenen Kontexten mehr oder minder formalisiert verwendet. Aber selbstverständlich gilt dies nicht für je·de Gesellschaft. Unsere ganze Auffassung von Verhandlung ist z. B. an die besondere Identität und Autonomie der Parteien, an den Willenscharakter ihrer Beziehungen gebunden ; diese Auffassung ist sehr am Vertrag orientiert. Aber andere Gesellschaften haben· keine solche Konzeption. über das traditionale japanische Dorf wird berichtet, daß die Grundlage des sozialen Lebens dort eine starke Form des Konsensus war, die einstimmige Entscheidungen hoch · prämierte. 8 Dieser Konsenus müßte .als zerstört gelten, wenn zwei klar artikulierte Parteien sich absonderten, einander entgegengesetzte Ziele verfolgten und versuchten,· entweder den Gegner niederzustimmen oder ihn zu einer Vereinbarung zu für sie selbst möglichst günstigen Bedingungen zu zwingen. Hier muß eine Diskussion und irgendeine Art des Ausgleichs von Unterschieden stattfinden. Aber unsere Vorstellung von Verhandlung, die von der Annahme verschiedener, autonomer Parteien in einer · ·willensmäßigen Beziehung ausgeht, ist dort,nicht am Platze; dies trifft auf eine Reihe von Unterscheidungen zu, wie: in Verhandlungen eintreten: oder sie verlassen, oder mit guter Absicht verhandeln (nämlich mit der echten Absicht, eine Vereinbarung anzustreben). Der Unterschied zwischen unserer Gesellschaft und einer Gesellschaft der eben beschriebenen Art ließe sich nicht gut ausdrücken, wenn wir sagten, daß wir ein Vokabular benutzen, um Verhandlungen zu beschreiben, das den anderen fehlt. Wir könnten z. B. sagen, daß wir über ein Vokabular verfügen, um den Himmel zu .beschreiben, · das ihnen fehlt, nämlich das der Newtonsehen Mechanik. Denn hier unterstellen ~wir, daß sie unter. demselben Himmel leben wie wir und ihn lediglich anders verstehen. Aber es trifft nicht zu, daß sie dieselbe Form der Verhandlung kennen wie wir. Das Wort »Verhandeln«, oder welches Wort ihrer Sprache wir immer damit übersetzen, muß einen völlig anderen Beigescl)mack haben, welcher durch di~ Unterscheidungen bezeichnet wird, die ihr Vokabular im Gegensatz zu den von unserem bezeichneten ermöglicht. Aber diese unterschiedliche Konnotation ist nicht nur ein Unterschied des Wortschatzes, sondern auch einer der. sozialen Realität. Aber diese Art, den Unterschied darzustellen, mag immer noch irreführend sein. Denn daraus könnte folgen, daß es eine soziale
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Realität gibt, die in jeder Gesellschaft entdeckt werden kann und die ganz unabhängig von dem Vokabular dieser Gesellschaft oder sogar --von jedem Vokabular existieren könnte, etwa wie der Himmel existiert, ganz gleich was die Menschen über ihn theoretisieren oder nicht. Aber das ist nicht der Fall; die hier gemeinten Realitäten sind Praktiken; und diese können nicht unter Absehung von der Sprache identifiziert werden, welche wir verwenden, um sie zu beschreiben, uns auf sie zu berufen oder uns ihrer zu bedienen. Daß die Praxis der Verhandlung es uns ermöglicht, zwischen Verhandeln mit guter oder bös'er Absicht, zwischen dem'Eintreten in und dem Abbruch von Verhandlungen zu unterscheiden, setzt voraus, daß unsere Handlungen und unsere Situation eine gewisse Beschreibung für uns enthalten, d. h. daß wir einzelne Parteien sind, die in Willensbeziehungen eintreten. Aber sie können riur dann diese Beschreibungen für uns haben, wenn das irgendwie im Vokabular dieser Praxis zum Ausdruck gebracht wird ; wenn nicht in unseren Beschreibungen der Praktiken (denn wir sind uns vielleicht gewisser bedeutsamer Unterscheidungen unbewußt), dann in der für ihre Ausführung geeigneten Sprache. (So kann die Sprache, welche einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Akten oder Kontexten bezeichnet, selbst dort existieren, wo diese Begriffe oder ihre Äquivalente nicht Bestandteil dieser Sprache sind; denn der Unterschied wird durch die andere Sprache bezeichnet, welche in dem einen oder anderen Kontext angemessen ist, sei es vielleicht ein Unterschied des Stils oder des Dialekts, und zwar selbst dann, wenn der Unterschied nicht durch spezifische beschreibende Ausdrücke bezeichnet wird.) Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der das Vokabular einer gegebenen sozialen Dimension durch die Form der sozialen Praxis in dieser Dimension begründet ist; das heißt, das Vokabular wäre nicht sinnvoll, könnte nicht sinnvoll verwendet werden, wo diese Skala von Praktiken nicht vorherrschen würde. Und doch könnte diese Skala von Praktiken nicht ohne das Vorhandensein dieses oder eines verwandten Vokabulars existieren. Hier besteht keine einfache, einseitige Abhängigkeit. Wir können meinetwegen von wechselseitiger Abhängigkeit sprechen, aber eigentlich geht es hier um den künstlichen Charakter der Unterscheidung zwischen Realität und der Sprac.he der Beschreibung··dieser sozialen Realität. Die Sprache ist konsti193
tutiver Bestandteil der Realität, ist wesentlich Voraussetzung dafür, daß die Realität so ist, wie sie ist. Trennt man die beiden und unterscheidet sie, wie wir mit vollem Recht den Himmel von unseren Theorien über ihn unterscheiden, so wird man stets den eigentlichen Sachverhalt verfehlen. Diese Form der Beziehung wurde in jüngster Zeit, z. B. von John Searle, mit Hilfe seines Begriffs einer konstitutiven Regel edorscht. Wie Searle ausführt 9, haben wir für gewöhnlich Anlaß. anzunehmen, daß Regeln für ein Verhalten gelten, das uns zugänglich wäre, ganz gleich ob die Regel besteht oder nicht. Manche Regeln sind so geartet, sie sind regulativ, wie das Gebot »Du sollst nicht stehlen«. Aber es gibt andere Regeln, z. B. diejenigen, welche die Züge. der Königin beim Schach festlegen,. die sich nicht in dieser Weise von ihrem Gegenstand trennen lassen. Wenn man diese Regeln aufhebt oder sich einen Zustand vorstellt, in dem sie noch nicht eingeführt sind, dann würde die ganze Skala des betreffenden Verhaltens, in diesem .Fall das Schachspiel, nicht existieren. Gewiß gäbe es noch irgendeine Aktivität, bei der ein Stück Holz auf einem aus 8 x 8 Quadraten bestehenden Brett herumgeschoben wird; aber dies wäre kein Schach mehr. Regeln dieser Art sind konstitutive Regeln. Hingegen gibt es wiederum andere Regeln des Schachs, etwa daß man »j'adoube« sagt, wenn man eine Figur, ohne die Absicht sie zu spielen, berührt, welche eindeutig regulativ sind. 10 Ich schlage vor, diese Auffassung von konstitutiv über den Bereich des von Regeln beherrschten Verhaltens hinaus zu erweitern. Daher schlage ich das unbestimmtere Wort »Praxis« vor. Selbst auf Gebieten, wo keine klar definierten Regeln bestehen, gibt es Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten des Verhaltens, so daß die eine Art als angemessene Form für eine Handlung oder einen Kontext, die andere für eine andere Handlung oder einen anderen Kontext angesehen wird ; tut oder sagt man z. B. gewisse Dinge, so kommt dies einem Abbruch der Verhandlungen gleich, tut oder sagt man andere Dinge, ·so kommt dies der Abgabe eines neuen Angebots gleich. Aber genau wie es konstitutive Regeln gibt, d. h. Regeln, ohne die das Verhalten, z. B. das Dirigieren, nicht existieren könnte, und die in diesem Sinne untrennbar von diesem Verhalten sind, so schlage ich vor, d~ß es konstitutive Unterscheidungen, konstitituve Sprachbereiche gebe, die insofern untrennbar von gewissen Praktiken sind, 194
als diese ohne sie nicht existieren. Wir können diese Beziehung umkehren und feststellen, daß alle Institutionen und Praktiken, mittels de'rer wir leben, durch gewisse Unterscheidungen. und mithin durch eine gewisse Sprache konstituiert sind, welche daher für sie wesentlich ist. Nehmen wir also die Stimmabgabe als eine Praxis, die wesentlich für eine große Zahl von Institutionen in einer demokratischen Gesellschaft ist. Wesentlich für die Praxis der Stimmabgabe ist, daß irgendeine Entscheidung gefällt (ein Mann gewählt, eine Maßnahme beschlossen) wird, und .zwar mittels eines Kriteriums der . Präponderanz (einfach Mehrheit, Zweidrittelmehrheit oder dergleichen) aus einem System von Mikro-Entscheidungen (die Stimmabgaben von Bürgern, Parlamentsmitgliedern, Delegierten). Wenn unser Verhalten nicht mit einer solchen Signifikanz verbunden ist, dann könnten wir Zettel markieren und zählen, Hände heben oder beim Hammelsprung in die Lobby hinausgehen, soviel wir wollen; ohne daß . dies einer Stimmabgabe gleichkäme. Daraus folgt, daß die Institution der Stimmabgabe S.9. geartet sein muß, daß gewisse Unterscheidungen Anwendung finden: z. B. zwischen der Tatsache, daß diese bei der Wahl oder Verabschiedung durchfallen ; zwischen einem gültigen Votum und einem ungültigt:n, was wiederum die Unter~cheidung zwischen einer wirklichen Wahl und einer · erzwungenen oder vorgetäuschten voraussetzt. Denn ganz gleich, wieweit wir uns von der Rousseauschen Auffassung entfernen, daß jedermann in voller Autonomie entscheide, setzt die Institution der Stimmabgabe doch voraus, daß die Stimmberechtigten entscheiden. Damit es überhaupt eine Stimmabgabe in unserem Sinn geben kann, muß es in den Selbst-Interpretationen der Menschen eine Unterscheidung zwischen Autonomie und erzwungener Wahl geben. Dies besagt, daß die Aktivität des Markierens und Zähleus von Zetteln mit intentionalen Beschreibungen verbunden sein muß, die in einen gewissen Bereich fallen, genau wie die Begegnung zweier Männer oder Delegationen mit Beschreibungen gewisser Art verbunden sein muß, bevor wir sie als Verhandlung bezeichnen. Oder mit anderen Worten, die Tatsache, daß irgendeine Praxis eine Stimmabgabe oder eine Verhandlung ist, ist zum Teil durch das Vokabular bedingt, das in einer Gesellschaft als geeignet gilt, diese durchzuführen oder sie zu beschreiben. Diesen P,raktiken ist daher eine gewisse Auffassung vom Han195
deinden und seiner Beziehung zu anderen und zur Gesellschaft implizit. Im Zusammenhang mit der Verhandlung in unserer Gesellschaft sahen wir, daß sie ein Bild von in gewissem Sinn autonomen Parteien, welche in Willensbeziehungen eintreten, voraussetzt. Und dieses Bild enthält gewisse implizite Normen, etwa die der oben erwähnten guten Absicht, oder eine Norm der . Rat.ionalität, die besagt, daß die Vereinbarung, so weit wie möglich,·den eigenen Zielen entsprechen soll, oder die Norm, daß so weit wie möglich Handlungsfreiheit gewährleistet sein soll. Diese Praktiken setzen voraus, daß die Handlungen und Beziehungen eines Menschen im Licht dieses Bildes und der dazugehörigen Normen: g~te Absicht, Autonomie und Rationalität gesehen werden. Aber weder sehen die Menschen sich in allen Gesellschaften so, noch verstehen sie diese Normen in allen Gesellschaften. Die Erfahrung von Autonomie, wie wir sie kennen, der Sinn rationalen Handeins und die daraus resultierende Befriedigung sind ihnen nicht zugänglich. Die Bedeutung dieser Begriffe bleibt ihnen verborgen, weil die ihnen zugängliche "empirische Bedeutung anders strukturiert ist. Den Unterschied zwischen unserer Gesellschaft und der vereinfachten Version des traditionalen japanischen Dorfes können wir uns als darin bestehend vorstellen, daß die Skala der Bedeutungen, die den Mitgliedern der beiden Gesellschaften offen steht, sehr verschieden ist. Aber wir haben es hier nicht mit einer subjektiven Bedeutung zu tun, die sich dem kategorialen Raster der behaviqristischen politischen Wissenschaft einfügen würde, sondern vielmehr mit intersubjektiven Bedeutungen. Es ist nicht einfach so, daß alle oder die meisten Leute in unserer Gesellschaft einen gegebenen Zyklus von Ideen in ihren Köpfen hätten und sich für eine gegebene Reihe von Zielen einsetzten. Die diesen 'Praktiken impliziten Bedeutungen und Normen sind nicht einfach in den Köpfen der Handelnden, sondern draußen, in den Praktiken selbst - Praktiken, die nicht als eine Reihe von individuellen Handlungen anzusehen sind, sondern die im wesentlichen Modi der sozialen Beziehung, des wechselseitigen Handeins sind. Die · Handelnden mögen alle möglichen Überzeugungen und Einstellungen haben, die mit Recht als ihre individuellen Überzeugungen und Einstellungen gelten können, selbst wenn andere sie teilen;. sie mögen sich für gewisse politische Ziele oder für
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gewisse Formen der Theorie über die politische Gemeinschaft einsetzen oder gewisse andere -Dinge ablehnen. Diese Einstellun. gen Dringen sie in ihre Verhandlungen mit und versuchen ihnen gerecht zu werden. Was sie aber nicht in die Verhandlungen mitbringen, das ist das System von Ideen und N armen, welche für die Verhandlungen selbst konstitutiv sind. Diese müssen der gemeinsame Besitz der Gesellschaft sein, bevor es überhaupt in Frage kommt, daß jemand in Verhandlungen eintritt oder nicht. Es handelt. sich also nicht um subjektive Bedeutungen, das Eigentum eines oder mehrerer Individuen, vielemehr" urri intersubjektive Bedeutungen, welche konstitutiv für die soziale Matrix sind, in der die Individuen sich befinden und handeln. Die intersubjektiven Bedeutungen, welche den Hintergrund des sozialen Handeins bilden, werden· von der politischen Wissenschaft häufig unter dem Titel »Konsensus« behandelt. Darunter versteht man die Konvergenz von Überzeugungen bezüglich gewisser fundamentaler Dinge, oder von Einstellungen. Dabei geht es jedoch nicht um ein und dasselbe. Ob ein Konsensus vorliegt oder nicht, stets ist die Bedingung für das eine wie für das andere das Vorhandensein gewisser gemeinsamer Bezugspunkte. Eine Gesellschaft, in der diese fehlten, wäre keine Gesellschaft im normalen Sinn des Wortes, sondern es wären mehrere. Vielleicht nähern sich gewisse, aus mehreren Rassen oder Stämmen gebildete Staaten dieser Grenze an. Manche multinationale Staaten leiden unter stetigen Widersprüchen, z. B. mein eigenes Land. Aber Konsensus als eine Konvergenz von Überzeugungen und Werten ist nicht das Gegenteil dieser Form der fundamentalen Vielfalt. Das Gegenteil von Vielfalt ist vielmehr ein hohes Maß an intersubjektiven Bedeutungen. Und dieses kann mit profundem Zwiespalt einhergehen. Tatsächlich sind ·intersubjektive Bedeutungen eine Bedingung für eine gewisse Form sehr tiefer Spaltung, wie sie sich etwa in der Reformation, im amerikanischen Bürgerkrieg oder in den Spaltungen von Linksparteien zeigt, wo der Streit gerade deshalb so hohe Wellen schlägt, weil beide Seiten die andere vollkommen verstehen. Mit anderen Worten, die Konvergenz von Überzeugungen oder Einstellungen bzw. deren Fehlen setzt eine gemeinsame Sprache voraus, in der diese Überzeugungen formuliert werden können und in der diese Formulierungen bekämpft werden können. 197
Diese gemeinsame Sprache wurzelt in jeder Gesellschaft weitgehend in ihren Institutionen und Praktiken; sie ist konstitutiv für diese Institutionen und Praktiken. Sie ist Teil der intersubjektiven Bedeutungen. Anders gesagt: unabhängig von der Frage, wie sehr die Überzeugungen der Menschen konvergieren, ist die Frage, in welchem Maß sie eine gemeinsame Sprache der sozialen und politischen Realität besitzen, in welcher diese Überzeugungen ausgedrückt werden. Diese zweite Frage kann nicht auf die erste zurückgeführt werden; intersubjektive Bedeutung hat nichts mit der Konvergenz von Überzeugungen oder Werten zu tun. Wenn wir von Konsensus sprechen, dann sprechen wir von Überzeugungen und Werten, die der Besitz einer einzelnen Person oder vieler oder aller sein könnten; aber intersubjektive Bedeutungen könnten nicht der Besitz einer einzelnen Person sein, weil sie in der sozialen Praxis verwurzelt sind. Vielleicht erkennen wir dies besser, wenn wir uns eine Situation vor Augen führen, in der die einer Praxis zugrunde liegenden Ideen und Normen der Besitz einzelner Individuen sind. Dies ist der Fall, wenn einzelne Individuen aus einer Gesellschaft die Begriffe und Werte einer anderen verinnerlichen, z. B. Kinder in Missionsschulen. Hier haben wir eine völlig andere Situation vor uns. Nunmehr sprechen wir tatsächlich von subjektiven Überzeugungen und Ei~stellungen. Die Ideen sind abstrakt, sie sind bloße soziale »Ideale«. Wohingegen diese Ideen und Normen in der Ursprungsgesellschaft in deren so~ialen Beziehungen verwurzelt sind, und dies aufgrund der Tatsache, daß sie geeignet sind, Meinungen und Ideale zu formulieren. Dies erkennen wir in Verbindung mit dem Beispiel, das wir schon die ganze Zeit verwenden, nämlich der Verhandlung. Die Vision einer auf Verhandlungen beruhenden Gesellschaft sowie auch die damit verbundenen N armen der Rationalität und die Definition der Autonomie sind heute schweren Angriffen von seiteneines wachsenden Teils der Jugend ausgesetzt. Dies ist ein dramatisches Scheitern des »Konsensus«. Aber diese Spaltung findet im Vereich jener intersubjektiven Deutung statt - der sozialen Praxis der Verhandli.mg, wie sie in unserer Gesellschaft erlebt wird. Die Ablehnung hätte nicht jene bittere Qualität, die sie hat, wenn das, was abgelehnt wird, nicht allgemein vers-tanden würde, denn es ist Teil einer sozialen Praxis, die zu umgehen uns schwerfällt, da unsere Gesellschaft so gründlich von ihr durch198
drungen ist. Gleichzeitig strebt man nach an~eren Formen, die noch die »abstrakte« Qualität ·von Idealen haben, wekhe in diesem Sinn subjektiv, d. h. nicht in der Praxis verwurzelt sind; und dies bewirkt, daß die Rebellion für Außenstehende so »Unwirklich« und so irrational erscheint. 3. Intersubjektive Bedeutungen, Erfahrungsweisen von Handeln in einer Gesellschaft, die in der für Institutionen und Praktiken konstitutiven Sprache und deren Beschreibungen ausgedrückt werden, fügen sich nicht dem kategorialen Raster der Hauptströmung der Politischen Wissenschaft ein. Diese läßt nur eine intersubjektive Realität gelten, welche sie als identifizierbare data bruta erkennt. Aber solche sozialen Praktiken und Institutionen, die zum Teil durch gewisse Formen; über sie zu spreche~, konstituiert werden, sind nicht so leicht identifizierbar. Wir müssen die Sprache, die ihnen zugrunde liegenden Bedeutungen verstehen, welche sie konstituieren. Sobald wir ein gewisses System von Institutionen oder Praktiken als Ausgangspunkt und nicht als Gegenstand· weiterer Fragestellungen akzeptieren, können wir gelten lassen, daß .der Umstand, daß gewisse Handlungen oder gewisse Zustände, von denen wir feststellen, daß sie innerhalb des semantischen Felds dieser Praktiken stattfinden, ohne weiteres als datum brutum . angesehen werden kann. Z. B. die Tatsache, daß jemand die Liberalen gewählt oder eine. Petition unterzeichnet hat. Daran anschließend können wir gewisse subjektive Bedeutungen Überzeugungen, Einstellungen usw.- mit seinem Verhalten oder dem Fehlen solchen Verhaltens korrelieren. Aber dies bedeutet, daß wir den Versuch aufgeben, weiterhin zu definieren, was diese Praktiken und Institutionen sind, welche Bedeutungen sie voraussetzen und mithin bestätigen. Denn diese Bedeutungen fügen sich nicht in den Raster ein; sie sind keine subjektiven Überzeugungen oder Werte, sondern für die soziale Realität konstitutiv. Um sie zu erfassen, müssen wir die Grundprämisse aufgeben, nach der die soziale Realität einzig aus data bruta besteht.· Denn jede Charakterisierung der diesen Praktiken zugrunde liegenc:iep. Bedeutungen kann von jemandem, der eine alternative Interpretation anbietet, in Frage gestellt werden. Die Negation dessen ist das, was wir unter data bruta verstehen. Wir müssen zugeben, daß die int~rsubjektive soziale Realität zum Teil durch Bedeutun1QQ
.g_en definiert sein muß ; daß Bedeutungen als subjektive nicht nur in kausaler Wechselwirkung mit einer aus data bruta bestehenden sozialen Realität stehen, sondern daß sie als ·intersubjektive konstitutiv für diese Realität sind. . Wir sprachen hier dauernd von intersubjektiven Bedeutungen. Und an früherer Stelle brachte ich das Problem der intersubjektiven Bedeutung in einen Gegensatz zu dem des Konsensus als Konvergenz von Meinungen. Aber es gibt noch eine andere Art der nichtsubjektiven Bedeutung, die ebenfalls häufig inadäquat unter dem Titel »Konsensus« behandelt wird. In einer Gesellschaft mit einem dichten Netz intersubjektiver Bedeutungen kann es ein mehr oder minder starkes System von gemeinsamen Bedeutungen geben. Damit meine ich Vorstellungen über das, was signifikant ist, die aber nicht nur in dem Sinne geteilt werden, daß jedermann sie hat, sondern auch insofern allgemein sind, als sie das gemeinsame Bezugssystem darstellen. So teilt wohl jeder Mann in unserer Gesellschaft die Empfänglichkeit für eine gewisse Art weiblicher Schönheit, aber dies braucht keine gemeinsame Bedeutung zu sein. Vielleicht weiß niemand etwas davon, außer den Marktforschern, die in ihrer Werbung damit arbeiten. Aber das überleben der nationalen Identität als fraukaphone Volksgruppe ist für die Bewohner Quebecsvon gemeinsamer Bedeutung; denn diese wird nicht nur allgemein geteilt, sondern dieses gemeinsame Streben ist einer der allgemeinen B~z~gspunkte aller Diskussion, Kommunikation und des ganzen öffentlichen Lebens der Gesellschaft. Wir können von geteilten Überzeugungen, Bestrebungen usw. sprechen, wenn eine Konvergenz zwischen den subjektiven Überzeugungen und Bestrebungen vieler · Individuen vorliegt. Aber zu der Bedeutung einer gemeinsamen Bestrebung, Überzeugung, Feier usw. gehört, daß sie nicht nur geteilt wird, sondern Bestandteil des gemeinsamen Bezugssystems ist. Oder anders gesagt: die Tatsache, daß sie geteilt wird, ist ein kollektiver Akt, sie ist ein gemeinsam getragenes Bewußtsein, während das Teilen von Überzeugungen usw. etwas ist, das jeder sozusagen für sich tut, selbst wenn jeder von uns durch andere beeinflußt ist. Gemeinsame Bedeutungen sind · die Basis der Gemeinschaft. Intersubjektive Bedeutung gibt einem Volk eine gemeinsame Sprache, in der es sich über die soziale Realität verständigt, sowie ein gemeinsames Verständnis gewisser Normen, aber erst mit den 200
gemeinsamen Bedeutungen enthält dieser gemeinsame Bezug signifikante gemeinsame Handlungen, Feiern und Gefühle. Diese sind -Gegenstände des Systems, an dem jedermann teilhat. Dadurch entsteht Gemeinschaft. Und abermals können wir dieses Phänomen nicht wirklich mit Hilfe der üblichen Definition von Konsensus als Konvergenz von Meinungen und Werten verstehen. Denn hier geht es um mehr als Konvergenz. Konvergenz ist das, was geschieht, wenn unsere Werte geteilt werden. Aber die Voraussetzung für gemeinsame Bedeutungen ist, daß diese geteilten Werte Bestandteil der gemeinsamen Welt sind, daß dieses Teilen geteilt wird. Aber wir könnten auch sagen, daß die gemeinsamen Bedeutungen etwas . ganz anderes sind als der Konsensus, derin sie können. neben einem hohen Maß an Spaltung bestehen; dies ist der Fall, wenn eine gemeinsame Bedeutung von verschiedenen Gruppen inner.,. halb einer Gesellschaft verschieden erlebt und verstanden wird. Sie bleibt eine gemeinsame Bedeutung, weil es einen Bezugspunkt gibt, nämlich den gemeinsamen Zweck, das gemeinsame Streben, die gemeinsame Feier. Beispiele dafür sind der American Way oder die Freiheit, wie sie in den USA verstanden wird. Aber diese gemeinsame Bedeutung wird von verschiedenen Gruppen verschieden artikuliert. Dies ist der Grund heftigster Kämpfe in einer Gesellschaft, und wir erleben dies auch heute in den Vereinigten Staaten. Vielleicht könnte man sagen, daß eine gemeinsame Bedeutung sehr häufig die Ursache eines empfindlichen Mangels an Konsensus ist. Sie darf daher nicht mi:t der Konvergenz von Meinung, Wert und Einstellung verwechselt werden. Gewiß sind gemeinsame Bedeutungen und intersubjektive Bedeutungen eng miteinander verwoben. Damit es gemeinsame Bedeutungen geben kann, muß ein enges Netz von intersubjektiven Bedeutungen.bestehen; und die Folge nachhaltiger gemeinsamer Bedeutungen ist die Entwicklung eines noch stärkeren Netzes von intersubjektiven Bedeutungen, wie die Menschen sie in der Gemeinschaft erleben. Wenn hingegen die gemeinsamen Bedeutungen absterben, was durch die früher beschriebene Form eines tiefen Dissens geschehen kann, dann tendieren die Gruppen dazu, auseinanderzufallen und verschiedene Sprachen der sozialen Realität zu entwickeln,. mithin weniger intersubjektive Meinungen zu teilen. Um unser obiges Beispiel wieder aufzunehmen, besteht also in 201
unserer Zivilisation eine starke gemeinsame Bedeutung bezüglich einer gewissen Vision von der freien Gesellschaft, in welcher die Verhandlung einen zentralen Platz einnimmt. Dies trug dazu bei, daß sich eine soziale Praxis der Verhandlung durchgesetzt hat, die uns an dieser intersubjektiven Bedeutung teilhaben läßt. Heute aber wird diese gemeinsame Bedeutung stark in Frage gestellt, wie wir gesehen haben. Sollte es denen, die sie bestreiten, wirklich gelingen, eine alternative Gesellschaft aufzubauen, dann würde sich zwischen denen, die in der gegenwärtigen Gesellschaftsform verbleiben, und denen, die eine neue begründet hätten, eine Kluft entwickeln. · Wie die inters1;1bjektiven Bedeutungen, so fallen auch die gemeinsamen Bedeutungen durch das Netz der Hauptströmung der Sozialwissenschaft. Sie finden keinen Platz in ihren Kategorien. Deim sie sind nicht einfach eine Reihe konvergierender subjektiver Reaktionen, sondern Bestandteil der gemeinsamen Welt. Woran es der Ontologie der Hauptströmung der Sozialwissenschaft fehlt, ist ein Begriff von Bedeutung, die nicht einfach für ein individuelles Subjekt gegeben wäre, sondern für ein Subjekt, das sowohl »wir« als auch »ich« sein kann. Der Ausschluß. dieser Möglichkeit, des Gemeinschaftlichen, resultiert wiederum. aus dem verhängnisvollen Einfluß der epistemologischen Tradition, für die alles Wissen aus den dem individuellen Subjekt eingeprägten Eindrücken rekonstruiert· werden muß. Aber wenn wir uns vom Einfluß dieser Vorurteile befreien, dann wird uns dies als eine äußerst implausible Auffassung von der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins erscheinen ; wir sind uns der Welt durch ein »Wir« bewußt, bevor wir es durch ein »Ich« sind. Daher brauchen wir die Unterscheidung zwischen dem, was bloß in dem Sinne geteilt wird, daß wir alle es in unseren individuellen Welten haben, und dem, was in der gemeinsamen Welt ist. Doch die bloße Idee von etwas, das in der gemeinsamen Welt enthalten wäre, im Gegensatz zu dem, was in allen individuellen Welten besteht, ist der empiristischen Epistemologie völlig unzugänglich. Daher findet es keinen Platz in der Hauptströmung der Sozialwissenschaft. Wohin dies führt, müssen wir nun zu erkennen suchen.
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III. 1. Fassen wir die letzten Seiten also zusammen: eine Sozialwissenschaft, w~lche die Voraussetzungen der empiristischen Tradition erfüllen will, versucht natürlich, die soziale Realität als einzig .aus data bruta bestehend zu rekonstruieren. Diese data sind die Akte von Menschen (Verhalten), wie sie- angeblich der Interpretation unzugänglich - durch physikalische Beschreibungen oder durch eindeutig durch Institutionen und ·Praktiken definierte Beschreibungen identifiziert werden·; und zweitens; sie beinhalten die subjektive Realität der Überzeugungen, wie diese durch deren Reaktionen_ auf bestimmte Wortformen oder in manchen Fällen durch ihr offenes nicht-verbales Verhalten attestiert sind;. Ausgeschlossen bleibt dabei die Betrachtung der sozialen Realität, wie sie durch intersubjektive und gemeinsame Bedeutungen charakterisiert ist. Ausgeschlossen bleibt z. B. auch der Versuch, unsere Zivilisation, in der die Verhandlung sowohl in der Praxis als auch in der sie legitimierenden Theorie eine so zentrale Rolle spielt, durch die Untersuchung der Selbst-Definitionen des Handelnden, der anderen sowie der in ihr verkörperten sozialen Bezüge zu verstehen. Solche Definitionen, welche die Bedeutung des eigenen und des Handeins anderer für die Handelnden sowie die sozialen Beziehungen, in denen sie stehen, betreffen, registrieren keineswegs data bruta in dem Sinn, wie dieser Termi~us in solcher Argumentation verwendet wird ; das heißt, sie sind keineswegs dagegen gefeit, von jenen in Frage gestellt zu werden, die unsere Interpretationen dieser Bedeutungen bestreiten. Oben habe ich versucht, die dieser Verhandlungspraxis implizite Vision zu skizzieren, indem ich auf bestimmte Begriffe wie Autonomie und Rationalität hinwies. Aber diese Lesart wird zweifellos von jenen angezweifelt werden, die andere Grundkonzeptionen vom Menschen, von der menschlichen Motivation, von der Conditio humana haben; oder sogar von jenen, die andere Aspekte des Problems, mit dem wir uns befassen, für wichtiger halten. Wenn wir solche Auseinandersetzungen vermeiden und eine Wissenschaft haben wollen, die auf die Verifikation, wie diese vomlogischen Empirismus verstanden wird, pegründet ist, dann müssen wir diese Forschungsebene überhaupt meiden und hoffen, uns mit einer Korrelation von als data bruta identifizierbaren Verhaltensweisen zu behelfen. 203
Ahnliebes gilt für die Unterscheidung zwischen gemeinsamen Bedeutungen und geteilten subjektiven Bedeutungen. Wir können darauf hoffen, die subjektiven Bedeutungen von Individuen insoweit zu identifizieren, als- es dafür adäquate Kriterien gibt in der Zustimmung zu oder der Ablehnung von verbalen Formeln oder in ihrem als data bruta identifizierbaren Verhalten. Aber sobald wir die Unterscheidung zwischen solchen subjektiven Bedeutungen, .die allgemein geteilt werden, und genuinen gemeinsamen Bedeutungen gelten lassen, können wir uns nicht ~ehr mit der Identifikation von data bruta begnügen. Wir befinden uns auf einem Gebiet, wo unsere Definitionen von denen, die andere Lesarten vertreten, bezweifelt werden können. Die grundsätzliche Entscheidung der Vertreter der sozialwissenschaftliehen Hauptströmung für die empiristische Konzeption von Wissen und Wissenschaft macht es unvermeidlich, daß sie das Verifikationsmodell der Politischen Wissenschaft und die kategorialen Prinzipien, die dieses zur Folge hat, akzeptieren. Dies wiederum bedeutet, daß eine Untersuchung unserer Zivilisation in bezug auf intersubjektive und gemeinsame Bedeutungen ausgeschlossen wird. Diese ganze Forschungsebene wird v~el mehr unsichtbar gemacht. Nach der Auffassung dieser Hauptströmung werden die verschiedenen Praktiken und Institutionen verschiedener Gesellschaften daher nicht im Zusammenhang mit verschiedenen clu·sters von intersubjektiven oder gemeinsamen Bedeutungen gesehen, vielmehr sollten wir imstande sein, sie nach verschiedenen clusters von »Verhalten« und/oder subjektiver Bedeutung zu unterscheiden. Der Vergleich zwischen Gesellschaften setzt nach dieser Auffassung voraus, daß wir ein universales Vokabular des Verhaltens entwickeln, welches uns ermöglichen soll, die verschiedenen Formen und Praktiken verschiedener Gesellschaften durch das gleiche Begriffsgefüge darzustellen. Die heutige Politische Wissenschaft verachtet daher die älteren Versuche einer komparativen Politikwissenschaft via Vergleich von Institutionen. Eine einflußreiche heutige Schule ist deshalb zum Vergleich gewisser Praktiken oder ganz allgemeiner Klassen ~on Praktiken übergegangen und schlägt vor, Gesellschaften nach den verschiedenen Arten, wie diese Praktiken ausgeübt werden, zu unterscheiden. Diese sind die »Funktionen« der einflußreichen »Entwicklungstheorie«. 11 Es kofumt aber epistemologisch ent204
scheidend darauf an, daß solche Funktionen unabhängig von jenen in verschiedenen Gesellschaften verschiedenen intersubjektiven Bedeutungen identifiziert werden; oder sie wären nur in jenem lockeren und wenig aufschlußreichen Sinn universal, in dem auch die Bezeichnung »Funktion« in jeder Gesellschaft, allerdings mit variierender, häufig sogar stark variierender Bedeutung Anwendung finden kann- wobei derselbe Begriff durch die verschiedenen Praktiken und intersubjektiven Bedeutungen sehr verschieden. »gedeutet« wird. Die Gefahr, daß solche Universalität vielleicht nichts besagt, ~ird von den Vertretern der politikwissenschaftlichen Hauptströmung nicht einmal vermutet~ denn sie nehmen nicht wahr, daß es eine Ebene der Beschreibung wie diejenige gibt, welche die intersubjektiven Bedeutungen definiert, und sind davon überzeugt, daß F:unktionen und die verschiedenen Strukturen, welche diese erfüllen, durch data-bruta-Verhalten identifiziert werden können. Doch die Folgen solcher Ingnoranz gegenüber den Unterschieden in intersubjektiven Bedeutungen kann für eine vergleichende Politikwissenschaft verhängnisvoll sein, nämlich insofern, als wir dann alle anderen Gesellschaften in den Kategorien. unserer eigenen interpretieren. Gerade dies widerfuhr offenbar ironischerweise der. amerikanischen Politikwissenschaft. Nachdem sie die ältere Politikwissenschaft, die sich auf den Institutionenvergleich konzentrierte, heftig wegen deren Ethnozentrizität (oder westlichem Vorurteil) kritisiert hat, schlägt sie nun vor, die Politik jeglicher Gesellschaft mit Hilfe solcher Funktionen wie :z;. B. »Interessen-Artikulation« und »Interessen-Aggregation« zu verstehen, deren Definition stark durch die Verhandlungs-Kultur unserer Zivilisation beeinflußt ist, deren Gültigkeit aber anderswo alles andere als gesichert ist. Die kaum überraschende Folge ist eine Theorie der politischen Entwicklung, welche den atlantischen Verfassungstyp als den Gipfel der politischen Errungenschaften der Menschen darstellt. über dieses Feld der komparativen Politikwissenschaft (über das Alasdair Maclntyre in einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz eine interessante Untersuchung anstellte) 12 ließe sich noch viel sagen. Aber ich möchte lieber die Signifikanz dieser beiden konkurrierenden Ansätze in Verbindung mit einem anderen allgemeinen Problembereich der Politik illustrieren, nämlich dem Problem der >>Legitimität«Y
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2. Es ist eine offensichtliche Tatsache, mit der die Politik sich
zumindest seit Platon befaßt, daß manche Gesellschaften sich eines leichteren, spontaneren, weniger auf Zwang beruhenden Zusammenhalts erfreuen als andere. Eine wichtige Frage der politischen Theorie bestand darin, zu verstehen, was diesem Unterschied zugrunde liegt. Unter anderem haben Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville sich damit befaßt. Die zeitgenössischen Vertreter der politikwissenschaftlichen Hauptströmung gehen an diese Frage mit dem Begriff »Legitimität« heran. Die Verwendung dieses Wortes ist hier leicht zu verstehen. Von jenen Gesellschaften, die spontaner zusammenhalten, kann angenommen werden, daß unter ihren Mitgliedern ein stärkeres Gefühl für Legiti~tät besteht. Aber die Verwendung des Begriffs hat sich gewandelt. »Legitimität« ·ist ein Begriff, mit dessen Hilfe wir die Autorität des Staates oder der Regierung, ihr Recht auf unsere Gefolgschaft diskutieren. Wie wir uns diese Legitimität auch vorstellen mögen, sie kann einer politischen · Ordnung nur im Lichte einer Anzahl benachbarter Vorstellungen zugeschrieben werden - z. B. daß sie den Menschen Freiheit gewährt, daß sie aus deren Willen hervorgeht, daß sie ihnen Ordnung und die Herrschaft des Rechts zusichert, daß sie auf Tradition begründet ist oder aufgrund ihrer erhabenen Eigenschaften Gehorsam befiehlt. Von allen diesen Vorstellungen gilt, daß sie auf Definitionen dessen beruhen, was für die Menschen im allgemeinen oder in einer besonderen Gesellschaft oder unter besonderenUmständen signifikant ist- Definitionen der pragmatischen Bedeutung, die nicht als data bruta identifiziert werden können. Selbst wenn einigen dieser Begriffe eine »operationale Definition« als data bruta gegeben würde- ein Begriff wie z. B. »Freiheit« kann, nach Hobbes, als das Fehlen legaler Restriktion definiert werden -, würde diese Definition nicht der vollen Bedeutung des Begriffs gerecht, besonders nicht derjenigen, die für Menschen als signifikant betrachtet werden kann. Gemäß dem empiristischen Paradigma wird dieser letztere Aspekt der Bedeutung eines solchen Begriffs als »evaluativ« bezeichnet und als äußerst heterogen gegenüber dem »deskriptiven« Aspekts aufgefaßt. Aber diese Analyse ist alles andere als fest begründet; und dies tatsächlich ebensowenig wie das ..empiristische Paradigma des Wissens selbst, an das sie eng gebunden ist. Ein Zweifel an diesem Paradigma im Namen einer hermeneuti206
sehen Wissenschaft ist auch ein Zweifel an der Unterscheidung zwischen »deskriptiv« und »evaluativ« sowie an der ganzen damit einhergehenden Konzeption von »Wertfreiheit« 14 • Auf jeden Fall darf das Wort »legitim« - sei es, weil es »evaluativ« ist, sei es, weil es nur in Verbindung mit SinnDefinitionen verwendet werden kann- nach den Vorstellungen der sozialwissenschaftliehen Hauptströmung in Beschreibungen der sozialen Realität nicht verwendet werden. Es darf nur als Beschreibung von subjektiver Bedeutung verwendet werden. ·Gegenstand der wissenschaftlichen Erörterung ist also nicht die Legitimität einer politischen Ordnung, sondern es S.ind __die Meinungen und Gefühle ihrer individuellen Mitglieder bezüglich deren Legitimität. Die Unterschiede zwischen vers·chiedenen Gesellschaften in ihrer jeweiligen Art des spontanen Zusammenhalts und Gemeinschaftssinnes müßten demnach aus Korrelationen zwischen den Überzeugungen und Gefühlen ihrer Mitglieder ihnen gegenüber einerseits und dem Vorhandensein gewisser als data bruta identifizierbarer Indizes für Stabilität in ihnen andererseits verstanden werden. So spricht Roben Dahl in Modern Political Analysis15 (31 - 32) von den verschiedenen Arten, wie Führer »Zustimmung« für ihre politischen Maßnahmen erhalten. Je mehr die Bürgeraufgrund »in,nerer Belohnungen und En.tsagungen« zustimmen;- desto weniger brauchen die Führer »äußere Belohnungen und Versagungen« einzusetzen. Aber wenn die Bürger glauben, eine Regierung sei legitim, dann wird ihr Gewissen sie anhalten, ihr zu gehorchen ; sie werden sich innerlich bestraft fühlen, wenn sie ungehorsam sind ; daher wird die Regierung weniger äußere Mittel, einschließlich Gewalt, einsetzen müssen. Weniger grobschlächtig argumentiert Seymour Lipset in Po.litical Man 16 (Kap. 3). Aber er bezieht sich auf dieselben Grundideen, nämlich, daß Legitimität, als subjektive Bedeutung definiert, mit Stabilität korreliert. »Legitimität impliziert die Fähigkeit des Systems, den Glauben hervorzurufen und zu nähren; daß die bestehenden politischen Institutionen die für die Gesellschaft angemessensten sind« (64). · Lipset erörtert die Determinanten der Stabilität in modernen politischen Ordnungen. Im genannten Kapitel behandelt er zwei der wichtigsten, nämlich Effektivität und Legitimität. »Effektivität heißt tatsächliche Leistung, das Maß, in dem das System die 207
Grundfunktionen der·Regierung so erfüllt, wie die Bevölkerung und mächtige Gruppen in dieser, etwa' die Großwirtschaft Uild die Streitkräfte sie auffassen« (loc. cit.). So gewinnen wir einen Faktor, bei dem es um die objektive Realität geht, um das, was die Regi~rung tatsächlich tut; und einen weiteren, bei dem es um subjektive Überzeugungen und »Werte« geht. »Während Effektivität primär instrumental ist, ist Legitimität evaluativ« (loc. cit.). Von Anfang an ist also der Rahmen abgesteckt durch eine Unterscheidung zwischen sozialer Realität ,und. dem, was die Menschen darüber denken und fühlen. Lipset sieht zwei Formen der Legitimitätskrise, mit denen moderne Gesellschaften sich mehr oder minder gut auseinandersetzen. Die eine betrifft den Status der wichtigsten konservativen Institutionen, welche durch die Entwicklung moderner Industrie-Demokratien in Gefahr geraten. Die zweite betrifft das Maß, in dem alle politischen Gruppen Zugang zum politischen · Prozeß haben. So wurden - unter dem ersten ·Titel - manche traditionellen Gruppen, etwa die landbesitzende Aristokratie oder der Klerus, in einer Gesellschaft wie Frankreich unsanft behandelt und blieben noch Jahrzehnte danach dem demokratischen System entfremdet; wohingegen in England die traditionellen Klassen behutsamer behandelt wurden, selbst zu Kompromissen bereit waren un'd allmählich in die neue Ordnung integriert und transformiert wurden. Unter dem zweiten Titel gelang es manchen Gesellschaften, die Arbeiterklasse oder die Bourgeoisie zu einem frühen Zeitpunkt in den politischen Prozeß zu integrieren, während diese in anderen bis vor ganz kurzem ausgeschlossen blieben und folglich eine starke Entfremdung vom System entwickelten, zur Übernahme extremistischer Ideologien neigten und ganz allgemein zur Instabilität beitrugen. Eine der Determinanten für die Leistung einer Gesellschaft gemäß diesen beiden Titeln ist, ob sie gezwungen ist oder nicht, die verschiedenen Konflikte einer demokratischen Entwicklung alle gleichzeitig oder einen nach dem anderen zu bewältigen. Eine weitere wichtige Determinante der Legitimität ist die Effektivität. Diese Theorie, welche Stabilität zum Teil als Folge von Legitimitätsüberzeugungen auffaßt und meint, daß diese wiederum zum Teil aus der Beschaffenheit von Status, Wohlfahrt und politischer Beteiligung verschiedener Gruppen resultieren, erscheint auf den ersten Blick sehr vernünftig und gut geeignet, 208
unser Verständnis für die. Geschichte der letzten ein oder zwei Jahrhunderte zu fördern. Aber diese Theorie räumt der Untersuchung der intersubjektiven und gemeinsamen Bedeutungen, welche für die moderne Zivilisation konstitutiv sind, keinen Platz ein. Und wir dürfen bezweifeln, ob wir den Zusammenhalt moderner Gesellschaften oder ihre gegenwärtige Krise verstehen können, wenn wir diese außer Betracht lassen. Untersuchen wir einmal, wie die neuen industriellen Regimes im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Gefolgschaft der Arbeiterklasse gewannen. Dies ist alles andere als nur - oder vielleicht sogar überwiegend- eine Frage des Tempos, mit dem diese.Klasse in den politischen Prozeß und das Funktionieren des Regimes integriert wurde. Vielmehr kann es irreführend sein, die Gewährung des Zugangs zum politischen Prozeß als eine unabhängige Variable zu betrachten. · Nicht nur, daß wir uns häufig von Historikern aufgerufen sehen, den Klassenzusammenhalt in einzelnen Ländern aus anderen Faktoren zu erklären, etwa dem Einfluß des Methodismus im England de~ frühen 19. Jahrhunderts (Elie Halefy) 17 oder der Anziehungskraft des neuerlich erfolgreichen Nationalismus in Deutschland. Diese Faktoren könnten dem Raster der Sozialwissenschaft angepaßt werden, indem man sie als »Ideologien« oder allgemein vertretene »Wert-Systeme« oder irgendwelche andere Verknüpfungen von subjektiver Bedeutung dieser Art klassifiziert. Aber die vielleicht wichtigste dieser »Ideologien«, mit denen der Zusammenhalt industrieller demokratischer Gesellschaften erklärt wird, ist die Gesellschaft der Arbeit, die Vision der Gesellschaft als eines großen Produktionsunternehmens, in dem höchst verschiedene Funktionen i"nterdependent integriert sind; eine Vision der Gesellschaft, in der die ökonomischen Verhältnisse als primär angesehen werden, wie dies nicht nur im Marxismus (und in gewissem Sinne nicht eigentlich im Marxismus), sondern vor allem in der Tradition des klassischen Utilitarismus geschieht. Zu dieser Vision gehört auch eine fundamentale Solidarität zwischen allen ·Mitgliedern der. Gesellschaft, die arbeiten (um es mit Arendts Worten auszudrücken) 18 , denn sie sind alle an der Produktion dessen beteiligt, was, in allgemeiner Interdependenz, zum Leben und zum Glück unerläßlich ist. Dies ist die »Ideologie«, welche häufig die Integration der 209
Arbeiterklasse in die Industrie-Demokratien anführte, wobei sie zuerst polemisch gegen die »unproduktiven« Klassen gerichtet war, z. B. in England mit der Anti-Corn-Law-League und später mit den Kampagnen von Joseph Chamberlain (»als Adampflügte und Eva spann/wer war denn da der Edelmann?«), dann aber zur sozialen Kohäsion und Solidarität beitrug. Doch der Grund, »Ideologie« oben in Anführungszeichen zu setzen, ist natürlich, daß diese Definition der Dinge, die in jene Konzeption, welche das soziale Leben als auf Verhandlung beruhend ansieht, gut integriert ist, in den Begriffen der sozialwissenschaftlichen Hauptströmung nicht als von einer Vielzahl von Individuen v~rtretene Überzeugungen und »Werte« verstanden werden kann. Denn die große interdependente Matrix der Arbeit ist nicht einfach ein System von Ideen in den Köpfen der Leute, sondern ein wichtiger Aspekt der Realität, in der wir in der modernen Gesellschaft leben. Und gleichzeitig sind diese Ideen insofern in diese Matrix eingelagert, als sie für dieselbe konstitutiv sind. Das heißt, wir wären nicht fähig, unter dieser Gesellschaftsform zu leben, wären wir nicht von diesen oder manchen anderen Ideen durchdrungen, die geeignet sind, die zum Funktionieren einer solehen Wirtschaft notwendige Disziplin und ·freiwillige Koordination hervorzurufen. Alle Industrie-Zivilisationen verlangten von den traditionellen bäuerlichen Bevölkerungen, denen sie aufgezwungen wurden, gewaltige Umstellungen; denn sie erfordern ein nie dagewesenes Maß an disziplinierter, anhaltender, monotoner Anstrengung - über lange Stunden hinweg, die durch keinen sinnvollen Rhythmus, wie ihn etwa Jahreszeiten oder Feste setzen, gegliedert ist. Schließlich kann diese Lebensweise nur akzeptiert werden, wenn die Vorstellung, den Lebensunterhalt zu verdienen, mit mehr Signifikanz als der bloßen Vermeidung des Verhungerns ausgestattet wird; und dies geschieht in der Arbeitskultur. Nun ist diese Arbeitskultur aber nur ein Aspekt moderner Gesellschaften neben der auf Verhandlung und Willensbeziehungen (in den angelsächsischen Ländern) beruhenden Gesellschaft und anderen gemeinsamen und intersubj~ktiven Bedeutungen, welche in verschiedenen Ländern von verschiedener Wichtigkeit sind. Ich meine nun, daß es gewiß nicht implausibel ist,. dieser Arbeitskultur bei der Erklärung der Integration der Arbeiterklasse in die moderne demokratische Industriegesellschaft einige 210
Bedeutung beizumessen. Sie kann jedoch nur als ein duster intersubjektiver Bedeutungen bezeichnet werden. Und als solches kann sie nicht ins Blickfeld der politikwissenschaftlichen Hauptströmung gelangen; ein Autor wie Lipset kann sie, wenn er gerade dieses Problem diskutiert, nicht in seine Erörterung einbeziehen. Selbstverständlich bleibt ein so massives Faktum nicht gänzlich unbemerkt .. Was vielmehr geschieht, ist, daß es uminterpretiert wird. Im allgemein~n war es so, daß die interdependente Produktions- und Vertragsgesellschaft von der Politischen Wissens.chaft anerkannt wurde, aber nicht als eine Struktur intersubjektiver Bedeutung unter anderen, sondern als ein unumgänglicher Hintergrund des sozialen Handeins an sich. In dieser Maske braucht sie nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu sein. Vielmehr wird sie in eine mittlere Distanz gerückt, wo ihre allgemeinen Merkmale die Rolle eines universalen Bezugsrahmens spielen, innerhalb dessen (wie man hofft) Handlungen und Strukturen identifizierbare data bruta seien, und dies für jede Gesellschaft und zu jedem Zeitpunkt. Man ist also der Auffassung, daß die politischen Handlungen von Menschen in allen Gesellschaften als Varianten der Verarbeitung von »Forderungen« verstanden werden können, die einen wichtigen Bestandteil unseres politischen Lebens ausmacht. Die Unfähigkeit, das Spezifische unserer intersubjektiven Meinungen zu erkennen,· ist also untrennbarmit dem Glauben an die Universalität nordatlantischer Verhaltensformen oder »Funktionen« verbunden, der die zeitgenössische .vergleichende Politikwissenschaft so weitgehend beeinträchtigt. · Diese Ansicht besagt, daß das, worum esbei der Politik gehe, der fortwähren<{e Ausgleich von Unterschieden oder die Produktion von symbolischen und effektiven »Outputs« auf der Basis von Forderungs- und Bestätigungs-»Inputs« sei. Das Entstehen. der intersubjektiven Bedeutung in der Arbeitskultur wird als ein Zunehmen der richtigen Wahrnehmung des politischen Prozesses auf Kosten der »Ideologie« angesehen. So führen Almond und Powell den Begriff »Politische Säkularisierung« ein, um das »Entstehen einer pragmatischen, empirischen Orientierung« an Politik zu be-schreiben (58). 19 Eine säkulare politische Kultur ist nicht nur ein Gegensatz zu einer traditionellen, sondern ·auch zu einer »ideologischen« Kultur, welche charakterisiert ist durch ein 211
»unflexibles Bild vom politischen Leben, das sich gegen konfligierende Informationen abschließt« und »keine offenen VertragsEinstellungen entwickelt, wie sie mit einer vollen Säkularisierung verbunden sind« (61). Dies ist eindeutig so zu verstehen, daß eine säkularisierte Kultur eine solche ist, die wesentlich weniger auf Illusionen beruht, die Dinge so sieht, wie sie sind, und nicht vom »falschen Bewußtsein« der traditionellen oder ideologischen Kultur infiziert ist (um einen Ausdruck zu verwenden, der nicht zum Vokabular jener Hauptströmung gehört). 3·. Diese Auffassung, nach der die Arbeitskultur aus dem Rückzug der Illusion :vor der richtigen Wahrnehmung dessen, was Politik fortwährend und in Wirklichkeit ist, hervorgeht, ist daher eng an die epistemologischen Prämissen der politikwissenschaftlichen Hauptströmung und ihre daraus resultierende Unfähigkeit gebunden, das historisch spezifische der intersubjektiven Bedeu,t~ngen dieser Kultur zu erkennen. Aber die Schwäche dieses Ansatzes, die bereits in den Versuchen, die Entstehung dieser Kultur und ihre Beziehung zu anderen zu erklären, sichtbar wird, wird noch peinlicher, wenn wir versuchen, ihr gegenwärtiges Unbehagen, ja sogar ihre Krise zu erklären. Die Spannungen in der gegenwärtigen Gesellschaft, der Zusammenbruch der guten Lebensart, die Entstehung einer tiefen Entfremdung, die sich in noch mehr Destruktion umsetzt - all dies tendiert dazu, die 'Grundkategorien unserer Sozialwissenschaft zu erschüttern. Es geht nicht nur darum, daß eine solche Entwicklung ganz unvorhersehbar für diese Wissenschaft war, die in der Zunahme des Überflusses eher eine Ursache für das weitere Fußfassen der Vertragskultur, für die Verringerung irrationaler Spaltungen, für die Zunahme der Toleranz, kurz, für das »Ende der Ideologie« sah. Denn die Vorhersage kann, wie wir unten sehen werden, nicht das Ziel der Sozialwissenschaft sein, wie sie es für die Naturwissenschaft ist. Vielmehr ist es so, daß diese wissenschaftliche Hauptströmung nicht über die Kategorien verfügt, um diesen Zusammenbruch zu erklären. Sie ist gezwungen, den Extremismus entweder als eine Verhandlungseröffnung der Verzweifelten aufzufassen, die den Einsatz absichtlich hochtreiben, um sich Gehör zu verschaffen ; oder aber sie kann das Neue der Rebellion anerkennen, indem sie die Hypothese ~kzeptiert, daß aufgrundder Revolution der »Erwartungen« oder
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aber des Ausbruchs neuer Wünsche und Bestrebungen, die bislang im Verhandlungsprozeß keinen Platz fanden, gesteigerte Erwartungen an das System herangetragen werden. Aber diese neuen Wünsche oder Bestrebungen müssen dem Bereich der Individualpsychologie zugeordnet· werden, d. h. sie müssen so beschaffen sein, daß ihre Weckung und Befriedigung eher aus den Zuständen der Individuen als aus den intersubjektiven Bedeutungen, in denen diese leben, zu verstehen sind. Denn diese letzteren finden keinen Platz in den.Kategorien jener Hauptströmung, die daher mit einer genuin historischen Psychologie völlig unvereinbar ist. Aber gewisse extremere Proteste und Akte der Rebellion, die in unserer Gesellschaft stattfinden, können nicht als Verhandlungseröffnung im Namen irgendwelcher - alter oder neuer - Forderungen interpretiert werden. Innerhalb des akzeptierten Bezugsrahmens unserer Sozialwissenschaft können sie nur als eine Rückkehr zur Ideologie, und mithin als irrational, interpretiert werden. Anläßlich gewisser ausgefallener und blutiger Formen des Protests gibt es wohl wenige Meinungsverschiedenheiten; sie werden wohl von allen, außer ihren Protagonisten, als irrational beurteilt. Aber innerhalb der akzeptierten Kategorien ist diese Irrationalität nur mit Hilfe der Individualpsychologie zu verstehen; sie ist der öffentliche Ausbruch privater Pathologie; sie kann nicht als eine Krankheit der Gesellschaft selbst, als ein Unbehagen, welches ihre konstitutiven Bedeutungen befällt, aufgefaßt werden. 20· Niemand kann behaupten, er stünde im Begriff, eine adäquate Erklärung für diese großen Veränderungen zu liefern, die unsere Zivilisation durchmacht. Aber im Gegensatz zu der Unfähigkeit einer Wissenschaft, die innerhalb der akzeptierten Kategorien bleibt, kann eine hermeneutische Wissenschaft vom Menschen, welche der Untersuchung der intersubjektiven Bedeutung Raum bietet, zumindest einen Anfang machen, fruchtbare Wege der Forschung zu eröffnen. Offenbar beginnt die Disziplin, die integraler Bestandteil der Arbeits- und Vertragskultur war, sich aufzulösen. Die Strukturen dieser Zivilisation, interdependente Arbeit, Verhandlung, gegenseitige Abstimmung der individuellen Ziele, beginnen für viele ihre Bedeutung zu verändern und fangen an, nicht mehr als normal und dem Menschen angemessen, sondern als häßlich und leer empfunden zu werden. Und doch 213
sind wir alle insofern in diesen intersubjektiven Bedeutungen befangen, als wir in dieser Gesellschaft leben - und in dem Maß, wie diese sich fortentwickelt, sind wir immer mehr von ihnen durchdrungen. Daher die Virulenz und Spannung der Kritik an unserer Gesellschaft, die stets ganz real eine Selbst-Ablehnung ist (in einer Art, wie es die alte sozialistische Opposition niemals war). Warum sind diese Bedeutungen schal geworden? Offenkundig müssen wir die Tatsache akzeptieren, daß sie nicht aus ihrem Anschein her verstanden werden können. Die freie, produktive Vertragskultur behauptet, dem Menschen Genüge zu tun. Wenn sie dies nicht tut, dann müssen wir annehmen, daß sie, während sie unsere Gefolgschaft beanspruchte, auch andere Bedeutungen für uns hatte, welche diese Gefolgschaft forderten und die nunmehr verschwunden sind. Dies ist der Ausgangspunkt einer Reihe von Hypothesen, die unsere Vergangenheit neu zu definieren suchen, um ~nsere Gegenwart und Zukunft intelligibel zu machen. Man könnte glauben, daß die Produktions- und Vertragskultur in der Vergangenheit gemeinsame Bedeutungen (wenngleich in ihrer Philosophie für diese keifi Platz war) - und mithin eine Basis der Gemeinsamk~it - ~nbot, welche ·wesentlich mit der Tatsache verbunden waren, daß sie sich im Aufbauprozeß befand. Sie verband Menschen, die von sich annehmen konnten, daß sie mit der Vergangenheit gebrochen hatten, um z. B. in Amerika ein neues Glück aufzubauen. Aber die Zukunft ist nun in jeder wesentlichen Hinsicht verbaut. Die Vorstellung eines Horizonts, der durch eine zukünftige noch größere Produktion (im Gegensatz zur sozialen Transformation) erreicht werden könnte, grenzt im heutigen Amerika an das Absurde. Plötzlich ist der Horizont, der so wesentlich für das Gefühl eines sinnvollen Zwecks war, zusammengebrochen, was doch beweist, daß die freie Produktions- und Vertragsgesellschaft, wie so viele andere von der Aufklärung ausgehende Träume, für den Menschen nur ein Ziel, nicht aber eine Realität sein kann. Oder aber wir betrachten diese Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Identität. Das Gefühl, durch die Arbeitskultur die eigene Zukunft aufzubauen, kann Menschen so lange tragen, wie sie von sich glauben, sie hätten mit einer Jahnausende währenden Vergangenheit der Ungerechtigkeit und Mühsal 214
gebrochen, um qualitativ andere Bedingungen für ihre Kinder zu schaffen. Alle Voraussetzungen einer menschlich akzeptablen Identität werden in dieser Kategorie erfüllt : die Beziehung zur Vergangenheit (man erhebt sich über sie, bewahrt sie aber in folkloristischen Erinnerungen), zur sozialen Welt (die interdependente Welt freier, produktiver Menschen), zur Erde (der Rohstoff, der darauf wartet, geformt zu werden), zur Zukunft und zum eigenen Tode (das immer Denkmal in Gestalt des Lebens wohlhabender Kinder), zum Absoluten (die absoluten Werte der Freiheit, Integrität-und Menschenwürde). Aber an einem gewissen Punkt sind die Kinder nicht tnehr imstande, dieses Vorwärtsdrängen in die Zukunft weiterzufüh·: ren. Diese Anstrengung hat sie in einen privaten Himmel der Sicherheit versetzt, in dem es ihnen nicht mehr gelingt, den _Bezug zu den großen Realitäten zu gewinnen und wiederzugewinnen : ihre Eltern hatten nur eine negierte Vergangenheit, ein Leben, das völlig an der Zukunft orientiert war ; die soziale Welt ist entfernt und formlos ; eher könnte man Zugang zu ihr gewinnen, indem man seinen Platz innerhalb des zukunftsorientierten Produktionsmolochs einnimmt. Aber dies erscheint heute sinnlos. Die Beziehung zur Erde als dem Rohstoff wird daher als leer und entfremdet erf~hren, aber die Wiedergewinnung einer tragenden Beziehung zur Erde ist, einmal verloren, das Schwerste über~ haupt; und wo wir in einein Netz von für uns abgestorbenen Bedeutungeil gefangen sind, da gibt .es keine Beziehung zum Absoluten. Vergangenheit, Zukunft, Erde, Welt und das Absolute sind uns daher so oder so verschlossen ; und was daraus notwendig resultiert, ist eine Identitätskrise von beängstigenden Ausmaßen. Diese beiden Hypothesen konzentrieren sich hauptsächlich a"l;lf die Krise der US-amerikanischen Zivilisation, und sie tragen vielleicht dazu bei, die Tatsache zu erklären, daß die USA in gewissem Sinn als erste von allen atlantischen Nationen diese Krise durchmachen; nämlich nicht nur, weil sie den größten._ überfluß haben, sondern mehr noch, weil sie in vollerem Umfang auf der Arbeitsk~ltur basieren ·als die europäischen Länder, die sich mehr an traditionellen gemeinsamen Bedeutungen erhalten haben. Aber diese Hypothesen könnten uns auch helfen zu verstehen, warum die Entfremdung bei den Gruppen am stärksten ist, die in 215
den vertragsbegründeten Gesellschaften des Überflusses nur eine · marginale Stellung einnehmen. Deren Leben in dieser Zivilisation unterlag den größten Belastungen, während ihre· Identität in . mancher Hinsicht antithetisch gegen diese war. So etwa die Schwarzen in den USA und die französisch sprechende Gemeinschaft in Canada, jede Gruppe auf ihre Weise. Auch für viele Immigrantengruppen war die Belastung groß, aber sie zwangen sich; die Hindernisse zu überwinden, und die neue Identität ist so·zusagen mit dem Blut der alten besiegelt. Aber für diejenigen, die eine solche erfolgreiche Transformation nicht durchmachen wollten oder konnten, sondern stets ein belastungsreiches Leben in der Defensive führten, ist der Zusammenbruch der zentralen, starken Identität der Auslöser für tiefgreifende Umwälzungen. Diese können als eine Befreiung aufgefaßt werden, aber zugleich ·. sind ·sie tief beunruhigend, denn die fundamentalen Maßstäbe des früheren Lebens befinden sich im Wandel, und neue Vorbilder und Definitionen eines Lebens in einer neuen, voll akzeptierten Identität sind noch nicht in Sicht. Im gewissen Sinn befinden wir uns in einem Zustand, wo es. nötig wäre, daß ein ne~er Sozialvertrag (vielmehr der erste soziale Vertrag) zwischen diesen Gruppen und denen, mit denen sie zusammenleben, geschlossen würde - und niemand weiß, wo beginnen. Auf den letzten Seiten habe ich einige Hypothesen vorgestellt, die vielleicht sehr spekulativ erscheinen; und möglicherweise stellen sie sich sogar als unbegründet, ja, als einigermaßen uninteressant heraus. Doch sie sollten hauptsächlich zur Illustra.tlon dienen. In erster Linie behaupte ich nämlich, daß wir dieses Phänomen des Zusammenbruchs nur dann in den Griff bekommen können, wenn wir die gemeinsamen und intersubjektiven Bedeutungen der Gesellschaft, in der wir leben, klarer und gründlicher zu verstehen suchen. Denn sie sind es, die uns im Stich gelassen haben, und um diesen Wandel zu verstehen, brauchen wir ein adäquates Verständnis dieser Bedeutungen. Aber dies kann uns nicht gelingen, solange wir im Einflußbereich der · sozialwissenschaftliehen Hauptströmung verharren, denn diese weigert sich, intersubjektive Bedeutungen anzuerkennen, und ist gezwungen, die für unsere Gesellschaft zentralen so aufzufassen, als wären sie der unumgängliche Hintergrund allen politischen Handelns. Der Zusammenbruch ist somit in politischen Begriffen nicht zu erklären; er ist ein Ausbruch der 216
Irrationalität, der letzten Endes durch irgendeine Form der psychischen Krankheit erklärt werden muß. Die -wissenschaftliche Hauptströmung wagt sich vielleicht auf das mit Hilfe obiger Hypothesen untersuchte Gebiet vor, tut dies aber auf ihre Weise, indem sie die psycho-historischen Fakten der Identität in den Raster der Individualpsychologie zwängt, kurz, indem sie alle Bedeutungen als subjektiv uminterpretiert. Das Ergebnis könnte eine psychologische Theorie der emotionalen Fehlanpassung sein, die auf gewisse Merkmale des Familienhintergrunds zurückzuführen wäre - analog den Theorien der Autoritären Persönlichkeit und der kalifornischen F-Skala:. Aber dies wäre keine politische oder soziale Theorie mehr. Wir würden auf den Versuch verzichten, den Wandel dersozialen Realität auf der Ebene ihrer konstitutiven intersubjektiven Bedeutungen zu verstehen.
IV. Es kann also gefolgert werden, daß die sozialwissenschaftliche Hauptströmung durch ihre kategorialen Prinzipien, die in der traditionellen Epistemologie des Empiriums wurzeln, gewissen Schranken unterliegt ; und zweitens, daß diese Beschränkungen ein schweres Handicap sind und uns hindern, uns mit wichtigen Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen, welche Gegenstand der politischen Wissenschaft sein sollten. Wir müssen über die Grenzen einer auf der Verifikation basierenden Wissenschaft hinaus und zu einer Wissenschaft gelangen, welche die in die soziale Realität eingebetteten intersubjektiven und gemeinsamen Bedeutungen untersuchen würde. Aber diese Wissenschaft wäre hermeneutisch in dem Sinn, wie dies im vorliegenden Aufsatz entwickelt wurde. Sie wäre nicht auf data bruta gegründet ; ihre primitivsten Daten wären Lesarten von Bedeutungen, und ihr Gegenstand hätte die drei obengenannten Eigenschaften : die Bedeutungen bestehen für ein Subjekt in einem Feld oder Feldern; sie sind darüber hinaus· Bedeutungen, die zum Teil aus Selbst-Definitionen bestehen, die also in diesem Sinn bereits Interpretationen sind und die folglich durch eine Wissenschaft der Politik neu ausgedrückt oder expliziert werden können. In unserem Fall mag das Subjekt eine Gesell217
schaft oder Gerneinschaft sein ; aber die intersubjektiven Bedeutungen verkörpern, wie wir sahen, eine gewisse Selbst-Definition, eine Vision vorn Handelnden und seiner Gesellschaft, die von der Gesellschaft oder Gemeinschaft aufrechterhalten wird. Aber dann· würden sich die Schwierigkeiten ergeben, welche die Befürworter des Verifikationsmodells vorhersehen. Wenn wir eine Wissenschaft haben, die über keine data bruta verfügt, die also auf Lesarten beruht, dann kann diese sich nur in einem hermeneutischen Zirkel bewegen. Eine gegebene Lesart der intersubjektiven Bedeutungen einer Gesellschaft - oder von gewissen Institutionen oder Praktiken - mag wohlbegründet erscheinen, weil sie .diese Praktiken oder die Entwicklung dieser Gesellschaft verständlich macht. Aber die Überzeugung, daß sie tatsächlich die Geschichte selbst verständlich mache, beruht auf weiteren, verwandten Lesarten. So ist das, was wir oben über die von unserer Gesellschaft hervorgerufene Identitätskrise sagten, nur dann sinnvoll und bündig, wenn man diese Lesart der intersubjektiven Bedeutungen unserer Gesellschaft akzeptiert und wenn man diese Lesart der Rebellion vieler junger Menschen unserer Gesellschaft akzeptiert (nämlich die Lesart als Identitätskrise). Diese beiden ·Lesarten zusammen sind sinnvoll, so daß in gewisser Hin~icht die Erklärung als ganze auf den Lesarten beruht und die Lesarten wiederum durch die Erklärung als ganze bestärkt werden. Aber wenn diese Lesarten wenig plausibel erscheinen oder sogar, wenn sie von unserem Gesprächspartner nicht verstanden werden, dann gibt es kein Verfahren der Verifikation, auf das wir zurückgreifen könnten. Wir können lediglich weiterhin Interpretationen geben; wir befinden uns dann in einem Interpretationszirkel. Aber das Ideal einer Wissenschaft der Verifikation muß jenseits von Unterschieden der Interpretation Anklang finden. Einsicht wird bei unseren Ermittlungen stets nützlich sein, doch sie dürfte bei der Feststellung der Wahrheit von deren Befunden keine Rolle spielen. Dieses Ideal, so kann man sagen, wird von unseren Naturwissenschaften erfüllt. Doch eine hermeneutische Wissenschaft kann sich nur auf die Einsicht verlassen. Sie setzt voraus, daß man die notwendige Sensibilität und das notwendige- Verständnis hat, um die Lesarten schaffen und begreifen zu können, die uns erlauben, die betreffende Realität zu erklären. Wenn 218
jemand in der Physik eine richtige Theorie nicht akzeptiert, so könnte man sagen, dann sind ihm dafür nicht genügend (data bruta) Beweise vorgeführt worden (vielleicht gibt es noch nicht genügend Beweise), oder er kann eine gewisse formalisierte Sprache nicht verstehen und anwenden. Aber in den als hermeneutisch begriffenen Wissenschaften vom Menschen ist die Tatsa:che, daß eine richtige oder erhellende Theorie nicht akzeptiert wird, vielleicht durch keinen dieser beiden Sachverhalte bedingtja, dies ist sogar unwahrscheinlich -, sondern vielmehr durch ein Nichtbegreifen des fraglichen Bedeutungsfeldes oder die Unfähigkeit, Lesarten von diesem Feld herzustellen und zu verstehen. Mit anderen Worten, in einer hermeneutischen Wissenschaft ist ein gewisses Maß an Einsicht unerläßlich, und diese Einsicht kann nicht durch die Ansammlung von data bruta oder die Einweihung in formale Denkweisen oder durch eine Kombination aus beidem vermittelt werden. Sie ist nicht formalisierbar. Aber gemäß der autoritativen Wissenschaftskonzeption unserer Tradition, die ·sogar von vielen geteilt wird, die sonst dem Vorgehen der psychologischen, soziologischen oder politikwissenschaftlichen Hauptströmung höchst kritisch gegenüberstehen, ist dies ein skandalöser Befund. Denn er besagt, daß es sich hier um eine Wissenschaft handelt, an der sich nicht jeder, ungeachtet seines Maßes an Einsicht, beteiligen kann ; daß gewisse Behauptungen der Form: »Wenn du nicht verstehst, dann ist deine Intuition falsch, blind oder inadäquat« gerechtfertigt wären; daß gewisse Meinungsverschiedenheiten durch weitere Beweise nicht beizulegen wären, sondern daß jede Seite lediglich an die bessere Einsicht der anderen appellieren könnte. Die Überlegenheit eines Standpunkts über einen anderen würde daher darin bestehen, daßman von einem adäquateren Standpunkt her wohl den eigenen als auch den des Gegners verstehen könnte, nicht aber umgekehrt: Es versteht sich von selbst, daß dieses Argument nur denen einleuchten wird, die den überlegenen Standpunkt einnehmen. Eine hermeneutische Wissenschaft trifft also auf eine lnniitionslücke, welche ·sozusagen die andere Seite des hermen~utischen Zirkels ist. Doch die Situation ist noch ernster: denn diese Lücke trennt auch unsere divergierenden Entscheidungen in der Politik und im Leben. Wir sprechen von einer Lücke, wenn jemand nicht die Art Selbst-Definition verstehen kann, von der andere behaupten, daß 219
sie einer gewissen Gesellschaft oder einem System von Institutionen zugrunde liege. So werden manche positivistisch orientierte Denker die· Sprache der Identitätstheorie als recht tineinsichtig empfinden ; und manche Denker werden keine andere Theorie anerkennen, die nicht mit den kategorialen Voraussetzungen des Empirismus übereinstimmt. Aber Selbst-Definitionen sind nicht nur für uns als Wissenschaftler wichtig1 die wir versuchen, eine, vielleicht entfernte, soziale Realität zu verstehen. Als Menschen sind wir Wesen, die sich selbst definieren, und zum Teil sind wir d~s, 'was wir kraft der von uns akzeptierten Selbst-Definitionen sind; ganz gleich wie wir zu ihnen gelangt sind. Welche SelbstDefinitionen wir verstehen, und welche wir nicht verstehen, ist eng an die Selbst-Definitionen gebunden, die zur Konstituierung dessen beitragen, was wir sind. Wenn es auch zu ejnfach wäre zu sagen, daß jemand nur eine »Ideologie« versteht, zu der er sich bekennt, so ist gleichwohl schwerlich zu leugnen, daß wir große Schwierigkeiten haben, Definitionen zu begreifen, deren :Begriffe die Welt in einer Weise strukturieren, die ganz verschieden von, ja, unvereinbar mit unserer eigenen ist. Die Kluft der Intuition trennt daher nicht nur verschiedene theoretische Standpunkte, sie tendiert auch dazu, verschiedene grundsätzliche Qptionen im Leben voneinander zu trennen. Das Praktische und das Theoretische sind hier unentwirrrbar verbunden. Vielleicht ist es nicht nur so, daß man, um eine gewisse Erklärung zu verstehen, seine Intuition schärfen muß, sondern es könnte sein, daß man seine Richtung ändern muß :.._ wenn schon nicht, indem man eine andere Richtung einschlägt, so doch indem inan seine eigene so lebt, daß sie ein besseres Verständnis der übrigen erlaubt. So kann es in den Wissenschaften vom Menschen, insoweit sie hermeneutisch sind, eine triftige Antwort auf den Satz »Ich verstehe nicht« geben, die nicht nur lautet: »entwickle deine Intuition«, sondern radikaler: »ändere dich«. Dies ist der Schlußpunkt jeglichen Strebens na~h einer wertfreien oder »ideologiefreien« Wissenschaft vom Menschen. Das Studium der Wissenschaft vom Menschen ist von der Überprüfung dieser Optionen, zwischen denen die Menschen wählen müssen, nicht zu trennen. · Dies bedeutet, daß wir hier nicht nur von Irrtum, sondern von Illusion sprechen. Wir sprechen vpn '»Illusion«, wenn wir es mit etwas Substantiellerem als dem Irrtum zu tun haben - einem 220
Irrtum, der gewissermaßen ein eigenes falsches Bild von der entwirft. Aber Irrtümer bei der Interpretation von Bedeutung, die zugleich auch Selbstdefinitionen dessen sind, der interpretiert, und mithin sein Leben leiten, sind mehr als Irrtümer in diesem Sinne : Sie stützen sich auf gewisse Praktiken, für welche sie konstitutiv sind. Es ist ganz plausibel, zwei grassierende Illusionen unserer heutigen Gesells~haft als Beispiele herauszugreifen. Die eine ist die Illusion der Befürworter der Vertragsgesellschaft, die bei denen, ·die gegen diese Gesellschaft rebellieren, nichts als Verhandlungseröffnungen oder Verrücktheit wahrnehmen wollen. Der Irrtum wird hier durch die Praktiken der Vertragskultur und; ein gewisser Anschein der Realität vorausgesetzt, die Weigerung, Proteste irgend anders zu verstehen, aufrechterhalten ; er gewinnt daher die substantiellere Realität einer Illusion. Das zweite Beispiel bieten große Teile der »revolutionären« Aktivitäten in unserer Gesellschaft, die im verzweifelten Streben nach einer alternativen Lebensweise vorgeben, die eigene Situation mit derjenigen eines. südamerikanischen Guerillas oder eines chinesischen Bauern gleichzusetzen. Die eine Illusion erkennt nicht die Möglichkeit menschlicher Vielfalt, die andere sieht nicht die Grenzen der Wandlungsfähigkeit des Menschen. Beide machen eine gültige Wissenschaft vom Menschen unmöglich. In Anbetracht all dessen sind wir vielleicht bei der Aussicht auf eine solche hermeneutische Wissenschaft so ~ntsetzt, daß wir gern zum Verifikationsmodell zurückkehren würden. Warum können wir unser Verständnis der Bedeutung nicht als Teil der Forschungslogik auffassen, wie die logischen Empiristen es für unsere nicht-formalisierbaren Einsichten vorschlagen, und dennoch unsere Wissenschaft auf die Exaktheit unserer Vorhersagen gründen? Unser einsichtiges Verständnis der intersubjektiven Bedeutungen unserer Gesellschaft würde dann dazu dienen, fruchtbare Hypothesen zu entwickeln, aber erweisen müßten sich diese - Probieren geht über Studieren - daran, inwieweit sie uns zu Vorhersagen befähigen. Die Antwort lautet, daß solche exakten Vorhersagen, falls die der interpretierenden Wissenschaft zugrunde liegenden epistemologischen. Auffassungen richtig sind, absolut unmöglich sind. Und dies aus drei Gründen, die ich hier in der Reihenfolge ihres zunehmend elementaren Charakters aufführen will : Reali~~t
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Der erste ist das alleekannte Dilemma »offener Systeme«, das dem menschlichen Leben wie der Meteorologie gemeinsam eignet, nämlich daß wir einen gewissen Bereich menschlicher Vorgänge, den psychologischen, ökonomischen, politischen, nicht gegen äußere Einflüsse abschirmen können; es ist unmöglich, ein geschlossenes System zu entwerfen. Der zweite, elementarere Grund ist, daß wir, wenn wir die Menschen mit Hilfe einer Wissenschaft der Interpretation verstehen wollen, nicht jenes Maß an Exaktheit einer auf data bruta basierenden Wissenschaft erreichen können. Die Daten der Naturwissenschaft lassen Messungen mit praktisch jedem Exaktheitsgrad zu. Aber unterschiedliche Interpretationen lassen sich nicht auf diese Weise beurteilen. Gleichzeitig können unter~ schiedliche Nuancen der Interpretation unter gewissen Bedingungen zu verschiedenen Vorhersagen führen, und diese unterschiedlichen Ergebnisse können schließlich stark variierende Zukunftsbilder hervorrufen. Daher ist es mehr als leicht, das Ziel zu verfehlen. Aber der dritte und elementarste Grund für die Unmöglichkeit harter Voraussagen ist die Tatsache, daß der Mensch ein sich selbst definierendes Tier ist. Veränderungen der Selbst-Definition des Menschen J:>edingt;n Veränderungert dessen, was der Mensch ist, und folglich muß er anders verstanden werden. Aber die begrifflichen Mutationen im Lauf der menschlichen Geschichte können - und tun dies häufig - Begriffsnetze hervorbringen, die inkommensurabel sind, d. h. innerhalb derer die Begriffe nicht in bezug auf ein allgemeines Ausdrucksstratum definiert werden können. Die völlig verschiedenen Auffassungen von Verhandlungen, die in unserer und in mancher primitiven Gesellschaft bestehen, bieten ein B~ispiel dafür. Jede von ihnen wird durch die in jeder Gesellschaft bestehenden Praktiken, Institutionen und Ideen ausgedeutet, die in der anderen keine Entsprechung finden. In den Naturwissenschaften ist der Erfolg der Voraussage an die Tatsache gebunden, daß alle Zustände des Systems, Vergangenheit und Zukunft, durch die gleiche Skala von Begriffen, z. B. als Werte derselben Variablen beschrieben werden können. Folglich können alle zukünftigen Zustände des Sonnensystems, wie auch alle vergangenen, in der Sprache der Newtonsehen Mechanik charakterisiert werden. Dies ist alles andere als eine zureichende Bedingung exakter Vorhersagen, aber es ist insofern eine notwen-
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dige, als man nur dann, wenn Vergangenheit und Zukunft durch das gleiche Begriffsnetz erfaßt werden, die Zustände der letzteren als Funktion der Zustände der ersteren verstehen und mithin Vorhersagen treffen kann. Diese begriffliche Einheit wird in den Wissenschaften vom Menschen durch die Tatsache des Begriffswandels beeinträchtiit,welcher wiederum die menschliche ·Realität verändert. Gerade jene Begriffe, in denen die Zukunft charakterisiert werden müßte, wenn wir sie richtig verstehen wollen, sind uns gegenwärtig überhaupt nicht verfügbar. Daher gibt es so absolut unvorhersehbare Ereignisse, wie die heutige Jugend-Kultur, die puritanische Rebellion des 16. und 17. Jahrhunderts, die Entstehung der Sowjetgesellschaft, usw. Und daher ist es viel leichter, post factum zu verstehen, als vorherzusagen. Humanwissenschaft ist weitgehend Verstehen ex post. Oder, man hat häufig das Gefühl eines bevorstehenden Wandels, irgendeiner großen Reorganisation, ist aber unfähig zü klären, worin diese bestehen wird : Es fehlt einem der Wortschatz. Doch hier liegt eindeutig eine Asymmetrie vor, die es in der Naturwissenschaft nicht gibt (oder nicht geben sollte), in der die Ereignisse,. wie behauptet wird, aufgrund der Theorie mit genau derselben Leichtigkeit vorhergesagt werden, mit der vergangene Ereignisse durch eben dasselbe Verfahren erklärt werden. In der Wissenschaft vom Menschen wird dies nie der Fall sem. Gewiß sind wir bestrebt, die Veränderungen ex post zu verstehen, und zu diesem Zweck versuchen wir, eine Sprache zu entwickeln, in der wir die inkommensurablen Begriffsgefüge___ festmachen können. Den Aufstieg des Puritanismus z. B. erkennen wir als einen Wechsel in der Haltung des Menschen zum Sakralen ; l.lnd daher haben wir eine Sprache, irt der wir beide Haltungen - die frühere, mittelalterlich katholische und die der puritanischen Rebellion- als »Ausdeutungen« dieses fundamentalen Begriffs ausdrücken können. So verfügen wir über eine Sprache, in· der wir den Übergang behandeln können. Aber man bedenke, wie diese erworben wurde. Jene allgemeine Kategorie des Sakralen verdanken wir nicht nur unserer Erfahrung des Wechsels, der'mit der Reformation eintrat; sondern dem Studium menschlicher Rel~gionen im allgemeinen, einschließlich der primitiven Religionen, sowie der Objektivität, die sich mit der 223
Säkularisierung einstellte. Es wäre zwar vorstellbar, doch undenkbar, daß ein mittelalterlicher Katholik - oder meinetwegen ein Puritaner - diese Vorstellung entwickelt hätte. Diese beiden Protagonisten kannten nur eine Sprache der gegenseitigen Verdammu.p.g: »Ketzer«, »Götzendiener«. Der Ort für einen solchen Begriff war durch eine gewisse Art und Weise, das Sakrale zu erleben, vorgeschrieben. Nachdem eine große Veränderung eingetreten und das Trauma verarbeitet ist, ist der Versuch möglich~ diese zu verstehen, denn nun verfügt man über die neue Sprache, die gewandelte Welt der Bedeutungen. Aber harte Vorhersagen im vorhinein geben einen nur de~ Gespött preis. Wirklich die Zukunft ·vorhersagen zu können würde heißen, die Conditio humana so klar expliziert zu haben, daß alle k~lturellen Neuerungen und Transformationen bereits vorgezeichnet wären. Doch dies liegt kaum im Rahmen des Möglichen. Zuweilen beweist der Mensch eine verblüffende Voraussicht: z. B. im Faust-Mythos, der zu Beginn der Neuzeit gleich mehrmals bearbeitet wurde. Hier haben· wir es mit einer Art Prophetie, einer Vorahnung zu tun. Doch solche plötzlichen Fälle von Vorausschau sind dadurch gekennzeichnet, daß sie so~usagen durch eine rußgeschwärzte Scheibe sehen, denn ihre Optik ist die der alten Sprache: Faust verkauft seine Seele an den Teufel. Dergleichen sind keineswegs harte Vorhersagen. DieHumanwissenschaft schaut rückwärts. Sie ist unabänderlich historisch. Sowohl die epistemologischen Argumente selbst als auch ihre größere Fruchtbarkeit bieten gute Gründe, für eine hermeneutische Wissenschaft vom Menschen zu optieren. Aber wir können uns nicht verheimlichen, wie sehr diese Option einen Bruch mit gewissen allgemein vertretenen Auffassungen von unserer wissenschaftlichen Tradition bedeutet. Wir können diese Wissenschaft nicht gegen die Voraussetzungen einer verifizierenden Wissenschaft abwägen : wir können sie nicht nach ihrer Fähigkeit zur Vorhersage beurteilen. Wir müssen akzeptieren, daß sie auf Intuition beruht, die nicht uns allen gemeinsam ist, und daß, was noch schlimmer ist, diese Intuition eng an unsere elementaren Optionen gebunden ist. Diese Wissenschaft kann nicht »Wertfrei« sein ; sie ist moralische Wissenschaft in einem radikaleren Sinn, als das 18. Jahrhundert sie auffaßte. Und schließlich verlangt sie, um erfolgreich betrieben zu werden, ein hohes Maß an Selbsterkenntnis, die Freiheit von Illusionen-- im Sinne von Irrtümern,
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die in der eigenen Lebensart verwurzelt sind und zum Ausdruck kommen; denn unsere Unfähigkeit, zu verstehen, wurzelt in unseren eigenen Selbst-Definitionen, folglich in dem, was wir sind. Damit sagen wir nichts. Neues : eine ähnliche Feststellung machte Aristoteles im Ersten Buch der Ethik. Doch für die Hauptströmung der modernen Wissenschaft ist dies immer noch eine anstößige und unannehmbare Wahrheit.
Anmerkungen 1 Vgl. z. B. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. 2 Vgl. Paul Ricreur, De !'Interpretation, Paris 1965 (dt.: Die Interpretation, Frankfurt: Suhrkamp 1969). 3 Vgl. z. B. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt: Suhrkamp, 1968. 4 Der Begriff data bruta ist verwandt, aber keineswegs gleichzusetzen mit den »facta bruta«, die Elizabeth Anseambe (»On Brote Facts«, Analysis. Vol. 18, 1.957-1958, S. 69-72) und John Searle (Speech Acts, Cambridge 1969, S. 50-53; dt. Sprechakte, Frankfurt.1971, S. 78-83) diskutieren. Für Anseambe und Searle sind facta bruta der Gegensatz zu dem, was man als >>institutionelle Fakten«-, um Searles Ausdruck zu verwenden, bezeichnen könnte, d. h. Fakten, welche die Existenz gewisser Institutionen voraussetzen. Ein Beispiel dafür wäre die politische Wahl. Aber wie wir unten im Teil II sehen werden, können manche institutionelle Fakten, wie etwa: X hat liberal gewählt, als data bruta in dem hier verstandenen Sinn verifiziert werden und gehören· daher in die Kategorie des politischen Verhaltens. Was weniger leicht mit Hilfe von data bruta :beschrieben werden kann, sind die Institutionen selbst. Vgl. die Diskussion unten, Teil II. 5 Vgl. die Diskussion beiM. Minsky: Computation, Englewood Cliffs, N. J., 1967, S. 104-107, wo Minsky explizit behauptet, daß ein wirksames Verfahren, welches keiner Intuition oder Interpretation mehr bedarf, ein solches ist, das von einer Maschine geleistet werden ·kann. 6 Vgl. H. McClosky, >>Consensus and Ideology in Arnerican Politics«, American Political Science Review, Vol. 58, 1964, S. 361-382. 7 Gabriel A. Almond und G. Bingham Powell, Comparative Politics: a Developmental Approach, Boston und Toronto, 1966. Seitenverweise hier und im folgenden beziehen sich auf dieses Werk. 8 Vgl. Thomas C. Smith, The Agrarian Origins of Modern Japan,
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Stanford, 1959, Kap. 5. Diese Form von Konsensus findet sich auch in anderen traditionalen Gesellschaften. Vgl. z. B. das Desa-System des indonesischen Dorfes. J. Searle, Speech Acts: an Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, S. 33-42 (dt.: Sprechakte, Frankfurt: Suhrkamp, 1971, S. 54 bis 67). Vgl. die Diskussion bei Stanley Cavell, Must We Mean What We Say ?, New York 1969, S. 21-31. V gl. Almond and Po weH, op. cit. »How is a Comparative Science of Politics Possible ?«, in Alasdair Mac-Intyre, Agaimt the Self-Images of the Age, London 1971. Maclntyres Aufsatz enthält auch eine interessante Erörterung des Begriffs »Legitimität« aus einem anderen; wenngleich, wie ich glaube, verwandten Gesichtswinkel. deutsch i. Orig. (d. Ü.). Englewood Cliffs, 1963. Foundation of Modern Political Science Series. N ew York 1963. Seitenverweise beziehen sich auf diese Ausgabe. Histoire du Peuple anglais au XIX. siede, Paris 1913. Hannah Arendt, The Human Condition, New York 1959. Op. cit. So versucht Lewis Feuer in The Conflict of Generations, New York 1969, die ,,falsche Wahrnehmung- der sozialen Realität« in der Srudentenrevolte von •Barkeley aus einem Generationenkonflikt zu erklären (S. 466-470), der wiederum in der Psychologie der Adoleszenz und des beginnenden Erwachsenenalters wurzele. Doch Feuer selbst stellt in seinem ersten Kapitel fest, daß sich selbst definierende politische Generationen eine vergleichsweise junge Erscheinung seien, ein Phänomen, das aus der nach-napoleonischen Epoche datiere (S. 33). Aber jeder adäquate Versuch, diesen historischen Wandel zu erklären, der immerhin der Berkeley-Revolte und vielen anderen zugrunde liegt, müßte uns, so glaube ich, über den Bereich der Individualpsychologie in der Psyche-Historie führen, zu einer Untersuchung, der Verwicklung psychologischer Konflikte und intersubjektiver Bedeutungen. Eine Variante dieser Art Wissenschaft ist in dem Werk eines Erik H. Erikson skizziert.
Josef ~sser Dogmatik zwischen Theorie und Praxis 1. Zum Thema Bei einem Vortrag vor der Zivilrechtslehrervereinigung im September 1971 1 sprach ich über »Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht«. Trotz dieser Überschrift berührte mein The~a die .Rolle des dogmatischen Denkens in der Arbeit des Theoretikers und Lehrers nur am Rande. Es zentrierte sich auf das Phänomen des »Aufweichens« technisch-begrifflicher Argumentation im Urteilsverfahren und forschte nach den Gründen einer evidenten Diskrepanz zwischen den wachsenden Ansprüchen dogmatischer Schulung und deren Beiseiteschiebung in pragmatischen Zumutbarkeitsargumenten oder Ersetzun durch gestaltlose »Rechtsgedanken«. Mittelbar waren damit die gleichen Fragen der Rechtsanwendung angeschnitten, wie ich sie in meiner früheren Arbeit über »Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung« schon analysiert hatte. Dort hatte ich u. a. die Schwäche dogmatischer Motivation bei der Wahl eines bestimmten .Lösungsweges dargestellt. Begriffliche Argumente s!nd nicht sachlich überzeugend. Sie sind auch nicht tragende Motive einer Entscheidungswahl, wennschon im Regelfall ihre rechtstechnischen Indikatoren. Was aber befähigt sie immerhin hierzu? Ich möchte dieser Frage in einem Beitrag für den hochgeschätzten Kollegen nachgehen, der durch seine kluge Intervention die Absicht des damaligen Vortrags ins richtige Licht gerückt hatte. Vielleicht gelingt es durch Differenzierungen des allzu globalen Dogmatik-Begriffes eine Reihe von Mißverständnissen zu beseitigen2 und daduFch die· fernere Diskussion zu erleichtern. Dazu gehört nach meiner Erfahrung auch die (eigentlich selbstverständliche) Feststellung, daß eine Analyse noch kein Programm ist, eine Theorie kein Bekenntnis. Wer das verwechselt, macht Doktrinarismus und seine Kampfmethoden zum Stigma der Sozialwissenschaften, denn jede Schule verlangt in unserer Renaissance echter Dogmenautorität, daß man von ihren »Werten« ausgeht. 3 Der gewählte Titel soll auf die instrumentale Aufgabe hinweisen, die nach meiner Meinung begrifflich zergliederndes und
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systematisierendes Einkleiden von Wertungsfragen in Frage und Antwort für die Rechtspraxis hat. Dabei ist ohne weiteres klar, daß die Arbeit am juristischen Instrumentarium dogmatischer Prägung andere Fragen aufwirft, als die justizmäßige Arbeit mit diesem Instrumentarium. Denn ihr geht es u. a. auch um die Sicherung von lehrmäßig allgemein brauchbaren Formeln und damit eines konsistenten >>Systems«. Durch seine Einordnung in einen Forschungszusammenhang,. dessen >>Paradigmata« (T. S. Kuhn) nicht sämtlich von ihm in Frage gestellt werden können, läfk es sich dann weithin selbst von der Vorstellung blenden, dieses System habe gegenüber der Wertungsproblematik unent.rinnbare Verbindlichkeit. Aber die Arbeit am dogmatischen System hat ja gera.de dessen Verbesserung fü~ neu erkannte Problemlösungen zum Ziel: Der Wertungsprozeß ist somit notwendig Ausgang der dogmatischen Bemühung. Auch das >>Unterlaufen« formell nicht angetasteter Doktrinen durch neue Problemsicht zeigt sich dann nicht in systemfremdem >>Durchgriff« auf isolierte Argumente der Sachgerechtigkeit, mit der man die Dogmatik gleichsam suspendiert. Erstrebt wird die Integrierung · des neuen Modells in das vorhandene System fachlicher Vorstellungen. vom: »geltenden Recht« - das eben von der dogmatischen Arbeit mitkonstituiert wird. »Geltend« impliziert: Nur historische oder nur rechtspolitische Arbeiten werden zu einem anderen Feld gerechnet, vermitteln auch andere Denkhaltungen. Sobald sie sich jedoch mit dem besseren Verständnis des heutigen Rechts befassen, sind sie ein Stück Rechtsdogmatik. Auch rechtsvergleichende Perspektiven sind Teil unserer Dogmatik, sofern sie über methodologische oder rein informative und deskriptive Ziele hinausgehen. Zur Dogmatik zählt insbesondere die Bemühung um Zusammenschau und Funktionsverbesserung innerhalb mehrerer Rechtsmaterien und -ebenen, so daß ·auch jenseits der Dogm.atik des einzelnen Faches die gleichen Denkformen und Methodenprobleme auftauchen. Nicht dogmatisch in diesem allgemeinen Sinn ist hingegen (abgesehen von den vorher genannten Perspektiven) die eigentliche Rechtstheorie, worunter nicht nur Fragestellungen der Philosophie und Soziologie, sondern auch solche der Methodologie und Wissenschaftstheorie zu verstehen sind, mit denen in einer gleichfalls undogmatischen oder metadogmatischen Betrachtung die Arbeitsweise des Juristen am positiven Recht ihrerseits der
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analytischen Darstellung unterzogen wird. Für die zweckmäßige Terminologie in der Benutzung des Wortes Dogmatik scheint mir nach alledem folgendes aus unseren Einsichten zu resultieren: Das Selbstverständnis des heutigen Juristen variiert stark in Hinsicht auf seine rechtspolitische Verantwortung und den Schwerpunkt seiner Arbeit. Ihm fehlt daher ein einheitlicher Ort für die Legitimation oder Kritik einer Arbeitsweise als »dogmatisch«. Es ist also gewiß unfruchtbar, einen zu engen Gebrauch dieses Wortes fortzuführen. Es ist insbesondere unzweckmäßig, die suggestive Parallele zur Theologie durchzuführen, die von Dogmen in einem ganz anderen oder doch sehr viel präziseren Sinne spricht - auch wenn das ·von scharfsinnigen Wissenschaftstheoretikern hie und da geschieht. 4 Wenig ergiebig ist auch die neuere wissenschaftstheoretische Unterscheidung, Dogmatik als das System der Meinungsorientierung zu betrachten und für das System der Forschungsorientierung den komplementären Begriff der Zetetik einzuführen. 5 Wennschon die Strukturen beider Denkhaltungen theoretisch grundverschieden sind, bildet nach allem Erörterten die Geschichte unserer Dogmatik auch eine Forschungshaltung aus, die in ihrer Weise »Zetetische« Aufgaben bewältigt. Im Rahmen dieser Dogmatik, definiert vom Arbeitsobjekt und vom Arbeitsziel her, variieren die Arbeitsinteressen und -stile beträchtlich. Die Kritiker nehmen meist auf ein älteres Konzept von Dogmatik Bezug, bei dessen rein oder vorwiegend begrifflich-konstruktiver Methode die lebensmäßig-empirischen Problemanalysen vernachlässigt werden. Heute ist es dagegen üblich, daß der Dogmatiker offen von der realen Problemlage ausgeht, so daß seine Motivation für die Wertung und dogmatische Einkleidung ersichtlich wird. Es gilt also nicht für jede dogmatische Bemühung, daß in ihr die Wertungsaufgabe überhaupt geleugnet und das Problematisieren der Sachfragen im Sinne von angeblicher Rechtspolitik vermieden werde. Ein solcher Sprachgebrauch wäre irreführend, da er nur die verbreitete Fehlvorstellung widerspiegelt, daß jede »rein juristische« Arbeit sich durch solche Formalisierung und die damit verbundene unkritische Einstellung kennzeichne. Tatsächlich wird die vom Rechtsgefühl diktierte Lösung vielfach für so selbstverständlich gehalten, daß Alternativen nicht erst lange ausgebreitet werden. Die gesamte Bemühung gilt dann der Einpassung in das derzeitige Denkge229
füge. 6 Dabei wird dann ähnlich wie in der Justizpraxis der ganze Katalog konstruktiver Begründungen abgesucht- bis man u. U. bei einem Gemeinplatz landet? . Wird bei solchen Verlegenheiten statt der Wertungsfrage doch wenigstens noch die Begründungsfrage aufgerollt, so entfällt bei unproblematischer Wertung plus widerstandsloser Einpassung der Lösungsform in das System auch die letztere : Das Ergebnis präsentiert sich als simple Gesetzesanwendung. So kommt es, daß. man häufig noch heute vom formalen Vorzug der Subsumtionstechnik als dem angeblichen »Normalfall« ausgeht und in solcher von vermeintlich autonomen Denk- und Begriffsnotwendigkeiten gesteuerten Rechtsanwendung den harten Kern der sog. Gesetzestreue sieht. · Nachweislich geht indessen diese Vorstellung an unserer Arbeitswirklichkeit völlig vorbei: Ihr Schwerpunkt liegt in der Frage, ob die begriffliche Lösung wirklich »paßt«. 8 Deshalb ist auch dort, wo neue Konzepte sich zu erübrigen scheinen, eine »befriedigende« Anwendung des geltenden Rechts nur von einem komplexeren Rechtsverständnis her möglich als dem der schlichten »Gesetzestreue«. Deren Durchhaltung setzt rechtspolitische Orientierung nebst dem Willen und der Urteilskraft .zu Wertungen voraus, auch wo scheinbar nur begriffliche Mißverständnisse aufzuklären oder bessere Darstellungsformen zu finden sind. Denn was das richtigere Konzept oder die bessere Darstellung ist oder auch nur eine funktionsgemäßere Verknüpfung erlaubt- ein solches Urteil verlangt Berücksichtigung aller hier hereinspielenden praktischen Aufgaben der betreffenden Rechtsfigur oder -institution; ja bei wissenschaftlicher Arbeit erheischt es Besinnung auf den Standort der Forschung und den Grund· der hier behandelten Struktur- und Begriffsfragen: dies nicht nur durch Eingehen auf die Anschauungs- und Denkformen, sondern auch auf die Eigenart der Rechtswirklichkeit, u. z. in ihrer aktuellen Situa~ion, aber auch in ihrer Entwicklungstendenz. Mag im Einzelfall solche Besinnung auf Sachzusammenhänge und Konfliktprobleme keine textliche Darstellung finden, so liegt notwendig doch jeder Bemühung um die bessere oder korrektere Erfassung der zusammenhängenden Regelungselemente eine solche Besinnung zugrunde. Das ist offenkundig, wo man_ die problematisierende Fragestellung und den abgewogenen Lösungs- und Formulierungsvorschlag eines neuen Konzepts bis 230
in seine Verästelungen hinein verfolgen kann. Es gilt im Prinzip für jede forschende dogmatische Arbeit. Es ist hingegen nicht der Stil richterlicher Argumentationen, die allenfalls bei Stellungnahmen zu dogmatischen Kontrovers-en diese Art von Überlegungen mitteilen. Regelmäßig ist es ja doch nicht Sache des Richters,·· Sentenzen über die Angemessenheit der hier einschlägigen lehrmäßigen Denkfiguren zu geben. Führen diese ihn nicht in einer unbedenklichen Weise zur Problemlösung, so nimmt er lieber zu Sachargumenten und zu selbs~erfertigten Abwägungsformeln seine Zuflucht: Seine Argumente sind eher "topisch" ...
2. Zum Stellenwert rechtsdogmatischer Arbeit Dogmatisch ist eine Stoffbearbeitung, soweit sie im Hinblick auf die Praxisbezogenheit sich der Aufgabe der Herstellung und der Darstellung von uniformen Verständnisbezügen widmet. Die Jurisprudenz ist praxisbezogen, insofern sie Entscheidungsanleitungen i. S. einer jeweils' als optimal (und daher »richtig«)" erscheinenden Verbindung von Gesetzestreue und Gerechtigkeitspostulaten gibt. Zunächst geht es um Gesetzesvollzug, zugleich aber um die Herstellung eines Verständnisses vom positiven Recht, das sich mit unvernünftigen und ungerechten Lösungsmodellen nicht beruhigt, weil eben dem Gesetz nichts Unvernünftiges und Ungerechtes augesonnen wird. Damit ist rechtsdogmatisches Denken das Resultat einer spezifischen Vermischung von zwei Aspekten: Die Praxis soll die bestandsbezogenen Vorstellungen von korrekten Lösungen und Lösungsfo_rmeln schulförmig übernehmen können, die Dogmatik selbst behält sich vor, durch Innovation dieser Modelle ein jeweils überzeugenderes Verhältnis zwischen positivem Recht und Gerechtigkeitsforderungen herzustellen. Beide Aufgaben erfordern den Aufbau eines Symbolbestandes, nicht nur weil die Schule Lernschemata braucht, sondern auch weil ein auf positive Normtexte aufbauendes Recht diese Texte nur dann einheitlich (aber mit fortschreitender Erfahrung angemessen differenziert) handhaben kann, wenn es über die Textbedeutungen einen lernmäßig nachvollziehbaren Konsens gibt. Dieser Konsens erstreckt sich - das ist bedeutsam -nicht auf die Lösungen selbst, er bezieht sich allein auf die Entscheidungsrelevanz der festgeleg-
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ten Textbedeutungen und zusätzlich zu beachtenden Kriterien. Ihre Rechtfertigung finden alle diese Relevanzen nicht in semantischer Eindeutigkeit, sondern in Wertungen, welche im Sinne der erwähnten Gerechtigkeitsoptimierung und auf Grund des zeitgenössischen Verständnisses der ratio legis dem Gesetz selbst zugeschrieben werden. Mit ·der Herausarbeitung einer dogmatischen Formel des Relevanten wird der Praxis ein Muster zur Verfügung gestellt, das die einheitliche erkenntnismäßige Beantwortung der Normfrage ohne jeweilige Neudiskussion der gruQ.dlegenden Bewertungsfragen, die in die Formel eingegangen sind, erlaubt. Man kann das an der strafrechtlichen Formel für den »Versuch« als >>B~ginn der Ausführungshandlungen« illustrieren. Das reine Textwort des StGB wird erst durch 'diese dogmatische Formel operational. Legitimiert wird die Formel aus einem bestimmten zeitgenössischen Verständnis des Strafzwecks, bei dem (bisher unwidersprochen) eine Manifestation des kriminellen Willens verlangt wird, die immerhin (dabei gibt es Varianten) eine beginnende Gefährdung des geschützten Rechtsgutes darstellt. Ohne die dogmatische Formel stünden alle diese Bewertungsfragen zur offenen Diskussion von Fall zu FalL Dem Gesetz ermangelte die Bestimmtheit. In der mtermediären Ebene der dogmatischen Bedeutungssprache ist diese Bewertungsfrage pro tempore außer Streit gestellt. Einmal akzeptierte Lösungsmodelle werden nicht wegen des ersten Versagens. bei einem Grenzfall verlassen, sondern erst wegen allgemein einsichtiger »typischer« Schwächen und Nachteile. Dazu gehört ein gewisser zeitlicher Erfahrungsabstand. Er gestattet dann auch die Frage vor allem, ob ihre historische Bewertungsgrundlage noch fortbesteht und daher neue Regelungsziele und -Situationen überhaupt noch sinnvoll erfaßt werden. Dogmatik ist zwar, wie der Soziologe Luhinann es ausdrückt, eine symbolisch-zeremonielle Arbeit. Aber diese Arbeit ist nicht Kultus oder Magie. Sie dient der . Transponierung von Wertungsfragen in einen Bestand an verbalen Kriterien, dessen Verläßlichkeit mit den ursprünglich akzeptierten Wertungen steht und fällt. Dies mögen Wertungen aus dem Verständnis der Institutsaufgabe -sein - wie hier des Strafzwecks - oder aus Gerechtigkeitsansprüchen anderer Art, wozu auch die Bereitstellung angemessener Regelungsfiguren gehört, die das heimische Recht »kennt« oder »nicht kennt«. Zu den elementaren dogmatischen Anliegen gehört damit die 232
Bemühung um befriedigende institutionale Einordnung einer Konflikts- und Rechtserscheinung. Schon hier kann die Arbeit, die ja nicht von klassifikatorischem Interesse getragen wird, nicht »rein begrgflicher Art« sein. Diese Täuschung wird weithin durch die notwendigen Bemühungen um einheitliche Vorstellungen der Rechtsbedeutung bestimmter Situationen (z. B. »Schwebezustand« oder »Pendenz« im bedingten Rechtsverhältnis) hervorgerufen. Aber es geht um Regelungszwecke, nicht um »Begriffe«. Das gilt erst 'recht, wenn nicht Differenzierungsfragen zwischen gesetzlich geregelten · Institutionen anstehen, wenn vielmehr neue, noch im Stadium offener Wertungskonflikte stehende Institutionen begrifflich profiliert und abgegrenzt werden müssen. Hier ist in einer generalisierenden Form das zu leisten, was an dogmatischer Arbeit im Einzelfall bei jeder Analyse von Zurechnungsverhältnissen und Beurteilungszusammenhängen komplexer Art durch .die Auswahl überzeugender Anknüpfungsmerkmale für eine sachnahe Beurteilung und Lösung geleistet werden muß. Die Vorstellungs- und Urteilskraft, die sich scheinbar nur symptomatisch orientiert, in Wahrheit aber die typische Interessenlage und Schutzwürdigkeit solcher Beziehungen (etwa in Vertretungs- oder Scheinvertretungs-, in Anwartschafts- oder in Finanzierungsverhältnissen) ins Auge faßt, ist ganz die nämliche Fähigkeit, die wir benötigen, um Prioritäten bei Voraussicherungen zu setzen, anerkennungswerte Fälle der compensatio lucri cum damno in eine Formel zu bringen oder auch unter Hervorkehrung des Gemeinsamen wie des Besonderen, Grundsätze für allgemeine Rechtsfiguren zu erarbeiten. Das alles ist dogmatische Arbeit - oder was ist es sonst? Es dient der Operationalisierung von Wertungen durch Aufstellung begrifflicher Kriterien oder schulmäßiger Formeln, hat also von der Arbeitsteilung her die gleiche Zielsetzung wie die Benutzung einfacher fachlicher Terminologien mit spezifischem Bedeutungsgehalt (z. B. »Anwachsen«) oder die vorher erwähnte Ausfüllung einer »Theorie« (des Versuchs, des Zugehens usf.): Die Etablierung eines Vorrats an tradierbaren Anwendungsformeln, die sich über das Niveau schlichter Einzelfallargumente und redlicher Sachgerechtigkeit erheben infolge der Durchdringung der Regelungsschemata mit erfahrungsgewonnenen und konsentierten Standard-Kriterien für eine dem Institutionszweck generell entsprechende gerechte Konfliktlösung. 233
Der bedeutsamste allgemeine Faktor des rechtsdogmatischen Arbeitsmilieus ist zweifellos der, daß der fachliche Konsens für eine bestimmte Zeit den Meinungsstand fixiert 9, so daß im laufenden Entscheidungsbereich der Großteil der Urteilsobersätze nicht ständig neu in Frage gestellt werden kann. Man darf sogar sagen : nicht in Frage gestellt zu werden braucht. Wir gehen aber nicht so weit, mit der älteren Vorstellung von Dogmatik zu sagen : nicht in Frage gestellt werden darf- die Abblockung der kritischen Neudurchdenkung liegt nicht im Interesse der Punktionstüchtigkeit unserer Dogmatik. Von hier aus wird man den Sprachgebrauch, wie ihn auch die Praktiker hinsichtlich de~ Wortes Dogmatiker haben, so weit fassen müssen, daß jede nicht rechtshistorisch oder. soziologisch selbständige begriffliche Arbeit mit den Elementen unserer Sprache dogmatisch genannt werden muß, wenn sie sich auf die eingeführte Sprachform der betreffenden Disziplin stützt. Ich bin auch seinerzeit schon von dem Vorschlag ausgegangen, alle anderen Spezialanforderungen an dieses Stichwort beiseite zu lassen, gerade weil auch der heute überholte klassische Erwartungsstand hinsichtlich der autonomen Funktion des dogmatischen Denkens von uns nicht mehr akzeptiert wird. Daß die in der Doktrin irgendwann einmal als verbindlich aufgestellten Kriterien gleichsam durch die Tradition als autoritätsgebundene ·Teile des Verständnisses von positivem Recht fortgelten, das wird gerade nur von den· Autoren als ein spezielles Stigma unseres dogmatischen Arbeitens unterstellt, die diese Arbeit auf alle Fälle abwerten möchten. Es scheint mir doch unwahrhaftig, die bedeutenden Bemühungen der modernen Jurisprudenz um Adaptierung und Erneuerung des dogmatischen Vorstellungs- und Begriffsapparates gerade im Hinblick auf die heutigen rechtspolitischen Forderungen und Einsichten schlicht zu verleugnen. Dann bleiben in der Tat nur bornierte Denkmechanismen übrig. Den gleichen Effekt hätte es, wenn man aus philosophiegeschichtlichen Gründen dogmatisches Denken für nicht fortschrittsfähig und axiomatisch festgelegt bezeichnen wollte. Diesen Irrtum, der die reale dogmatische Arbeit des Juristen geradezu als illegal stempeln würde, kann nur begehen, wer die wirkliche Bewegung des positiven Rechtes ausschließlich auf den Gesetzgeber zurückführt. Auch diese Vorstellung ist noch immer vorhanden. 10 234
3. Zum Verhältnis V m;verständnis und Dogmatik In dem vorerwähnten Vortrag über die Grenzen des dogmatischen Denkens mußte zunächst auf den Prozeß der Realitäts- und Aufgabenentfremdung in der sogenannten klassischen Epoche unserer systematisierenden Zivilrechtsdogmatik hingewiesen werden: auf ihre Entwicklung zu einer vermeintlich autonomen juristischen Logik und Systematik von hochentwickelter Begrifflichkeit in ihrer Besonderheit gerade gegenüber anderen Rechtssystemen.11 Diese Besonderheit ist für den Rechtsvergleicher oft hinderlich. Er hat gelernt, daß hinter jeder systemeigenen Dogmatik die gemeinsamen Sachverhaltsprobleme stehen, deren einheitliche Lösung leider nicht mehr durch Verfeinerung . der Dogmatik, sondern nur durch Konsens über die >>richtigen« Entscheidungen getroffen werden kann. Ja, er fragt sich, ob das oft forcierte akademische Erneuern und Verfeinern unseres dogmatischen Systems nicht auf .die Dauer einer besseren Verständigung in Fragen der Rechtsvereinheitlichung im Wege steht. Er sieht immer wieder, 'daß die Verständigung über bessere Entscheidungen nicht aus der dogmatischen Sicht erfolgt, sondern aus einer gemeinsamen Problemorientierung. Das kann im internen Justizbereich nur insofern anders sein, als man dem Durchschnittsrichter keinen eigenen Einfluß ·auf die Neuorientierung gewähren, sondern ihn auf die anerkan~ten Begriffsmuster verpflichten will. Dafür mag es gute Gründe geben. Wenn rrianes. indessen auch der kommenden Juristengeneration mit einem Tabu verwehrt, sich in außerdogmatischen Richtigkeitserwägungen zu üben, wird auch sie in ihrer schulmäßigen Isolierung den Weg zu einem realistischeren Rechtsverständnis nicht finden. Daß dieser Weg über die Reflexion unserer Rechtsanwendungstechnik und unserer Interpretationsmethoden führt, und daß er mit der Offenlegung der Motivationen aus dem sog. Vorverständ-. nis zu begehen ist, das war meine hiermit festgehaltene zentrale These, die ich im Rahmen des Möglichen durch breit gestreute Beispiele aus der deutschen Zivilrechtsjudikatur belegt hatte. Natürlich sind in den Entscheidungsgründen nicht immer und·nicht explizit alle jene sachlich maßgebenden Vorüberlegungen wiederzufinden: mit denen die offenbar unbrauchbaren Lösungen ausgeschaltet werden, obgleich sie sich dogmatisch anbieten und vielleicht sogar geradezu aufdrängen. Solche Überlegungen 235
mögen sich unterschwellig oder nur am Rand_e vollziehen, sie kontrollieren aber gleichwohl die Lösung, wenn sie auch nur irgendwie kontrovers ist: sogar bei einer sog. Routine-Entscheidung. Allerdings wird sich bei einer lebensmäßig durchschnittlichen Konfliktbeurteilung auf der Seite der Rechtsausführungen eine mehr als dogmatische Bemühung meist erübrigen. Unsere Denkformeln decken hier die Entscheidungswahl offensichtlich· bereits. Das Bedürfnis nach einer Mitteilung der diese Formeln rechtfertigenden Sacharguinente wird erst deutlich bei sog. Grundsatzfragen, über die man nach Lage des Falles nicht nur juristisch und dogmatisch »Vt:rschieden denken kann«. Hier kann dann ein das Vorbewußtsein schon motivierendes Element auch in höchstrichterlicher Entscheidungen im Anschluß an die gleichsam offiziellen Gründe deutlich hervortreten als ein sog. topisches und problembezogenes Sachargument. Es kann aber auch bei entsprechender Transparenz des Sinnes der vorgebrachten begrifflichen und systemlogischen Argumente in diese dogmatische Erörterung voll integriert sein, was durch die zahlreichen wertausfüllungsbedürftigen Elemente unserer gesetzlichen Norm erleichtert wird. Im Motivationsbereich wirkt sich der Bedarf an Sachargumenten aber nicht erst bei der Entscheidung der Rechtsfrage aus, sondern schon in der vom Vorverständnis gesteuerten Selektion der relevanten Eigentümlichkeiten des Sachverhalts. Auch dieser Auswahlvorgang ist für die aktuelle Fallwürdigung und darüber hinaus für die mit der Entscheidung implizierten Folgen und Prognosen maßgebend. Zu letzteren gehört u. a. natürlich auch die Erwägung, wie weit die hiermit eingeschlagene Richtung angesicht~ ähnlicher Fälle durchgehalten werden kann. Schon diese für den erfahrenen Richter selbstverständliche Rücksicht zähle ich im Verhältnis zu den offiziellen Entscheidungsgründen zu den Elementen des Vorverständnisses. In ihm vereinen sich die Effekte des professionellen Rollenverständnisses. In ihm vereinen sich die Effekte des professionellen Rollenverständnisses und der konkreten Erfahrung aus der erlebten Problembehandlung mit den .bewußten Berufszielen, dem sog. Berufsethos, aber auch der Ausrichtung an »Überzeugungen« jenseits des Berufsbildes und seiner berufsethischen Ideale. Solche Überzeugungen, die sich meist als Lebenserfahrung oder weitergehend als Elemente des richterlichen Judizes darstellen, spielen im Motivationsbereich 236
eine führende Rolle. Im Bereich der Lösungs- und Darstellungsformen sind sie sehr weitgehend durch die Rücksicht auf die Verflechtungen unseres begrifflich systematischen Konzeptes gebunden. Aber auch hier sind· die mit der juristischen Ausbildung und Professionsausübung gesetzten Elemente. des Vorverständnisses noch wirksam: Wie schwer solche Rücksichten wiegen, ersieht man gerade aus ihrer Überrundung durch außerdogmatische Argumente in der Praxis und durch die intensivier., ten Bemühungen, dogmatische Formeln und dogmatisches Verständnis anhand gerade dieser offensichtlich gequältenEntscheidungenbesser zu durchdenken und neu zu differenzieren. Innerhalb des doktrinären Angebotes konkurrieren grundsätzlich drei Wege : das verfeinerte Verständnis begrifflicher Elemente im Normensystem, also insbesondere bei den Tatbestandsmerkmalen; wo indessen ·ein solches Begriffselement nicht schon sprachlich imponiert, durch die Benutzung logischer oder wertungsmäßiger Ableitungen im Wege anerkannter Techniken, zu denen heute auch die sog. Konkretisierung eines Rechtsgedankens und die Rücksicht auf Verfassungs- und andere oberste Rechtsprinzipien gehört; im Bereich der von Jhering als höhere Jurisprudenz bezeichneten Dogmatik ist maßgebend der Apparat von älteren und neueren »Konstruktionen«, d. h. begrifflichen Verständigungsmöglichkeiten über Rechtsbeziehungen und Konfliktslösungen. Auch zwischen ihnen erfolgt indessen die Wahl nicht ohne Beachtung ihres sog. Gewichtes, für das neben ihrer literarischen Herkunft und Bekanntheit eben ihre Begehrtheit maßgebend ist, also die Antwort, ob sie hilfreich sei, um ein lösungsbedürftig gewordenes, d. h. als solches erkanntes Problem wirklich »angemessen« zu lösen. Auch hier hat also das »Vorverständnis« wieder. eine Schlüsselstellung. Dieser zugegebenermaßen der theologischen (Bultmann) und philosophischen (Gadamer) Hermeneutik zu verdankende Ausdruck ist nun auf der anderen Seite auch dem soziologischen Realitätssinn verdächtig, weil mit ihm hergebrachtermaßen nur die epistemologischen Vorgriffe und Abhängigkeiten (»Zirkel«) berücksichtigt werden, wogegen in einer Handlungstheorie selbstverständlich auch die Wertungsvorgänge in einem solchen Vorverständnis beheimatet sind. Für den Juristen ist das schon eine alte Erfahrung, über die er sich freilich ungern Rechenschaft gibt. Seine Widerstände richten sich dagegen, daß solche Wertun237
gen in den rein »kognitiven Prozeß« übernommen werden- und das eben ist und bleibt mein Thema. Es ist oft frappant, wie die für den »kognitiven« Nor~vollzug notwendigen vordogmati~ sehen Relevanzwertungen blindlings abgeleugnet werden. 12 Daß auch die sog. »Wirklichkeit« schon, auf die abgehoben wird, nicht von dem Bewußtsein zu trennen ist, das sie zu beurteilen sucht, ja daß solche Trennung gerade das verbirgt, was die Nachvollziehung, ja schon das Verständnis der Entscheidung ermöglicht, ist eine weitere Wahrheit ; das erkennende - somit ordnende - Verstehen g~hört, wie nunmehr auch Rechtsphilosophen offen zugeben, zum Sein dessen, was verstanden wird. 13 Anders gesagt, die sog. Wirklichkeit ist als Problemwirklichkeit ·von dem Vorverständnis in seiner Erfassung mitkonstituiert. Hierbei sind, wie man es ausgedrückt hat, »Standortgebundenheit und Interessenbezogenheit des Entscheidungsverantwortlichen aus dessen Aussage nicht wegzudenken«. Solche Feststellungen gehen freilich als »Philosophie« nicht in die .Selbstkritik des Rechtsanwenders ein. Woran es diesem oft fehlt, ist die Einsicht in die Abhängigkeit seiner dogmatischen »Logik« von deren Bewährung an Beispielen, deren Lösungsvorstellung keineswegs von dogmatischer »Zwangsläufigkeit« gelenkt wird, sondern durch das Für und Wider pragmatischer Gerechtigkeitsargumente (Stichwort >>Topik«).
4. Dogmatisches und soziologisches Denken Dogmatik, die behauptet, sich auf den fertigen »Inhalt« vorgegebener positiver Normen zu beziehen, verkennt ihren eigenen rechtsschöpferisch-verantwortlichen Beitrag zum Entstehen und Verändern des realen Norminhalts. Ihr selbstkritisches Reflexivwerden macht die Wertungsarbeit bewußt, die über die vermeintlich wertfreie Dogmatik hinaus die Begriffe und Denkmodelle der Juristen mit neuen Gerechtigkeitseinsichten anreichert. Die Frage ist indessen noch immer, ob jene begrifflichen Anstrengungen nicht trotz aller kritischen Anstöße unfruchtbar und schädlich bleiben müssen, insbesondere irrfolge der Ablenkung des juristischen Interesses auf das Darstellungsproblem. Diese Effizienzfrage ist keineswegs schon entschieden, wenn man Beispiele schlechter und oberflächlicher Dogmatik zusammenträgt. Viel238
mehr muß man Fragestellungen der Forschung und der Praxis trennen. Für die Forschung liegt die Gefahr der Begriffsdogmatik nicht so sehr in der Trübung des Blickes für die Breite der rechtspolitischen Frage_ als in der Absorption der Arbeitskraft durch die schon im Unterricht überdimensionierten Darstellungsfragen. Der damit aufgezogene Jurist hält diese Wissensformen natürlich für die zentrale Garantie fachlichen Könnens. Wie man an nicht begrifflich-systematische, sondern wertungsmäßige Zweifelsfragen herangeht ·und diese. entscheidungsmäßig argumentiert, lernt er nicht - er wird daran gewöhnt, diese Fragen als sog. politische aus der wissenschaftlich garantierten Facharbeit auszuklammern. Man belehrt ihn, er habe sich an »das Gesetz« und an »die Verfassung« mit dem Gebot der Gewaltentrennung. zu halten. Diese Art Berufsethos nimmt der Praktiker in sein Leben mit, bereichert noch um den Respekt vor höchstrichterlich entschiedenen Fragen. Was bleibt hier für eine aufgabenbewußte Dogmatik, wenn weder die Wertung im einzelnen ausdiskutiert noch das Gewicht der verschiedenen Argumente präzisiert wird ? Für die Bewertung des dogmatischen Arguments in der Praxis ist es also ein schlechter Trost, daß es im Gegensatz zur systemfremden Präjudizienverwertung doch immerhin auf rationale Ar:gumente aus dem Systemdenken verweise. Die Rolle der BGHLeitsätze in Nachschlagwerken und .Kommentaren ist für den Richter dadurch nicht kleiner geworden. Das dogmatische Argu~ · ment hat den Charakter der Beliebigkeit und Verfügbarkeit zur besseren Stilwahrung bis heute behalten - genau wie der Methodenkanon im Interpretationsbereich. Diese Beliebigkeit auszuschalten vermag nur eine veränderte Ausbildung, in welcher der Jurist nicht auf professionelle Techniken hin »geschult« wird ein Mißverständnis, dem der moderne Zielbegriff einer »beruf~ orientierten« Ausbildung Vorschub leistet -, sonde.rn auf eine Verwendung solcher Techniken nach »streitig~r Verhandlung« der fraglichen Regelungsabsicht, ihrer Zielsetzung und Motivation. Für den so ausgebildeten Juristen sind dann auch Fragen der... _ Berufsstruktur und -ideologie durchsichtig, die dem Soziologen heute nicht klar sind, so z. B. das Verhältnis von Gesetzesrecht und Richterrecht. Man sollte meinen, dergleichen sei gerade soziologisch einfacher zu beschreiben als dogmatisch. Denn die Absicht, mit welcher die J udikakatur eine neue Vorstellung in das 239
gesetzliche »System« der Rechtsnormen als Stück derselben c;!inbringt, läßt sich sicherlich soziologisch im Sinne der Rechtsql.lelleneigenschaft berücksichtigen. Für den hier die vorgegebene positive Rechtsmasse und -Struktur bearbeitenden Juristen selbst ist der neue Bestandteil des geltenden Rechts nicht seinerseits etwas Neues, das er produziert, sondern er wird von ihm als ein nur bisher unverstandener Bestandteil des geltenden Rechts begriffen. Sein Bewußtsein formt ja nicht nur bei makroskopisch erkennbaren Neubildungen, sondern mit jeder Interpretation von Textworten in einem bisher nicht kasuistisch ·akzeptierte~ Fall das Gesetz bzw. die Bedeutung der betreffenden Textstelle um. Indem nun der d~gmatisch arbeitende Jurist innerhalb des Gesamtsystems seine Intention auf dessen besseres » Ve):"1ltändnis« richtet, wird er im soziologischen Sinne notwendig selbst ein Stückdieser Rechtsetzungsautorität. Das sollte gerade den Soziologen davon abhalten, auf einer funktional unrealistjschen Trennung von Gesetzgebungskompetenz und Rechtsprechungskompetenz zu bestehen und systemtheoretisch hier gleichsam eigenständig wenn auch in wechselseitiger Information wirkende Teilsysteme zu postulieren. Gerade von der Soziologie her ist der Rechtsquellenbegriff ein breiterer, während für den Rechtspraktiker das Gesetzesrecht einen völlig unantastbaren Stellenwert hat, der durch · das sog. ·.Richterrecht mit seiner stets reversiblen Vorstellungswelt nicht erreicht wird. Der Soziologe dagegen müßte die Gleichwertigkeit dieser beiden Positivierungsvorgänge anerkennen, weil ja für ihn der Rechtsquellenbegriff nicht durch dogmatische Schranken verengt ist. Allerdings mag er Schwierigkeiten in der Beachtung des vom Gesetzesdenken vorgezeichneten Legitimationsverständnisses des Richters haben. Er wird ihm z. B. keinen Wirklichkeitswert zuerkennen, falls er die Intentionen, in denen Recht als Teil des Gesetzesrechtes neu verstanden wird, nicht zu den Realitäten rechnet, die einen sozialen Systemablauf in Wahrheit mitbestimmen. Ich meine, daß gerade das Selbstverständnis im Hinblick· auf den Systembezug, den sich der Insider eines Systems auferlegt, zu den Realitäten einer Systemtheorie gehören müßte. Und dazu eben bildet der »gesetzestreue« Richter mit seinen Rollenverständnissen eine sehr anschauliche Figur. Solange man sich darüber nicht einig wird, ist eine gemeinsame Diskussion von Juristen und Soziologen über Fragen von solcher 240
Komplexität, wie sie die Rechtsquellenlehre darstellt, kaum möglich. Der Soziologe muß dann enttäuscht sein, daß der Jurist die ihm übertragene Aufgabe nicht erfüllt, nämlich selbst zu definieren, welches Element an dem richterlichen Rechtsbildungsvorgang nun die eigentliche Legitimation zur Aufstellung von positiven Rechtsnormen bildet. Dieses Element kann in den Augen des Dogmatikers nichts anderes sein als die Verklammerung der Judikaturaufgabe mit der Gesetzesaufgabe - eine Verklammerung, die man in der hergebrachten beschönigenden Sprache der Methodenlehre als »Konkretisierungsstufe« bezeichnet. Für die »realistic school« ist freilich auch das Bewußtsein oder Rollenverständnis im legislativen Beitrag des Richters irrelevant, da nicht die Bewußtseinsfrage, sondern nur der Effekt der Judikatur für sie zählt; das ist ein Spiegelbild der Sichtverengung beim Soziologen, dem die Legitimation des Richterspruches gleichfalls nicht durch die Orientierung des Richters an den Kriterien von Wahrheit und Gerechtigkeit vorstellbar ist, sondern auchnur durch die äußere Wirkung des Verfahrens.
5. Die Unverzichtbarkeit der Wertung
jenseits der Dogmatik Der entscheidende Kampf.der Dogmatikkritik geht um die Frage der neuerdings als »Motivfähigkeit« bezeichneten Maßgeblichkeit von dogmatischen Argumenten im Vergleich zu offenen Motivabwägungen (i. S. des Vernünftigen, des Gerechten usw.). Sagt die traditionsbewußte Seite hier: Nur verbindliche und unausweichliche dogmatische Antworten . garantieren eine widerspruchsfreie und gesetzeskonforme Ordnung, so hält die Gegenmeinung auch bescheidenere Anerkennung dogmatischer Bemühung als Orientierungs-· und Kontrollmittel oder gar als Milieu der Konsensbildung schon für unrealistisch und irreführend. 14 Wo liegt die Wahrheit ? Erlebt man, wie das Eigentümlkhe der juristischen Dogmatik so eng begriffen wird, daß man nur die angeblichen Denkzwänge aus dem sog. System des Gesetzes darunter akzeptieren will, nicht aber die Verbesserungen, Erneuerungen und völlig selbständigen Ausbildungen von institutionellen Grundfiguren 15 , so versteht man, daß eine· derart verkürzte Dogmatik-Vorstellung das bewußte »Unbehagen« her241
vorruft, das heute jede rein konservierendsystematisierende Begriffsarbeit der Juristen hervorruft. Aber jene Vorstellung von Dogmatik ist irrig. Sie hat in Deutschland niemals geherrscht, nicht einmal unter der Herrschaft jener perfektionistisch gesonnenen Pioniere im Zivilrecht der vorigen gemeinrechtlichen Generationen. Gerade sie waren auf die Originalität der Denkschöpfungen eines Jhering oder Windscheid stolz, für welche allein die sog. konstruktive Arbeit Ausdruck der »höheren Jurisprudenz« war. Aber auch die Unmenge der seither klassisch gewordenen begrifflichen Neuschöpfungen und institutionellen Alleingänge erhielt ihre Bedeutung gerade nicht durch die Auswertung eines vermeintlich schon bindenden vorliegenden Gesetzessystem, sondern ·durch dessen Veränderung. Ebenso steht es mit der begrifflichen Strukturierung der sog. Nebengebiete des Zivilrechts, in denen dogmatische Schöpfung notwendig war, um eine gesetzgeberische Arbeit mit Grundlage und Reichweite zu ermöglichen. Wieviel Materien sind doch erst durch eine grundsätzliche dogmatische Durchdringung schlüssig aufbereitet worden! Und mit einem einzigen Begriff aus dem Urheberrecht oder dem Versicherungsrecht sind Zusammenhänge und Strukturen der zu ordnenden wirtschaftlichen und sozialen Vergegebenheiten überhaupt erst überzeugend regelbar geworden. Auch diese »Entdeckungen« haben freilich ihren soziologischen Hintergrund und sind ihrerseits nicht als l'art pour l'art geschehen, sondern aus bestimmten interessenmäßigen Vorverständnissen, Standpunkten, ja Taktiken. Begriffskategorien und Schlagworte etwa des Arbeitsrechts zeugen davon. Wir müssen also die beliebte Formulierung, dogmatisches Denken sei nur in diesem Sinne auf Reproduktion und Stabilisierung »des Rechts« gerichtet, in jeder Form zurückweisen, weil sie ignoriert,. daß »das Recht« und »sein System« jeweils aus bestimmten zeitgenössischen Impulsen lebt. Ohne Kenntnisnahme vom »Grund« einer inventorischen und heuristischen Leistung des dogmatischen Formkreises ist nicht ein einziges SeinerModellbilder wissenschaftlich diskutierbar. Für die Frage, woher dieses »Leben« und damit der Anstoß zur Invention stammt, muß ich wieder auf meine Arbeit zum »Vorverständnis« verweisen - mit welchem Schlagwort ich, wie gesagt, nicht -nur das erkenntnistheoretische oder hermeneutische, sondern auch das soziale Datum von bewußten Attitüden und unbewußten
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Voraussetzungen jedes Problembewußtseins zusätzlich zu der beruflichen Rollenausfüllung meine. Im Grunde ist dieses Entdeckungsereignis und seine Motivation schon in meiner Darstellung des Rechtsbildungsvorganges in »Grundsatz und Norm« (1956) beschrieben. Aber offenbar vermag nichts davon die populäre Idee von einem objektiv fertig vorliegenden Gesetzessy.stem zu beseitigen. Ebenso vermag andererseits wohl nichts das Vorurteil zu berichtigen, Wertungen oder Werturteile besäßen einen irrational-emotionalen Zug, der selbstverständlich einem Befürworter von wertungsfrei gedachter Rationalität verwerflich erscheinen müßte. 16 Ich wüßte nicht, warum Rationalität im Sozialen wertungsfrei sein soll, ja wie sie es überhaupt sein~ -könnte. Wer aber nicht der Illusion einer wertungsfreien Dogmatik anhängt, erhebt auch nicht die Forderung nach einer autonomen Argumentationsform. Daß Wertungen ~motional seien, ist eine U~terstellung, die ich in der Auseinandersetzung mit Hermann Isay und unter Erneuerung der Vorstellungen von Gotthold Bohne an mehreren Stellen widerlegt habe; die Rationalität eines Werturteils wird nicht -durch den Denkanstoß beeinträchtigt, der emotional qualifiziert sein mag. So wird dann dem für rationale Wertungsargumente Eintretenden ein »psychologistischer« Horror vor Wertungen unterstellt »als Ausdruck zugrundeliegender oder begleitender -Affekte«. 17 ...
6. Dogmatik und Konsensbildung Jede Etappe neuartiger Verklammerung von typisierten Interessenwertungen mit entsprechenden Fachbegriffen, jede nel,le Gruppierung dieser Fachbegriffe im Rahmen eines bestimmten Ordnungsgebiets (also des Strafrechts oder _9-es Sachenrechts usw.) ist in ihrer ursprünglich inventorischen Bedeutung gleichsam ein Vorschlag, dessen praktische Anerkennung erst durch den Konsens über die darin liegenden Wertung erfolgt.- Ein solcher Konsens ist manchmal jahrelang, ja über Jahrzehnte hinweg, in der Schwebe, was sich nicht nur, aber auch in den literarischen Kontroversen um eine bestimmte Vorstellung ausdrückt. Aber selbst mit dieser Bildung einer communis opinio wird eine effiziente Änderung der Vorstellungswelt nur durch 243
richterliche Anerkennung durchgesetzt. In der Hand der obersten Gerichte liegt natürlich, solange nicht gesetzgeberische Entscheidungen vorwalten, das Schicksal einer jeden Innovation auf dem Gebiete des Zivil- und Strafrechts bis zur Frage seiner Akzeptierung. Eine solche Akzeptierung ist oftmals nur eine teilweise, ja sie kann auch inkonsequent für bestimmte Teilfragen allein erfolgen oder mit bestimmten (manchmal unzulänglichen) Absieherungen gegen ihre Risiken oder Nachteile. Man denke etwa an die Judikatur in Fragen der antizipierten oder Vorausverfügung oder auch in der Anerkennung globaler Verfügungsakte. Es bleibt auch oft dahingestellt, ob die Frage der Anknüpfung an kodifizierte Regeln überhaupt schlüssig begründbar ist und von den Schrittmachern dieser Entwicklung nicht ganz im Widerspruch zur nachweislichen Gesetzesmotivation erdacht wurde. Im_rp~r _häufiger unternimmt es die Praxis, solche Begründungszusammenhänge vor ihrer Ubernahme zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern. In jedem Fall kann das dogmatische Gespräch sich auch nach der Rezeption eines neuen Institutionsgedankens wieder neu entzünden, wenn die Praxis Mängel dieser Konzeption offenbart. Solche Fortführung des Gesprächs wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß unser Revisionsgericht in immer steigenden Maße dogmatische Begründungsformen im Sinne eigentlicher theoretischer oder doktrinärer Aufgaben selbst zum Gegenstand seiner höchstrichterlichen Festlegung macht. Die Einverleibung einer Doktrin (etwa des Handlungsunrechts oder des neuartigen Rechtsgutes der Persönlichkeit oder gar des eingerichteten Gewerbebetriebs) in die Judikatur bildet niemals ein Hindernis für eine spätere Kursberichtigung und kann auch im Rahmen unserer faktischen Präjudizwirkung keinesfalls den dogmatischen Gehalt der Begründung fixieren. Wieviele freie Umbildungen solcher dogmatischen Begründungen.haben doch allein die aus den Bestimmungen der §§ 242, 249, 254 und 276 BGB abgeleiteten dogmatischen Figuren erfahren! Erst mit einem größeren Zeitabstand wird dann die Diagnose möglich, daß bestimmte bleibende und dann als richterliches Gewohnheitsrecht angesprochene Institutionen sich so und nicht anders begründen lassen, daß die eine Ursachentheorie oder der eine Sch3;densbegriff aufzugeben bzw. in bestimmter Weise zu modifizieren ist oder daß >>wir« keine allgemeine Vertragsculpa mehr kennen, vielmehr in§ 276 BGB einen Unrechts- oder Sorgfalts244
und andererseits einen Schuldmaßstab für die verschiedenen Vertragsbruchstatbestände »besitzen«, von denen eben der im Gesetussystem fehlende Tatbestand der sog. positiven Vertragsverletzung sich nicht aus § 276, sondern nur aus § 242 BGB herleiten läßt usw. Umkehrbar ist eine solche Vorstellung jederzeit, da eben positives Recht insoweit nicht die dogmatischen Begründungsformen mit einschließt. Dann aber ist offensichtlich ·die Frage nach der endgültigen Rolle dogmatischer Konsense für die Lösungsformen der Praxis angebracht. Im historischen Ablauf kann ein solcher Konsens keine Zementierung der sich wandelnden Bezugs- oder Systemsvorstellungen bedeuten. Aber er kann in der jeweiligen Phase des Denkprozesses die Begründungsweise liefern, die für die vom Vorverständnis gesuchte rechtspolitisch angemessen erscheinende Lösung überzeugend wirkt. Diese Vorstellungsformel ist dann lediglich die dogmatische Verkürzung der Argumentation aus dem konsentierten Gerechtigkeitsgehalt eines Konflikt-Lösungsvorschlags. In einer nach Fachgesichtspunkten verkürzten Form, - also i.w.S. gleichfalls dogmatisch gezielt - präsentieren sich denn auch die Sachargumente der Gerichte. Diese können schlechterdings nicht die endlose Kette rationaler Begründungsableitung zur Sprache bringen, welche die Wertung als »untragbar«, »systemwidrig«, »institutionsfeindlich« u.a.m. bis zur letzten Axiomgrundlage zurückführt. Solche sokratischen Regresse wirken eher verfremdend, d. h. sie verlagern und verlängern den Streit, während ad hoc einleuchtende Begründungen der Interessenahwägung ihn beenden, wenn sie auf eine dogmatisch gängige Formel gebracht werden. Dogmatik ist ambivalent. Sie ist das Milieu für klassische (und oft unnütze) Schulstreitigkeiten, aber auch für exemplarisch oder symbolisch abgekürzte Polemik, in welcher künftige Wertungsstreitigkeiten auf Grundsatzformeln gebracht werden. Die »Erleichterung« vom Gepäck der Sachdiskussion hat natürlich ihren Preis. Werden
(gleichfalls problematischen) Stare Decisis 1m echten Richterrecht.18
7. Dogmatik und Routinearbeit Eben weil eine »Wertungsneutrale« Interpretations- und Begriffsarbeit ~ur ein verkürztes Abbild theoretisch oder praktisch vollzogener und nachvollziehbarer Gerechtigkeitsentscheidung ist, bleibt sie ein im Grenzfall jeweils neu zu verifizierendes Muster. Daß der anstehende Fall als nicht zentral getroffener Grenzfall kritische Sonderbehandlung erfahren müsse, ist nach unserem Zivilprozeß freilich primär ein Anliegen der Parteien und ihrer Anwälte. Ohne Eingehen auf unseren forensischen Stil und seine Rhetorik wird man füglieh kein realistisches Bild von· der Komplexität dogmatischer und nicht dogmatischer Motivationen erlangen. Es hat sich freilich seit den 20er Jahren das Rollenverständnis auch bei den Kollegialgerichten der Tatsacheninstanzen dahin geändert, daß unabhängig von Partei- bzw. Anwaltsvortrag und von der Richterpflicht nach§ 139 ZPO die Frage, was man im Ei.nzelfall »machen könne« und solle (große Worte wie »Gerechtigkeit« .werden in typischer Berufsmanier unterdrückt) auch in der richterlichen Beratung den ersten Platz einnimmt. Das Eine weiß jedenfalls der Praktiker stets : daß es nicht darum geht, »Fälle« zu »lösen« - wie das im Studium suggeriert wird - und daß die »richtige« Entscheidung alles andere mehr voraussetzt als »korrekte« Konstruktion: so z. B. umfassende Sachverhaltserörterung nach§ 139 ZPO. Daß die Verzahnung mit dogmatischen Begrifflichkeitsfragen . eine weniger empfindsame ist, je weiter man an der Front der Alltagsarbeit steht, daß sie also in der Routinearbeit der ersten Instanz weniger problematisch erscheint als z. B. in der Revisionsinstanz, kann man in dieser Allgemeinheit nicht sagen. Nur liegen eben die Probleme zweifelhafter Fälle öfters hier schon im Tatsächlichen oder aber im Individuellen (etwa bei der Vertragsauslegung) und implizieren dann - zum Bedauern einzelner darin ehrgeiziger Richter - weniger dogmatische oder »begriffliche« Arbeit. Daher ist es in der Literatur, zumal bei unserer Publikationstechnik, durchaus verständlich, wenn auch keinesfalls korrekt, daß sich unsere Beobachtung auf die Revisionsentscheidun246
gen konzentriert, die bei ihrer Entlastung vom Tatsächlichen infolge unserer Gerichtsverfassung vor allem die Einheitlichkeit und die Gesetzestreue der Rechtsprechung zu garantieren haben, und daher ihre Sorge speziell den dogmatischen Argumenten zuwenden können. Wir haben hier also in erster Linie ein Phänomen vernünftiger Arbeitsteilung vor uns. Daneben denkt man in oft zu globaler Weise an die unterschiedliche Qualifikation der Parteivertreter und der Richter. Hier sollte indessen die Qualifikation keinesfalls im' Sinne eines Befähigungsurteils verstanden werden, wie es oft denen unterläuft, die wed~r individuelle Richterkontakte gewonnen haben noch die Verschiedenarti9~. keit forensischer Arbeit in Tatsachen- und Revisionsgerichten kennen und würdigen. Individuell ist- die Fähigkeit der Richter zur selbständigen Erfassung typischer Sozial- und Wirtschaftskonflikte jenseits begrifflicher und lehrhafter Festlegung in allen Instanzen sehr verschieden. Der J~ristentypus, der nur das schon Gelesene und Gelernte treffend zu bestimmen versteht, und danach zu rekognoszieren weiß, was er vor sich hat, der also eben deshalb auf ständiges Anknüpfen an Kenntnisse aus Präjudizien und Lehrmaterial angewiesen ist, findet sich überall. Hier kommt es zu zwei Fehlentwicklungen : Nicht selten bewirkt die erlernte Art dogmatischer Problembehandlung eine Verengung und Verschiebung schon des juristischen Interesses. Die fachlichen Ambitionen des examensmäßig qualifizierten Praktikers konzentrieren sich auf das, was am Fallkonflikt als dogmatisches Problem sichtbar wird. Oder aber - das bleibt der Regelfall - die dogmatische Kontrolle der nach Praktikerkunst und mit Praktikernachschlagmitteln gefundenen Begründung einer sachgerecht.en Konfliktsentscheidung bleibt formelhaft und verbal. Denn mehr als Formeln vermittelt das geläufige Praktiker-Instrumentarium nicht. Die Nahtstelle zwischen Schuldogmatik und Praktikerdenken ist weithin nur durch »Stich«-Worte ohne lebendigen Anschauungsgehalt gesichert. So fällt oft schon die Problemidentifizieru.ng . . nicht leicht- der Richter zieht es vor, sich an den erinnerlichen Vorentscheidungen seiner Praxis zu orientieren und vermeidet »konstruktive« Argumente. Auch ist der Wertungsgehalt dogmatischer Formeln oft so differenziert, daß Ziel- und Alternativüberlegungen sich leichter in Alltagsargumenten ~ls in der Begriffsebene vollziehen und mitteilen lassen. Die Sprache der
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Dogmatik wird dann offensichtlich nur zur Präsentierung der Urteilsgründe benötigt. Schließlich ist die gespeicherte Rechtsinformation in den höchstrichterlichen Entscheidungssammlungen - im Routinebetrieb : in dereri »Digests« in Loseblattsammlungen und Kurzkommentaren - soviel anschaulicher und stilkonformer, daß der Rückgriff auf dogmatische Konzentrate schon ein Gefühl der Praxisferne erweckt .. Die fehlende Verzahnung von dogmatischer Schulung und Praxis könnte durch das Einphasenmodell erstmals eine grundlegende Korrektur erfahren. Darüber hinaus bedarf es seitens der juristischen Publizistik heute verstärkter Bemühung um neue Formen der Meinungskommunikation, wenn die Informationshilfen der Dogmatik und der Früchte dogmatisch~r Auseinandersetzung dem Praktiker noch soviel bedeuten sollen, wie in der wissenschaftsstolzen Zeit des BGB. Die Vielfalt entsprechender Bemühungen um effizientere didaktische Informationsarten hat sich a11s mancherlei Gründen heute auf Studium und Ausbildung konzentriert. Vielleicht findet der literarische Markt auch neue Wege für die weitere Begegnung von Forschung und Praxis.
Anmerkungen 1 AcP 172, S. 97 ff. 2 __Di.e.oft schon terminologische Gründe haben, so U. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? 1973 (Recht u. Staat Heft 428/429), S. 34 und 41. · 3 So erklären sich die Verdikte ideologisch fixiert~r Rechtssoziologen über mein >>Vorverständnis«. Auch ein sichtlich diskussionsoffener Kritiker erklärt unter dem Zwang solcher Grundsatzforderungen eine solche Analyse des richterlichen Wertungsbewußtseins zu einer bloßen Teil-Leistung, die das eigentliche Ziel verfehlt mangels einer »materiellen Nachprüfung der Werte, denen das Vorverständnis verpflichtet sein soll«. Mit solcher Begriffsverschiebung ins Normative ist dann die Zensur fällig : mein vermeintliches Vorverständnis ist ein »Vorunverständnis«. (H. Ostermeyer, Die juristische Zeitbombe, 1973, S. 36 ff. (42). Wer nicht daran interessiert ist, juristische -Entscheidungsprozesse zu analysieren, sondern sie auf »materiell« richtige Nenner auszurichten, wird es mit dem Begriff der Rechtsdog-
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matik.genau so halten. Es ist leicht, ihn vollends über Bord zu werfen, wenn man sich der Utopie wissenschaftlich und politisch gleichmäßig geschulter ( !) Richter und ihrer Kapazität zur rechtseinheitlichen Direktwertung von Konflikten hingibt. 4 Vgl. Hans Albert, Konstruktion und Kritik 1972, S. 224 mit Hinweis auf ältere verdienstliche Autoren. 5 Vgl. Theodor Viehweg, Systemprobleme in Rechtsdogmatik und · Rechtsforschung 1968 und ständig. 6 Als Beispiel solchen Vorverständnisses dienen der Streit um »Erklärung« fehlender Ausgleichspflicht bei -»unechten«, d. h. nicht ••gleichstufigen« Gesamtschuldnern.· Anband des Fuldaer Dombrandfalles bemerkt man: »Dabei besteht im Ergebnis kein Zweifel daran, daß der Schaden letztlich vom Brandstifter getragen werden muß, ein (sc. voller) Rückgriffsanspruch also besteht. Unklar ist nur, wie dieser Anspruch dogmatisch ausgestaltet ist«. (Grunsky in Sammelwerk: Grundlagen des Vertrags- und Schuldrechts, Frankfurt/M. · 1972, s. 637). 7 Im vorstehenden Beispiel etwa vom früher einmal benutzten Konzept der >>Geschäftsführung ohne Auftrag<< über den in § 255 BGB enthaltenen »Rechtsgedanken« bis zum schlichten Schlagwort des »Näher-dran«-Prinzips. 8 >>Schwerpunkt« insofern, als jede nicht schon auf solches »Passen« präparierte Fallkonstellation eine Bewährungsprobe für dogmatische Vorstellungen ist. Diese sind in der Sprache der Wissenschaftstheorie K. R. Poppers eben nur Hypothesen, d. h. Modelle, die irgendwann eine Falsifikation erleben. Daher der Praktikertrend zu »beweglichen Modellen«. 9 Wobei- typisch und unnütz- die Ausgangsunterstellung stets bleibt, die zeitliche Fixierung der Meinung sei eine endgültige. Daher die Versuchung, »Dogmatik« doch als Raum >>ewiger Wahrheiten« zu beanspruchen. Vgl. neuerdings auch Ulrich Meyer-Cording, a.a.O. s. 11. 10 So kritisiert etwa Meyer-Cording, a.a.O., S. 19, die Vorstellung Viehwegs von der pragmatischen Bedeutung ·der Dogmatik (und damit auch die meine) durch die Feststellung: Die Steuerung von Handlungen und Entscheidungen sei >>in unserem Gesetzessystem«, >>nicht der juristischen Dogmatik überlassen«. Er fährt fort: »Sie ist vielmehr den vorhandenen Rechtsnormen als sozialen V erhaltensregeln zugewiesen. Diese Normen enthalten nämlich schon ve.rbindliche Meinungen der Legislative. Sie sehen wir - weil sie die Meinung des Gesetzgebers sind - als optimale Dogmatisierungen an.« Abgesehen von dem schon kritisierten Fehlgebrauch des Begriffs »Dogmatisierung« fehlt dieser Vorstellung die Einsicht in die tatsächlich von der Dogmatik geleistete Arbeit: die Steuerung solcher Normierung durch
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Aufbereitung ihrer Elemente, die sie nach wie vor unter Kontrolle behält. In diesem Sinn gibt es keinen Gegensatz zwischen der Produktion der Dogmatik und den »vorhandenen« Rechtsnormen. 11 Die Gründe für die Inanspruchnahme solcher Autonomie nennen heißt aber. noch nicht: sich damit identifizieren. - Soviel gegen die polemische Mißdeutung bei H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 177 f. 12 Dazu ein markantes Beispiel: Zum Problem der Gleichheit hinsichtlich der Feststellung von Gleichheit oder Ungleichheit bestimmter Sachverhalte heißt es in einem GG-Kommentar (Harriann-Lenz, 2. Aufl. 1960 B 4 b ZU Art. 4 GG): Hier >>handelt es sich um einen rein rationalen (forschenden) Denkvorgang«. Für emotionale Erwägungen, insbesondere . . . durch· Zweckmäßigkeitserwägungen bedingte Werturteile ist hier kein Raum : Die Feststellung der gleichen ... Sachverhalte bedeutet einen Subsumtionsakt, der sich von anderen rechtlichen Subsumtionen nicht logisch unterscheidet. Diesem Denkprozeß wohnt daher nicht ein »subjektives« Element inn.e (so lpsen, S. 178) ; die Dinge liegen insoweit hier grundsätzlich nicht anders als bei Anwendung anderer allgemeiner Rechtsbegriffe, richtig Rinck, JZ 63, 525. In einem solchen streng rationalen Denkprozeß ist für willensbedingte (volitive) Ermessensentscheidungen kein Platz. Strenggenommen gestatten die Begriffe »Gleichheit« und »Ungleichheit« überhaupt keinen Beurteilungsspielraum ; die Fälle, in denen mehrere Sachverhalte einander wirklich (in einem »mathematischen« Sinne) gleich sind, \·.sind aber selten. In der Regel ist daher die Rechtsanwendung hier vor die Frage der '!J)esentlichen Gleichheit und Ungleichheit gestellt .. ,« Dieses Zitat scheint mir beweiskräftig für den gesamten Bereich unserer Praktikerargumentation, soweit diese sich gegen das Bewußtmachen von Wertungsurteilen in ihrer angeblich rein rechtslogischen Arbeit zur Wehr setzt. Man identifiziert Wertung mit Willkür oder doch mit emotionalen und willensbedingten Ermessensfragen, man hält an einer überzeugenden, wennschon zugegeben nicht »mathematisch« strengen juristischen Logik fest, man gibt andererseits zu, daß eine wirkliche Vergleichbarkeit der hier zu subsumierenden Fälle nicht ohne weiteres bestehe, vielmehr »sehr selten« sei, aber man hält an dem zentralen Anspruch fest, man könne wesentliche und unwesentliche Kriterien für die Vergleichbarkeit im Sinne der logischen Subsumtion voraussetzungslos unterscheiden. 13 Hommes in Festschrift für Erik Wolf, S. 92. Im gleichen Sinne zur ontologischen Unvermeidlichkeit des hermeneutischen Zirkelschlusses Arthur Kaufmann in Festschrift für Wilhelm Gallas, S. 1_~. Zu ergänzen bleibt nur, daß die von der Praxis, ihrem sozialen Ort und ihrer Erfahrung vorbestimmte Wahl des Vorgriffs nicht >>unvermeid250
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lieh« ist, sondern soziologisc;]ler Erklärung bedürfte. Das ist der Ansatz für eine sachliche. Kritik an der Unvollständigkeit meiner Analyse. So Rottleuthner, a.a.O. S. 178. So z. B. Lüderitz in der Diskussion vom 27. 9. 1971, vgl. AcP 172, s. 174. So Rottleuthner, a.a.O. Rottleuthner, S. 179, vgl. auch schon S. 178: »anscheinend sind bei Esser (und wohl bei den meisten Juristen) Wertungen mit dem Odium des Persönlichen, Subjektiven, Individuellen, Emotionalen, ja Willkürlichen behaftet. Dahinter .dürfte .die Trennung von ratio und · ·. voluntas stehen ... « usw. Kontrollbedürftig bleibt allerdings, wie die professionellen Ko~sense zustande kommen.
Hermann Lang Sprachedas Medium analytischer Psychotherapie::»Man versteht«, schreibt Freud 1923 in der Abhandlung Psychoanalyse. und Libidotheorie, »die Psychoanalyse immer noch am besten, wenn man ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt.« ( GW XIII, 211) 1 Im Blick auf unser Thema wollen wir vor allem diesem-Hinweis folgen. Im Jahre 1882 beendete der als Praktiker tätige Privatdozent Dr. Josef Breuer die Behandlung eines 21jährigen Mäd~hens. Freud hatte Breuer gerade am Physiologist;hen Institut von Brücke kennengelernt und interessierte sich sehr für diesen Fall. Noch nie war ihm, wie Freud-Biograph Jones 2 aus erster Hand weiß, Ähnliches begegnet, und Breuer mußte ihm immer vyieder alle Einzelheiten genauestens schildern. Als Breuer zwei Jahre zuvor erstmals zur Patientin gerufen worden war, bot diese ein buntes Bild -vori -Lähmungen mit Kontrakturen, ernsten Störungen des Seh- und Sprechvermögens, anorektischen bzw. hydrophcibischen Symptomen sowie einen quälenden Husten. Am meisten imponierte indessen die Tatsache von zwei getrennten Bewußtseinszuständen, die mit~inander abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ geordnet ; im anderen halluzinierte sie und benahm sich wie ein ungezogenes Kind bzw. wie eine Verrückte. Der Übergang von dem einen zum anderen Zustand war durch eine Phase von Autohypnose gekennzeichnet. Glücklicherweise fiel einmal diese Phase mit Bre"~ters .Visite zusammen. Breuer bemerkte, daß die Patientin dabei Worte vor sich hin zu murmeln pflegte, die den Eindruck machten, als stammten sie aus einem Zusammenhang, der ihr Denken sehr beschäftigte. Sie gewöhnte sich nun bald daran, ihm alles Unangenehme, das ihr im Verlauf des Tages zugestoßen war, zu erzählen, u. a. auch die schreckerregenden Halluzinationen, von denen sie in ihren Zuständen von Verworrenheit heimgesucht wurde. »Hatte sie sich dann ausgesprochen ... , so war sie klar, ruhig, heiter.« 3 Bei einer solchen Gelegenheit schilderte sie '~)
Der folgende Aufsatz ist aus einem Vortrag hervorgegangen, der Februar 1974 an der Deutschen Bibliothek (Goethe-Insti~t) in Brüssel gehalten wurde.
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auch das erste Auftreten eines bestimmten Symptoms in allen Einzelheiten, und· zur großen Verwunderung Breuers hatte dies zur Folge, daß das Symptom vollständig verschwand. »Als das erste Mal durch ein zufälliges, unprovoziertes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht.« 4 Die Patientin erkannte die Bedeutung dieses Ereignisses und fuhr deshalb fort, Breuer sämtliche Anlässe, bei denen ein bestimmtes Symptom aufgetreten war, zu erzählen. Stieß sie schließlich bis zur Situation des erstmaligen Auftretens vor und hatte. sie diese verbalisiert, war das Symptom für immer behoben. Sie nannte das Verfahren »talking eure« - die Patientin hatte damals ihre deutsche Muttersprache vergessen und konnte nur noch Englisch sprechen. Da die Menge des »Materials« erdrückend wurde, ergänzte Breuer ·nach einiger Zeit die abendliche »talking eure« in der Autohypnose jeden Morgen durch eine künstliche Hypnose. Versuchte er, die Sache dadurch abzukürzen, daß er direkt die erste Veranlassung des Symptoms in der Erinnerung zu evozieren trachtete, so fand sie diese gerade nicht, zeigte sich vielmehr verWirrt, und das Ganze vollzog sich noch langsamer, als wenn sie ruhig den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abspulen konnte. So wurden die Lähmungen, die Sehstörungen, der quälende Husten, die krankhaften Erscheinungen der Eßund Trinkfunktion und schließlic;h auch die Sprachstörungen »wegerzählt«. Breuer schließt die Fallschilderung mit der Bemerkung ab, daß diese ganze Geschichte der Krankheitsentwicklung, die hier natürlich nur zu streifen war, völlig unbekannt geblieben wäre, hätte die Patientin nicht die Eigentümlichkeit besessen, sich in der Hypnose zu erinnern und das Erinnerte zu erzählen. Im Wachzustand habe sie ja vonalldem nichts gewußt. Hören wir noch einmal Breuer selbst: »(Der) wunderbaren Tatsache, daß vom Beginn bis zum Abschlusse der Erkrankung alle ... Reize und ihre Folgen durch das Aussprechen-in der Hypnose beseitigt wurden, habe ich ... nichts hinzuzusetzen, als die Versicherung, daß . es nicht etwa meine Erfindung war, die ich der Patientin suggeriert hätte; sondern ich war aufs höchste davon überrascht, und erst als eine Reihe spontaner Erledigungen erfolgt waren, entwickelte sich mir daraus eine therapeutische Technik.« 5 Breuer verdankte diese ersten Schritte in Richtung auf jenes, was wir heute eine psychoanalytische Behandlung nennen, nicht 253
seiner anatomisch-physiologisch-pathologischen Vorbildung; ebensowenig waren es seine neuro-psychiatrischen Kenntnisse, die ihm den Weg wiesen; es hat vielmehr den Anschein, als sei ihm diese neue Methode von der Patientin selbst aufgezwungen worden - einer Patientin, die hier Worte vor sich hinzumurmeln pflegte, die offensichtlich in einen anderen Zusammenhang wiesen als in jenen, für welchen das Bewußtsein verantwortlich zeichnet - ein Zusammenhang indessen, der ihr persönliches Schicksal und ihr Subjektsein zentral betraf. Der Beitrag Breuers beschränkte sich offenbar im Wesen darauf, diese Rede und ihre geschichtliche Wahrheit zu entbinden. Bedenken wir: Jede Rede, die sich an einen anderen wendet, konstituiert sich auch von diesem anderen her. Gesetzt, ich werde beispielsweise nach der Lage einer bestimmten Straße gefragt, so werde ich einem Fragesteller, der diese Straße nicht kennt, sonst jedoch ortskundig ist, eine andere Erklärung geben als einem, der diese Stadt zum erstenmal besucht. Dieser vorgängige Bezug auf die Rede des anderen kann sich in der Arzt-Patient-Beziehung, die ja nur eine Besonderung dieses allgemeinen Verhältnisses ist, dann verhängnisvoll auswirken, wenn die seelisch-leibliche Not des Patienten lediglich, wie Bräutigam und Christian darlegten, auf »eine formale Reduzierung, und nosalogische Relativierung« 6 trifft. Wie hemmend im psychiatrischen Bereich eine streng nosalogische Orientierung sich auswirken kann, hat Janzarik gezeigt. So kommt er in seiner Studie über das »Kontaktmangelparanoid« zu dem Schluß: »Nur Denkgewohnheiten, nicht Befunde, stehen der Auffassung entgegen, daß unter den endogenen Psychosen keine wohldefinierten Krankheiten im medizinischen Sinne, sondern, unbeschadet möglicher Krankheitskomponenten, charakteristische psychopathologische Syndrome zu verstehen sind. Wieviel mehr noch als für die Psychosen muß eine solche Problematisierung für Neurosen und psychosomatische Störungen gelten. »Begegnet« der Patient nur solch eingefahrenen »Denkgewohnheiten«, wird er sich nicht a~f jenes, was ihn im Grund bedrängt, beziehen können ; er sieh~ sich vielmehr einem konfrontiert, der schon alles weiß und für den deshalb auch dieser andere keine Frage mehr darstellt .. Da dieser andere aber gleichwohl von der Sprache, die ihn hier verrechnet, sich mitkonstituiert findet, werden ihm deren Kriterien, Kriterien einer objektivierenden. Schematik, auch zu Grenzmarken der eigenen Identi254
tät. Ohne Zweifel konnte Bre:uer !ieiner Patientin-er gab ihr den Namen A.nna 0. - deshalb zu einer persönlichen Sprache verhelfen, weil er zuvor auf die Applikation eigener wissenschaftlicher Vorurteile verzichtet hatte. Es war nicht dieses Wissen, das erkennen ließ, was hier eigentlich zwischen Arzt und Patient sich ereignete ; es war vielmehr die Patientin, die hier ein Ohr zu hören hatte, es war ihre »Naivität«, die sie für diese ungewöhnliche Therapie den Namen »talking eure« finden ließ. Sie hatte das Geschehen, das sich zwischen ihr und Breuer entwickelt hatte, als »Sprachkur<< erkannt. . Freud interessierte sich, wie gesagt, sehr für diesen Fall u.nd die in ihm praktizierte Methode. Doch erst nach seinen Aufenthalten in Paris und N ancy und nach einigen Erfahrungen in der Behandlung von Neurotikern, die ihn sowohl das Versagen der herkömmlichen Verfahren wie Elektrotherapie, Massage und Bäder· lehrten als auch die lediglich vordergründige passagere Wirkung der hypnotischen Suggestion demonstrierten, kam er Ende der achtziger Jahre auf Breuers Vorgehen zurück. So schreibt er rückblickend in seiner »Selbstdarstellung«, daß er »außer der hypnotischen Suggestion eine andere Verwendung der Hypnose übte. Ich bediente mich ihrer zur Ausforschung des Kranken über die Entstehungsgeschichte seines Symptoms ... « ( GWXIV, 43). Freud mußte indessen bald konstatieren, daß er es nicht vermochte, alle Patie.nten ·in Hypnose zu versetzen. In dieser therapeutisch hoffnungslosen Lage erinnerte er sich, daß . Bernheim in Nancy einmal gesagt hatte, jenes, was der Patient in der Hypnose erlebe, sei nur scheinbar vergessen und könne jederzeit wieder in Erinnerung gerufen werden - der Arzt müs.se nur fest genug darauf beharren, daß der Patient es wisse. Freud vermutete, diese Erfahrung könne auch auf die in der Neurose vergessenen Erinnerungen zutreffefi. Er forderte deshalb 'die Patienten auf, ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Symptom zu konzentrieren und sich dann die Umstände ins Gedächtnis zu rufen, die seirie Entstehung verstehen lassen könnten. Hatte eine solche Auffassung keinen Erfolg, drückte Freud seine Hand auf ihre Stirn und versicherte, jetzt würden bestimmt einige Gedanken oder Erinnerungen kommen. Schließlich rückten die Patienten mit dem heraus, was ihnen in den Sinn gekommen war und fügten nicht selten hinzu: »Das hätte ich Ihnen schon beim ersten Mal sagen können.« Auf die Frage, weshalb sie es dann untel'255
schlagen hätten, kam dann: »Ich hab' mir nicht denken können, daß es das sein sollte.« (GW I, 281). Solche Bemerkungen veranlaßten ihn, darauf zu bestehen, jede Zensur zu unterlassen und alles mitzuteilen, was ihnen einfiele, gleichgültig, ob es unwichtig, nicht zur Sache gehörig oder unangenehm dünkte. Damit hatte Freud einen entscheidenden Schritt in Richtung der Entwicklup.g der sogenannten »freien Assoziation« getan. Zunächst neigte Freud allerdings noch zum Zureden, Stirnedrükken und. Befragen. Einmal warf ihm deshalb eine Patientin vor, er stör~_n;litseinen Fragen ihre Gedankentätigkeit. Er folgte diesem Wink und beschränkte sich im weiteren wesentlich auf das Zuhören. Die Methode der ~~freien Assoziation« war geboren, und so konnte er 1896 endgültig auf die Hypnose als therapeutisches Hilfsmittel verzichten. Es ist sicher kein Zufall, daß im gleichen Jahr der Ausdruck »Psychoanalyse« ·zum ersten Mal fällt. Das einzige, was vom Arrangement der hypnotischen Situation blieb, war die Couch. All~in ein Blick auf das damals entstandene setting der An~lyse - der Patient liegt auf der Couch, erzählt, der Analytiker sitzt, leicht abgewandt, hinter ihm, hört zu - genügt, um zu sehen, mit und in welchem Medium sich dieses Geschehen bewegt. Es ist das Medium des Wortes, das Medium der Spr~che. ln den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1917 lesen wir entsprechend: »In der analytischen. Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt.« (GWXI, 9). 1926 antwortet Freud in der Abhandlung Die Frage der Laienanalyse auf. die fi~tive Frage eines Unparteiischen, wa~ derm der Analytiker eigentlich mit dem Patienten mache: »Es geht nichts anderes zwischen ihnen vor, als daß sie miteinander reden. Der Analytiker verwendet weder· Instrumente, nicht einmal zur Untersuchung, noch verschreibt er Medikamente ... Der Analytiker bestellt den Patienten zu einer bestimmten Stunde des Tages, läßt ihn reden, hört ihn an, spricht dann zu ihm und läßt ihn zuhören«. »Die Miene unseres Unparteüschen«, fährt Freud fort, »verrät ... deutlich eine gewisse Geringschätzung. Es ist, als ob· er denken würde: Weiter nichts als das-? Worte, Worte und wiederum Worte, wie Prinz Harnlet sagt.« (GWXIV, 213 f.) Wer nun erwartet hätte, die Freudsche Erfahrung und Lehre begriffe sich als eine »Hermeneutik des Gesprächs« - eine Erwartung, die sich ja schon deshalb aufdrängt, da in jenem 256
Augenbli.ck, als Freud zu~ Nam.en >Psychoanalyse< fand, er sich aller suggestiven Methoden entschlagen hatte und dieses Geschehen nun ganz im Wort ansiedelte -, wer also jetzt eine Theorie der Psychoanalyse als »Sprachanalyse« - das Wort ist hier in einem sehr weiten Sinne zu verstehen - gewärtigt, wird schnell eines besseren belehrt. Wi.e der zur seihen Zeit konzipierte »Entwurf einer Psychologie« belegt, beherrschte Freuds Denken in jenen Jahren das Konzept, physiologische Veränderungen und das physikalisch Meßbare zur Grundlage aller psychologischen Erörterungen zu machen. Freuds Intentionen zielten ~lso keineswegs darauf ab, an die Stelle einer physiologisch fundierten medizinischen Betrachtungsweise eine vorzüglich psychologische oder gar hermeneutische treten zu lassen. So revolutionierend im Vergleich zum überkommenen neuro-psychiatrischen Befragungssetting das Geschehen der »talking eure«, das sich zwischen Breuer und Anna 0. eingespielt hatte, auch erscheint, so traditionsgebunden blieb doch seine Erklärung als Abfuhrmöglichkeit eines eingeklemmten Affekts, blieb s.eine theoretische Explikation als kathartische Methode. Breuers wiederholte Versicherungen, nicht er, sondern die Patientin habe dieses Vorgehen provoziert, seine Manier., Termini, die dieses Vorgehen als ein Sprachgeschehen etikettierten, in Gänsefüßchen zu setzen, lassen sich auch wie eine Entschuldigung ob des Unseriösen an diesem Tun lesen. Im Aufsatz Freud und die Verfassung der klinischen Psychiatrie8 von 1936 führt L. Binswanger aus, wie der große Gedanke Freuds sich mit dem großen Gedanken der klinischen Psychiatrie treffe : in dem konsequenten Wagnis nämlich, den Menschen und die Menschheit aus dem »bios« zu erklären. Freuds Systematisierung des Seelischen in einen seelischen Apparat habe nicht hur jene Verbindung von Neurologie und Biologie der Funktion, die J ackson geschaffen hat, zur Voraussetzung, sondern spiegele auch in entscheidenden Anteil~n den rein naturwissenschaftlich konzipierten Apparatbegriff seines psychiatrischen Lehrers Meynert wieder. So sehr also die Entdeckungen, die Freud im Anschluß an Breuers Vorgehen machte, auf eine Umwälzung bisheriger Auffassungen drängten, so verpflichtet blieben sie gleichwohl dem herrschenden naturW-issenschaftlichen Erkenntnisrahmen. Noch 1938, wenige Monate vor seinem Tod, gab Freud im Abriß der Hoffnung Ausdruck, einmal mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen, 257
die allen psychischen Vorgängen im seelischen Apparat zugrunde liegen, direkt beeinflussen zu können. Diese Traditionsgebundenheit spiegeln auch Freuds theoretische Reflexionen über Sprache. Die das gesamte CEuvre durchziehende Unterscheidung zwischen unbewußten Sach- bzw. Objektvorstellungen und vorbewußt-bewußten Wortvorstellungen- Wortvorstellungen, die ihre Bedeutungen erst mittels Assoziation an jene über Wahrnehmungen gebildete Sach- bzw. Objektvorstellungen gewinnen - nimmt in nuce schon die Aphasiemonographie von 1891 vorweg. Es heißt hier: »Das Wort erlangt aber seine Bedeutung durch die Verknüpfung mit der >Objektvorstellung< ... Die Objektvprstelhmg selbst ist wiederum ein Associationskomplex aus den verschiedenartigsten visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Vorstellungen.« 9 Freud steht hinsichtlich seines Verständnisses von Sprache ganz in einer empiristischen Tradition, der sein Zeitgenosse Pawlow nicht weniger zugehörte. Pawlow faßte Sprache als ein sekundäres Signalsystem auf, das bereits ein ihm vorgängiges, in den assoziativen Mechanismen des bedingten Reflexes gebildetes Signalsystem zur Bedingung hat. Es ist verblüffend, wie sich in dieser Reduktion der Sprache auf etwas, das zu einer bereits gemachten Erfahrung· sekundär hinzukommt, der Empirismus mit seinem großen Gegenspieler, mit jener philosÖphischen Tradition nämlich konform geht, die wir die idealistische bzw. transzendentalphilosophische nennen können - eine Tradition, die so sehr von der ständig in der Sprache sich vollziehenden Idealität fasziniert war, daß sie, da nur vom Eidetischen her messend, Sprache als einen Gegenstand begriff, der, wenn vielleicht auch nicht als entbehrlich, so doch als prinzipiell überholbar angesehenwurde. Ob das Wort, wie im 7. Platonischen Brief, nur die mangelhafte Präsentation der reinen Idee verkörpert 10 oder es entsprechend dem Sprachdenken eines Leibniz nur gebraucht wird, um eine Idee zu bezeichnen; ob es schließlich, wie bei Hegel, kraft einem unbeirrbaren Festhalten an der Priorität der denkenden Vernunft, zum vermittelnden, aber für sich bedeutungslosen Zeichen herabsinkt oder es schließlich in den »Logischen Untersuchungen« Busserls als bloßer Realisierungsfaktor eines an sich identischen Logos der Bedeutung erscheint, den es in seiner reinen Idealität von diesem Ausdruck abzulösen gilt- das Wort ist nur Zeichen und Hülle eines schon
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Vorgedachten, eines Vorge~ßten, das eine noetische Leistung schon je erbracht hat. Jürgen Habermas begreift in Erkenntnis und lnteresse11 Psychoana1yse als ein Geschehen der Selbstreflexion. Selbstreflexion ist als Bewußtmachung des Unbewußten zu verstehen. Im Verständnishorizont eines solchen Ansatzes ist beispielsweise jener von .uns skizzierte Übergang von der hypnotischen Technik zur Methode der »freien Assoziation« nicht aus therapeutischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen erfolgt, sondern aus der prinzipiellen Einsicht, daß die als therapeutisch folgenreich erkannte Erinnerung des Patienten zur bewußten Aneignung eines unterdrückten. Stücks der Lebensgeschichte zu führen habe: Freud habe die Breuersche Technik am Ende deshalb verworfen, weil die Analyse im Wesen eine Bewegung der Selbstreflexion sei eine Bewegung, als deren Instrument die Sprache fungiere. -»Es muß wohl die Ersetzung des Unbewußten durch Bewußtes, die Übersetzung des Unbewußten in Bewußtes sein, wodurch wir nützen«, könnte Habermas aus den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (GWXI, 451) zitieren. Habermas gebührt zweifellos das Verdienst, hier implizit auf eine oft übersehene Patenschaft für den Einsatz Freuds aufmerksam zu machen. Gewohnlich endet der Versuch, Freud einen Ort in der Geistesgeschichte zuzuweisen, mit der Feststellung, er sei ein durch das Filter der Brücke-Helmholtz-Schule gegangener später Nachfahre der Romantik und der Schopenhauerschen Willensphilosophie. Wenn Habermas die Psychoanalyse als eine Bewegung der Selbstreflexion beschreibt - und es gibt Stellen bei Freud, die dafür sprechen -:-, dann scheint hier ein genuin Hegelsches Moment Wirkungsgeschichte zu zeitigen. Es ist nun gerade dieser, wenn man will, idealistische Akzent, der die Kritik von Alfred Lorenzer herausforderte. Um der Gefahr idealistischer Verzerrungen zu entgehen, stellt Lorenzer die Psychoanalyse auf den Boden einer »materialistischen Hermeneutik«.12 Iin Lichte eines solchen Ansatzes erscheinen als der eigentliche Gegenstand psychoanalytischen Tuns und Forschens »bestimmte Interaktionsformen«. Kindliche Entwicklung verläuft von Anbeginn als praktische Einübung in Interaktionsweisen. Sie gewinnt ihre Form in stufenweiser, zunächst bewußtlos·. verlaufender Einigung zwischen kindlicher Natur ünd mütterlicher Praxis. Verfügt nun das Kind bereits über ein differenziertes 259
Repertoire zusammenhängender Interaktionsformen, kommt es dann im Zuge der Bildung von Bewußtsein zur Einführung von Sprache. Dieser Spracherwerb vollzieht sich als Benennung, Prädikation schon eingeübter Interaktionsformen. Die Interaktionsweisen, die nun die Mutter in dieses Interaktionsspiel einbringt, sind von objektiven gesellschaftlichen Prozessen bestimmt. Deformierte Praxis nun, die den verzerrten Interaktionsstruktu~en bestehender Verhältnisse folgt, produziert Einigung auf verzerrte Interaktionsformen, die, wie im Falle des neurotischen Konflikts, als persönliche Zuspitzung aktuell werden. Schließlich bleibt kein anderer Ausweg, als diese konfliktbeladenen, verpönten Interaktionsformen zu »desymbolisieren«, »Prädikation.« wieder rückgängig zu machen. Da dergestalt vom sprachlichen Diskurs und das heißt vom Bewußtsein ausgeschlossen, sind diese »verdrängten« Interaktionsformen auch in der Analyse nicht mehr sprachlich erfahrbar. Hierzu bedarf es vielmehr des Vorganges der »Übertragung«, der den Analytiker unmittelbar einbezieht und mittels der Akte eines »szenischen Verstehens« erfahren läßt - eines Verstehens, das, wie der Ubertragungsprozeß selbst, wesenhaft außerhalb der sprachlich konstituierten Beziehung der Partner sich vollzieht. So ergibt sich dann die Möglichkeit, dieexkommunizierten Interaktionsformen wieder erscheinen zu lass'en und zu resymbolisieren, sie also in den sprachlichen Konsens einzuholen und damit wieder ins Bewußtsein zu heben. Fähigkeit zur Selbstreflexion ist somit nicht, wie Habermas es darstellte, Voraussetzung des analytischen. Prozesses, sondern Resultat dieser Operation. Blenden wir kurz zurück : In Abhebung zum psychiatrischen setting, wie Freud es vorgefunden hatte, entwickelte sich . die Psychoanalyse als ein Vorgehen, das ganz im Gespräch angesiedelt ist. ,Ohne indessen weiter auf diesen ihren Ermöglichungsgrund »Sprache<~ zu reflektieren, unter- oder überbaute sie ihre Praxis mit einer traditionsgebundenen physikalistisch-empiristischen Theorie .. In diesem Lichte erscheinen die Worte als eine gewisse sekundäre Art von Vorstellungen, die ihre Bedeutung erst durch Assoziation mit Objekt- bzw.. Sachvorstellungen erhalten. Wenn im Empirismus die Sprache hinter die Wahrnehmung zurücktritt - der Physikalismus zäumt dieses Grundschema nur mechanistisch auf-, so reduziert die idealistische bzw. transzendentalphilosophische Tradition die Sprache zum bloßen 260
Ausdruck des reinen Gedankens, zum letztlich überholbaren Instrument des Denkens und der Reflexion. Eine Rezeptionshaltung nun; welche die Psychoanalyse als eine Bewegung der Selbstreflexion begreift, zieht zwangsläufig dem sprachlichen Ermöglichungsgrund dieses Geschehens zu enge Grenzen findet sich doch die Sprache letztlich zu einem Instrument geworden, das im Dienste der Selbstreflexion die Funktion der Bewußtmachung des Unbewußten zu erfüllen hat. Doch auch Alfred Lorenzer, der im Gegensatz dazu von einer mehr »materialistischen« Position aus argumentiert, verkürzt die .Sprache schon anfänglich um eine entscheidende Dimension, begreift. er doch menschliche Sozialisation zunächst als Einübung in sprachfreie Interaktionsweisen. Eirt gewisses Repertoire solcher lnterak~ tionsformen muß sich schon gebildet haben, ehe Sprache im nachhinein als Prädikator hinzutritt. ·Es ist dann nur folgerichtig, wenn die Neurose, sowohl hinsichtlich der Genese im Sinne der Desymbolisierung als auch hinsichtlich der Therapie, ermöglicht durch das den übertragungsprozeß nutzende szenische Verstehen, wesenhaft extralingual angesetzt wird. Wird, · ist grundsätzlich zu fragen, in der Kortzeption von Haberm~s, von ihm selbst »Tiefenhermeneutik<< genannt, wie auch in der »materialistischen Hermeneutik« Lörenzers, das eigentliche Medium des therapeutischen Geschehens nicht zu früh verlassen, das Medium der Sprache nämlich, das, wie Bräutigam und Christian betonten, den psychotherapeutischen Begegnungsraum umfaßt und. trägt ?13 »In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten ... «hatten wir von Freud gehört. »Der Laie<<, heißt es in dem wenig bekannten Artikel Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), »wird es wohl schwer begreiflich finden, daß krankhafte Störungen des Leibes und der Seele durch >bloße Worte< ... beseitigt werden sollen. Er wird meinen, man mute ihm zu, an Zauberei zu glauben.« (GWV, 289) Begegnet in der therapeutischen Situation also ein »Witch doctor< Bleiben zur Explikation der Wirkungsweise von Sprache im analytischen Prozeß, gesetzt, man verläßt nicht vorschnell ihren Bereich, nur Charakteristika des Magische~ ? Indessen - wir hatten darauf hingewiesen, daß Freud gerade diese Methode »Psychoanalyse« nannte, die er, nach dem völligen Verzieht auf suggestive Arrangements, ganz im Gespräch ansiedelte. Was bedeutet es also, daß es zur Realisie261
rung einer Analyse nur der Worte . bedarf ? Daß hier das szientistische Selbstmißverständnis Freuds nicht weiterhelfen kann, ist spätestens seit der Kritik, die Habermas und Lorenzer geübt haben, eine Selbstverständlichkeit. Aufgabe einer zeitgemäßen Theorie. psychoanalytischer Therapeutik kann deshalb nur sein, in und hinter allem Bio-Physikalismus den hermeneutischen Grundzug freizulegen - ein Grundzug freilich, der auch voll der Grundvollzugsweise dieses Geschehens Rechnung trägt. Die psychoanalytische Theorie Jacques Lacans, die unseren Überlegungen mit Pate . steht, hat hier zweifellos neue Horizonte eröffnet - und das auch dann, wenn sie sich der Etikettierung als »Hermeneutik« verweigert. 14 Worauf gründet also die analytische »Operation«, wenn ihre Grundvollzugsweise das Gespräch ist? »Man versteht«, hatten wir zitiert, »die Psychoanalyse immer noch am besten, wenn man ihre Entstehung und Entwicklung verfolgt.« Spüren wir im ·Blick auf unser Thema also weiter dem Erfahrungsweg Freuds nach. Im Zusammenhang seiner Selbstanalyse, die Jones entsprechend etwa ab 1897 anzusetzen ist, drängte sich Freud in wachsendem Maße die Trauminterpretation als die Methode'auf, die zu jenem »anderen Schauplatz« führte, den er das Unbewußte nannte. Die Träume präsenti~rten 11ich gleich zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen. Der manifeste, bewußte Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der latenten, unbewußten Traumgedanken zu übertragen sind. Freud beschreibt hier nicht nur den Traum in Analogie zu einem linguistischen Modell, er spricht vielmehr ausdrücklich von den. Traumgedanken, die ja das Unbewußte konstituieren, als von einer Art Sprache. So ist es nicht erstaunlich, wen1,1 Freud die Sprache des Traums mit den altägyptischen Hieroglyphen in Verbindung bringt. In der Schrift Das Interesse an de.r Psychoanalyse, die der Linguistik einen eigenen Paragraphen widmet, heißt es dementsprechend: »In der Tat ist die Deutung eines Traumes durchaus analog der Entzifferung einer alten Bilderschrift, wie der ägyptischen Hieroglyphen.« ( GW VIII, 404) Analog zur Entzifferung der Hieroglyphen sind die im Traum erscheinenden Bilder nicht in ihrem unmittelbaren Bildwert· zu verstehen, sondern nach Art eines Rebus gewissermaßen als »Phoneme« zu lesen, die nur im ganzen eines Textes eine sinngebende Funktion erfüllen können. 15 262
Am 22. 9. 1898 berichtet Freud in einem Brief an Fließ über _ein Beispiel von Namenvergessen :. »Den Namen des großen Malers, der das Weltgericht in Orvieto gemacht hat, das Größte, was ich bisher gesehen, konnte ich nicht finden und dafür trat Botticelli, Boltraffio ein, mit der Sicherheit des Unrichtigen. Endlich erfuhr ich den Namen: Signorelli und wußte aus Eigenem sofort den Vornamen: Luca als Beweis, daß es nur ein Verdrängen, kein echtes Vergessen war. Es ist klar, warum sich Botticelli vorgeschoben, das Verdrängte war mir Signor, das doppelteBin den beiden Ersatznamen findet seine Aufklärung in der zur Verdrängung wirksamen Erinnerung, deren Inhalt in Bosnien. spiel~ und mit einer Rede, Herr, was läßt sich da machen? ;1nfängt. Ich verlor den Namen Signorelli auf einem kleinen Ausflug in derHerzegowina, den ich von Ragusa aus mit einem Berliner Assessor (Freyhau) machte, mit dem ich unterwegs auf Bilder zu sprechen kam. In dem Gespräch, das also als verdrängend dahinter erinnert wurde, .handelte es sich um Tod und Sexualität. Die Silbe Trafio ist wohl Anklang an das auf der ersten Reise gesehene Trafoi! Wem soll ich das nun glaubwürdig machen ?« 16 Was Freud hier entfaltet, ist nicht nur Psychoanalyse als vollendete Sprachanalyse im Sinne synchronischer Sprachbetrachtung, die Auflösung des Phänomens Namenvergessen erÖffnet zugleich eine historische Dimension von Sprachlichkeit, läßt dieses Phänomen selbst als Resultante der Interferenz von--., aktuellen und »verdrängten« Gesprächen verständlich werden. So ist auch die »Silbe Trafio«, die hier auf Trafoi anspielt, nicht, wie Freud hier noch meinte, ohne einen solchen diachronischen Bezug zu einem »vergessenen« Diskurs. Wie die Wiederaufnahme dieses Beispiels zu Beginn der Psychopathologie des Alltagslebens zeigt, hatte er wenige Wochen zuvor in .Trafoi die Nachricht erha,lten, daß ein Patient, dem er· lange im therapeutischen Gespräch verbunden war, einer sexuellen Störung wegen seinem Leben ein Ende gesetzt habe. Es scheint, daß in unser bewußtes Sprechen, in unsere alltäglich gebrauchten Worte, plötzlich Reden und Gespräche hineinspielen, um die wir nicht wußten oder die wir längst abgetan glaubten. · · ·Sieben Jahre nach der ersten Erwähnung des Signorelli-Beispiels publizierte FJ;'eud die Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Betrachten wir hier beispielsweise eines jener »doppelbödigen« Histörchen um die jüdischen Heiratsvermittler. 263
»Der Bräutigam macht mit dem Vermittler den erst~n Besuch im Hause. der Braut, und während sie im Salon auf das Erscheinen der Familie warten, macht der Vermittler auf einen Glasschrank aufmerksam, ·in welchem die schönsten Silbergeräte zur Schau gestellt sind. >Da schauen Sie hin, an diesen Sachen können Sie sehen, wie reich diese Leute sind.<- >Aber<, fragt der mißtrauische junge Mann, >wäre es· denn nicht möglich, daß diese schönen Sachen nur für die Gelegenheit zusammengeborgt sind, um den Eindruck des Reichtums zu machen?< - >Was fällt Ihnen ein?< antwortete der Vermittler abweisend. >Wer wird denn den Leuten was borgen!<« (GWVI, 68) Das mühevoll geknüpfte Gewebe der Überredung zerreißt ,mit einem Schlage durch dieses zuletzt genannte Argument, das ja offensichtlich nur darauf abzielt, die Logik bewußter Intention fortzusetzen. Was oberflächlich als Dummheit, als »Unsinn« impori.iert, ist im Grunde ein »witziger Unsinn«, hat einen Sinn. »Geht es nicht vielniehr so. ZU«, kommentiert Freud, »daß der Witz die Vermittler nur vorschiebt, um etwas Bedeutsameres zu treffen, daß er, wie das Sprichwort sagt, auf den Sack schlägt, während er den Esel meint?« (GWVI, 115) Wenn der Rede des Vermittlers »die Wahrheit gleichsam automatisch entwischt«, decouvriert sich nicht nur de:ssen Gehabe, sondern das. ganze lächerliche Arrangement der hier Beteiligten. Ein. in gängigen Signifikationen sich bewegendes Gespräch findet sich durch das Spiel der Sprache selbst hintergangen :- einer Sprache, die immer noch mehr sagen kann, als die sie Gebrauchender;t zu sagen vermeinen und zu sagen bestrebt sind. Was uns Freud als »Traumdeutung«, »Psychopathologie des Alltagslebens« und als Analyse des Witzes vorführt, ist - und dieser Ausdruck ist wörtlich zu nehmen - eine »Rhetorik des Unbewußten«. Unabhängig von allem szientistischen überhau wächst sich die von Anna 0. inaugurierte Erfahrung der »talking eure« langsam zu einer differenzierten Hermeneutik aus. Hermeneutischer Bemühung geht es ja gerade um jenes, »was«, wie Gadamer ausführt, »in aller menschlichen Weltorientierung als das >atopon<, das Seltsame begegnet, das sich in den gewohnten Erwartungsordnungen der Erfahrung nirgends unterbringen läßt.« 17 Sicherlich spielt im therapeutischen Prozeß auch heute noch die Deutung von Träumen eine zentrale Rolle, und sicherlich wird hier die Interpretation von Fehlleistungen nicht minder einbezo264
gen, und endlich kann auch mal ein Witz »klärend« wirken. Wie verhält es sich nun aber um das Symptom im eigentlichen Sinne, um die .Krankheitserscheinungen, die ja den Patienten überhaupt erst zur Kur nötigen? Soll nicht einfach eine dunkle Beschwörungsformel schamanesker Technik die Phänomene wegzaubern, bedarf es auch hier der Begründung einer inneren Beziehung zwischen dem manifest Gegebenen bzw. dem aktuellen therapeutischen Gespräch und der Entstehungsgeschichte18 dieser Symptome. Wie steht es also um die Krankheitserscheinungen, wie sie · , beispielsweise Anna 0. bot? · Die ältere Psychopathologie hatte, wie Peters darlegt,. die Systematik der Psychatrie »streng nach den Vorbildern einer naturwissenschaftlich-positivistischen Medizin zusammengestellt.«19 Entsprechend der hier herrschenden »nosologischen Intention« 20 wurden die einzelnen Symptome als unmittelbarer Ausdruck eines fraglos organisch begründeten Morbus begriffen. Bewegt sich, müssen wir zunächst fragen, Freud nicht in demselben Erkenntnisrahmen, wenn er im Falle der Anna 0. von dem klassischen Bild der Hysterie spricht, wenn er die Genese der somatischen Symptome als Konversion libidinöser Energie in somatische Innervation begreift und umgekehrt deren Ver..: schwinden als Energieabfuhr eines eingeklemmten Affekts expliziert? Sehen wir indessen näher zu. Ehe Freud seinem Freunde Fließ das Signorelli-Beispiel mitteilte, berichtete er ihm einige Wochen zuvor vom Vergessen des Eigennamens »Mosen«. Mosen ist der Dichter des Andreas-Hofer-Liedes. Ohne näher auf Einzelheiten einzugehen, schreibt Freud: »Nun gelang es mir nachzuweisen, 1. daß ich den Namen Mosen wegen gewisser Beziehungen verdrängt habe, 2. daß in dieser Verdrängung infantiles Material mitgewirkt, und 3. daß die vorgeschobenen Ersatznamen aus beiden Materialgruppen wie Symptome entstanden waren.« 21 Freud setzt also ausdrücklich die Formation des Namenvergessens mit der Symptombildung in Analogie. Für uns hat dies zu bedeuten: Die Entstehung eines Symptoms ist nach Art der Entstehung einer Fehlleistung zu verstehen. Das Vergessen des Namens Signorelli hatte gelehrt, wie ein Gespräch plötzlich Widerhall in einer verdrängten Thematik finden und so die Rede zu einer gebrochenen werden konnte. Es ist dieses verwirrende Ineinanderspielen von aktuellem und gewesenem Gespräch im Symptom, sei es krankhaft oder »normal«, das 265
Freud mit dem Begriff »überdeterminierung« anschnitt. Ein im unbewußten Gedächtnis bewahrtes Element von einer vergangenen, aber privilegierten Situation findet Aufnahme i111 aktuellen Gespräch zur Artikulation der aktuellen Situation. Es sieht sich unbewußterweise als ein, wie Lacan sagt, »element signifiant<~ verwendet, das im Falle des somatischen Symptoms eine Spur, ein Merkmal in die gelebte Unbestimmtheit des Leibes einschreibt und ihn so zu einer tendenziösen Bedeutung moduliert. Wie sich ein solches »Konditionalgeflecht« bei. der Symptomatik des Zwanges ausmacht, habe ich andernorts an der Pathographie des »Rattenmanns« zu zeigen versucht. 22 Diese Explikation des Begriffes >> überdeterminierung« als eine Interferenz von Gesprächen scheint allerdings danri unhaltbar zu werden, sobald es um jene Determinante geht, die Freud mit dem Ausdruck »infantiles Material« bezeichnete. Im Bestreben, die Erinnerungen der Patienten zurückzuverfolgen, beobachtete Freud, daß sie nicht - wie wir oben sahen- beim Ausgangspunkt des Symptoms, beim· »veranlassenden Erlebnis« haltmachten, sondern in einer fortlaufenden Assoziationskette bis zur frühen Kindheit zurückgingen. Wie steht es nun aber, i:st jetzt zu fragen, um die Sprachlichkeit, wenn die eigentlich pathogenen Ereignisse, die »Üriginalvorfälle«, zu einer. Zeit spielten, die offensichtlich vor dem Spracherwerb anzusiedeln ist? Müssen wir hier nicht Lorenzer folgen, der originäre Sozialisation, originäre Erfahrung von Geschichte, in ein vorsprachliches Stadium des reinen Interaktionsspiels zwischen Mutter und Kind verlegte? Wir hatten oben die These aufgestellt, jene von Anna 0. inaugurierte »talking eure« habe entgegen den szientistischen Selbstmißverständnissen Freuds eine bestimmte Eigengesetzlichkeir23 entwickelt, die schließlich in einer allgemeinen Hermeneutik des Unbewußten gipfelte. Als einen Beleg für diese objektivistische Fehlinterpretation bemühten wir u. a. den Entwurf einer Psychologie von 1895. Es wäre nicht uninteressant, diesen unseren methodischen Zugang zur Freudschen Psychoanalyse nun auch auf diese Abhandlung in ihrer Gesamtheit anzuwenden. Beschränken wir uns auf eine in unserem Zusammenhang besonders relevante Stelle. Diese Stelle erscheint uns vor allem deshalb wichtig, ..weil Freud hier ausdrücklich auf die Sprache zu sprechen kommt. Sprache erscheint zunächst als »Sprachabfuhrzeichen«; sie dient
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in der Form des Schreis dazu, gewisse Quantitätsschwankungen im seelischen Energiehaushalt zu regeln. Diese rein biologistisch begriffene Sprachabfuhrbahn des Schreis gewinnt nun eine entscheidende Sekundärbedeutung. Es finden sich nämlich bei diesen ersten Schritten menschlicher Entwicklung Objekte, »die einen schreien machen, weil sie Schmerz erregen und es stellt sich als ungeheuer bedeutsam heraus, daß diese Assoziation eines Klanges .... mit einer sonst zusammengesetzten Wahrnehmung dies Objekt als feindliches hervorhebt und dazu dient, die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung ZU lenken. Wo man. sonst vor Schmerz keine guten Qualitätszeichen des Objektes erhielt, dient die. eigene Schreinachricht zur Charakteristik des Objektes.« 24 Indem also der Schrei das Objekt mit einem Qualitätszeichen ausstattet, es charakterisiert, erscheint es als solches. Es braucht nun nicht viel, fährt Freud wenig später fort, um die Sprache zu erfinden. Sprache als Medium fundamentaler Distanzierung von einer gelebten und erdrückenden Unmittelbarkeit, wie sie Freud im Schmerz erfahren läßt, bringt das Seiende als solches zum Vorschein. 25 Im Ausgang vo·n diesen Überlegungen gelangt Freud schließlich zur Folgerung, daß in dem Maße, in dem das Kind vom anderen Sprachbilder, das heißt Worte, zugesprochen erhält, es etwas über die Prozesse, die in ihm ablaufen, erfährt. Mit anderen Worten: Da die Mutter als primordiales Objekt in ihrer Beziehung zum Kind nicht außerhalb ihrer schon immer sprach~·. lieh vermittelten Praxis stehen kann, sind auch die Interaktionsformen, die sie mit ihm einübt, je schon symbolisiert, sprachlich reguliert. Die Mutter begegnet von vornherein als Repräsentant symbolischer Ordnungen. Eine Trennung zwischen sprachfreien, unbewußten Interaktionsformen und bewußten, sprachlich vermittelten Handlungen, wie sie Lorenzer durchführt, läßt sich deshalb nicht aufrechterhalten. 26 Sprache im Sinne von Einübung systematisierender Artikulation ist von Anfang an da. Hier bietet zweifellos der strukturalistische Ansatz durch seine Reduktion der Sprachbestandteile auf eine Struktur differentieller Elemente Verstehensmöglichkeiten, die das herkömmliche Verständnis· von- · Sprache, das zu sehr am Wort klebte, überschreiten. 27 Die Bindung der Sprache an reflexives Denken und Bewußtsein, wie wir sie in den Konzeptionen vori Habermas und Lorenzer,. aber auch schon. bei Freud antreffen, sofern die obengenannten Wortvorstellungen dem System Vorbewußt-Bewußt vorbehalten 267
sind, verkürzt Sprache um die entscheidende Dimension. Machte nicht gerade die hypnotische Methode die Fragwürdigkeit eines Ansatzes deutlich, der die Bewußtmachung zum alles entscheidenden Kriterium aufwertet? In der Hypnose geschieht nämlich eine fundamentale Dissoziation zwischen. Verbalisierung und Bewußtwerden. Sie läßt erkennen, daß es allein des »Wortwerdens« bedarf, um den (wenn auch zumeist nur kurzfristigen) Heilungserfolg herbeizuführen. Ihre Art somnambulen Zustandes gestattet es - allein der Fall Anna 0. ist hier Beleg- eine Rede zu ~ntbinden, die unabhängig vom reflexiven Zugriff, ohne Bewußt- und Wachsein spricht,- eine Rede freilich, dietrotzdes suggestiven Arrangements in ein Gespräch eingebettet ist. Es ist ja bezeichnend, daß selbst die Habermassche Reduktion genötigt ist_'- $prache als etwas anzusetzen, das die bewußte Ebene transzendieren muß - wie anders sollte sie sonst ihrer Aufzugsfunktion der Bewußtmachung gerecht werden. Wenn es Aufgabe des analytischen Gesprächs ist, den Patienten zur Erkenntnis seines Unbewußten, seiner Geschi_chte zu führen, so vermag es dies nur, weil die so erinnerten Szenen je schon auf der Bühne eines sprachlich strukturiertenUnbewußten spielten. 28 So kann in der »Übertragung« auch nur jenes erscheinen, das schon symboli~iert i~t, lediglich in diesem Augenblick aber aus Gründen des Widerstandes nicht verbalisiert, sondern inszeniert und agiert wird. Die Rede der »Entbergung« stockt in dieser aktuellen Situation, gerinnt gewissermaßen an diesem Gegenüber, um "- ·in Lacans Terminologie - auf die »imaginäre Ebene« überzuschwenken. 29 Aufgabe · des analytischen Dialogs ist es, diese zunächst noch »inszenierte Wahrheit«- und dies gilt nicht minder für das Symptom selbst - in das Wort einzuholen. Eine solche »Bergung« ist aber nur möglich, weil die hier ins aktuelle Wort kommenden imaginären Fixierungen infantiler Konfliktsituationen sich je schon vom Symbolischen durchwoben finden. Nur weil wir vom Symbolischen her leben und uns in ihm humanisieren, schon immer »ein Gespräch sind«, kann sich auch die geschichtliche Wahrheit der konflikthaften Originalvorfälle im Medium der symbolischen Beziehung der psychotherapeutischen Situation enthüllen. Nur weil die Anfänge mit den aktuellen Bezügen je schon »kommunizieren«, ist auch Psychoanalyse möglich. Man unterschätzt die Weite der sprachlichen Selbst- und Weltkonstitution, wenn man den Neurotiker qua Neurotiker
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außerhalb dieser Mitte unseres In-der-Welt-Seins stellt - ist doch das menschliche Sozialleben, an dem er krankt, in »letzter Formalisierung«, w1e Gadamer sagt, »eme Gesprächsgemeinschaft ...<< 30
Anmerkungen 1 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, London 1940-1952. In neuer Auflage bei S. Fischer, Frankfurt/Main (im Text als GW zitiert) 2 Ernest Jones, Leben und Werk von Sigmund Freud, Bern und Stuttgart 1960, Bd. I, S. 264 ff. 3 Sigmund Freud und Joseph Breuer, Studien über Hysterie, Frankfurt/ Main 1970, S. 24 4 A.a.O., S. 30 5 A.a.O., S. 40 6 W alter Bräutigam und Paul Christian, Wesen und Formen der psychotherapeutischen Situation. In: .Grundzüge der Neurosenlehre in 2 Bänden, München-Berlin-'-Wien 1972, Bd. II, S. 838 7 Werner Janzarik, Ober das Kontaktmangelparanoid des höheren · Alters und den Syndromcharakter schizophrenen Krankseins. In : Nervenarzt44 (1973), S. 524 8 Ludwig Binswanger, Freud und die Verfassung der klinischen Psychiatrie (1936). In: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. li: Zur Problematik der psychiatrischen Forschung und zum Problem der Psychiatrie, Bern 1955, S. 81 ff. 9 Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien, Leipzig und Wien 1891, s. 79 f. 10 Die Praxis des sokratisch-platonischen Dialogs impliziert allerdings ein tieferes Verständnis von Sprache. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 344 ff. 11 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main 1968 12 Vgl. Alfred Lorenzer, a) Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Fr':mkfurt/Main 1972
b) Ober den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, Frankfurt/Main 1973 c) Sprachzerstörung und Rekonstruktion, (Taschenbuchausgabe), Frankfurt/Main 1973 13 Walter Bräutigam und Paul Christian, Wesen und Formen, a.a.O., s. 835 ff. 14 Jacques Lacan, Ecrits, Paris 1966; dt.: Schriften !, Frankfurt/Main 1975. Schriften /1, Olten-Freiburg 1975. Vgl. auch: Hermann Lang,
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Die Sprache und das Unbewußte, Frankfurt/Main 1973. Zielpunkt dieser Verweigerung ist die im Lichte einer sprachstrukturalen Grundlegung zu eng angesetzte psychoanalytische Hermeneutik Paul Ricceurs. (Paul Ricceur, De l'interpretation - essai sur Freud, Paris 1965; dt.: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/ Main 1969) Vgl. Hermann Lang, Die Sprache, a.a.O., S. 115 f. Sigmund Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Frankfurt/ Main 1962, S. 227 · Hans-Georg Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. In: Kleine Schriften I, Tühingen 1967, S. 118. Hinsichtlich des Ortes psychoanalytischer Therapeutik im Rahmen einer psychiatrischen Hermeneutik vgl. Hubert Tellenhach, Hermeneutische Akte in der klinischen Psychiatrie. In: Salzburger Studien zur Philosophie, Bd. 9 »Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft«, Salzburg und München 1971 Zum Geschichtsbegriff der Psychoanalyse vgl. Hermann Lang, Geschichtlichkeit des Daseins oder Entwicklung des Soma ? Oberfegungen zum wissenschaftlichen Standort der Psychoanalyse. In: Leib Geist Geschichte. Festschrift für H. Teilenbach (Hrsg. A. Kraus), Heidelberg 1978, S. 121-138 Uwe Henrik Peters, Interpretation als psychopatho/Qgische Methode. In: Psychiatria Clinica 6 (1973), S. 85 Werner Janzarik, Schizophrene Verläufe. Eine strukturdynamische Interpretation, Berli,n-Heidelberg-New York 1968, S. 1 Sigmund Freud, Aus den Anfängen, a.a.O., S. 225 Hermann Lang, Zur Frage sprachlicher Grundbedingungen psychischer Erkrankung. In: Die Sprache des Anderen (Hrsg. G. Hoferund K. P. Kisker). Bibliotheca Psychiatrica No. 154, Basel-New York 1976, s. 17-23 Lorenzer spricht in ähnlichem Zusammenhang von »Eigendynamik« ohne allerdings, wie wir andeuteten, diesen Weg,"der von der »talking eure« seinen Ausgang nahm, ganz zu End'e zu gehen. Vgl. Alfred Lorenzer, Ober den Gegenstand, a.a.O., S. 36 Sigmund Freud, Aus den Anfängen, a.a.O., S. 365 »Die Sprache«, heißt es bei Heidegger, »ist nicht nur ein Werkzeug, das der Mensch neben vielen anderen auch besitzt, sondern die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen.« Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung. In: Erläuterungen. zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/Main 1963, S. 35 Das Verhältnis von Interaktionsformen und Sprachsymbolen_stellt sich in den bahnbrechenden Arbeiten Lorenzers komplexer dar, als es hier vielleicht scheinen mag. Diese Problematik findet sich pointiert in
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den Antworten ge~piegelt, .die Lorenzer in der »Einleitung zurTaschenbuchausgabe« von Sprachzerstörung und Rekonstruktion auf Bedenken gegeben hat, die ich in Die Sprache und das Unbewußte hinsichtlich der Konzeption eines sprachfreien Es mit entsprechenden Konsequenzen für den Geschichtsbegriff geäußert hatte. Um hier· wiederum adäquat antworten zu können, müßte nicht nur der Ansatz beim Sprachspielkonzept Wittgensteins, sondern vor allem auch die Sozialisationstheorie, wie sie in »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie« und späteren Arbeiten entwickelt wurde, im Detail diskutiert werden. Eine solche Diskussion würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Sie muß einer späteren Studie vorbehalten ble~ben. Daraus freilich, daß Lorenzer an einer prinzipiellen Trennung festhalten .muß, folgert allein schon der neurosenexpli; · kative Ansatz- ist Verdr~gung doch ausdrücklich als Desymbolisierung, Exkommunikation aus Sprache, definiert. Vgl. zu dieser Fragestellung auch das 7. Kapitel in: Alfred Lorenzer, Sprachspiel und Interaktionsformen, Frankfurt/Main 1977 Vgl. hierzu· Hermann Lang, Zum Strukturbegriff der Psychoanalyse. In; Maurice Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften (Hrsg. R. Grathoff und W. Sprondel), Stuttgart 1976, s. 153-166 Erst die Sprache, sagt Heidegger im bereits zitierten Aufsatz, »leistet Gewähr, daß der Mensch als geschichtlicher sein kann.« Im Hinblick auf ein sprachlich oder zumindest sprachanalog verfaßtes Unbewußtes sei nur an die oben skizzierte .>>Rhetorik« erinnert. Zum Verhältnis von Agieren und Sprache vgl. auch Hermann lang, Acting out et .Iangage dans Ia nevrose et Ia psychose. In: Les feui!lets psychiatriques de Liege 9/3 (1976), S. 293-301 Hans- Georg Gadamer, Replik. In: Hermeneutik und Ideologiekritik (mit Beiträgen von Apel, Bormann, Bubner, Gadamer, Giegel, Habermas), Frankfurt/Main 1971, S. 289
·Erich Seeberg Zum Problem der pneumatischen Exegese I. Es ist nicht bloß die Reaktion gegen den Historismus, die sich in der Forderung einer pneumatischen Bibelexegese auswirkt, wie sie heute häufig erhoben und zugleich auch in die Tat umgesetzt wird; dazu kommt ein dogmatisches und seelisches Bedürfnis, das nicht nur auf die Theologie beschränkt ist, sondern das auch in der gesamten G,eschichtswissenschaft nachgewiesen werden kann. Die expressionistische Philologie und Historie befolgt eine Methode der Auslegung, die der pneumatischen in der Theologie ziemlich genau entspricht; die Ausdeutung der großen Gestalten der Geistesgeschichte in lebendige Weltanschauung hinein, das Verständnis ihrer Ewigkeit als des fruchtbaren Mythos, das Produktivmachen der Geschichte für das eigene, sich an ihr entzündende Denken,· all das beruht auf einer exegetischen Methöde der Formung und Gestaltung, nicht der· Kritik und der Abbildung. Dabei zeigt sich der 'Zusammenhang mit dem historischen .Zeitalter darin, daß das Denken unserer Zeit sich im selbständiger und freier Spekulat~on, und allgemeinen nicht nicht einmal in logischer Bearbeitung der Begriffe, sondern gerade in Anlehnung an die durch Umdeutung fruchtbar gemachte Geschichte entfaltet. Hinter .dem Ganzen steht eine doppelte Skepsis und ein einfacher Glaube ; eine eigentümliche Verbindung, die für den sich umbildenden Wissenschaftsbegriff überhaupt charakteristisch ist. Man ist ja längst davon überzeugt, daß die Ermittlung geschichtlicher Wirklichkeit über die eine Idee betreffende Wahrheitsfrage keineswegs entscheidet; auch nicht in der christlichen Religion, deren originales Problem das Verflochtensein von Glauben und Geschichte auf ihrem Grund darstellt. Aber auch die geschichtliche Wirklichkeit selbst entzieht sich in einem bestimmten Sinn dem Begreifen durch die Historie; es ist nicht möglich zu. sagen, wie es wirklich gewesen ist. Denn was die Historie erfassen kann, das ist nicht das nackte Geschehen, welches sich aus einer chaotischen Fülle von Einzelheiten zusammensetzt, sondern lediglich die Deutung, die sich dies Geschehen selbst gibt durch den Sinnzusammenhang, in den
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es hineinwirkt, und die dann in neuer Formung sich in dem literarischen Niederschlag ausdrückt, den das Geschehen findet. Nur .das Sinngewordene können wir also erkennen, während das formlose Geschehen die eigentliche Grenze des geschichtlichen Erkennens ist. Man ist auch davon überzeugt, daß die Historie und die ihr den Weg bereitende Magd, die Exegese, nicht imstande ist, die Seele gar einer vergangeneo Kultur kritischwissenschaftlich zu verstehen, jene Seele, in der sich der objektive Geist immer wieder verleiblicht. Selbst wenn man eine dialektische Bewegung der zeitlosen Ide~n anzunehmen .vermag, die jenseits des individuellen Lebens sich vollzieht, so bleibt eben der seelische Ausdruck dieser Ideen späteren Interpreten aus anderen Nationen und Kulturen nur in der formenden Umdeutung durch das eigene Denken und Erleben zugänglich. Und damit ist das Positive schon berührt; es ist der Glaube an die schöpferische Macht der Gestaltung durch das eigene Ich, die den Geist der Geschichte lebendig macht. Diese keineswegs willkürliche Formung ist nötig, nicht bloß weil nicht alle Teile der Geschichte durchlaufen werden könnep, sondern auch deshalb, weil U ngeformtes überhaupt nicht angefaßt werden kann. Auf die historischen Zusammenhäng~ dieser Gedanken - Simmel, Dilthey, Hege!, Leibniz, die mystische Mikrokosmosidee - will ich hier nur hinweisen 1• Hier liegt die eine, subjektive, Wurzel der pneumatischen Exegese und zugleich die eine Voraussetzung ihrer Möglichkeit ; die höchste Subjektivität ist das Mittel, um das wahrhaft Objektive schöpferisch zu erfassen ; und das, was hier erfaßt wird, ist nicht das Individuelle, sondern das Zeitlose und Wertvolle, der Geist und die Idee. Ich brauche dabei kein Wort darüber zu verlieren, daß hier wie in jeder Geschichtsschreibung die Bedürfnisse und Fragen der eigenen,. freilich wieder geschichtlich bedingten, Seele die Auswahl der darzustellenden Probleme, aber eben auch qie Formung der geschichtlichen Erscheinungen, bestimmen. Doch es gilt, nun auch den objektiven Anknüpfungen der pneumatischen Exegese aufzudecken, d. h. ihre Verwurzdung in dem eigentümlichen Charakter der großen literarischen Schöpfungen überhaupt. 2
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IL Das Grundproblem jeder Exegese ist die Frage, wie es möglich ist, Fremdseelisches zu verstehen. Ich will hier die verschiedenen, einschneidenden Fragen nicht erörtern, bzw. sie nur streifen, wobei ich an die Problemgruppen denke: Begreifen und Erklären; V erstehen und Erleben3 ; Wort, Satz und Sinn; Person und Inhalt ; A~sicht und Geist. Wir nennen Verstehen »den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen. 4 Möglich ist das Verstehen des Fremdseelischen nur durch die Beziehung des Erkennenden und des Erkannten au~ ein gemeinsames Drittes, das in beiden lebendig ist. Irgendwie muß eine Identität oder Korrespondenz von Subjektivem und Objektivem angenommen werden, wie sie durch die Beziehung beider auf das Alleben oder durch ihre Verbindung mit ihm möglich ist. Verstehen und Zusammenhang gehören zusammen5 ; nur aus dem Gleichen kann das Fremde erkannt oder besser erschaut werden. Für die historische Interpretation ergibt sich hieraus zunächst die methodische Pflicht, gerade im Hinblick auf die letztlich bestehende Gemeinsamkeit, sich die Distanz und d~s Andersartige ihrer Gegenstände ,vor Augen zu stellen. Die Kritik ist so integrierender Bestandteil jeder Exegese. Sodann erhebt sich hier die Frage nach dem Charakter des Gemeinsamen, in dem sich der Exeget und das von ihm zu deutende Fremdseelische treffen. Wenn man von den formalen und psychologischen Gemeinsamkeiten absieht, so entsteht eine eigentümliche Schwierigkeit dadurch, daß der objektive Geist, das letztlich Gemeinsame, in wachsendem Werden lebendig ist und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Elemente an sich zieht oder aus sich heraussetzt. Auf das Problem der biblischen Exegese angewandt, heißt das, daß der Geist, aus dem der Exeget heute interpretiert, identisch ist mit dem Geist, aus dem heraus die zu verstehende Schrift geschrieben ist, und doch wieder von ihm durch die Fortentwicklung des Geistes selbst verschieden. Die historische Exegese kann daher zunächst nur den »indirekten« Weg des Erklärens und Begreifens gehen. Sie ermittelt den individullen Sinn des zu verstehenden und selbst doch auch schon deutenden Worts dm:ch das Eingehen in möglichst allgemeine und vielseitige Zusammenhänge·; je umfassender sie dabei vorgeht, um so mehr Chancen 274
hat sie, in das Gemeinsame einzudringen, aus dem heraus Verstehen möglich ist. Eben deshalb ist aber auch die logische Reproduktion einer Stelle aus ihrem Zusammenhang, die Heranziehung des archäologischen und kulturgeschichtlichen Materials, die religionsgeschichtliche. und religionspsychologische Vergleichung, die form- und stilgeschichtliche Betrachtungsweise usw. von so eminenter Bedeutung, um den Ausdruck. und seine Bedeutung für das Auszudrückende zu begreifen. Es gilt auch hier, daß das Einzelne nur indirekt aus dem Ganzen verstanden werden kanu"; und je stärker die Historie in dem Empfinden für die bistanz. die naive Deutung des Fremdseelischen aus der Analogie der eigenen Seele überwunden und nach »objektiver« Erkenntnis gestrebt hat, um so weiter mußte der Kreis gezogen werden, in den das einzelne gestellt wird, um es in seiner fremden Andersartigkeit zu begreifen. Freilich, die Aufgabe der historischen Exegese ist damit nicht erschöpft. Sie enthält noch eine tiefere Schicht. Ihr bleibt das Ziel, .das fremde schöpferische Individuum selbst und sein Verhältnis zu dem von ihm geschaffenen Ausdruck, d. h. die Absicht und den Willen des Worts, zu verstehen ; und hier greift auch in die historische Exegese ein pneumatisches Element ein. Es ist das Erleben, das auf .der -• Kongenialität beruht, ihm gegenüber ist es- kein wesentlicher Streit, ob diese Kongenialität durch Auslöschen des eigenen Selbst oder durch höchste Steigerung desselben sich entfaltet; man ist dabei an die Mystik erinnert, in der auch der Gedanke von der durch das Sterben des Ich bedingten höchsten Entfaltung desselben ein Geheimnis . unserer Bestimmung anrührt. Dies kongeniale Nacherleben, das die »Transposition« des eigenen Ich in das Fremde zur Voraussetzung hat, und das nicht jedem, nicht überall und nirgends mit »objektiver« Sicherheit möglich ist, ist die »pneumatische« Höhe der großen historischen Exegese; deim damit wird das tiefste Geheimnis jeden Textes, das Verhältnis der schöpferischen Individualität zu dem von ihr gestalteten Wort, angerührt. Das rationale Begreifen erfaßt das nicht; hier setzt die irrationale Schöpferkraft des Exegeten ein, die ganz subjektiv und unmittelbar sich der ~remden Individualität .durch »Transposition« des eigenen Ich zu bemächtigen sucht. Aber auch dies Verstehen im eigentlichen Sinn überwindet nicht gänzlich das Fremde und ist an das Individuelle, das nicht das Zeitlose sein kann, gebunden. Die Frage bleibt, wie das fremde Vergangene 275
und Individuelle für uns gegenwarttg, wertvoll, lebendig oder sogar allgemeingültig werden kann. Hat nicht die größte Literatur selbst Eigenschaften in sich, die ihre produktiven Wirkungen über das Individuelle und Zeitliche hinaus, jenseits der Absichten ihrer Verfasser, erklären könnten?
III. Ganz naiv wird auf praktisch-theologischem Gebiet das, was man pneumatische Exegese nennt, ·in der Predigt oder in det entsprechenden erbaulichen Literatur geübt; nur daß der »pneumatische« Charakter zumeist verdeckt ist durch die in der selbständigen Predigttradition erhaltenen Gedanken, Formen und Methoden, an denen nicht nur der geistige und künstlerische Stil der Zeiten, sondern eben auch die spezifische, praktische und kirchenpolitisch orientierte Predigttradition mitzuwirken pflegt. Der Einwand, daß die Auslegung durch die Predigt exegetische Arbeit am Text voraussetzt, ist nicht stichhaltig; denn abgesehen von allem, was sich-gegen diesen Einwand sagen ließe, es gibt eine exegetische Vertiefung in den Buchstaben eines Textes, die in derselben Ebene liegt wie die Allegorese. Auch die Dogmatik, erst recht in ihrer neuesten biblischtheologischen Form, in der der alte Beckianismus nietzschemäßig frisiert erscheint, bedient sich der pneumatischen Exegese, um die Bibel für das eigene System fruchtbar zu machen. Abgesehen davon, daß die Dogmatik oft der letzten Zuspitzung historischer Fragestellungen auszuweichen liebt, wird die Frage nach der ind,iyjcil1ellen Absicht der verwerteten Stelle hier zumeist überhaupt nicht mehr gestellt; und die Einordnung der betreffenden Stelle in das eigene System zeigt schon, daß das Problem, ob ein und derselbe Gedanke nicht zu verschiedenen Zeitaltern einen ganz verschiedenartigen Sinn gehabt hat, außer Betracht geblieben ist. Viel von dem, was man die Kontinuität des geistigen Lebens nennt, erklärt sich aus dieser umdeutenden Produktivmachung geistiger Inhalte; und die Einheitlichkeit geistiger Tradition ist oft nichts anderes, als die ganz naive Verwertung von Gedanken, deren eigentlicher Sinn dem Bewußtsein verloren gegangen ist. Das Zäheste in der Geschichte sind die Formen und Formeln, die
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die in der Verwandlung konservierende Umdeutung von Inhalten ermöglichen. Die christliche Religion hätte den Untergang der Antike kaum überdauert, wenn nicht die Bibel und mit ihr die Möglichkeit zu neuer produktiver Umdeutung und Umgestaltung geblieben wäre. Aber .diese Überlegungen zeigen uns nun die Schärfe des Problems in seiner ganzen Bedeutung. Ist es überhaupt möglich, · sich auf »Wort« vergangen er Epochen zu. berufen, da der ursprüngliche, aus ·der erstorbenen Seele erwachsene Sinn verlorengegangen ist und nur durch eine, notwendigerWeise erst zu begründende Umdeutung lebendig gemacht werden kann? Mir scheint, daß die Leugnung der Möglichkeit der pneumatischen Exegese oder ihre harmlos erscheinende und doch recht anspruchsvolle Begrenzung auf die Theopneustie des Auslegers schließlich jede autoritative Wertung einer Offenbarungsurkunde selbst aufheben müßte; jedenfalls in dem Augenblick, in. dem man davon überzeugt ist, daß der Mensch ·im Laufe der Geschichte nicht »immer derselbe bleibt«. Die Frage nach der pneumatischen. Exegese stellen heißt also das · Problem des formalen Charakters des Offenbarungsbegriffs aufwerfen. Wenn man diese Frage rein psychologisch ·anfaßt, so legt sich einem der Gedanke nahe, ob ihre Lösung nicht im Zusammenhange steht mit jenem psychologischen Denkgesetz, wonach die historische Beschaffenheit des menschlichen Geistes sich darin auswirkt, daß dieser unser Geist ein Gegebenes braucht, an dem er sich gestalten und aussprechen kann, ohne sich dabei ins Grundlose zu verlieren. Die Rückbeziehung auf das heilige Buch wäre dann im Grund nichts anderes als die Auswirkung dieses Denkgesetzes, indem der menschliche Geist nicht aus sich allein heraus zu denken wagt, sondern eine Gegebenheit braucht, an die er sich anlehnt, und aus der er sich selbst, so die geschichtliche Kontinuität erhaltend, heraus deutet. In der Tat findet eine Reihe religions- oder geistesgeschichtliche Phänomene auf diesem Hintergrunde ihre Erklärung. Die Allegorese ist doch nicht bloß als der aus Angst und Schöpferwillen geborene Versuch des spekulativen Denkens zu verstehen, sich aus den gesetzlichen Fesseln der Lehre von der Verbalinspiration, bei gleichzeitigem Festhalten an derselben, loszumachen6 ; sie ist zuletzt die Auswirkung jenes Denkgesetzes, indem hier das Gegebene zunächst dazu dient, die ungegebenen eigenen Gedanken zu entfalten, ja sie zu produzie277
ren ; es ist eine eigentümliche Art der Produktivität, die uns hier begegnet ; sie liest in den gegebenen Buchstaben die eigene Welt hinein, und sie läßt zugleich diese eigene Gedankenwelt durch den gegebenen Buchstaben erweckt werden. Daß dies Verfahren allmählich in Regeln gebracht wird und zur Technik wird, ist ein Beweis dafür, daß auch das Seltsamste schließlich gelernt werden will. Auch die emblematische Mystik, die der emblematischen Kunst nah verbunden ist, ist schließlich ein Spezialfall dieser merkwürdigen, in der Geistesgeschichte aber nicht so seltenen Art zu denken, die, von einem Gegebenen ausgehend und ohne dies nicht auskommend, doch die ·Gegebenheit umbiegt und in ihr die eigenen Gedaq.ken darstellt. 7 Der Gegenstand, von dem man ausgeht, und der gegeben ist, wird als heuristisches Prinzip für die eigenen Gedanken behandelt, ebenso wie auch etwa der Reim in der Dichtung nicht nur Ausdruck des gesteigerten Lebensgefühls ist, sondern die Gegebenheit, welche die Gedanken und Empfindungen, eigentümlich vergeistigend und disziplinierend, von der Wirklichkeit entfernt und dieselben aus sich selbst an dieser gegebenen Form entfaltet. Ja, man darf wohl auch fragen, ob nicht auch die expressionistische Art der .Gedankenentwicklung, wie sie unsere Zeit in breiter Linie, nicht bloß bei den Georgeanern, charakterisiert, nämlich an der Interpretation oder besser an der Ausdeutung einer historischen »Gestalt« die eigenen Gedanken zu entwickeln und auszudrücken, mit der von uns herangezogenen Eigentümlichkeit des menschlichen Denkens zusammenhängt. 8 Und es ist dabei schon ein Zeichen des Sinnes für methodische Sauberkeit, wenn sich das Eigene in die Form der Kritik an der ))Gestalt« zu kleiden bestrebt ist. Aber ich glaube nicht, daß dies auf der geschichtlichen Struktur unseres Geistes beruhende psychologische Denkgesetz, dessen Einflußsphäre wir uns in etwas zu verdeutlichen versucht haben, imstande ist, das formale Problem der Geltung der Bibel zu lösen, von dem wir ausgegangen sind ; · schon deshalb nicht, weil bei unseren Ausführungen über die >>Gegebenheit« deren Inhalt außer Betracht bleiben konnte. Hier wird es sich vielmehr fragen, ob nicht die Möglichkeit einer pneumatischen Exegese darauf beruht, daß die Bibel und mit ihr die größten Schöpfungen der Weltliteratur eine Qualität in sich haben, die über die Absichten und Horizonte ihrer Verfass er hinausreicht. Die ewige Produktivität der größten Literatur, die über Zeitenwenden und Kultur278
dämmerungen hinweg dauert, auch dann, wenn die individuelle Seele, aus der sie hervorgegangen ist, erloschen oder in ihren eigenen Wirkungen untergegangen ist, würde aus dieser überpersönlichen, unbewußten und ungewollten Kraft in ihr sich erklären. Es dürfte also in der großen Literatur etwas Metaphysisches liegen, etwas Objektives, das für sich wirkt, jenseits der Absichten und Gedanken der betreffenden Autoren ; die wirklich großen Gedanken sind groß, weil sie weiter reichen, als der Pfeil t.t;ägt, auf dem sie abgeschossen worden sind ; und wirklich gr6ße Literatur ist erst dort, ~o das Werk ~in Eigenlebe_n und eine Eigenkraft entfaltet, in der der Wille des Autors nicht mehr hineinreicht. Und ist das nicht der metaphysische Sinn alles Schaffens - übrigens auch des politischen -, daß das subjektive Schöpferische sich in dieser Objektivität vollendet, in der eine eigene, über das Individuum und seine Absichten hinausreichende Fruchtbarkeit einsetzt? Wer vermöchte an den schadsichtigen Fernblick der großen Staatsmänner zu glauben, den die nachschaffende Historie ihnen beizulegen liebt? Nein, sie taten das Nahliegende so besonders, daß ihr Tun im Ganzen fruchtbar wurde und Fernwirkungen erzeugte, die sie selbst nicht berechnet haben. Und nur dort ist tiefste Produktivität, wo diese Gnade der zeitlosen und unbewußten Kraft ist, wo die individuellen Absichten in das Reich des objektiven Geistes hineinwachsen, um dort ein selbständiges Leben zu führen. 9 Aus dieser metaphysischen Qualität wird sich die Umdeutungsfähigkeit und Anwendbarkeit der Ideen der großen Literatur und damit ihre Fruchtbarkeit über Zeiten und Räume hinweg erklären lassen. An diesen Gedanken scheint es mir möglich zu sein, die pneumatische Exegese methodisch anzuschließen. Wenn es das Ziel der historischen Exegese ist, die. lebendige Absicht eines literarischen Werkes in seiner räumlich-zeitlichen Begrenzth~it und in seiner individuellen Bestimmtheit zu verstehen, so ist es die Aufgabe der pneumatischen Exegese, jenen überindividuellen und sich allmählich enthüllenden Gehalt zu deuten und zu erfassen, der die großen Schöpfungen der Weltliteratur charakterisiert. Es gilt also wirklich - um das Schleiermachersehe Wort anzuwenden -' den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden ha:t, d. h. eben der Kraft zu nahen, die in ihm gewirkt hat, und die über ihn hinauswirkt. Die Aufgabe der pneumatischen Exegese ist demnach prinzipiell von derjenigen der histori279
sehen Exegese unterschi~den; freilich herrscht auch hier das Gesetz, das über allem Verstehen waltet, das . nämlich nur Gleiches Gleiches erkennen kann, oder daß doch eine Gemeinsamkeit da sein muß, in welcher der Erkennende und das zu Erkennende sich treffen. Aber die pneumatische Exegese richtet sich nicht auf das Individuelle und Einmalige, sondern auf das 1\~gemeine und Bleibende; und sie bemächtigt sich dessen nicht auf dem indirekten Weg der Einordnung in künstlich hergestellte allgemeine Zusammenhänge, wie ihn die historische Exegese gegenüber dem Individuellen gehen muß ; und auch das Mittel der schöpferischen Transposition tritt hier zurück; vielmehr kom:mt es darauf an, daß der Interpret in der Kraft der Sache, die ihm Lebensmacht sein muß, die Gestaltung und Ausdeutung jenes zeitlosen Inhalts vornimmt. Gläubige Sachlichkeit, das ist die Voraussetzung, ohne die sich der Geist, der über unserem Geist liegt, nicht erschließt. Ist nicht eine Erinnerung an diesen Sachverhalt in der Allegorese aufbewahrt? Nur daß sie in Regeln gefaßt hat, was seiner Art .nach regellos ist. überhaupt jede Theorie von der Schrift, die neben .dem Wortsinn den tieferen Sinn kennt, dürfte sich auf den Gedanken von der objektiven, überindividuellen Kraft des Wortes reduzieren lassen. Und knüpft nicht auch ·der Begriff der Tradition letztlich am diese Vorstellung von der nicht ohne weiteres zu verstehenden metaphysischen Qualität des Wortes an, mag sie hier auch mehr ins Rationale umgebogen erscheinen ?
IV. Das von uns herausgestellte, ins Metaphysische hinüberführende Chanikteristikum der großen Literatur gilt keineswegs bloß für die Bibel ; es mag für sie in besonderem Maße gelten, aber pneumatische Exegese ist grundsätzlich auch bei den anderen großen Literaturwerken möglich; und einen anderen Maßstab für .deren nähere Bestimmung, als den der »Dauer« oder der schöpferischen Fruchtbarkeit sehe ich zunächst nicht. Der Frage nach der Einzigartigkeit der Bibel ist also von hier aus .nicht beizukommen; nur die for~ale Seite des biblischen Problems, die ihm mit der großen Weltliteratur gemeinsam ist, haben wir in etwas aufzuhellen versucht. Di_e speziell theologische Frage 280
nach der Geltung des Wortes kann ohne Berücksichtigung seines Inhalts nicht beantwortet werden. Wenn das Wort Offenbarung ist, weil es-und dies Verständnis kann sich auf Luther berufen 10 die geschehene Geschichte verständlich macht und das ObjektivFerne dem Einzelnen subjektiv zueignet, so kann die Einzigartigkeit der Bibel nur von dem Gedanken an die Einzigartigkeit des in ihr ausgesprochenen Gottesbewußtseins und an die singuläre »Verleiblichung« der Idee, von der sie Kunde gibt, diskutiert werden. · . . Auch für ·die alttestamentliche Forschung bildet sich aus der Fülle der religionsgeschichtlichen Vergleichung die historische Aufgabe heraus, die Besonderheit der israelitischen Religion inmitten der orientalischen Religionen durch ideengeschichtliche Überlegung und durch künstlerische Einfühlung zu bestimmen. Aber vielleicht können die von uns angestellten Überlegungen über den Charakter des großen Literaturwerks wenigstens theologisch zu dem Versuch anregen, auch den zeitlosen Sinngehalt des Alten Testaments zu verlebendigen. Mit dem Schema von Weissagung und Erfüllung oder mit entsprechenden geschichtspädagogischen Ideen läßt sich ·die S~ellung des Alten Testaments nicht mehr begründen, seitdem die urchristliche Geschichtskonstruktion, welche die Vorgeschichte des Christentums iediglich im Judentum sieht, gefallen ist; und schon die Logosidee der Apologeten hat ja eine andere Anschauung von der Vorgeschichte des Christentums ausdrücken wollen.
Anmerkungen
1 Eine ausgezeichnete, scharfblickende und mutige Analyse der gegenwärtigen Lage der historischen Wissenschaft gibt E. H. Becker, Der Wandel im geschichtlichen Bewußtsein (Neue Rundschau), Februar 1927, s. 113ff.). 2 Das Problem ist, soviel ich weiß, so bisher nicht angefaßt"worden.Eine gute Einführung in die Frage gibt J. Behm, Pneumatische Exegese? (1926), wo auch die wichtigste Literatur angeführt ist. Mit Th. Siegfrieds interessantem Aufsatz "Phänomenologie und Geschichte (Kairos ed. Tillich), 1926, kann ich mich hier nicht mehr
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auseinandersetzen. 3 V gl. E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (im Handbuch der Philosophie herausgegeben von A. Bäumler und M. Schröter 1926) S. 120ff. · 4 Vgl. W.·Dilthey, Gesammelte Schriften V(1924) S. 318. 5 Vgl. W. Dihhey, Ges. Schriften VII (1927) S. 209ff., 219, 257; und E. Troeltsch, Ges. Schriften I!! (1922) S. 679ff. 6 Vgl. R. Seeberg, Zur Frage nach dem Sinn und Recht einer pneumatischen Schriftauslegung, in: Zeitschrift für syst. Theol. 1926, S. 23 ff. 7 Vgl. Meine Schrift zur Frage der Mystik (1921) S. 8 ff. 8 Ich denke dabei etwa an manche Kant-Schleiermacher- oder LutherUntersuchung aus letzter Zeit. 9 Ich könnte von diesem Gedanken aus versuchen, die Linie hinüberzuziehen zuR. Ungers ·bedeutsamer Untersuchung: Literaturgeschichte als Problemgeschichte (Schriften .der Königsherger gelehrten Gesellschaft, geisteswiss. Klasse I 1 1924). 10 Ich beabsichtige die Untersuchung des Wortverständnisses bei Luther in breitem Zusammenhange aufzunehmen.
W ~lfhart Pannenberg Hermeneutik und Universalgeschichte::I Die altprotestantische Lehre von der Klarheit der Schrift, durch die Luther die Schriftautorität unabhängig von der Auslegung ·. durch ein kirchliches Lehraint gemacht hatte, ist in der Neuzeit nach zwei Seiten hin problematisch geworden. Für Luther und im Altprotestantismus galt der sensus litteralis der biblischen Schriften zugleich als der sensus historicus ; und andererseits fiel für Luther die eigene doctrina evangelii mit dem Inhalt · der ad litteram verstandenen Schrift zusammen. Seitdem jedoch hat sich einerseits zwischen dem Literalsinn der biblischen Schriften und dem historischen Hergang der Ereignisse, auf die sie sich beziehen, eine Kluft aufgetan ; und ebenso ist andererseits der Abstand unserer Gegenwart und jeder heute möglichen Theologie von der Zeit des Urchristentums und den verschiedenen-theologischen Konzeptionen der neutestamentlichen Zeugen unübersehbar geworden. Auf der einen Seite, bei der Verschiedenheit der · biblischen Texte von dem durch sie bezeugten Geschehen, haben wir es mit dem Schwerpunkt der historischen Problematik zu tun ; auf der andern Seite, im Abstand des Urchristentums von unserer Gegenwart, liegt der Schwerpunkt der hermeneutischen Problematik. Beide hängen unter sich eng zusammen und bilden wohl nur ein einziges Thema. Ob das so ist, soll sich bei unsern Erwägungen noch deutlicher zeigen. Jedenfalls ist sowohl die Spaltung zwischen den biblischen Te:xten und dem nunmehr im Rückgang hinter sie zu erforschenden Geschehen der Geschichte J esu und seiner Gemeinde als auch die andere Spaltung zwischen den biblischen Schriften als Zeugnissen eines längst vergangenen Zeitalters und unserer eigenen Gegenwart von ein und derselben methodischen Forderung her entstanden, nämlich durch den Grundsatz; die biblischen Texte im Sinne ihrer Verfass er und also in bezug auf die Situation ihrer Abfassungszeit auszulegen. Diese Forderung wurde gelegentlich schon •:· Z ThK 60, 1963, 90-121.
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im 16. Jahrhundert, von Flacius und Camercirius, erhoben. Nach den Bemühungen von Grotius und Lightfoot hat besonders Semler ihre allgemeine Anerkennung ·in der theologischen Exegese durchgesetzt. Damit ergab. sich die Möglichkeit, unterschiedliche Tendenzen der biblischen Schriften bei ihrer Darstellung und · Deutung des Christusgeschehens und seiner KonseqH~nz_en zu beobachten. Die erst bei Baur methodisch ausgebaute Tendenzkritik zwang zum Rückzug hinter die Texte, wenn man sich ein Bildvom wirklichen Hergang machen wollte. So trennte sich die eigentliche Sache (die res) der Schrift, .die geschehene Geschichte J esu, von den biblischen Texten als etW~ hinter ihnen zu Suchendes. Die gleiche methodische Forderung, die zu diesem Ergebnis führte - die Forderung, die Texte relativ auf ihre Entstehungszeit auszulegen -, brachte aber auch den Abstand zwischen der Gedankenwelt der. neutestamentlichen Schriften und dem Geist des für den jeweiligen Ausleger gegenwärtigen Zeitalters zum Bewußtsein. Mit dem Bewußtsein dieses Abstand~s entstand im 18. J~rhundert das spezielle hermeneutische Problem der Neuzeit, die Aufgabe einer verstehenden Uberbrücäkung des historischen Abstandes zwischen Urchristentum und Gegenwart. Die Unterscheidung zwischen historischem Rückgang hinter die Texte und hermeneutischem Brückenschlag von ihnen zur jeweiligen Gegenwart kann aber nur begrenzte Gültigkeit beanspruchen. Tieferer Besinnung erweist sich die Einheit des Themas, das diese beiden Aspekte zeigt. Und es ist nicht leicht zu sagen, ob das beide Aspekte umgreifende Ganze nun als Hermeneutik oder als Geschichte anzusprechen ist. Das moderne historische Fragen, das hinter die Texte zurückfragt, ist selbst im Zusammenhang der Aufgaben der Textauslegung entstanden. Insofern scheint es so, daß _das hermeneutische Thema historisches Fragen als ein untergeordnetes Moment in sich begreift. Andererseits geht jedoch historisches Fragen über den Text hinaus, indem es hinter ihn zurückfragt, und es wird sogar seinerseits das spezifisch hermeneutische Thema miteinschließen, sofern das im Rückgang hinter den Text erfragte Geschehen noch nicht als isoliertes Einzelfaktum, sondern erst innerhalb universaler Geschehensund Bedeutungszusammenhänge, erst im Horizont der Universalgeschichte, die auch die Gegenwart des Forschers mit umgreift, sich als das zeigt, was es eigentlich ist. Dies letztere wird freilich 284
häufig übersehen, und es läßt sich auch im Umgang mit Geschichte bis zu einem gewissen Grade vernachlässigen. Zwar hat jedes Ereignis seine Eigenart und Bedeutung nur in dem Geschehenszusammenhang, zu dem es von Hause aus gehört. Aber hierbei handelt es sich zunächst um den näheren Umkreis des Geschehens, nicht sofort um die Universalgeschichte. Diese Bemerkung ist richtig, sofern es zum Verständnis durchschnittlicher Begebenheiten und Gestalten genügen mag, sie im Horizont ihrer Epoche u~d ihres engeren Lebenskreises zu sehen. Dieser Lebenskreis · und jene Epoche ihrerseits haben freilich ihre Bedeutung nur in umfassenderen Zusammenhängen. Und auch bedeutende Einzelereignisse und Gestalten der Geschichte erfordern für. ihre Würdigung den Ausblick auf weitere Zusammenhänge, über ihren engereil Lebenskreis und ihre Epoche hinaus. Je bedeutender ein Ereignis, eine Gestalt ist, desto umfassender muß der Geschehenszusammenhang sein, auf den man sie zu beziehen hat, will man ihrer wahren Bedeutung wenigstens annähernd gerecht werden. Auf solche markanten Ereignisse und Gestalten bezieht sich wiederum das sonstige Geschehen einer Epoche. Insofern läßt sich unsere Behauptung, daß das im Rückgang hinter einen Text erfragte/Geschehen erst innerhalb universaler Geschehens- und Bedeutungszusammenhänge sein wahres Gesicht zeigt, ganz allgemein rechtfertigen. Insofern aber umgreift das historische Fragen als universalgeschichtliches seinerseits das spezifisch hermeneutische Thema, nämlich das Verhältnis eines der Vergangenheit angehörigen Textes (oder Geschehens) zur Gegenwart des Interpreten. So zeigt sich eine gewisse Konkurrenz zwischen hermeneutischer und universalgeschichtlicher Betrachtungsweise. Beide haben es mit Texten zu tun. Beide erreichen vom Text her die Gegenwart des Auslegers und beziehen den Ausleger mit ein in die Auslegung des Textes. Nur: Die hermeneutische Betrachtungsweise bewegt sich anscheinend allein zwischen dem damaligen Text und dem heutigen Ausleger, während die universalgeschichtliche Betrachtungsweise zunächst hinter den Text zurückgeht und die hinter ihm gesuchte Sache bzw. das ):Iinter ihm erfragte Geschehen 1, von dem der Text herkommt, in seinem universalgeschichtlichen Bedeutungszusammenhang erwägt, mithin auch in bezug auf die Gegenwart des Auslegers. Die universalhistorische Betrachtungsweise macht also einen Umweg, 285
den Umweg des Rückgangs hinter den Text auf das ihm zugrunde liegende, von ihm bezeugte Geschehen, um auf diesem Umweg die Brücke zur Gegenwart des Auslegers (bzw. Historikers) zu schlagen. Die Konkurrenz zwischen hermeneutischer und universalge'" schichtlicher Methodik könnte jedoch auch eine Konvergenz bedeuten ; denn eigentlich müßte die rechte Lösung der beiden Aufgaben zu gleichen Resultaten führen. Die hermeneutische Bemühung müßte bei der Auslegung der Texte, mit denen sie es zu tun hat, den Rückgang hinter sie a~f die in ihnen ausgesagte Sache vollziehen, weil das ja durch die Intention der Texte selbst gefordert ist, indem sie z. B. über ein von ihnen verschiedenes Geschehen etwas aussagen und so von sich selbst weg auf dieses Geschehen hinweisen. Insofern muß das Verstehen des Textes selbst, nämlich seiner Aussage, zum Rückgang hinter den Text führen, also in unserem Fall zur eigentlich historischen Fragestellung. Umgekehrt kann sich historisches Forschen nicht der Frage nach dem Bezug seines Themas zur Gegenwart des Forschers entziehen, weil der historische Gegenstand immer schon von der Gegenwart her in den Blick genommen ist, indem nach ihm gefragt wird. Der Historiker mag das in seinem Drang nach »Objektivität«, in der Leidenschaft der Frage, »wie es wirklich gewesen ist«, vergessen. Historische Erörterungen stehen um dieser Leidenschaft willen - von der Aufgabe der Hermeneutik her gesehen - leicht im Verdacht, das, wovon sie reden, vom Redenden selbst zu distanzieren als etwas bloß Vergangenes. Wenn es sich wirklich so verhielte, daß die historische Betrachtungsweise den Lebenszusammenhang der Gegenwart mit dem Überlieferten zerstörte, indem sie das Vergangene objektiviert, dann würde das Problem des historischen Abstandes, das durch historisches Denken immer von neuem erzeugt wird, nur auf einem gänzlich anderen geistigen Boden bewältigt werden können. Aber als 'universalhistorische Auffassung des Geschehens kann historische Untersuchung die Ereignisse, die sie im Rückgang hinter ihre Texte zu rekonstruieren strebt, nicht als ein pures V ergangenes hinstellen, sondern muß sie in ihren Bedeutungszusammenhängen mit der Gegenwart des Historikers selbst erfassen. Sofern historische Arbeit immer das Problem der Universalgeschichte impliziert, hat sie es also keineswegs, wie gelegentlich behauptet worden ist, nur mit dem Totenfeld des V ergangenen zu 286
tun, so daß das Amt des HistC?rikers dem des Friedhofsgärtners zu vergleichen wäre. 2
II Die Einsicht in den Zusammenhang zwischen historischer und hermeneutischer Problematik ist neuerdings durch das hermeneutische Werk H.-G. Gadamer~ gefördert worden. Um den Schritt zu ermessen, den Gadamers Arbeit vollzogen hat und der auch bestimmte Rückfragen an ihn selbst veranlaßt, D"iissen wir uns vorerst die Geschichte unseres Themas innerhalb G.!r hermeneutisc.hen Disziplin vor Augen führen. Es wurde schon erwähnt, daß die moderne historische Methode aus der hermeneutischen Aufgabe der Textinterpt ...tation erwachsen ist. In der Folgezeit hat sich das Verhältnis zwischen beiden _ umgekehrt. Die Philologie wurde zu einer Hilfswissenschaft der Historie. 4 Das liegt gewissermaßen in der Konsequenz des Vorgangs, da ja die Textinterpretation selbst die Texte als bloße historische Dokumente sehen gelehrt hat. Deshalb ist es durchaus fraglich, ob man mit Bultmann urteilen kann: »AI:-er die I
Dokumente ihrer Entstehungszeit verwendet, dann behält der Text allerdings eine Dimension, die nicht in das historische Verstehen eingegangen ist. Das ist besonders deutlich bei K ..mstwerken, aber auch bei religiösen Texten. Wenn man die griechische Tragödie des 5. Jahrhunderts nur als Ausdruck der griechischen Geschichte dieses klassischen Zeitalters beschreibt, dann hat man. offenbar die über die Zeiten hinweg ansprechend!! künstlerische Wahrheit der Werke des Aischylos oder Sophokles noch nicht getroffen. Diese Werke sind noch mehr als nur Ausdruck des g,riechischen Geistes des 5. Jahrhunderts. Denn in ihnen· wurde ein Bild menschlichen Verhalt~ns geschaffen, das seitdem in unserer kulturellen Überlieferung prägende Kraft bewiesen hat. Ebens~wenig gehen die paulinischen Briefe darin auf, Ausdruck der Situation des Urchristentums zu sein. Solange es eine· christliche Kirche gibt, wird man trotz aller Veränderungen der Zeit in diesen Texten etwas finden, was auch der jeweiligen Gegenwart noch die wahre Lage des Menschen vor Gott zum Bewußtsein bringt. Ähnliches ließe sich an juristischen, mathematischen, · philosophischen Werken exemplifizieren. Anscheinend haben die Texte hier eine Dimension, die der historischen Befragung nicht zugänglich ist, jedenfalls solan~e nicht, wie jene »allgemeinmenschlichen« Gehalte nicht selbst a1s geschichtliche Gebilde erkannt sind (Recht, Religion, Kunst, Philosophie) und wie andererseits die historische Befragung solcher Texte sich auf das Zeitalter ihrer Entstehung beschränkt. Gegenüber einer solchen partikularen historischen Fragestellung behalten die überlieferten Texte etwas überschießendes, weil ihre Wahrheit über ihre Entstehungssitu3tion hinauswirkt. Eben deshalb vermögen sie »unmittelbar anzusprechen«. Ihre Auswertung als bloße Dokumente. eines längst vergangeneo Zeitalters bedeutet eine Verkürzung. Das gilt selbst für Werke der Geschichtsschreibung. Herodots Geschichtswerk wollte den Taten der Helden seines Zeitalters ein Denkmal setzen, wie es in der Einleitung heißt, und offenbar meinte er, daß in diesen Taten etwas allgemeinmenschlich Vorbildliches stecke. Selbst die Geschichtsschreibung will nie eine abgeschlossene, vergangene Epoche nur als vergangene darstellen. Das würde die Mühe nicht lohnen. Vielmehr ist die Geschichtsschreibung stets durch ein Gegenwartsinteresse geleitet. Daß die uns überlieferten Texte verschiedenster Art noch nicht 288
ausges ;höpft sind, wenn sie nur als Quellen für das Zeitalter ihrer Entstehung benutzt werden, begründet eine relative Selbständigkeit der Hermeneutik gegenüber der historischen Forschung. Solange die Historie die Universalgeschichte als ein Randproblem behandelt und bei enger begrenzten Aufgaben stehen bleibt, hat sie kein Recht, die Hermeneutik als bloße Hilfsdisziplin zu betrachten, sondern solang·e ist sie· selbst nur ein Zweig der Hermeneutik. Im 19. Jahrhundert ist allerdings auch von den bedeutendsten Theoretikern der Hermeneutik, von Schleiermacher und Dilthey, diese letztere Kon~equenz noch ni~ht gezogen worden. Es blieb bei einem Nebeneinander von Historie und Hermeneutik .. Schk:.ermachers Hermeneutik ist aus theologischem Interesse, im Zusammenhang der Aufgaben der Schriftauslegung und nicht im Hinblick auf die historische Aufgabe entstanden. 6 Das heißt freilich nicht, ·daß Schleiermacher für die biblischen Schriften besondere Auslegungsprinzipien beansprucht hätte. Vielmehr sollen die biblischen Texte nach den auch sonst geltenden Regeln ausgelegt werden. Das Allgemeine, erklärt Schleiermacher, sei hier wie sonst dem Besonderen· vorgeordnet. 7 Sein Ausgangspunkt liegt aber beim Verstehen nicht erst von Texten, sondern schon des mündlichen Redens und des darin sich äußernden Denkens. 8 Damit hat Schleie~macher als erster die Hermeneutik als eine Wissenschaft vom Verstehen überhaupt, über die Aufgabe einer Interpretation gegebener Texte hinaus, in den Blick genommen. Das wechselseitige Verstehen ist für ihn im Gattt.ngsbewußtsein des Menschen begründet, welches die einzelnen Individuen verbindet, sofern es jedem von ihnen um das Menschliche üherhaupt und um das für den Menschen als solchen Bedeutsame geht. 9 In· diesem Gedanken des gemeinsamen Gattungsbewußtseins gründet, wie Niebuhr gezeigt hat, Schleiermachers hermeneutische Konzeption. Das Verstehen nicht nur der Wörter, sondern auch ier Gesten, des Tonfalls, der Mimik des anderen und seines ganzen Benehmens ist nur durch das gemeinsame Gattungsbewußtsein möglich. Es erlaubt uns, von unserem eigenen Selbstbewußtsein her gefühlsmäßlg den Sinn der Wörter und Gebärden des anderen zu erfassen. So ist die Intuition, die Einfühlung in den anderen auf Grund der Gemeinsamkeit des Menschseins, die Grundlage alles Verstehens. Von solchen allg~meinen Erwägungen her hat Schleiermacher
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nun jedoch noch nicht eine entsprechend universale Hermeneutik des menschlichen Miteinander entwickelt, sondern kehrte sofort zur herkömmlichen Aufgabe der Interpretation von Texten zurück. Diese Aufgabe erschien ihm offenbar als nicht wesentlich verschieden von der Aufgabe des Verstehens im mündlichen Gespräch. Daß Schleiermacher hier, beim Übergang vom gesprächsweisen Verstehen im mündlichen Austausch zum Interpretieren überlieferter Texte kein zusätzliches Problem fand, zeigt, daß ihm das eigentlich historische Verstehensproblem nicht in seiner Tiefe bewußt geworden ist. 10 Die Edassung der Besonderheit eines Autors - über den allgemeinen Charakter der grammatischen Struktllr seiner Sprache hinaus -war für Schleiermacher nur eine psychologische, nicht eine historische Aufgabe, und das hat über Dilthey bis in die Gegenwart ~achgewirkt, wenn wir auch heute nicht mehr von psychologischer, sondern von existentialer Interpretation reden. Schleiermachers Theorie der psychologischen Interpretation sollte zunächst nur dazu anleiten, die individuelle Prägung des Sprachgebrauchs herauszuarbeiten, später jedoch auch dazu, das Entstehen eines Textes aus dem Denken seines Autors nachzukonstruieren. 11 Gegenstand des . Verstehens ist nun nicht mehr eine bestimmte, im Te:X:t ausgesagte Sache, sondern »der Prozeß des Heraustretens aus der Innerlichkeit des Denkeu's in die Sprache«Y Um eine derartige psychologische Rekonstruktion der Entstehung eines Textes aus- dem Denken des Autors vollziehen zu können, muß man sich in den Autor hineinversetzen, in seine Eigenarten und in seine Situation mit ihren besonderen Bedingungen. Denn nur durch solche Einfühlung ist es möglich, wie Schleiermacher 1829 hervorhebt, »jenen schöpferischen Akt richtig nachzubilden, wie das Bedürfnis des Moments auf den dem Autor lebendig vorschwebenden Sprachschatz gerade so und nicht anders einwirken konnte«. 13 Die psychologische Intention der Hermeneutik Schleiermachers ist von Dilthey beibehalten worden. Auch ihm erschien das Verstehen als ein »psychologisches Nachbilden«, das den »schöpferischen Vorgang« der Entstehung eines Werkes zu rekonstruieren hat. Dabei benutzte Dilthey, um das Verhältnis eines Textes zum Autor zu kennzeichnen, den Begriff des Ausdrucks, der aber zugleich den Ansatzpunkt für eine Überwindung der psychologischen Fassung der hermeneutischen Aufgabe bildet. Der Begriff des Ausdrucks war schon in Droysens Historik verwendet 290
worden und dürfte auf Jiegel_zurückgehen. 14 Dilthey faßte nicht nur Texte als >>Ausdruck« der Intentionen und Gedanken ihrer Autoren, sondern verstand alles Geschehen überhaupt als Aus- druck der handelnden Menschen. Dadurch wurde der Bereich der Hermeneutik überraschend ausgeweitet. Sie griff nicht nur, wie bei Schleiermacher, auf die mündliche Rede über, sondern nun auch auf das wortlose Geschehen bzw. aufdie von ihm hinterlassenen Spuren. Dilthey konnte alles Geschehen der Geschichte als Ausdruck menschlichen Verhaltens auff;iSSen, weil er meinte unter Berufung auf Vico -, daß alle geschichtlichen Et:eignisse als Wirkungen des Menschengeistes zu verstehen sind, an dem auch der Historiker selbst teilhat, so daß er sich immer wenigstens die· Möglichkeit denken kann, selbst ähnliche Wirkungen hervorzubringen. So schreibt Dilthey: »Die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst · ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ( !) ist, der die Geschichte macht.« 15 Hier lassen sich Zweifel nicht unterdrücken. Es ist doch sehr fraglich, ob jeder durchschnittliche Historiker kraft gleicher seelischer Natur sich in jedes beliebige Verhalten von Menschen früherer Epochen, von Verbrechern, Religionsstiftern oder Herrschern »einfühlen« kann. Außerdem hat es die Historie nicht nur hinsichtlich des menschlichen Verhaltens mit Einmaligem zu tun; ·. sondern auch hinsichdich dessen, was diesen Menschen widerfahren ist. 16 Es steht doch keine·swegs so, daß der Historiker sich nur um die seelische Aktivität der Menschen zu kümmern hätte und alles übrige der Physik überlassen dürfte. Der Bezug des· Gewesenen zur Gegenwart des Auslegers kann bei Dilthey ebensowenig fraglich sein wie bei Schleierniacher. Bei beiden· erscheint dieser Bezug vielmehr als schon vorausgesetzt: Die Identität des Lebens und der Möglichkeiten des Erlebefis beim Ausleger und bei den Menschen der Vergangenheit ist das Gemeinsame, was die Gegenwart und die ausgelegte Vergangenheit von vornherein verbindet. Der Ausleger kann dahe~)m_ Vergangenen nur. finden, was wenigstens der Möglichkeit nach auch gegenwärtigem Erleben zugänglich ist. Das Vorverständnis von Leben und Erlebensmöglichkeiten bestimmt und begrenzt dann von vornherein die Auslegung. In Spannung hierzu steht aber Diltheys Gedanke, daß die Möglichkeiten des Lebens uns überhaupt erst durch die 291
Geschichte erschlossen werden. Dieser Gedanke hängt einerseits wieder zusammen ~t der Psychologie des Ausdrucks. Wie der ei~zeln.e sich nach Dilthey nicht durch Introspektion erkennen k~nn, sondern nur aus dem, was er an Gestaltung hervorbringt, so sind auch die Möglichkeiten der menschlichen Seele überhaupt nur von den Gestaltungen her, in denen sie sich einmal ausgedrückt hat, zu verstehen. Insofern ist gegenwärtiges Leben für seine Möglichkeiten doch angewiesen auf das, was frühere Generationen als menschliche Möglichkeiten gestaltet.u~d so der verstehenden Besinnung erschlossen haben. . An· diese Seite der Gedanken Diltheys hat Bultmann angeknüpft. Zwar fragt auch er noch nach einer- nun nicht mehr psychologischen, so~dem existentialen - Struknir des Menschseins, ·von der her die Möglichkeiten menschlichen Handelp.s und Erlebens zu verstehen sind. Aber die existentiale Struktur des Menschseins ist für Bultmann von vornherein dadurch gekennzeichnet, daß der Verstehende als. ein Fragender mit seinem Text umgeht, weil eben Fraglichkeit die Struktur des Daseins selbst bestimmt. In diesem Sinne sagt Bultmann, daß zur Auslegung jeweils ein» Lebensverhältnis ... zu der Sache.« erfordert sei, »die im Text- direkt oder indirekt- zu Worte kommt«Y Welche Sache das ist, das hängt vom Interesse der Interpretation ab (219 f). Dieses· Inter~sse kann auf historische Rekonstruktion eines Hergangs gerichtet sein, es kann psychologisch oder ästhetisch orientiert sein. Es »kann endlich gegeben sein durch das . Interesse an der Geschichte als der Lebenssphäre, izi der menschliches ·Dasein sich bewegt, in ·der es seine Möglichkeit gewinnt und ausbildet« (228). Mit solchen Erwägungen wendet sich Bultmann auch der Auslegung neutestamentliehet Texte zu. Und da er Gott, von dessen Handeln die neutestamentlichen Zeugnisse reden, nur in Verbindung mit dem Menschen, nur als den in der Fraglichkeit des menschlichen Daseins Erfragten denkt, so muß das Vorverständnis einer Exegese der neutestamentlichen Texte »in der Frage nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz« bestehen (232). Die Notwendigkeit einer existentialen Interpretation des Neuen Testaments ergibt sich also für Bultmann daraus, daß wir-von Gott nur wissen als von dem, wonach der Mensch in der Fraglichkeit seines Daseins fragt. Dieses Resultat des Aufsatzes »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« aus dem Jahre 292
1925 begründet also das Programm einer existentialen Interpretation der neutestamentlichen Schriften. Bultmanns Hervorhebung der Fraglichkeit des menschlichen Daseins als Voraussetzung der Befragung eines überlieferten Textes auf die Möglichkeiten menschlichen Seins und Selbstverständnisses knüpft zwar an Diltheys Erkenntnis an, daß der Mensch erst durch die verstehende Wahrnehmung des in der Geschichte von Menschen Gestalteten zur Erkenntnis seiner eigenen Möglichkeiten gelangt (225 f.), geht damit aber doch grundsätzlich über Diltheys psych~logische Interprt;tation hinaus. Das äußert sich besonders darin, daß Bultmann die fragwürdige Forderung nach kongenialer Auslegung ersetzt hat durch >>die einfache Tatsache, daß Voraussetzung des Verstehens das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ist, die im Textdirekt oder indirekt- zu Worte kommt« (217). Das Fragen, ohne das der Text ja nicht ·als Antwort verstanden werden könnte, ist also die einzige Verstehensvoraussetzung. Dementsprechend ist auch das »Vorverständnis« der existentialen Auslegung Bultmanns im Sinne der Fraglichkeit des Daseins aufzufassen. Es besteht hinsichtlich des Neuen TestaJ?entes »in der Frage (vom Vf. ausgezeichnet) nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz« (232). Es werden also durch das Vorverständnis nicht, wie immer wieder mißverstanden wird, schon inhaltlich bestimmte Antworten im Sinne eines Vorurteils vorgezeichnet. Jedenfalls liegt das gerade nicht in der hermeneutischen Intention des Bultmannsehen Begriffs vom Vorverständnis. Der Fragecharakter des Vorverständnisses öffnet vielmehr den Raum für eine Revision der jeweiligen Vormeinungen über die Sache eines Textes durch die Begegnung mit dem Text selbst. Trotzdem müssen aber die Bedenken gegen Diltheys V ersuch, alles geschichtlich Gestaltete durch eine allgemeine psychologische Typenlehre zu unterfangen, teilweise auch noch gegen Bultmann erhoben werden. Wie die psychologische Interpretation Schleiermachers und Diltheys, so schränkt auch die existentiale Interpretation die Frage nach der Gegenwartsbedeutung des Vergangenen ein auf die Frage nach dem Menschsein, das sich in einem überlieferten Text ausdrückt. Damit soll zwar das Besondere, das der Text zu sagen hat, nicht etwa abgeblendet, sondern gerade für heutiges Verstehen in den Blick gebracht werden, aber es w~rd dabei doch 293
von vornherein eingeengt : Anderes als Möglichkeiten menschli~ chen Daseins kann für die existentiale Interpretation nicht relevant werden. Oder besser gesagt: Es wird zwar schlechthin alles relevant, aber nur als Möglichkeit menschlichen Daseinsverständnisses. Es ist nun sehr die Frage, ob bei solchem Verfahren die auszulegenden Texte noch das sagen können, was sie von sich aus zu sagen haben: Die neutestamentlichen Texte etwa handeln ja - jedenfalls explizit - noch von mancherlei anderem als von Möglichkeiten menschlichen Daseinsverständnisses, obwohl alles, wovon sie handeln, auch Moment des Daseinsverständnisses der neutestamentlichen Schriftsteller sein wird. Letzteres ist jedoch nicht immer intendiert. Die neutestamentlichen Schriften handeln auch und zwar zuerst von Gott und seinem Wirken in den Ereignissen der Welt und ihrer Geschichte. Von daher ist ihr Reden vom Menschen bestimmt. Bultmann muß von seiner Fragestellung her umgekehrt verfahren. Er muß die Aussagen über Gott, die Welt und die Geschichte als bloßen Ausdruck eines zugrunde liegenden Existenzverständnisses auffassen. Das ist in gewissem Sinne auch zweifellos sachgemäß ; denn die betreffenden Aussagen haben . ohne Frage auch immer einen derartigen Ausdruckswert. Aber dieser kommt erst in den Blick, wenn man die Aussagen über. Gott, Welt, Geschichte nicht in dieser ihrer intentio recta nimmt:; sondern sie in einer intentio obliqua, in Reflexion auf ihren Charakter als Äußerungen dieses oder jenes Autors versteht. In solcher hermeneutischen Abblendung der intentio recta, Intention auf Aussagen über Gott, die Welt und die Geschichte, zugunsten der Bedeutung der Texte als Ausdruck menschlichen Daseinsverständnisses wird eine anthropologische Verengung der Fragestellung, des Vorverständnisses, deutlich. Ist denn die Frage nach den Möglichkeiten menschlichen Daseins für ihre Klärung nicht immer schonverwiesen auf die Frage nach der Welt, nach der Gesellschaft und über beide hinaus nach Gott? Steht es nicht so, daß der Mensch eine Antwort auf die Frage nach sich selbst nicht ohne ein Wissen von der Welt, von der Gesellschaft, von der Geschichte und von Gott zu erwarten hat ? Dann aber kann das Selbstverständnis nicht ohne Rücksicht auf vorgängiges Weltverständnis und in gewissem Sinne auch nicht ohne vorgängiges Gottesverständnis 18 thematisiert werden; Weltund Gottesverständnis sind nicht nur Ausdruck der Frage des Menschen nach sich selbst,. sondern das Verhältnis zur Welt, zur
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Gesellschaft, zu Gott vermittelt den Menschen überhaupt e~st mit ihm selbst. Nur durch Vermittlung dieses Verhältnisses gewinnt er sein Selbstverständnis. An der existentialen Engführung der hermeneutischen Thematik entzündet sich die weitere Frage, ob der historische Abstand des zu verstehenden Textes von der Gegenwart des Auslegens noch in seiner ganzen Tiefe festgehalten werden kann, wenn man den Texten mit Dilthey und Bultmann ein anthropo~entrisches Daseinsverständnis19 unterlegt. Wie, wenn die Texte gerade umgekehrt die Vorordnung des Gottes- .und W eltverstäncinisses vor das· Selbstverständnis des Menschen ausdrücken? Und gerade darin dürfte der historische Abstand der neutestamentlicheil Texte von der geistigen Situation Bultmanns deutlich hervortreten, und vielleicht liegt darin doch auch eine Frage an unser gegenwärtiges Denken. Wird das durch eine existentiale Befragung vorweg ausgeblendet, so wird der hermeneutische Brückenschlag, der doch den Text in seiner ganzen Altertümlichkeit zur Gegenwart in Beziehung setzen soll, nicht gelingen können. Texte eines vergangenen Zeitalters fordern jedoch eine Interpretation, die das historisch Damalige als solches mii der Gegenwart des Auslegers verbindet. Das Damalige darf nicht seiner Da~alig keit entkleidet und so als eine gegenwärtige Möglichkeit gedeutet werden ; denn so wird es als Damaliges verfehlt. Es muß vielmehr gerade als Damaliges auf die Gegenwart bezogen werden. Das ist freilich nur sinnvoll, solange die Gegenwart nicht an sich selbst Genüge findet, sondern um der gegenwärtigen Daseinsgestaltung willen nach dem geschichtlichen Erbe fragt. Daß nur durch solches Fragen der gegenwärtige Mensch seiner eigenen Daseinsmöglichkeiten verstehend inne werden kann, das ist der wegweisende Gedanke, den Bultmanns Hermeneutik mit Dilthey und Heidegger teilt.20 In der Unumgänglichkeit des Befragens überlieferter Texte für das Verständnis gegenwärtiger Daseinsmöglichkeiten sieht Bultmann nun umgekehrt ein Gefragtsein des Menschen durch die Überlieferung, und das ist sein eigener, weiterführender Schritt: »Echtes Verstehen wäre also das Hören äUf di.e' im zu interpretierenden Werk gestellte Frage, auf den im Werk begegnenden Anspruch ... << (226). Bultmann selbst hat den Unterschied seines Weges von Dilthey darin gefunden, daß der Interpret nicht nur ästhetisch die Variationen menschlichen Lebens beobachl:er21 - eine Betrachtungsweise, die zum Relativis-
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mus führtf 2 - , sondern aus der Geschichte einen »Anspruch«, eine »Frage« an das eigene Selbstverständnis erfährt und so zu verantwortlicher »Entscheidung« aufgerufen ist. Dieser Grundgedanke Bultmanns 'weist über die existentiale Einschränkung seiner Fragestellung hinaus. Wenn ein überlieferter Text gerade in seiner damaligen Gestalt einen Anspruch an den Interpreten richtet, dann kann man diesem Anspruch offenbar nicht von vornherein Schranken ziehen (etwa durch Reflexion auf die geistige Situation der Gegenwart), sondern der Interpret muß .sich dann ganz der Besonderheit des Damaligen aussetzen. Er muß die damalige Situation, auf die der Text bezogen ist, in ihrer Verschiedenheit. von der eigenen Gegenwart erfassen und darf sie nur in dieser ihrer Verschiedenheit zur Gegenwart in Beziehung setzen. Dabei würde nicht nur das Vorvet:ständJ?.iS, die Fr~~es~~llung des Auslegers, in einer bei Bultmann nicht mehr reflektierten Weise vom Text her in Bewegung geraten. Würde die histori'sche Distanz des Damals festgehalten, dann könnte 'die Verbindung des damals Geschehenen und Ge~talteten mit der Gegenwart wohl kaum anders als in dem Geschichtszusammenhang selbst, der das Heute mit dem Damals verbindet, gefunden werden, und damit Würde die hermeneutische Fragestellung in die universalges~hicht~iche aufgehen. Diesen Schritt hat Bultmann freilich nicht vollzogen. Schon das Vorverständnis der existentialen Analytik wird nicht auf den Geschichtszusammenhang, in welchem diese erwachsen ist, relativiert. Dementsprechend wird auch der »Anspruch« des geschichtlichen Erbes nicht in seiner inhaltlichen Vielfältigkeit erörtert, sondern auf das formale Entweder-Oder von Uneiger.tlichkeit oder Eigentlichkeit des Daseins, falschem oder richtigem Existenzverständnis, Selbstverfügung oder gläubigem Verzieht auf dieselbe bezogen. 23 Der fruchtbare Ansatz zur Wahrnehmung der geschichtlichen Bedingtheit des Menschen,. eben mit der Erkenntnis, daß das Gewesene mit einem Anspruch, mit einer Frage an das Daseinsverständnis des Nachfahren begegnet, gelangt nicht zu voller Auswirkung. Zwar hängt .mit diesem Grundgedanken Bultmanns Verständnis des ~>Wortes«, der »Verkündigung« zusammen. Die Verkündigung läßt den Anspruch der mit Jesus erschienenen, durch ihn erschlossenen Möglichkeit ei.O:es ·gläubigen Existenzverständnisses an den gegenwärtigen Menschen laut werden. Aber gerade dieser Gedanke wird neutra-
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lisiert durch den Bezug auf das formale Entweder-Oder des Existenzverständnisses. Gadamer hat dazu bemerken können, daß der Anruf der christlichen Verkündigung bei Bultmann »gleichsam eine private Erfahrung der menschlichen Selbstverfügung« auslöse. 24 In der Tat ist die inhaltliche Tragweite des Anspruchs Jesu und der Verkündigung von ihm durch den Bezug auf die formale Existenzstruktur gerade verstellt. Es ist ja charakteristisch, daß es für Bultmann entscheidend nur auf das »Daß« des Anspruchs ankommt, nicht auf irgendwelche bestimmten Gehalte. Das . scheint . zu bestätigen, daß der Anspruch der christlichen Verkündigung keine neuen Gehalte erschließt, sondern nur jene »privative Erfahrung der menschlichen Selbstverfügung<< freisetzt. 25 An den weiterführenden, aber noch nicht voll ausgeschöpften Gedanken Bultmanns vom »Anspruch«, mit dem ein überlieferter Text dem Ausleger begegnet, haben E. Fuchs und G. Ebeling angeknüpft. 26 Für Fuchs schließt der »Anspruch«, das »Wort<< der neutestamentlichen Texte an uns, den »Halt<< in sich, den der Glaube braucht, auf den er sich gründen kann. ~> Jesus kommt uns zuvor, indem er uns im Wort begegnet.« 27 Der Anredecharakter des Textes wird bei Fuchs zum Zentrum .der hermeneutischen Thematik. Dabei kann Fuchs sich auf die Erschließung der »Dimension der Sprache« durch die späteren Schriften Heideggers berufen28 , findet aber den entscheidenden Gedanken offenbar schon in der Analyse des Gewissenrufs in »Sein und Zeit<< ausgesprochen. 29 Der Mensch als Mensch existiert nach Fuchs >>sprachlich zwischen Ruf und Antwort« (133). Im Rufverstehen ist der Mensch als solcher schon konstituiert:» ... das Ich, das im Bereich der Menschheit spricht, ist immer schon ein gerufenes Ich« (ebd.). Das Reden von Sprache und Anruf ist bei Fuchs nicht selten in einer bedenklich unvermittelten Weise auf das Ethische bezogen. So gelangt man aus der Weite der Sprachproblematik gelegentlich mit einem Sprung in den Bereich der überlieferten Thematik von Gesetz und Evangelium. 30 Das erinnert an den unvermittelten Bezug, in dem bei Bultmann >>Frage« und »Anspruch<< eines Textes an den Interpreten zum Entweder-Oder eigentlicher oder uneigentlicher Existenz stehen. Aber Fuchs sieht doch, daß der Mensch den »Ruf«, auf den er angelegt ist, aus dem Geschichtszusammenhang vernimmt, in dem er steht. So kann er sagen: »Geschichte ist. . . . wesentlich >Sage<, also
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Geschichte der Sprache. Die uns von der Geschichte zugetragene Sprache ist von ihrem Grunde her jene wesentliche Sprache, in der wir jeweils >mit uns selbst< antworten<< (137). Dabei stellt jedoch die Geschichte »unser gegebenes Selbstverständnis sprachlich in Frage« (138).
III Der bei Fuchs - und ähnlich bei Ebeling - angebahnten Hermeneutik des Sprachgeschehens entspricht weitgehend die umfassende Kritik der hermeneutischen Überlieferung und die Analyse des Verstehensvorgangs in H.-G. Gadamers Werk »Wahrheit und Methode<< (1960). Auch hier geht es darum, die Inanspruchnahme des Hörers, Lesers, Beschauers oder Auslegers durch das zu Verstehende ohne vorgängige Einschränkung als das eigentliche Zentrum der hermeneutischen Thematik im Blick zu halten. Gerade darum bemüht sich Gadamer, die Differenz der. geschichtlichen Situation des auszulegenden Textes zur Gegenwart des Auslegers unverwischt zur Geltung zu bringen. Denn eben diese Differenz artikuliert den Anspruch des Textes an das gegenwärtige Verstehen~ So durchdringen sich bei Gadamer im engeren Sinn~ herrrieneutische mit historischen Motiven. Die historische Differenz gewinnt hier entscheidende Bedeutung für die Struktur des Verstehensvorgangs selbst. Bei Schleiermacher war sie - als bloß äußerliche Voraussetzung des Verstehens außerhalb der hermeneutischen Erwägungen geblieben. Bei Dilthey und deutlicher noch bei Bultmann fanden wir Ansatzpunkte, die historische Differenz. zwischen Text und Ausleger in das hermeneutische Denken selbst aufzunehmen : bei Dilthey in dem Gedanken, daß der Mensch die Erkenntnis des Menschlichen nur aus der Geschichte gewinnen kann, und bei Bultmann in der Zuspitzung dieses Gedankens dahin, daß das geschichtlich Gestaltete, etwa durch einen Text Überlieferte, dem gegenwärtig Lebenden mit einem spezifischen Anspruch an sein Selbstverständnis begegnet. Solche Ansätze zur. Aufnahme der historischen Differenz zwischen Text und Ausleger in das hermeneutische Denken sind jedoch erst in Gadamers Werk konsequent ausgebaut worden. Auch Gadamer entwickelt eine Theorie der Sprachlichkeit des 298
Verstehens. Er gelangt dazu auf dem Wege über eine kritische Erörterung der Diltheyschen Hermeneutik~ Er erblickt die Schwierigkeit dieser Position darin, daß bei Dilthey die Geschichtlichkeit des Verstehens von überliefertem nicht tief genug als hermeneutische Struktur erfaßt ist (228). Der zeitliche Abstand des Auslegers von der Entstehungssituation des Textes ermöglicht aber geradezu erst den. Vorgang des Verstehens als eines Auslegen$ (280 f.). Jedenfalls wird dieser zeitliche Abstand bei Gadamer ganz grundsätzlich für die hermeneutische Relation in Anschlag ·gebracht, so daß er sagen kann: »Das hermeneutisch gesch~lte Bewußtsein wird ... historisches Bewußtsein einschließen« (282). Es müsse freilich zugleich auch »die eigene Geschichtlichkeit mitdenken«, so daß dem Verstehen selbst die Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen« ist (283). Die Weise, wie Damaliges und Heutiges verstehend in Beziehung zueinander gesetzt werden, beschreibt Gadamer ausgezeichnet als »Horizontverschmelzung« {286-290): Der Horizont des Auslegers und der des auszulegenden Textes sind zunächst verschieden, aber das .ist sozusagen nur die AusgangspositioJl des. Auslegungsvorgangs. Der eigene Horizont ist nämlich nicht starr; er ·ist einer Bewegung, einer Ausweitung fähig. Im Verstehen wird der eigene Horizont so erweitert, daß das zunächst Fremde mit ·seinem Horizont in dem erweiterten Horizont des Verstehens Aufnahme finden kann. In der Begegnung des Auslegers mit seinem Text bildet sich ein neuer, »einziger Horizont, deralldas umschließt, was das geschichtli
vereinnahmt wird, muß bei der Textauslegung der Interpret selbst die Eigengestalt, den fremden Horizont des Textes gegenüber seinem eigenen. mitgebrachten Horizont zur .Geltung bringen. Gadamer hebt das auch selbst hervor : »Jede Begegnung mit der Überlieferung, die mit historischem Bewußtsein vollzogen wird, erfährt an sich das Spannungsverhältnis zwischen Text und Geg~_nwart. Die hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten. Aus diesem Grunde gehört notwendig zum hermeneutischen Verhalten der Entwurf eines historischen Horizonts, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. Das historische Bewußts,ein ist sich seiner eigenen Andersheit bewußt und he~t daher den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab. Andererseits aber ... nimmt es das voneinander Abgehobene sogleich wied~r zusammen, um in der Einheit des geschichtlichen Horizontes, den es sich so erwirbt, sich mit sich selbst zu vermitteln. - Der Entwurf des historischen Horizontes ist also nur ein Phasenmoment im Vollzug des Verstehens und'; ; . wird von dem eigenen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt« (290). In dieser meisterhaften Beschreibung des Verstehens als Horizontverschmelzung ist in der Tat das historische Denken in den hermeneutischen Vollzug aufgenommen. Ob damit nicht die herrheneutische Fragestellung im engeren Sinne gesprengt und aufgehoben wird in ein universalge~chichtliches Denken, muß uns sogleich noch beschäftigen. Zuvor sind jedoch die Fortschritte dieser Auffassung vom Verstehen gegenüber der Hermeneutik Diltheys und Bultmanns hervorzuheben : 1. Gadamer beginnt nicht damit, den zu verstehenden Text durch die Weise der Fragestellung (Vorverständnis) auf ein y~,r:~:u~gesetztes Verständnis der Struktur des menschlichen Daseins zu beziehen, sondern sein erstes Bemühen. ist es, das zu Verstehende, Fremde, gerade in seinem Abstand vom gesamten mitgebrachten Horizont des Interpreten zu erfassen. »Die hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten« (290). Auf diese Weise besteht Aussicht, eine in der· mitgebrachten Fragestellung als solcher etwa schon angelegte Blickverengung zu überwinden. 2. Das Einverständnis, das im Vollzug des Verstehens angestrebt wird, gewinnt Gestalt durch Heraushebung eines umfas~00
senden Horizontes, der die beiden einander zunächst fremd gegenüberstehenden Horizonte des Interpreten und seines Textes umgr~ift. Dieser umgreifende Horizont bildet sich jeweils erst beim Vorgang des Verstehens selbst. Darin besteht geradezu das Verstehen. Der umgreifende Horizont ist nicht schon in der Fragestellung (als Vorverständnis) vorausgesetzt. 3. Die Unterscheidung zwischen (fragendem) Vorverständnis und (entwerfendem) Vorbegriff ist bei Gadamer übergriffen durch den Gedanken des vom Ausleger mitgebrachten Horizontes. Dadurch gerät im Ver~tehensvorgang nicht nur d~r jeweilige Vorbegriff von der Sache, sondern auch die Fragestellung in Bewegung; denn der mitgebrachte Horizont ist nicht starre Voraussetzung: »Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert. Dem Beweglichen verschieben sich die Horizonte« (288). So kommt der Interpret, nachdem er zunächst den Abstand des Textes von seinem eigenen, mitgebrachten Horizont sich bewußt macht (1), zur Ausbildung eines neuen, umfassenden Horizontes (2) und gelangt so über die Grenzen seiner ursprünglichen Fragestellung und Vormeinung hinaus (3). · Bei einer Anwendung dieser Einsichte auf die Auslegung neutestamentlicher Texte hätte sich der Ausleger zunächst klarzuwerden über den Unterschied seiner eigenen geistigen Sittiation, des Horizontes des »modernen Menschen«, an dem er selbst teilhat, vom Horizont der neutestamentlichen Schriftsteller, mit denen er sich befaßt. Sodann wird er versuchen - aber das ist jeweils ein schöpferischer Akt! -, eine Synthese zu gewinnen, einen umfassenden Verstehenshorizont zu formulieren, innerhalb dessen sowohl die Gedankenwelt des biblischen Textes, als auch die davon verschiedene des »modernen Menschen« je ihren Ort haben und so aufeinander bezogen werden können. Dabei käme alles darauf an, daß der neuentworfene Horizont weit genug ist, um nicht nur· »etwas« von den Texten, sondern ihren ganzen komplexen Reichtum mit in sich zu fassen. Solche Anwendung setzt nun bereits voraus, daß der im Verstehen gebildete umfassende Horizont als solche:r auch ausdrücklich formuliert wird. Dadurch dürfte sich die methodisch zu vollzieh~nde Auslegung vom unreflektierten Verstehen, wie es sich etwa im Gespräch ereignet, unterscheiden. Im Gespräch wenn es gelingt - verstehen die Partner einander, ohne daß der 301
umfassende Horizont, in dem .sich solches Verstehen vollzieht, ausdrücklich thematisiert werden müßte. Man versichert. sich vielmehr des gegenseitigen Einverständnisses im Ganzen durch die Verständigung über dieses oder jenes untergeordnete Einzelthema. Solche Verständigung im einzelnen macht sozusagen die Probe auf die vorgreifende Gewißheit eines Sichverstehens im Ganzen. Nur selten wird das Ganze, innerhalb dessen man übereinstimmt, selbst Thema des Gesprächs, insbesondere wohl dann, wenn die vorausgesetzte Übereinstimmung gefährdet ist. Ähnlich mag es sich bei unreflektierter Auslegung einer Überlieferung verhalten. Im methodischen Vollzug der Auslegung hingegen muß der Verstehensvorgang reflektiert werden, weil nur so die Rechtmäßigkeit der Auslegung überprüft werden kann. Der umfassende Verstehenshorizont muß formuliert werden, damit geprüft werden kann, ob er sowohl den des Textes als auch den Gegenwartshorizont des Auslegers zusammenzufassen in der Lage ist. Dabei hat das Streben nach Formulierung des umfassendsten Horizontes~ in welchem das. eigene Leben sich vollzieht, natürlich auch noch andere Wurzeln als die technischen Erfordernisse einer methodischen Auslegung überlieferter Texte. Der Mensch kann der Ganzheit seines eigenen Lebens nur in Verbindung mit der Ganzheit der Wirklichkeit überhaupt gewiß werden. Und er kann de~ Ganzheit der Wirklichkeit nur gewiß sein, indem er ihrer bewußt zu werden sucht. Auch die Verständigung im Gespräch hat ihren Antrieb im Suchen nach der einen Wahrheit, auch wenn sie nicht immer als die alles umfassende thematisiert wird. Dasselbe Suchen nach der Einheit der Wahrheit treibt zum Entwerfen umfassender Horizonte. Daß die besonderen Erfordernisse methodischer Textauslegung solche Entwürfe provoziert., macht nur deutlich, daß die methodische Auslegung des Uberlieferten an der Grundaufgabe des Menschen, die Wirklichkeit als ein Ganzes zu verstehen, beteiligt ist. Das Entwerfen eines Gesamtverständnisses der Wirklichkeit, das im Hinblick auf den Abstand des Auslegers zu der Überlieferung, die er interpretiert, wohl nur ein geschichtlich differenziertes und also ein Gesamt geschichtlicher Vermittlung der Gegenwart sein könnte, ist freilich gerade nicht die Konsequenz, die Gadamer aus seiner Beschreibung des Verstehens als Horizontverschmelzung zieht. Er hat ein solches Unternehmen in Gestalt von Hegels Philosophie des Geistes vor Augen31 , als den 302
Anspruch, »eine totale Vermi~tlung von Geschichte und Gegenwart zu leisten« (328). Dagegen macht Gadamer die »Offenheit« geltend, »in der Erfahrung erworben wird« (335). Er weist auf den negativen Charakter des Erfahrungsprozesses hin, in dessen Verlauf »stä:p.dig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt« werden (ebd.), und gelangt so zu der These, daß Erfahrung in unaufhebbarem Gegensatze zum Wissen stehe (33 8). Man kann dieser These entgegenhalten, daß Erfahrung doch auf Wissen hin tendiert, insofern sie sich neuem Wissen öffnet. Aber dennoch .bleibt es r~chtig~ daß jemand, der Erfahrungen zu machen wünscht, ebenso wie der Erfahrene, der um das ständige Widerfahrnis immer neuer Erfahrungen weiß, das eigene Wissen wie auch das etwa zu erlangende nie als abschließend ansehen kann. .Insofern hat Gadamet recht mit der Feststellung, die eigentliche Ertahrung sei »diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird« (340). Gadamer hat damit den Sachverhalt formuliert, der in der Tat alles heute mögliche Denken von Hege! trennt und eine einfache Wiederholung der Systematik Hegels unmöglich macht: Die Endlichkeit als Standpunkt des Denkens und die Offenheit der Zukunft. Wie aber kann'dari.n noch denkende Vermittlung der Geschichte mit dem gegenwärtigen Leben erfolgen ? Gadamer versucht dieser Aufgabe der Hermeneutik gerecht zu werden, indem er statt einer Totalvermittlung der Gegenwart mit der Geschichte auf die Sprachlichkeit der hermeneutischen Erfahrung reflektiert. Im Gespräch findet Gadamer das Modell des hermeneutischen Vorgangs (344 ff.). Der Forderung Gadamers, der Interpret müsse die Frage herausfinden, auf die der Text eine Antwort war, wird man nicht widersprechen. Aber nun wird damit auch bei Gadamer der Satz verbunden, der Text (also die Antwort auf jene zu rekonstruierende Frage) stelle »selbst eine Frage und ~stellt· damit unser Meinen ins Offene« (356). »Die Rekonstruktion der Frage, auf die . der Text die Antwort sein soll, steht selbst innerhalb eines Fragens, durch das wir die Antwort auf die uns von der Überlieferung gestellte Frage suchen«. Die rekonstruierte Frage, auf die der Text einmal die Antwort gab, geht in die Frage über, »die die Überlieferung für uns ist« (ebd.). Offenbar handelt es sich bei dedetzteren um die Frage, ob der Text auch für uns noch Antwort sein kann. Diese Redeweise, von einer »Frage« des Textes an den Leser und Aus-leger zu sprechen, hat aber doch 303
wohl nur den Wert eines Bildes, das die eigentümlichen Unentrinnbarkeit des Überlieferungszusammenhanges, in dem man steht, ob man sich nun positiv oder negativ zu ihm32 verhält, ausdrückt. Gadamer räumt selbst ein, der Text rede zu uns nicht »Wie ein Du«. Denn »wir, die Verstehenden, müssen ihn von uns aus erst zum Reden bringen« (359). Gerade diese letzte Einsicht bedeutet aber doch wohl, daß das Reden von der »Frage«, die der Text an uns stellt, nur eine Metapher sein kann: Nur für den fragenden Menschen wird der Text zur Frage; er ist das nicht von sich aus. Bevor wir diese Erwägungen, welche auf den Unterschied zwischen Textauslegung und Gespräch hindrängen, weiter verfolgen, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß Gadamer den hermeneutischen Vorgang mit Recht als einen Sprachvorgang auffaßt. Die .im Verstehen geschehende Verschmelzung der Horizonte ist ohne sprachlichen Ausdruck nicht vorstellbar, wenn sie vielleicht auch nicht mit Gadamer geradezu als »die eigentliche Leistu:t:lg« der Sprache zu bezeichnen ist (359, zur Sache s. u;). Im Verstehen gehi:. es in der Tat um »das Zur-Sprache-Kommen der Sache selbst«, sofern das . Verständnis der Sache . . . . notwendig in sprachlicher Gestalt« gewonnen wird (360), Die Sprache ist wirklich »das univtrrsale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht«, seifern eben im Verstehen die zu verstehende Sache zur Sprache kommt (366 ). Und so ist es auch das Wesen der Überlieferung, »im Medium der Sprache zu existieren« (367). Doch auch wenn man diesen nachdrücklichen Hinweisen auf die Sprachlichkeit des Verstehens gern folgt, stimmt die Verdeckung des Unterschiedes zwischen Textauslegung und Gespräch in Gadamers Argumentation bedenklich. Die Auslegung von über.:. Iiefertern ist ja nicht schon dadurch ein Sprachgeschehen, daß da jemand zu mir spricht- wie es im Gespräch der Fall ist.:.., sondern erst dadurch, daß der Ausleger die Sprache finden muß, die ihn mit dem Text zusammenschließt. Insofern ist auch die Horizontverschmelzung nicht in erster Linie eine Leistung der Sprache, sondern umgekehrt die Bildung einer neuen Sprachweise Ausdruck der verstehend vollzogenen Horizontverschmelzung. Der hermeneutische Vorgang ist gewiß sprachlich artikuliert. Aber es handelt sich dabei doch eher um die schöpferische Sprachbildung durch den Interpreten als um ein Angerufensein von einem Du. Nicht der Text »redet«, sondern der Ausleger findet einen 304
sprachlichen Ausdruck, der die Sache des Textes mit dem eigenen Gegenwartshorizont zusammenfaßt. ·Dabei geht es immer um die Formulierung der Sache des Textes, also einer Aussage. Und hier ist der Punkt erreicht, wo wir Gadamer nicht weiter folgen können. · Gadamer möchte nämlich das Sprachgeschehen des Verstehens von der Aussagefunktion der Sprache lösen (444). Der Begriff der Aussage steht nach seiner Meinung »in einem äußersten Gegensatz zu dem Wesen der hermeneutischen Erfahrung und der Sprachlichkeit der .menschlichen Welterfahrung überhaupt«. Gegen Platon wie gegen Hegel wird der Vorwurf erhoben, ihre Dialektik beruhe »der Sache nach auf der Unterwerfung der Sprache unter die >Aussage<« (ebd.). Wie begründet Gadamer solche negative Einschätzung der Aussage? Er behauptet, daß das Abgeben von Aussagen kein angemessenes »Sagen dessen ist, was man meint«. Denn das Sprachgeschehen der Verständigung halte »das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Urigesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen« und gebe es so zu verstehen (ebd.). Gerade so werde zur Sprache gebracht, »was ungesagt ist und zu sagen ist« (445). Dabei werden die Worte »ein Verhältnis zum Ganzen des Seins· aussprechen und zur Sprache kommen lassen«. Demgegenüber werde, wer nur »Gesagtes weitersagt«, unweigerlich immer »den Sinn des Gesagten verändern«, weil eben beim Weitersagen der unausgesprochenen Sinnzusammenhang der ursprünglichen Äußerung wegfällt (ebd.). Das stellt sich für Gadamer besonders deutlich im Vorgang des Verhörs dar: Die »Aussagen«, die hier protokolliert werden, sind immer schon reduziert, von ihrem ungesagten, aber mitschwingenden Sinnhorizont losgelöst, und so ist ihr Sinn von vornherein ein »entstellter Sinn« im Verhältnis zur ursprünglichen Rede (444). So kommt Gadamer zu dem Schluß: »in der Aussage wird der Sinnhorizont dessen, was eigentlich zu sagen ist, mit methodischer Exaktheit verdeckt« (ebd.), - eben durch die Abstraktion vom Hintergrund des Ungesagten. Zum näheren Verständnis der so begründeten Abwertung des Aussagecharakters der Sprache ist noch auf d~n Unt~rschied zu der von G. Ebeling gegebenen Begründung für die Abwehr eines Verständnisses. der Sprache von der Aussage her aufmerksam zu machen. Ebeling unterscheidet die Aussagefunktion der Sprache 305
von ihrer personal verstandenen Mitteilungsfunktion. 33 In voller Anerkennung des Bemühens, das Wesen der Sprache aus der Verengung einer abstrakten Betrachtungsweise der Worte bloß als Aussagemomente zu befreien, erhebt sich gegenüber dem »nicht ... sondern« Ebelings doch die Frage, ob das Stichwort »Mitteilung« hier auch das Moment der Aussage miteinbegreifen oder aber - wie es in seinen Ausführungen den Anschein hat - der Aussage entgegengesetzt werden soll. Im letzteren Falle wäre einzuwenden, daß Sachbezug und Personbeziehung immer schon zusammengehören, daß personale Gemeinschaft im Horizont gemeinsamer Sachinteressen entsteht, wie freilich auch umgekehrt alle Sachbezüge schon sozial bedingt sind. Dementsprechend wird die personale Dimension der Sprache (als Mitteilung) nur in ihrer konkreten Sachlichkeit (mit der ihr Aussagecharakter jedenfalls zusammenhängt) zugänglich. Bei Gadamer scheint dieser Zusammenhang durchaus gesehen zu sein. Er stellt dem Sprachverständnis im Zeichen der Aussage nicht den personalen Mitteilungscharakter der Sprache gegenüber, sondern die »Unendlichkeit des Ungesagten« (444); die den Horizont für den Sinn und das situa.tionsgemäße Verständnis des gesprochenen Wortes bildet, während die Aussage diesen Horizont verschwinden läßt. Der Hinweis Gadamers auf den ungesagten Sinnhorizont jedes gesprochenen Wortes ist zunächst überzeugend. Die erste hermeneutische Aufgabe besteht ja gerade darin, das Wort eines überlieferten Textes in seinen ursprünglichen, wenn auch ungesagten Sinnzusammenhang zurückzuversetzen, es aus seiner ursprünglichen Situation, aus der Situation seines Autors bei Abfassung des uns überlieferten Textes zu verstehen. Trotzdem kann erstens ein solches Verfahren selbst immer nur von einer genauen Erfassung des Ausgesagten ausgehen. Der implizierte, ungesagte Sinnhorizont wird dem Verstehen nur ~on der Aussage her zugänglich, nicht etwa ohne sie. Und zweitens kann von der Aussage her die Einheit des Sinnhintergrundes nur dadurch dem Ausleger zu klarem Bewußtsein kommen, daß sie nun auch ihrerseits Inhalt von Aussagen wird. Pie richtige Erkenntnis Gadamers, daß jedes ausgesprochene Wort einen unendlichen ungesagten Sinnhintergrund hat, tut also der . Bedeutu11g der Aussage für das gesprochene Wort und für ein Verstehen desselben keinen Abbruch, weil jener Sinnhintergrund immer nur 306
von der Aussage her erfaßt werden kann und dann-'-'- im Vollzug der Auslegung- selbst ein ausgesagter wird. Gadamers Argumentation trifft lediglich ein abstraktes Umgehen mit Aussagen, das auf deren ungesagten Sinnhorizont (mit Einschluß der personalen Bezüge, in denen das betreffende Wort ursprünglich gesprochen oder geschrieben wurde) nicht achtet. Folgt man also dem Argument Gadamers, wie es in der Tat geboten ist, dann gelangt man nicht etwa über die Aussageform der Sprache hinaus oder !)inter sie zurück, sondern dann bringt man :- als Ausleger- auch das noch zur Aussage, was in der ursprünglichen Aussage an Ungesagtem ·mitschwingt. Gerade durch die Auslegung,· sofern sie den Autor verstehen will, soll nun erst wirklich alles zur Aussage gebracht, ausdrücklich gemacht werden, was an Nuancen und Verweisungszusammenhängen bei der Formulierung eines Textes, zum Teil auch dem Autor bewußt, mit im Spiele war. Der ausgelegte Text ist gerade der in vorher ungeahntem Ausmaße hinsichtlich seines Sinnhorizontes objektivierte Text. 34 Auch Gadamer selbst kann sich dem Aussagesinn der Sprache nicht wirklich entziehen. Er versteht die Sprache im Anschluß an die anthropologischen Ansätze von Scheler, Plessner, Gehlen als Ausdruck der Umweltfreiheit, die alles menschliche Verhalten kennzeichnet (420 f.): »Aus dem Weltverhältnis der Sprache folgt ihre eigentümliche Sachlichkeit. Es sind Sachverhalte, die zur Sprache kommen. Eine Sache, die sich so und so verhält, - darin liegt die Anerkennung des selbständigen Andersseins, das eine eigene Distanz des Sprechenden ztir Sache voraussetzt. Auf dieser Distanz beruht, daß · sich · etwas als ein eigener Sachverhalt abzuheben und zum Inhalt einer Aussage (Hervorhebung von mir) zu werden vermag, die auchandere verstehen« (421). Diese Sätze beschreiben vorzüglich die Bedeutung der Aussagestruktur der Sprache : Einmal kommt darin das Spezifische der menschlichen, weltoffenen Verhaltensweise zum Ausdruck, eben ihre Sachlichkeit; darüber hinaus aber sagt Gadamer auch, daß auf der Aussagestruktur, auf der Ablösbarkeit der gemeinten Sache vom Redenden in der Aussage die Möglichk~it der Verständigung unter Menschen beruht. »Auf dieser Distanz beruht, daß sich etwas als ein eigener Sachverhalt abzuheben und zum Inhalt einer Aussage zu. werden vermag, die auch andere verstehen.« Also ohne Aussage, ·ohne die in der Aussage immer schort geschehende Objektivierung, kommt es gar nicht zur Verständigung zwischen 307
Menschen über etwas. Ohne Aussagen findet gar keine Sprache statt. Freilich ist gerade die Aussage selbst nicht verstanden, solange ihr jeweiliger ungesagter Sinnhorizont unbeachtet bleibt. Darum muß die Auslegung der Aussage auf ·die Situation reflektieren, -in_ der sie entstanden ist, und insofern geht die Auslegung hinter die Aussage zurück auf ihre Ursprungsbedingungen, um die Aussage verstehen zu können. Aber das ändert nk:hts _daran, daß alles sprachbezogene Verstehen von der Aussage anhebt, um sie kreist und schließt- als Auslegung- auch das noch, was in jener ungesagt blieb, zur Aussage bringt. Die Priorität der Aussage für die Hermeneutik bestätigt sich weiter durch Gadamers Feststellung, daß Verstehen immer ein »Sich~in-der-Sache-Verständigen« bedeutet (361 ). »Ei_n Gespräch führen heißt, sich unter die Führung der Sache stellen, auf die die Gesprächspartner gerichtet sind« (349). Die Sachlichkeit der Sprache, die sich in der Form der Aussage ausdrückt, konstituiert also auch den Sinn des Gesprächs. Im Gespräch geht es darum, die Sache zur Sprache, d. i. aber: zur Aussage zu bringen. Indem man sich in der Sache verständigt, versteht man auch einander. Diese-Sachbezogenheit gilt auch für das Geschäft des Auslegers. Obwohl dieses, wie wir sahen, eine andere Struktur hat als ein Gespräch, geht es doch auch hier darum, daß von der Aussage des Textes selbst her das Ganze der in ihm gemeinten Sache (mit Einschluß des ungesagt mitschwingenden Sinnhorizontes) zur Aussage zu bringen ist.
IV Es ist ein eigentümliches Schauspiel, zu erleben, wie ein scharfsinniger und tiefblickender Autor alle Hände voll damit zu tun hat, sei~e-- Gedanken davon abzuhalten, daß sie die in ihnen angelegte Richtung nehmen. Dieses Schauspiel bietet Gadamers Buch in seinem Bemühen, die Hegeische Totalvermittlung der gegenwärtigen Wahrheit dur~h die Geschichte zu vermeiden. Dieses Bemühen ist, wie gesagt, sehr wohl begründet durch den Hinweis auf die Endlichkeit der menschlichen Erfahrung, die nie in ein absolutes Wissen aufzuheben ist. Aber seltsamerweise drängen die von Gadamer beschriebenen Phänomene immer wieder in die Richtung einer universalen Geschichtskonzeption, der er - das 308
Hegeische System vor Augen - gerade ausweichen möchte. Das gilt zunächst von Gadamers Neuformulierung des hermeneutischen Geschehens als »Horizontverschmelzung«. Wenn es bei der Auslegung um das Verhältnis zwischen Damals und Heute geht, so daß die Differenz zwischen ihnen beim hermeneutischen Brückenschlag zugleich gewahrt bleibt, - wenn ferner hinter den Text zurückgefragt werden muß in seinen ungesagten Sinnhorizont, in seine historische Situation, so daß der Ausleger als erstes den historischen Horizont, in welchem der Text beheimatet ist, zu entwerfen hat, dann iäßt sich .die .hist~rische Situation des Textes mit der Gegenwart des Auslegers doch wohl nur -auf die Weise sachgerecht verbinden, daß der Geschichtszusammenhang der Gegenwart mit der damaligen Situation, aus der der Text stammt, erfragt wird. Das heißt, der Text kann nur verstanden werden im Zusammenhang der Gesamtgeschichte, die das Damalige mit der Gegenwart verbindet, und zwar nicht nur mit dem heute Vorhandenen, sondern mit dem Zukunftshorizont des gegenwärtig Möglichen, weil der Sinn der Gegenwart erst im Lichte der Zukunft hell wird. Nur eine Konzeption des die damalige mit der heutigen Situation und ihrem Zukunftshorizont tatsächlich verbindenden Geschichtsverlaufes kann den umfassenden Horizont bilden, in welchem der beschränkte Gegenwartshorizont des Auslegers und der historische Horizont des Textes verschmelzen; denn nur so bleiben im umgreifenden Horizont des Damaligen und des Heutigen in ihrer geschichtlichen Eigenart und Differenz gegeneinander erhalten, aber nun so, daß sie als Momente in die Einheit eines beide umgreifenden Geschichtszusammenhanges eingehen. Daß die Beschreibung des Verstehens als Horizontverschmelzung in die bezeichnete Richtung drängt, hat Gadamer selbst gesehen (324). Er meint jedoch, dieser Tendenz ausweichen, den »spekulativen Anspruch einer Philosophie der Weltgeschichte« (343) vermeiden zu können durch die Besinnung auf die Erfahrung der Sprachlichkeit des überlieferten. Wir sind diesem Versuch nachgegangen und haben gesehen, daß dieser Weg nicht ohne Gewaltsamkeit gegenüber den Phänomenen der Sprache selbst zum erstrebten Ziel führen kann. Die Sachlichkeit menschlicherWelterfahrung, die so etwas wie Sprache als eine spezifisch menschliche Verhaltensweise allererst konstituiert und die sich innerhalb der Sprache selbst in besonderer Weise im Aussagecha309
rakter der Sprache äußert, schließt ein unvermitteltes Verhältnis der Gegenwart zum »Anspruch« überlieferter Texte aus. Das Verstehen ist immer durch die vom Text ausgesagte Sache vermittelt. Aber diese Sache ist im Text immer schon im Ganzen eines ungesagt bleibenden Horizontes zur Sprache gebracht, der nicht der Gegenwartshorizont des Auslegers ist, sondern mit der besonderen historischen Situation, in der der Text entstanden ist, zusammenhängt. So führt die ·Besinnung auf die Sprachlichkeit des Verhältnisses zwischen Ausleger und Text zurück auf die historische Differenz ihrer Horizonte, die durch Horizontverschmelzung zu überbrücken ist. Die Besinnung auf die Sprachlichkeit 'dieses Verhältnisses für sich allein vermag diese Oberbrückung also nicht zu leisten. Die Überbrückung muß im Bereic~ der ausgesagten Sache selbst geschehen, indem diese nämlich in ihrer Geschichtlichkeit in den Blick gelangt, .so daß Kunst, Religion und Recht, aber selbst eine anscheinend so geschichtslose Sache wie die der Mathematik, als in ihrem Wesen, ihrem Begriff nach geschichtlich gewordene und geschichtlich strukturierte Gehalte zu verstehen. sind: die Kunst als schöpferischer Entwurf, das Recht als positive Setzung, die Religion als in ihren Formen geschichtlich gewordene und vermittelte, die Mathematik als das Instrument der .Weltbeherrschung durch Abstraktion. Der Begriff der Wahrheit selbst ist wesentlich als Geschichte zu fassen. 35 Das bedeutet keineswegs ihre relativistische Auflösung, wohl aber die Unmöglichkeit, die Einheit der Wahrheit als zeitlose Identität derjeweiligen Sache zu denken ; sie ist 'nur als das Ganze eines Geschichtsverlaufes zu erfassen. Als zeitlos identisch werden immer nur abstrakte Allgemeinbegriffe von dem Menschen, der Natur, der Architektur, dem Recht usw. gedacht. Eben in ihrer zeitlosen Allgemeinheit besteht ihre Abstraktheit und damit ihre nur vorläufige Wahrheit. Sie alle kommen in ihre eigentliche Wahrheit erst durch ihre Aufhebung in die Geschichte der in ihnen gemeinten Sache .. Damit ist nicht in Abrede gestellt, daß alle Erkenntnis mit abstrakt-allgemeinen Vorstellungen von ihrer Sache beginnt, aber solChes anfängliche, unumgänglich abstrakte Vorstellen muß .sich aufheben lassen in ein differenziertes Verständnis der Sachen in ihrer geschichtlichen Bewegung. Nur durch die Abwertung der Aussagestruktur der Sprache36 die er aber doch selbst anderwärts als ein primäres Phänomen 310
anerkennen muß (421) - kann Gadamer darüber hinwegkommen, daß das Verstehen der Sache eines Textes einen Entwurf der Geschichte dieser Sache (zumindest der Geistesgeschichte des menschlichen Verstehens derselben) erfordert, weil nur im Horizont eines solchen Entwurfs die durch den historischen Ort bedingte Sachperspektive des Textes und die gegenwärtige_Sach:: perspektive des Auslegers sachgerecht aufeinander bezogen werden können. Und da die verschiedenen Sachbereiche wieder untereinander zusammenhängen, so fordert die hermeneutische Aufgabe nicht nur EntwÜrfe. der Geschichte dieses 9der jenes besonderen Sachbereichs, sondern universalgeschichtliche Entwürfe, die die wechselnden Zusammenhänge aller verschiedenen Sachbereiche umfassen. Erst im Zusammenhang der Universalgeschichte kann das Damals des Textes mit dem Heute des Auslegers so verbunden werden, daß ihre zeitliche, historische Differenz nicht verwischt wird, sondern in dem beide verbindenden Geschehenszusammenhang bewahrt und doch überbrückt wird. Denn schon die Ausgrenzung eines Sachbereichs, aufderi hin ein überlieferter Text befragt wird, kann eine Verengung der Fragestellung bedeuten, welche eine moderne Scheidung der Sachbereiche voraussetzt, die der Perspektive des Textes selbst Gewalt antut. Das eigentliche Interesse des Umgangs mit überlieferten Texten ist nun allerdings darin begründet, daß die Gegenwartsperspektive der jeweiligen Sache selbst fraglich ist. Sie ist nicht ein Gegebenes, das der Ausleger als solches in Ansatz zu bringen hätte, nur um die andersartige Perspektive seines Textes als einen noch unzulänglichen Standpunkt davon abzuheben. Vielmehr gehen die überlieferten Texte- freilich in sehr unterschiedlichem· Maße - den Ausleger selbst im Hinblick auf sein gegenwärtiges Sachverständnis etwas an. Weil die Wahrheit der Sache auch· in der gegenwärtigen Sachperspektive noch nicht endgültig und absolut allgemeingültig gegeben ist, sondern noch fraglich bleibt, weiterer Erfahrung offen, darum können auch die überlieferten Texte Anlaß geben, auf neue, in der gegenwärtigen Perspektive nicht zur Geltung kommende Seiten der Sache aufmerksam zu werden. Auch wenn der überlieferte Text in seinem historischen Sinn nie einfach das Lösungsmodell für die gegenwärtige Sachproblematik liefern kann, vermag er doch den Anstoß für deren bessere, schöpferische Bewältigung zu geben. Das ist die Bed._eu-: . 311
tung der hermeneutischen . Forderung, den überlieferten Text nicht nur auf einen gegenwärtig vorhandenen Sachhorizont, sondern auf den Zukunftshorizont der Gegenwart, danut auf die Fraglichkeit des gegenwärtigen Sachverständnisses zu beziehen, um so vielleicht neue Möglichkeiten gegenwärtigen Verstehens der Sache selbst zu entdecken. Hier liegt das Recht der Wendung vom »Anspruch« eines Überlieferten Textes an die Gegenwart, die seit Bultmann in der theologischen Hermeneutik - und gewiß nicht. zufälligerweise gerade hier-" 7 - eine so große Rolle spielt. Freilich ist solcher Anspruch selbst immer wieder fraglich. Er muß sich in jeder Gegenwart durch die erschließende Kraft des überliefert~n für die. Gegenwartsproblematik aufs neue bewähren. Aber daß überhaupt solche erschließende Kraft· von einem überlieferten Text ausgehen kann, hängt damit zusammen, daß das gegenwärtige Sachverständnis noch nicht das absolute ist, sondern selbst einer endlichen Perspektive verhaftet und so der Fraglichkeit. überantwortet ist. In seiner Fraglichkeit ist das gegenwärtige Sachverständnis bezogen auf Überlieferung, angesichts einer offenen Zukunft. Das bedeutet, daß die Sache, um die es heute geht, nicht ohne Rücksicht auf früher dazu Gesagtes und Geschriebenes verstanden werden kann. Hier stoßen wir auf die von Gadamer besonders betonte Bedeutung der Applikation des Überlieferten. Sie bildet ein Moment der hermeneutischen Aufgabe, das sich besonders in der juristischen und in der theologischen Hermeneutik aufdrängt, aber doch für alle geisteswissenschaftliche Hermeneutik wesentlich ist (290-323). Insofern .nun aber gerade die Applikation, indem sie über das historisch zu erhebende Selbstverständnis des Textes hinausgeht auf die gegenwärtige Möglichkeit hin, die »Aufgabe der Vei:mittlung von Damals und Heute« (316) hat, mündet auch sie wieder in die universalgeschichtliche Problematik ein. Denn das »Geflecht aus H;~rkommen und Überlieferung«, an dem wie der Jurist und der Theologe,. so auch der Philologe webt (321), ist seinerseits der eigentlich hermeneutische Gegenstand des Historikers (322 f.). Dessen Applikationsleistung besteht eben darin, daß er über den Text seiner »Quellen« verschiedenster Art hinausgreifend die »Einheit des überlieferungsganzen« (322) entwirft, damit aber den Horizont, innerhalb dessen sich der Jurist wie der Philologe immer schon bewegen. Die Einheit des überlieferungsganzen gibt damit aber auch - das ist über Gadamers Feststellungen 312
hinaus hier zu folgern - erst den Horizont ab für eine Beurteilung der Applikationsleistungen im Umgang mit überlieferten Texten, wenn auch andererseits philologische oder juristische Textinterpretation einen bestimmten, zu engen Entwurf des überlieferungsganzen sprengen kann und also ebenfalls eine kritische Funktion ihm gegenüber wahrzunehmen hat. Dies letztere hebt nicht auf, daß die Sachgemäßheit der Anwendung eines überlieferten Textes auf die gegenwärtige Sachprobiematik nicht ohne Reflexion auf die historische Differenz der gegenwärtigen von der damaligen Situation und auf das beide trotzdem Verbiodende überprüft werden kann. Ja, gerade solche historische Reflexion auf das überlieferungsganze befreit u. U. erst, wie schon Dilthey gesehen hat, zu den besonderen Möglichkeiten gegenwärtigen Handelns, also auch zur Besonderheit gegenwärtiger Applikation des überlieferten.38 Daß ein universalgeschichtlicher Entwurf durch seinen spekulativen Anspruch solche Möglichkeiten auch verdecken kann, statt sie zu erschließen, ist unbestreitbar; aber das beweist nur die Endl!chkeit, die wie allem menschlichen Denken, so natürlich auch universalgeschichtlichen Entwürfen eignet, und es bedeutet im konkreten Falie die Aufforderung zu jeweils besseren Entwürfen der Universalgeschichte. Hier ist abschließend noch einmal auf Hege! zurückzukommen. Gadamer hat mit Recht hervorgehoben, daß Hegels System des absoluten Begriffs die unaufhebbare Endlichkeit der Erfahrung übersprungen ·hat. Damit hängt weiter zusammen, daß die Zukunft von Hegel nicht mehr als offene Zukunft gedacht werden konnte, sofern ihre Offenheit darin besteht, daß die Zukunft immer wieder überraschende Erfahrungen bringen wird. Mit der Verkennung der unaufhebbaren Endlichkeit der Erfahrung hängt weiter die Verkennung der Unverrechenbarkeit des Zufälligen .und damit auch des Individuellen unter das Allgemeine zusammen. Alle diese Punkte markieren die Schranken ·der Hegeischen Philosophie und so auch seiner Geschichtsphilosophie. Aber die Aufgabe einer Philosophie oder Theologie der Weltgeschichte darf wegen des Scheiteros der Hegeischen Lösung nicht überhaupt preisgegeben werden, wie Gadamer es tut zugunsten einer hermeneutischen Ontologie im Horizont der Sprache (415 ff.). Diese Konzeption bleibt dem Vorwurf ausgesetzt, den Geschehenszusammenhang abstrakt aufzufassen, nämlich unter Abstraktion vom Aussagecharakter der Sprache, durch 313
den das Wort über sich selbst als »bloßes« Wort gerade hinausweist. Es zeigte sich uns, daß die Sprache durch ihren Aussagecharakter auf die universalgeschichtliche Problematik zurückführt. Statt dieser Problematik auszuweichen, muß gefragt werden, wie heute eine Konzeption der Universalgeschichte möglich ist, die im Gegensatz zu der Hegels die Endlichkeit der menschlichen Erfahrung und damit die Offenheit der Zukunft, sowie d~s Eigenrecht des Individuellen, wahrt. Die so formulierte Aufgabe mag anmuten wie die Quadratur des Zirkels, weil das Ganze der Geschichte nun einmal nur von ihrem Ende her in den Blick kommen könnte, so daß von einer weiteren Zukunft ebensowenig wie von der Endlichkeit der menschlichen Erfahrung mehr zu reden wäre. Aber die Hegeische Konzeption der Geschichte ist doch nicht die einzig mögliche; denn das Ende der Geschichte kann auch als ein selbst nur vorläufig bekanntes verstanden werden, und in Reflexion auf diese Vorläufigkeit unseres Wissens vom Ende der Geschichte wäre der Horizont der Zukunft offengehalten und .die Endlichkeit menschlicher Erfahrung gewahrt. Eben dieses Verständnis der Geschichte als eines von einem vorläufig, antizipierend zugänglich gewordenen Ende her gegebenen Ganzen ist dasjenige, das heute an der Geschichte Jesu in ihrer Beziehung ::tuf die israelitisch-jüdische Überlieferung abzulesen ist. Das kdnnte Hegel noch nicht erkennen, weil ihm wie der neutestamentlichen Exegese seiner Zeit der eschatologische Charakter der Botschaft Jesu verborgen blieb. Insofern liegt hier ein Paradigma dafür vor, wie die Philologie von überlieferten Texten her (freilich nicht von jedem beliebigen Text aus!) nicht nur eine gegebene universalgeschichtliche Konzeption in Frage stellen, sondern auch den Weg .zu ihrer Ersetzung durch einen besonderen Entwurf weisen kann. Das hängt freilich in diesem Falle damit zusammen, daß die biblische Überlieferung den Ursprung des universalgeschichtlichen Denkens überhaupt bildet. Darum kann ein tieferes Verstehen dieser Überlieferung den Anstoß zu wirklichkeitsgerechteren Entwürfen der Universalgeschichte geben. Die Möglichkeit, von dem ursprünglichen eschatologischen Sinn der Geschichte Jesu als Antizipation des Endgeschehens her die Problematik der Universalgeschichte neu in den Blick zu fassen, wird in unserem Zusammenhang dadurch relevant, daß die hermeneutische Thematik selbst auf das Problem der Universalgeschichte zurücklenkt, weil ein Verstehen 314
überlieferter Texte in ihrer historischen Differenz von der Gegenwart ohne ein universalgeschichtliches Denken, das freilich den Horizont einer offenen Zukunft und damit der Möglichkeiten gegenwärtigen Handeins miteinschließen ·muß, nicht in sachgerechter Weise methodisch durchführbar ZU sein scheint. Die Bedeutung des Buches von Gadamer liegt darin, die Unentrinnbarkeit dieser Problematik für das hermeneutische Denken nachdrücklich vor Augen zu führen, zum Teil durch den ausdrücklichen Hinweis auf die Aufgabe einer Vermittlung der Vergangenheit, der der Text angehört, rriit der Gegenwart, zum anderen Teil aber auch ·durch die Vergeblichkeit von Gadamers eigenem Versuch, der universalgeschichtlichen Konsequenz seiner Beschreibung des Verstehens auszuweichen. Gerade die Aporie einer gegenüber der Geschichtsphilosophie (oder Geschichtstheologie) sich verselbständigenden hermeneutischen Ontologie weist um so nachdrücklicher zurück auf die Aufgabe, in einem über die Unzulänglichkeiten der Hegeischen Konzeption hinausgreifenden Entwurf der Universalgeschichte die hermeneutische Thematik, deren eigene Logik auf die universalgeschichtliche Fragestellung hindrängt, aufzuheben.
Anmerkungen 1 Die Sache, die ein Text· aussagt, ist natürlich nicht immer ein bestimmtes Geschehen. Dies ist nur bei Texten der Fall, die vort-· Ereignissen und Personen sowie von deren Bedeutung reden. Die Sache eines.Textes kann aber auch eine mathematische Wahrheit, ein Naturwesen, ein technisches Gebilde, ein philosophischer Gedanke sein. Daß alle diese Gehalte ihrerseits wieder geschichtlich bedingt sind, ist eine Frage für sich, die uns hier nur am Rande beschäftigen kann. Bei den biblischen Texten haben wir es aber in jedem Falle mit Zeugnissen von bestimmten Ereignissen und der ihnen innewohnenden Bedeutung zu tun. Die Rückfrage hinter sie auf ihre Sache wird insofern nach dem wirklichen Hergang der Ereignisse fragen und also historisch sein. 2 So etwa 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, 1962, 106 f. mit Berufung auf R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte, 1958, 16 u. ö. Allerdings muß Weberangesichts der Gegenwärtigkeit des histori~< .. sehen Fragens selbst zugestehen, >>daß die Geschichte nicht in jedem Sinne >tot< ist« (108).
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··-3 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1960. Dazu ergänzend Gadamers Aufsatz: Hermeneutik und Historismus (PhR 9, 1962, 241-276). 4 Gadamer, Wahrheit und Methode, 320. . 5 R. Blutmann, Das Problem der Hermeneutik (1950, in: Glauben und Verstehen, 1952, 211-235), 214. · · 6 Gadamer, Wahrheit lfnd Methode, 185 7 Fr. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hrsg. und eingeleitet von H. Kimmerle (AAH 1959, 2), 55 ( = 1. Entwurf von 1810). 8 Kompendium von 1819, §§ 3-5 (Kimmerle 80 f).
9 ·R. R. Niebuhr, Schleiermacher on Language and Feeling (ThToday) 17, 1960, 150-167), bes. 153 f. · ''fo Kimmerle schreibt" in seiner EinleitungS. 16 : Schleiermacher verkennt, »daß das Wissen um die geschichtlichen Zusammenhänge . . . zum Prozeß des Verstehens selber hinzugehört« und nicht nur seine Voraussetzung bildet. Vgl. auch Gadamer, Wahrheit undMethode, 179. 11 Seit den Akademiereden Ober den Begriff der Hermeneutik etc., 1829. 12 Kimmerle, Einleitung, 23. Kimmerle sieht in dieser Entwicklung einen Substanzverlust (ebd.). Sie ist jedoch schon in der frühen Unterscheidung zwischen allgemeiner Wortbedeutung und individueller Nuance als Problem angelegt (vgl. Aphorismen von 1805 und 1809, 34). Die . Frage, wie es von der einen zur anderen kommt, wird später durch die psychologi~che Konstruktion gelöst. Daß die konkrete Aussage als »empirische Modifikation einer idealen Größe« (Kimmerle 23) aufzu·fassen sei, ist jedoch, wie aus der angeführten Stelle deutlich ist, die Meinung Schleiermachers schon früh gewesen. 13 Vgl. Kimmerle 138 14 Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, .120 ff. (Kraft und Äußerung), vgl. auch Gadamer, a.a.O., 193. Zu Droysens Grundriß der Historik § 9 (und dem entsprechenden Abschnitt der von R. Hübner ·1937 herausgegebenen Vorlesungen, 19583, 21 ff.) vgl. Gadamer, a.a.O., 204.· Siehe aber schon Schleiermachers philosophische Ethik, ed. Twesten, 1841, § 61 (S. 64). 15 W. Dilthey, Werke VII, 278; dazu Gadamer, a.a.O., 209 16 Vgl. R. Bultmanns Argumentation gegen Collingwood in: Geschichte und Eschatologie, 1958, 162 f. 17 R. Buhmann, Das Problem der Hermeneutik (s. o. Anm. 5), 217. · .. Dieser Aufsatz wird im folgenden nur mit Seitenangabe im Text zitiert. 18 Zwar stimme ich Bultmann darin zu, daß Gott heute nur noch gedacht werden kann als der in der Fraglichkeit menschlichen Daseins Erfragte. Aber auch wenn Gott seit Beginn der Neuzeit nur noch voni . Menschen her gedacht werden kann, so doch als die unumgängliche.
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Voraussetzung menschlichen Selbstverständnisses und nicht nur als Ausdruck von dessen Fraglichkeit. Insofern aber geht das Gottesverstäp.dnis dem Selbstverständlichen logisch (nicht psychologisch) voraus: Darauf beruht ja übrigens auch die Unangemessenheit eines vom Selbstverständnis ausgehenden Gottesbeweises. Die sachliche Vorordnung des Gottesverständnisses vor das Selbstverständnis äußert sich darin, daß Gott von der Welt her erfahren wird, als Grund eines Gesamtverständnisses der Welt und des Menschen in ihr, im Zusammenhang der jeweiligen Erfahrung der Wirklichkeit im Ganzen. Die Fraglichkeit des menschlichen DaseiJ;J.s hat es ja wesentlich mit dem Weltverhältnis zu tun, insofern die Ganzheit des Daseins nur in Relation zur Ganzheit der Welt zu erlangen ist. Darum kann sich der Mensch mit keiner Antwort' auf die Fraglichkeit seines Daseins zufriedengeben, die nicht sein Weltverhältnis mit einschließt, die Welterfahrung (auch die der Physik!) als ein Ganzes verständlich macht. 19 Siehe Bultmanns Ausführungen über den Menschen als »Subjekt der Geschichte« in: Geschichte und Eschatologie, 1958, 164 ff. 20 Zu Glauben und Verstehen II, 225 f. vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 1927, 383. 21 Bultmann grenzt sich in .»Geschichte und Eschatologie« 141 f. ausdrücklich gegen den »ästhetischen Standpunkt« der Geschichtsauffassung Diltheys ab. Er kann jedoch aud;t hervorheben (so im Zusammenhang der oben zitierten Stelle aus Glauben und Verstehen II, 216), daß Dilthey durch sein~n Gedanken, nur die Geschichte zeige, was der Mensch ist, weil nur die Fülle geschichtlicher Gestaitungen die Möglichkeiten des menschlichen· Daseins offenbare, ·eigentlich über den ästhetischen Standpunkt hinausweist. 22 Bultmann,. Geschichte und Eschatologie, 177. 23 Ebd. 168 ff. 177, zur zweiten Alternative 179 ff. und besonders auch die Darlegungen im Aufsatz Neues Testament und Mythologie: Kerygma und Mythos I, 1948, 37 ff. 24 H.-G. Gadamer, Hermeneutik und Historismus (s. o. Anm. 3), 261. 25 Vgl. dazu die Ausführungen über das Wissen des sich selbst übernehmenden (hier = über sich verfügenden?) Daseins von der damit abgewiesenen »anderen Möglichkeit« des Glaubens in Glauben und Verstehen I, 310 und ff. Zur Problematik des bloßen »Daß« bei Bultmann hinsichtlich des Heilsgeschehens selbst wie hinsichtlich der Verkündigung vgl. G. Ebeling, Theologie und Verkündigung, 1962, passim, bes. 26 ff., 39, 68 f., 115 f. 26 Fuchs hat diesen Zusammenhang im Ergänzungsheft zu seiner Hermeneutik (1958, 6) selbst hervorgehoben: Daß der Glaube ein >>Sprachereignis« ist, dazu gab »Bultmanns Terminus >Anrede< hinreichend Anlaß«.
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27 E. Fuchs, Hermeneutik, 19582 , 75. (Die weiteren Zitate Im Text beziehen sich auf dieses Werk.). 28 Ebd. 70 f. 29 Ebd. 64. - Fuchs verwahrt sich insofern mit Grund gegen die Vermutu·ng einer besonderen Beeinflussung durch den >>späten« Heidegger; (Ergänzungsheft S. 5), die jüngst noch wieder von Gadamer (PhR 9, 1962, 262) geäußert worden ist. 30 Vgl. E. Fuchs, Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, 1959, 282 f., 190 f., 193, sowie Hermeneutik, 133,147. 31 Das ganze Werk Gadamers befindet sich in einer teils offenen, teils stillen Auseinandersetzung mit Hegel. Schon bei der Überleitung zum zweiten Teil, der die geistesgeschichtliche Hermeneutik behandelt, bemerkt Gadamer, daß Hegel über >>die ganze Dimension« hinausweise, in der Schleiermacher das Problem des Verstehens gestellt habe. Hegel habe erkannt, daß »das Wesen des geschichtlichen Geistes nicht in der Restitution des Vergangenen, sondern in der denkenden Vermittlung mit dem gegenwärtigen Leben besteht« (161). Er sieht es als seine >>Aufgabe ... , mehr Hege! als Schleiermacher zu folgen« (162), und in der Tat ist die Theorie des Verstehens als Horizontverschmelzung auf dem Boden Begelseher Dialektik beheimatet (vgl. 290). Und doch scheut Gadamer den »spekulativen Anspruch einer Philosophie der Weltgeschichte« (343), weiler-mit gutem Grundin Hegels Versuch, die Geschichte im »;tbsoluten Selbstbewußtsein der Philosophie« (338) aufzuheben, einen Widerspruch zur Endlichkeit der menschlichen Erfahrung erblickt (339 f.). Darum ist er bestrebt, statt der Universalgeschichte die Sprachlichkeit als »Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart« herauszustellen (451 ), mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß damit außer einem· abwegigen geisteswissenschaftlichen Objektivitätsideal auch >>der idealistische Spiritualismus einer Unendlichkeitsmetaphysik im Stile Hegels vermieden werden« solle (ebd.). . 32 Genauer müßten es .heißen : zu bestimmten überlieferungsgehalten. Denn zum Ganzen des überlieferungszusammenhanges, in dem man steht, kann man deshalb nicht Stellung nehmen, weil man keinen Standpunkt finden kann, der schlechthin außerhalb dieses Ganzen gelegen wäre. 33 G. Ebeling, Wort Gottes und Hermeneutik (ZThK56, 1959, 224-251), bes. 245 f. Ebeling betont die Zusammengehörigkeit von Inhalt und Macht des Wortes in einem Geschehen, »Zu dem zumindest zwei gehören«, und fährt fort: >>Die Grundstruktur des Wortes ist darum nicht Aussage -das ist eine abstrakte Abart des Wortgeschehens -, sondern Mitteilung, gewiß nicht in dem abgeblaßten Sinne.. von. Information, sondern in dem gefüllten Sinn von Partizipation und Kommunikation« (245 f., Auszeichnungen von mir). Weiter wird 318
Mitteilung als Zusage bestimmt. Als solche sei sie am reinsten, wenn »der, der spricht, im Wort sich selbst dem anderen verspricht und · zuspricht und ihm dadurch Zukunft öffnet, daß er in ihm Glauben erweckt« (246). Analog der Unterscheidung Ebelings hatte bereits Fr. Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1952, 234 ff. hinsichtlich des Begriffs von »Wort Gottes« auf den personalen Charakter des Wortes als Gabe und Forderung (241) abgehoben, mit Betonung der Mächtigkeit (ebd.) dieses Wortes und seines Charakters als eines göttlichen »Sich-uns-Versprechen(s)« (246), inAbwehreines Verständnisses von Wort als »Mitteilungs- und Verständigungsmittel« (244). 34 Der Satz ·verbindet mit Bedacht das nachgerade berüchtigte ·Wort >>objektiviert« mit einem quantitativen Gesichtspunkt. Die Frage nach dem jeweiligen »Ausmaß« von Objektivierung und Objektivi~-rbar., keit könnte vielleicht, wie ich schon in ThLZ 83, 1958, 327 f. angedeutet habe, die falsche Alternative vermeid~n zwischen dem mit Recht in Zweifel gezogenen Wissenschaftsideal restloser Objektivität (als vollständigem Absehen von allem Subjektiven), das noch nicht einmal in den Naturwissenschaften und in der Mathematik erreichbar ist, und der Illusion eines überhaupt. nicht objektivierenden Redens, das ebensowenig erreichbar sein dürfte. M. Landmann hat gegenüber der modischen, schlagwortartigen Forderung nach »Überwindung« des objektivierenden Denkens mit Recht darauf verwiesen, daß. die Fähigkeit zur Objektivierung, zur Erfassung der begegnenden Wirklichkeit in ihrer (gewiß nur relativen, mehr oder minder großen) Selbständigkeit gegenüber der erfahrenden Subjektivität, das Auszeichnende menschlichen Verhaltens zur Welt, nämlich seine spezifi .... · sche Sachlichkeit, die in seiner weitgehenden Triebfreiheit gründet, kennzeichnet (Philosophische Anthropologie, 1955, 215 f., 219 f.). Siehe jetzt auch J. Maltmann in EvTh 22, 1962, 45 ff. sowie auch die oben im Text referierte Anknüpfung Gadamers an-die Verhaltensanthropologie. 35 Siehe dazu meinen Artikel Was ist Wahrheit, in der Festschrift für H. Vogel: Vom Herrengeheimnis der Wahrheit, hrsg. v. Kurt Scharf, 1962, 214-239, hier 220-222. 36 Gadamer bezeichnet die Aussage als >>Denaturierung« des Verständigungsgeschehens (445), mit Ausnahme der dichterischen Aussag!!, die aber Aussage in einem anderen Sinne, nämlich als Ausdruck, ist. 37 Die Überlieferung, mit der es die Theologie zu tun hat, nimmt j.ain ·besonderer Weise für sich in Anspruch, die Situation d~s Menschen und die Wirklichkeit überhaupt in ihrer Wahrheit zu enthüllen. 38 Natürlich bedeutet das nicht ein Herausspringen aus dem Traditionszusammenhang überhaupt, als ob historische Forschung prinzipiell von der Macht der Tradition befreite!
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Gerhard Ebeling Hermeneutische Theologie ?::I Wem. es mit der Theologie ernst ist, der bleibt im ·Fragen nach rechter, ehrlicher Theologie. Solch anhaltendes Fragen ist ihre conditio sine qua non. · Da~m ist das Thema1 als Frage formuliert und nicht als Parole, als sollte aus .dem Fragen entlassen und das Parteidenken einer theologischen Sekte proklamiert werden. Das Thema ist freilich auch nicht gemeint als unbedachte Infragestellung dessen, was man mit dieser Etikette als angebliche Mode- und Zerrallserscheinung diskriminiert, ohne über solches Stichwort nachzudenken. Die Frage nach hermeneutischer Theologie lädt vielmehr zu einer Besinnung ein, ob und wie damit zu rechter, ehrlicher Theologie, also in die Offenheit, anhaltenden. Fragens nach ihr und in ihr, gewiesen sein könnte. Daß solches Fragen mit dem Verstehen und dem verantwortlichen Reden in Sa<;heri. der Theologie zu tun hat, also mit dem Problem der I:fermep.eutik, ist im Grunde eine Tautologie. Jedoch das Nächstlie'gende ist vielfach das Fernste, das Elementarste das am schwersten zu Erlassende, das Selbstverständliche das am wenigsten Bedachte. Daß wir nach rechter, ehrlicher Th~_s>lpgie fragen müssen, weil uns als Theologen das Verstehen und das verantwortliche Reden zu schaffen machen, das wird uns freilich oft genug und hart genug zum Bewußtsein gebracht. Wenn es dafür überhaupt noch der Belege bedarf, so sei ein, wie mir scheint, besonders erregendes Beispiel erwähnt. Im Vorwort zu seinen Philosophischen Bemerkungen schrieb Ludwig Wittgenstein im November 1930 -veröffentlicht wurde das Werk postum erst 1964 -: »Ich möchte sagen >dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben<, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. es würde nicht richtig verstanden werden.« Es steht nicht zur Diskussion, ob es uns eine befriedigende Übersetzung dünkt, wenn er interpretierend fortfährt: »Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen 320
reinigen, als er selbst davon rein ist,«2 Keine Debatte über diese Fortsetzung darf von der erschütternden Aussage ablenken: Die Wendung »Zur Ehre Gottes«- einst Inbegriff der Lauterkeit und Klarheit - habe heute die Macht läuternder Klarheit eingebüßt, ihr Gebrauch verkehre sich deshalb in Schurkerei, diene also nicht mehr zur Ehre Gottes. Mit verhaltenem Schmerz stellt dies ein Denker fest, dessen Pathos Genauigkeit und Klarheit der Sprache war : Es sei uns heute versagt, »ZUr Ehre Gottes« zu sagen; wer es dennoch sage, .versage gerade dadurch Gott die Ehre. · Können wir das mit der Bemerkung abschütteln, so rede eben ein Philosoph, ein ungläubiger Zeitgenosse ? Der Theologe lebt nicht in einer anderen Zeit, unter anderen Spr~ch- und Verstehensbedingungen, jedenfalls sofern er sich nicht - was doch nur unter Verleugnung seiner Sache, des Evangeliums, möglich wäreöffentlicher Verantwortung entzieht und in eine Kirchensprache einspinnt: Deren interne Vertrautheit ist jedoch ein trügerisches Symptom .der heutigen hermeneutischen Situation christlichen Wortes. Allerdings ist das Evangelium Ansage einer anderen, neuen Zeit, der Zeit der Gnade und des Heils, der Zeit Gottes - aber nun doch an die Menschen dieser Weltzeit und darum auch unter den sich wandelnden Sprach- und Verstehensbedingungen dieser Weltzeit. Gewiß ist die Aufgabe, die daraus für die Theologie erwächst, nicht durch ein technisches Verfahren, durch Auswechslung von Vokabeln, durch eine neutrale Methodologie zu managen. Wer sich von dem Stichwort »Hermeneutik« so etwas verspricht, wird notwendig enttäuscht. Oder wer an solcher Vorstellung von Hermeneutik seine Kritik orientiert, gerät zu peinlich· aufschlußreichen Fehlurteilen. Daraus darf aber nicht gefolgert werden : Es stelle sich hier für den Theologen gar keine Aufgabe; was nicht in den Bereich des Manipulierbaren falle, entziehe sich überhaupt gewissenhafter Rechenschaft. Daß Hermeneutik in Konkurrenz zum Heiligen Geist stehe und das Geheimnis der Prädestination - das »ubi et quando visum est Deo« der Confessio Augustana (Art. V) - mißachte, ist ein kurzschlüssiger Einwand. Demzufolge wäre Glossolalie die höchste Geistesabgabe und Prädestination die Außerkraftsetzung des Wortes Gottes. In der Tat ist die Lehre vom Heiligen Geist und von der Prädestination von wesentlicher Bedeutung für das 321
hermeneutische Problem, wie es sich für die Theologie stellt. Aber das bedad selbst hermeneutischer Explikation, wie denn auch das, was Heiliger Geist und was Prädestination meinen, interpretierbar sein muß. So wird man nicht an Äußerungen wie der oben zitierten vorbei nach rechter, ehrlicher Theologie fragen können, vielmehr, dadurch angestoßen und. herausgefordert, sich die Frage verschärfen lassen müssen : Wie ist es hier beim sozusagen professionellen Reden von Gott mit der Klarheit und Verantwortbarkeit bestellt? Kann dies ohne den Verdacht der »Schurkerei« geschehen oder, weniger grob formuliert : ohne jeden Beigeschmack theologischer Schläue, in der Einfal~, die sich sehr wohl mit hohen intellektuellen Ansprüchen verträgt? Die Probe darauf wäre dies : daß dann nicht nur einem theologischen Autor, sondern auch einem philosophischen, ja jedem Autor die Freiheit wieder eröffnet wird - mit allen Risiken, die das in sich schließt -, die Wendung in Anspruch zu nehmen, »dies Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben«.
II '
Blicken wir auf die gegenwärtige Theologie, so werden wir nicht gerade in der Hoffnung ermutigt, daß von ihr eine so erhellende, in die Welt ausstrahlende, Verstehen eröffnende Wirkung ausgehe. Bietet sie selbst doch eher den Anblick eines hermeneutischen Chaos, einer Verwilderung in bezug auf die Kommunikation, die an der Verständigungsmöglichkeit weithin zweifeln läßt. Die Frage nach dem Verstehen hat für die Theologie offenbar ihren eigentlichen Ort in der Ausrichtung der Verkündigung an die Welt, in der Begegnung des nichtglaubenden mit dem Wort des Glaubens. Für uns jedoch drängt sich zunehmend die Notwendigkeit einer Hemieneutik des innertheologischen Gesprächs auf. Und zwar nicht etwa nurangesichtsder begreiflichen Schwierigkeiten innerhalb der interkonfessionellen, ökumenischen Gesprächsbegegnung oder bei Verständigungsversuchen zwischen Theologen und sogenannten Laienchristen. Vielmehr tritt gegenseitiges Nicht- ·und Mißverstehen - der Widerstand tauber Ohren, gelähmter Zungen, verschlossener Herzen - im Verkehr von Theologen gleicher Konfession nicht selten am 322
hartnäckigsten auf. Nicht daß etwa die Zusammenarbeit der Theologen dem Zusammenspiel eines straff dirigierten Orchesters gleichen oder gar ein Unisono ergeben müßte. Im Gegenteil, die Tatsache, daß man Recht und Notwendigkeit einer durchaus nicht ohne weiteres harmonisierbaren theologischen Vielstimmigkeit nicht begreift und auf Uniformität aus ist, verschärft die Differenzen und erschwert deren sachliche Erörterung. Klarheit, die sich auf dem Wege der Verständigung nicht rasch ergibt, erzwingt man ungeduldig durch meist simplifizierendes Aufrichten von Fron~. ten. Klischees täuschen Übersicht und überlegenes Urteil vor und dispensieren vom Denken. Statt an Gesprächspartner hält man sich an stilisierte Attrappen. Namen werden zu bloßen Symbolen starrer Standpunkte. Als Grenzmarken sollen sie einem erleichtern, auf dem theologischen Schachbrett .selber eine Position einzunehmen und sich so in Positur zu setzen. Wie das zweite Gebot, so ist auch das achte unter Theologen besonders akut. Die Atmosphäre des Mißtrauens verhindert sorgfältiges Hören und Lesen. Schlüsse e silentio, mangelnde. Kontextinterpretation und Deutung nach eigenen Voraussetzungen verraten unkritische Kritik. Dabei ist manches theologische Gespinst überhaupt nur an Objekten der Kritik aufgehängt. An der Last der Probleme trägt man selbst nicht mit. Und man ist nicht darauf bedacht, dem anderen zu helfen, das, was er Wahres zu sagen hat, richtiger, besser zu sagen. Der hohe Anspruch der Sache der Theologie ·macht es dem Theologen sehwer, bescheiden seiner Geschichtlichkeit innezusein, ja die Geschichtlichkeit sogar als der Sache der Theologie wesentlich in Rechnung zu setzen. Jeder hat in der Tat nur seinen begrenzten Vers zu sagen. Niemand soll dem Wahn der Autarkie verfallen oder gar meinen, er müsse mit seiner theologischen Arbeit die Arbeit anderer eigentlich überflüssig machen. Theologische Äußerung geht zwar aufs Ganze und sagt doch nie alles, ist· nie erschöpfend.. Die Sache der Theologie ist deshalb unerschöpflich, weil sie universal Geschichte in Anspruch nimmt. Obschon es in begrenzter Hinsicht auch in der Theologie so etwas wie Fortschritt und Problemlösungen gibt, sind dies doch nicht die maßgebenden Kategorien für den notwendigen geschichtlichen Fortgang der Theologie, der in der Geschichtsoffenheit der Sache der Theologie selbst gründet. Deshalb soll der 323
Theologe nicht dem Pendelgesetz geschichtlicher Reaktionsbewegungen verfallen. Zwar ist er seiner Situation verpflichtet, aber gerade deshalb dazu verpflichtet, sich nicht in den. Bann der Augenblickssituation schlagen zu lassen. Und vor allem hat er sich aii den Gedanken zu gewöhnen, daß die Theologie sich über ihn hinausbewegt. Die Rolle, die ihm allenfalls in der Theologiegeschichte zufällt, ist nur eine kurze Gastrolle. Der ursprünglichen Intention nach ist es eine rechte hermeneutische Weisung für das theologische Denken, daß es ein seiner Sache gemäßes In-Anspr~ch-Genommensein erfordert, ein angemessenes Bei-der-Sache:-Sein. Doch wird dies leicht zur Ursache hermeneutischer Verwirrung, sofern man damit ein, dezisionistisch engagiertes Denken rechtfertigt, das die · theologische Offenheit in ideologische Befangenheit verkehrt. Deren Symptom. ist eine mit Selbstsicherheit maskierte Ängstlichkeit, die sich . an Sprachregelungen klammert. Das vernichtet diejenige Distanz, welche eine notwendige Bedingung selbstkritischen Theologietreibens ist, also jenes anhaltenden Fragens nach rechter, ehrlicher Theologie. Die hermeneutische Verlegenheit in Begegnung mit der nachchristlichen Zeit wird gegenwärtig leider weithin ~ das ist begreiflich, aber verhängnisvoll - durch ein so oder so gearte~es introvertiertes Engagement theologisch kompensier2. Gerade so wird die hermeneutische Verlegenheit verdeckt und wirkt sich innertheologisch zersetzend aus. Diese einleitenden Reflexionen zum Stichwort »hermeneutische Theologie« rührten an wunde Stellen unserer theologischen Lage. Vermag das, was mit diesem Stichwort gemeint ist, die Erwartungen,'· die dadurch ausgelöst werden, auch zu erfüllen ? Der Eindruck ist zwiespältig. Einerseits wird das Verlangen geweckt nach einer Entkrampfung der theologischen Situation, nach einer Auflockerung der Lager und Parteiungen, nach einer gemeinsamen Konzentration der Kräfte auf die eigentlich brennenden Aufgaben im Dienst der Ausrichtung des Evangeliums an die heutige W eli. Hermeneutische Theologie wäre dann jener bitter nötige therapeutische Prozeß einer theologischen Besinnung auf das eigentlich Notwendige. Anderseits. steht das Schlagwort »hermeneutische Theologie« in dem fatalen Geruch einer engen theologischen ·schulparole, vor deren Gefolgschaft man meint warnen zu müssen. Auch wenn wir all das abziehen, was an bösen Urteilen auf das Konto von Ignoranz und Psychose geht, bleibt 324
doch der Widerspruch, daß >>hermeneutische Theologie« als eine theologische Richtung neben anderen das Verständigungsmalaise heutiger Theologie nur zu mehren statt zu mindern scheint. Man mag gegen die Abstempelung als Gruppe oder Schule protestieren, man entgeht diesem Geschick so schwer wie früher in analogen Fällen bedeutendere Vorbilder. Auch das gehört zur Geschichtlichkeit des Daseins als Theologe, daß man sich exponiert und sich nicht vornehm jedem Anlaß, unberechtigt in Verruf zu geraten, entzieht. Man hat es deshalb notfalls auch auf sich zu nehmen, mit Parteimimen gescholten und schließlich gar im theologischen Parteigetriebe zerrieben zu werden - wenn uns nur nichts davon abbringt~ in Einfalt und Strenge um rechte, ehrliche Theologie bemüht zu sein als um eine Saat auf Hoffnung.
III Wenn wir uns- mit entschiedener Verwahrung gegen leichtfertigen Mißbrauch als Schlagwort - dennoch auf die Wendung »hermeneutische Theologie« einlassen, so ist zunächst der Sinn solcher attributiven Bestimmung klarzustellen. Für den Sprachgebrauch von »Theologie« ist seit den Anfängen der Neuzeit die Häufung sehr verschieden gearteter attributiver Bestimmungen charakteristisch: nach Arbeitsmethoden wie exegetische oder systematische Theologie, nach Stoffgebieten wie theologia moralis oder biblische Theologie, nach historischen Typen wie scholastische oder reformatorische Theologie, nach Richtungen wie liberale oder positive Theologie, nach Wesensmerkmalen wie kirchliche oder dialektische Theologie oder nach ihrem Quellort wie natürliche oder Offenbarungstheologie. Wie die Beispiele, so ließen sich auch die Gruppierungen reichlich vermehren. Zugleich schwindet freilich bei genau~rem Nachdenken die Trennschärfe solcher Klassifizierung. Die Aspekte überschneiden sich und treiben in die fundamentaltheologische Problematikworunter ich, in selbständiger Aufnahme des bisher meist nur von katholischer Theologie verwandten Begriffs der Fundamentaltheologie, die Frage nach dem Grund der Notwendigkeit von Theologie überhaupt verstehe. Wenn auch das Recht spezieller Unterscheidungsgesichtspunkte daneben bestehenbleibt, so ist doch der Nötigung zu fundamentaltheologischer Präzisierung 325
des Theologiebegriffs stattzugeben, also nicht bloß durch Beifügung akzidenteller Merkmale näher zu bestimmen, wie Theologie sich differenzieren und auffächern läßt, sondern dasjenige namhaft zu machen, was, sofern Theologie wirklich Theologie ist, notwendig zu ihr gehört und was darum - jedenfalls dem Anspruch nach - alle Erscheinungsweisen rechter Theologie eint. Daß dies !1Usdrücklich namhaft gemacht werden muß, verrät freilich schon, daß hier mit Mangel an Einsicht zu rechnen und das einende Wesen der Theologie nur als d.as strittige Wesen von Theologie bestimmbar ist. . Das Stichwort »hermeneutische Theologie will in diesem fundamentaltheologischen Sinne verstanden sein. Es meint also nicht eine Teildisziplin oder einen speziellen Stoffbereich, auch nicht ein beliebiges Sonderinteresse. Es will vielmehr auf etwas hinweisen, was eo ipso zur Theologie gehört und bei jedem Theologietreiben wirksam ist. Selbstverständlich wird nicht behauptet, damit sei über das Wesen von Theologie alles gesagt. Es könnten entsprechend auch aodere Wesensmerkmale h~rvorgehoben werden. Aber es wird in der Tat beansprucht, damit werde, jedenfalls unter den gegenwärtigen Erfordernissen und Möglichkeiten theologischer Rechenschaft, die Wurzel theologischer Problematik am tiefsten und desh~lb auch die Weite theologischer Aufgabe am umfassendsten auf d~n Begriff gebracht. Dieser Anspruch scheint zwar unter dem Widerspruch zu leiden, daß er etwas Selbstverständliches emphatisch hervorhebt oder umgekehrt : für etwas · Allgemeingültigkeit behauptet, was offensichtlich nur von einigen ausdrücklich vertreten wird und deshalb partikulärer Art zu sein scheint. Diese Spannung gehört aber nun einmal zur Erörterung des Wesens einer Sache im Horizont der Geschichte, des geschichtlichen BeWußtseins und der Geschichtlichkeit der Sprache. Die Kennzeichnung der Theologie als »hermeneutisch« muß einerseits als tautologische Wiederholung dessen gelten, was schon mit dem Worte »Theologie« als deren Sache in den Blick kommt, anderseits als ·eine nur unter bestimmten Bedingungen sich aufdrängende Erkenntnis und Formulierung. Würde man in diesen spannungsvollen Sachverhalt weiter eindringen, so ergäbe sich daraus eine bestätigende Illustration des hermeneutischen Charakters der Theologie in fundamentaltheologischer Hinsicht und von daher auch in Hinsicht auf die Konkretionen theologischer Arbeit im einzelnen. . 326
Wir beschreiten jedoch nicht diesen Weg. Er ·könnte den Verdacht einer petitio principii erwecken. Wir halten uns lieber an das elementare Phänomen, das die Sache der Theologie zur Erscheinung bringt. Das dabei leitende Verständnis der Vokabel »hermeneutisch«· soll zu der Bedeutungsweise von EQf.l.'llVEUELV hin offenbleiben. 4 Diese umspannt den Vorgang des sprachlichen Zum-Verstehen-Bringens in den drei Modi des Aussagens, Auslegens und übersetzens. Der Ausdruck »hermeneutisch« lenkt also die Aufmerksamkeit auf dasjenige, was durch das Wort geschieht, damit es re~ht geschehe. Wort will Verstehen eröffnen. Es ist also von sich aus hermeneutisch. Und Verstehenshilfe ist dem·Wort, sei es im Erklären, sei es im Dolmetschen, cum grano salis nur durch das Wort und auf jeden Fall nur so zu gewähren, daß das Wort in seiner ihm eigenen hermeneutischen FUnktion zur· Geltung kommt. Diese eigentümliche Doppelung, daß das Wort als Medium des Aufmerkens zum Gegenstand des Aufmerkens wird und daß dem Wort letztlich nur durch das Wort zu helfen ist, bringen wir durch die Formulierung zum Ausdruck: ~H~r~ meneutisch« ist das, was zur Wahrnehmung der Wortverantwortung .anhält und hilft. Dabei sind »Wahrnehmung« und »Verantwortung« nicht als bloße innere Vorgänge oder Zustände gemeint, sondern als ein Heraustreten in die Extemität: so wie einer ein Amt oder eine Gelegenheit wahrnimmt bzw. eine Entscheidung oder sich ·selbst yor einem Forum verantwortet. Unbestreitbar kommt der Theologie hermeneutischer Charakter in diesem Sinne zu. Theologie ist das, was zur Wahrnehmung von Wortverantwortung anhält und hilft. Welcher Wortverantwortung? Nun, jedenfalls der christlichen Wortverantwortung. Und wenn wir als· Erläuterung, dem Wortsinn von Theologie·entspre-· chend, hinzusetzen : einer Verantwortung in Hinsicht auf das Reden von Gott, so kommt eben dieses Reden von Gott selbstverständlich als den Menschen angehendes in Betracht. Es handelt sich somit um . eine das Menschsein umfassend und letztinstanzlieh betreffende Wortverantwortung. Unter Anspielung auf die Anselmsche Anweisung, Gott als quo maius cogitari nequit zu denken, könnte man deshalb auch sagen : Es handelt sich um WOrtverantwortung im strengsten, im anspruchvollsten Sinne. Diese -Formel entfaltet sich gewiß nicht automatisch. Aus ihr läßt sich nicht etwa als aus einem Prinzip die Theologie deduzieren. Sie versieht sozusagen nur die Funktion emes 327
hermeneutische.1;1 kategorischen Imperativs. Aber auch hier, wie stets, geht dem Imperativ ein Indikativ voraus. Theologie ist deshalb und insofern an der Wahrnehmung christlicher WOrtverantwortung orientiert, weil und sofern die Geschichte, in die dieser Name weist, sich als Ort der Ermächtigung zur WOrtverantwortung im strengsten und anspruchvollsten Sinne Geltung verschafft. Und zwar durch das Ereignis eines Wor~es, das unerschöpfliche Quelle seiner weiteren Überantwortung ist und darin unerschöpfliche Quelle einer Wortverantwortung. im strengsten und anspruchsvollsten Sinne. Theologie hat also ein solches Wort nicht erst zu erfinden. Sie hat nur einem vorgegebenen Wortgeschehen hermeneutisch zu dienen durch Offenhalten der diesem Wortgeschehen eigenen hermeneutischen Potenz. Und sofern mit hermeneutischer Theologie ausdrückli~h einschärfendes Erinnern an die der Theologie eigene Aufgabe gemeint ist, tut sie nichts anderes, als die Theologie in allen ihren Aussagen zur Sache zu rufen und eben so die Sache der Theologie wahrzunehmen. Man stoße sich nicht an dem Anschein spielerischer Variation eiaer ~onotonen For;tnelsprache. Es sollte nicht schwer sein, sich durch diese knappen Wendungen in die Weite und Vielfalt des lebendigen theologisc,hen Sachverhalts leiten ZU lassen. Da geht es in der Tat allein um das Wort. Wohlgemerkt: nicht um das Wort der Theologie, sondern um das Wort, dem die Theologie dient : das· Wort der Verkündigung, sofern dieser Ausdruck nicht zu verengender Institutionalisierung dessen irreführt, was als Lebensgrund zu verantworten die alltägliche Lebensäußerung des Glaubens ist. Der christliche Glaube lebt als verdankende Bezeugung 'vernommen·en Wortes. Ihm bleibt als Halt und Ausweis seiner selbst im Ernstfall nichts als das nackte Wort, dem ich nichts mehr hinzuzufügen habe. Es l.sdatal, wenn selbst Theologen vom Wort gering denken und hermeneutische Theologie verächtlich als Verbaltheologie bezeichnen. Daß dabei ein denkbar dürftiges WOrtverständnis als Modell figuriert, erklärt ,zwar, entschuldigt aber nicht den Unverstand. Die Theologie hat nicht die Unterschätzung des Wortes zu kompensieren durch um so stärkere Realitätsbeteuerungen in bezugauf Tatsachen. Die Theologie muß vielmehr auf ein solches Wortverständnis bedacht sein, das der Behauptung emes schlechterdings notwendigen, das heißt eines Heilswortes 328
Rechnung trägt. Das Verständnis von Wort verbindet sich deshalb hier mit dem Begriff der Vollmacht. Es läßt mündliches Wort als Gottes Wort gelten, unter Bejahung der darin implizierten Bezüge zu dem, was die traditioneile Dogmatik trinitätstheologisch verbum aeternum, schöpfungstheologisch verbum creans und christologisch verbum incamatum nennt. Wort in solcher Fülle ist als verbum praedicatum nur zu verantworten unter Berufung und im Rückgang auf das verbum scriptum, das als Text gewordenes Wortgeschehen die Verheißung hat, daß der Text autorisierende Quelle neuen Wortgeschehens wird .. Man mag diesen Fortgang von WOrtüberlieferung sogar provokatorisch ein nachredendes Wiederholen nennen, lasse sich dann aber auch wirklich provozieren zu der Frage ~ach Recht und Wesen einer solchen nachredenden Wiederholung, die nicht trivial zu einem Scheinger~de entartet, sondern auf Grund des Textes das Wort wiederholt, das als Ursprungs- und Ermächtigungsgeschehen der Grund des Textes ist. Denn Wort will verantwortet sein. Wortve~antwortung aber läßt sich nicht konservieren, sowenig die Fixierung als Text Fixierung. und Garantie seines Verstehens ist. Verantwortetes Wort ist quellfrisches Wort, das, wie das Manna in der Wüste, nur als heute geschöpftes und gebrauchtes genießbar ist, als gestriges aber schon fad und stinkend wird. 5 Diese immer neu wahrzunehmende Verantwortung von Wort Gottes ist also nicht etwas Zusätzliches zu dem, was durch das Wort auszurichten ist, nicht eine ergänzende Operation zwecks Anpassung und Moderrusierung. Selbst der hier sich nahelegende Begriff der Übersetzung in andere Zeit, andere Sprache, andere Situation darf nicht die Vorstellung eines selbständigen, zweiten Momentes neben dem, was zu sagen ist, suggerieren. Nur durch Inanspruchnahme und Erhellung gegenwärtiger Wirklichkeit vollzieht sich diejenige Verantwortung, durch die das Wort Gottes in die Situation seiner Bewahrheitung überliefert wird. Diese Bewegung nach vorn, dahin, wo das Wort zu schaffen bekommt, nämlich das zu schaffen, was allein seine Sache ist : den Glauben, ist die diesem Wort als dem Evangelium eigene Weise dazusein. Evangelium ist nur da im Unterwegssein .zu neuer Bewährung seiner Macht als Wort. In diesem weitgespannten Prozeß der Wortverantwortung, die dem biblischen Text, weil der Welt, und der Welt, weil dem biblischen Text, verpflichtet und zugewandt ist, hat die Theologie 329
ihre umfassende hermeneutische Funktion auszuüben, nämlich dazu anzuhalten und zu helfen, daß diese Wortverantwortung recht wahrgenommen werde. Jürgen Moltmann behauptet die Differenz einer »Theologie der Verkündigung« und einer »Theologie der Hermeneutik«. 6 Doch schon eine eindringendere Reflexion auf diese Schlagworte hätte deutlich machen müssen, daß die seit den Anfängen der dialektischen Theologie wirksame Spannung in sich selbst schief ist, nicht hinreichend ausgetragen wurde und deshalb kritischer Überprüfung bedarf. Eine »Theologie der Verkündigung«, die nicht >>Theologie der Hermeneutik«, und eine >>Theologie der Hermeneutik«, die nicht >>'Theologie der Verkündigung« sein wollen, sind gleichermaßen Unsinn.
IV In der bisherigen Skizze dessen, was »hermeneutische Theologie« heißen könnte, ist, wie es scheint, fast ununterscheidbar ineinander geraten, was man gern scharf voneinander unterschieden sähe. Was zum Problem des Hermeneutischen gesagt wurde, ging in dem auf, was von der Theologie überhaupt gilt. Dieses wiederum schien sich darauf zu reduzieren, was über die Verkündigung zu sagen ist. Die· Verkiindigung aber wurde offenbar mit dem gleichgesetzt, was dem Worte Gattes eigentümlich ist. In allen Schichten schlug der Grundgedanke vom hermeneutischen Charakter des Wortes durch, demzufolge alle weitere Bemühung darum sozusagen die Spiralbewegung der Wortverantwortung annimmt. Nun ist in der Tat der Wunsch berechtigt, daß auch jeweils die Differenzen deutlich werden bis hin zu dem Spezifischen hermeneutischer Theologie. Es spricht freilich, wie mir scheint, für die Sachnähe fundamentaltheologischer Reflexion und ist wohl auch ein charakteristisches Merkmal hermeneutischer Orientierung solcher Besinnung, wenn in erster Linie der alles verbindende Zusammenhang sich aufdrängt, der durch alles pulsierende Kreislauf vom Herzen der Theologie zu dem theologisch Peripheren und zurück. Zweifellos ist es angemessener, wenn die Unterscheidung von Theologie und Verkündigung zu bestimmen Mühe macht, als wenn man sich abquälen muß, beides überhaupt zusammenzubringen. Die Verantwortung, die in der Theologie 330
wahrgenommen wird, kann o_ffensichtlich nur eine Modifikation (wenn auch eine nicht zu bagatellisierende Modifikation) derjenigen Verantwortung sein, die mit der Existenz der Sache der Theologie auch außerhalb der Theologie gegeben ist. Des!"eg~ll. muß das Schubfachdenken, das unter anderem der Verkundigung, der Theologie und der Hermeneutik von vornherein klar voneinander getrennte Reservate zuteilt, allerdings überwunden werden. Diese Größen stehen nicht nebeneinander, sondern verhalten sich eher wie Variationen desselben Themas oder wie ineinandergreifende Momente desselben Lebensvorganges zueinander. Und das ist in der Tat bei der ausdrücklichen Betonung hermeneutischer Theologie intendiert : der Ganzheit des Geschehens. auszuliefern, mit dem es Theologie zu tun hat. Im Widerspruch zu dieser eben behaupteten Tendenz auf das Sachganze ist nur gerade der Eindruck verbreitet, hermeneutische Theologie bleibe im Formalen stecken; sie bedrohe die Theo-logie mit Aushöhlung ihres Sachgehalts. Dabei tritt allerdings innerhalb dieser Befürchtung eine widersprüchliche Sicht auf. Einerseits beklagt man eine Hypertrophie des Methpdologischen : Das · sei inhaltsleer, halte sich bei allgemeinen Vorfragen auf und lasse nicht zur Sache kommen. Anderseits unterstellt man, Hermeneutik . sei eo ipso eine aus allgemeinen philosophischen oder anthropologischen Prinzipien geschöpfte Doktrin, mit der manvielleicht in guter Absicht, aber schlecht beraten - der Theologie durch modernisierende Überfremdung Gewalt antue. Damit ist ein Problemknäuel angerührt, das durch angeblich radikale Lösungsversuche, wie sie hinter solchen Vorwürfen zu stehen. pflegen, nur verworrener wird. Der erste Schritt zur Entwirrung wäre vielmehr, daß man sich hastige Pseudolösungen versagt und durch Erinneruttg an einige vielleicht triviale Gesichtspunkte sich zu der Geduld anhält, die eine Tugend des· Wissenschaftlers, ab~r doch wohl auch des Christen ist. Es wäre nät:risch, sich durch eine Kritik irritieren zu lassen, die selber kein Verständnis für die Tragweite der Methodenprobleme verrät und das Allgemeine und das Abstrakte - Grundbestimmungen des Denkens - nur noch als Schimpfworte kennt. In einer Zeit, in der die Grundlagen der Theologie problematisch geworden sind, darf man sich nicht wundern, daß das Methodenproblem solches Gewicht bekommt. Man sollte sogar viel syste- matischer, als dies in der evangelischen Theologie der Fall ist, 331
Grundlagenforschung treiben. Auch wenn man die tiefe gegenstandsbedingte Verschiedenheit von Theologie und Naturwissenschaft in Rechnung stellt, ist es doch zu unserer Beschämung so, daß heute in der Theologie, verglichen etwa mit der theoretischen Phys,ik oder der Biologie, weithin auf gut Glück improvisiert, schlicht gesagt: gewurstelt wird. Das ist nicht so sehr Versagen des einzelnen als vielmehr ein gemeinsames Verhängnis, das man nicht über Nacht ändern, gegen das man sich aber mit bescheidener Besonnenheit und Selbstdisziplin sowie mit dem Willen zu eine~ langen Atem wehren kann. Im übrigen ist schon der hier gewöhnlich gebrauchte Begriff des Formalen ein Musterbeispiel begrifflicher Kalamität heutiger Theologie. Die oberflächliche Trennung in Form und Inhalt, die bei gleichzeitiger Vertauschung der wertenden Vorzeichen die aristotelische Unterscheidung von forma und materia abgelöst hat, simplifiziert und vernachlässigt den hier zu bedenkenden Zusammenhang. Handelt es sich doch ohnehin um eine bloße Relationsbezeichnung, der gemäß etwas in bestimmter Hinsicht Form eines Inhalts, in anderer Hinsicht aber selbst sogenannter »Inhalt« ist. Verabsolutiert man diese Gesichtspunkte und wendet man sie so auf :theologische Grundbegriffe an, etwa · auf »Wort« oder auf »Glaube«, ,so verfällt man einem kapitalen Felller.-·Man unterschbidet dann zwischen einem angeblich selbstverständlichen formalen Sinn und der spezifisch theologischen inhaltlichen Füllung, während doch gerade der angeblich rein formale Aspekt solcher Sachverhalte bis in den Grund von deren Notwendigkeit ZU befragen wäre. Dann würde die künstliche Scheidewand zur sogenannten theologischen Füllung durchschlagen und der Bezug der theologischen Aussage zu der jeden Menschen als Menschen angehenden Wirklichkeit deutlich. Daß die methodologische und somit auch die hermeneutische· Fragestellung in eminentem Maße sachbezogen ist, also sich nicht in schrankenloser Allgemeinheit vollziehen kann, ist eine Banalität. Wenn mit dem Übergang zur Neuzeit die hermeneutica sacra durch eine hermeneutica profana abgelöst wurde, so ist das nicht damit zu verwechseln, daß nun etwa die Theologie von der Aufgabe entbunden wäre, in Hinsicht auf ihre Sache die hermeneutische Frage zu durchdenken. Die hermeneutica sacra kam vielmehr deshalb zu Fall, weil sie eine pseudotheologische Hermeneutik war. Die so genannte hermeneutica profana for332
derte somit die Theologie gerade zu neuer hermeneutischer Besinnung heraus. Daß diese vielen Wandlungen unterworfen war und bleibt, kann nur aus mangelnder Einsicht in das hermeneutische Problem selbst als Einwand geltend gemacht und mit Schlagworten wie »Modeströmung« und. »philosophische Anleihe« von vornherein abgetan werden. Gewiß. sind Fehlentwicklungen nicht zu bestreiten. Doch darüber läßt sich nur unter umfassender Berücksichtigung der jeweiligen Situation der Wortverantwortung urteilen. Es wäre eine schlechte Theologie, die nicht erkenribar ihre Ze~t in Anspruch nähme und darum nicht auch durch ihre Zeit in Anspruch genommen wäre. Entsprechend soll mit dem Stichwort »hermeneutische Theologie« nicht all das Unzureichende und vielleicht auch zum Teil Unerträgliche, was unter dieser Flagge segelt, gedeckt· und deshalb nicht in jeder Hinsicht das, was an Bedenken kurz berührt wurde, als gegenstandslos abgewiesf!n werden. All das ist vielmehr selbst dem Reinigungsproz~ß der WOrtverantwortung auszusetzen.
V Wenn hermeneutische Theologie das einschärfende Wahrnehmen der Wortverantwortung meint, also das, was Sache der Theologie überhaupt als einer theologia semper reformanda und darum auch semper reformans ist, dann muß erklärt werden, was dazu nötigt, es heute mit dieser Bezeichnung ausdrücklich hervorzuheben und dadurch gegen andere Ausprägungen von Theologie abzuheben. Man könnte die Beziehung herzustellen versuchen zu den uns nahen Erscheinungen der dialektischen Theologie der zwanziger und dreißiger Jahre oder der heute dominierenden verschiedenen Formen heilsgeschichtlicher Theologie bzw. geschichtstheologischen Denkens. Aber die Verhältnisbestimmung müßte mit Rücksicht auf mannigfache Berührungen und Überschneidungen sehr subtil verfahren, wenn man nicht in dogmatischer Weise alte »Fronten« dekretieren und neue proklamieren will. Soll die Erörterung dessen, was hermeneutische Theologie heißt, gerade aus der Zwangsvorstellung oder Faszination eines Denkens in »Fronten«, das dann gar noch zu einer Theologie der Namen verkümmert, befreien, so müssen wir bei der klärenden Abgrenzung sehr viel weiter ausholen, um an die Wurzel der Probleme 333
heranzukommen und die Animositäten des Tageskampfes hinter uns zu lassen. Der früheren Behauptung, bei hermeneutischer Theologie handle es sich nicht um ein spezielles Stoffgebiet oder eine theologische Teildisziplin, scheip.t es zu widersprechen, wenn ich nun doch »dogmatische Theologie« und »historische Theologie« als Kontrastgrößen angebe. Das kann offenbar nicht als einfache Ergänzung des üblichen theologischen Fächersystems gemeint sein, als sollte neben die Dogmatik im engen Sinn oder die Fachgebiete dogmatischer (das heißt systematischer) Theologie in weitem Verständnis (wozu man dann sogar auch die praktische Theologie zählen könnte} auf der einen Seite sowie neben die Bereiche historischer Theologie, also der biblischen Fächer und der Kirchengeschichte, auf der anderen Seite· noch als weiterer· Komplex eine hermeneutische Theologie treten. Zwar ist es nicht abwegig, in Anknüpfung an eine alte Tradition Hermeneutik wieder als besonderes Fach zu pflegen, sei es in dem üblichen Verständnis einer Hermeneutik der biblischen Disziplinen, sei es ausgeweitet ~u einer fundamentaltheologischen Methodenlehre. Was aber dazu treibt; läßt diesen Weg zugleich unbefriedigend sein. Denn die NötigUng zur Hermeneutik entspringt heute aus dem problematjschen, Nebeneinander historischer up.d dogmatischer Theologie. Diese Problematik aber ist durch das bloße Hinzutreten einer dritten Größe schon deshalb kaum zu beheben, weil nicht einzusehen ist, wie solche hermeneutische Theologie sich der strittigen Zweiheit historischer und dogmatischer Theologie entziehen könnte. Eben deshalb richtet sich unser Fragen letztlich nicht auf die in ihren Grenzen berechtigte Spezialdisziplin einer theologischen Hermeneutik, sondern auf die alle Disziplinen umfassende Aufgabe einer hermeneutischen Theologie. Dann können aber dogmatische und historische Theologie nicht im Sinne des naiven Nebeneinanders innerhalb des herrschenden Disziplinenschemas als Kontrastgröße zu hermeneutischer Theologie eingeführt werden. Es ist vielmehr von der Problematik ihres Verhältnisses untereinander auszugehen, die durch das Nebeneinander innerhalb eines Fächerschematismus verschleiert wird. Dieses Nebeneinander verdeckt ein geschichtliches Nacheinander. Unq hinter dem friedlichen Anschein der Arbeitsteilung verbirgt sich nur mühsam der konkurrierende Anspruch 334
verschiedener zeitgeschichtlich bedingter Arbeitskonzeptionen. Dogmatische und historische Theologie sind, streng genommen, zwei geschichtlich sich ablösende Auffassungen von der hermeneutischen Aufgabe der Theologie, also verschiedene hermeneutische Formen der Theologie. »Dogmatische Theologie« charakterisiert dasjenige hermeneutische Verständnis, das die Theologie von ihren Anfängen bis zur Schwelle der Neuzeit bestimmt hat, »historische Theologie« dagegen dasjenige hermeneutische Verständnis, zu dem sich die Theologie der Neuzeit gedrängt sah. Lassen wir uns diese Sicht, die an die Fragestellung ·von Ernst Troeltsch7 anknüpft, -nicht durch die Komplexität der Erscheinungen verwischen. In der vorneuzeitlichen Theologie haben selbstverständlich stets ein systematisch sachorientiertes und ein exegetisch dem Text folgendes Verfahren nebeneinander bestanden. Sie konnten deswegen aufs Ga~ze gesehen konfliktlos nebeneinander bestehen, weil es nur zwei technische Varianten derselben hermeneutischen Grundkonzeption waren, nämlich der dogmatischen. Nicht bloß die mehr oder weniger systematisch vorgehenden, sondern auch die exegetischen Arbeiten waren dogmatisch, eben weil das theologische Denken im ganzen dogmatisch war. Umgekehrt bietet die theo.logische Arbeit der Neuzeit zwar äußerlich betrachtet das gleiche Bild des Nebeneinanders exegetischen und systematischen Arbeitsverfahrens, aber doch unter grundlegend veränderten Bedingungen. Das ist an der nun so konfliktgeladenen Situation zu erkennen. Das gesamte ·theologische Denken geriet in .den Sog derjenigen hermeneuti-" sehen Konzeption, die als die historische sich im Gegensatz zur dogmatisch . bestimmten entzündet hatte und weiterhin durch diesen Gegensatz geprägt blieb. Nicht bloß die Exegese wurde nun historisch. Auch die Dogmatik als Inbegriff systematischtheologischer Arbeit geriet nun so sehr· unter die Herrschaft historischer Hermeneutik, daß sie entweder selbst ebenfalls unter »historischer Theologie« rangierte8 oder überhaupt den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Nun genügte freilich der hermeneutische Charakter historischer Methode so wenig der Aufgabe der Theologie, daß eine Ergänzung nach der Seite des herkömmlichen · dogmatischen Denkens als unumgänglich erschien. Die Problematik solcher Ergänzung ließ sich scheinbar ·-. einigermaßen paralysieren, indem man in der E~egese die Domäne der historisch orientierten Hermeneutik sah, während 335
man das systematisch-theologische Verfahren als ein Reservat betrachtete, in dem neben neuen Experimenten vorwiegend der alten dogmatisch. orientierten Hermeneutik ·ein beschränktes Existenzrecht blieb. Das Ungenügen und der Anlaß zu Konflikten ·wurde deshalb in erster Linie innerhalb. der Exegese akut; so daß häuptsächlich hier das hermeneutische Problem für die Theologie der Gegenwart virulent wurde. Das Problem der dogmatischen M.ethode schien dagegen als ei.q rein innerdogmatisches abgekapselt zu sein und wurde kaum in seiner hermeneutischen Relevanz erkannt. '
VI Daß das historische Denken der Neuzeit in seinem hermeneutischen Anspruch kritischer hermeneutischer Überprüfung bedarf, ist eine Einsicht, die sich nicht nur der Theologie aufgedrängt hat. Nachdem der Sieg der historischen Methode ein völliges Erlahmen der hermeneutischen Besinnung zur Folge hatte, erwuchs aus der Krise des Historismus auf breiter Front eine Wiederbelebung der Hermeneutik. Ein äußeres Hauptkennzeichen ist dies, daß der alte, .enge ~ahmen einer Sammlung technischer Regeln der'Textinterpretati~n gesprengt wurde. Mit der Ausweitung in die umfassende Frage nach den Bedingungen des Verstehens flossen in der Hermeneutik das Problem des Wirklichkeitsverständnisses und das Sprachproblem zusammen. Darin treffen sich, trotz scharfer sachlicher Differenz, die vorherrschenden Entwicklungstendenzen kontinental-europäischer und angelsächsischer Philosophie. Wenn sich in der Theologie heute Entsprechendes vollzieht -:- als gegenseitiges Geben und· Nehmen im Verhältnis zur Mitwelt, .als Auswirkung einer Geschichte, in der die Theologie einst entscheidender Faktor war und für deren Folgen sie sich mitverantwortlich wissen muß, und deshalb als Annahme der Herausforderung durch das geistige Geschick · unserer Zeit -, dann ist es seltsam kurzsichtig, wenn man dies nur· 'zum Anlaß nimmt, um zu spötteln über theologische Bemühung um das hermeneutische Problem in diesem Beziehungsreichtum, anstatt da, wo diese Aufgabe unzureichend oder falsch in Angriff genommen wird, selber helfend mit Hand anzulegen. Der hermeneutische Gewinn, der sich für die sogenannte 336
»historische Theologie« ankündigt, scheint mir der zu sein: Ohne im geringsten das preiszugeben, was der Theologie durch die historische Methode an strenger Gewissenhaftigkeit im Umgang mit Texten und historischen Sachverhalten sowie an fruchtbaren Erkenntnissen und heilsamer Kritik zuteil geworden ist und weiterhin zuteil wird, beginnt sich die Schranke zu öffnen, die mit der historischen Arbeit in der Theologie so lange gesetzt ist, wie das historische Denken ohne tiefere selbstkritische hermeneutische Besinnung in naiver Weise hermeneutisch diktiert. Der Umschwung, der sich hier anbahnt, sei in Kürze an zwei Grundbegriffen historischer Arbeit angedeutet : derri der Quelle sowie dem der Entstehung des Textes. Die historisch orientierte Hermeneutik verwertet die überlieferten Texte und Zeugnisse als Quellen der Vergangenheit. Recht und Notwendigkeit dessen sind unbestritten. Aber zugleich ist die üblicherweise dam~t verbundene Einengung des hermeneutischen Horizonts offensichtlich. Das Recht, von »Quelle« 9 zu reden, bleibt zwar gewahrt in Anbetracht dessen, daß einem von dort Nachrichten zufließen, die über die Vergangenheit Aufschluß geben. Aber im Unterschied zum natürlichen Gebrauch einer Quelle hat sich doch die entscheidende Bewegungsrichtung von der Quelle zum Empfänger hin umgekehrt in die Bewegung des Empfängers hinter die. Quelle zurück. Das Interesse wendet sich statt dem Vorgang des Schöpfens der Tätigkeit der Rekonstruktion zu. Und das eigentlich Erfragte ist dann leicht nicht mehr das, was der Text sagen will, sondern das, was er zu verraten genötigt wird. Nun sind das .alles, genau besehen, keine Alternativen. Wenn sich historische Forschung sowohl auf den Grund ihrer Notwendigkeit besinnt als auch auf den Willen des Textes, dann tritt wieder der genuine Sinn von »Quelle« in Kraft als einem unerschöpflichen schöpferischen Geschehen, das in die Zukunft gerichtet ist und aus dem uns ein zukunftsträchtiges Lebensmittel zuquillt. Wenn man nun fragt, was das sei, so genügt nicht die Antwort: die Aussagen des Textes. Denn nur dann wird der Text zur Quelle eigenen Lebens, wenn seine Aussagen uns in ein selbst verantwortetes Verhältnis zur Sache des Textes bringen. Das wird nur dann der Fall sein, wenn wir Teile gewinnen an dein Grunde der Textaussagen. Historische Arbeit fragt mit Recht nach der Entstehung der Texte, engt diese Frage jedoch zumeist ein auf Anlaß, Umstände, Einflüsse usw., also gewissermaßen auf eine 337
äußere Vorgeschichte des Textes. Stellt man aber die Frage scharf nach dem Ursprung des Textes, so richtet sie sich auf die Ermächtigungssituation, die das Recht zu den Textaussagen gibt und in die in entsprechender Weise selber einzukehren der Weg zum Einverständnis (bzw. zu einem verstehenden Versagen der Zustimmung) ist. Der Text als gleichsam geronnenes Wortgeschehen muß auf dieses sein Ursprungsgeschehen hin interpretiert werden, damit aus dem Text wieder Wortgeschehen wird. Damit ist angedeutet, daß eine hermeneutisch-e Verschärfung historischer Theologie diese überhaupt erst in ein angemessenes Verhältnis zur Sache der Theologie bringt. Das trennt nicht von der Arbeit historischer Theologie im üblichen Sinn, gibt aber das Recht, den hermeneutisch unzureichenden Anspruch im Begriff des Historischen im Hinblick auf das Ganze der Theo~ogie durch das Attribut »hermeneutisch« zu ersetzen und so zu wacher hermeneutischer Denkweise anzuhalten."
VII Der grundsätzliche Widerstand auf dem Felde historischer Arbeit gegen den Anspruch hermeneutischer :Theologie kann aus zwei Gründen nicht so stark sein, wie man vielleicht vermutet. Einmal ist das, wo man mit der Interpretation von Texten zu tun hat, die hermeneutische· Fragestellung eo ipso in ihrem Recht. Es kann nur um deren Modifikation gestritten werden. Und ferner stößt das übliche Selbstverständnis historischer Arbeit nicht nur in der Theologie, aber da besonders spürbar, auf Grenzen, von denen es zumindest strittig ist, ob man sie wirklich als definitive hermeneutische Grenzen ansehen darf, das heißt, ob in ihnen das historische Denken selbst zu dem Äußeren an hermeneutischer Klärung gelangt ist. Weit schwieriger dagegen ist die Konfrontation hermeneutischer mit dogmatischer Theologie. Der Vorwurf einer Reduktion der Dogmatik auf Hermeneutik, im Sinne eines völligen Ausverkaufs der Theologie in dogmatischer Hinsicht, liegt in der Luft. Hier werden freilich Probleme berührt," für die eine verschärfte hermeneutische Besinnung keineswegs als Ursache haftbar gemacht. werden kann. Im Gegenteil ! Sofern es dogmatischer Theologie, im weiten Sinne systematischer Theologie überhaupt, 338
nicht um historische Aussagen geht (so sehr selbstverständlich auch historisches Material und dessen historische Erarbeitung dazu gehört), sondern um Aussage in gegenwärtiger theologischer Verantwortung, also um Theologie im strengen Sinne, hat hermeneutische TheQlogie, als einschärfendes Wahrnehmen der Wortverantwortung, gerade zu so verstandener dogmatischer Theologie eine besondere Affinität. Wenn hermeneutische Theologie· einem Notstand zu Hilfe kommen soll, so offenbar dem Notstand in bezugauf gegenwärtig theologische Verantwortung, also in bezug auf das, was man unter dogmatischer Theologie in weitem Sinn verstehen kann. Hermeneutische Theologie will zu·· dem einen helfen, daß man nur das theologisch sagt, was· man verantworten kann, und alles, was man sagt, auch theologisch verantworten kann. Der Notstand ist, wenn auch vielleicht nicht letztlich verursacht, aber aufgebrochen durch die historische Theologie, also durch den Einbruch der historisch orientierten Hermeneutik in die Geschlossenheit einer Theologie, die als ganze von einer dogmatisch bestimmten Hermeneutik beherrscht war. Daß man den Begriff des Dogmatischen nun doch so strikt faßt und mit einem bestimmten hermeneutischen Verständnis gleichsetzt, mag überraschen. Dies darf nicht etwa dahin mißverstanden werden.; al~. meine m~n · nur eine dogmatisch unkritische Haltung, also eigentlich die völlige Absenz hermeneutischer Besinnung. Es darf also nicht eine grundsätzliche negative Wertung des· Begriffs des Dogmatischen. unterstellt werden. Im Gegenteil : »Dogmatisch<< in jenem weiten Sinne des Assertorischen ist· gerade die Redeweise, welcher Hermeneutik in der Theologie letztlich dienen will. »Dogmatisch« dagegen in dem jetzt intendierten hermeneutischen Urteil ist orientiert an dem Theologieverständnis, das der klassischen Dogmatik zugrunde liegt und das mit dem Aufko~ men des historischen Denkens in eip.e äußerst schwere, wenn nicht tödliche Krisis geraten ist. Mit der klassischen Dogmatik meine ich die scholastische und a:ltprotestantische, in der ciutf grano salis das hermeneutische Grundverständnis von Theologie, wie es schon aus der Zeit der alten Kirche übernommen war, seine Ausbildung und Fortsetzung gefunden hat. Diese klassische Dogmatik hat ~it Beginn der Neuzeit aufgehört, dogmatisches Reden im Sinne gegenwärtiger theologischer Verantwortung zu sein. Sie ist historisch geworden und hat eben damit die Funktion 339
gegenwaruger Wortverantwortung verloren. Die Frage ist, ob dem mit gewissen Korrekturen, aber unter Aufrechterhaltung des hermeneutischen Grundverständnisses klassischer Dogmatik beizukommen ist oder ob die Zeit der Dogmatik als dieses hermeneutisch-so geprägte Theologieverständnisses mit dem-Beginn der Neuzeit überhaupt vergangen ist, ob · also Dogmatik streng genommen zeitbedingte und zeitlich begrenzte, weil einer vergangeneo · hermeneutischen Denkweise verhaftete Denk- und Literaturform ist. Die Radikalität dieser Fragestellung erscheint seltsam angesichts der unbestreitbaren Forts~tzung, die die klassische Dogmatik auch in der Neuzeit zumindest in mehr oder weniger stark modifizierter Form gefunden hat. Die historisch .bestimmte Hermeneutik der Neuzeit scheint ihren Einspruch nicht gegen die traditionelle Dogmatik als solche zu richten, sondern .nur geg_e_p deren Anspruch, die Exegese zu regulieren, unci gegen den herkömmlichen dogmatischen Schriftgebrauch. Von daher erwachsen der Dogmatik zweifellos Schwierigkeiten im einzelnen, aber ihr Unternehmen im ganzen wird, wie es scheint, von seiten historischer Theologie toleriert. Freilich nur deswegen, weil sonst eine Lücke klaffte, die durch die historische Theologie als solche nicht zu füllen wäre. Ob aber und wie die Dogmatik immer noch diese Lucke füllen kann, das nimmt historische Theologie nicht auf ihre Verantwortung. Damit ist auf jeden Fall in der Hinsicht die Situation der Dogmatik radikal verändert, daß sie in den Rang einer partiellen theologischen Disziplin degradiert ist. Dadurch ist nicht nur ihre Stellung-- im ganzen der Theologie verändert. Sie ist nun auch in einen Widerspruch mit sich selbst gesetzt. Wenn sie am alten hermeneutischen Selbstverständnis dogmatischer Theologie festhält, muß sie die faktische Stellung, die sie jetzt einnimmt, negieren. Wenn sie sich dagegen in diese neue Stellung als partielle theologische Disziplin zu fügen sucht, muß sie sich von einem- hermeneutischen Grundverständnis distanzieren, das ihr von ihrem traditionellen Aufbau und ihrer überkommenen Arbeitsweise her außerordentlich zäh anhaftet. Die veränderte Situation zeigt sich vor allem auch an folgendem : Die Dogmatik konnte einst beanspruchen, die Theologie im ganzen zu repräsentieren. Sie war darum zuständig für die theologische Prinzipienlehre Überhaupt und so auch für di~ Hermeneutik der Heiligen 340
Schrift. Beides gehörte in ·die Prolegomena der Dogmatik. Wenn dagegen Dogmatik eine theologische Teildisziplin geworden ist, so werden, jedenfalls bei strengem Verständnis 1 die fundamentaltheologische Aufgabe und damit auch die .Hermeneutik nicht mehr Sache der Dogmatik sein können. Sie werden der historischen wie der dogmatischen Theologie gleichermaßen vorgeordnet sein müssen. So ist die Frage .von vornherein negativ entschieden, ob nicht hermeneutische Theologie durch die Kritik an der herkömmlichen historischen Theologie die dogmatische Theologie wieder in ihre alten Rechte einsetzt. Soweit es um die der traditionellen Dogmatik zugrunde liegende Hermeneutik geht, kann sie dies durchaus nicht tun. Eine implizite Hermeneutik haftet nun aber an folgenden konstitutiven Merkmalen der traditionellen Dogmatik: der heilsgeschichtlichen Stoffanordnung samt deren metaphysischer Fundierung, der Nebeneinanderordnung zu einer Vielzahl von credenda, dem Verfahren des Schriftbeweises als einem hermeneutisch unzureichenden Verständnis von Verifikation theologischer Aussagen sowie dem zugrundeliegenden Sprachverständnis, für welches Ungeschichtlichkeit und juristische Verfügbarkeit bestimmend sind. Damit· sind Probleme von u.1,1geheurem Gewicht angedeutet. Wer mit der Theologiegeschichte vertraut ist, kann die Existenz dieser bedrängenden Probleme nicht abstreiten. Nur Leichtsinn kann sich traditionalistisch oder progressistisch darüber hinwegsetzen. Theologische Verantwortung wird sich mit Sorgfalt und Geduld diesen Fragen stellen. Hermeneutische Theologie verpflichtet dieser Lage gegenüber zu folgendem : Einmal : Die Auswirkung unserer hermeneutischen Situation erstreckt sich nicht bloß. auf einzelne Aspekte der Dogmatik. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, das hermeneutische Problem in seinen Folgen für die gesamte Disziplin der Dogmatik im herkömmlichen Sinne zu bedenken. Ferner: Der entschiedene Antrieb hermeneutischer Theologie zu verantwortlichen theologischen Aussagen, also zum Geschäft dogmatischer Theologie in jenem weiten Sinne, ist in die strenge Zucht des ständigen Gesprächskontaktes mit der klassischen Dogmatik zu nehmen. Deren Studium kommt unter dem Aspekt hermeneutischer Theologie die Funktion einer dogmatischen 341
Propädeutik zu. Das bedeutet keine Abwertung der klassischen Dogmatik, sondern ruft zu deren um so intensiverem Studium. Weiter: Die Aufgabe hermeneutisch neu verstandener systematischer Theologie ist in letzter Hinsicht nicht die Übermitdung von definitiven theologischen Lehrsätzen eines in sich geschlossenen Systems, sondern die Vermittlung der Urteilsfähigkeit in bezug auf theologisches Denken und die Einübung der Art und Weise, wie verantwortliche theologische Aussagen entstehen. Die Theologie soll ja zur Verkündigung des Wortes Gottes unterweisen. Die Verkündigung aber vollzieht sich nicht in Wiederholung dogmatischer Sätze, sondern auf Grund der biblischen Texte und unter Mithilfe der theologischen Lehrüberlieferung in eigener Sprachverantwortung. , Und endlich: Hermeneutische Theologie richtet deshalb ihr Bemühen darauf, in diejenige Situation einzuweisen, in der die theologischen Aussagen sich bewahrheiten. So ist es die elementarste Aufgabe hermeneutischer Theologie, das Wort »Gottes« an der Grundsituation des Menschen zu verifizieren.
Anmerkungen 1 Es wurde im Sommer 1965 in Pullach, Mainz und Berlin behandelt. 2 L. Wittgenstein, Schriften 2. Philosophische Bemerkungen. Aus dem
Nachlaß hg. von R. Rhees, 1964, 7. 3 Rechte Theologie wird jedoch durch die Kritik, wie sie W. W. Bartley (Flucht ins Engagement. Versuch einer Theorie des offenen Geistes, 1962. Titel der amerikanischen Originalausgabe : The Retreat to Commitment) vorbringt, nicht getroffen. 4 Vgl. meinen Artikel >>Hermeneutik«, RGGJ, III, 242- 263 5 Ex 16, 20 6 »Es zeigt sich, daß in den Anfängen einer gemeinsamen, kritischen und dialektischen Theologie sich bald nach 1921 zwei Linien abzeichneten, die bis heute die Differenzen einer >Theologie der Verkündigung< und einer >Theologie der Hermeneutik< bestimmen.« In: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, hg. von J. Moltmann, ThB 17, 1962, XVII. Vgl. dazu folgende Notiz in KidZ XXI, 1966, 92: >>Die Zitierung einer Äußerung von Jürgen Maltmann durch Gerliard Ebeling in dem Aufsatz >Hermeneutische Theologie?< gab Anlaß zu 342
einem Briefwechsel zwischen beiden Autoren, der folgende Klärung erbrachte : Maltmann will die auch von ihm sachlich für· falsch gehaltene Differenz zwischen einer >Theologie der Verkündigung< und einer >Theologie der Hermeneutik< an jener Stelle nur als historische Charakteristik verstanden wissen. Ebeling bedauert, daß durch die Zitierweise der Anschein entstehen konnte, als handele es sich um eine apodiktische systematisch-theologische Behauptung Maltmanns selbst. Er hält allerdings seinerseits den Sachverhalt in der frühen dialektischen Theologie mit jener Unterscheidung auch historisch nicht für befriedigend interpretiert. Beide sind sich einig, daß ein . weiteres Gespräch darüber eine dringliche Aufgabe wäre.« 7 Vgl. besonders: Historische und dogmatische Methode in der Theolo:.. gie, in: E. Troeltsch, Gesammelte Schriften !I, 1913, 729-753 · 8 Die Zuweisung der Dogmatik an die histori~che Theologie durch Schleiermacher (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 18302 , besonders § 97 und §§ 195 f.) bedürfte selbstverständlich einer eingehenden Erläuterung, auf die an dieser Stelle verzichtet werden muß 9 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960) 1965 2, 473 f.
·Karl-Georg Faber Grundzüge einer historischen· Hermeneutik . Nach der kritischen Prüfung des An pruchs einer normativen Hermeneutik ist der Weg frei für die Analyse des V erstehens in der Geschichtswissenschaft selbst. Sie wird zu zeigen haben, welche der von der philosophischen Hermeneutik herausgearbeiteten Bedingungen des Verstehens auch vom Historiker in Rechnung gestellt werden müssen und wo die der Geschichtswissenschaft obliegende Aufgab~ das historische Verstehen von anderen Spielarten dieser Erfahrungsweise abhebt. Als vorläufige Antwort auf beide Fragen mögen die folgenden vier Thesen dienen: · 1. Mit der normativen Hermeneutik erkennt die Historie die ·sich aus der V erwurzelung in der Lebenspraxis . ergebende G~s~hic_}:ttlichkeit und Horizontgebundenheit des Verstehens als eine Stärke an, die aber zugleich seine Schwäche ist. 2. Mit der kritischen Theorie erkennt die Historie die sich aus jener Schwäche ergebende Notwendigkeit der >kontrollierten Verfremdung< des Verstehens an, die aber nur in der Fon~ der rationalen Analyse der Überlieferung als Relikt möglich ist. 3. Die Geschichtswissenschaft verzichtet auf eine Bewertung der durch das forschende Verstehen in der Geschichte gefundene Sinn-Einheiten, ·sei es in der Form des Sich-Unterwerfens unter diesen Sinn, sei es als Emanzipation von der Tradition. 4. Die Geschichtswissenschaft sucht sich der objektiven historischen Wahrheit durch die Verbindung von Verstehen und Methode zu nähern. Die in jenen Thesen steckende Problematik des historischen Verstehens soll zunächst an einem Beispiel aus der Praxis der Geschichtswissenschaft demonstriert werden. Das wissenschaftliche Verstehen als hermeneutisches Sinnverständnis- jenes Handlungskomplexes, der traditionell >Luthers Thesenanschlag< genannt wird, ist in jüngster Zeit einer nicht geringen Belastungsprobe ausgesetzt worden, von der noch ni~ht abzusehen ist, wie weit sie unser Bild von diesem historischen >>Ereignis« quantitativ und qualitativ modifizieren wird 1 • In der folgenden Analyse des Sachverhaltes werden nur diejenigen Faktoren herausgegriffen, an de~en qer Vorgang des historischen. Verstehens aufgezeigt wer344
den kann. Keineswegs soll hier die ganze Problematik, die mit dem Stichwort >Luthers Thesenanschlag< umschrieben wird, erschöpfend behandelt werden. Es geht allein um das Verständnis des Verhaltens Luthers um den 31. Oktober 1517 als intentionales Handeln, das heißt um die Frage nach den Motiven, die dieses Verhalten verständlich machen, ihm einen Sinn geben. Streng genommen, wird man überhaupt nur eine solche Erklärung menschlichen Handeins aus den ihm zugrundeliegenden bewußten oder unbewußten Motiven heraus als historisches Verstehen bezeichnen, während die Antwort auf alle darüber hi.nausgehenden Fragen, etwa nach der geschichtlichen Relevanz solcher Handlungen, nach ihrer Einordnung in einen größeren Zusammenhang oder gar nach ihrer konstitutiven Bedeutung für die Stiftung einer umfassenderen Sinneinheit (die Bedeutung des Thesenanschlages für die Reformation ! !) - zwar ihr Verständnis voraussetzt und ohne ein solches nicht möglich, aber doch nicht das Verstehen selbst ist. 2 Auf diese Unterscheidung zwischen dem historischen Verstehen und dem historischen Urteil, die in theoretischen Erörterungen gerne außer acht gelassen wird, ist noch zurückzukommen. 3 Zunächst der Sachverhalt: Am 31. Oktober 1517 schickte der Wittenberger Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luth~r an den Erzbischof Albrecht von Magdeburg-Mainz, in dessen der Stadt Wittenberg benachbarten Gebieten Ablaßhandel getrieben wurde, und an den für die Stadt zuständigen Bischof von Brandenburg zwei gleichlautende Briefe, in denen er eine Revision der Ablaßpraxis verlangte. · Zur Begründung legte Luther 95 Thesen bei, in welchen er den Ablaß theologisch auf seine untergeordnete Funktion - gegenüber der wahren Buße _:_ zurückzuführen suchte. Implizit enthalten diese Thesen auch, aber keineswegs ausdrücklich, Luthers neue Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben und die Gnade Gottes. Nach der erst im Jahre 1546 erschienenen und neuerdings in ihrem Quellenwert bestrittenen Darstellung durch seinen Freund und Mitstreiter Melanchthon soll Luther am seihen 31. Oktober 1517 das Blatt mit den 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche angeschlagen haben. Er wäre damit einem bei akademischen Disputationen üblichen Brauch gefolgt. Denn im Kopf der Thesen wurden die Gegner seiner Auffassung zum Streitgespräch aufgefordert. 345
Die Geschichte des Verständnisses dieser Handlurtgen ist ein Musterbeispiel für das, was Gadamer die Geschichtlichkeit des Verstehens oder das »Darinstehen [des Verstehens] in einem Oberlieferungsgeschehen« nennt. 4 Jenes Verständnis ist jahrhundertelang weniger durch die direkte Interpretation der primären · Oberlieferung dieser Handlungen als durch die von ihnen ausgehenden weltgeschichtlichen Wirkungen und von einer im vorwissenschaftliehen Raum entstandenen Tradition geprägt worden, deren Verbindlichkeit darauf beruht, daß sie schon früh, nämlich in der vorwissenschaftliehen Phase des geschichtlichen Verständnisses der Reformation, Bestandteil des Kanons, der >Ursprungslegende< der neuen Lehre wurde. Das katholische Lutherverständnis wurde in dep nachreformatorischen Jahrhunderten weitgehend von den polemischen Kommentaren des erbitterten Lutherfeindes Johann Cochläus bestimmt, in denen der Reformator als Erzketzer und moralisch minderwertiger Bösewicht erscheint. 5 Diese Interpretation machte erst in der Aufklärung einer maßvolleren und sachlicheren Beurteilung Platz. Die protestantische Tradition .stand und steht bis in unser Jahrhundert hinein unter der Dominanz des >Zeichens< des Thesenanschlages. Das so eindeutig erscheinende Bild von dem unscheinbaren Mönch, der mit seinen weithin hallenden Hammerschlägen an die Tür der Witte~berger Schloßkirche das Gebäude der von Mißbräuchen erfüllten k~tholischen Kirche erschütterte, übte eine solche Faszination auf · die gläubigen Protestanten und ihr Geschichtsverständnis aus, daß ein weiteres Fragen nach den Motiven, von denen sich Luther am 31. Oktober 1517leiten ließ, gar nicht nötig erschien. Diese Frage war bereits durch jenes Zeichen selbst beantwortet. An diesem Vorgang interessiert zunächst, daß es sich zweifellos um ein unkoutrolliertes Verstehen gehandelt hat. Wie ist solches Verstehen aufzufassen ? Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch das Handeln anderer Menschen - der eigenen Gegenwart ebenso wie der Vergangenheit - nur durch den Rekurs auf die eigene Lebenserfahrung, auf eigenes Handeln und Denken verstehen kann. Den durch den Augenschein, durch Hörensagen oder durch die Oberlieferung·vermittelten Handlungen des anderen werden solche Motive zugeschrieben, die man aufgrund der eigenen Lebenserfahrung für möglich, für wahrscheinlich hält. Dieses Zuschreiben setzt voraus, daß sich der 346
Interpret an die Stelle des Handelnden versetzt. Was Collingwood mißverständlich als Nachvollzug der Gedanken des Handelnden durch den Historiker beschreibt6 -wie kann man etwas nachvollziehen, dessen man noch nicht sicher ist?-, ist in Wahrheit der Versuch, aufgrund der Überlieferung die Entscheidungssituation zu rekonstruieren, aus welcher der Handelnde so und nicht anders gehandelt hat. Diese Situation wird mit der eigenen Erfahrung konfrontiert- mit einer Erfahrung, die immer zusammengesetzt ist aus normativen Elementen der Lebenspraxis und solchen des_ Sachwissens. · Ein Handeln, das völlig aus dem Rahmen der eigenen Lebenserfahrung fällt, bleibt unverständlich und wird es oft auch bleiben, wie jeder Historiker weiß,. trotz noch so intensiver Bemühungen um seine Einordnung in einen Kontext. Dies -ist mit der These Fains gemeint, daß für den Historiker - im Unterschied zu dem Schreiber historischer Romane -.die mit der historischen Methode ermittelte Sachwahrheit (>truth<) die Priorität vor ihrer Verständlichkeit (>intelligibility<)behalten muß. 7 Dagegen öffnet ein Handeln, das einen scheinbar so demonstrativen Charakter besitzt wie der angebliche oder tatsächliche Thesenanschlag Luthers, einem phantasievollen Verstehen Tür und Tor. Es werden ihm unkoutrolliert alle jene Motive unterschoben, die der Interpret von seinem jeweiTI:geil''' Standort im Wirkungszusammenhang aus mit dem Zeichen verbinden kann. So enthält eine neuere Untersuchung übe:r die Darstellung der Reformation in deutschen Schulgeschichtsbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts unter anderem die folgenden Kapitel :8 >Die Interpretation von Luthers Reformation als Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Geistes unter dem Einfluß der Aufklärung<. . >Luther als nationaler Held ·und Werkzeug Gottes in protestantisch-preußisch-deutscher Sicht im 19. Jahrhundert<. >Stärkere Betonung der nationalen Aspekte der Reformation und---zunehmendes Verständnis für das religiöse Anliegen Lu~hers nach 1918<, >Verherrlichung Luthers als des nationalen Helden und Kämpfers für Deutschland und Interpretation der Reformation. als der deutschen Revolution in der Zeit von 1933 bis 1945<. >Würdigung Luthers als- eines religiösen Menschen< in den Lehrbüchern der Gegenwart. 347
Das Beispielliefert erste Einsichten in den Vorgang des historischen Verstehens und in die damit verbundenen Gefahren einer Fehlinterpretation vergangenen Handelns. 1. Da die Handlungsmotive :__sei es ~ls Zwecke, sei es als Mittel zum Zweck9 - niemals offen zutage liegen, müssen sie durch eine verstehende Interpretation der Überlieferung gesucht werden. Selbst eine ausdrückliche Willenserklärung kann bewußt oder unbewußt die wahren Motive verschleiern. 2. Die im ersten Verstehensakt vorgeschlagenen Motive,.die aus der Konfrontation der rekonstruierten Entscheidungssituation mit der Lebenserfahrung des Interpreten gewonnen werden, sind Entwürfe, die die Handlungen möglicherweise, aber nicht end-. gültig erklären. ' 3. Die Eigentümlichkeit, daß. jeder Verstehensentwurf eine scheinbar abgeschlossene Erklärung des isolierten Handlungskomplexes ( = Luthers Thesenanschlag als >Zeichen<) liefert, 10 verleitet den Interpreten dazu, sich mit ihm zu begnügen . .4. Oie dadurch gegebene Gefahr des Mißverstehens wächst in dem Maße, in dem die Lebenserfahrung des Interpreten normative Elemente enthält, die sich auf den zu verstehenden Sachverhalt beziehen. . 5. Ein richtiges Verstehen· vergangenen Handelns, das aus den sich anbietenden Entwürfen den wahrscheinlichsten ermittelt und die Wertvorstellungen des Interpreten ausschaltet, 11 bedarf der Kontrolle durch eine über das Zuschreiben von Motiven hinausgehende Verstandesoperation. 6. Diese Verstandesoperation ist nichts anderes als die von Gadamer verschmähte historische Methode, die von Habermas als »kontrollierte Verfremdung« des Verstehens bezeichnet wird. Einige, keineswegs alle Verstandesoperationen dieser Art, die zum besseren historischen Verständnis von Luthers Handeln beigetragen haben, seien genannt. Zunächst hat man den >Wirkungszusammenhang< zerschnitten,ll i~dem man das Wissen des Interpreten und auch Luthers späteres Wissen über die Wirkungen seines Tuns getrennt hat von dem Verstehen dieses Tuns selbst. Damit ist nicht gesagt, daß der Historiker bei seiner Interpretation die Wirkungen, die von Vergangenern Handeln ausgegangen sind, völlig negieren soll. Im Gegenteil, seine Fragen setzen dieses Wissen voraus, etwa in den Überlegungen, ob sich Luther der möglichen Tragweite seines· 348
Tuns bewußt war und ob er den Bruch mit der Kirche einkalkuliert hat. Der Interpret weiß also immer mehr als derjenige, dessen Handlungen_ er zu verstehen sucht. 13 Das ändert aber nichts -d.aran, daß in der Interpretation der Wirkungszusammenhang insofern gedanklich unterbrochen ist, als nicht von den Wirkungen auf die Motive geschlossen werden darf. Das Handeln Luthers wird· ferner in den Kontext seiner Zeit gestellt. Der Vergleich- ein rationales Verfahren!- mit akademischen Gepflogenheiten seiner Zeit ergibt, daß die öffentliche Aufforderung zu einer Disputation, auch etwa durch den Anschlag der zur Diskussion gestellten Thesen, ein in der gelehrten Welt des 15. und 16. Jahrhunderts üblicher Vorgang war. Die Kontroverse darüber, auf welche Weise und wann zuerst Luther die Offentlichkeit angesprochen hat, verliert damit an Bedeutung, ohne diese freilich ganz einzubüßen. Eine genaue Interpretation der Thesen - im Vergleich mit der Überlieferung über Luthers frühere geistig-theologische Entwicklung14 und mit der zeitgenössischen Diskussion üi?er das Ablaßunwesen- ergibt zweierlei: einmal, daß es Luther in seiner Kritik an dem Ablaßunwesen um eine primär theologischreligiöse, sein Gewissen als Seelsorger belastende Frage ging, deren Relevanz für ihn durch die >exegetische Entdeckung< der paulinischen Rechtfertigungsgedanken verschärft worden war; zum anderen, daß diese Kritik - sieht man von ihrer Schärfe ab _.:_ sich einordnet in die zeitgenössische Bewegung, die auf eine Reform der Kirche abzielte. Luther visierte also zu diesem Zeitpunkt wohl kaum einen Bruch mit der Kirche an. Schließlich zeigt Luthers weitere Entwicklung bis zum endgültigen Bruch mit der Kirche durch die Verbrennung der Bannandrohungsbulle am 10. Dezember 1520, daß er zu diesem Bruch schrittweise, durch das Verhalten der Kirche, gedrängt wurde, daß also sein durch sein Gewissen bestimmtes Handeln eher reaktiv als aktiv gewesen ist. So sehr also der Konflikt mit der Kirche in seiner ursprünglichen theologischen Position als Möglichkeit >angelegt< war, er hat ihn wohl kaum bewußt gesucht. Durch diese - und viele weitere - rationale Uberlegüngen am konkreten historischen Material, durch die unsere Kenntnisse über Luther in seiner Zeit systematisch erweitert worden sind, ist zugleich das Verständnis seines Handeins um den 31. Oktober 349
1517 wesentlich verbessert worden. Aus der Reihe der durch das unkontrollierte Verstehen gelieferten Erklärungsentwürfe sind diejenigen ausgeschieden worden, die im Lichte dieser Kenntnisse unwahrscheinlich sind. So läßt sich heute mit der großen Gewißheit, wenn auch nicht mit absoluter Evidenz sagen, daß die verstehende Interpretation Luthers - bezogen auf den Inhalt und die Veröffentlichung seiner Thesen - als Revolutionär, als nationaler Held oder als Vorkä~pfer für geistige Freiheit falsch und daß die wichtigste Triebfeder seines Handeins sicherlich das religiöse Anliegen gewesen ist. Die geschilderte Verbindung des Verstehens mit der historischen Kritik, durch die erst eine wissenschaftlich begründete Interpretation vergangeneo intentionalen Handeins möglich wird, erlaubt es auch, die Geschichtlichkeit jeder historischen Erkenntnis anzuerkennen, ohne in völligen Relativismus zu verfallen. Unter diesen Voraussetzungen erweist sich sogar die in dem Begriff der Geschichtlichkeit implizierte Horizontveränderung - nicht nur Horizontgebundenheit! - als ausgesprochener Gewinn, als Möglichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts. Um noch einmal zu dem Beispiel Luther zurückzukehren: Es ist gar nicht zu übersehen, d:aß die in den letzten Jahrzehnten vollzogene wissenschaftliche Revision des traditionellen Lutherverständnisses bedingt gewesen ist durch eine doppelte außerwissenschaftliche K.limaveränderung, die man als Abbau konfessioneller Vorurteile auf der einen und als wachsende Skepsis gegenüber einem angeblichen Wirkungszusammenhang etwa >von Luther über Bismarck bis zur Gegenwart< auf der anderen Seite umschreiben kann. 15 Insofern ist die Revision geschichtlich bedingt. Es kann aber ebensowenig bestritten werden, daß in dem auf diese Weise gewonnenen neuen Lutherbild die älteren Interpretationen >aufgehoben<, genauer: kritisch verarbeitet, distanziert, objektiviert worden sind. So wie das kontrollierte Verstehen am Objekt selbst zwischen den Handlungen und ihren Folgen unterscheidet und damit den Wirkungszusammenhang gedanklich unterbricht, so wird bei der wissenschaftlichen Kritik früheren Sinnverständnisses auch der von Habermas postulierte Interpretationszusammenhang unterbrochen. Habermas hat diesen Sachverhalt selbst mit dem Satz anerkannt: »Indem sie [ = die Reflexion] die Genesis aus der Überlieferung, aus der · die Reflexion hervorgeht und auf die sie sich zurückbeugt, durch350
schaut, wird die Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert.« 16 Der Historiker kann freilich zu einer solchen Feststellung nur skeptisch bemerken, daß die durch die historische Methode kontrollierten Ergebnisse des Verstehens vergangeneo Handeins im : allgemeinen nur sehr zögernd von der intoleranten Lebenspraxis zur Kenntnis genommen werden. Wie lange hat es schon gedauert, bis die Legende, die >Tradition< vom >Eisernen Kanzler< Bismarck aus wissenschaftlichen Darstellungen verschwunden ist, 17 während sie weiterhin in Bismarck-Türmen und anderen Denkmälern und im Herzen vieler Menschen der älteren Geilet:i:.. tion ein ungebrochenes, >naturwüchsiges< Dasein fr{stet? Und wie lange wird es dauern, bis die Predigtpraxis in der protestantischen Kirche auf die traditionelle und den Vorstellungen der Menschen von einem antiautoritären Verhalten entgegenkommende Interpretation jenes >Zeichens< verzichten wird, das man Luthers Thesenanschlag nennt ? Gewiß steckt in der Annahme, daß der. »Gegensatz zwischen fortlebender >naturwüchsiger< Tradition und reflektierender Aneignung derselben« (oder ihrer Ablehnung) nur relativ ist, insofern ein wahrer Kern, als auch der verstehende Historiker nicht völlig »aus dem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang. seiner hermeneutischen Situation« heraustreten kann. 18 Es ist jedoch eine Sache, die >hermeneutische Bedingtheit< des historischen Verstehens zu reflektieren, eine andere, unter Berufung auf Droysens bekanntes Diktum von der »eunuchischen Objektivität« mancher Historiker (Ranke?), aus der Not eine Tugend zu machen und das Streben des Historismus nach Objektivität als >>methodologische Naivität« abzustempeln. 19 Ein solches Urteil übersieht im übrigen Droysens Forderung, daß es gelte, Methoden zu finden, >>um für dies unmittelbare und subjektive Auffassen [= das Verstehen] ... objektive Maße und Kontrollen zu gewinnen, es da1-Uit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen«. 20 Droysens Form~! >>forschend zu verstehen« ist in diesem -Satz' unübertrefflich umschrieben. Nach dem Versuch, einige wesentliche Aspekte der >Operation Verstehen< in der Geschichtswissenschaft an eineni Beispiel aus der Forschungspraxis zu analysieren, ist es. leichter, die Möglichk~iten und Grenzen des historischen V erstehens präziser zu bestimmen. · Da die Welt der Geschichte dem.Historiker als ein unendlicher
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Komplex intentionalen Handeins erscheint, verlangt sie eine Erklärung dieses Handeins aus den Motiven, aus deri Intentionen heraus. Die Motive menschlichen Handeins liegen aber niemals offen zutage, weder in der Gegenwart, noch in der Vergangenhc;:i_t;; ,s~e sind dem Menschen nur indirekt, durch die Vermittlung der menschlichen Zeichensysteme im weitesten Sinne des Wortes und durch die Objektivationen menschlichen Handeins zugänglich, dem Historiker nur durch die Quellen in der Form der Tradition und der Überreste. So wie menschliches Zusammenleben nur möglich ist, weil die Menschen die· Fähigkeit besitzen, gegebenen Zeichen - Worten, Gesten, Handlungen - aufgrund der eigenen Leb~nserfahrung nicht gegebene, aber plausible Intentionen zuz.uordnen und damit jene Zeichen zu verstehen, so beruht die Möglichkeit, vergangenes Handeln, wie es. durch die Quellen überliefert ist, zu erklären, auf solchem Verstehen, das heißt auf der Verbindung der überlieferten Handlungen mit · plausiblen Motiven. Die Analogie macht deutlich, wie sehr in der Tat das historische Verstehen in der Lebenspr;qci.s wurzelt. D9ch sollte man sich mit dieser· Feststellung nicht begnügen, sondern fragen, was denn eigentlich >Lebenspraxis< und >Lebenserfahrung< als Grundlage des Verstehens heißen. Dabei zeigt sich wieder, daß die so beliebte Gegenüberstellung von Theorie und Praxis, von _wissenschaftlicher Methode und im Leben verwurzeltem Verstehen unbrauchbar ist. Die Fähigkeit zum Verstehen intentionalen Handeins beruht nämlich auf Wissen, und zwar auf dem in unzähligen Begegnungen mit den Mitmenschen erfahrenen und aufg~speicherten Wissen über die mögliche Zuordnung von Zeich~n und lntentionen. 21 Solches Wissen über den möglichen Sinn menschlicher Zeichen wird dem Menschen zunächst als Erfahrungsschatz seiner Umwelt zugänglich gemacht, gewissermaße_n als Kollektion von Verhaltensmustem. Es ist das, was man >Horizont< oder >kumulative Lebenserfahrung« nennt. 22 Dieser Verstehenshorizont, in den der Mensch hineingeboren wird und der je nach der Umwelt eng oder weit, einseitig oder umfassend ist, wird durch seine eigenen Erfahrungen erweitert, modifiziert, korrigiert, möglicherweise, sofern diese Erfahrung einseitig ist, wieder verengt. Der sich meist unbewußt vollziehenden, experi-. mentellen Erweiterung der Lebenserfahrung, das heißt des Wissens um die Möglichkeiten menschlichen Handelns, liegen weit352
gehend rationale >Akte< oder >Operationen< zugrunde: der Vergleich zwischen dem eigenen Erleben und Handeln und den Handlungen der anderen Menschen, die Erfahrung des Allgemeinen, des Mehrmals-Vorkommenden, des Sich-Wiederholenden, des Strukturhaften auch des menschlichen Handelns, die Annahme des Kausalitätsverhältnisses, daß nichts, auch nicht menschliches Handeln, ohne Ursache geschieht u. a. m. 23 Daß solche Lebenserfahrung entweder unkoutrolliert übernommen (Konvention) oder unbewußt angesammelt und dadurch dauernd verändert wird, daß ferner die Menschen nicht durchweg gleich viel mit ihr anzufangen wissen, der eine ein guter Menschenkenner ist, der andere immer ein schlechter bleibt, das betrifft nur die psychologische Seite der Sache und ändert nichts daran, daß das Wissen um die »Gesetzlichkeit und Psychologie des Handelns« 24 eine rationale Struktur besitzt. Allein weil das Verstehen, das heißt das Bemühen, den Sinn menschlichen Handeins zu finden, indem man die fremde Entscheidungssituation mit der eigenen Lebenserfahrung konfrontiert, nur weil also dieser Verstehensakt schon in der Lebenspraxis einer dauernden rationalen Kontrolle durch das tradierte oder erW-orbene Wissen der Lebenserfahrung unterworfen werden kann und wird, nur deshalb ist das Verstehen ein auch in der· Wissenschaft zulässiges Verfahren. Das Verstehen ist unentbehrlich für alle Geistes- oder Handlungswissenschaften, weil es den Zugang zur >Innenseite< menschlichen Tuns aufschließt. Man bezeichnet den Versteheosakt deshalb auch als »Verinnerlichung«, als »Internalizing«. 25 Daß die mit Hilfe des Verstehens gewonnenen Erklärungsentwürfe das yergangene Handeln nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit erklären, macht den Verstehensakt nicht überflüssig. Ohne ihn bliebe alles Handeln für den anderen sinnlos, bloßes Relikt, und die Geschichte ein Trümmerfeld unverstandener und damit beziehungslos bleibender Aktionen. Das Verstehen ist wissenschaftlich zulässig, weil seine Ergebnisse der rationalen Kontrolle zugänglich sind, die zu den Voraussetzungen jeden wissenschaftlichen Tuns gehört. Was die Lebenserfahrung für das Verstehen in der Lebenspraxis, das ist der >historische Sinn< für das Verstehen in der Geschichtswissenschaft : das Wissen um die Möglichkeiten menschlichen Handelns .. Während aber die Lebenserfahrung auf den jeweiligen Horizont beschränkt bleibt, ist.der >historische Sinn< die kontrol353
lierte Erweiterung des in der Lebenspraxis übernommenen und erworbenen Wissens durch das Wissen des Historikers von dem, was den Menschen in früheren Epochen, unter anderen Horizonten, möglich war. Insofern ist der Feststellung Gadamers zuzustimmen, daß das Verstehen immer »der Vorgang der Verschmelzung vermeintlich für sich seiender Horizonte« ist und daß der Horizont des V erstehenden zusammen mit den »Vergangenheitshorizonten« einen einzigen, von innen her beweglichen Horizont bildet, »der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt«. 26 Seiner Meinung aber, daß eine solche Verschmelzung nur im »Walten der Tradition« erfolge und deshalb - so muß man wohl schließenein adäquates Verständnis de~ Vergangenheit mit rationalen Methoden unmöglich ist, 27 wird der Historiker nicht folgen. Denn der das Verstehen erst ermöglichende Wissensbestand, sei es der Lebenserfahrung, sei es der Wissenschaft, ist immer schon rationaler Struktur. Außerdem sollte die vom Historiker im Verstehen >eingesetzte< Lebenserfahrung daraufhin kontrolliert werden, ob die in ihr enthaltenen normativen Ideen darüber, was >man< in dieser oder jener Situation tun sollte/ 8 der geeignete Maßstab zur Beurteilung der Handlungen von Menschen früherer Zeiten sind. Zweifellos birgt die Tatsache, daß alles historische Verstehen vom. Leben;shorizont des Historikers ausgeht, immer die Gefahr in sich, daB den Handlungen der Vergangenheit die Vorstellungen und Motive der Gegenwart des Historikers unterschoben werden. Dieser Gefahr kann jedoch nur entgangen werden, iridem die Perspektive des Verstehenden mit Hilfe rationaler Methoden, durch den Vergleich, durch die Analogie, durch die Ermittlung des Kontextes der zu verstehenden Handlungen, kurz : durch Distanzierung und Objektivierung der Epoche relativiert wird, um deren Verständnis es geht. Schließlich wird das historische Verstehen auch dadurch nicht entwertet, daß das dabei eingesetzte und methodisch verfremdete Wissen um die Möglichkeiten menschlichen Handeins in der Vergangenheit wie jedes Wissen überhaupt immer nur vorläufig ist, hypothetisch, nicht abgeschlossen, geschichtlich. In der Geschichtlichkeit des Verstehens liegt die Möglichkeit des wissenschaftlichen Fortschritts begründet. Seine Ergebnisse können im Lichte neuen Wissens revidiert werden, so wie man auch im Alltag von dem Handeln eines anderen sagt, daß man es nun, 354
nachdem man mehr über seinen Charakter und seine Situation weiß, besser versteht. . Die so umschriebenen Möglichkeiten einer Erfahrungsweise, die von DrGysen als »logischer Mechanismus« des Rückschlusses von überlieferten Handlungen auf eine ihnen zugrundeliegende innere »Zentrale Kraft« 29 beschrieben worden ist, markieren zugleich die Grenzen des historischen Verstehens. Sie sind dafür verantwortlich, daß die Historie keine exakte Wissenschaft ist. Es wurde gezeigt, daß das kontrollierte Verstehen keine Erkenntnisse von absoluter Evidenz, sondern immer nur Aussagen über den wahrscheinlichen Sinn des zu erklärenden Handelns· im Lichte des Wissens über die mögliche Zuordnung· von Zeichen und Intentionen liefert. Daß die so gewonnenen historischen Erklärungen nur »tentative Geltung« beanspruchen können, 30 beruht sowohl auf der Eigenart menschlichen Handeins als auch auf dem Verstehensakt selbst; auf der Eigenart menschlichen Tuns einmal, . weil dem Verstehenden immer nur dieses Tun selbst und seine Objektivationen direkt als >Zeichep.< gegeben sind, während die hinter ihnen stehenden Intentionen erschlossen werden müssen; zum anderen . - und das ist wichtiger -, weil jene Zeichen, (Sprache, Gesten,. Handlungen) und der Bestand menschlicher Intentionen oder Motive niemals, jedenfalls nicht erkennbar, geschlossene Systeme bilden, unabänderlich aufeinander bezogen sind. Jede Intention kann sich in vielen Zeichen ausdrücken, und jedem Zeichen können verschiedene Motive zugrundeliegen. Auch die Verhaltensforschung kann in dieser Hinsicht nur zu Aussagen von statistischer Wahrscheinlichkeit kommen. Es läßt sich nur sagen, von welchen Intentionen sich Luther wahrscheinlich am 31. Oktober 1517 leiten ließ. Das Verstehen eines Wahlergebnisses wird zwar erleichtert durch das Wissen um die näheren Umstände, über die soziale, bildungsmäßige, konfessionale Struktur der Wählerschaft, über die konkrete politis~he Situation, in der die Wahl stattfand, über die Stärke bestimmter politischer Traditionen usw. So· viel man auch. darüber weiß, selbst wenn Aussagen der einzelnen Wähler über ihre Motive vorliegen: Das Ergebnis eines solchen kontrollierten Verstehens wäre immer eine Aussage darüber, welches wahrscheinlich die Intentionen waren, von denen sich die einzelnen Wählergruppen bei der Stimmabgabe leiten ließen. Die Inexaktheit des Verstehens beruht schließlich auf dem 355
Verstehensakt selbst. Denn ·das Verständnis kommt zustande, indem der Historiker die zu verstehenden Handlungen mit der eigenen, durch mancherlei Wissen angereicherten Lebenserfahrung konfrontiert und ihnen auf dem Wege der Analogie ihm plausibel erscheinende Intentionen zuordnet. Da diese Zuordnung gleichbedeutend mit der Auswahl aus einer größeren Zahl möglicher Verhaltensmaximen ist, kann sie nur Wahrscheinlichk(!itss~tze liefern. Die solchen Aussagen zugrunde liegende Lebenserfahrung plus historischem Wissen kann zwar nicht, wie es die analytische Falsifizierungstheorie von einer wissenschaftlichen_ Gesetzeshypothese verlangt, durch negative Instanzen endgültig falsifiziert werden. 31 Diese Tatsache begründet deshalb für die einen den angeblich geringen Erklärungswert des Verstehens,32 während die anderen darin einen Beweis dafür sehen, daß jene Theorie dem Erklären in den Sozialwissenschaften nicht gerecht wird. 33 Wie dem auch sei: die Forschungspraxis zeigt, daß die Erklärungen, die auf dem Wege des kontrollierten Verstehens. gewonnen werden, zwar durch neu hinzukommendes Wissen korrigiert und modifiziert werden können, aber als Produkte einer verstehenden Analyse der Überlieferung den Ansprüchen genügen, die der Historiker an solche Erklärungen intentionalen Randehis der Vergangenheit stellt. Es ist schwer vorstellbar, daß die historische Interpretation von Luthers Verhalten um den 31. Oktober 1517 als ein primär von religiösen Antrieben geleitetes Handeln durch weitere Informationen in einer für die Geschichtswissenschaft relevanten Weise verändert werden kann. 34 Und dies gilt für viele durch die Kontrolle der historischen Methode hindurchgegangene Erklärungen derselben Klasse. So liefert das historische Verstehen gewissermaßen den Rahmen, in welchem sich menschliches Handeln in einer bestimmten Epoche. unter mehr. oder weniger bekannten Umständen bewegt.35 Es rückt damit überraschend in die Nähe dessen, was in dem Kapitel über Kausalität und Zufall in der Geschichte mit der Hegeischen Gegenüberstellung von Notwendigkeit (Möglichkeit) und Zufall erläutert wurde. 36 Der Sinn menschlichen Handeins bewegt sich immer im Rahmen dessen, was unter den es determinierenden geschichtlichen Bedingungen möglich ist. Diesen Rahmen möglichst präzise zu umschreiben ist die Al}fgabe des kontrollierten Verstehens. A_n welcher Stelle des mögli356
chen Motivationshorizontes die einzelne Handlung angesiedelt ist, läßt sich nicht exakt bestimmen. Man mag die Intentionalität menschlichen Handeins durch noch so viele Akte des kontrollierten Verstehens einzukreisen suchen; ihr >zufälliger< Charakter und damit die Freiheit dieses Handeins läßt sich auf diese Weise nicht völlig eliminieren. Diese auf der Struktur menschlichen Verhaltens und auf der Eigenart des Verstehensaktes beruhende Inexaktheit der Historie wird aber nur den beunruhigen, der übersieht, daß auch die Ergebnisse der anderen empirischen Wissenschaften - und zwar der Naturwissenschaften ebenso wie der Sozialwissenschaften - weitgehend hypothetischen Charakter ~~·
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Blieb die Erörterung des Verstehens in der Historie bewußt auf die Erklärung relativ enger Handlungskomplexe beschränkt, so ist zum Schluß noch einmal zu fragen, inwieweit dieses Verstehen an der Konstituierung oder Oberprüfung größerer >Sinneinheiten< in der Geschichte beteiligt ist, mit denen es der Historiker dauernd zu tun hat. Es ist die Frage, in welchem .Verhältnis Luthers Thesenanschlag zur >Reformation< oder der Bastillesturm zur >Französischen Revolution< stehen. Aufgrund welcher wissenschaftlichen Erfahrung ist der Historiker berechtigt, solchen größeren Einheiten, die über die Intentionalität des Handeins von einzelnen oder von Gruppen in: bestimmten Situationen weit hinausgehen, einen >Sinn< zuzusprechen,. ohne eine hinter den Ereignissen verborgene anonyme Kraft - etwa den Volks- oder Weltgeist - zu bemühen ?37 Hierzu mag vorläufig gesagt werden, solche Einheiten blieben ohne historischen Sinn und unverstanden, wenn nicht der Historiker zu ihrer >Konstruktion< auf das Material von Handlungskomplexen zurückgreifen würde, die mit Hilfe des kontrollierten Verstehens erklärt worden sind. Das gilt selbst für menschliches Tun und Leiden unter dem Einfluß extremer natürlicher Bedingungen - etwa der Schwarzen Pest im 14. Jahrhundert. Das historische Verstehen ist also zumindest eine Voraussetzung für die Stiftung von größeren komplexen Einheiten, denen der Historiker Name und Gestalt gibt. Zugleich ist aber nicht zu übersehen, daß diese Einheiten einen objektiv feststellbaren Wirkungszusammenhang repräsentieren; der die Absicht. der in ihnen lebenden Menschen überschreitet. In der Regel beruht die Kohäsion solcher Einheiten sogar mehr auf >faktischen> Ursachen und Wirkungen, auf ihrer >inneren Struk357
tur<, denn auf der bloßen Intentionalität. Der Kreislauf der Französischen Revolution und die Sachzwänge der Industriellen Revolution sind nicht gewollt. Zu ihrer Interpretation muß deshalb auf kausale .Erklärungen im ereignis- oder strukturgeschichtlichen Sinne zurückgegriffen oder auch, wie etwa bei Gruppenharidlungen, hinter die bewußten Intentionen zurückgefragt werden.
Anmerkungen . 1 Zum Stand der Kontroverse über Luthers Thesen~schlag vgl. zuletzt Pranz Lau, Die gegenwärtige Diskussion um Luthers Thesenanschlag, in: Luther-]ahrbuch 34, 1967, S. 11-59. Da es hier lediglich um eine Demonstration des historischen Verstehens am Beispiel des Thesenanschlags geht, erübrigt sich eine Stellungnahme zu den sich gegenüberstehenden Positionen der Forschung. 2 Für Gadamer bedeutet freilich die Beschränkung des Verstehens auf das Verstehen intentionalen Handeins eine Verkürzung der »Universalität der hermeneutischen Diskussion<<. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologzekritik, in: Kleine Schriften I, S. 122. 3 Vgl. dazu K. G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1974 (3. A.).S. 165-,182 das Kapitel: Das historische Urteil. 4 Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 293. 5 Adolf Herte, Das katholische Lutherbiid im Bann der Lutherkommentare des Cochläus. 3 Bde. Münster i. W. 1938-1943. 6 Collingwood, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1955, S. 294 ff. 7 Fain, Between Philosophy and History, New Jersey 1970, S. 177 f. in Auseinandersetzung mit Collingwood. Fain warnt aber auch davor, jene Priorität absolut zu setzen, weil man nicht alle Theorie von den >historischen Fakten< trennen kann. Vgl. dazu Faber, a.a.O. S. 120. 8 Hans Vollstedt, Die Darstellung der Reformation und der Gegenreformation in deutschen Schulgeschichtsbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts. Phil. Diss. Mainz /Düsseldorf 1.964. 9 Vgl. zur ganzen Problematik -. Erklärung aus >Gründen<, nach >Gesetzen< (zweckrational) und >Grundsätzen< (Normen) - Dray, Laws and Explantation, New York 1966, S. 124-135 u. die Kritik daran von Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung (Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie) Berlin 1969 S. 379-396. 10 Darauf hat aufmerksam. gemacht Kirn, Paul und Leuschner, J., Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 1968 (4. A.) S. 71.
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11 Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Interpret seine Bewertung des vergangenen Handeins aufgeben soll. Sie soll nur aus dem Vorgang des historischen Verstehens herausgehalten werden. Vgl. dazu Faber, a.a.O., S. 181 f. 12 Vgl. dazu treffend Apel, K.-0., Die Entfaltung der >sprachanalytischen Philosophie< und das Problem der »Geisteswissenschaften«, in: Philos. ]b. 72 1965/66, S. 260 f., wo darauf verwiesen wird, daß eine solche >Objektivierung< menschlicher Motive bereits im Gespräch mit dem anderen stattfinden karin. Mit anderen Worten: Verstehen ist nicht Vertrauensseligkeit. 13 Hierin sieht Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 282 f. zu Recht das Fruchtbare des Zeitenabstandes zwischen Interpret und Text. Ähnlich Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 'I'übingen 1967 (Philos. RundschauBeiheft 5) S. 161 f. Doch wird von beiden die daraus sich ergebende Gefahr des Mißverstehens untersch~tzt. 14 Vgl. auch das interessante Buch von Erik H. Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie. Frankfurt/ Main 1975. 15 Diesen Zusammenhang betont Vollstedt, Die Darstellung der Reformation, S. 275 ff.: ökumenische Bewegung nach dem Kriege. Vgl. die beiden Schriften von Hubert Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation ? Ein Versuch zur Klärung der Begriffe nebst einer Jubiläumsbetrachtung über das Trierer Konzil. .Luzern 1946, und Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland. 4. Auflage. Freiburg 1962. 16 Habermas, Zur Logik, a.a.O., S. 174. 17 Walter Bußmann, Wandel und Kontinuität der Bismarck-Wertung, in: Brandt-Meyer-Just (Hrsg.), Handbuch der Deutschen Geschichte; Bd. 3, 2. Konstanz 1956. S. i45-251. 18 Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Kleine Schriften I, S. 121. . 19 Ebenda, Droysen, J. G., Historik, München 1967 S. 287. Es is,t bezeichnend, daß Gadamer als weiteres Argument die größe~e . Bedeutung von Droysen als nationalen Historiker für die Herausbildung des nationalen Staatsbewußtseins der bürgerlichen· Kultur des 19. Jahrhunderts im Vergleich zum »epischen Bewußtsein« Rankes ins Feld führt, das allenfalls zu »obrigkeitsstaatlicher Apolitie« erziehen mochte. Als ob der wissenschaftliche Wert der Geschichtsschreibung mit ihrem möglichen Bildungswert deckungsgleich wäre ! 20 Droysen, Historik, S. 422. »Denri nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objektivität sein zu können.« Hervorhebung durch Droysen. Daß Gadamer (Wahrheit und Methode, S. 199-205) Droysens Hermeneutik wohl mit aus diesem Grunde für letztlich unbefriedigerid hält, sei nur am Rande vermerkt.
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21 Wenn Apel, Die Entfaltung der >sprachanalytischen Philosophie<, S. 286, Anm. 107, in Anlehnung an Wittgenstein meint, objektive »Erklärung« und »Motivverstehen« seien ganz verschiedene »Sprachspiele«, die verschiedenen Verhaltensformen entsprechen, so sollte aber auch beachtet werden, daß in der Lebenspraxis und -erfahrung beide Verhaltensformen immer schon nebeneinander bestehen bzw. aufeinander bezogen sind. 22 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 286 ff. (im Anschluß an Husserl) und Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 193 (im Anschluß an · Dilthey). il'Sdion Dilthey W., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschafen, Frankfurt/M: 1970 S. 159 f. weist darauf hin, daß Lebenserfahrung in Verfahrungsweisen entstehe, »die denen der Induktion ähnlich sind«. 24 Betti, E. Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungs/ehre. In: Festschrift f Ernst Rabe/, Band 2, Tübingen 1954, S. 124. 25 Abel, The Operation called Verst-ehen S. 181. Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung, a.a.O. 26 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 288 f. Auch Habermas, Zur Logik, S. 157 f.: horizontale (geographische) und vertikale (historische) Horizontverschmelzung. 27 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 289. 2LVg!:. hierzu Dray, Laws and Explanation, S. 124, der aus diesem Sachverhalt - m. E. ohne Grund- schließt, daß das Verstehen (>>the rational explanation~) immer ein wertendes Element (an element of appraisal«) enthalte.· 29 Droysen, Historik, S. 328 f. 30 Habermas, Zur Logik, S. 34. 31 Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie I, Mün~hen 1969 (3. A. 1971) S. 236: Hinweise auf Popper und Albert, aber kritisch. 32 Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung, S. 365. 33 Apel, K.-0., Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnis-anthropologischer Sicht in: Wiener fahrbuch für Philosophie I 1968, S. 25 ff. 34 Das schließt nicht aus, daß etwa eine psychoanalytische Untersuchung - '"deiPerson Luthers Einsichten in die psychische Struktur des Reformators liefert, die geeignet sein können, seine bewußten Motive weiter zu >erklären<. Dazu das in Anm. 14 genannte Buch von Erikson. 35 Die Formel von den >Umständen< soll umschreiben, daß es sich um die Erklärung des Verhaltens bestimmter Personen in konkreten Situationen handelt. 36 Vgl. Faber a.a.O., S. 86. 37 Vgl. zu diesem Problem Schieder, Th., Geschichte als Wissenschaft,
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München/Wien 1965, S. 37 ff., der freilich- abweichend von der hier vertretenen Auffassung - unter dem Verstehen gerade die »Zusammenschau einer Vielheit von Erscheinungen zu einer Einheit wie ihre Herauslösung aus ta~send Erscheinungen« begreift (S. 38).«
Reinhart Kaselleck über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft 1 Seit dem Neukantianismus hat sich in unserer Wissenschaft eine Selbstbestimmung festgefressen : Die Historie habe es mit dem Individuellen, dem Besonderen zu tun, während sich die Naturwissenschaft mit dem Allgemeinen abgebe. Die Wissenschaftsgeschichte hat diese Antithese überholt. Der hypothetische Grundzug ihrer Aussagen und die Verschränkung von Subjekt und Objekt innerhalb ihrer E;x:perimente haben einen Zug der Relativität in die Naturwissenschaft eingebracht, der füglieh als »geschichtlich« zu bezeichnen wäre. Umgekehrt hat sich die Fülle der Sozial- und Geisteswissenschaften in Systemzwänge hineinbegehen, die das einigende Band der historischen Weltanschauung längst durchschnitten haben. Die Fronten verlaufen nicht mehr eindeutig, wie der Streit um die Popperschule zeigt, entlang dem Gegensatzpaar Natur- und Geisteswissenschaften. Indes hat sich unsere Forschungspraxis davon kaum berühren lassen, mit dem Ergebnis, daß sich die historische Zunft isoliert sieht. Die Historie ist auf sich selbst zurückgeworfen und weiß nicht mehr genau, wo ihr Ort in der mittlerweile enthistorisierten Fakultät se1. Ich möchte die These aufstellen, daß wir unserer Isolierung nur entrinnen können, wenn wir eine neue Beziehung zu den anderen Wissenschaften gewinnen, und das heißt, daß wir uns unserer Theoriebedürftigkeit bewußt werden bzw. uns einem Zwang zur Theorie stellen, wenn anders die Historie sich noch als Wissenschaft begreifen will. Keinesfalls soll versucht werden, uns durch Bindestrich-Bündnisse irgendwelche Theoreme benachbarter Wissenschaften zu entleihen. Es wäre sehr vorschnell, Soziologie und Geschichte derart zu verkoppeln, daß wir von einer irgendwie soziologisch verstandenen Gesellschaftswissenschaft her unseren eigenen Wissenschaftsbegriff gewönnen. Vielmehr möchte ich vorschlagen, zunächst einmal durch die uns eigenen Engpässe hindurch auf die Punkte zu st~ßen, die selber theoriebedürftig oder vielleicht auch theorieträchtig sind. 1. Es ist eine Ironie der Bedeutungsgeschichte von »Geschichte«, daß der Ausdruck einer >Geschichte selber< oder der >Geschichte
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schlechthin( ursprünglich gerade die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft meinte. Sobald man darauf verzichtete,. »Geschichte« mit bestimmten ihr zugeordneten Subjekten und Objekten zu denken, unterstellte man die Geschichtswissenschaft einem Zwang zum System. Die Geschichte selber und . die Geschichtsphilosophie waren, als sie um 1770 als Ausdruck. auftauchten, bedeutungsgleich. Die metahistorische Komponente dieser Ausdrücke wurde dann im Zuge der Zeit von der Neuprägung »Geschichtlichkeit« aufgesaugt. Die heutige Diskussion um die sogenannte Geschichtlichkeit stellt sich den theoretischen Herausforderungen, die sich aus der Krise des Historismus ergeben haben. Mit dem Begriff der Geschichtlichkeit wird versucht, den pennanenten Relativierungsprozeß, dem sich der Historismus vorwurfsvoll ausgesetzt sah, zum Stehen zu bringen. Die Geschichtlichkeit setzt die Relativität gleichsam absolut, wenn man diesenUnbegriff einmal verwenden darf. Der Einfluß Heideggers ist hier unverkenJ;lbar;· auch wenn er die Diskussion innerhalb unserer Wissenschaft nicht gerade weitergetrieben hat. Schon in »Sein und Zeit« wird von der Geschichte fast völlig abstrahiert, die Geschichtlichkeit · ist eine Kategorie der menschlichen Existenz, ohne daß zwischenmenschliche und überindividuelle. Strukturen thematisiert würden. Der Weg von der Endlichkeit des Daseins zur Zeitlichkeit der Geschichte wird von Heidegger zwar aufgewiesen, aber nicht weiter verfolgt. Daher lauert hinter der Verwendung der fruchtbaren Kategorie Geschichtlichkeit einerseits die Gefahr einer transhistorischen Ontologie der Geschichte, wie sie etwa August Brunner entworfen hat. Andererseits scheint es mir kein Zufall. wenn bei Heideggers Anwendung seiner Philosophie auf die Geschichte, - wo sie als Seinsgeschichte eschatologisch eingefärbt wird -, herkömmliche geschichtsphilosophische Schemata des Verfalls und des Aufgangs durchscheinen. Jedenfalls kann mit der Geschichtlichkeit und den ihr zugeordneten Kategorien der Blick freigelegt werden auf eine Historik, auf eine Metahjstorie, die nicht die Bewegung, sondern die Beweglichkeit untersucht, nicht die Veränderung im konkre~en Sinne, sondern die Veränderlichkeit. Es gibt eine Menge ähnlicher Formalkriterien historischen Handeins und Erleidens, die gleichsam zeitlos quer zur Geschichte dazu dienen, Geschichte aufzuschlüsseln. Ich erinnere- bei aller Übersetzungsbedürftigkeit 2 an· ,. 363
»Herr und Knecht«, an »Freund und Feind« oder an die Heterogonie der Zwecke oder an die wechselnden Relationen von Zeit und Raum im Hinblick auf Handlungseinheiten und Machtpotential, oder an das anthropologische Substrat des politischen Generationswechsels. Die Liste solcher Kategorien ließe sich verlängern, sie verweisen auf jene Endlichkeit, die Geschichte sozusagen in Bewegung versetzt, ohne daß der Inhalt oder die Richtung solcher Bewegungen damit irgendwie erfaßt würde. (Oft noch verbergen sich hinter solchen Kategorzen christliche Axiome, etwa der negativen Theologie, wie sie bei Wittram in seinem Buch über das Interesse an der Geschichte immer wieder durchschlagen.) Wie die Geschichtlichkeit die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichten überhaupt umreißen soll, so nicht minder den Ort; den darin die historische Forschung einnimmt. Sie entlastet den Historiker von dem Vorwurf einer vermeintlichen Subjektivität, der man insofern nie entraten kann, als »die Geschichte<~ den Historiker und die- Historie dauernd überholt. Die sogenannte Transzendenz der Geschichte meint hier jenen Uberholvorgang, der den Forscher dauernd zwingt, die Geschichte immer wieder neu .Zif- schreiben. Dlimit wird das Umschreiben der Geschichte ni_~ht_ ~ur zur Fehlerkorrektur oder zum Wiedergutmachungsakt, sondern gehört zu den Voraussetzungen unseres Berufes,- sofern die Geschichte der Historie transzendent ist. Man ~ann also sagen : So wie früher die Historie als Erzählkunst ihre eigenen Historiken entwickelt hatte, so ist die Geschichtswissenschaft heute zu einem Begriff der Geschichtlichkeit gelangt, der zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte überhaupt wie auch der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne umschreibt. Wie schwierig es freilich ist, metahistorische Kategorien in die konkrete Forschung· einzubringen, zeigt die Problematik einer historischen Anthropologie. Nipperdey hat ~ürzlich darauf hingewiesen, und es besteht kein Zweifel, daß uns hier die westlichen Nachbarn . mit ihren strukturalistischen, ethnologischen und. psychesoziologischen Ansätzen voraus sind. Immer wieder gelangt man vor die Aporie, daß formale Dauerkriterien selber nur historisch bedingt sind und nur aufgeschichtlich umgrenzbare Phänomene anwendbar bleiben. Mit anderen. Worten: Alle metahistorischen Kategorien schlagen im Zuge der Forschung um in historische Aussagen. Diesen Um.schlag zu reflektieren gehört 364
zu den Forschungsaufgaben speziell einer historischen Anthropologie, generell jeder Historie. 2. Die Diskussion der systematischen Prämissen der sogenannten >Geschichte an sich< führt uns also ganz von selbst zu einer Umkehr der Fragestellung, zu einer Hinwendung auf die Theoriebedürftigkeit der Forschungspraxis. Eine spezifisch historische Fragestellung kann sich wissenschaftlich nur dadurch ausweisen, indem sie auf die ihr innewohnende oder vorgeordnete Historik zurückgreift, sie muß zum Zwecke der Forsch.ung ihre eigenen theoretischen Prämissen entfalten. Die. aus dem Vorgebot einer historischen Welterfahrung sich entfernenden Einzelwissenschaften haben alle ihre eigenen objektgebundenen Systematiken entwickelt. Die Oekonomie, die Politologie, die Soziologie, die Philologie, die Linguistik : Alle diese Wissenschaften lassen sich von einem Gegenstandsbereich her definieren. Sehr viel schwieriger ist es dagegen für die Historie, von ihren tatsächlichen Forschungsobjekten her eine geschichtliche Systematik oder eine jeweils auf einen Objektbereich bezogene Theorie zu entwickeln. In der Praxis ist das Objekt der Historie alles oder nichts, denn ungefähr alles kann sie durch ihre Fragestellung zum historischen Gegenstand deklarieren. Nichts entgeht der historischen Perspektive. Es ist schon bezeichnend, daß die Geschichte »als solche« gar kein Objekt hat- es sei denn sich selbst, womit sich die Frage nach ihrem Forschungsobjekt nicht lösen, sondern nur sprachlich verdoppeln läßt: »Geschichte der Geschichte<<, Hierbei wird deutlich, wie sehr »Geschichte schlechthin« ursprünglich eine metahistorische Kategorie war. Es stellt sich nun die Frage, ob die Geschichtswissenschaft durch die Definition von Gegenst;mdsbereichen jenen historischen Charakter zurückgewinnen sollte, den sie bis in das 18. Jahrhundert hinein immer gehabt hat. Das sicher nicht. Denn unser Begriff von Geschichte bleibt ambivalent : objektbezogen wird Geschichte zu einer historischen Kategorie, ohne Gegenstand bleibt sie eine metahistorische Größe. Als solche ist sie ein Sammelbecken theologischer, philosophischer, ideologischer oder politischer Zuordnungen, die mehr oder minder unkritisch hingenommen werden. Ich möchte deshalb meine These dahingehend einengen, daß die ubiquitär angelegte Historie nur als Wissenschaft bestehen kann, wenn sie eine Theorie der geschichtlichen Zeiten entwickelt, ohne 365
die sich die Historie als Allesfragerin ins Uferlose verlieren müßte. Ich vermute, daß in der Frage nach· der historischen Zeit die metahistorischen und die historischen Kategorien zur ~onvergenz gezwungen werden. Eine solche Fragestellung hat sowohl systematischen wie auch· geschichtlichen Charakter. Das soll an einigen Beispielen gezeigt werden. a) Zunächst sei auf ein Thema unseres Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte verwiesen, die Begriffsgeschichte. Die Begriffsgeschichte, wie wir sie versuchen, kann ohne eine Theorie der historischen Zeiten nicht auskommen. Wir meinen nicht Zeitlichkeit allgemeiner Art, die sich vorgängig zur Geschichtlichkeit stilisieren läßt und die grundlegend mit Geschichte zu tun ·hat. Vielmehr geht; es darum, die zeitlichen Spezifika für unsere politischen und sozialen Begriffe theoretisch so vorzuformulie~ ren, daß sich der Quellenbefund danach ordnen läßt. Nur so können wir aus einer philologischen Registratur zu einer Begriffsgeschichte vorstoßen. Eine Hypothese für unser Lexikon geschichtlicher Grundbegriffe besteht darin, daß sich die politisch-soziale Sprache seit dem 18. Jahrhundert auch bei durchgängigem Gebrauch derselben Worte insoweit geändert hat, daß seitdem eine »neue: Zeit« artikuliert wurde. Veränderungs- und Beschleunigungskoeffizienten verwandeln alte Bedeutungsfelder und damit die politische und soziale "Erfahrung. Frühere Sinngehalte der heute noch üblichen Topologie müssen mit der historischen Methode erfaßt und in unsere Sprache übersetzt werden .. Ein solches Verfahren setzt einen theoretisch geklärten Bezugsrahmen voraus, innerhalb dessen allein solche Übersetzungen sinnfällig werden. Ich spreche also von der im Arbeitskreis sogenannten »Sattelzeit«, deren heuristischen Charakter ich nicht nachhaltig genug betonen kann, und die den Wandel von;:t vorneuzeitlichen zu unserem Sprachgebrauch thematisiert. Wir können unsere Aufgabe nicht bewältigen, wenn wir eine historisch-philologische Wortgeschichte auf einer vergleichsweise positivistischen Ebene zu schreiben versuchten. Dann blieben wir in der Quellenmasse stecken. Höchstens könnten wir ein unvollkommenes Glossar zum politisch-sozialen Vokabular liefern, wobei wir wechselweise die Geschichte eines Wortkörpers mit verschiedenen Sinngehalten registrieren oder umgekehrt vermeindich durchgängige Sinngehalte von Wort zu Wort weiterverfolgen müßten. Eine derart additive Beschreibung, kraft deren . 366
wir uns durch die Geschichte .weiterhangeln, bedarf vielmehr eines zeitlichen Indikators, der aus der Summe der sprachlichen Befunde überhaupt erst eine Geschichte für uns anzeigt. Der theoretische Vorgriff dersogenannten Sattelzeit zwischen rd. 1750 und rd. 1850 ist nun der, daß sich in diesem Zeitraum ·e~~'e Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung abgespielt habe. Der langsame Schwund aristotelischer Bedeutungsgehalte, die noch auf eine naturale, wiederholbare und insofern statische Geschichtszeit verweisen, ist der negative Indikator für eine Bewegung, -die sich als Beginn der Neuzeit beschreiben läßt. Alte Worte, etwa Demokratie, Freiheit, Staat·, b~zeichnen seit rund 1770. einen neuen Zukunftshorizont, der den Begriff ~nders umgrenzt; überkommene Topoi gewinnen Erwartungsgehalte, die ihnen früher nicht innewohnten. Ein gemeinsamer Nenner des politisch-sozialen Vokabulars besteht darin, daß in steigendem Ausmaße Bewegungskriterien auftauchen. Wie fruchtbar dieser heuristische Vorgriff ist, zeigt sich an einer ganzen Reihe von Artikeln, die Bewegungsbegriffe se~bst thematisieren, etwa über den Fortschritt, die Geschichte oder die Entwicklung; Trotz der alten Worte handelt es sich fast um Neologismen, die seit rd. 1770 einen temporalen Veränderungskoeffizienten gewinnen. Das bietet. einen starken Anreiz dafür, auch andere, alte Begriffe der politischen Sprache nunmehr auf ihren potentiellen Bewegungscharakter hin zu lesen und zu befragen. Die Hypothese einer Denaturalisierung der historischen Zeiterfahrung, die in die politisch-soziale Semantik hineinwirkt, wird erhärtet durch die Entstehung der modernen Geschichtsphilosophie, die sicP. dM. Vokabular einordnet. Mit anderen Worten, erst ein theoretischer Vorgriff, der einen spezifischen Zeitraum freilegt, öffnet überhaupt die Möglichkeit, bestimmte Lesarten durchzuspielen und unser Lexikon aus der Ebene einer. positivistischen Registratur auf die der Begriffsgeschichte zu transponieren. Erst die Theorie verwandelt unsere Arbeit in geschichtliche Forschung. Dieser Vorgriff ha~ sich bisher bewährt. Der gesamte politisch-soziale Sprachraum hat sich - bei Identität vieler Worte - aus einer quasi statischen, nur langfristig sich wandelnden Tradition herausbewegt hin zu einer Begrifflichkeit, deren Sinn sich aus einer neu erfahrenen Zukunft erschließen läßt. Dieser Vorgriff muß sich freilich nicht bei iilleri"' Worten bewähren. 367
Werden erst einmal die naturalen Konstanten der alten historischen Zeiterfahrung zerbrochen, ist mit anderen Worten der Fortschritt freigesetzt, so taucht damit eine Fülle n~uer Fragen auf. · b) Eine der wichtigsten ist die Frage nach den theoretischen Prämissen der sogena~nten Strukturgeschichte. Die Antwort läßt sich nur finden, wenn man nach der historischen Zeitbestimmung von Aassagen fragt, die Dauer indizieren sollen. Geht man davon aus, daß die historische Zeit zwar in die Naturzeit eingebettet bleibt, aber nicht darin aufgeht, oder ander~ gewendet, daß die PJ:u"zeit zwar relevant sein mag für politische Entscheidungen, daß ·sich aber geschichtliche Zusammenhänge nicht mit der Uhr messen lassen oder noch anders gewendet, daß der Sternenumlauf nicht mehr (oder noch nicht wieder) für die geschichtliche Zeit relevant ist, so sind wir gezwungen, Zeitkategorien zu finden, die historischen Ereignissen und Prozessen adäquat sind. Wir können also Kategorien, wie sie Braudel entwickelt hat, nur in die empirische Forschung einbringen, wenn wir uns über die theoretische Bedeutung dessen, was von Dauer sein kann, klar sind. Diese Überlegung führt uns in ein grundsätzliches Dilemma. Wir verwenden nimlich immer Begriffe, die ursprünglich räumlich gedacht waren,· aber doch eine temporale Bedeutung haben. So sprechen wir etWa von Brechungen, Friktionen, vom Aufbre:chen bestimmter dauerhafter Elemente, die in die Ereigniskette einwirken, oder von Rückwirkungen der Ereignisse in deren dauerhafte Voraussetzungen. In diesem Falle entstammen unsere Ausdrüc~e dem räumlichen Bereich, gar der Geologie, sie sind ohne Zweifel sehr plastisch und anschaulich, aber sie machen auch unser Dilemma anschaulich. Es hängt damit zusammen, daß sich die Historie, soweit sie es mit der Zeit zu tun hat, grundsätzlich ihre Begriffe aus dem räumlichen Bereich entlehnen muß. Wir leben von einer naturalen Metaphorik, und wir können dieser Metaphorik gar nicht· entrinnen aus dem einfachen Grunde, weil die Zeit nicht anschaulich ist und auch nicht tinschaulieh gemacht werden kann. Alle historischen Kategorien, bis hin zum Fortschritt, der ersten spezifisch modernen Kategorie geschichtlicher Zeit, sind ursprünglich raumliehe Ausdrücke, von deren übersetzbarkeit unsere Wissenschaft lebt. So enthielt »Geschichte« ursprünglich auch einen räumlichen Bedeutungsstreifen, der sich inzwischen so seP.r verzeitlicht hat, daß wir auf 368
die Verdoppelung der »Strukturgeschichte« verwiesen werden, wenn wir Statistik, Dauer oder Langfristigkeit (aufs neue) in unseren Geschichtsbegriff ·einbringen wollen. Die Historie als Wissenschaft lebt im Unterschied zu anderen Wissenschaften nur von der Metaphorik. Das ist gleichsam unsere anthropologische Prämisse, da sich alles, was temporal formuliert sein will, an die sinnlichen Substrate der natürlichen Anschauung anlehnen muß. Die Anschauungslosigkeit der reinen Zeit führt in das Zentrum der methodischen Schwierigkeiten, über eine Theorie historischer Zeiten überhaupt sinnvolle Aussagen 111achen zu können. Dahinter lauert sogar die spezifische Gefahr, daß wir in unserer empirischen Forschung die Metaphorik so naiv hinnehmen, wie sie uns jeweils zufällt. Denn wir sind darauf angewiesen, von Anleihen aus dem Sprachgebrauch des Alltags oder anderen Wissenschaftsbereiche zu leben. Die erborgte Terminologie und der Zwang zur Metaphorik, weil die Zeit selber nicht anschaulich wird, bedad also ständiger methodischer Rückversicherungen, die auf eine Theorie der geschichtlichen Zeiten verweisen. Diese Zwischenüberlegung soll uns nunmehr zurückführen zur Frage nach der »Dauer«. Es gibt offenbar langfristige Vorgänge, die sich durchsetzen, gleich ob sie bekämpft oder ob sie gefördert werden. Man kann beispielsweise an den rasanten industriellen Aufstieg nach der 48er Revolution die Frage stellen, ob er trotz oder wegen der gescheiterten Revolution stattgefunden habe. Es gibt Argumente für und wider, beide müssen nicht zwingend sein, aber beide liefern einen Indikator für jene Bewegung, die sich quer durch die politischen Lager von Revolution und Reaktion hindurchsetzt. So ist 'es möglich, daß die Reaktion in diesem Falle vielleicht revolutionärer gewirkt hat als die Revolution selber. Wenn also Revolution und Reaktion zugleic::h Indikatoren sind für ein- und dieselbe Bewegung, die sich aus beiden Lagern speiste und von beiden vorangetrieben wurde, so indiziert dieses ideologische Begriffspaar offenbar eine historische Dauerbewegung, einen unumkehrbaren Fortschritt langfristiger Struktur, der das politische Für und Wider von Reaktion und R.evolution übersteigt. Auch der Fortschritt selbst ist damit"mehr als eine nur ideologische Kategorie. Auch die Kategorie der vernünftigen Mitte, die damals so gerne strapaziert wurde, läßt sich nur mehr sinnvoll denken, wenn ein dauerhafter Veränderungskoeffizient 369
eingebracht wird. Im Handlungsspielraum einmal vorgegebener Bewegung läßt sich keine vernünftige Mitte statisch fassen, sie gerät zwangsläufig ins Oszillieren zwischen >rechts< und >links<. Ihr Sinn wandelt sich selber mit der Zeit. Die räumliche Metaphorik, auf ihre temporale· Bedeutung hin befragt, zwingt also zu theoretischen Vorüberlegungen. Erst wenn man sie geleistet hat, läßt sich definieren, was Dauer, Verzögerung oder Beschleunigung etwa bei unserem Beispiel des Industrialisierungsprozesses eigentlich bedeuten sollen. c) Die Destruktion der naturalen Chronologie führt uns zu einem dritten Punkt. Die chronologische Reihe, an der sich unsere Historie bisweilen immer noch entlanghangelt, läßt sich auf diese Weise vergleichsweise leicht als Fiktion entlarven. Früher bot der natürliche Zeitenlauf das unmittelbare Substrat möglicher Geschichten überhaupt. Er ordnete - astronomisch den Heiligen- und Herrscherkalender; die biologische Zeit lieferte den Rahmen für die natürliche Erbfolge der Fürsten, an der . :. . symbolischer. Weise bis 1870 - die sich reproduzierenden Rechtstitel zu den Erbfolgekriegen hingen. Alle Geschichten blieben der >Natur<. verhaftet und in die biologischen Vorgegebenheiten unmittelbar eingelassen. In den gleichen Erfahrungsraum gehört die mythologische Überhöhung der astrologischen und der kosmischen Zeit, der im vorhistorischen Zeitalter nichts Unhistarisches anhaftete. Aber seitdem die Triade von Altertum, Mittelalter und Neuzeit die chronologische Abfolge gliedert, sind wir einem mythischen Schema erlegen, das stillschweigend unseren gesamten Wissenschaftsbetrieb weiterhin gliedert. Es ist offensichtlich, daß dieses Sch~ma für das Verhältnis von Dauer und Ereignis unvermittelt nichts hergibt. Wir müssen vielmehr lernen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in unserer Geschichte zu entdecken, denn schließlich gehört es zu unseren eigenen Erfahrungen, daß wir noch Zeitgenossen haben, die in der Steinzeit leben. ·Und da die ausgreifende Problematik der Entwicklungsländer heute auf uns zurückkommt, wird es unerläßlich, sich über die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen theoretisch klarzuwerden und entsprechende Fragestellungen zu verfolgen. Die scheinbar metahistorische Frage nach den geschichtlichen Zeitstrukturen erweist immer wieder ihre__ Relevanz für konkrete Forschungsfragen. Dazu gehört auch d) die Deutung geschichtlicher Konflikte. Jeder historische 370
Prozeß wird nur solange vor~nge~rieben, als die in ihm enthaltenen Konflikte unlösbar sind. Sobald ein Konflikt sich auflöst, gehört er zur Vergangenheit. Eine historische Konflikttheorie läßt sich nun hinreichend nur entwickeln, werin die ihm innewohnenden Zeitqualitäten herausgearbeitet werden. Gemeinhin werden Konflikte historiographisch so bearbeitet, daß die Kontrahenten als feste Subjekte eingebracht werden, als fixe Größen, deren fiktiver Charakter zu durchschauen ist. »Hitler« und· »Hitler in uns«. Das historische Subjekt i~t eine fast unerklärbare Größe: Man denke an die berühmte Persönlichkeit oder an das Volk, das nicht minder vage ist wie die Klasse, an die Wirtschaft, den Staat, an die Kirche und dergleichen Abstracta oder Potenzen. Es läßt sich vielleicht nur psychologisch nachvollziehen, wie man zu >wirkenden Kräften< kommt und diese auf Subjekte reduziert. Stellt man die Temporalfrage an derartige Subjekte, so lösen sie sich sehr schnell auf, und es stellt sich heraus, daß der intersubjektive Zusammenhang das eigentliche Thema historischer Forschung ist. Ein solcher Zusammenhang läßt sich aber nur temporal beschreiben. Die Entsubstanzialisierung unserer Kategorien führt zu einer Verzeitlichung ihrer Bedeutung. So etwa läßt sich die Skala vergangeuer oder zukünftiger Möglichkeiten nie von einem einzigen Handlungsträger oder von einer Handlungseinheit her umreißen. Vielmehr verweist eine solche Skala sofort auf die der Kontrahenten, so daß erst die zeitlichen Differenzen, Brechul1.g~~ oder Spannungen die Tendenz zu einem neuen Realitätsgefüge ausdrücken können. Unversehens kommen so unterschiedliche Zeitverhältnisse, ·Beschleunigungs- und Verzögerungsfaktoren ins Spiel. Werden lange, mittlere und kurze Zeitfristen thematisiert, so ist es schwer, zwischen solchen herauspräparierten Zeitschichten kausale Verbindungen herzustellen. Es bietet sich hier an, mit Hypothesen zu. arbeiten, die Konstanten einbringen, an denen variable Größen gemessen werden, was nicht hindert, auch die Konstanten ihrerseits wieder in Abhängigkeit von variablen oder anderen konstanten Größen zu sehen. Ein derartiger historischer Relativismus scheint mir konsequent zu Ende gedacht zur funktionalen Methode hinzuführen. Diese schlösse den Regressus in infinitum aus. Macht man einmal die Zeitdifferenzen illJ intersubjektiven Zusammenhang thematisch, so ist es schwierig, an der 371
vermeintlichen Wissenschaftlichkeit von Kausalketten festzuhalten, an der wir gewohnt sind, uns in die· Vergangenheit zurückzu'fFagen, um schließlich in der Absurdität linearerUrsprungsfragen zu landen. Hinter der geradlinigen Ableitung· aus jeweüs zurückliegenden Vorgegebenheiten verbirgt sich vielleicht ein Säkularisat d.er christlichen. Schöpfungslehre, das unbedacht weiterlebt. Die ursprünglich auf eine genuine Geschichtszeit hin entworfenen Kategorien der Spontaneität, der historischen: Einmaligkeit und der geschichtlichen Kräfte sind im Zuge der Forschungspraxis des 19. Jahrhunderts allzuschnell an Substanzen wie der Persönlichkeit, des Volks, der Klasse, bestimmte; Staaten usw. zurückgebunden worden. Dadurch sind jene historisch naive Aussagen ermöglicht worden, über die wir heute· lächeln. Aber gleichwohl lauerte auch dahinter eine Schwierigkeit, auf die ich aufmerksam machen möchte, ohne mir ein eigenes Urteil erlau'ben zu können. Ich meine d) die Zeitreihen. Schumpeter sagte einmal, daß man historisch sinnvolle Aussagen .nur machen könne, wenn man genügend Vergleich in der zeitlichen Tiefe anstellen kann. Nun setzen aber Vergleiche, die auf . Zeitreihen aufbauen, ein als durchgehend gedachtes Subjekt voraus, an dem gemessen überhaupt Veränderungen ablesbar sind. Solche als durchgehend gedachte Subjekte scheinen mir ebenfalls nur hypothetisch eingebracht werden zu dürfen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die New Economic History hiinveisen. Das Aufregende an deren Geschichtsbetrachtung scheint mir, wenn ich die Arbeiten von Fogel richtig beurteile, daß mit Hilfe theoretischer Prämissen, die unserer Wissenschaft nicht eigentümlich sind, gleichwohl genuin historische Erkenntnisse gewonnen werden. Fogel legte einmal auf Grund seiner Theorien Berechnungen vor, die das berühmte Argument widerlegen, daß vor Ausbruch des Bürgerkrieges in den. USA Sklavenarbeit ökonomisch unrentabel gewesen sei. Die Zahlenreihen wurden empirisch verifiziert mit dem Ergebnis, daß sich mit der Ost-West-Wanderung die Rationalität der Negerarbeit gesteigert habe. Durch solch eine Einsicht gewinnt die moralische Bedeutung ,der liberalen Propaganda per negationem ungeheuer an Gewicht. Denn im Maß, als der vermeintlich ökonomische Beweis, dessen sich die Liberalen subsidiär natürlich auch bedienten, an Kraft verliert, gewinnt das rein moralische Argument, daß 372
kein Mensch Sklave sein darf, an Durchschlagkraft. Hier haben wir ein Beispiel, wie dank einer Theorie, die bestimmte Daten aus ihrer Betrachtung ausfällt, bestimmbare Phänomene um so deutlicher in den Blick rücken. Mehr noch : Die Ausgrenzung gewisser Fragen unter bestimmten theoretischen Prämissen läßt Antworten finden, auf die man sonst nicht gestoßen wäre, - ein deutlicher Beweis für die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft. Unterstellt man einmal den Zwang zur Theoriebildung :- und solche Theorien dürfen sich keineswegs auf die Zeitstrukturen beschränken - so folgt aus den_ bisherigen Beispielen, daß wir uns vorzüglich des hypothetischen Charakters unserer Methode bewußt werden müssen. Das soll noch an weiteren Belegen gezeigt werden, die uns über den naiven Gebrauch historischer Kategorien und über die ähnlich naive Kritik an diesen Kategorien belehren können. f) Unsere Wissenschaft arbeitet unter einem stillschweigenden Vorgebot der Teleologie. Wir alle kennen ein heute verrufenes Buch, Treitschkes Geschichte des 19. Jahrhunderts. Treitschke zeigte darin den gloriosen Weg der preußischen Geschichte, die zur kleindeutschen Einheit geführt hatte. Dabei bediente sich Treitschke nun einer Teleologie, die einem Magnet gleich die Fülle seiner Aktenbelege ordnete und ausrichtete. Die kleindeutsche Einheit war die Prämisse ex post, unter der er seine Quellen gelesen hat. Dabei gab er die Standortbedingtheit seiner Aussagen offen zu. Und im Vorwort gibt er ZU verstehen, daß er gar nichts anderes vorhabe, als zu zeigen, daß es so kommen mußte, wie es gekommen sei, und wer es noch nicht begriffen habe, solle es eben durch sein Buch lernen. In diesem Aussagebündel sind drei Theoreme enthalten : 1. Das teleologische Prinzip als Regulativ seiner Aussagen und als Zuordnungsprinzip für die Quellenauswahl, 2. die bewußt zugegebene Standortgebundenheit und 3. die geschichtsphilosophische Sicherheit, mit der Treitschke beanspruchte, die Geschichte überhaupt auf seiner Seite zu haben. Er schrieb also Geschichte von Siegern, die die We~tgeschichte vom eigenen Erfolg her als Weltgericht reproduzieren. Diese drei Theoreme, daß man die Geschichte auf seiner Seite weiß, das teleologische Prinzip als Regulativ der Quellenanalysen und die Standortbezogenheit des Historikers, sind nun gar nicht so 373
einfach anzugreifen, wie jemand glauben mag, der Treitschke der Parteilichkeit oder des Nationalis~us zeiht. Wenn jeder Historiker seiner Situation verhaftet bleibt, so kann er nur perspektivische Betrachtungen anstellen. Diese abe1· evozieren finale Gründe. Der Historiker kann ihnen schwerlich entrinnen und wenn er davon absieht, so begibt er sich nur jener Reflexion, die ihn darüber belehrt, was er eigentlich tut. Die Schwierigkeit liegt weniger in der verwendeten Finalkausalität enthalten, als in deren naiver Hinnahme. Denn für jedes Ereignis, das im Ablauf der Geschichte einmal eingetreten ist, kann man soviel Gründe herbeischaffen, wie man will. Es gibt überhaupt kein Ereignis, das man nicht begründen könnte. Wer sich jemals auf Kausalerklärungen einläßt, findet immer Gründe für das, was er zeigen will. Mit anderen Worten, gerade in der kausalen Ableitung von Ereignissen liegt noch kein Kriterium für die Richtigkeit der Aussagen darüber enthalten. So konnte auch Treitschke für seine Thesen die entsprechenden Belege herbeibringen. Und wenn man heute dieselben Quellen unter anderen Gesichtspunkten liest·, so ist zwar der politische Standort von Treitschke überholt, nicht aber dessen theoretische Prämisse, die die von . ihm gesuchte Kausalität auslöste. Diesen Vorbehalt müssen wir im Auge behalten, wenn wir uns gegen Finalerklärungen ideologiekritisch zu wehren suchen. jede Historie, weil ex post, hat finale Zwänge. Man kann ihrer nicht entraten. Wohl aber kann man aus dem Schema kausaler Addition und erzählender Beliebigkeit herauskommen, indem man Hypothesen einführt, die etwa vergangerze Möglichkeiten ins Spiel bringen. Anders gewendet, der Perspektivismus ist nur erträglich, wenn er seines hypothetischen und damit revidierbaren Charakters nicht entblößt wird. Oder strenger formuliert : Alles läßt sich begründen, aber nicht alles durch jedes. Weiche Begründungen zulässig sind und welche nicht, ist nicht nur eine Frage der vorgegebenen Quellen, sondern zunächst der Hypothesen, die diese Quellen zum Sprechen bringen. Das Verhältnis von Quellenlage, Quellenauswahi und Quellendeutung ist nur zu klären von einer Theorie möglicher Geschichte und damit möglicher Geschichtswissenschaft. Die Standortgebundenheit als Prämisse unserer Forschung ist wohl erstmals von Chladenius reflektiert worden. Chladenius schrieb eine Theorie der Geschichtswissenschaft, die vorhistori374
stisch konzipiert, manche Anregungen enthält, die über Droysens Historik hinausführen.' Wegen 'ihrer trockenen und belehrenden Sprache ist sie leider noch nicht wieder ediert worden, aber sie bleibt eine Fundgrube von Einsichten, die vom Historismus unberührt sind. Chladenius hat alle historischen Aussagen als verkürzte Aussagen über die vergangene Wirklichkeit definiert. »Eine Erzählung mit völliger Abstraktion von .seinem eigenen Sehepunkt ist nicht möglich«. Nur hat Chladenius den Sehepunkt selber noch nicht historisch relativiert und die Urteilsbildung als überholbar begriffen. Dementsprechend glaubte er im Obje~tbe: reich der Vergangenheit eine geronnene Realität erkennen z~ können. Aber die Aussagen darüber standen nach seiner Ansicht unter einem Zwang zur Verjüngung, da die vergangene Totalität nie vollständig reproduzierbar sei. Der Terminus »verjüngter« Aussagen war nun schon zeitlich gedacht und nicht mehr räumlich. Das »Junge« ist für ihn das jeweils Gegenwärtige, und unter dieser erkenntnistheoretisch formalen Fortschrittsperspektive wurde das Vergangene befragt. Nur durch die Linse der Gegenwart wird Geschichte sichtbar. Diese Art der Teleologie verzichtet auf ein zukunftsweisendes Richtungskriterium wie es im Horizont der Geschichtsphilosophie gesucht wird.. . Das dritte Theorem nun, das Treitschke ins Spiel br;rthte; nämlich die Geschichte auf seiner ·Seite zu haben, ist eine ideologische Fiktion. Diese Fiktion lebt von der Kategorie der Notwendigkeit, die Treitschke stillschweigend einbringt, um den Ablauf der deutschen Geschichte hin zum kleindeutschen Reich als zwangsläufig darzustellen. Hinter der Bestimmung der Notwendigkeit lauert eine platte Tautol(i)gie, derer sich nicht nur Treitschke, sondern jeder Historiker bedient, der sich auf sie beruft. Ein Ereignis als notwendig ausweisen heißt nichts anderes, .als daß man· eine verdoppelte Aussage zum selben Ereignis macht. Ob ich formuliere, daß etwas eingetreten ist, oder ob ich formuliere, es ist notwendig eingetreten, ist nämlich ex post v:öllig _ identisch. Es ist etwas nicht deshalb mehr eingetreten, weil es eintreten mußte., Mit der Zusatzaussage über ein Ereignis, daß es hat eintreten müssen, vindiziere ich diesem Ereignis eine Kausalitätskette von zwingendem Charakter, eine Notwendigkeit, die letztlich von der Allmacht Gottes herrührt, an dessen Stelle sich der Historik~r geriert. Anders gewendet, durch di~ Kategorie der Notwendigkeit 375
vernebeln wir uns dauernd den Zwang zur Hypothesenbildung, die einzig Kausalitätsketten zulassen kann. Wir können Notwendigkeitsaussagen insoweit riskieren, als wir sie mit. Vorbehalt formulieren. Nur im Rahmen hypothetisch eingebrachter Prämissen lassen sich zwingende Gründe entwerfen, was nicht ausschließt, daß durch andere Fragestellungen völlig andere Gründe in. den Blick· rücken. Die Richtigkeit. von Quelleninterpretationen wird nicht nur durch den Quellenbefund, sondern zunächst durch den theoretischen Aufweis der Fragestellung nach möglicher Geschichte abgesiChert. Nicht also, daß die teleologischen Fragen und daß die Standortgebundenheit des -Fragestellers aus der Welt zu schaffen wären, sondern jedwede unterstellte Notwendigkeit als Realaussage unterliegt unserer Kritik. Auch diese Kritik verweist auf temporale Bestimmungen : Sie richtet sich gegen die Einmaligkeit und Gradlinigkeit historischer Abläufe, die in mancher Hinsicht eQ~nfaJls ein Säkularisat der Vorsehung darstellen, einer Vorsehung, die bei uns immer noch in der Aussage zwingender Notwendigkeit versteckt ist. Eine der komplexen historischen Wirklichkeit adäquate Theorie der historischen Zeiten macht mehrschichtige Aussagen erforderlich. g) Das führt uns zur bekannten Diskussion über.-die (vulgär-) marxistische M onokuasalität innerhalb derer sich die westlichen Historiker meistens ihrer Überlegenheit versichern zu können glauben. Indes läßt sich der Vorwurf, daß die Geschich.te nicht monokausal zu deuten sei, leicht umkehren. Denn ob ich einen Grund, zwei, fünf, oder unendlich viele einführe, sagt gar nichts aus über die Qualität meiner historischen Überlegungen. Mit einem-monokausalen Schema lassen sich hypothetisch sehr vernünftige Aussagen machen; -ich erinnere nur an die Bücher von Schöffler, deren Erkenntnisträchtigkeit oft auf monokausalen Erklärungen beruht. Gerade darin liegt ihre Fruchtbarkeit oder ihre überraschende Treffsicherheit. Wenn Marxisten monokaus-ale Konstruktionen vorlegen, etwa Abhängigkeiten des sogenannten Überbaus vom sogenannten Unterbau aufweisen, so ist das unter der Prämisse einer Hypothesenbildung ein legitimes Verfahren. Der eigentliche Einwand, der gegen die Marxisten erhobe~ werden kann, liegt also nicht in der Monokausalität als einer möglichen historischen Kategorie, sondern erstens darin, daß. di~seJ(_ategorie naiv gehandhabt wircd, - aber gerade hier sind sie 376
sich mit vielen unserer Historiker einig -, zweitens aber darin, und dieser Einwand ist weit gravierender, daß sie ihre Aussagen oft als. Befehlsempfänger formulieren müssen und nicht selbst kritisch in Frage stellen dürfen. Der Einwand gegen die Monokausalität ist also - recht betrachtet - ein Einwand gegen mangelndes Hypothesenbewußtsein und er richtet sich- auf einer methodisch anderen Ebene - gegen politische Weisungsbindung. Die Reflexion auf Standortgebundenheit und Zielbestimmung wird politisiert und entzieht sich der wissenschaftlichen Selbstkontrolle. Damit freilich ist ein heikles Problem angerührt; jeder kennt die Doppelbödigkeit, auf der sich etwa die kommunistische Historiographie als Wissenschaft bewegen muß. Andererseits verweist uns die parteipolitische Bindung und der je nach wechselnden Lagen wechselnde Zwang zur Zieländerung und Selbstkritik im marxistischen Lager auf eine Problematik, die wir in Erinnerung rufen müssen. Damit komme ich zum SchlußteiL 3. Es ist ein spezifisch politischer Vorteil des kommunistischen Lagers, daß im dortigen Wissenschaftsbetrieb das Verhältnis von Theorie und Praxis dauernd. reflektiert wird. So berechtigt die Einwände dagegen sind, daß in marxistischen Ländern die historiographischen Richtlinien parteipolitisch gesteuert werden, so dürferi·diese Einwände uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß jede Geschichtsschreibung eine Funktion .in der Öffentlichkeit ausübt. · Nun ist freilich zu unterscheiden zwischen der politischen Funktion, die eine Wissenschaft haben kann und der jeweiligen politischen Implikation, die sie hat oder nicht hat. So haben etwa die reinen Naturwissenschaften von ihrem Thema her keine politische Implikation: Ihre Ergebnisse sind universal vermittelbar und für sich genommen unpolitisch. Das hindert aber nicht, daß die politische Funktion dieser Wissenschaften - man denke an die Verwertung der Atomphysik oder der Biochemie - weit gewichtiger sein kann als die der Geistes- und Sozialwissenschaften. Dagegen übt die Geschichtswissenschaft immer, wenn auch eine wechselnde, politische Funktion aus. Je nachdem ob sie als Kirchen-, Rechts- oder Ho/historie, ob sie als politische Biographie, als Universalhistorie oder sonstwie betrieben wird, ändert sich ihr sozialer Ort und damit auch die politische Funktion, die ihre wissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse ausüben. Die politische Implikation der historischen Forschung ist damit keines377
wegs hinreichend bestimmt. Sie hängt vo.p. der Fragestellung ab, die eine Forschungseinrichtung verfolgt. Es. klingt trivial, aber man muß heute daran erinnern, daß etwa musikhistorische Themen nicht in gleicher Weise politische Fragen einschließen wie solche der Diplomatiegeschichte. Auch die ideologische Reduktion jeder historischen Betäti~g auf politische Interessenlagen kann nicht den wissenschaftlichen Ausweis der jeweils verfolgten Methode und der damit gewonnenen Ergebnisse ersetzen. Politische Funktion undpolitische Implikation decken sich nicht. Wer den Unterschied verwischt, verwandelt die Historie in einen W eltanschauungsunterricht, beraubt sie ihrer kritischen Aufgabe, die sie als Wissenschaft gerade für politische Probleme haben kann (aber nicht haben muß). Wir wenden uns also jetzt ab von unserer Ausgangsfrage nach den theoretischen Prämissen, die uns auf dem Weg hin zu den Quellen geleitet haben. Wir kehren uns ab von der Frage, inwieweit wir Hypothesen zu bilden genötigt sind, und beschrei- · ten nunmehr den Weg, der uns von den Quellen zurück in die Öffentlichkeit führt, den Weg, der von den Marxisten immer mit reflektiert wird und der bei uns meistens naiv beschritten oder nur verbal beschworen wird. Wir stellen uns damit der strapazierten Frage nach der Didaktik, die sicher einer analog wissenschaftlichen Erörterung fähig ist, wie uns~re spezielle Forschung auch. Nun hege ich die Vermutung, daß über die Didaktik der Geschichte sinnvoll nur gesprochen werden kann, wenn die Historie als Wissenschaft ihre eigenen theore#schen Prämissen aufdeckt. Dann könnte sich herausstellen, daß das Unbehagen am Schulfach der Geschichte die gleichen Wurzeln hat wie das mangelnde theoretische Reflexionsvermögen innerhalb unserer Wissenschaft. Positiv gewendet: Wenn wir uns dem Theoriezwang stellen, werden sich didaktische Konsequenzen aufdrängen, die die sogenannte Didaktik selber gar nicht finden kann. Während wir über anderthalb Jahrhunderte hinweg unser philologisch-historisches Rüstzeug verfeinert haben und es perfekt beherrschen lernten, ließen sich die Historiker den Weg von den Quellen zurück an die Öffentlichkeit nur allzu leicht von den jeweiligen Machtlagern vorzeichnen. Gerade die großen Erfolge auf der positivistischen Ebene leisteten ein,er Überheblichkeit Vorschub, die für nationale Ideologien besonders anfällig war. Der Weg von der Quellenforschung in die Öffentlichkeit zurück 378
hat nun verschiedene Reichweiten: Er verbleibt vergleichsweise forschungsnahe innerhalb der· Universität, weiter fort führt er in der Schule, ferner erreicht er die Öffentlichkeit unserer politischen Handlungsräume und letztlich die Publizität im globalen .Empfängerkreis historischer Aussagen. Hier müssen wir . uns daran erinnern, daß alle historischen Aussagen vergangene Sachverhalte nur v~rkürzt oder verjüngt wiedergeben können, denn die Totalität der Vergangenheit läßt sich nicht wiederherstellen, sie ist unwiderrufbar vergangen. Streng genommen läßt sich die Frage nach dem, wie es eigentlich gewesen. sei, nur dann beantworten, wenn man davo·n ausgeht, daß man nicht res factae sondern res fictae formuliert. Denn ist einmal die Vergangenheit als solche nicht mehrwiederherstellbar, so bin ich gezwungen, den fiktiven Charakter vergangener Tatsächlichkeit anzuerkennen, um meine historischen Aussagen theoretisch absichern zu können. Gemessen an der Unendlichkeit vergangener Totalität, die uns als solche nicht mehr zugänglich ist, ist jede historische Aussage eine Verkürzung. Im Umkreis einer naiv-realistischen. Erkenntnistheorie ist jeder Zwang. zu:r Verkürzung ein Zwang zur Lüge. Ich kann aber darauf verzichte~ zu lügen, wenn ich einmal weiß, daß der Zwang zur Verkürzung ein inhärenter Teil unserer Wissenschaft ist. Darin liegt auch eine politische Implikation, damit gewinnt auch die Didaktik ihren legitimen Ort im Bereich der historischen Wissenschaft. Wir müssen uns ständig fragen, was für uns Heute Geschichte jeweils ist, sein kann und sein soll: In der Universität, in der Schule und in der Öffentlichkeit. Nicht daß sich der Forschungsbetrieb von außen her seine Ziele politisch und funktional vorschreiben lassen sollte, aber wir müssen uns immer darüber klar werden, welche politischen Implikationen unser Forschungsbereich hat oder nicht hat, welche Aussageform wir demgemäß entwickeln müssen. Dann läßt sich auch die politische Funktion, die die Historie hat oder die sie haben sollte, von der Geschichtswissenschaft selber her besser bestimmen. Es kommt darauf an, die Aporie des Historismus aufzulösen, der davon überzeugt war, daß man aus Geschichten nicht mehr lernen könne, gleichwohl die Geschichtswissenschaft zur Lehre zählte. 2
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Anmerkungen
1 Diese Überlegungen wurden 1969 im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte vorgetragen und erscheinen jetzt gleichzeitig inner- · halb des Sammelbandes »Theorie der ·Geschichtswissenschaft 'und Praxis des Geschichtsunterrichtsr< im Klett Verlag. 2 Im folgenden wurden einige Überlegungen vorgetragen, die sich auf _gie geplante Fakultät für Geschichtswissenschaft in Bielefeld bezogen.
Chaim Perelman Philosophie, Rhetorik, Gemeinplätze Im folgenden will ich die These verteidigen, daß der philosophische Beweis rhetorischer Natur ist und daß die philosophische Argumentation, insofern sie sich auf ihr angemessene Prämissen stützt, von allgemein Anerkanntem ausgeht, das heißt, von gemeinen Prinzipien, gemeinen Begriffen und Gemeinplätzen. Ich hoffe, zeigen zu können, daß diese scheinbar paradoxe, weil den Prätentionen der philosophischen Tradition widersprechende These nicht willkürlich ist, sondern dem geistigen Klima unserer Zeit entspricht, daß sie de.t: Spezifik der Philosophie gerecht wird, der Rhetorik den ihr zustehenden Platz - einen zentralen einräumt und die gemeinen Begriffe und · Gemeinplätze als Ausgangspunkte jeder humanistischen Philosophie würdigt. Auf die Frage: »Was ist Philosophie?« gibt es keine Allgemeingültigkeit beanspruchende Antwort, die nicht dogmatisch und zugleich unzulänglich wäre; Denn die. Philosophie wurde in jedem Abschnitt ihrer Geschichte durch ihr entgegengesetzte Begriffe definiert, was jeweils den einen oder anderen ihrer Aspekte hervortreten ließ. In seinem bekannten Werk »Vom Mythos zum Logos« beschreibt Wilhelm Nestle 1 die Entstehung der Philosophie als Reaktion auf die traditionellen Mythen Griechenlands, auf die widersprüchlichen gemeinen Auffassungen, auf die infantile und zugleich blasphemische griechische Religion, im Namen einer wahren, objektiven und rationalen Erkenntnis des Seins und der Natur. Indem die Philosophen dem Schein die Wirklichkeit und dem Glauben das Wissen entgegenstellten, suchten sie ein auf Vernunft gründendes Weltbild zu entwerfen, das seinerseits als Grundlage der Weisheit und Lebensmeisterung dienen und den Menschen den Weg zu Tugend und Glück weisen sollte. Kaum aber hatten die Pythagöräer sich die Bezeichnung »Philosophen« beigelegt, als Zeno von Elea eine kleine Schrift mit dem Titel »Wider die Philosophen« herausgab, deren unmittelbare Folge es war, daß dieser Begriff einen anderen Sinn bekam. Denn während Zeno mit »Philosophen« nur die Pythagoräer meinte, fassen wir auch seine eigenen Schriften als philosophisch auf und bezeichnen mit diesem Begriff nicht bloß die Schüler des 381
Pythagoras, sondern auch deren Gegner. So wurde allmählich, im Laufe der Diskussionen unter den Schulen, die Bezeichnung »Philosoph« auf jeden angewandt, der mittels des »Logos« grundlegende Fragen untersuchte - das Sein, die Natur, den Menschen, das Gute, die Gerechtigkeit, das Verhältnis des Menschen zur Gottheit, die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft, die Rolle der Tradition und der Vernunft in der Schaffung von Gesetzen, kurz, alles, was Gegenstand eines auf Vernunft beruhenden Wissens sein kann. Nach und nach entstanden autonome Disziplinen, zuerst die Mathematik, dann die anderen, welche die »Sieben Künste« bildeten, in Quadrivium und Trivium gruppiert. Während man unter Philosophie lange Zeit auch die Naturforschung in allen ihren Aspekten verstand, definierte Aristoteles die eigentliche Philosophie (später Metaphysik) genannt- die dem Weisen anstehende Wissenschaft- als die Wissenschaft von den grundlegenden Prinzipien, die Ontologie oder Wissenschaft vom Sein als solchem, und die Theologie, die Wissenschaft vom höchsten Wesen (»Metaphysik«, 982, 1026). Auf der einen Seite standen die Naturphilosophen, die Wahrheitssuche und komtemplatives Leben über alles stellten; auf der anderen die großen Sophisten, die Meister der Rhetorik, und die Skeptiker, welche d~e Möglichkeit, die absolute Wahrheit über Natur und Gottheit zu erkennen, bezweit"elten und ihre Schüler für ein tätiges Leben ausbildeten, in ihnen das Interesse für Politik, Recht und Geschichte zu wecken trachteten. Die Skeptiker haben in der Entwicklung einer humanistischen Philosophie eine entscheidende Rolle gespielt. Ihre Argumente wurden übrigens zu Beginn der christlichen Ära von all denen aufgegriffen, die der Wissenschaft den Glauben und der Vernunft die Offenbarung entgegenstellten. Die christlichen Denker-ursprünglich Gegner der Philosophiesuchten später Philosophie und Religion in einer Weltanschau.,ung, deren System auf dem Gottesbegriff beruhte, zuversöhnen. Anknüpfend an die Gedanken, die Platon im sechsten Buch des. »Staates« skizziert- es· gebe eine Wirklichkeit, die der Vernunft unzugänglich, aber dennoch Voraussetzung der Wahrheit und der Wissenschaft sei (eine von Platin und seinen Anhängern ausführlich entwickelte Auffassung) -, entstand eine Synthese aus Christentum und Neuplatonismus. Augustinus lehrte, Weisheitsliebe und Streben nach Glück führten mit Notwendigkeit zur 382
Liebe Gottes, welch.e die Voraussetzung der Weisheit wie des ewigen Heils sei. In den späteren Jahrhunderten wurde die Philosophie zuerst der Theologie untergeordnet, dann folgte ihre langwierige, mühsame Emanzipation, dank den Bemühungen der Magister der mittelalterlichen Universitäten. Die Entstehung des Protestantismus und der modernen Wissenschaft im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert führte einerseits zu Religionskriegen, andererseits zu großen philosophischen Bemühungen, gewisse religipse Wahrheiten, denen alle Menschen zustimmen könnten, rationaf zu beweisen. Die Gegensätzlichkeit der philo-' sophischen Systeme wurde als untragbar empfunden, und die Denker des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts, die sich mit den skeptischen Schlußfolgerungen von Philosophen wie Montaigne nicht abfinden wollten, suchten die Erkenntnismittel zu reformieren, um die Ursachen von Illusion und Irrtum zu eleminieren, und eine sichere Methode zur Anleitung der Vernunft zu erfinden, um der Philosophie den Rang einer exa]sten Wissenschaft, gleich der Geometrie und der mathematischen Physik, zu verkihen. Das war der Sinn der Bemühungen von Philosophen wie Bacon, .Hobbes, Locke und Hume in Großbritannien, Descartes, Spinoza, Leibniz und Malebranche in Kontinentaleuropa. Während die letztgenannten - Rationalisten, die sich von der Geometrie inspirieren ließen - grandiose Systeme konstruierten, welche Gegenstand endloser Kontroversen bildeten, waren die . zurückbaltenderen Empiriker von Bacon bis Hume Vorläufer des modernen Positivismus, der den Prätentionen der rationalistischen Philosophen eine radikale Begrenzung der philosophischen Aufgabenstellung entgegensetzt.· Man kennt die provokanten Sätze, mit denen der berühmteste aer englischen Empiriker, David Hume, seine »Untersuchung über den menschlichen Verstand« abschließt: »Greifen wir irgendeinen Band heraus,. etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen : Enthält er irgend einen abstrakten Gedankengang über Größe und Zahl ? Nein. Enthält er irgend einen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.« Vor der außerordentlichen Verbreitung des Positivismus von Comte bis zum Zweiten Weltkrieg erreichte die rationalistische Philosophie mit Kant und dem deutschen Idealismus des neun... 383
zehnten Jahrhunderts einen ihrer Höhepunkte. Um nach Hume seinerseits die Vernunft - die reine·wie die praktische - einer Kritik zu unterziehen und die Frage: »Welches sind die Voraussetzungen der Naturwissenschaft und·welches die Bedingungen, die eine Moral möglich machen?« zu beantworten, entwickelte Kant eine transzendentale Philosophie; Darin definierte er die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens und zeigte vor allem, daß die Idee der Pflicht, einer Verpflichtung, die unserer Freiheit auferkgt ist, weder aus der Erfahrung noch aus ein~r analytischen Verbindung von Ideen abgeleitet werden kann, sondern synthetische Urteile a priori voraussetzt,. Während Kants Analyse der reinen Vernunft das Scheitern der traditionellen Metaphysik damit erklärt, daß diese über· die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens· hinauszugehen versuche, so hat seine Analyse der praktischen Vernunft einen positiven Stellenwert, indem sie zeigt, daß die Idee der Pflicht oder der moralischen Verpfli~htung weder·in der Welt der Erscheinungen rioch in der Naturwissenschaft begründet sein kann. Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Philosophie von der reinen auf die praktische Vernunft, von der Naturforschung auf die ·metaphysischen Grundlagen von Moral und Recht. Die Philosophen nach Kant, die dessen Unterscheidung zwischen Naturphilosophie und Freiheitsphilosophie übernahmen, entschieden sich für die letztere. Wo sie versuchten, unabhängig von der Naturwissenschaft eine Naturphilosophie zu entwickeln, scheiterten sie kläglich, aber mit der Entwicklung einer Philosophie der Freiheit als Manifestation des Geistes in der Geschichte haben sie wesentlich zum Fortschritt der Geisteswissenschaften beigetragen. Während die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch den Triumph der Naturwissenschaften und die Verbreitung des Positivismus gekennzeichnet war, erlebteamEnde des neunzehnten Jahrhunderts die Philosophie eine Wiedergeburt als Philosophie der Freiheit und der Tat, als Philosophie der Praxis. Die Unterscheidung zwischen Sachurteilen und Werturteilen, die sich im zwanzigsten Jahrhundert durchgesetzt hat, hängt mit dem Gegensatz zwischen Wissenschaft und Philosophie zusammen: Aufgabe der Wissenschaft ist .es, mittels Demonstrationen und Verifizierung zu Sachurteilen zu gelangen, während W erturteile von der Philosophie rechtfertigt werden müssen. Worin aber kann diese Rechtfertigung bestehen? Wenn Deduk384
tion und Induktion, Rechnung und Erfahrung die einzigen gültigen Beweismittel sind, aber keine Werturteile zu rechtfertigen vermögen, muß man dann nicht der Aufforderung Humes folgen und die Philosophiebücher ins Feuer werfen, ausgenommen vielleicht die Werke der Positivisten, die mit einer lückenlosen, unbarmherzigen sprachlich-logischen Analyse die Sophismen der nichtpositivistischen Philosophen und die Eitelkeit ihrer Behauptungen aufgedeckt haben? In diesem philosophischen Kliina begann 1929, in dem Jahr, da das Manifest des Wiener Kreieses veröffentlicht wurde, meine eigene Ausbildung zum Philosophen. Die Philosophie, als eine den Wissenschaften komplementäre Disziplin, auf Axiologie, systematische Untersuchung von Werturteilen, reduziert, bildete die Zielscheibe unablässiger Kritik seitens der Positivisten, die sie zwischen unkommunizierbaren Intuitionen und dem literarischen Ausdruck rein subjektiver Emotionen hin- und hergerissen sahen. Die Entwicklung einer auf Vernunft gründenden Philosophie wurde somit unmöglich, denn es galt zu wählen zwischen einer rationalen Methode,. die die Philosophie jedes Inhalts entleerte, . und einer sinnvollen Philosophie, ·deren Methoden jedoch subjektiv und irrational erschienen. Aber es war sehr schwer, sich mit dem Positivismus abzufinden, der alle Werturteile für gleichermaßen willkürlich erklärte, während unser ganzes Wesen gegen die totalitären Ideologien revoltierte, die der Menschenwürde und den Grundwerten unserer Zivilisation- der Freiheit und der Vernunft - ·Hohn sprachen. Wie diesem Dilemma entrinnen, wenn es als ausgemacht gilt, daß wissenschaftliche Methoden, deduktive wie induktive, es nicht ermöglichen, Werturteile zu begründen, von dem, was ist, überzugehen . zu dem, was sein soll ? Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, 1944, analysierte ich die Idee der Gerechtigkeit, ganz im positivistischen Geist. Ich hatte den formalen Kern der Gerechtigkeit erkannt: gleiche Behandlung bei im wesentlichen gleichen Umständen: aber ich sah sehr wohl, daß jede Regel der Gerechtigkeit nur die Anwendung von a priori gesetzten Werten ist. Was geschieht nun im. Fall eines Konflikts zwischen Werturteilen ? Kann der Philosoph uns weiterhelfen, indem er allgemein annehmbare Lösungen ausarbeitet, oder muß man sich damit abfinden, daß immer der Stärkere recht hat? 385
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, begab ich mich auf die Suche nach einer Logik der Werturteile, ohne welche, wie mir schien, die Philosophie, nachdem sie den Wissenschaften die Untersuchung dessen, was ist, abgetreten hat, sich auch außerstande erkläten müßte, zu bestimmen, was wertvoll ist, was sein soll. Nach dem Verzicht auf die Erforschung der Natur müßte die Philosophie, als diskursive und kommunikative Disziplin, auch darauf verzichten, Werte und Normen für unser Handeln aufzustellen und selbst die bloße Möglichkeit einer sinnvollen Reflexion über Politik, Recht, Moral und Religion negieren. Auf der Suche nach solch einer Logik der Werturteile erschien mir als beste jene M~thode, die der Mathematiker Gottlieb Frege, der Erneuerer der modernen Logik, angewandt hat. Wenn er durch genaue Analyse des mathematischen Schlusses die formale Logik wiederentdeckt hat, könnte man da nicht durch Analyse der Schlüsse, die sich auf Werte - das Gute, das Gerechte, das Schöne, das Wirkliche (im Gegensatz zum Scheinbaren) - beziehen, die Logik des Wünschenswerten, das Ziel unserer Untersuchungen, entdecken ? Nach zehnjährigen Studien, die ich gemeinsam mit Frau Olbrechts-Tyteca betrieb, gelangten wir beide zu der Überzeugung, daß es keine spezifische Logik der Werturteile gibt. Was wir aber durch unsere Analysen entdeckten oder vielmehr wiederentdeckten, waren die Methoden des Argumentierens und überzeugens, die schon Aristoteles in den »Topika« und in der »Rhetorik« analysiert hat. Die formale Logik untersucht hauptsächlich den rechnerischen Beweis, den demonstrativen, formal korrekten Schluß. Doch die Art und Weise, wie wir in einer Diskussion oder bei einer inneren Überlegung argumentieren, wenn wir Gründe für und wider anführen, eine bestimmte These kritisieren oder verteidigen, Argumente vorbringen, um beispielsweise einen Gesetzentwurf oder einen Haftbefehl zu begründen - all dies liegt außerhalb des Blickfeldes des modernen Logikers, da er sich auf die Analyse des rein formalen Schlusses beschränkrl. Nun ist aber nicht daran zu zweifeln, daß wir in all den genannten Fällen Schlüsse ziehen, und die Bedeutung solcher Schlüsse ist dem Aristoteles, der allgemein als der Vater der formalen Logik gilt, nicht entgangen. Tatsächlich untersucht er - außer analytischen Schlüssen wie -dem Syllogismus - auch Schlüsse, die er als dialektische bezeichnete, 386
weil man sich ihrer in Diskussionen und Kontroversen bedient, und für die man die besten Beispiele in den von Plitori · aufgezeichneten Gesprächen des Sokrates findet. übrigens betrachtete Platon nicht ohne Grund die Dialektik als die angemessene Methode des philosophischen Schließens. Wie er im »Euthyphron« (7 bis 9) sagt, findet sie ihr spezifisches Anwendungsgebiet nicht in Differenzen, die durch Rechnen, Messen oder Wägen leicht entschieden werden können, sondern in Meinungsverschiedenheiten über Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht, Ehrenhaft und Unehrenhaft, das heißt, überWerte3 • In den »Topika« und der »Widerlegung der Sophisten« analysiert Arist~teles die Methoden, die es ermöglichen, in einer Kontroverse die beste Meinung zu erkennen und die schwachen · Stellen sophistischer Schlüsse aufzudecken. Wenn jedoch das Kriterium der Stärke oder Schwäche eines Arguments weder durch Rechnung noch durch Messung gegeben ist, sondern von der Auffassung, vom Urteil eines Subjekts abhängt, dann kommt es letztlich darauf an, dieses Subjekt zu überzeugen, da es sich um einen dialektischen Schluß handelt. Nun ist aber diese Überzeugung nur eine Form von Überredung, und zwar einer, die nicht das Ergebnis eines Ansprechens unserer Wünsche und Emotionen ist, sondern sich auf dialektische Beweise und Schlüsse gründet. Die Rhetorik oder die Kunst des überredens, wie: Aristoteles sie entwickelt hat, übersah zwar weder die Rolle des »ethos« noch die des »pathos« in dieser Kunst, betonte jed~ch vor allem die Bedeutung des Beweises, des »Iogos«, das heifh der Gründe, auf welche die Meinung, die man für die beste erachtet, sich stützt. . Während die klassische Rhetorik in ihren Schlußfolgerungsmethoden sich der· Dialektik näherte, mußte sie, insofern sie sich nicht der Methode von Frage und Antwort, sondern jener der langen, zusammenhängenden Rede bediente, das Problem der Zuhörerschaft ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken. Jede Rede, die überzeugen soll, muß dem Publikum augepaßt sein. Aus diesem Grund widmet Aristoteles in der »Rhetorik« den verschiedenen Publikumstypen lange Betrachtungen. Wenn, ein- Redner bestrebt ist, zu überreden, mit seiner Rede um jeden Preis auf die Zuhörer einzuwirken, und vor allem, wenn es darum geht, ein so ·unwissendes, wankelmütiges Publikum wie eine auf der Agora versammelte Volksmenge zu beeinflussen, kann er der 387
Versuchung unterliegen, seine Redekunst zu mißbrauchen. Solche Mißbräuche prangert Platon im »Gorgias« an, wo er zeigt, .wie .-die Athener auf die Schmeichelei der Demagogen hineinfallen. Dem Philosophen - verkörpert durch Sokrates - ist die Wahrheit wichtiger als der Erfolg, und wenn auch das Volkstribunal ihn verurteilt, so hat er doch der. guten Sache "gedient. Obgleich Platon gegen jede demagogische Rhetorik ist, so ist er darum· doch nicht gegen jede Rhetorik. In »Phrudros«, einem weiteren Dialog über Redekunst, erklärt er, es gebe eine Rhetorik, die des Philosophen würdig sei, nämlich jene, die selbst die Götter zu überzeugen vermöge (273-274). Die Qualität einer Rede wird nicht nl_fr nach ihrer Wirkung beurteilt, sondern vor allem nach der Qualität des Publikums, das sie· zu überzeugen ·vermag. Wenn die» Verteidigung des Sokrates« eine Argumentation . bietet, die uns überzeugend .erscheint, während sie die Richter nicht überzeugte, so hätte sie auf eine Zuhörerschaft, die der Vernunft zugänglicher gewesen wäre, größere Wirkung ausgeübt. Wird die. Idee der Zuhörerschaft solcherart verallgemeinert, erledigen sich die Vorwürfe, die man. der Rhetorik üblicherweise ma~ht, von selbst. Tatsächlich kommt die traditionelle Verachtung der Philosophen für die Rhetorik daher, daß Aristoteles und seine Schüler eine Methode entwickelten, die vor allem darauf angele~ war, ein unwissendes Publikum zu überzeugen. Was aber spricht gegen eine allgemeine Argumentationstheorie, eine Rhetorik, die sich jeder Art von Publikum anpassen und -e; ermöglichen würde, neben der Wirksamkeit der Rede auch die Beschaffenheit der Zuhörerschaft als Kriterium des Werts einer Argumentation einzuführen ? So würde beispielsweise die Methodologie der Jurisprudenz oder einer naturwissenschaftlichen Disziplin uns lehren, welche Art von Argumenten, welcher Typ von Beweisen den Vertretern dieser Disziplin an1 überzeugendsten erscheint. Die philosophische Rede, die sich nach traditioneller Auffassung an die Vernunft wendet, wäre auf eine ideale Zuhörerschaft zugeschnitten, welche für Platon und für religiöse Denker in der Gottheit verkörpert wäre, wogegen ich sie als universale Zuhörerschaft bezeichnen würde. In meinen Augen gehorcht die philosophische Rede, was die Argumentation betrifft, Kants kategorischem Imperativ : Der Philosoph soll so argumentieren, daß er - seiner Meinung nac~ - das universale Publikum überzeugen kann 4 •
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So verstanden verbindet sich die philosophische Argumentation mit dem Begriff einer Vernunft, die nicht mehr bloß als Mittel der WahJ:"4eitssuche, sondern auch als Faktor des Handeins aufgefaßt wird. Sie ·beschränkt sich nicht mehr auf wissenschaftliche Methoden, .um zu rationaler Erkenntnis zu gelangen, sondern erstreckt sich auf den gesamten Bereich des Vernünftigen, womit das Ideal der praktischen Vernunft einen Sinn erhält. . Indem der Philosoph an die Vernunft oder an das universale Publikum appelliert, kann er in seinem Ansatz .und in seinen Schlüssen sich nur noch auf Thesen lind Argumente stützen, die, selbst wenn sie faktisch nicht von allen akzeptiert werden, doch ihrem Wesen nach für alle akzeptabel sein sollten. Darum stützt er seinen Diskurs auf den gemeinen Verstand und auf allgemeine Erfahrung oder beruft sich auf Wahrheiten und Fakten, Axiome und Notwendigkeiten, die jedermann anerkennen muß. Darum sind die gemeinen Prinzipien, gemeinen Begriffe und Gemeinplätze so wichtig für die philosophische Aussage, der sie Ansatz und Argumente liefern. Hier ist der Terminus »gemein« zu betonen, denn dieser Gemeinsamkeit ist es zu verdanken, daß der Diskurs des Philosophen auf dem aufbauen kann, was für das universale Publikum annehmbar erscheint. übrigens kann es sein, daß die Prinzipien, die der Philosoph für allgemein akzeptiert erachtet, nur die in seinem Kulturkreis vorherrschende Meinung, nur das Bewußtsein seiner Epoche ausdrücken, seiner Ansicht nach aber von jedermann anerkannt werden sollten. . Die Universalität der gemeinen Begriffe ist weniger anfechtbar, denn in ihrem Fall kann die Diversität sich in der Vielzahl der Bedeutungen ausdrücken, die sie annehmen, wodurch sie sich in konfuse Begriffe verwandeln. Dieser Gedanke kommt gut zum Ausdruck in einer Stelle der »Gespräche« des Epiktet, die Vor~rkenntnisse betreffend, die den Stoikern zufolge in jedem menschlichen Geist vom siebenten Lebensjahr an vorhanden sind: »Die Vorerkenntnisse sind allen Menschen gemein. Keine Vorerkenntnis steht irn Widerspruch zu einer anderen. Wer von uns würde nicht zustimmen, daß das Gute nützlich, Wünschenswert, unter allen Umständen zu suchen und anzustreben sei ? Was würde nicht zustimmen, daß Gerechtigkeit etwas Schönes und Erfreuliches ·sei ? In welchem Augenblick also kommt es zum 389
Widerspruch? Wenn man die Vorerkenntnisse auf bestimmte Dinge der Wirklichkeit anwendet, wenn der eine sagt: >Er hat ehrenhaft gehandelt, das ist ein mutiger Mann<, und der andere : >Nein, das ist ein Wahnsinniger.< So kommt es zu Gegensätzen zwischen den Menschen. Von solcher Art ist der Gegensatz zwischen Juden, Syrern, Agyp~ern und Römern: Daß man vor allem Heiligkeit achten und nach ihr trachten müsse, steht außer Zweifel; ~trittig aber ist, ob es sich mit der Heiligkeit vereinbaren läßt, Schweinefleisch zu essen. Von gleicher Art ist der Gegensatz zwischen Agamemnon und Achilles. Stelle dir vor, sie stünden vor dir, und du fragtest: Was meinst du, Agamemnon? Muß man nicht nach Pflicht und Ehre handeln? Gewiß, das muß man. Und du, Achilles, was denkst du ? Bist du nicht der Meinung, daß man ehrenhaft handeln müsse ? Ich bin durchaus dieser Meinung. Wendet nun diese Vorerkenntnisse an: Da kommt es zum Gegensatz.« (I, XXII.) Der Philosoph, der sich auf diese gemeinen Prinzipien und Begriffe stützt, wird versuchen, sie zu definieren, etwa zu sagen, worin die wahre Gerechtigkeit oder die wahre Religion best~ht, so daß es ihm möglich ist, die Konflikte, die sich in diesen Fragen ergeben, vernunftgemäß zu lösen. Desgleichen bilden die Gemeinplätze, namentlich jene, die wir in »Traite de l'argumentation« (§ 21 bis 24) als Gemeinplätze des Wünschenswerten bezeichnet haben, die Gründe, und zwar die allgemeinsten, die es ermöglichen, in allen Bereichen die Präferenzen und Optionen zu rechtfertigen. Als Beispiele nennen wir die Gemeinplätze der Quantität (vorzuziehen ist, was in größter Zahl nützlich ist), der Qualität (das Einzigartige ist dem Gewöhnlichen vorzuziehen), der Ordnung (die Ursache kommt vor der Wirkung), des Wesens (Vorzug haben die Individuen, die die Gattung am besten repräsentieren), und so weiter. Die Gemeinplätze, zum Unterschied von den spezifischen Grundsätzen an keine bestimmte Kategorie, wie Recht oder Moral, gebunden, sondern auf alle Kategorien anwendbar, sind oft antithetisch, in dem Sinne, daß die Wahl eines Typus von Gemeinplätzen zu anderen Entscheidungen führen kann als die Wahl eines anderen Typus : Die unterschiedlichen Präferenzen kennzeichnen verschiedene Geistestypen. So konnten wir demonstrieren, daß man den Unterschied zwischen klassischem und romantischem Geist daran erkennen kann, ob Gemeinplät390
zen der Quantität oder solchen der Qualität der Vorzug gegeben wird (siehe »Traite de l'argunientation«, § 25). Der philosophische Beweis ist weder demonstrativ noch zwingend, sondern argumentativ und (mehr oder weniger) überzeugend ; die Berufung auf gemeine Prinzipien, gemeine Begriffe und Gemeinplätze ermöglicht eine Vielzahl von Interpretationen,. Definitionen und Applikationen, worin die philosophische Beweisführung sich radikal von deduktiven oder experimentellen Schlüssen unterscheidet: So kann man die Spezifik der Philosophie erklären, im Gegensatz zu Religion, Wisse~schaft und Kunst. · Von der Religion unterscheidet sich die Philosophie dadurch, daß sie nicht auf eine Offenbarung angewiesen ist, die nur den Gläubigen zuteil wird, sondern Gründe und Beweise liefert, die für alle mit Vernunft, mit gesundem Menschenverstand begabten Wesen annehmbar sein sollen. Von der Wissenschaft unterscheidet sie sich insofern; als ihre Thesen weder rechnerisch noch experimentell überprüfbar sind und sie daher außerstamle ist, sich einmütige Zustimmung zu sichern. Sie liefert theoretisch begründete Weltbilder, von denen jedoch keines imstande ist, Anerkennung als das einzig richtige zu erlangen und alle anderen als falsch zu erwe1sen. Wenn man es so betrachtet, die philosophische Beweisführllng in diesem Sinn auffaßt, dann löst sich der Widerspruch zwischen dem Wahrheitsanspruch der Philosophen und der unheilbaren Pluralität de.r philosophischen Systeme. Wenngleich jedes · der verschiedenen philosophischen Systeme universale Zustimmung beanspruchen kann, weil jedes von ihnen an die Vernunft appelliert, so kann doch keines als wahr gelten in dem Sinn, daß es einer objektiven Realität konform wäre, ein äußeres Kriterium seiner Richtigkeit liefern würde. Tatsächlich erschafft sich jede Philosophie, mag sie sich auch auf die gemeine Wirklichkeit, die des Gemeinverstands, stützen, ihre eigene Wirklichkeit, ein systematisches,. kohärentes Wirklichkeits bild, dessen Ausgangs~ punkt das Gemeine ist5• Obwohl jedes große philosophische System wie ein Kunstwerk ist, eine Kathedrale oder einer Symphonie vergleichbar6, bedarf es doch zu seiner Rechtfertigung einer Argumentation, die zu überzeugen ~ermag, einer Beweisführung, die für alle akzeptabel sein soll. Dennjede Philosophie appelliert an die Vernunft, ja, der 391
Vernunftbegriff selbst ist em integrierender Bestandteil der Philosophie schlechthin. Dieser kurze Beitrag, der die These begründen soll, daß der phil6sophische Beweis rhetorischer Natur ist - mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen -, erhebt nicht den Anspruch, eine unanfechtbare· wissenschaftliche Wahrheit zu demonstrieren; vielmehr hängen seine Plausibilität, seine Verständlichkeit und Überzeugungskraft davon ab, wie man die Begriffe Philosophie, Rhetorik und Gemeinplatz auffaßt und definiert. Ich war durchweg bestrebt, überzeugend darzulegen, wovon ich selber überzeugt bin, nämlich, daß ich diese Begriffe nicht willkürlich, sondern im Einklang mit den Grundvorstellungen der Menschen unserer Zeit und unseres Kulturkreises verwendet und definiert habe.
Anmerkungen 1 Stuttgart 1942. 2 Siehe Ch. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, Traite de l'argumentation. La nouvelle rhetorique, Brüssel 1970, Einleitung. 3 Siehe J. Moreau, Rhetorique, Dialectique et Exigence Premiere, in: La · theorie de l'argumentation, Löwen 1963, S. 207. 4 Siehe meinen Vortrag Raison eternelle, raison historique, in: fustice et Raison, Brüssell963, S. 95-103. . 5 Siehe Ch. Perelman,- Le reel commun et le reel philosophique, in·: Le champ de l'argumentation, Brüssell970, S. 253, 264. 6 Siehe E. Souriau, L'instauration philosophique, Paris. 1939; M. Gueroult, Le~on inaugurale au College de France, 4. Dezember 1951; G. Granger, Sur Ia connaissance philosophique, in: Revue Internationale de Philosophie, 1959, S. 96-111.
G. B. Madison Eine Kritik an Hirschs Begriff der >>Richtigkeit« In den letzten Jahren rückte das Thema der Hermeneutik oder Interpretation immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit nordarnerikanischer Philosophie. Im Ganzen gesehen ist dieses Problern sicherlich nicht neu; es existiert bereits eine umfangreiche Literatur, wenrigleich ·zahlreiche Schlüsselwerke noch zu übersetzen sind. Erst seit kurzer Zeit besitzen wir die englische Ausgabe eines der wichtigsten dieser Werke: H.-G. Gadarners >Wahrheit und Methode< 1, während bislang E. D. Hirschs >Prinzipien der Interpretation<2 als bedeutendste Veröffentlichung in englischer Sprache galt. Hirschs Konzept einer Hermeneutik, das seine Anregungen aus dem Werke Ernilio Bettis3 erhielt, stellt jedoch allein eirie Seite der hermeneutischen Diskussion dar, jene, die einer anderen wichtigen Strömung, der durch Gadarner repräsentierten - welcher sich selbst in die Linie Heideggers einordnet -, völlig entgegenläuft. Das Buch Hirschs, das im Hinblick auf die Interpretation einen durchgängigen Realismus zu verteidigen sucht, kann letzdich als ein Angriff auf Ga:darners Position verstanden werden. 4 Hirsch kritisiert an Gadarner oder der - allgerneiner gesprochen - phänomenologischen Strömung innerhalb der Hermeneutik den Mangel einer realistischen Doktrin ; wirft ihr einen entmutigenden Skeptizismus, Relativismus, Subjektivismus und Historizismus vor. Doch ist dieser Vorwurf meiner Meinung nach völlig unbegründet ; dariiber hinaus glaube ich, daß Hirschs eigener realistischer Standpunkt einer kritischen überprüfmig bedarf. Jene Überlegungen, die ich in diesem Sinne im folgenden darzustellen versuche, konzentrieren sich .auf Hirschs Schlüsselbegriff der >Richtigkeit< (validity), und tiefergreifender auf das, was dieser Begriff impliziert - die Begriffe von absolutem oder objektivem Sinn und von Wahrheit. Da ich an dieser Stelle nicht all den vielen Problemen, die Hirsch aufwirft, gerecht werden kann, beschränke ich mich auf .die wenigen Fragen, die für eine allgerneine Theorie der Interpretation von grundlegender Bedeutung sind. Ich glaube, und ich ·hoffe zu zeigen, daß Hirschs Begriff von >Sinn< letztendlich wenig bzw. keinen Sinn enthält. 393
I. Das Ziel, das sich Hirsch selbst setzt, ist das der Grundlegung einer Wissenschaft der Interpretation. Dies ist der Grund, warum er -- wie er ausdrücklich· sagt - keine Kunstlehre des Verstehens im Hinblick auf den Sinn eines Textes entwirft, da dieses zwangsläufig ein intuitives, auf Einfälle angewiesenes, subjektives und unmethodisches Verfahren bedeutete, für das keine genauen Regeln aufgestellt werden können. Denn es ist nicht das divinatorische, sondern das methodische, kritische Moment der Interpretation, worin eine Wissenschaft sich im Gegensatz zu bloßer Kunst etabliert ; der Punkt, an dem, um die richtigste zu finden, zwischen den verschiedenen, möglichen Interpretationen eine Entscheidung getroffen wird. Gerade dieses Moment der Geltungsprüfung bildet die zentrale Stelle innerhalb der U ntersuchung Hirschs, ein Begriff, der die Stärke einiger seiner Argumente ausmacht, der aber gleichermaßen für die vielen, in seinem Buch enthaltenen Schwächen bezeichnend ist. Denn Tatsache ist, daß sich Hirsch an keiner Stelle die Frage stellt, inwieweit Interpretation eine Wissenschaft ist bzw. sein könnte ; er sagt lediglich, daß falls Interpretation eine Wissenschaft sein will, dann habe sie so und so auszusehen. Für eine Arbeit, die den Anspruch erhebt, sich mit einer »allgemeinep. hermeneutischen Theorie« zu befassen und deren »allgemeine Prinzipien« zu begründen, ist dieses offensichtlich eine unverzeihliche >petitio principii< (S. 8). Und da Hirsch von Anfang an selbstverständlich voraussetzt, daß Hermeneutik eine Wissenschaft sein kann, entbehren seine Untersuchungen der notwendigen kritischen Grundlage. Dies verdeutlicht ferner den prinzipiellen Unterschied zwischen Hirsch und seinem Erzrivalen Gadamer, denn was immer die Schwächen Gadamers sein mögen, so steht doch letztlich fest, daß dieser im Gegensatz zu Hirsch eine fundamentale Analyse dessen versucht hat, was notwendig mit allen V erstehens- und Interpretationsakten einhergeht. Diese grundsätzliche Betrachtungsweise fehlt jedoch in den stringenten, doch oberflächlichen Untersuchungen Hirschs. Denn obgleich er beabsichtigt, die Objektivität von Sinn zu verteidigen, versucht er zu keinem Zeitpunkt aufzuklären, in welchem Sinne Erkenntnis den Anspruch auf Objektivität erheben kann bzw. worin der Sinn von Objektivität besteht. Daß Interpretation überhaupt eine
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Wissenschaft sein kann, ist jedoch nicht die einzig unbegründete Voraussetzung Hirschs ; eben selbst der Begriff dessen, was eine Wissenschaft oder wissenschaftliche Erkenntnis ausmacht, wird unreflektiert übernommen. Hirsch möchte aus der. Interpretation eine Wissenschaft bzw. ein legitimes Verfahren machen. »Es geht«, so .schreibt er, » •.. um das Recht der Interpretation (und implizit aller humani•stischen Disziplinen), echte Erkenntnis als ihr Ziel zu beanspruchen« (S. 259). Echte Erkenntnis zu suchen ist nun schon ~in lobenswertes Bestreben, doch verfällt Hirsch leider unmerklich' jenem doktrinären, positivistischen Standpunkt, der· ·genuine Erkenntnis der naturwissenschaftlichen dogmatisch gleichsetzt. Von daher überrascht es kaum, daß Hirsch in der langdiskutierten Frage nach der Beziehung zwischen den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften einen direkten, jedoch vereinfachenden Weg geht, indem er die Möglichkeit eines erheblichen Unterschiedes zwischen den beiden ausschließt. So sagt er, »daß die vielzitierte Kluft zwischen der Denkweise von Natur- und Geisteswissenschaften nicht existiert. In beiden gilt, wie bei jeder Denkweise, die zu Erkenntnis führen soll, das hypothetischdeduktive Verfahren« (S. 320). Diese Gleichsetzung aller Streq.gen. Erkenntnis mit der naturwissenschaftlichen - die Identifikation von Stringenz nut Exaktheit- führt Hirsch dazu, sich die Arbeit des Textinterpreten nach dem Modell eines Laboratoriumsforschers in der Experimentalwissenschaft vorzustellen. Er denkt sich »die Untersuchung von Literatur als gemeinschaftliches Unternehmen und fortschreitende Disziplin« (S. 263). Die Logik der Interpretation ist nichts anderes als die klassische Logik der physikalischen_ Wissenschaft, die zunächst alle empirisch gewonnenen Daten zusammenträgt und im Anschluß hieran Hypothesen und Forderungen aufstellt, die diese Phänomene erklären: Was Hirsch folglich für die Interpretation geltend macht,~ist nichts anderes als eine experimentelle Methode : » •.• Widersprüchliche Interpretationen können im Lichte relevanten Beweismaterials einer Prüfung unterzogen werden, und objektive Schlußfolgerungen sind erreichbar... Das Aufstellen interpretativer Hilfshypothesen, die Wahrscheinlichkeitsentscheidungen fördern, unterscheidet sich im Prinzip nicht vom Erfinden von E:xPerimenten, die Entscheidungen zwischen Hypothesen in den Naturwissenschaften fördern können« (S. 260). 395
»Im Prinzip« unterscheidet sich demzufolge - laut Hirsch Hermeneutik in keinerlei Hinsicht von jeglichem beliebigen Erkenntnisbereich, d. h. von irgendeiner anderen Wissenschaft. Wie alle anderen Wissenschaften fällt sie nicht mehr als »Wahrscheinlichkeitsurteile« : »Eine interpretative Hypothese ist letztlich ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das durch Beweismaterial , ge~(titzt wird« (S. 228). Dies ist sicherlich in vielerlei Hinsicht zu kritisieren, selbst wenn sich eine Kritik im engeren Sinne allein auf den Hinweis nicht reflektierter Voraussetzungen beschränkt. Es sind jedoch jene tief ergreifenderen Probleme zu beachten, die aus dieser Gleichsetzung von Interpretation und Naturwissenschaft resultieren. Wenn jemand tatsächlich das Ziel der Grundle~ng einerneuen Wissenschaft verfolgt, muß er sich in erster Linie nach zwei Dirtgen umsehen : einem spezifischen Gegenstand und einer besonderen Methode. Eine Wissenschaft ist keine Wissenschaft, es· sei denn eine Wissenschaft von Etwas. Hirsch br~ucht folglich ,Jüto. :.Seine Wissenschaft der Interpretation einen Gegenstand, und er legt sich einen zurecht, der in diesem Sinne seinen Vorstellungen entsprechen kann. Analog dem Wissenschaftler früherer Zeiten, welcher glaubte nach Gesetzen Ausschau zu halten, die in der Natur selbst gegenwärtig sind und nur darauf warteten, in wissenschaftliche, menschliche Sprache umgesetzt zu werden, ist Hirsch bestrebt, qua wissenschaftlicher Interpret, eine gleichförmig »objektive« Entität zu entdecken und offenzulegen, die unabhängig vom Forschenden existiert. Diese · Entität nennt Hirsch den vom Autor intendierten Sinn. »Das Grundproblem der Interpretation ist«, so schreibt er, »... zu erraten, was der Autor meinte« (S. 261/62). Hirschs B~schreibung zufolge, trägt , dieser »vom Autor intendierte Sinn« alle Charakteristika einer insich-ruhenden, transphänomenalen Existenz, flicht anders als eine Platonische Form oder ein naturwissenschaftliches Gesetz (so wie diese ehemals verstanden wurden). So besteht Hirsch, um die Objektivität interpretativer Erkenntnis zu verteidigen, auf dem streng gegenständlichen Charakter des vom Autor intendierten Sinns, d. h. auf dessen völlige Unabhängigkeit vom Bewußtsein des Interpreten: »Wenn ein Theoretiker das Ideal.der Richtigkeit retten· will, dann muß er den Autor ebenfalls retten ... « (S. 21). Eben weil· Hirsch implizit und unkritisch objektive Erkenntnis als eine Art von Erkenntnis betrachtet, die einer bestimmten,
unabhängigen Entität korrespondiert und diese reflektiert, behauptet er, daß der vom Autor intendierte Sinn den Status einer solchen- objektiven Existenz innehat, und folglich als fester Bezugspunkt in der Entscheidung nach Adäquatheit und Richtigkeit der Interpretation dienen kann. >>Soll sein Anspruch [der des Interpreten] auf Richtigkeit zu Recht bestehen, so muß er zulassen, daß seine Interpretation am Maß einer echten Norm gemessen wird ; das einzige, zwingende normative Prinzip, das jemals· aufgestellt wurde, ist jedoch das altmodische Ideal des richtigen Ver~tändnisses des vqm Autor intendierten Sinnes<< (S. 46). »Das, was ein Autor intendierte«, wird für Hirsch ein absoluter Gegenstand, eine überhistorische Essenz, ein determinierter Gegenstand, der für jedermann als ebenderselbe zugänglich und für jedermann in gleicher Weise zu verstehen ist, allein unter der Voraussetzung einer wissenschaftlichen Methode. Ein solcher Gegenstand ist- im eigentlichen Sinne noumenal; er ist zeitlos, unveränderlich, determiniert, fest, sich selbst identisch etc. Folgende Aussagen beweisen es.: ,, Wenn ich sage, daß ein Wortsinn determiniert ist, so meine ich deshalb, daß er eine mit sich selbst identische Einheit ist. Ich meine ferner, daß er eine Einheit ist, die sich stets gleich bleibt, also unveränderlich ist« .(S. 68). »Richtigkeit macht eine Norm erforderlich- einen Sinn, der. fest und determiniert ist ... « 162). », .. der vom Autor intendierte, vom Text wiedergegebene Sinn unwandelbar und reproduzierbar ist« (S. 271 ). Die Liste derartiger · Äußerungen könnte beliebig erweitert werden, doch genügen die hier zitierten, um einige interess;:tnte Punkte zu verdeutlichen. Sie zeigen z. B., daß Hirsch seinen Gegenstand, den vom Autor intendierten Sinn, in einer Weise willkürlich konstruiert, lediglich damit er sich seiner ursprünglichen Idee einfügt, derzufolge Richtigkeit soviel bedeutet wie : eine getreue Reproduktion oder Repräsentation des Dinges-ansich. Da also, mit anderen Worten, Richtigkeit als eine Ableitung aus der übereinstünmung einer interpretativen Hypothese mit einem definiten, unveränderlichen Gegenstand aufgefaßt wird, muß der Gegenstand der Interpretation, der textuelle Sinn, alle Kennzeichen dieses invariablen Gegenstandes besitzen. Was aber primär an obigen Zitaten ins Auge fällt, ist Hirschs unkritische
es:
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Übernahme des traditionellen Substanzbegriffs. Er stattet >Sinn< mit all den Eigenschaften des klassischen Begriffs einer substantiellen Wirklichkeit (res) aus, was besagt, daß er ihn vergegenständlicht. · Dies also ist der Gegenstand einer wissenschaftlichen Interpretation. Hat nun erst einmal ein, wenn auch vermeintlicher Wissenschaftler seinen Gegenstand erdacht, muß er nur noch eine im Umgang mit ihm angemessene Methode entwickeln. In Übereinstimmung mit sich selbst bleibend, schlägt Hirsch eine Interpretationsmethode vor, die in völligem Einklang init dem ihr vorausgesetzten Gegenstande steht. Wenn der Interpretationsgegenstand ein absolut!!r Gegenstand ist, d. h. durch sich und in sich selbst existiert (in et per se), dann ist die einzig richtige Methode diejenige, welche uns derart über uns selbst hinausführt, daß wir den Gegenstand selbst erreichen können. Erforderlich ist eine Methode, die den Interpreten befähigt, sich dem Gegenstande anzugleichen bzw. zu nähern, der als etwas an sich Bestehendes als Maßstab für die Wahrheit oder Falschheit aller ihn betreffenden Aussagen dient. Diese Methode nennt Hirsch- in Anlehnung an Betti - die des W:ieder-Er:kennens. »Jede richtige Interpretation«, schreibt Hirsch, »gründet sich .auf das Wiedererkennen dessen, was ei1_1 Autqr meinte« (S. 162). Folglich ist nach Hirsch der Sinn, als ein an siCh völlig determinierter, etwas, das lediglich wiederentdeckt und nachgebildet werden muß. Interpretation ist nichts anderes als ein Fall psychologischer Rekonstruktion der Intention eines Autors ; bedeutet soviel, wie in die Fußstapfen des Autors zu treten (vergl. S. 294), oder mit anderen Worten, d. h. gemäß der »Cinderella Analogie« Hirschs (S. 68), einen Fall von Anpassung der richtigen Person an den richtigen Schuh. Dies also ist kurz umrissen und im Hinblick auf die ihm zugrunde liegenden Voraussetzungen der Standpunkt, den Hirsch in seinem Buch vertritt. Es sollte deutlich werden, daß er seinerseits einfach bestimmte traditionelle Begrifflichkeiten aufnimmt, primär jene der Substanz und der Wahrheit (die einander entsprechen). Eine adäquate Antwort auf Hirsch, kann folglich allein mittels einer Kritik an diesen traditionellen Kategorien erfolgen, einer Kritik, die ich im übernächsten Abschnitt schrittweise zu skizzieren versuche. Vorher jedoch scheint es sinnvoll, das Anliegen jenes Autors genauer zu betrachten, auf den sich Hirsch in dem Versuch, seinen eigenen realistischen Begriff vom 398
hermeneutischen Gegenstand z~ rechtfertigen, beruft. Dieser Autor ist Edmund Husserl, und was ich zeigen möchte, ist, daß Hirsch selbst die Absichten Busserls ungenügend und unkorrekt ausgelegt hat. Ferner soll ersichtlich werden, daß ein anderes (und getreueres) Lesen der Werke Busserls einen Begriff von Interpretation anbietet, der sich von demjenigen, dessen Hirsch sich annimmt, gänzlich unterscheidet.
I I. Hirsch bezieht sich auf Husserl, um jene Idee philosophisch zu legitimieren, derzufolge der Gegenstand des Bewußtseins (oder der Interpretation) etwas »Objektives« ist. Hirsch geht jedoch nicht weit genug, denn falls realiter eine Verteidigung der »Objektivität des Gegenstandes« bei Busserl vorliegt, kann ihm darüber hinaus sicherlich mehr entnommen werden. Hirsch scheint lediglich das frühe Werk Busserls, die Logischen Untersuchungen, gelesen zu haben (dies ist jedenfalls das ejnzige Werk, auf das er anspielt). Was ihn hieran interessiert, ist der Begriff der Intentionalität. Diesem phänomenologischen Schlüsselbegriff gemäß, ist es das Wesen des Bewußtseins, stets all;f. einen Gegenstand gerichtet zu sein, auf einen Gegenstand, der - wie Sartre sagen würde - das Bewußtsein selbst nicht ist. Alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas. Das heißt, daß man auf allen Bewußtseinsebenen zwischen einem Akt des Bewußtseins und einem Gegenstand des Bewußtseins, den dieser Akt intendiert, unterscheiden kann und muß. Folglich kann der Gegenstand, dessen man sich bewußt ist, nicht auf die Akte, mit Hilf~ derer man ihn intendiert~ zurückgeführt urid mit ihnen iclentifi-· ziert werden. Diesem Begriff entsprechend, können also viele verschiedene geistige Akte ein und denselben Gegenstand intendieren, und darüber hinaus viele verschiedene bewußte Subjekte ein und denselben Gegenstand. Der Regenbogen, den ich sehe, ist derselbe, den eine neben mir stehende Person sieht. Vom phänomenologischen Standpunkt her ist es also richtig, wenn Hirsch sagt, daß der Sinn eines Textes (als ein Gegenstand des Bewußtseins) nicht mit den subjektiven geistigen Akten des Interpreten identisch ist und nicht mit diesem identifiziert 399
werden kann. Oder wie Hirsch es formuliert : ·»Der allgemeine Begriff für intentionale Objekte ist >Sinn<. Der Wortsinn ist einfach eine besondere Art von. intentionalem Objekt und bleibt, wie alle intentionalen Objekte, mit sich selbst identisch - anders als die vielen verschiedenen Vorgänge, die ihn intendieren« (S. 273). Doch zieht Hirsch geilau an dieser Stelle einen voreiligen Schluß. Da der Gegenstand des Bewußtseins. mit den Bewußtseinsakten nicht gleichgesetzt werden kann, nimmt er an, daß dieser nun vollkommen eigenständig als etwas Permanentes, Sichselbst-Identisches, Unveränderliches und Reproduzierbares existieren muß ; de~n wenn er nicht von sich her autonom wäre, wie könnte er dann- überlegt Hirsch- mittels desselben Bewußtseins zu verschiedenen Zeiten, oder durch verschiedene Bewußtseinssubjekte gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten intendiert werden? Bestand der Hauptgrund des antipsychologishen Arguments Husserls in den Logischen Untersuchungen darin, die Identität des Sinnes mit den subjektiven Akten zu verneinen, möchte Hirsch vor allem die völlige Unabhängigkeit des Gegenstandes beweisen. Dies füh,rt ihn zwangsläufig zu seiner Version eines platonischen .Realismus, zumal, wenn wir uns an seine im vorhergeh~nden ,Abschnitt beschriebenen Absichten erinnern. Wie Hirsch, kam es dem frühen Husserl in erster Linie darauf an, den Psychologismus und Historizismus zu widerlegen ; aus diesem Grunde bestand er auf der Irreduzibilität des Gegenstandes auf die subjektiven Akte, die diesen intendieren. Doch bleibt Husserls Standpunkt in den Logischen Untersuchungen doppeldeutig ; in gewisser Hinsicht scheint er implizit eine modifizierte Version des Platonischen Realismus zu verteidigen. Es bleibt von daher nicht ohne Grund, wenn einige Kommentatoren hier von der realistischen Periode Husserls sprechen. Bekaimtlich begnügte sich dieser jedoch nicht, auf der Ebene der frühen Logischen Untersuchungen stehen zu bleiben, sondern entwikkelte in seinen späteren Werken (ebenso wie in der revidierten, zweiten· Edition der Untersuchungen, besonders der sechsten) einen Standpunkt, der ·für viele den Anschein einer abrupten Kehrtwendung hatte. Mit dem Aufdecken der »phänomenologischen Reduktion«, wandte Husserl sich nun dem Problem der . Konstitution zu. Sein Denken unterzog sich einer »transzendentalen Wende« insofern, als. er den· Bedeutungsgegenstand, den er 400
in den Logischen Untersuchungen rein antipsychologisch interpretiert hatte, in seinen späteren Werken bis zu bestimmten konstitutiven Akten zurückverfolgte, und mit diesen im Bewußtsein selbst verknüpfte. Das ist der Grund, weshalb Busserl sein späteres Denken als einen »transzendentalen IdealismuS« bezeichnete. Der Gegenstand des Bewußtseins, so sagte er . nun, ist ein idealer (nicht-realer) Gegenstand, der weder Bedeutung noch Sein losgelöst vom Bewußtsein besitzt. »Die objektive Welt ... , mitallihren Objekten, schöpft, sagte ich, ihren ganzen Sinn und ihre ·seinsgeltung, die sie jeweils für mich hat, aus mir selbst, aus mir als dem transzendentalen Ich, dem erst mit der transzendental-phänomenologischen Epoche hervortretenden« !5 Diese transzendentale Wende Busserls verunsicherte viele seiner früheren Anhänger; Was sie nun sahen, erschien ihnen unverständlich ; Busserl schien einfach seinen Standort zu verlassen und den Realismus zugunsten eines Idealismus aufzugehen ; er schien sich einer »Konversion« zum Idealismus unterzogen zu haben. Doch ist eine derartige Betrachtungsweise meiner Meinung nach riicht aufrechtzuerhalten, wenn wir uns die allgemeine Richtung des Denkens Busserls vor Augen führen, wenn wir seine Problematik richtig verstehen. Gaston Berger, ein erstklassiger Interpret Busserls, verwarf insofern die Vorstellung einer »Konversion« innerhalb seines Denkens, als er mehr »eine zunehmende Vertiefung der Untersuchung, die nicht von ihrer Richtung abweicht«, sah. »... es ist allein eine Frage«, sagt er, »des normalen Fortschritts eines Gedankens, der nicht auf der Stelle tritt«. 6 In der Tat mußte Busserl, der »unaufhörliche Anfänger«, der beständige Forscher nach immer radikaleren Einsichten, zugestehen, daß der bloße Begriff der Intentionalität einer tieferen Analyse bedarf. Es reicht nicht aus, obwohl es am Anfang notwendig ist, allein auf der Gegenständlichkeit des Gegenstandes zu bestehen. Es ist vor allem erforderlich, diese Gegenständlichkeit zu bestimmen. »Was das besage, daß Gegenständlichkeit sei«, schrieb Busserl, »und sich als seiende und so seiende erkenntnismäßig ausweise, das muß eben rein aus dem Bewußtsein selbst evident und somit restlos verständlich werden«/ Von daher ist der Begriff der Intentionalität nicht die endgültige Lösung, für die Hirsch ihn hält. Intentionalität ist ein Faktum des bewußten Lebens, und als solches erfordert sie, ebenso wie das 401
Leben selbst, eine weiterreichende Untersuchung, wenn sie verständlich werden soll, und wenn wir, genauer gesagt, verstehen wollen, was es besagt, daß das Bewußtsein intentional ist. Die Originalität Busserls besteht nicht darin, die Intentionalität entdeckt zu haben - dies war nicht seine Entdeckung -, sondern in dem Versuch, diesen Begriff zu erhellen. Hatte er zunächst die Objektivität von einem Psychologismus befreit, fuhr er nun in der Frage nach der Bedeutung dieser Objektivität fort. Und e~. kam zu der Erkenntnis, daß die Gegenständlichkeit des Gegenstandes gänzlich auf die Subjektivität des (transzendentalen) Subjekts zurückzubeziehen ist. Intentionalität ist in der Tat eine nach zwei Seiten hin geöffnete Sache. Wenn jedes Bewußtsein Bewußtsein von einem Gegenstand ist, wenn es keinen Akt geben kann, der nicht irgendeinen Gegenstand intendiert, dann kann es umgekehrt keinen Gegenstand außerhalb eines gegenwärtigen oder möglichen Bewußtseins geben, das diesen intendiert. Zu sagen, daß das Bewußtsein intentional ist, heißt nicht nur, daß, wie Hirsch jedoch meint, das Bewußtsein sich selbst auf einen Gegenstand hin transzendiert. Dies könnte in der Tat einen philosophischen Realismus legitimieren, denn von lediglich einer Seite her betrachtet, ist Phänomenologie eine realistische Philosophie. Doch zu sagen, daß das Bewußtsein intentional ist, heißt darüber hinaus - was Hirsch aber nicht mehr mit nachvollzieht -, daß der Gegenstand immer mittels des Bewußtseins gegeben ist, und faktisch keinen Sinn, kein bestimmtes Sein außerhalb des Bewußtseins besitzt. Hierin liegt sicherlich eine »idealistische« Schlußfolgerung; es bleibt · aber eine spezielle Form von Idealismus, ein transzendentaler Idealismus, da er in keiner Weise die Wirklichkeit und die. Gegenständlichkeit des Gegenstandes verneint. Treffender formuliert, er erhellt ihn, indem er ihn mit den Strukturen des reinen, transzendentalen Bewußtseins verknüpft. Wirklichkeit ist nichts anderes als das, dessen sich das Bewußtsein bewußt ist ; d. h., daß sie das Korrelat des Bewußtseins ist, und daß der Sinn der Wirklichkeit allein im· Bewußtsein zu suchen ist. Wir wollen sehen, was in diesem .Zusammenhang der reale Gegenstand für den reifen Busserl bedeutet. Das wird uns die Möglichkeit eröffnen, den hermeneutischen Gegenstanc! in einer völlig anderen Weise als Hirsch zu verstehen, und uns in Kürze ein Gegenmodell für eine Theorie der Interpretation verschaffen. 402
Jm vierten Abschnitt der Ideen mit dem Titel »Vernunft und Wirklichkeit«, erörtert Hussei-1 die Frage nach der Beziehung des Bewußtseins auf die Gegenständlichkeit (Wirklichkeit).- Diese Erweiterung der vorhergegangenen noetisch-noematischen Untersuchungen ist für viele seiner Leser eine Quelle der Verwirrung. Die Frage nach dem, was der Gegenstand sei, schien doch bereits in dem Paragraphen davor diskutiert worden zu sein. Ist nicht der Gegenstand des Bewußtseins das Noema, das selbst dem Bewußtsein als ein ideales immanent gegeben ist? Hatte nicht Husserl den »wirklichen« Gegenstand eieminiert und an dessen Stelle den intentionalen Gegenstand (Noema) gesetzt? Paul Ricreur, Obersetzer und Kommentator der Ideen, schreibt: »Dieses Absehen von der Deskription wirft für die Interpretation die größten Schwierigkeiten auf«. 8 Doch können diese Schwierigkeiten verringert werden, wenn wir erkennen, daß das, ~as Husserl im vierten Abschnitt .der Ideen darzulegen versucht, darin besteht, von dem Immanenzgedanken her nicht nur den Bewußtseinsgegenstand, sondern die Wirklichkeit selbst zu ergründen. Daher kann die Frage nach dem realen Gegenstand, nach dem Gegenstand als solchem losgelöst vom Bewußtsein, nicht einfach ausgeklammert bzw. ignoriert werden ; die Wirklichkeit selbst muß phänomenologisch erhellt werden, d. h. in Bewußtseinsbegriffen erklärt werden. Hatte Husserl bereits in der Beschreibung der intentionalt~n Struktur des Bewußtseins zwischen dem intentionalen Akt und dem intentionalen Gegenstand unterschieden, sagt. er nun~· daß beide, der Akt (Noesis) und der intentionale Gegenstand (Noema - der »Sinngehait« des Bewußtseins) unmittelbar in Beziehung zueinander stehen, und einen Gegenstand als »realen« Gegenstand intendieren ; ferner daß »... ·jedes intentionale Erlebnis ein Noema und darin einen Sinn hat, durch den es sich auf den Gegenstand bezieht. 9 Dies ist der Gegenstand schlechthin, der in der Umgangssprache als der wirkliche Gegenstand außerhalb des Bewußtseins. bezeichnet wird. Der intentionale Gegenstand ist lediglich der Gegenstand qua Intention, .der Gegenstand seiner Erscheinung nach; er selbst ist nicht identisch mit dem Gegenstand schlechthin, demjenigen, der eine Vielfalt von Bestill'!;tmn-::. genoder B~deutungen (Noemen oder intentionalen Gegenständen) ermöglicht. Fragen wir uns dann, was dieser Gegenstand im Grunde ist, »~ .. stoßen wir schließlich auf die Frage, was die 403
>Prätention< des Bewußtseins, sich wirklich auf ein Gegenständliches zu >beziehen<, >triftiges< zu sein, eigendich besagen«. 10 Wie aus dieser Frage hervorgeht, ist das Problem Busserls auch im Grunde dasjenige Hirschs : die Richtigkeit (Triftigkeit) von Bewußtsein oder Interpretation. Was legitimiert Bewußtseinsinhalte, erklärt sie für gültig? Oder nach Busserl: Was ist der »allgemeine Bau des Noema« ? Worin besteht .die Beziehung zwischen dem Bewußtsein und der Wirklichkeit? Was ist Wirklichkeit? Der Kern der Busserlsehen Antwort kann kurz wiedergegeben werden, wenn auch eine.getreue und adäquate· Darstellung seines Denkens bezüglich dieser Problematik einen beträchtlichen Aufwand an sorgfältiger Interpretation erforderte, Busserl schreibt : »>Gegenstand< ist für uns überall ein Titel für Wesenszusammenhänge des Bewußtseins«. 11 Ferner schreibt er, daß ein »... >wirklicher Gegenstand<... einen Index für ganz bestimmte Systeme teleologisch einheitlicher Bewußtseinsgestaltungen darstellt«. 12 Im wesentlichen meint er damit, daß die Transzendenz des wirklichen Gegenstandes selbst durch das Bewußtsein konstituiert wird. Der »Gegenstand« oder die »Wirklichkeit<< ist nichts anderes als das, was einer »unendlichen idealen Mannigfaltigkeit noetischer Erlebnisse« korrespondiert. 13 Der Unterschied zwi.sehen dem intentionalen Gegenstand und dem Gegenstand schlechthin besteht darin, daß - während der erste das Korrelat eines einzigen >Typus< von intentionalem Akt ist- der letztere derjenige ist, der einer idealen unendlichen Anzahl intentionaler Akte korrespondiert. Folglich kann letzterer nicht etwas »außerhalb« des Bewußtseins oder losgelöst von ihm Existierendes sein. »Eine Welt, Seiendes überhaupt jeder erdenklichen Artung, kommt nicht (»vo·n außen«) in mein Ego, in mein Bewußtseinsleben hinein. Alles Außen ist, was es ist, in diesem Irinen .. «14 »Es gibt keine erdenkliche Stelle, '!"t'O das Bewußtseinsleben durchstoßen und zu durchstoßen wäre und wir auf eine Transzendenz kämen, die anderen Sinn haben könnte als den einer in der "Be\Vußtseinssubjektivität selbst auftretenden intentionalen Einheit«.15 · Wirklichkeit ist vom Bewußtsein nicht zu trennen; »das Bewußtsein selbst urteilt über Wirklichkeit«. 16 »Den Problemen der Wirklichkeit und den korrelativen des sie in sich ausweisen404
den Vernunftbewußtseins müssen wir also neue Überlegungen widmen«. 163 In seiner Interpretation über Husserl schreibt Riccel,l(_: »Das eigentliche Sein des Dinges bleibt eine Idee im Kantischen Sinne, d. h. das regulative Prinzip einer offenen Folge unaufhörlich in Konkordanz befindlicher Erscheinungen«. 17 · Und in einer Interpretation, die selbst die Bestätigung Husserls erhielt, stellte Eugen Fink fest: »Hier hat der >Bezug auf den Gegenstand< nur den Sinn einer Verweisung eines aktuellen Noemas (d. h. eines Korrelates eines isolierten transzendentalen Aktes auf die Mannigfaltigkeit von Aktkorrelaten, die in synthetischem Zusammenhäng stetiger Erfüllung erst die Einheit des Gegenstandes als eines idealen Pols bildet)«. 18 Die Beziehung zwischen dem noematischen Gegenstand und dem Gegenstand schlechthin, zwischen dem Bewußtsein und der Wirklichkeit, wird selbst durch das Bewußtsein konstituiert. Wirklichkeit ist nichts anderes als der ideale Gegenstand aller möglichen Bewußtseinsakte. In diesem Sinne ist sie immanent und vom Bewußtsein nicht zu trennen; ist sie das immanent teleologische Ziel oder der ideale Pol aller Bewußtseinsakte. Durch diesen Begriff von Gegenständlichkeit ist es Husserl gelungen, die Subjekt-Objekt-Dichotomie, das· traditionelle Dilemma, das immer noch die Untersuchungen Hirschs bestimmt, zu überwinden. Es gelang ihm, der Wirklichkeit einen Sinn zu verleihen, indem er mit Hilfe konkreter Erlebnisbegriffe zeigte, was es bedeutet, über Wirklichkeit zu sprechen. Der reale Gegenstand ist kein mysteriöses Ding an sich außerhalb des Bewußtseins, dem wir uns nähern, ohne je erkennen zu können, ob wir es tatsächlich erreicht haben; es ist vielmehr nichts anderes, als cJ_ie immanente, ideale Einheit einer unbestimmten Anzahl noetischer Erlebnisse. Der Gegenstand, die Wirklichkeit oder die Welt sind für Husserl nichts anderes, nicht mehr, als ein »Einheitspol« in der Erfahrung und durch Erfahrung. Er schreibt, daß » ... die ... Welt .. nur den Sinn einer präsumtiven Existenz hat und die Wesensnotwendigkeit behält. Die reale Welt ist nur in der beständig vorgezeichneten Präsumtion, daß die Erfahrung im gleichen konstitutiven. Stil beständig fortlaufen werde«. 20 Meiner Meinung nach ist nun der hermeneutische Gegenstand am sinnvollsten in der Weise zu verstehen, in der Husserl den 405
»Gegenstan~« und die »Wirklichkeit« interpretiert. Dem analog entsprächen die mannigfaltigen Interpretationshypothesen den verschiedenen Noemen, jenen unterschiedlichen Bestimmungen, durch welche der Gegenstand intendiert werden kann. Diese interpretativen Thesen selbst sind auf den hermeneutischen Gegenstand schlechthin bezogen, den sie intendieren, d. h. den textuellen Sinn. Was ist jedoch der Sinn des Textes selbst? Er kann in diesem Fall sicherlich nichts vom interpretierenden Bewußtsein Getrenntes sein; nicht etwas, das »außerhalb« von diesem in einem mysteriösen, transzendentalen Reich in-sichruhender, verdinglichter Bedeutungen besteht. Er existiert allein innerhalb des interpretierenden Bewußtseins, als derjenige Sinngehalt, den er für dieses Bewußtsein hat. Das heißt nicht, daß der Sinn eines Textes, z. B. der eines Textes von Heraklit, lediglich meiner individuellen Entscheidung unterliegt; bedeutet nicht der Willkür, der Subjektivität, dem Relativismus, dem Historizismus Tür und Tor zu öffnen. Der Sinn eines Textes ist genausowenig mit einer beliebigen Interpretation identisch, wie der Gegenstand schlechthin auf ein beliebiges Noema .oder einen intentionalen Gegenstand zu redpzieren ist. Doch ist der Sinn eines Textes, ebenso wie der Gegensta~d, natürlich nicht etwas vollkommen anderes als dessen mannigfaltige Bestimmungen. Er ist genau das ideale (nicht..:reale) :.Telos der Interpretation, dessen immanent teleologisches ZieL Das ist der einzige Sinn, den der Sinn eines Textes letztendlich haben kann. Die Objektivität des Textes kann von der Subjektivität des Interpreten nicht geschieden werden; das einzig denkbare Kriterium für textuellen Sinn ist in der Tat der Interpret (die ganze interpretierende Tradition). Außerhalb des interpretierenden Bewußtseins ist es unmöglich, über den Sinn eines . Textes· zu reden. Das ist kein subjektivistischer Standpunkt, weil Bewußtsein hier nicht subjektivistisch, d. h. als das Bewußtsein meiner selbst oder eines anderen empirisch lebenden Menschen verstanden wird. Man könnte bezüglich eines Textes sagen, was Peirce über die Wirklichkeit sagt, nämlich, »daß einerseits die Realität nicht notwendig vom Denken im allgemeinen unabhängig zu sein braucht, sondern nur davon, was Du oder Ich oder eine begrenzte Anzahl von Menschen über sie denken«. 21 Das gegenteil des naiven Realismus, den wir bei Hirsch finden, ist tatsächlich eine Form subjektiven Idealismus. Denn, sofern wir - wie Hirsch - darauf bestehen, mit Begriffen
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der Subjekt-Objekt-Dichotomie zu operieren, werden wir zwangsläufig immer wieder· in jenem Realismus-IdealismusDilemma uns verstricken. Wir werden solange allergisch auf Subjektivität reagieren, wie wir unsere Hoffnung auf einen unbefleckten - und zudem illusorischen- Realismus setzen, doch nur solange, wie wir uns über die Bedeutung der Wirklichkeit als solcher nicht klar geworden sind. Wäre Hirsch weniger selektiv im Lesen Husserls vorgegangen, wäre er vielleicht auf die nun folgende Ermahnung, die Subjektivität betreffend, gestoßen: »Für philosophische Kinder inag das der dunkle Winkel sein, in dem die Gespenster des Solipsismus, oder auch des Psychologismus, des Relativismus spuken. Der rechte Philosoph wird, statt vor ihnen davonzulaufen, es vorziehen, den dunklen Winkel zu durchleuchten«. 22
III. Unser anderes Verständnis der Werke Husserls lieferte uns quasi ein Gegenmodell für die Bestimmung des hermeneutischen Gegenstandes, und implizit für die der Interpretation überhaupt. Doch erforder.te eine angemessene Darstellung und Legitimation dieses neuen Modells eine ebenso ausgearbeitete Abhandlung wie diejenige von Hirsch. Deshalb werde ich in dem noch verbleibenden Teil dieser Arbeit einen anderen Weg- sozusagen den.einer.. negativen Abgrenzung wählen. Denn wenn der Standpunkt Hirschs als unbefriedigend angesehen werden · kann, wird · der Leser das Bedürfnis"nach einem anderen Zugang zu den Grundlagen hermeneutischer Theorie zu schätzen wissen. Es gibt drei Bereiche, in denen Hirschs Konzept besonders unerwünschte Konsequenzen hat, namentlich jene, die die Fragen der Wahrheit, der Zeit und die der Kreativität betreffen. Folglich wird der letzte Teil dieses Textes aus einer Reihe von Untersuchungen bestehen, die diese Begriffe diskutieren. Allgemein kann man sagen, daß das dem Werke Hirschs zugrundeliegende Begriffssystem, in dem die Subjekt-ObjektDichotomie dominiert, eine Anzahl falscher Dichotomien und·· Pseudoalter.qativen erzeugt, die allein der Verschleierung der tatsächlichen Probleme dienen. Dies ist sicherlich ix"n Zusammenhang mit dem Problem von Wahrheit und Sinn der Fall. Wie wir 407
bereits gesehen haben, möchte Hirsch aus der Interpretation ein ·- 'er.ii;tes Geschäft machen, d. h. eine Wissenschaft. Um aber eine Wissenschaft zu sein, muß eine Disziplin in der Lage sein, den Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit bezüglich ihrer Aussagen erheben zu können. Richtigkeit wiederum ist dann erreicht, wenn qas, was wir über eine Sache aussagen, dem Sachverhalt auch tatsächlich entspricht: veritas est adequatio intellectus ad rem. 04er mit den Worten Hirschs: »Richtigkeit impliziert eine Entsprechung zwischen Interpretation und dur~h den Text wiedergegebenem Sinn« (S. 26). Soll nun ~ine Entsprechung errzielt werden, dann muß es etwas geben, dem entsprochen werden kann, d. h., daß es einen vollkommen determinierten -""'"egenstand geben. muß, wenn richtige Bestimmungen desselben möglich sein sollen. Eben diesem Gedankengang folgend, gerät Hkrsch in die Verabsolutierung des hermeneutischen Gegenstandes : ohne einen definiten Gegenstand gibt es keinerlei Stringenz innerhalb der Interpretation. In dieser Weise stellt Hirsch den Leser vor eine der schlechtesten Pseudo-Altemativen, die es geben kann : Absolutheit oder Relativismus - entweder gibt es ein Absolutes, oder alles wird vollkommen relativ; Nun ist ein uneingeschränkter Relativismus in der Tat ein unhaitbarer Standpunkt für jede Disziplin, die nach echter Erkenntnis strebt, eben weil er die Begriffe von Wahrheit und Richtigkeit zerstört, Das ist ein Punkt, den wir genausowenig wie Hirsch akzeptieren könn-teri: ··was ich jedoch zeigen möchte, ist, daß Hirschs eigene Grundvoraussetzungen emen Relativismus unvermeindlich machen. Hirschs Entsprechungstheorie von Wahrheit, läßt Wahrheit im Grunde unzugänglich, d. h. unmöglich werden. Hirsch selbst gibt zu, daß wir niemals wissen, ob unsere Interpretationen richtig sind, bzw. den vom Autor intendierten Sinn getreu wiedergeben: »Ich kann niemals den von jemand anderem beabsichtigten Sinn mit Sicherheit kennen, da ich nicht in diese Person hineinschlüpfen und den von ihr .beabsichtigten Sinn, mit dem was ich . verstehe, vergleichen kann. Nur durch einen derartigen direkten Vergleich könnte ich mich jedoch vergewissern, daß sein Sinn und meiner identisch sind<< (S. 34). Um. aber nichtsdestoweniger den abstrakten Begriff von Wahrheit, als Moment der Überein.stimmung, zu retten, fügt Hirsch sofort hinzu : »Es ist logisch falsch, die Unmöglichkeit eines gesicherten Verstehens mit der 408
Unmöglichkeit des Verstehens schlechthin zu verwechseln« (S. 34). Aber im Grunde ist Hirsch derjenige, der das Opfer eines logisd~en .Fehlers und verschwommenen Denkens wird. Denn während er auf der einen Seite auf dem vom Autor intendierten Sinn als dem hermeneutischen Gegenstand insistiert, als einer gänzlich determinierten, in-sich-ruhenden, wirklich existierenden Entität, leugnet er auf der anderen Seite, daß wir jemals diesen Sinn erkennen können (oder genauer gesagt, wissen können, daß wir erkennen). Einer solchen Aussage fehlt jede konkre"te Logik. Es wäre sogar angemessener zu sagen, daß Hirsch das; was er uns mit der _einen Hand anbietet, mit der anderen wieder fortnimmt. Doch steht Hirsch·mit dieser Perversion sicherlich nicht allein; alle Verteidiger einer »absoluten« Wahrheit oder »absoluten« Sinns treiben im Grunde >Augenwischerei<. Denn Tatsache ist, daß die Begriffe von absoluter Wahrheit oder absolutem Sinn sinnlose Begriffe sind, · einfach deshalb, weil sie kein Äquivalent in unserer Erfahrung besitzen, bzw. keine bedeutende Rolle in ihr spielen; weil si~ keinen Erlebnisinhalt haben. Oder wie Merleau-Ponty es an einer Stelle formuliert hat~ die zu bezeichnend und zu eloquent ist, ~m sie nicht in voller Länge wiederzugeben : »Falls ... wir den Wunsch hegen, das Faktum der Rationalität oder Kommunikation auf ein Absolutes, sei es des Wertes oder des Denkens zu gründen, dann wirft dieses Absolute entweder keinerlei Schwierigkeiten auf, und Rationalität und Kommunikation bleiben - nach sorgfältiger Prüfung - auf sich selbst gegründet, oder aber das Absolute steigt sozusagen zu ihnen hinab, in welchem Falle es dann alle menschlichen Methoden der Verifikation und Rechtfertigung hinfällig werden läßt. Denn ganz gleich ob es ein absolutes Denken und bezüglich eines jeden praktischen Problems eine absolute Bewert:ung gibt oder nicht, verfüge ich, um ein Urteil zu fällen, doch nur allein über meine Anschauungen, die jedem Irrtum empfänglich bleiben, so streng ich sie auch überprüfen mag. Ebenso bleibt es schwierig, das. Einverständnis mit mir selbst und dem anderen zu erlangen, und für meine feste Überzeugung, daß dieses dennoch im Prinzip stets zu realisieren ist, habe ich keine anderen Gründe um dieses Prinzip zu bejahen, als die Erfahrung gewisser Übereinstimmungen, wenngleich letztlich auch mein Glaube an das Absolute, innerhalb dessen eine. Solidität besteht, nichts anderes ist, als 409
meine Erfahrung eines Einverständnisses mit mir selbst und dem anderen. Obwohl es nicht nutzlos ist, zerstört doch der Rückgang auf einen absoluten Grund dasjenige, was er gründen soll«.23 Sicherlich versucht Hirsch den Begriff einer absoluten Wahrheit zu bewahren, indem er sagt, daß, wenn ich auch niemals einer Interpretation absolut sicher sein kann, ich nichtsdestoweniger wahrscheinlich sicher sein kann. Gerade in dieser Hinsicht spielt der Begriff der Wahrscheinlichkeitsurteile in seinem Denken eine entscheidende Rolle. Er stellt, so könnte man sagen, eine Art von Notbehelf dar, der jedoch gleichermaßen zum Scheitern verurteilt ist. Denn falls, wie ich bereits betonte, absolute Wahrheit und insich-bestehender Sinn sinnlose Begriffe sind, erweist sich der Begriff einer Annäherung an derartige Entitäten (Wahrscheinlichkeit) als ebenso sinnlos. Wenn wir von daher gegen Hirschs Verstehensbegriff argumentieren, geschieht das nicht aus dem Wunsch heraus, die Möglichkeit von Verstehen generell zu leugnen, was Hirsch eigentlich müßte, sondern weil wir einen anderen finden möchten- gerade um (in einer sinnvollen Weise) die Möglichkeit von Verstehen und von Wahrheit zu verteidigen. Hirschs eigener Standpunkt ruft im Grunde einen Relativismus und Skeptizismus hervor insofern, als ein unzugängliches, absolutes An-sich, das auf der Suche nach ihm zwangsläufig eine Quelle permanenter Frustration werden muß, hinfällig wird, indem es einen Zweifel bezüglich seiner eigenen Existenz, der letztlich eine Art resignierten Agnostizismus provoziert. Wie Nietzsche richtig erkannte, entwertet menschliche Erfahrung und Wahrheit nichts mehr; als das Postulat eines absoluten Wertes und einer absoluten Wahrheit. Der einzige Verstehensbegriff, der Verstehen möglich macht, ist konsequenterweise ein solcher, der es mittels reiner Erfahrungsbegriffe erlaßt, d. h. einer, der nicht den hermeneutischen Gegenstand von der interpretativen Erfahrung trennt, sondern eine immanente Darstellung desselben gibt, die einzig sinnvolle Darstellungsform, die möglich ist. Ein Begriff dieser Art ist der phänomenologische, welcher ursprünglich von Husserl geprägt wurde. Obgleich Husserls Konzept den Begriff eines absoluten Gegenstandes verneint, impliziert es dennoch keinen Subjektivismus bzw. Relativismus, da eine rein auf Erfahrung aufbauende Darstellung des Gegenstandes noch keine »Subjektivierung« 410
desselben bedeutet. Trotzdem gibt es etwas innerhalb des realen Gegenstandes, was für eine Art außerhalb von Erfahrung liegender Existenz spricht. Falsch ausgelegt, kann dieses Faktum der Erfahrung die philosophische Absurdität eines absoluten An-sich hervorrufen. Von daher sollten wir - · um diese Form von absurdem Realismus zu vermeiden, und um Erfahrung richtig begrifflich zu erfassen - mehr von einer über alle Erfahrung hinausgehenden Wirklichkeit sprechen, da allein schon die Rede von einem allgemein realen Gegenstand eine Art von Transzendierung einbezieht. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß dieses eine Transzendenz ist, die wir selbst in unserer eigenen Erfahrung entdecken, w~shalb der Gegenstand nicht als eine Wirklichk~it: ari' sich, sondern als ·eine »Transzendenz in der Immanenz« zu bestimmen wäre~ Dieser Begriff einer »Transzendenz in der Immanenz« bildet - in umfassender Ausarbeitung - meiner Meinung nach. die einzig lebensfähige Alternative, sowohl gegenüber einem absurden und naiven Realismus, als auch einem unzulänglichen subjektiven Idealismus ; müßte einer jeden befriedigenden Theorie der Interpretation zugrunde liegen. Eine gänzlich jenseits von Erfahrung liegende Wirklichkeitist ein sinnentleerter Begriff; es ist jedoch möglich, in unserer Erfahrung eine Transzendenz zu entdecken, die, obwohl auf Erfahrung bezogen, dennoch nicht auf diese selbst zu reduzieren ist. Im Gegensatz zu der höchst abstrakten Vorgehensweise Hirschs wäre es besser, nicht die Frage zu stellen: was macht eine Interpretation wahr oder richtig?, weil gerade sie uns dazu verleiten könnte; in eine Abbildtheorie von Wahrheit zu flüchten, und uns dann· unweigerlich all den darin .versteckten Fallen ausliefern wird; statt dessen sollten wir fragen: Warum akzeptieren Wissenschaftler, die einen vorgegebenen Text bearbeiten, tatsächlich eine Interpretation im. Gegensatz zu einer anderen ? Stellen wir die Frage in dieser Konkretheit, werden wir sofort erkennen, welche Antworten nicht möglich sind. Man kann nicht davon ausgehen, daß sie die Interpretation annehmen, weil sie wahr, oder im Gegensatz zu einer anderen richtiger ist. Das hieße · soviel, wie die in Frage gestellte Sache bereits als beantwortet anzusehen, was uns in diesem Falle kaum weiterhilft. Sie können ihre Interpr~tation nicht an der Wahrheit messen und treffen folglich eine Auswahl, eben.weil >>Wahrheit« etwas ist, was sie· allein besitzen können, nachdem bzw. indem sie bereits für eine 411
bestimmte Interpretation optiert haben. In pragmatischer Hinsicht . wäre es letztlich sinnvoller zu sagen, daß die wahre Interpretation einzig und allein aus dem Grunde wahr ist, weil sie als solche akzeptiert wird. Eine Interpretation generell als wahr rzirbezeichnen wird unhaltbar, und bedeutet nicht mehr, als daß sie von der Gemeinschaft der Interpreten allgemein anerkannt wird. Jeder darüber hinausgehende Begriff von Wahrheit kann allein noch von rein sprachlicher Bedeutung sein. Die einzig mögliche Antwort auf die Frage, war1,1m eine Interpretation einer anderen vorgezogen wird, h~utet: weil sie frJJchtbarer und aussichtsreicher erscheint, dem.Text mehr oder einen besseren Sinn verleiht als andere Interpretationen ; weitere Sinnhorizonte eröffnet. Wahrheit ist somit ihrem Wesen nach präsumtiver Natur, denn über Aussichten zu sprechen bedeutet über Zukunft zu reden. Richtigkeit mißt sich demzufolge nicht an .. der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Eine Geltungsprüfung ist nichts anderes als die harmonische Entfaltung und wechselseitige Bestätigung methodisch gewonnener Erfahrungen. Das wiederum heißt, daß sich Erkennen kaum von Glauben unterscheidet. Denn wenn wir für eine bestimmte Interpretation optieren, dami nicht, weil wi~ wissen, daß sie wahr ist (selbst Hirsch gesteht das ein), sondern weil wir glauben, daß sie die beste ist, diejenige, die uns die größten Aussichten eröffnet, und am geeignesten erscheint, uns den Text einsehbar und verständlich zu machen. So wie Busserl sagte, daß die Existenz der Welt eine gänzlich präsumtive ist, und die Rede von der Existenz einer realen Welt nicht mehr heißt, als daß wir an eine fortwährende, harmonische Selbstentfaltung · unserer Erfahrung glauben, sollten wir die Realität des hermeneutischen Gegenstandes als eine gänzlich präsumtive bestimmen. Der Sinn eines Textes läßt sich unter keinen Umständen von dem Sinn, den dieser für uns hat, trennen ; was ein Text bedeutet, ist von .daher nichts anderes als das immanente Ziel des Interpretationsprozesses. Es ist seinem Wesen nach zukünftiger Natur. Entscheidungen zwischen möglichen Textinterpretationen zu treffen, ist- wie Hirsch selbst sagen würde - nichts anderes, als zwischen interpretativen Schemata bezogen auf Wirklichkeit innerhalb der Naturwissenschaften zu entscheiden. Dennoch glaube ich, daß eine ex:aktere Analyse g~.rade_ dessen, was in den Naturwissenschaften geschieht, mehr noch bei Thomas Kuhn als bei Hirsch zu finden ist. In der 412
Reflexion auf die Frage, warum Wissenschaftler für ein bestimmtes interpretatives Schema, bzw. für ein - wie er es nennt »Paradigma« optieren, schreibt Kuhn in seinem Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« : »In Paradigmadiskussionen geht es aber nicht eigentlich um relative Problemlösungsfähigkeit, auch wenn sie sich aus gutem Grunde gewöhnlich um diesen Begriff drehen. Vielmehr handelt · es sich darum, welches Paradigma künftig die Forschung bei Problemen leiten soll, von denen viele durch keinen der Konkurrenten bisher vollständig gelöst werden konnten. Eine· Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten für die Ausübung der Wissenschaft ist erforderlich, und unter den gegebenen Umständen muß diese Entscheidung weniger auf vergangene Leistungen als auf zukünftige Aussichten gegründet werden. Derjenige, der ein neues Paradigma in einem frühep Stadium annimmt, muß das oft entgegen den durch Problemlösungen gelieferten Beweisen tun. Das heißt, er muß den Glauben haben, daß das neue Paradigma mit den vielen großen Problemen, mit denen es konfrontiert ist, fertig werden kann, wobei er nur weiß, daß das alte Paradigma bei einigen versagt hat. Eine Entscheidung dieser Art kann nur aufgrund eines Glaubens getroffen werden«.24 · Es ist vielleicht kein Zufall, daß bestimmte Bemerkungen Kuhns auf die Theorie der Hermeneutik zu übertragen sind. Was Kuhn nämlich wirklich zeigen konnte ist, daß die Naturwissenschaften selbst als eine Möglichkeit zu verstehen sind, in der der Mensch die Welt interpretiert. In erster Linie interessant an Kuhns Darlegungen sind jedoch deren Gesamtimplikationen hinsichtlich des Wesens naturwissenschaftlicheer Forschung selbst. Unser gewöhnliches Bild von den Naturwissenschaften besteht darin, sich diese als eine »objektive« Repräsentation und Beschreibung der Natur vorzustellen. Die Geschichte der Wissenschaften und wissenschaftlicher Revolutionen beweist jedoch genau das Gegenteil; sie zeigt, daß die Naturwissenschaften in Wirklichkeit etwas völlig anderes als jene abstrakte Vorstellung sind. Was die Naturwissenschaften über die Welt aussagen, hängt nicht davon ab, wie die Dinge an sich vermutlich sind, sondern von der Tatsache, daß der Wissenschaftler die Welt mittels eines spezifischen Paradigmas oder Modells betrachtet. Die Art und Weise, in der dieser die Welt betrachtet, bestimmt, was die Welt, die er 413
sieht, ist. Das heißt, daß sich im Falle einer wissenschaftlichen Revolution nicht nur der lehrmäßige Umfang der Naturwissenschaften ändert, sondern die Welt selbst einer Transformation unterliegt, heißt, »daß bei einem Paradigmawechsel die \VIelt sich ebenfalls verändert«. 25 Das wird vollkommen verständlich, wenn wir einseh.en, daß das, was die Welt ihrer Erscheinung nach ist, völlig von unserer Betrachtungsweise und Einwirkung auf sie abhängig ist. Die einzigen Antworten, die die Welt uns gibt, erfolgen auf Fragen, die wir ihr gestellt haben. Und oft beantwortet die Natur jene Fragen des Wissenschaftlers wie das Orakel von Delphi, weder bejahend, noch verneinend, wie Heraklit erzählt, sondern allein in Rätseln andeutend. Die Natur liebt es in der Tat sich zu verstecken, wie Heraklit ebenso bemerkt; sie beantwortet lediglich jene an sie gerichteten Fragen, und dann. mit all der Doppeldeutigkeit und listigen Verschwiegenheit, die die Frage selbst erlaubt. Ihre Antworten wechseln und variieren immer gemäß den ihr gestellten Fragen, und gerade deshalb ist es äußerst schwierig zu erkennen, ob wir überhaupt die Antworten erhalten, nach denen wir in Wirklichkeit suchen (können wir sicher sein, die richtige Frage gestellt zu haben?). Darum sollten wir, bevor wir uns überstürzt auf eine Don-Quichotte-hafte Suche nach ·einer ·reinen und ursprünglichen »Objektivität« begeben, zu ·allererst unsere eigene Subjektivität erhellen, da gerade sie dasjenige bestimmt, was wir finden werden. Eben aus diesem Grunde beendete Husserl seine Pariser Vorträge mit der nun folgenden Ermahnung des Augustinus : N oli foras ire, in te redi, z'n interiore homine habitat veritas. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist folglich kein passives Abbilden, sondern eine aktive Konstruktion und Konstitution der Wirklichkeit. Zusammenfassend sind die Naturwissenschaften lediglich eine Weise, in der wir schöpferisch die Wirklichkeit interpretieren; der Zugang zu einer absoluten Wirklichkeit oder Wahrheit ist auch hier nicht größer, als in jeder anderen Form von Interpretation. Die Quintessenz Kuhns historischer und erkenntnistheoretischer Analysen liegt meiner Meinung n<J.ch in jener Forderung, unser traditionelles Wissenschaftsverständnis grundlegend zu ändern. Doch müssen wir nicht allein dieses, sondern ebenso unsere Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit revidieren. Kuhn selbst scheint im Grunde auf so etwas anzuspielen, wenn er sich
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beiläufig über die Notwendigkeit einer »lebensfähigen Alternative für das traditionelle erkenntnis-theoretische Paradigma«26 äußert. Dochtrotz seiner Unzufriedenheit mit dem »erkenntnistheoretischen Standpunkt, der die westliche Philosophie während dreier Jahrhunderte so oft geleitet hat« 27, kann auch Kuhn, aus Mangel an. einer ausgereiften Alternative, sich nicht völlig von dieser Sehweise freimachen. Erforderlich ist - so könnte man sagen - eine fruchtbare und allsgearbeitete Alternative zu· dem traditionellen metaphysischen . und erkenntnistheoretischen Standpunkt; den wir bei Hirsch noch in Arbeit · sahen. Die Philosophie, deren Aufgabe in der Grundlegung und Erhellurig erkenntnistheoretischer und metaphysischer »Paradigmata« besteht, steckt momentan in einer Krise, vergleichbar mit jenen periodisch auftretenden Krisen innerhalb der Naturwissenschaften, welche Kuhn beschreibt, und die oftmals nichts anderes sind, als die Einleitung zu einer Revolution oder einem Paradigmenwechsel. Immer mehr erweisen sich die traditionellen philosophischen Paradigmata für eine stetig anwachsende Zahl von Leuten als unbefriedigend, doch gibt es scheinbar bis heute noch keinen allgemeinen Konsens darüber, was an deren Stelle zu treten habe. Radikale Kritik an der traditionellen metaphysischen ·und erkenntnistheoretischen Sehweise wurde in diesem Jahrhundert-. bereits von verschiedenen Strömungen, wie der Phänomenologie und dem Pragmatismus geübt. Von mehr als einer philosophischen Richtung wurde der traditionelle Substanzbegriff heftig angegriffen, von gegenwärtigen Philosophen, die auf anderer Ebene äußerst wenig gemeinsam haben. Doch trotz der scharfen Kritik an der Tradition, .wurde diese, betrachtet man die Philosophie im Ganzen, noch nicht erfolgreich überwunden. Immer noch fehlt es an einer lebensfähigen Alternative zu dem traditionellen substanzorientierten Paradigma, dem traditionellen Begriffssystem oder der Begrifflichkeit, um einen· Ausdruck Heideggers zu gebrauchen. Eine gewisse Bewegung auf einen bestimmten Punkt hin, scheint jedoch erkennbar zu sein; generelr scheint sich die Philosophie von dem Begriff der Realität, als einer Statischen, Sich-selbst-Identischen und Zeitlosen fortzubewegen, auf einen Begriff hin, der Wirklichkeit als essentiell Historisches und Schöpferisches - wie einige sagen würden -, oder als einen · Prozeß - anderen zufolge - betrachtet. Es ist jedoch verständlich, daß in der gegenwärtigen Krise viele mehr dazu .geneigt sind, an 415
der traditionellen Begrifflichkeit festzuhalteri, z(imal wenn die einzig ihnen ersichtliche Alternative Bestimmtheit zugunsten eines chaotischen Flusses, Relativismus, Skeptizismus; einer völligen Negation von Wahrheit und eines konsequenten Nihilismus aufzugeben scheint. Ein Beispiel für diese Situation ist Nietzsche; denn während seine Kritik an der Tradition alles bislang Dagewesene restlos zerstört, ist die einzige, scheinbar aus seinem Denken resultierende bzw. dort ersichtliche Alternative zu dem von ihm selbst verworfenen »Willen zur Wahrheit«, ein abgrundtiefer Nihilismus - trotz der eigens vön ihm betonten Abneigung gegen selhigen. Falls es nichts besseres gibt als einen Nietzsche, ,dann ist es verständlich, daß _viele dessen Kritizismus lieber ablehnen bzw. ignorieren, und nun noch mehr verunsichert an einem abgenutzten und bankrotten Begriffssystem festhalten. Ein wenig Licht ist immer noch besser als keins; auch bleibt der Wille zur Wahrheit eiiier'Vergötterung von Wahnsinn und unverantwortlicher Einfalt vorzuziehen. Die heutige Aufgabe der Philosophie liegt von daher in einer wie Kuhn sagen würde - sinnvollen Begründung einer ausgereiften Alternative. Die mit dem Cartesianischen Subjektivismus aufgekommene Subjekt-Objekt-Dichotomie - das gemeinsame Problem aller neuzeitlichen Philosophie- wurde grundlegend für das gesamte naturwissenschaftliche Begriffssystem, das Hirsch nun wiederum den Geisteswissenschaften aufzubürden versucht. Doch gerade diese Dichotomie hat heutzutage die Philosophie in einem entscheidenden Schritt zu überwinden. Ebenso wie die New.ton'sche Epoche zu Ende ging, hat die tiefergreifendere und alles beherrschende Cartesianische Epoche ihr Endstadium erreicht. Doch ebenso wie Zarathustras Städter, die den »Tod Gottes« (d. h. das Ende des Platonismus) ignorierten, scheinen viele heute die Tatsache zu übersehen, daß die Grundlagen ihres traditionellen Weltbildes bereits unter ihren Füßen zusammengebrochen sind. Entweder fehlen der Philosophie jene Einsteins und Heisenbergs, die notwendig wären, um jene erforderliche konzeptionelle ·Revolution zu bewirken, oder aber sie hat sie schon besessen, muß aber - im Gegensatz ZU ihren naturwissenschaftlichen Kollegen - ihr Epoche-machendes Denken erst noch verarbeiten. Die Philosophie schreitet, das ist wahr, meist in subtileren und unmerklicheren Schritten vorwärts als die Naturwissenschaften es tun.
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Der grundsätzliche Fehler Hirschs besteht darin, daß sein Versuch, Hermeneutik im Lichte der Naturwissenschaften neu zu durchdenken; ihn hinderte zu erkennen, daß sowohl das traditionelle Paradigma naturwissenschaftlicher Objektivität, als auch die traditionellen Begriffe von Wahrheit und Realität, einer kritischen Überarbeitung bedürfen. Es ist weniger, daß Hirsch unlogisch denkt, als daß er in die Irre geleitet noch immer um eine Sache kämpft, die inzwischen fast alle, wenn nicht sogar ihre gesamte Oberzeugungskraft und »Relevanz« verloren hat. Hirschs Irrtum im Hinblick auf Hermeneutik ist demjenigen eines ausgeprägten Behavioristen in ·der Psychologie vergleichbar: in beiden Fällen führten der Versuch, ultra-wissenschaftlich zu sein, und eine irrationale Abneigung gegenüber allem »Subjektiven« dazu, Disziplinen analog einer in der Form nicht mehr existierenden physikalischen Wissenschaft zu entwerfen, oder genauer formuliert, analog einem spezifischen Wissenschaftsbegriff, der mittlerweile gänzlich überholt ist. Hirschs im Grunde positivistisches Wissenschaftsverständnis ist längst voh vielen modernen Wissenschaftstheoretikern zerstört worden, zum Beispiel von Polanyi, der schreibt: . »Es ist an sich selbstverständlich, daß niemand- Wissenschaftler eingeschlossen - das Universum in der Weise betrachtet, was immer auch bloße Worte über »Objektivität« zu sagen haben. Dies sollte uns keineswegs überraschen. Denn als menschliche Lebewesen sind wir unweigerlich gezwungen, das Universum von einem Zentrum aus zu betrachten, das in uns selber liegt, und müssen wir darüber in Begriffen einer menschlichen Sprache reden, die durch die Anforderunen zwischenmenschlicher Beziehungen geprägt worden sind. Jeglicher Versuch, unsere menschliche Perspektive aus unserem Weltbild strikt zu eleminieren, muß eine Absurdität zur Folge haben«. 28 Diese Absurdität ist es jedoch, die in Hirschs hermeneutischem Realismus gegenwärtig ist und worauf ich in diesem Text aufmerksam zu machen versuchte. Bis zu diesem Punkt habe ich mich jedoch ausschließlich mit jenem Hirschs Werk zugrunde liegenden Begriff von ·Wahrheit befaßt. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere Schlüsselbegriffe, die abschließend zu kritisieren bleiben: Zeit und Kreativität. Hirschs naive Abbildtheorie von Wahrheit veranlaßte ihn, sich den Sinn als etwas Abzubildendes, Reproduzierbares, d. h. 417
als eine in-sich-ruhende, determinierte Entität zu denken. Doch gerade diese Definition von Sinn, läßt diesen nicht mehr als sinnlos erscheinen. Außerdem führt die unkritische Wissenschaftlichkeit Hirschs zU: einer Hypostasierung von Sinn als einer zeitlosen Entität. Hirsch schreibt, wie wir bereits gesehen haben: »Wenn ich sage, daß ein Wortsinn determiniert ist, so meine ich deshalb, daß er eine mit sich selbst identische Einheit ist. Ich · meine ferner, daß er eine Einheit ist, die sich stets gleich bleibt,· . also unveränderlich ist« (S. 68). Nun muß der Sinn nach Hirsch tatsächlich unveränderlich sein, jenseits der Gezeiten von Geschichte existieren, wenn es stets der gleiche Sinn sein soll - und der gleiche muß es sein, wenn er »Objektivität« besitzen soll-, der in den verschiedenen Interpretationen »reproduziert« wird. Es ist, mit anderen Worten, die Angst vor der völligen Relativität,· die Hirsch zwingt, dem Sinn ein ewiges Dasein zu verleihen. Er argumentiert für die Zeit-. losigkeit von Sinn, weil es ohne diese »keine beständige Norm gebe, mittels derer Richtigkeitsurteile gefällt werden können« Oder: »Die Bedeutung des Textsinns ist weder fundiert noch objektiv, sofern nicht der Sinn selbst unveränderlich ist« (S. 268). Erneut werden wir: in die Zwangsjacke eines kompromißlosen Entweder-Oder ge$teckt: entweder gibt es in bezug auf die Erscheinungswelt (z. B. den Interpretationen) einen absoluten, zeitlosen Grund oder alles ist nichtig und relativ. Diese fälschliche, nicht annehmbare Alternative läßt Hirsch eine PseudoUnterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« treffen, d. h. zwischen dem Textsinn an sich (der unveränderlich bleibt) und dem Sinn oder der Bedeutung eines Textes, den dieser für uns, der Zeitkritik, besitzt (die zwangsläufig einem permanenten Wechsel unterliegen). Nicht der Textsinn selbst ändert sich, sondern lediglich unsere Interpretationen desselben : »Die Historizität der Interpretation ist jedoch etwas ganz anderes als die Zeitlosigkeit des Verständnisses« (S. 176/77). Während auf den ersten Blick diese Differenzierung in »Sinn« und »Bedeutung« genial erscheinen könnte, ist es aber in Wirklichkeit äußerst schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, zu erkennen, welcher Erfahrungswirklichkeit diese korrespondiert. Denn falls, wie Hirsch selbst eingesteht, unsere Interpretationen sich ständig ändern) was ermöglicht uns dann, sich eine Vorstellung von einem jenseits von · Interpretation liegenden, unveränderlichen Sinn zu bilden ? Es 418
geschieht sicherlich nicht mittels dieser Interpretationen selbst, werden diese per Definition als »historische« charakterisiert. Besteht tatsächlich das einzige, was wir tun können, darin, gute Interpretationen zu ersinnen, müßten wir, das ist die Konsequenz, die aus Hirschs Denken resultiert, für immer dazu verdammt sein, auf der Schattenseite eines unzugänglichen, zeitlosen Verständnisses herumzuirren. In Wirklichkeit ist also Hirsch derjenige, der die MÖglichkeit realen Verstehens untergr~bt. Seine. Überbewertung des hermeneutischen Gegenstandes führt, obwohl er das offensichtlich nicht erkennt; zu einer völligen Entwertung menschlichen Verstehens. Man müßte schon den zeitlosen Verstand eines überirdischen Wesens besitzen, um Hirschs zeitlosen Sinn zu begreifen .. Hirschs Verstehensbegriff steht sicherlich in· keinerlei Beziehung zur Historizität menschlichen Verstehens. Daß sich die·»kulturellen Gegebenheiten« der Interpretation im Laufe der Zeit ändern, sieht Hirsch zwar ein, hält dem aber gleichermaßen entgegen: »Impliziert dies jedoch Änderungen des Textsinns selbst?« (S. 267). Da es für Hirsch undenkbar ist, daß der Sinn selbst sich wandeln könnte, ist dies sicherlich eine rein rhetorisch aufzufassende Frage; denn träte jenes ein, gähe es keine Normen mehr, lediglich ein völliges Chaos. Es ist jedoch notwendig zu erkennen, daß der Sinn sich ändert, und die Geschichte menschlichen Verstehens dennoch kein völliges Chaos ist, einfach deshalb, weil ihr eine gewisse innere Logik innewohnt. Mit jeder neuen Interpretation unterliegt der Sinn selbst einer Entwicklung, ebenso wie sich, um mit Kuhn zu reden, parallel dem Wechsel naturwissenschaftlicher Paradigmata die für uns existierende Welt verändert. Ein Text hat keine andere Bedeutung als diejenige, der er (gegenwärtig oder potentiell) f_ür uns besitzt, und diese variiert. Denn der Hinweis darauf, daß unser Textverständnis sich verändert, heißt nichts anderes, als··daß~ der für uns in diesem Zusammenhang geltende Sinn sich ebenso geändert hat. ·Wenn wir im Zuge der Interpretationen immer mehr Bedeutungen dem Text entnehme.p.,- wobei in vielen Fällen eine der neu formulierten Bedeutungen einer vorhergehenden widerspricht-, wenn wir also immer mehr Bedeutungen innerhalb eines Textes erkennen, wird der Text selbst immer sinnvoller. Sicherlich gibt es in jedem vorliegenden Text ein Moment, das nach seinem eigenen Gesetze nach zu berücksichtigen ist und 419
individuelle Interpretationen legitimiert; kein .Text erlaubt irgendeine beliebige Interpretation. Jedoch sind diese Interpretationen keine bloßen Abbildungen fester Bedeutungen, die immer schon im Text enthalten sind~ sondern Realisationen eines immer reicher werdenden Sinns. Interpretation ist keine Schöpfung ex nJhiJ.o, aber nichtsdestoweniger kreativ ; es kann kaum geleugnet werden, daß mit jeder Interpretation etwas »Neues« entsteht. Anstatt falsche Dichotomien zwischen dem textuellen Sinn an sich und einem für uns geltenden Sinn, zwischen Verstehen und Interpretation, und anderen ähnlicher Art aufzumachen, sollten wir· die Existenz einer Dialektik zwischen dem Text und der Interpretation erkennen, eine Dialektik, die irreduzibel ist, das Zentrum eines jedeit neu entstehenden Sinns. Interpretation ist, so könnte man sagen, motivierte Schöpfung. Die Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung«, zwischen· »Interpretation«· und »Kritik« könnte allerdings beibehalten werden, wenn man die jeweiligen Begriffe nicht als polare Gegensätze betrachtet. Das, was Hirsch als »Kritik« bezeichnet, übernimmt die Aufgabe, den Sinn eine's Textes für das Verständnis der Zeitgenossen .relevant zu machen, indem sie ihn mit deren Interessen und Vorutteilen in Beziehung setzt; und es ist richtig, daß eine bestimmte Bedeutung allein von Relevanz sein· kann, nachdem sie durch die Interpretation bereits determiniert worden ist. Es besteht ein Unterschied zwischen Sinnerkenntnis (Interpretation) und der Übertragung eines Sinns (Kritik). Doch ist der Sinn eines Textes, als ein durch die Interpretation festgelegter, kein unveränderlicher und in-sich-selbst-bestehender; er entsteht und existiert allein innerhalb der, bzw. durch Interpretationsakte, denen er essentiell verbunden bleibt. Obwohl Interpretation und Kritik . zwei verschiedene Arten aktiven Verstehens sind und hierin unterschiedliche Funktionen ausüben, ist es dennoch unmöglich, sie wie Hirsch derart radikal voneinander zu trennen. In letzter Konsequenz führt der Standpunkt Hirschs zu einer durchgängigen Abwertung von Geschichte, der gleichen Abwertung, wie sie in der gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Dinge vorzufll;lden ist. Für den üblich praktizierenden Wissenschaftler ist die Geschichte seiner eigenen Disziplin zumeist ein Gegenstand geringen oder gar keinen Interesses. Sein Wissen um diese Geschichte geht normalerweise nicht über das hitiaus, was er in der Fachliteratur gelernt hat. 420.
Diesem Verhältnis liegt, wie Kuhn gezeigt hat, ein spezifischer Geschichtsbegriff zugrunde, einer, der die Geschichte als einen reinen _Anhäufungsprozeß betrachtet, innerhalb dessen das Alte einfach überwunden bzw. verdrängt wird durch eine- wieviel sie auch davon enthalten mag- entwickeltere Gegenwarts-Wahrheit. Geschichte wird hier als ein gradliniger Prozeß verstanden, deren Wahrheiten durch jeweils bessere oder einsichtigere ersetzt werden. Gleiches müßte innerhalb der Hermeneutik Hirschs der Fall sein. Denn wenn man unter Anwendung von Hirschs »experimenteller« Methode ·eine »richtige« Interpretation erzielt, werden automatisch alle vorhergegangenen Interpretad~neQ verdrängt und auf den Abfallhaufen der Geschichte verbannt. Die Geschichte menschlichen Verstehens ist hier nicht mehr als ein riesiger Müllberg weggeworfener Interpretationen. Das vielleicht störendste Moment an dem Standpunkt Hirschs sind schließlich dessen Implikationen hinsichtlich der Kreativität. Hirsch hat zu diesem Punkt eigendich kaum etwas zu sagen, und das wenige, was er dennoch erwähnt, ist rein negativer Natur. Das ist insofern nicht verwunderlich, als Hirsch, in seinem Eifer »wissenschaftlich« zu sein, völlig verkennt, daß die Naturwissenschaften selbst im Grunde ein schöpferisches Unternehmen sind, immer dann, wenn ein Wissenschaftler neue Erkenntnisse gewinnt. Es gibt keine objektive Wahrheit an sich, die den Wissenschaftler zwingen könnte, seine revolutionären Theorien in der We_ise zu formulieren, wie er es tut; zu tieferen Einsichten gelangt hier die Welt allein, weil der Wissenschaftler sich entschlossen hat, sie in einer bestimmten originären Weise zu betrachten. Freiheit und Kreativität finden jedoch keinen Platz in Hirschs »Wissenschaft« der Interpretation : ·»Wenn wir den von jemand anderem ~ntendierten Sinn erschließen, so sind wir in unserem Handeln nicht frei« (S. 182). Es ist richtig, daß Wissenschafder gern behaupten,- keine andere Wahl gehabt zu haben, als die Theorie so zu formulieren, wie sie es taten; es war, wie sie zu sagen pflegen, das »Beweismaterial«, das sie zu ihren Schlüssen zwang. Die Geschichte der Naturwissenschaften selbst zeigt jedoch, was für ein Mythos dieses ist. Nicht das »Beweismaterial« als solches produziert schon automatisch eine bestimmte Theorie im Bewußtsein des Wissenschaftlers, eben weil das, was »Beweismaterial« oder »Tatsachen« sind, stets davon abhängt, in welcher Weise der Wissenschaftler die Dinge ZU betrachtensucht. 421
Deshalb sollten wir, weit davon entfernt Kreativität und Freiheit aus der Interpretation zu verbannen, einsehen, daß Interpretation allein aufgrund der Kreativität menschlichen V erstehens möglich wird. Die Sache ist hiermit aber noch nicht zu Ende. So wie Hirsch einerseits die Kreativität aus der Interpretation verbannt, interpretiert er in einer, meiner Meinung nach, ebenso sinnlosen Weise den Begriff von Kreativität oder Inspiration hinsichtlich der Komposition eines Textes selbst. Von einem inspirierten Werk zu reden meint letztlich nichts anderes, als daß der Sinn dessen, was ein_ Autor schrieb, dasjenige übersteigt, was er selbst wußte oder wollte.29 Dieses außer- oder überintentionale Element innerhalb eines Werkes läßt es klassisch oder, treffender formuliert, zu einer lebendigen Klassik werden, einem Werk, das ein Eigenleben über dasjenige seines Autors hinaus zu führen vermag; das es mehr werden läßt als zu einem leblosen Gegenstand bloßen historiographischen und archivalischen Interesses. Der Text als solcher ist kein sich selbst beinhaltender, bestimmter Sinn, sondern allenfalls die »Aussicht« auf einen Sinn. Der Sinn eines Textes ist, anders als das physikalische Dokument; das sein eigener Inhalt ist, sicherlich keine substantielle Entität (denn falls er das wäre, hätten wir sofort die absurde Frage auf der Hand: wo existiert diese Entität?). Der· Sinn 'eines Textes ist das, was ein Text uns zu verstehen gibt ; ist eine Aufforderung und verlangt nach. einer Interpretation, und Interpretation wiederum ist die effektive Realisation der Aussichten eines Textes. Was eip. Text tatsächlich bedeutet, ist folglich von der Geschichte der Interpretationen, so könnte man sich an Bultmann erinnernd sagen, ist ein Ereignis, dessen Essenz eschatologisch ist. Oder aber wie Paul Rica:ur es formulierte: »... die Laufbahn eines Textes entflieht dem begrenzten Erlebnishorizont seines Autors. Was ein Text uns heute sagt, ist wichtiger als das, was der Autor sagen wollte, und eine jede Auslegung entfaltet ihre Vorgaben im Umkreis eines Sinns, der die Vertäuungen zu der Psychologie seines Autors zerrissen hat«. 30 Rica:ur versuchte, Handlung nach dem.Modell eines Textes zu interpretieren, doch könnte man diesen Vergleich ebenso umkehren und einen Text in der Weise bestimmen, wie Hannah Arendt Handlung definiert : »Darum kennen die volle Bedeutung dessen, was sich handelnd
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jeweils ereignete, nicht diejenigen, die in das Handeln verstrickt waren und direkt von ihm betroffen, sondern derjenige, der schließlich die Geschichte überblickt und sie erzählt. Die Rede von dem Historiker als dem rückwärts gewandten Propheten hat in der Tat so viel für sich, daß der Geschichtsschreiber es wirklich gemeinhin besser weiß als diejenigen, die ihm zu seinen Geschichten ~erholfen haben. In der Hand des Historikers werden die von den Handelnden selbst erstatteten Berichte un.d Memoiren zum Quellenmaterial, das auf seine Relevanz und Glaubwürdigkeit im Ganzeil erst geprüft werden muß, und dies selbst in den seltenen Fällen, in denen völlig wahrheitsgemäß über Absichten, Ziele und Motive Rechenschaft gegeben wurde, weil die eigentliche Signifikanz dieser Absichten, Ziele und Motive ja erst erscheint, wenn das Gesamtgewebe, in das sie. schlugen, halbwegs bekannt ist. Daher können es die von den Handelnden selbst erstatteten Rechenschaftsberichte.an Bedeutungsfülle kaum je mit der Geschichte aufnehmen, die sich dem rückwärts_ gekehrten Blick des Geschichtsschreibers und Geschichtenerzählers enthüllt. Was sich in der erzählten Geschichte darbietet, bleibt dem Handelnden qua Handelnden schon darum verborgen, weil die Motive seiner Tat ja keineswegs in der Bedeutung liegen, die sich in der aus ihr resultierenden Geschichte schließlich hergestellt hat. So sind erzählbare Geschichten zwar dit; einzigen eindeutig-handgreiflichen Resultate menschlichen Handelns, aber es ist nicht der Handelnde, der die von ihm verursachte -Geschichte als Geschichte erkennt und erzählt, sondern der am Handeln ganz unbeteiligte Erzähler«. 31 Im Falle guter, gedankenanregender Texte werden wir mit einer Oberbestimmtheit von Sinn konfrontiert, und es ist gerade dieser Sinnüberschuß, der einen unabschließbaren Akt kreativer Interpretation erfordert und erzeugt, einen Prozeß, der zu guter Letzt den Text in dessen eigener Bedeutung konfirmiert. Solange wir aber wie Hirsch an einem entlang der Substanzkategorien orientiertem Denken festhalten, wird Kreativität immer ein leerer Begriff bleiben. Abschließend ließe sich sagen, daß der große Verdierist des Buches von Hirsch gerade in dessen Unzulänglichkeiten liegt, da vielleicht diese uns zwingen könnten, die Notwendigkeit einer Verstehenstheorie und Philosophie zu erkennen, denen es gelänge, sie zu überwinden. 423
Anmerkungen 1 H.-G.Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 19754 2 .E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München i972 3 E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methode der Geiste$Wissenschaften, Tübingen 1962 E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967, dt .. Übers. von Teoria generale della interpretazione, Milano 1955 4 Hirschs Artikel Gadamers Theorie der Interpretation, erstmals veröffentlicht in The Review of Metaphysics, März 1965, ·erscheint ·als Anhang in Prinzipien der Interpretation, a.a.O., 301-320 5 Husserl, Cartesianische Meditation und Pariser Vorträge, in: Husserliana Bd. I, Haag·1963 2, S. 65 6 G. Be~ger, The Cogito in Husserls Philosophy, engl. übers. von K. McLaughlin, Evanston 1972, S 7 7 Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt/M. 1965, S. 22 8 Husserl, Idees directrices pour une phenomenologie, frz. übers. von P. Ricceur, Paris 1950, Bd. I, S. 431 9 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, in: Husserliana Bd. III, Haag 1950, S. 329 10 a.a.O., S. 315 11 a.a.O., S. 356 u-· a:a:o., s. 357 13 a.a.O., S. 330 . 14 Formale und transzendentale Logik, in: HusserlianaBd. XVII, 1974, s. 257 15 a.a.O., S. 242 16 Ideen, S. 333 16a Ideen, S. 333 17 Idees directrices pour une phenomenologie, Bd. I, S. 477 18 Eugen Fink, Die phänomenologische Philosophie Husserls in der gegenwärtigen Kritik, in: Kant-Studien Bd. 38, Berlin 1933, S. 364/ 65 19 Formale und transzendentale Logik, S. 257 20 a.a.O., S. 258 2 i "' Charles S. Peirce, Wie unsere Ideen zu klären sind, in: Schriften I, . Ed. K.-0. Apel, Frankfurt/M. 1967, S. 350 22 Formale und transzendentale Logik, S. 244 23 Zit. nach: M. Merleau-Ponty, Le metaphysique dans rhomme, m: Senset non-sens, Paris, 4e ed., S. 166 24 Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 19762, s. 168 25 a.a.O., S. 123
424.
26 27 28 29
a.a.O., S. 133 a:a.O., S. 137 M. Polanyi, Personal Knowledge, Chicago 1958, S. 3 Für --Hirsch besteht Sinn >>in dem, was der Autor durch eine bestimmte Zeichenfolge ausdrücken wollte« (S. 23); »Ein Wortsinn ist ein gewollter Typ« (S. 73); ». . . dem bewußt gewollten Typ ... , der den Sinn als Ganzes definiert« (S. 77). 30 Zit. nach P. Ricreur, The Model of the Text: Meanigful A~tion Considered as a Text, in: Social Research, Jhrg. 38, Nr. 3, Herbst 1971, s. 534 31 -Hannah Atendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, s, 184/85 -
Gerhard Kaiser Nachruf auf die Interpretation ? Zu: Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte•:·
Isers Abhandlung, die leicht überarbeitete öffentliche Antrittsvorlesung, die er am 9. 6. 1969 an der Universität Konstanz gehalten hat, gehört zu den Begründungsversuchen einer neuen Rezeptionsästhetik, die sich von den traditionellen Wirkungsästhetiken etwa des Aristoteles, Lessings, Kants oder Schillers auch dadurch unterschei~et, daß sie nicht auf eine explizite anthropologische Konzeption gegründet ist. Sie steht nicht im Rahmen eines philosophischen Entwurfs, gibt, altmodisch gesagt, kein Menschen- und Weltbild. Der Übergang ins Anthropologische ist genau der Punkt, an dem Iser sich entschließt, sei~e Argumentation abzubrechen. Insgesamt verbergen diese Bestrebungen, mögen sie nun von linguistischer Seite, wie neuerlich durch Jürgen Trabant1, oder von literaturwissenschaftlicher Seite, wie durch Hans Robert Jauss 2 und Iser, unternommen werden, nicht den Zusammenhang mit dem Strukturalismus und verwandten deutschen Erscheinungen. So ist bei Iser speziell eine Ähnlichkeit mit der Denkstruktur von Hans Blumenbergs Monographie »Die Legitimität der Neuzeit3 « feststellbar. Blumenberg destruiert die traditionellen Probleme der Philosophie und Religion, indem er, statt sie substantiell nachzudenken\ ihrer Leistung in der Geschichte der Denksysteme nachgeht. Er sucht nach Konstanten und Entwicklungen nicht in den Gehalten des Denkens, sondern in dessen Funktionszusammenhängen, innerhalb derer entstehende Leerstellen mit wechselnden Inhalten aufgefüllt '' Wolfgang lser hat sich mit der von anderen und mir vorgebrachten Kritik auseinandergesetzt. Siehe: W. 1., Im Lichte der Kritik. In: Rezeptionsästhetik. Hg. Rainer Warning. München 1975. S. 325-342, dort S. 326. Ich habe im Vorwort meiner Neuen Antithesen eines Germanisten 1974-1975, Kronberg 1976, geantwortet. Hugo Aust hat in einer Rezension meiner Antithesen. Zwischenbilanz eines Germanisten 1970-1972, Frankfurt 1973, klargemacht, daß die Kontroverse mit Iser am Mangel einer ausgearbeiteten Bedeutungstheorie bei Iser und mir krankt (Siehe: Zeitschrift für deutsche Philologie. 94. 1975. S. 631-639, dort S. 631f.). Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik hat sich inzwischen weiterentwickelt. Das gleiche gilt für mein Verständnis von Interpretation. Siehe dazu das gemeinsame Vorwort von: G. K., F.-A. Kitcler, Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, Göttingen 1978.
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wurden. Während allerdings für Blumenberg von diesen Leerstellen her die Geschichte des Denkens weithin als eine. Geschichte von Scheinproblemen erscheint, konstituieren sie für Iser in literarischen Texten deren Kunstcharakter, geben ihnen Appellstruktur. . Iser geht von einer Kritik der herkömmlichen Hermeneutik aus, die auf das prozeßhafte Verstehen eines ganzheitlich Vorhandenen zielt, indem er ihr vorwirft, sie richte sich auf einen »Hintersinn« -der »wahrnehmbaren Textgestalt« (S. 5) und reduziere Texte äuf Bedeutungen. ·»Das Zurückholen der Texte auf bereitstehende Bezugsrahmen bildete ein nicht unw·e-sentliches Ziel dieser lnterpretationsweise, durch das die Texte zwangsläufig entschärft wurden.« (Ebd.) »Besäßen die Texte wirklich nur jene von der Interpretation hergestellten Bedeutungen, dann bliebe für den Leser nicht mehr viel übrig.« (Ebd.) >>Wäre ein literarischer Text wirklich auf eine bestimmte· Bedeutung reduzierbar, dann wäre er Ausdruck von etwas anderem - von eben dieser ' Bedeutung, deren Status dadurch bestimmt ist, daß sie auch unabhängig vom Text existiert. Radikal gesprochen heißt dies: Der literarische Text wäre die Illustration einer ihm vorgegebenen Bede'!ltung.« (S. 7) Diese nach Meinung der Hermeneutik dem Text eigene Bedeutung entsteht nun nach Ansicht Isers durch Substitution. Er äußert den Verdacht, »daß die scheinbar von jeder Akt~alisierung des Textes so unabhängige Bedeutung ihrerseits vielleicht nichts weiter ist als eine bestimmte Realisierung des Textes, die nun allerdings mit dem Text überhaupt identifiziert wird. So hat es eine auf die Ermittlung von Bedeutung gerichtete Interpretation immer gehalten und daher die Texte konsequent verarmt.« (S. 6) Iser stellt dagegen in Form einer rhetorischen Frage die These, die sich ähnlich bei ·Jauss findet, Interpretation sei »nichts weiter als ein kultiviertes Leseerlebnis und damit nur eine der möglichen Aktualisierungen des Textes« (S. 7). Von dieser Absprungstelle her entwickelt Iser sein eigenes, der Hermeneutik entgegengesetzes Verfahren. Statt Bedeutungen zu erforschen, welche die Hermeneutik angeblich naiv als gegeben annimmt, erforscht er die Entstehung von Bedeutungen im Lesevorgang,_ genauer: stellt er die transzendentale Frage nach den im Text gegebenen Bedingungen der Möglichkeit, lesend Bedeutungen aus ihm hervorzubringen. Er kommt dabei auf die 427
Annahme eines »Spielraum(s) von Aktualisierungsmöglichkeiten« (S. 8), der literarische Texte auszeichnet. Er . hat »die Adaptierbarkeit des Textes an höchst individuellen Les_erdispositionen zu ermöglichen« (S. 13) und begründet, daß es nicht die Bedeutung des Textes gibt. »Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint.« (S. 7) Der Bedeutungsspielraum entsteht dadurch, daß »sich der literarische Text weder mit den realen Gegenständen det;" >Lebenswelt< noch mit den Erfahrungen des Lesers vollkommen verrechnen« _läßt (S. 12), ja, daß er Gegenstände nur in· Form von Ansichten von G~genständen enthält, die der Text in Mannigfaltigkeit bietet und »die den Gegenstand schrittweise hervorbringe~« (S. 14). »Jede einzelne Ansicht bringt in der Regel nur: einen Aspekt zur Geltung. Sie bestimmt daher den literarischen Gegenstand genauso,_ wie sie eine neue Bestimmungsbedürftigkeit zurückläßt.« (Ebd.) Wo die verschiedenen Ansichten der Gegenstände im Text unvermittelt zusammenstoßen, entstehen nun speziell die· Leerstellen, die der Empfänger des Textes mit eigenen Lebenserfahrungen, -erwartungen und Auslegungen auffüllt. Der zweite Teil von Isers Abhandlung gibt aus dem Bereich der ERik)~eispiele für verschiedene Arten und Wirkungen solcher Leerstellen. Er betrachtet etwa den Einschnitt des Fortsetzungsromans, die Einführung neuer Personen oder den Beginn neuer Handlungsstränge an Erzähleinschnitten, die Weitung des Bewertungsspielraums durch Erzählerkommentare usw. Der dritte Schritt lsers ist die historische Illustration der These, der Nachweis, daß die Unbestimmtheitsgrade seit dem 18. Jahrhundert in literarischen Texten ständig größer werden. Er wird an Fieldings »Joseph Andrews« (1741/1742), Thackerays »Vanity Fair« (1848) und Joyces »Ulysses« (1922) geführt. Fieldings Roman ist Einübung in ein Prinzip der Aufklärung, indem der Leser veranlaßt wird, sich auf die gegenseitige Korrektur und Kritik-von Held und Umwelt im Roman einzulassen und selbst einen Konvergenzpunkt der Aspekte zu finden. »Yanity Fair« eröffnet demgegenüber schon ein Spiegel~abinett von Perspektiven, deren wechselseitiger Relativierung der Leser selbst verfällt, wenn· er in sie eintritt: Kritik wird alsbald zur Selbstkritik. »Ulysses« weist einen so hohen Leerstellenbetrag auf, daß alle Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, gerade durch die verwir428
rende Dichte und Vielfalt, in der sie angeboten werden, einander ad absurdum führen, der Leser also die uriaufhebbare Inkongruenz zwischen der Wirklichkeit und unseren Vorstellungen von ihr erfährt. Der Schlußabschnitt von Isers Vortrag gibt nicht nur eine Zusammenfassung, sondern zugleich eine merkliche Abschwä-. chung der These, die sich schon hin und wieder in den illustrierenden Ausführungen ankündigt ; so ~enn Iser sich auf Fiel4ings Aufforderung an den Leser bezieht, er solle entdecken (S. 26 ). Es ist ein Unterschied, ob ei~ Konve~genzpunkt hervqrgebracht oder entdeckt werden soll, ob der archimedische Punkt im Text nicht expliziert oder nicht vorhanden ist (S. 25 ). Dasselbe gilt für die Formulierung, die Strukturen des Textes seien so beschaffen, »daß sie den Leser im Vorgang der Lektüre ständig zum Finden des Grundes provozieren« (S. 27). Ein zu findender Grund ist da. Der Schlußabschnitt formuliert dann so: »Wenn aber ein Text das Gelesenwerden als wichtigstes Element seiner Struktur besitzt, so muß er selbst dort, wo er Bedeutung und Wahrheit intendiert, diese der Realisierung durch den Leser überantworten. Nun ist zwar die in der Lektüre sich einstellende Bedeutung vom Text konditioniert, allerdings in einer Form, die es erlaubt, daß sie der Leser selbst erzeugt. Aus der Semiotik wissen wir, daß innerhalb eines Systems das Fehlen eines Elements an sich bedeutend ist. überträgt man diese Feststellung auf den literarischen Text, so muß man sagen: Es charakterisiert diesen, daß er in der Regel seine Intention nicht ausformuliert. Das wichtigste seiner Elemente also bleibt ungesagt.« (S. 33) In diesen. Gedanken liegen bedeutende Ergebnisse der Arbeit, die auch der Hermeneutiker und Interpret, von dem Iser sich methodisch abstößt, wird übernehmen können und wollen, nicht ohne ein gewisses Vergnügen darüber, daß Isers Ausführungen einen leichten Anklang an die von ihm der Hermeneutik zugewiesene Meinung vom Hintersinn der wahrnehmbaren Textgestalt aufweisen. Mit Recht wird die Aufmerksamkeit auf die durch besondere Anordnungen und Maßnahmen hervorgebrachte Eigenart literarischer Texte gelenkt, Erfahrung; Urteil, Deutung, mit einem Wort: Mitarbeit des Empfängers einzufordern, ihn in seiner Personalität zu aktivieren. Desgleichen wird auch der Hermeneutiker und Interpret mit Gewinn und Zustimmung dem Nachweis einer historischen Entwicklung der Litera-
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tur folgen, wenn auch nicht zu immer größeren Unbestimmtheitsgraden, so doch zu einem immer weiter gehenden Entzug fertiger Lösungen, zu immer reicheren und vielfältiger verschlungenen, in ihrer Strukturiertheit schwerer erschließbaren Assoziations-, Erscheinungs- und Sinngeflechten- bis hin zur Verweigerung von Sinn, zur Widerlegung aller Sinnerwartungen und -ansprüche, zur Verweigerung auch der Negation von Sinn als einer Grenzmöglichkeit. Eine gewisse Gefahr der historischen Skizze wird der Hermeneutiker allenfalls darin finden, daß zu geradlinig als Nacheinander von Positionen innerhalb einer Entwicklung erscheint, was bis zu einem gewissen Grade auch ein Nebeneinander von Möglichkeiten ist. Man denke an die Hermetik von »Faust Il«, die in Deutschland in der gesamten Literatur des 19. Jahrhunderts, ja vielleicht bis zur Gegenwart hin keine Entsprechung hat. Weiter schließlich wird der Hermeneutiker und auch der Dialektiker - dem Ergebnis zustimmen, daß der literarische Text von keiner Deutung endgültig eingelöst werden kann und so die Erfahrung vermittelt, »daß Sinn ständigüberholbar ist<< (S. 35); er wird in diesem Satz sogar einen der Grundsätze des hermeneutischen Verfahrens wiedererkennen. Denn es muß Iser vorgeworfen werden, daß er - ähnlich übrigens wie Jau.ss, wepn dieser der Hermeneutik die Meinung der völligen Zeitenthobenheit der Interpretation als »platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik« unterschieb~ eine polemisch verkürzte Vorstellung von Hermeneutik benutzt. Die hermeneutische Bemühung versteht sich bekanntlich als relativ zu ihrem individuellen und historischen Ort und bekennt sich zu der Aufgabe, diesen Standort mitzureflektieren. .Die Evidenz ihrer Ergebnisse entsteht innerhalb dieser Relativität im Bewußtsein dieser Relativität. Das ist es übrigens auch in erster Linie, was die wissenschaftliche Interpretation vom kultivierten Lese-Erlebnis unterscheidet. Sie fragt - explizit oder implizit nach ihrer Erkenntnisperspektive; init Jauss gesprochen : ihr Erwartungshorizont wird ihr zum Problem, und damit kann sie Erwartungshorizonte überhaupt erst in den Blick bekommen, während die außerwissenschaftliche Lektüre einfach in ihnen steht. Der Unterschied zwischen kultiviertem Lese-Erlebnis und Interpretation ist damit qualitativ vergleichbar dem zwischen Lese-Erlebnis und rezeptionsästhetischer Analyse. Reflektiert die letztere auf die Appellstruktur der Texte, der sie den Leser
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ausgesetzt weiß, so bringt di~ erstere die Reflexion auf die Bedingungen ihrer Erkenntnis von Sinnstrukturen in den Erkenntnisakt ein, denen der >Normalleser< im allgemeinen naiv unterliegt. Auch die Hermeneutik hat also ihren transzendentalen Ansatz und auch sie denkt im Konzept eines prinzipiell unendlichen Auslegungsprozesses, in dem ihr die Fülle der Sinngehalte literarischer Texte ans Licht tritt, die Rezeption des Textes als den Zielpunkt, auf den hin er angelegt ist, mit. Von hier aus ist auch der Hermeneutik eine Antwort auf dieFrage gegeben, die Iser ihr stellt: » waruni sich einmal gefundene Bedeutungen wieder verändern, obgleich doch Buchstaben, Wörter und Sätze des Textes dieselben bleiben« (S. 7). Sie verändern sich gemäß der Mannigfaltigkeit historischer und individueller Auslegungsperspektiven. Dieser Gesichtspunkt gibt nun aber auch die Möglichkeit, eine -zentrale Frage zu beantworten, die Iser nicht nur offen läßt, sondern umgeht: wie es unter der Vielzahl von möglichen und oft auch vorhandenen Textverständnissen einen Maßstab für richtig oder falsch im Sinne von Evidenz oder Nichtevidenz geben kann. Innerhalb der individuellen Auslegungsperspektive muß eine Höchstzahl von möglichst verschiedenartigen Textmerkmalen. zur Synthese kommen - ich berufe mich hier auf W alter Benjamin, wenn er über die Idee, verstanden in platonischer Weise, wie sie auch in der Hermeneutik gefaßt werden kann, sagt: »Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist. 6« Innerhalb der individuellen Auslegungsperspektive muß weiter der Gegenstand mit möglichst scharfem.Umriß zum Gegenüber des Beobachters geworden sein, das jede ·naive Identifikation ausschließt. Die individuelle Perspektive wiederum muß die Erkenntnischancen der historischen Perspektive ihrer Zeit voll ausschöpfen. Damit deutet sich auch das Verhältnis individuell und historisch verschiedener Textverständnisse zueinander an. Sie stehen nicht gleichberechtigt und unverbindlich nebeneinander ; sie summieren sich auch nicht lediglich als verschiedene je individuell und historisch richtige. Das wissenschaftliche Textverständnis hat seinen Verifizieningsmaßstab außer in der Bewußtheit seiner Voraussetzungen ·und in der Differenziertheit seiner Wahrnehmungen auch in· seiner Fähigkeit, möglichst viele ProblemPositionen des ihm vorausliegenden Interpretationsprozesses 431
dialektisch in sich aufzuheben, so daß Ergebnisse nicht einfach übernommen, sondern auf die Ebene eines neuen ·Gesamtverständnisses gehoben, andere Ergebnisse nicht einfach falsifiziert, sondern zumindest als Fragemomente bewahrt werden. So wie Iser aus der Verschiedenartigkeit von Erst- und Zweitlektüre nicht lediglich zwei verschiedene Lese-Eindrücke, vielmehr.einen schlechteren und einen besseren hervorgehen sieht, so sieht der Hermeneutiker den Auslegungsprozeß, als dessen Glied er seine Bemühungen weiß, angelegt auf ein Vordringen nicht nur zu immer anderen, sondern zu immer mehr umfassenden, differenzierteren und tieferdringenden Auslegungen. Scheint nun aber in Isers Beispiel vom Vorrang der Zweitlektüre >>m!! ungleich größerer Information über den Text« (S. 16) doch ein Modell für Verifikation oder wenigstens für Bewertung der verschiedenartigen Bedeutungsrealisationen in verschiedenen Lektüre-Akten aufzutauchen, so trügt dieser Eindruck. »Daß nun die unformulierten Beziehungen zwischen den einzelnen Textsituationen sowie ,die dadurch gewährten Zuordnungsmöglichkeiten anders, vielleicht sogar intensiver genutzt werden können«,, daß »Kombinierbarkeiten« zur Verfügung stehen, »die in der Erstlektüre oftmals dem Blick noch verschlossen waren« (ebd.), sagt doch eig~ndich nichts über Angemessenheit oder Nichtangemessenheit ~on Kombinationen. Das ist kein Zufall. Wollte man versuchen, die Isersche Konzeption auf das Verifikationspmblem hin weiterzudenken, müßte man .wohl zur Annahme gewisser Toleranzgrenzen des von Iser angenommenen »Spielraum(s) von Aktualisierungsmöglichkeiten« kommen (S. 8); wie aber wären diese anders festzulegen als im Rekurs auf - im Text selbst liegende Bedeutungen, anders gesagt: auf substantielle inhaltliche und formale Gegebenheiten des Textes, die aus Isers funktionalistischer Betrachtungsweise verschwunden sind? Und es scheint mir gut, daß auch die Rezeptionsästhetik auf solche Gegebenheiten kommen muß, wenn sie das Verifikationsproblem ernsthaft zu thematisieren unternimmt, denn die Beschränkung auf technische Vorkehrungen und Maßnahmen des Textes in seiner A,ngelegtheit auf Lektüre, die Zurückführung des Textes auf ein Angebot an Wahrnehmungs- und Sinngebungsmustern an den Leser unter Absehung von Wahrnehmungsinhalten und Sinn, mit einem Wort: die Abwendung von der Frage, was ein Text sagt, zu der alleinigen Frage, wie er gemacht ist, ist doch wohl mit 432
viel größerem Recht eine Reduktion zu nennen als die angebliche Reduktion des Textes auf Bedeutungen, die Iser de~ Interpretation vorwirft. Und hier erst liegt ja der Kern seiner Kritik an der Interpretation, die sich allerdings in Isers Bild von ihr kaum wird wiedererkennen wollen. Liegt doch die Eigenart der Interpretation von Dichtung gerade darin, daß sie nicht im Zuge einer Rückübersetzung aus der literarischen Einheit von Form und Inhalt das zu ermitteln sucht, was hinter beiden liegt, was der Text >eigentlich< meint, sondern daß ihr Interesse auf die dialektische Einheit von Form und Inhalt zielt. Ihre primäre Frage steht nicht unter der Kategorie der Bedeutung, vielmehr unter den Kategorien der Notwendigkeit, Einheit und Ganzheit der Momente innerhalb dieses dialektischen Verhältnisses, in dem »der Inhalt nichts ist, als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts, als Umschlagen des Inhalts in Form«/ Am Beispiel : In Goethes ·Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh ... « ist die inhaltliche Aussage von der Beruhigung der Natur, in der das Ich ein Versprechen auf eigene Beruhigung edährt, in Wortwahl und -kombination, Satzbau, Gedankenführung usw. gänzlich form; die inhaltliche Aussage geht darin auf, ein Klanggebilde in Vokalismus und Konsonantismus, Rhythmus, Metrum, Reimfolge auszuformen. Dieses ist wiederum als Form 'ganz Inhalt, indem es darin aufgeht, die inhaltliche Aussage formal derart zu totalisieren, daß an ihr Systole und Diastole, Tod und Leben, Ruhe und Bewegung, Ruhe und Frieden als >natürliche< und geistige Größen, Einheit des Menschen mit der Natur und Für-sich-Sein in ihr zur Erscheinung kommen. Mit einem Wort: in intensiver Totalität ist ein Weltrhythmus, wie er im Menschen zum Bewußtsein kommt, ausgesprochen. Die Banalität, mit der das hier gesagt wird, entsteht aus der Verknappung der Inhalts-Hinweise zur Formel; gerade darin weisen sie wieder zurück auf die Leistung von Dichtung und ihr Verhältnis zur Interpretation : die dichterische Form enthält Aussagemöglichkeiten, die sonst nirgends vorhanden sind. Diese einzigartige Chance des dichterischen Sprecliens ist der Inhalt von Goethes Schleiersymbolik als der Symbolik des Symbols ; sie beweist sich etwa in der Fähigkeit, in einem achtzeiligen Gedicht eine >letzte< Aussage über Welt und Mensch zu machen. Das bedeutet für die Interpretation, daß sie durch die Dichtung, die sie auslegt, zu 433
Aussagen befähigt wird, die sonst nicht möglich wären; es bedeutet weiter, daß die Aussagen für sich, in definitiver Ablösung ·vom dichterischen Text, gar nicht gemacht werden können und bestehen können, weil sie lediglich vom Werk als ganzem getragen und eingelöst werden, also alsbald in dieses zurückverweisen, so daß Interpretation immer nur als im Prinzip unaufhörlich sich verfeinerndes Verweisungsspiel von Form auf Inhalt und zurück bestehen kann, das in meinem eben gegebenen Exempel viel zu früh abgebrochen werden mußte. Innerhalb dieses Verweisungsspiels findet nicht Reduktion auf Bedeutungen, sondern Progression zu Bedeutungen statt, aber zu allein am Werk erscheinenden. 8 Dami~ ergibt sich die Antwort auf Isers Frage, was für den Leser nach der Interpretation noch übrigbleibe: »Wie aber läßt sich dann Aufregendes beschreiben?« (S. 5) Nun- in der Weise der Interpretation, die in das Abenteuer des offenbaren Geheimnisses einweist, des Aufleuchtens und Entzugs von Bedeutungen in dichterischer Form-Inhalt-Dialektik, die sie zu ihrem Forschungsobjekt hat. Nicht in der Zahl der Leerstellen in dieser »Struktur hält der Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit.« (S. 16). Damit erledigt sich aber auch der Vorwurf, Interpretation hole Texte auf bereitstehende Bezugsrahmen zurück (S. 5). Sie tut es, insofern der Interpret die Bezugsrahmen der historischen Umgebung des Textes und seines eigenen Denkens an den Text heranbringt. Aber sie sprengt auch diese Bezugsrahmen, sofern der Text diese Bezugsrahmen in der Unerschöpflichkeit seines Sinnes, die in der totalisierenden Leistung der Form liegt, und in der Individualität und Einzigartigkeit seiner Aussage überschreitet. . Mit dem Hinweis auf das Form-Inhalt-Verhältnis in Dichtung ist nun auch die Position der Hermeneutik gegenüber Isers zentraler These von der Beschaffenheit der literarischen Texte bezeichnet. Isers Beschreibung des Status literarischer Texte ist im Ansatz- in der Unterscheidung von gegenstandsbeschreibenden und gegenstandskonstituierenden Texten - traditionell; zweifelhaft scheint mir in diesem Punkt lediglich die Zurechnung von Texten, »die Forderungen stellen, Ziele angeben oder Zwecke formulieren« (S. 10), etwa von Gesetzestexten, zu den gegenstandskonstituierenden Texten, von denen die dichterischen qann noch einmal als fiktional unt.erschieden werden. Gesetzestexte bringen keine Wirklichkeit, keine Gegenstände hervor ; sie for434
mulieren ein Sollen, kein Sein. (Daß dieses in die Wirklichkeit einwirkt, ist unbestritten. Das- tut aber mehr oder weniger jeder Text, sogar der dichterische.) Die Gegenstandskonstitution durch Dichtung läßt sich, glaube ich, noch schärfer fassen, als Iser es tut. Mit Recht bestreitet er, daß Dichtung Wirklichkeit abbilde (S. 11); immerhin kann sie aber Gegenstände nur erschaffen, indem sie die Erinnerung an wirklich vorhandene wachruft. Der Satz Es regnet in erzählender Dichtung besagt nicht, daß es jetzt wirklich regne. Er veranlaßt den Leser aber, eine Vorstellung von Regen hervorzubringen und in den fiktionalen Zusammenhang einzubringen, die aus seiner Realerfahrung von Regen g~speist ist. Auch die Formulierung, daß Dichtung »bestenfalls [ ... ] als die Darstellung von Reaktionen auf Gegenstände zu beschreiben« wäre (ebd. ), ist nicht ganz genau, weniger genau als die spätere Feststellung, daß die Gegenstände der Dichtung schrittweise in bestimmten Hinsichten erscheinen, daß sie immer unter bestimmten Einstellungen offeriert werden. Hier gründet nun aber der Haupteinwand gegen Iser : Wie erinnerlich, leitet er eben aus diesem Sachverhalt das Vorhanden-" sein der Leerstellen der Dichtung ab, die ihre Appellstruktur begründen, ihre Aufforderung an den Leser, Bedeutungen hervorzubringen. Mit Isers Worten : »Jede einzelne Ansicht bringt in der Regel nur einen Aspekt zur Geltung. Sie bestimmt daher den literarischen Gegenstand genauso, wie sie eine neue Bestimmungsbedürftigkeit zurückläßt. Das aber heißt, daß ein sogenannter literarischer Gegenstand nie an das Ende seiner allseitigen Bestimmtheit gelangt.« (S. 14) Ich meine, genau das Gegenteil ist richtig. Iser verwechselt die Gegenständlichkeit der Dichtungmit der der Wirklichkeit, wenn er meint, sie könne noch unter Bestimmungen gebracht werden, unter denep sie in der Dichtung nicht erscheint ..Er tritt quasi hinter das Bild, um die gemalte Kuh von hinten zu betrachten. Dadurch, daß die Gegenstände der Dichtung von vornherein nur als Momente bestimmter Hinsichten erscheinen, die außerhalb von diesen keine -Wirklichkeit besitzen, erscheinen sie in einer letzten Bestimmtheit durch die Hinsicht, wie sie Gegenständen der Wirklichkeit niemals zukommt. Isers Beschränkung auf die Explikation seiner These an Epik kö~nte zu dem Mißverständnis führen, die Erscheinungsweise von Gegenständlichkeit in »schematisierten Ansichten«, wie Iser in Anlehnung an Ingarden sagt, sei nichts anderes 435
als die Vermitteltheit und Perspektivik der Epik, sei sie nun als Perspektive eines Erzählers oder als W ahrnehmungsperspektivik der handelnden Personen ausgebildet. In Wirklichkelt entsteht solche Gegenständlichkeit in Form von Ansichten auch da, wo kein Erzähler sich artikuliert, wo kein vermittelnder Erzählprozeß stattfindet ; sie entsteht in anderer Weise auch in Lyrik und Dramatik, . die Iser überraschenderweise völlig aus seinen im Anspruch. doch ganz allgemeinen Überlegungen ausklammert, wohl weil hier das, was er Leerstellen der Dichtung nennt, sehr viel schwieriger zu etablieren wäre als in Epik. Gegenständlichkeit als· Ansicht von Gegenständlichkeit etwa in »Louise Millerio« oder in Goethes Gedicht »Auf dem See« ist letzten Endes nichts anderes als die Vetmitteltheit im Horizont der dichterischen Form, die alle Gegenstände, welche sie einbegreift, in ein gegenüber der realen Gegenstandswelt außer ihr abgeschlossenes Beziehungsgefüge bringt. Louise Millerio hat keine Existenz außerhalb der Konstellation und Konfiguration des Dramas, dem sie den Namen gibt. Wir können sie nicht in Situationen außerhalb der dort dargestellten bringen, nicht in Hinsichten außer · den dort gegebenen betrachten - es sei denn in einem unverbindlichen Spiel d'er Phantasie, das nichts mit der Strenge des Kunstwerks selbst zu tun hat. Die reifende Frucht in Goethes Gedicht »Auf dem See·~ ist nicht eine, die vom lyrischen Ich angeschaut würde ; sie ist vielmehr nur in bezug auf dieses Anschauen überhaupt vorhanden und damit definitiv bestimmt. Nur scheinbar liegt hier ein Widerspruch zu meiner früheren These, die Form-Inhalt-Dialektik des Kunstwerks entlasse aus sich· eine unendliche Fülle von Bedeutungen, die eben durch das Vorhandensein des Inhalts nur als Form und umgekehrt entstehen. Diese Fülle ist perspektivisch unendlich und damit perspektivisch unendlich bestimmt. Die reifende Frucht in Goethes Gedicht, -·die sich im See bespiegelt, weist im Spiegelungsphänomen auf das Verhältnis von Sein und Bewußtsein, Natur und Ich, Zeitaufhebung in der Zeit - Reifung ist ein Vorgang in der Zeit, Spiegelung ein Stillstehen der Zeit im Spiegelungsmoment. Die Frucht ist Vordeutung auf die Reifung für das Ich, in der Sehnsüchte und Schmerzen, Vergangenheit und Gegenwart ihren Sinn finden, und die Perspektive ließe sich' ausziehen im Nachweis der Bezüge, die sich von diesem symbolischen Schluß zu jedem Moment des Gedichts herstellen bis hin zum Anfang: 436
»Und frische Nahrung, neues Blut Saug ich aus freier Welt;« - wo -das Saugen als ein intensiver Kontrast zur Spiegelung erscheint. Innerhalb der Perspektivik in ihrer allgemeinsten Bedeutung als formaler Bestimmtheit könnte man den ins immer Allgemeinere ausschwingenden Obertönen der Symbolik nachgehen bis zur Goetheschen Organismuskonzeption der Individualität. Es handelt sich dabei nicht um willkürliche Assoziationen, die durch Bedeutungsleerstellen im· Gedicht ermöglicht oder provoziert würden, sondern um solche, die vom Gedichtganzen in der Richtung und im Stellenwert, auch im Grad der Deutlichkeit streng gelenkt und geortet sind. Das läßt sich dadurch erhärten, daß sich andere Bestimmungen ausschließen, die sich aufdrängten, ginge es bei dieser Frucht um eine, die es aus der Ansichtsebene des Gedichts herauszunehmen und auf die Rundheit und Kompaktheit empirischer Phänomene zu bringen gälte etwa Frucht als Nahrungsmittel oder als Produkt der Landwirtschaft, als Ware usw. Die Provokation, Sinnmöglichkeiten zu erfahren, die im Gedicht rucht expliziert sind, liegt in deren Implikation in der Totalität des Kunstwerks und· der totalen Definition durch es, Goethe. würde sagen, im symbolischen Charakter der Kunst, der sich bei dem Gedicht »Auf dem See« im Schlußsymbol zusammenfaßt : Das Symbol enthält die ganze Welt in sich, aber au~ einem Punkt gefaßt; so ist es möglich, im Symbol die ganze Welt aus einem Punkt wiederzufinden, und zwar in einer Art monadischer Spiegelung dergestalt, daß die nächstliegenden, für das Verständnis unentbehrlichen Sinngehalte klar und deutlich, die fernerliegenden in abnehmender Klarheit und Deutlichkeit erscheinen. Es ließe sich einwenden, diese Konzeption sei zu idealistisch und eigentlich begrenzt auf die Kunst der deutschen Klassik. Ich meine aber, daß sie sich modifiziert auf alle Dichtung anwenden läßt, auch auf die moderne, und daß sich Isers auf die Epik beschränkten Beispiele gleichfalls in diesem Rahmen unterbringen lassen. Die Epik erweist sich von hier aus als die Gattung, in der die Vermitteltheit und Perspektivierung der Gegenstände, also die transzendentale Bedingung aller Kunst, formal manifest und formkonstitutiv wird, sei es als Perspektive eines Erzählers oder als Wahrnehmungsperspektivik der handelnden Figuren. 437
Die Epik erscheint als Gattung, in der diese transzendentale Bedingung sogar thematisiert werden kann (man denke etwa an das Erzählen desErzählens in Conrad Ferdinand Meyers »Hochzeit des Mönchs«). Die von Iser behaupteten angeblichen Leerstellen in der Epik sind entweder so zu interpretieren, daß die verschiedenen Ansichten, die der epische Text offeriert, doch einen imaginären Vereinigungspunkt haben, der vom Leser nur gefunden werden muß, so wie er auch die Arbeit des Auffindens der Bedeutungen an allen anderen Momenten des Kunstwerks zu leisten hat (um so größere Arbeit, je mehr der Text zur Moderne hin seine Sinngehalte in sich verriegelt), oder aber die Epik gibt, wie das auch in anderen Kunstformen möglich ist, tatsächlich divergierende oder einander ausschließende Ansichten und Bestimmungen - dann ist der Leser in eine Offenheit oder in einen Widerspruch verwiesen, der nur ein Spezialfall der Bestimmtheit des Kunstwerks ist und wiederum völlige Bestimmtheit in der Unbestimmtheit bedeutet. Kafkas »Prozeß« wäre ein solcher Fall, auf den die angemessene Reaktion nicht darin besteht, verweigerte Sinngehalte zu substituieren, sondern exakt den Punkt zu l;>estimmen, in dem der Sinnhorizont offenbleibt und in dem sich alle Sinngebungsversuche aufheben müssen. Weithin ist die moderne Kunst _zu begreifen aus dem negativen Bezug auf die· Sinngestalt traditioneller Kunst, deren Kategorien noch, indem sie negiert werden, ihre Mächtigkeit erweisen. Nur weil wir gewohnt sind, im Kunstwerk Bestimmtheit und Sinn zu finden, wird es zur Sensation und zur Aussage besonderer Art, wenn das Kunstwerk uns beide verweigert. Läßt sich die Form der Dichtung als Perspektivierung und Totalisierung ihrer Inhalte verstehen, die Rezeption der Dichtung aber als Prozeß individueller und historischer Perspektivierungen der primären Perspektivierung, die das Werk vornimmt, dann wird deutlich, welche Aufgabe die wissenschaftliche Interpretation gegenüber dem Lese-Erlebnis, d. h. der nicht-wissenschaftlichen Rezeption, hat : nicht nur innerhalb dieser Perspektivierungen zu begreifen, was uns ergreift, bzw. die Voraussetzungen des Begreifens für ein Ergriffenwerden zu schaffen, sondern auch diese Perspektivierungen als die Bedingungen, unter denen im Kunstwerk Sinn erscheint und prozessual unendlich in einem Spiel mit strengen Regeln gefunden werden kann und muß, bewußt zu machen. Anspruch und Angebot des Kunstwerks, 438
unter Aktivierung unserer eigenen Lebenserfahrung seinen Sinn zu finden, sind auch eine Versuchung, sich mit ihm zu identifizieren in der Weise, daß wir es in unsere eigenen Lebenserfahrungen einbiegen und ihm Lösungen und Antworten für unsere eigene Lebensproblematik unterstellen, die nicht seine sind. Die Dichtung bietet uns aber gerade nicht einen Leerstellenbetrag an, damit durch individuell verschiedene Auffüllungen dieser Leer~-- stellen verschiedenartige Adaptionen möglich werden, sondern sie fordert' unsere eigenen Lebenserfahrungen heraus, damit wir mit ihrer Hilfe $einen Sinn erfassen, der unsere Lebenserfahrungen als unsere und eben nicht seine relativiert und in Frage stellt. Der Raum dafür, daß wir das an uns geschehen lassen und die Verhärtungen abbauen, die wir sonst solchen Relativierungen entgegenzustellen pflegen, liegt darin, daß, wie Iser herausarbeitet, lebensweltliche Situationen immer real, literarische Situationen hingegen fiktional sind (S. 11 ). Schillers Konzeption des ästhetischen Zustandes klingt in Isers Ausführungen an, wenn er schreibt: »Der Leser kann aus seiner Welt heraustreten, unter sie fallen, katastrophale Veränderungen erleben, ohne in Konsequenzen verstrickt zu sein. Denn die Konsequenzlosigkeit der fiktion~len Texte ermöglicht es, jene Weisen der Selbsterfahrung zu gewärtigen, die von den Handlungszwängen des Alltags immer wieder verstellt werden. Sie geben uris jene Freiheitsgrade des Verstehens zurück, die durch das Handeln irruner wieder ver.:. braucht, vertan, ja oftmals auch verschenkt werden« (S. 35). Die Relativierung und Infragestellung unserer Positionen durch die Kunst gilt aber auch umgekehrt: indem wir auf unsere Positionen zurückverwiesen werden, erkennen und akzeptieren wir sie bewußt als unsere und nicht die des Textes. Das ästhetische Spiel im Umgang mit dem Kunstwerk offeriert uns so···· in Übereinstimmung und Differenz zu ihm eine Fülle von Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten, aus der die Chance und Aufgabe erwächst, im Blick auf die höchste individuelle Bestirruntheit des Kunstwerks zur höchsten individuellen Selbstbestimmung zu gelangen - aus dem ästhetischen Spiel wird Ernst. Die wissenschaftliche Interpretation zeigt das Kunstwerk als individuelle Totalität und individuellen Weltentwurf. Es bietet in dieser Eigenschaft mit höchster Bestimmtheit Ansichten und Lösungen an,' die nur innerhalb s.einer gelten und damit Fragen an uns sind, auf die wir unsere eigenen Antworten zu geben haben. •439
»Sind die Kunstwerke Antworten auf ihre eigene Frage, ·so werden sie dadurch selber erst recht zu Fragen«, wie Theodor W. Adorno sagt. 9 Die von uns geforderten Antworten sind dann aber nicht mehr Interpretation, wenn auch durch die Inte~pretation geweckt. Die Hermeneutik des Textes wird an diesem Punkt in Richtung auf ein dialektisches Verhalten zum Text überschritten. Wissenschaftliche Interpretation hilft, das Stehenbleiben in der Identifikation mit dem Kunstwerk zu verhindern. Sie führt zur >Auseinandersetzung< und deutet damit auf den emanzipativen Kern der Kunst: »Das Kunstwerk, welches das äußerste von der eigenen Logik und der eigenen Stimmigkeit wie von der Konzentration des Aufnehmenden verlangt, ist [ ... J Gleichnis des seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts, dessen, der nicht kapituliert. 10 « Aus den hler angestellten überlegungen·ergibt sich zuletzt auch eine -Lösung für das von Iser angeschnittene Problem, worin die Chance literarischer Texte liegt, »sich ihrer Geschichtlichkeit zu widersetzen.« (S. 34) . Ich meine, sie liegt nicht darin, ciaß vorhandene Leerstellen des Textes je anders in der Lektüre besetzt werden können. und so die immer heutige Einbildungskraft des Lesers das Werk fortlaufend modernisierte. Im Gegenteil dürfte die. Geschichtsresistenz der literarischen Werke gerade in ihrer Geschlossenheit in der Kunstform liegen (die nichts mit der Spezialfrage von offener und geschlossener Form innerhalb der Kunstform zu tun hat). Durch die Geschlossenheit sind literarische Werke in dem Maße unmittelbar zu späteren Epochen, wie sie mittelbar sind zu ihrer eigenen Zeit: In der ·begrenzten . Unendlichkeit des Kunstwerks sind alle seine Momente im :fforizont der Form von der Lebenswirklichkeit abgegrenzt und damit im System ihrer Beziehungen untereinander und ihrer Hinsichten aufeinander absolut bestimmt; in dieser absQlut~n Bestimmtheit aber unendlich bedeutend, wogegen die Momente .der Lebenswirklichkeit in einem nach allen Seiten offenen Beziehungsreichtum unter zahllosen Hinsichten von partieller, begrenzter Bedeutung erscheinen können, wodurch es unmöglich wird, sie definitiv eindeutig zu bestimmen. So sprechen Kunstwerke »Vermöge· der Kommunikation alles einzelnen in ihnen. Dadurch treten sie in Kontrast zur Zerstreutheit des bloß Seienden. 11 « Indem das Kunstwerk Leben auf seine prägnanten Momente bringt und so Voraussetzungen und Konse440
quenzen in sich versammelt, die sich bei realen Phänomenen in der Unübersehbarkeit empirischer Verflechtungen verflüchtigen, ist es .distanziert zu seiner Zeit, individuelle Summe seiner Zeit und zugleich Zeitgenosse aller Zeiten, Essenz der Geschichte und der Geschichtlichkeit des Menschen, und seine komplexen, aber eindeutigen Bedeutungen sind in immer neuer Gegenwärtigkeit immer neue Provokationen für uns. Sie vernehmlich zu machen ist Sache der Interpretation, die, wie Hege! sagt, die Freiheit zum Objekt aufbringt. »Damit gerade erwies er dem Subjekt Ehre«, meint Adorno im Hinweis auf diese Hegeische Formel, »das in geistiger Erfahrung Subjekt wird durch seine Entäußerung, dem Gegenteil des spießbürgerlichen Verlangens, daß das Kunstwerk ihm etwas gebe.« »Indem vom heute typischen Verhalten das Kunstwerk zum bloßen Faktuni gemacht wird, wird auch das mimetische, allem dinghaften Wesen unvereinbare Moment als Ware verschachert. Der Konsument darf nach Belieben seine Regungen, mimetische Restbestände, auf das projizieren, was ihm vorgesetzt wird.« >>Als tabu!~ rasa subjektiver Projektionen jedoch ' wird das Kunstwerk entqualifiziert. Die Pole seiner Entkunstung sind, daß es sowohl zum Ding unter Dingen wird wie zum Vehikel der Psychologie des Betrachters. Was die verdinglichten Kunstwerke nicht mehr sagen, ersetzt der Betrachter durch das standardisierte Echo seiner selbst, das er aus ihnen vernimmtY«. Walter Benjamin hat den Widerspruch der Werke gegen solchen Konsum zugespitzt in den Satz:», .. kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft. 13 «
Anmerkungen
1 Jürgen Trabant, Zur Semiologie des literarischen Kunstwerks (Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik. 6), München 1970 2 Hans Robert Jauss, Literaturgesch_ichte als Provokation der Literaturwissenschaft (Konstanzer Universitätsreden. 3), Konstanz 1967 3 Frankfurt a. M. 1966 4 Substantiell hier nicht im Sinne eines statischen Substanzbegriffs, auf den die Funktionalisten die Hermeneutik festzulegen suchen, sondern
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im Sinne prozeßhaft sich darstellender und herstellender Substantialität verstanden Hans Robert Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, S. 43 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1963, S. 31 G. W. Hegel, Sämtliche Werke, hg. v. H. Glock.ner (Jubiläumsausgabe), Bd. 8, Stuttgart 41964, S. 302 Diese Form-Inhalt-Dialektik wird jüngst wieder vom Wissenschaftsrat in seinen Überlegungen zur »Ausbildung im Fach Germanistik« der »Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970« (vorgelegt im Oktober 1970, Bd. 2: Anlagen, S. 103-142, hier: S. 110 f.) verkannt, wenn dort »in Texten vorkommende Realien« angenommen werden, etwa wie Inhalte in einem Koffer, und wenn in diesem Zusammenhang eine Überforderung der Germanistik zurückgewiesen wird, die darin liegen soll, daß >>[ ••• J über die Erarbeitung einer Interpretationslehre und die Anleitung zu praktischer Interpretation hinaus bündige Aufschlüsse von ihr verlangt werden über die Beschaffenheit der Textinhalte- genauer: der aus dem Text ersichtlichen oder erschlossenen Materie -, also über die Beschaffenheit eines Naturgegenstandes oder eines historischen Faktums oder über die Begründung eines Philosophems. So kann, die Philologie z. B. allenfalls die Aussageintentionen aufklären, aufgrund deren in einem Text von Granit, von Wallensteins Tod, vom Tod überhaupt, von Leibeigenschaft odervon Auschwitz die Rede ist. Sie kann den Bedeutungsumfang und das Verständnis solcher Bezeichnungen unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen ermitteln. Sie kann jedoch nicht von sich aus, d. h. mit ihren Mitteln, >Wahrheiten< über die so bezeichneten Sachverhalte feststellen.« Wieso die Philologie nur allenfalls Aussageintentionen aufklären können soll, ist mir unerfindlich. Das muß sie nicht allenfalls, sondern auf alle Fälle können, denn das ist ihr ureigenstes Gebiet. Indem sie das kann, kann sie aber auch alles aufklären, was der Text in sich beschließt, denn Wallensteins Tod, Granit oder Auschwitz sind in Dichtung weder die Materie der Wirklichkeit selbst noch deren Bezeichnung, sondern durch die Dichtung und ihre Aussageintention erst konstituierte Phänomene. Sie werden nicht primär durch >>den Bedeutungsumfang und das Verständnis solcher Bezeichnungen unter bestimmten historischen und sozialen Bedingungen« definiert, vielmehr durch ihren Stellenwert im Ganzen der Dichtung (der natürlich nicht ohne Bezug zu bestimmten historischen und sozialen Bedingungen ist). Sie sind Gegenstände nur als ihre Gegenstände, an denen Bedeutungen erscheinen, die nur als ihre Bedeutungen erscheinen und erscheiO:~n: können. (So liegt z. B. die prinzipielle Verfehltheit der ingeniösen
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Kölner Wallenstein-Inszenierung Hansgünther Heymes [s. SchillerHeyme, Wallenstein. Regiebuch der Kölner Inszenierung (edition suhrkamp. 390), Frankfurt 1970] darin, daß der Wallenstein der Schillersehen Tragödie in den historischen Wallenstein zurückverwandelt und dur.ch ihn interpretiert werden soll; d. h. SchiUers Weg vom Historiker Wallensteins zum Dramatiker Wallensteins wird rückgängig gemacht.) Sofern man die in den Gegenständen der Dichtung präsenten Bedeutungen- als individuelle- Wahrheiten zu nennen bereit ist, kann die Interpretation Wahrheiten ermitteln, die nirgends sonst ermittelt werden · können, nämlich die der in der Dichtung hervorgebrachten Sachverhalte. Sie bedürfen substantieller Interpretation - substantiell im früher erläuterten Sinne·.::.; das ist gegenüber einer funktionalistischen Literaturwissenschaft festzuhalten, die in Dichtung lediglich gegebene Sachverhalte oder Bezeichnungen in neue Funktionszusanimenhänge eingerückt sieht Theodor W. Adorno1 Gesammelte Schriften, Bd. 7: Asthetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 17 Theodor W. Adorno, Note11; zur Literatur I, Frankfurt a. M. 1958, s. 192 f. Adorno, A~thetische Theorie, S. 15 Asthetische Theorie, S. 33 Walter Benjamin, Die Aufgabe d.es Obersetzers, in: W. B.; Illuminationen .. Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt 1969, S. 56-70, dort S. 56
Gottfried Boehm Zu einer Hermeneutik des Bildes Die Hermeneutik des Bildes hat ihren Ursprung, wo die Bilderfahrung des Auges in das Medium der Sprache übergeht. Jeder Betrachter von Bildern und jeder Interpret, im Sinne der Kuns.tgeschichte, ist bereits in dieses hermeneutische Verhältnis einbezogen. Er macht von einer geheimen Vergleichbarkeit vonBild und Sprache Gebrauch, die als solche nicht hervortritt, obwohl diese Beziehung Grund jeder Verständigung in der Sache ist. Formal- ·betrachtet hat. es die Hermeneutik des Bild~s mit der Übersetzung zwischen diesen Medien zu tun. Sie fragt nach der Identität von Bild und Wort oder, anders ausgedrückt, nach dem sowohl konvergenten wie widersprüchlichen Verhältnis zwischen so etwas wie >Bildsprache< und der verbalen Sprache der Verständigung. Nicht das Faktum solcher Übertragungen steht in Frage, sondern der Grund seiner Er~öglichung und die Offenlegung von Erkenntnischancen, die ohne dieses kritische Reflexionswissen unergriffen blieben. Die Hermeneutik reflektiert auf ein Verstehen, d. h. sie überprüft die Ansprüche und die Angemessenheit bestimmter Mt;!thoden - ohne selbst dem transparenten Idc::.~l. e~il'!.er Methode anzuhängen. Obwohl sich die Hermeneutik nie zu der Annahme verstiegen hatte, Verstehen sei nichts als ein Sprachvorgang, sondern sprachlose Räume der Kommunikation stets anerkannte 1, war doch die Sprache so sehr ihr Reflexionsmedium, daß die Ausbildung einer >Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks< bislang kaum erfolgte. Gerade diejenigen Erfahrungen aber, die nicht selbst schon sprachförrnig kodifiziert sind, vielmehr eip.er eigenen Logik folgen, wären a~f das Organ einer Verständigung besonders angewiesen.
I. Der Versuch, von einer Hermeneutik des Bildes zu sprechen, der die Grenzen einer an Sprache orientierten Interpretationsidee überschreitet, hat wenig Vorbilder. Auch auf die ältere Ges~hichte der Bildauslegung kann ·er sich nicht stützen. Die
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>Iconologia< der Tradition repräsentiert lediglich ein Verweissystem für Bildinhalte und deren Identifikation. Die antiken >Eikones< des Philostrat beschränken sich darauf, die Bild gewordenen Mythen nachzuerzählen. Betrachtungen dieser Art tragen nichts dazu bei, die Sprache des Bildes mit der des Wortes auf die Grundform ihrer Ähnlichkeit hin zu befragen und damit Umfang und Schranke ihrer wechselweisen übersetzbarkeit zu überprüfen. Auch die ältere Tradition der Kunsttheorie und Künstlerreflexion bietet keine Ansatzpunkte. Die Horaz . entnommene Formel >Ut pictura poesis< und der >paragone< der Künste, wie er am Beginn von Leonardo da Vincis Malereitraktat zu finden ist, gehen noch von einer völlig kommensurablen Verhältnishaftigkeit zwischen den sprachlich formulierbaren Normen eines idealen Naturkanons und dem Bildinhalt aus. Der·Wettstreit wird darüber ausgetragen, welche der Künste diese hohen Ideen und Normen des Lebensam eindrückliebsten darstellen kann. Unter der geschlossenen Glocke eines Himmels von kohärenten Idealen, die,. selbst sprachförmig, durch den Logos oder den künstlerischen Demiurgen in ihrer. schönen Verhältnishaftigkeit aufgeschlossen werden, verharmlost sich die Kluft zwischen Bild und Wort. Die Literarisierung durchund seit dem Humanismus der Renaissance schafft ein problemloses tertium comparationis zwischen Bild und Sprache, nämlich das literarische Thema. Im Selbstverständnis jener Kunst und der sie begleitenden Reflexion ist das übersetzungsproblern auf den Vergleich von Inhalten und den Aspekt ihrer angemessenen Darstellung reduziert. Ohne Zweifel hat diese Tendenz der Kunst einem Bildverständnis Vorschub geleistet, das sich an einem objektivistischen Modell der Sprache orientierte: zu verfolgen, wie Zeichen auf ihnen transparente Bedeutungen fortdeuten. So war imd ist die kunstgeschichtliche Interpretation auch eine Strecke weit legitimiert, die Phänomene und Fragen, die sich aus dem Medium des Bildes selbst und seiner Geschichte ergeben, zu übersehen. Konzipierte doch die Renaissancemalerei die Fläche des Bildes als einen verschwindenden Schein, dessen Funktion darin bestand, den Durchblick (pro-spettiva) auf eine schöne Realität zu eröffnen. Näher besehen hat ein Bildbegriff dieses Schlages sein geheimes Ideal in der Illustration, auf deren Basis aber auch die traditionelle Malerei nicht zureichend zu interpretieren ist. Mit der Entstehung der modernen Kunst seit dem Ende des 19. 445
Jahrhunderts, die auf reproduktive Semantik und Denotationen verzichtet, zeigt sich das Bild neu in seiner staunenerregenden Selbständigkeit und Fremdheit, wird die Übersetzung Bild Wort zu einem problematischen und inkommensurablen Vorgang. Erst damit drängt die unter dem Titel einer Hermeneutik des Bildes formulierte Aufgabe. Mit neuen Augen sieht man dann aber auch die ältere Malerei, deren Selbstverständnis ebenso wie das Verständnis der sie begleitenden Reflexion und dasjenige der nachfolgenden Kunstgeschichte, einer Revision zugänglich werden. Das Ansinnen, die verbale Sprache mit dem Bild hinsichtlich einer gemeinsamen Sprachverfassung zu betrachten, von der doch ständig Gebrauch gema.cht werden muß, erweist sich zunächst als weglos. Geschriebene oder gesprochene Sprache scheinen als Medium vom Bild ·an der Wand in einer Weise verschieden, daß die Suche nach Verwandtschaft fast aussichtslos erscheint. Die hermeneutische Reflexion hat keine andere Aufgabe, als diese Aporien aufzuklären. In modernen Artefakten sind wir gezwungen, einen Sinn anzuerkennen, der den Dingen nicht ähnelt, für den keine literarische Vorformulierung existiert, der sich in kein präexistentes System von Konventionen der Erfahrung einbettet. Die sprachlichen Brücken zur Welt scheinen· abgeschlagen und man hat in diesem Rückzug des Bildes aus einer Welt ·sprachlicher Inflation ein Schrittgesetz für die Genese der modernen Kunst erblickt. Bilder machen nun einen Sinn sichtbar, der die Idee äußerer Wirklichkeit überbietet und sich im Nie-Geschehen zu verjüngen sucht. Diese Verfassung der modernen Malerei geht mit einer Themati-. sierung der bildnerischen Elemente parallel, wie sie auch in zahlreichen künstlerischen Lehrschriften dargelegt wurde, paradigmatisch in Kandinsky's >Punkt und Linie zu Fläche<. Wir haben es mit einem Bild zu tun, das nach >außen< jedenfalls nicht mehr übersetzt werden kann, sondern einen eigenen Zugang über die bildnerischen Sprachmittel erfordert. Diese LP~i':.~~Udes_ und seines genuinen Ausdruckgehaltes war es auch, der Konrad Fiedler, vielleicht der einzige Ziehvater einer Hermeneutik des Bildes, mit der theoretischen Forderung nach einer eigenen Logik des Sichtbaren und der Ausdrucksbewegung der Hand zu entsprechen suchte. 2 . Für das wissenschaftliche Bewußtsein einer Kunstgeschichte, 446
welche diese Erfahrung der Moderne nicht abstreifen kann, sie vielmehr in der Kritik ihre~ Grundlagen verarbeiten sollte, erweist sich der Übersetzungszusammenhang von Bild und Sprache als ein hermeneutisches Basisproblem. Darüber hinaus könnte ihm die Rolle einer regulativen Idee zufallen, welche in der Lage ist dem Umfang dieser Wissenschaft Kontur zu geben, ihre Arbeit kritisch zu begleiten und ihr einen Begriff von sich selbst zu vermitteln.
II. Die Frage nach dem Grund der Beziehung von Bild und Spr~che wird in allen Auslegungen, die sich an die Sache verlieren; ehe~ verdeckt als gestellt. Schon die einfachste Bildbeschreibung ruht auf dieser elementaren Voraussetzung, die zum Unbekanntesten in der Kunstgeschichte zählt. Nichts scheint selbstverständlicher, als den >Gehalt< von Bildern sprachlich zu klären und, mittels verbaler Sprache, heraus-zusetzen. Ein solches Vorgehen beruht auf massiven Vorannahmen, die zu verdeutlichen einen ersten Zugang zum gestellten Problem ermöglicht. Versteht sich denn wirklich von selbst in der Sprache der Interpretation gültige Substitute für das Bildliehe zu vermuten? Niemand wird Bllder sprachlichen Determinanten entwinden wollen. Aber wori.n besteht der Grund dieses hermeneutischen Verhältnisses, 'das· Übertragungen zwischen den beiden Medien zuläßt? Wie vermag man Bilder vor sprachlicher Fremdbestimmung zu schützen, um ihrer eigenen Sprache Deutlichkeit zu verleihen ? Doch wohl erst dann, wenn es nachzuweisen gelänge, worin die Übergänge und worin die gegenseitigen Kontraste im Verhältnis· der Medien bestehen; inwiefern Bilder an~<;>_g_.~.~J S.p.ra<:h~ ()!"gal}j~i~rt sind ,und inwiefern nicht! Zugleidi"gilt in echten Verhältnisbeziehung~n--auch die Umkehrung. Das erfordert Nachforschungen, wie· Bild und Sprache an einer g_~_!P_C!i_!:l_s.::~,rne..n .l;:b~.I_le g~r >Bildlichkeit< partizipieren. Dieser Aspekt des Problems ließe sich in die Literaturwissenschaft weiterverfolgen, der sich immer wieder die_ Frage stellt, ob es eine metaphernfreie Interpretationssprache gibt, in die sich die poetischen Metaphern übertragen lassen. An kunstg~schichtlichen Methodologien werden wir zeigen können, daß sie von der Idee einer restlosen übersetzbarkeit des Bildes in Sprache ausgehen, was in letzter Konsequenz bedeutet,
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das Bild >in Sprache abzubilden•, d. h. durch Worte zu ersetzen. Die Gründe dieses Selbstverständnisses bedürfen der Erhellung. Seiner Geltung wird man nicht folgen dürfen, wenn das. Bild als Medium eigener Art und eigener Wahrheit fortbestehen soll. In ihm muß >gesagt< werden können, was nur unter den Bedingungen dieses Systems und nur in der Formulierung eines konkreten Artefakts .gesagt werden kann- wenn das Bild nicht zu einer entlegenen und unbedeutenden Provinz im universalen Reich der Sprache herabgestuft werden soll, in der nur der ferne Glanz des Logos einen matten Widerschein erweckt. . . Einen. der wirkungsvollsten Prototypen für die Entmächtigung des ,ßildes hat Plato ~m Staat (X) entworfen. Die berühmte Dichterkritik erfolgt nicht zufällig entlang der Leitlinie des Bildes im Sinne der bildenden Kunst. Das mimetische Abbilden des äußeren Element von Farbe und Leinwand richtet sich Malers auf den bloßen Schein· eines Anblicks und zeichnet damit auch den möglichen Rang. dichterischer Aussagen vor. Die doppelt weite Fernstellung des Bildes gegenüber der Wahrheit der Idee und ihrer reinen Sichtbarkeit repräsentiert eine weltgeschichtliche Entscheidung über die dem Bilde eigentümlichen Wahrheitsmöglichkeiten. Diesem weitreichenden Verdikt hat sich eher die Malerei als die Kunstre(lexion entziehen können. Wenn das Bild sein Eigenrecht gegenüber der Sprache im Laufe der Geschichte bewahrt und immer wieder gestärkt hat, dann hat die Suche nach seiner >Logik< alle anschaulichen Evidenzen auf ihrer Seite. Aber sie hat·.die gesammelte Macht der begrifflichen Tradition gegen sich, mit der· sie sich in einer sehr grundsätzlichen und weitreichenden Weise konfrontiert sieht. Von Plato an schloß die >Zweite Fahrt durch die Logoi< einen Vorrang der Sprache ein und der ihr einwohnenden Ontologie. Die Legitimität des Bildes ist in der Begriffsgeschichte Europas ab ovo verdeckt - in höchst : komplexer Weise. Nicht nur die Idee des Logos, auch noch der ; Zeichenbegriff de Saussures und der Semiotik gehen von der Voraussetzung aus, daß sich Erkenntnis als ein Selbstbezug des Geistes in lebendiger Rede aktualisiert und einen Bereich inneren · sprachlichen Sinnes konstituiert, 'demgegenüber schon die Schrift nur eine äußerliche und unangemessene Fixation darstellt. Noch viel weniger wird das starre Medium des Bildes jener Aktualität der Sprache gerecht. Seine mangelnde Eignung, der Sprache zur Darstellung zu dienen, erweist sich als geheimes Stigma seiner
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Mediokrität. An der Lebendigkeit des Logos gemessen schien es fernab zu liegen und einem Bereich dumpfer Materialität zugehö.:. rig .. In der Andersartigkeit des Bildes, - die sich in seiner Unverfügbarkeit seitens der Sprache ankündigt -, eine eigene Qualität zu erkennen, war solange unmöglich, als die logozentrischen Prämissen unangefochtene Geltung besaßen. Nach diesem Vorverständnis fällt das Bild aus dem Selbstbezug der Rede heraus, in einen externen Gegenbereich, der nur unvollkommene Spuren von Spiritualität trägt. Noch der Zeichenbegriff der Sprachwissenschaften hält daran fest, Sprache als phonetischen Atem zu betrachten; demgegenüber Schrift wie Bild bestenfalls die Dienststellung einer Kodifizierung einnehmen. Daran war nicht nur die Unterordnung des Bildes folgenreich. Verbeerender noch mußte sich auswirken, daß der Modellcharakter der Sprache, Sinn von der Weise seines sinnlichen Erscheinens abzulösen, auf das~B-ild übertragen wurde. ,Wenn eines vom Bild grundsätzlich gilt, dann eine Unverträglichkeit gegenüber der Trennung von abstrakten Zeichen und ihnen transzendentem Sinn .. Bildlichkeit fällt vor die metaphysische U nterscheidung·von Zeichen und Bezeichnetem, Innen und Außen, Sinnlichkeit und Begriff, Form und Inhalt. Den verdeckenden Schatten der Tradition aufzuhellen, bedürfte eingehender begriffsgeschichtlicher Betrachtungen. Die Kritik an der Sprache der Metaphysik und der Wissenschaften muß sich weiterhin ihrer Begriffe bedienen und kann nur dahin gelangen, ihre Verfremdung zu kennzeichnen und insofern zurückzunehmen. Wir vergegenwärtigen uns die anstehenden Probleme mittels einer elementaren Demonstration, welche die Divergenz zwischen dem Bildsystem und Aussagen der Sprache verdeutlichen möchte. Während ein reales Ding, z. B. ein Baum, sich im Wechsel seiner Erscheinungsformen (kahl, belaubt, noch als geschlagenes Holz) als der immer gleiche kategorialeSachbestand behauptet und als solcher auch sprachlich bestimmt zu werden vermag, kann dies von einem gemalten Bau,m niemals gelten. J.:)i_e Identität eines realen Dinges beruht auf der Möglichkeit sein Sein von seinen Erscheinungsweisen zti trennen. Dies kann deshalb gelingen, weil die kategoriale Stabilität einer Sache durch ihre wechseln4en Erscheinungsweisen hindurch einen Vorrang behält, der traditionell auch als der Unterschied von Substanz und Akzidentien beschrieben wurde. Die Sprache kann die Identität
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einer Sachlage deshalb formulieren, weil.sie ihrerseits zwischen Subjekt-Sein und prädikativen Erscheinungsweisen zu trennen und zu verbinden in der Lage ist. Wäre sie dazu nicht imstande, d. h. wäre jede Veränderung der Erscheinung auch eine Veränderung des Seins einer Sache, dann wäre die Sprache in eine unendliche Aufgabe verwiesen, nämlich für jede einzelne neue Erscheinung auch ein neues treffendes Wort zu finden. Die Identität des gemalten Dinges konstituiert sich völlig anders. Der im Bild erscheinende Baum ist vom Ort und Kontext seines Erscheinens nicht abzuheben. Würde das geschehen, so bedeutete das ein ganz neues Bild, in dem aber wiederum der Baum von den Bedingungen seines Erscheinens unablösbar bliebe. Diese Beobachtungen verweisen auf eine eigene >Ontologie< des Bildes, die weiterer Klärung bedarf.Die_:Q~.u~~erscheid_-. ~~!~_eit von Sein und EJ;s~he~nung im Bilde Logik< ohne Sachlagen. Was bedeutet · dieses Ergebnis der hermeneutischen Kritik? Es verlangt nunmehr danach, solche Kategorien zu entwickeln, die es erlauben in nichtverfälschender Weise über das Bild zu sprechen. Gegenüber der Trennbarkeit von Sein und· Ersch~inung bei Dingen der Realität haben wir es im Bilde mit einem permanenten Obergang zu tun, der alles was im Bilde >ist<, in Erscheinung überführt. Das Erscheinen von phänomenalen >Gegebenheiten< im Bilde hat ihr Sein so in sich aufgenommen, daß es von ihm prinzipiell ununterscheidbar ist. Trotzdem bleibt es notwendig, vom >Sein< des Erscheinens zu sprechen, weil es ja kein bloßer wesenloser Schein ist, der vergeht und nichts bedeutet. Zwar erscheint uns derselbe gemalte Baum in einem Bilde Claude Lorrains immer wieder anders, je nachdem wir den Kontext der Bilderscheinung realisieren, aber diese Veränderungen führen ja keine Täuschung mit sich, sondern sie folgen einer bestimmten Bildlogik. Angesichts dieser Schwierigkeiten empfiehlt es si~h, die beiden Aspekte von Sein und Erscheinung, die wir in einem Prozeß des ununterscheidbaren Übergangs befangen sehen, auch 450
begrifflich zu sondern. Pas _Bjld ist weder Ding noch Satz oder Wort im Sinne der Sprache - es läßt sich vielmehr als ein , Darstellungsprozeß. . beschreiben, in dem die Momente des Seins. 'sich schon immer als Erscheinungen ausweisen. Diese ~W"iespäl tigkejt am Bilde, auf ·der doch seine ganze Spr~cfi1{;aft beruht, bezeichnen wir·als >Bildlichkeit< (auch Urbild, das !_konische oder ikonische Dichte), die den Seinsaspekt in der Bilderscheinung benennt. Wir,haben es mit einer eigenen :Oar§t~Uun,g von Sein zu tun analog zum Logos, die aber im Unterschied zum >ist·~~Sägeö. "der Sprache, ·selbst nicht sprachförinig organisiert ist. Von der Bildlichkeit des Bildes zu reden heißt also den Grund des Bildes zu thematisieren als ein Moment der konkreten Bilderschel.nung. Vom >Sein< des Bildes überhaupt zu sprechen, abgesehen von seinem Erscheinen in einem Werk, ist sinnlos. Nur vom Bilde her gewinnt das Urbild Realität, ist es möglich überhaupt den Zuwachs an Sein zu erfahren. 3 Eine weitergehende Analyse dieser Probleme wird uns noch beschäftigen. In diesem Zusammenhang ist vor allem noch das eine festzuhalten. Wenn sich das Bild als ein Darstellungsprozeß bestimmen läßt, in dem Sein permanent in Erscheinung übergeht, dann wird kein Begriff diese Ununterscheidbarkeit ein für alle Mal bestimmen können. Wir bezeichnen diese eigenartige Phänomerialität des .Bildes deswegen mit dem Namen Potentialität, die dem widerspruchsvollen Faktum der Unablösb~k~1t--~-Ön. Sinn und Erscheinung gerecht zu werden versucht und unserer Beobachtung Rechnung trägt; daß das Bild vor die metaphysische Begrifflichkeit zurückreicht. Die Wahrheit einer Aussage wird durch den entsprechenden Sachverhalt bedingt, der anschaulich überprüfbar ist. Beim blühenden Baum kann ich seine vorübergehende Erscheinungsweise so von der Sache trennen und auf sie zurückbeziehen, daß mich das jeweilige Erscheinen über das Ding und sein Sein nicht zu täuschen vermag. Die Wahrheit des Satzes beruht auf der Möglichkeit, Sachlage und Erscheinungsform der Sache zu unterscheiden. Aber welche Sachlage wäre z. B. Tizians >Venus-von Urbino<, einem Stilleben von Zurbaran oder Albers >Hommage to the Squar~< angemessen ?
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III. Es ist von höchstem Interesse, die Antwort der kunstgeschichtlichen· Methodologie auf diese Frage zu analysieren. Sie geht, verallgemeinernd gesprochen, von der Voraussetzung aus, daß sich das Bildliehe auch nicht-bildlich sagen läßt, im Grunde deshalb, weil ap.genommen wird, wir hätten es bei Bildern mit Sprachlichem zu tun, das in den externen Modus bildliehen Scheins versetzt wäre, aus dem· es der Interpret befreie. Diese Befreiung eines inneren Sinnes aus der Gefangenheit in einem äußeren Medium ist von verschiedenen kunstgeschichtlichen Ansätzen aus sehr unterschiedlich versucht worden. Dennoch darf das folgende Beispiel als repräsentativ gelten, das. sich mit Erw~~. Panofskys folgenreichen Vorschlägen beschäftigt. Sein Vorgeh~n~l~ßt sich als das AblöseiJ,_y~r~c;:hiedener_ Er.scJ:!einungs~ J!!Qdi.. Yom :Bilde beschreiben, die als Schichten charak~erisiert werden, zunächst die des einfachen Phänomensinnes, (unterteilbar in Sach- und Ausdruckssinn), dann die Schicht des Bedeutungssinnes und schließlich die des Dokument- oder Wesenssinnes. Diese Schichten werden als >Abbilder der Realität< verstanden, der Reihenfolge riach als Abbilder >vitaler Daseinserfahrung<, des >literarischen Wissens< und eines >weltartschaulichen Urverhaltens<'•. Die· Zu~eisung einer realen Referenz zu jeder Erscheinungsschicht stilisiert den Selbstbezug des Bildes zu einem Sachverhalt um, nach dem ontologischen Modell der verbalen Sprache. Der im Vexierspiegel der Bildlichkeit komplex erscheinende Sinn wird von Panofsky in eine Folge von Bedeutungsebenen aufgespalten, die im Element der Interpretationssprache präzisiert werden. Die Äußerlichkeit bildlieber Phänomene. 'Yird in eine Immanenz sprachlicher Bedeutung zurückgeholt, aus der sie der Maler vorher anscheinend entnommen hatte. Aber löst sich das Bild in Nichts auf, d. h. in nichts-als-Sprache, wenn die verschiedenen Schichten abgetragen wurden ? Gleicht es einem Rebus, das mit seiner Lösung abgetan ist ? Die naheliegende Frage nach dem Träger all dieser Schichten, der in dieser Eigenschaft nicht selbst wieder eine Schicht sein kann, - sondern den Grund des Bildes repräsentiert -, bleibt ungefragt, obwohl diesem .Problem keine Schichtentheorie auszuweichen vermag. Die~er m~thodischen Unangemessenheit ist nach dem Durchgang durch dieses Verfahren nicht abzuhelfen. Es bleibt eine wirkungs452
lose Beteuerung, wenn Panofsky am. Schlusse versichert, die drei in der Analyse getrennten Schichten würden sich in Wahrheit >ZU einem __völlig einheitlichen und . . . organisch sich entfaltenden Gesamtgeschehnis verweben .... <5 Er bekennt damit nur ungewollt ein, daß sich das Bildliehe am Bilde der Interpretation verschließt. Eine begriffs- und weglose Emphase, die vornehmlich die Vokabel vom >Ganzen< auf den Lippen führt, liefert nur ein vergebliches Nachspiel, das den Betrachter appellierend in Anspruch nimmt. . . Innerhalb der Prämissen dieser Methodologie bekommt das Bild den Rang eines Derivates, das sich aus sprachlichem und das heißt >realem< Sinn ableiten läßt. Es bildet von sich aus keinen Sinn aus und ist zur Darbietung eigener Wahrheiten nicht fähig. Streng genommen >ist< das Bild nur, soweit es auf die Sphäre des Logos verweist, mit der es in der Deutung verschmilzt. Das Interesse, das es beanspruchen darf, mißt sich an seinen sprachförmigen Implikaten, die sich im Universum der geschichtlichen Überlieferung spiegeln und dort wiederzufinden sind. Dieses Bildverständnis haben Ikonographie und Ikonologie, in Generationen· von Gelehrsamkeit, immer wieder bestätigt und ausdifferenziert. Geht dem Bild sein Sinn als sprachlich formulierter schon immer voraus, taucht, auf dieser methodischen Basis, auch die Frage nach einer eigenen Verfassung der Bildlichkeit gar nicht erst auf. Sie verschwindet in einem Schema, das die Kluft zwischen eigentlicher und figürlich-bildlicher Bedeutung durch begriffliche Eindeutigkeit zu schließen gedenkt. Die hermeneutische Kritik dagegen macht sich daran, dJe. Metaphorizität des Bildes selbst zu b,~~t~1IDJ1en. Die verbreitete kunstgeschichtliche Basisannahme, der Wirklichkeit gegenüber verhalte sich das Bild als ein abgelenkter (ir-realer) Schein, erweist sich dann selbst als Schein. Sie setzt fälschlich voraus, daß die Malerei in scheinhafter Darstellung dieselbe Anschauung entwirft, die sonst von der Realität ausgeht. Es ist sicherlich nicht übertrieben, diesen Kern kunstgeschichtlicher Interpretationspraxis als einen verdeckten, aber radikalen Ikonoklasmus zu charakterisieren ; Bilder siQ.d nicht S!!hstitute von Sachlagen,_ d. h. Sachlag~n.: jm,J~·i.Jde noch e~mal, schQJL deshalb:. nicht,_ weil >S~ch<~el~m~nte des Bildes. von der Weise ihres Erscheinens, \yirk~~s .~nd. B~deutens nicht separiert --werden können. Auch die Anwendung des semiotischen Zeichenbeg~lffs. auf . das .Bild, die auf der Trennung von ikonischen
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Signifikanten und transzendentem sprachförmig~~ ~ignifikat beruht, bricht aus eben diesen Gründen zusamme~ ·f....
IV. Aus der Analyse kunstgeschichtlicher lnterpretationsverfahren, aus der Semiotik des Bildes und seiner strukturalistischen Deutung, wie generell aus der sekundären Rolle des Bildes, wie sie in der Tradition des europäischen Denkens vorgeprägt war- läßt sich lernen, daß das hermeneutische Grundverhältnis von Bild und Sprache im Grunde erst rekonstruiert werden muß. So selbstverständlich über Bilder gesprochen wird, so selbstverständlich geschieht damit auch ihre Vereinnahmung in das Medium der Sprache; man könnte deshalb auch das Bild als den bloßen Schein der Sprache bezeichnen. Die Rekonstruktion seiner >Logik< kann nur in dem Maße gelirigen~aleUnaiifemesseiilieit anälytischer. und das h~iik metaphysischer Entitäten. w~e Zeichen u-nd Bezeichnetes, Innen urid ·Außen~ Silln1ichkeit ·und Geist, Abbild u"nd Wirklichkeit, nacpgewiesen werden kann. 1 B~~. selbst reic~t VQ_t:Q.iese_ Entgeg.enseJzungeP. ~tgüc::!:~.Nui' wenn m"iiii von der Sprache ein gleiches zu zeigen vermöchte, wäre die Linie einer adäquaten Kom!spon&nz der Medien erkennbar. Das bedeutet: die Natur des Verhältnisses von Bild und Sprache besteht in ·einem gemeinsamen Grund der Bildlichkeit, an dem sie. beide teilhaben, - wenn_ auch in je verschiedener Realisierung dieses iGrundes. 7 Vom Grund des Bildes zu sprechen erfordert keine Deduktionen, auc;h keine transzendentale Theorie, weil er in jeder gelungenen Interpretation als tragend erfahren wird, sich im abweisenden Schweigen der Bilder meldet, und als jener ikonische Rest eines >Ganzen< aufdringlich wird, wenn die methodische Vergegenständlichung der Schichtenanalyse zu Ende gekommen ist. Qer Gr~J:ld des Bildes hält sich nicht in irgend einer Weisehinter ihm zurück, sondern wird ganz Phänomen. Er ist das ikonisch Dichte, weil er, formal gesprochen, die Einheitsform aller bildliehen Sinnrichtungen und Einzelt;lemente darstellt. Ein analytisches Verfahren, dessen Sensibilität sich auf die Bestimmung des bildlich Positiven, des sprachlich Vorerf~~en beschränkt, wird eine übergangsform aller .Elemente dieser Art, die ihrem Wesen nach nicht positiv gegeben sein kann,
pas
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gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Bildlichkeit, an deren Grundstruktur beide Medien teilhaben, wird in jedem geglückten Übersetzungsvorgang zwischen Sprache und Bild mit übersetzt, d. h. der Grund als Basis der Gemeinsamkeit wie der Differenz beider wird mitübertragen. Der Begriff der Übersetzung oder Obertragung (im Sinne von metapherein) bezeichnet sehr genau, was in der Interpretation oder im Verstehen eigentlich geschieht. 8 Nämlich das In-B.eziehung-Setzen von Sinngebilden mit einem korrespondierenden Medium, das deswegen gelingt, weil die Momente von Gleichheit und von Differenz in einer gemeinsamen Form des· Obergangs sich als verbunden erweisen. Die Funktion der Gleichheit besteht darin, den Vergleich zuzulassen, wie die Funktion der Differenz darin besteht, der Übertragung zu bedürfen. Denn erst wenn sich Wort- und Bildsinn auch unterscheiden, entsteht die Erfordernis, diese Abhebung auch faktisch zu vollziehen; Niemand wird bezweifeln, daß für Bild und Wort ein.e soldie- g~meinsame Grundstruktur vorliegt, da wir uns doch über Bilder verständigen, sie verstehen. Was in die geglückte Übersetzung an gemeinsamer Sinnteilhabe eingeht, spiegelt die gemeinsame Struktur von Wort- und Bildsprache wider. Worin aber die Ähnlichkeit beider, d. h. ihre Teilhabe an einer Art besteht, ist völlig ungeklärt, wenn man erst einmal die Bemühungen als unzureichend durchschaut hat, das Bild als bloßen Widerschein der Sprache mißzuverstehen. Der G.~n4,_ von. dem. wir sprechen, ist in seinem Wesen vom C!Iarak~~! ... .9:~!.~_Pbt:.rg_;mg§~ ~ ..d.. ·.h. _-~r j~~- ALc:_ß~!lh~#sfqrm. _cler 1\iQIDen~L.-EilJ.h~.iL~nd piffere_!l?:~ Dieses, einstweilen formale, Grundgerüst unserer kridschen Reflexion führt zu der Frage : worin besteht die gemeinsame Sprachverfassung des Bildes und des Wortes? · · .-., Übersetzungen führen eine merkwürdige Doppeldeutigkeit hinsichtlich dessen mit sich, was in ihnen das Original ist. Zwar wird aus dem Original übertragen und in gewisser Weise nur aus ihm (Übersetzungen weiter zu übersetzen behält etwas Fragwürdiges) - aber der sich neu konstituierende Text kann die Präferenz seines Sprachrepertoires nicht durchstreichen. Was ja auch faktisch nur in sog. »wörtlichen« Übersetzungen geschieht. Im Verhältnis von Bild und Sprache wiederholt sich diese Dialektik. Zwar. soll immer das Bild verstanden werden, - insofern kommt ihm die Rolle des Originals zu -, andererseits ist es aber nur soweit 455
übertragen, als es von der verbalen Sprachpotenz in seinen Sinnrichtungen aufgefangen wird. Insofern wiederum nimmt die Interpretationssprache den virtuellen Status eines Originals an. ~iese _Zwei_4~uti_g~~!_! belegt, daß die Übersetzung von Bild und Wort fein einseitiger Vorgärig.Tst~-ihm'viehnehr eine hermeneutische, gerrauer metaphorische (d. h~ -auf Bildlichk.eit beruhende) Umkehrung. anhaftet. Ob die Sprache der Interpretation getroffer1Iiai:·-is·t-m jedem Augenblick durch die Rückübersetzung das_Au~gangsmedium des Bildes zu überprüfen. Wenn aber, wie sich an Panofskys Methodologie zeigen ließ, die Interpretation der Idee einer Substitution folgt, dann ist die Rückübersetzung der Sprache ins Bild gerade nicht mehr möglich, und zwar deswegen, weil seine· ikonische Dichte unübersetzt und einer appellierenden Emphase überlassen blieb. Die geglückte Übertragung dagegen virtualisiert in der Übersetzungsleistung der Interpretation die fixe Selbständigkeit, die Wortbedeutung und Bildsinn für sich zu haben scheinen. Sie deckt einen gemeinsamen Grund der Bildlichkeit auf,. in dem sich die eigene Logik des Bildes im Kontrast zur Metaphorik der Sprache zu behaupten vermag: Ohne diese E.i,nsicht in die Struktur von Obergang und Umkehrung in der Interpretation scheitert der Versuch, dem Bilde eine sinnbildende Kraft zu erhalten, die es als Phänomen zu Recht prätendiert. Es·,_ fällt dann in den Status eines lunaren Mediums zurück, das nur vom Schein des Logos widerleuchtet, ' ansonsten lichtlos, blind und stumm bliebe. Da~ _.ßjJd ..r.ep_r_ä_s_~IJ tiert ·tatsächlich eine stumnie oder schweigende Sprache, nicht weil-ihm. die Worte fehlen, sondern weil darin die Perfektion seiner Logik liegt. Das Schweigen der Bilder als einen Mangel an sprachlicher Deutlichkeit· auszulegen hat die Mißverständnisse nach sich gezogen, ihm durch die redende Sprache nachzuhelfen, f es als stumme Sprache aber damit zum Verschwinden zu bringen. Es yv~rd nun vollends deutlich, wie schwierig und weitreichend die -Aufgabe ist, die Sprache des Bildes als spezifische zu verstehen, obwohl sie doch nach den Prinzipien des Logos gar keine Sprache sein kann, da sie nicht >redet<, sondern >schweigt<. Dieses Schweigen ist die Artikulationsform der dem Bilde eigenen Seinsweise, des Potentiellen. Die stumme Prozessualität, die ihm eignet, mußte unter den Prämissen des europäischen Denkens eine Fremdbestimmung durch den Logos. herausfordern.
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Eine mit sich verst~digte Interpretationspraxis wird im Bilde die Valenzen von Bildlichkeit aufzudecken suchen. Bleibt dieser Grund__verdeckt, befördert die Auslegung ein endloses Aufeinander-Verweisen von Zeichen auf Dinge, von Topoi auf Realitäten, von Formen auf Inhalte, nach dem Modell des Spiegels, dessen Vorgeschichte schon im Wasserspiegel in der Natur begonnen hatte, über den sich der Mensch beugt. 9 Von dieser Fehldeutung hat sich kaum ein Methodenentwurf freimachen können. Das Bild als Doppel der Realität ist zweigeteilt und in seiner ikonischen Kraft gebrochen, in sich gespalten als das Irreale des Wirklichen, in sich als Spiegel und das wahre Dasein des Gespiegelten, in sich selbst als Signifikanten und den transzendenten Sinn des Signifikats. Diese Diffusion des Bildgrundes in leeren Reflexionen stuft das Bildphänomen auf ein ephemeres Wesen herab. Die hermeneutische Kritik macht deutlich, wie diejenigen. ß.ildb~gl:iffi;,~-:d1e. unter·· clem Ideal des Spiegels, des AbbÜdes, cl.er .Ulu.:~tr~~iQD. _§tehen, die Matrix der Bildlichkeit veraecke-~~· Deren Wesen, das t~~rinologis~h als Grund, Bildii~h k~it:-·ur.~Blld, Grenze ~de~ S{mr10 ·gefaßt werden kann, besteht· dartn;nichtabzupl1den, sondern sichtbar ZU machen, WaS ohne das Bild und. von ihm unablösbar, nicht sichtbar wäre. ,, Wir haben dem Grund zwei Eigenschaften zugeschrieben: die Diffe~,:~m,__ !!!!.~ gie Konvergenz der Medien zu tragen. In der Differenz weist das Bild die Herrschaft der Sprache ab, die bei dem Versuch scheitert, Bildliebes als eine entäußerte Form ihrer selbst auf sich zurückzuholen. Diese Negation eröffnet nicht nur eine Kluft zwischen den Medien, sondern sie kehrt sich auch dahingehend um, als sie der eigenen Sprachkraft des Bildes Raum schafft. Das sich so hervorkehrende Urbildliehe vermag der Betrachter nicht vor sich ZU bringen, zu vergegenständlichen. Das einfache Faktum, daß ein Bild kein Ding unter Dingen ist, sondern eine eigene >Sprache<, beruht auf der beschriebenen Umkehrung, die es zuläßt, daß die Existenz der bildliehen Form mit ihrer Erscheinung zusammenfällt. Diese Identität, die wir am Beispiel des gernalten Baumes gekennzeichnet haben, unterläuft jeden Versuch das Bild als das Äußere der Sprache zu entmündigen. Die kunstgeschichtliche Forschung hat die eigenwertigen Darstellungsbedingungen des Bildes gelegentlich mit der K~~~g?J}~ d~r.: Simult.ani~ät__zu fixieren versucht. Aber.auch dabei schlich sich 457
eine denkwürdige Fehldeutung ein. Die bildliehe Simultaneität ist unter keinen Umständen präsentisch zu verstehen, als der stehende Augenblick in der Mitte zwischen den Retentionen und Protentionen eines zeitlichen Verlaufs. In der Simultaneität sammelt sich die Qualität der ikonischen Dichte, deren Charakter als stehende Potentialität zu kennzeichnen ist, aber auch nur dann, wenn man sie nicht als Gegenbegriff entfalteter Wirklich>keit beschreibt, wie Möglichkeit sonst .als bloßes Vorstadium, als Ankunftsform des· Wirklichen verstanden wurde. Simultaneität ist identisch mit der Beweglichkeit der bildliehen Sin_nartikula:.. uorl,1ii-a-er sich-unter jeweils eigenen geschichtlichen Bedingungen
V. Di~
bislang durchgeführte Kritik an der naiven Indifferenz gegenüber dem Verhältnis von Sprache und Bild, die stets auf Kosten des Bildes ging, versetzt uns nun in die Lage, nach sofchen Aspekten Ausschau zu halten, in denen sich Bild und Wort ähneln. Wir beginnen mit der Entwicklung der Struktur der · sp;a.~he, um danach eine verwandte Struktur des Bildes ZU bestimmen (VI.). Es versteht sich, daß diese Untersuchung nicht beim elaborierten Gefüge der Sprache (mit Syntax, verbal~n Formen, Tempora etc.) ansetzen kann, überhaupt nicht beim Modell des Aussagesatzes, weil sich darin, wie wir zeigten, nur Aspekte der Unvereinbarkeit ergeben würden. Die Sprache muß hinsichtlich ihrer Übergänge, in denen sich ihre Bildlichkeit exponiert, analysiert werden. Wir beginnen mit zwei Aspekten der Sprache, die uns vorerst als heuristische Gesichtspunkte dienen. ErJJ.~t!S kann die Sprache von ihren lateralen Zusammenhängen her ges~he'n imd nicht primär von den finalen Bedeutungsintentionen, die den Zeichen zugeordnet werden können. Dies würde uns ermöglichen, hinter den gescheiterten Versuch zurückzugehen, konventionalisierte signifiants auszumachen, denen feste signifies zuzuordnen wä~~n - auf eine ursprüngliche Bildlichkeit. Das laterale Geflecht der -1 · .. . .. . . ..... . . . ... ·-··· ...___ ' Sprache und die gesamten Binnengrenzen ··aeSBildes (der Form,·
werden-
-·~
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der Farbe, der Figur, etc.) haben eine größere Aussicht auf Ähnlichkeiten hin verglichen zu werden. Wir nehmen dabei in Kauf, mit diesen Überlegungen nicht den gesamten Umfang einer Theorie der Sprache zu entwickeln. Zweitens beschreiben wir die Sprache auf dert Aspekt der !5:~4!. hin, d."-I:-äuf ·Iehe~dige Sprachverhalten in 4ctu.· Diese Bedingung würde dem Bilde seine partikulare Äußerlichkeit nehmen und ihm die Möglichkeit eines eigenen Logos· einräumen. Von ihm muß aber in jedem Fall gelten, daß er nicht, wie der sprachliche Logos die Schrift - die eigene bildliehe Kodifizierung als ein fremdes Element außer sich hat. Geschähe dies, würde die inadäquate Trennung vön Innen und Außen, Darstellung und Dargestelltem,· Sein und Erscheinung wiederkehren. Das Artikulationsgerüst der Sprache und dasjenige des Bildes implizieren jeweils eine eigene Verräumlichung und Verzeitlichung, d. h. eine eigentümliche Sche~atisie rung aller . nachfolgenden Bedeutungen. Vergleichbarkeit erstreckt sich somit nur auf die Genese der Rahmenbedi"ng-U:rigex{ für die räumlich und zeitlich determinierten Binnenelemente-der Bildwelt und det Sprache, nicht auf das, was sich innerhalb des Rahrp.eJ:ls. ergibt. S:·--· ; ·' ; · ;c.:: ·c:. '. · . , .. · Ferdinand de Saussure hat im >Cours de linguistique genefale< gezeigt, daß sprachliche Zeichen nur durch die Abgrenzung von anderen Zeichen (Phonemen) Sinn gewinnen. Für sich bedeuten die Zeichen nichts, erst durch den Sinnabstand zu anderen. Sinngrenzen bilden sich Bedeutungen aus. Die Qualität der Wortsprache besteht aus einem Geflecht von Grenzlinien, die ein Gefüge von insularen Bedeutungsörtern ausgrenzen, welche sich zueinander verhalten und deren Zusammenordnung bzw. wechselweise Beziehung etwas als etwas bestimmt. Die Grenzen markieren einen Sinnabstand zu benachbarten Grenzen, wohei' gerade der Kontrast die Bedeutungen hervorruft. Worte, Sätze und Texte enthalten Sequenzen solcher Kontraste, in lateraler Reihung. Damit dispensiert sich die Theorie von dem Zwang, der Zeichenwelt ein universales Lexikon von Bedeutungen zu korrelieren. Die feste Anhindung einer Welt von Zeichen an eine Weh von Bedeutungen beseitigt die Virtualität der sprachlichen Artikulation, insofern sie das Ungesagte zu sagen und über den Umkreis bereits· erworbener und niedergelegter Bedeutungen hinauszugreifen vermag. Eine Theorie der absoluten Metapher könnte. auf dieser Basis schwerlich zustande ko.mmen. über die
·aäs-
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Mobilität der lateralen Grenzgeflechte wäre auch erklärbar, wieso sich mit begrenzten Ensembles von Sprachen alles sagen läßt und sich treffende Beschreibungen einer Sache aus je verschiedenen WOrtrepertoires rekrutieren. Die ~P!''!C::_.he ~pt:icht_. unter dieser : Perspektive, mehr mit den Sinnabständen (Kontrasten) ihrer Elemente, als mit der fixen Summe von W ortillPalt~n. Der Sinn .o.lnaefsich im däs Kontrastgdlige de~ Sprache, er artikuliert sich vor dem Hintergrund des Nicht-Gesagten. Gerade der direkte RekuFs vom Wort auf seine Bedrutung blockierte doch die Aufgabe einer Übersetzung des Bildes ins Wort. Am Bild beobachten wir g~rade seine Unbezogenheit auf einen vorent.worfenen Kontext der Wirklichkeit, zugunsten eines permanenten Übergangs von· Sein und Erscheinung, der dennoch die Darstellung komplexen Sinnes bewerkstelligt. Der· Gedanke ist an die Rede so gebunden, daß er sich in ihr bilden und auflösen läßt, je nach dem Verlauf der Sinngrenzen im Vollzug der Rede. Ein absolut vollständiger Ausdruck ist gar nicht möglich, jede Rede wird durch die lateralen Beziehungen von Bedeutungen untereinander zu einer indirekten, sie ist von Abschattungen umstellt. Gleichwohl bleibt wahr, daß zur Idee des :togos auch das absolut treffende Wort gehört, das sich im Schöpferwort Gott~s vollende, in dem Tat und Name zusammenfalle - von ihm her erlangte auch der menschliche Logos Präzision und Präsenz. Die Möglichkeit des Konzeptes eines endlichen, nichtpräsentischen Logos steht hier nicht zur Debatte. Ihm wäre eigentümlich, daß sich seine Kodifizierung als Schrift nicht außerhalb seiner befände, was wiederum am ehesten in der Dichtung vorgezeichnet sein dürfte, in der Sprache nachdrücklich und thematisch aus Bildlichkeit lebt. Die Sprache setzt in der bislang entwickelten Perspektive keinen fertig ausgebildeten Index von Referenzen voraus, sondern sie repräsentiert. eine Genese von Sinn, die ihre eigenen Bedingungen nie vollständig absorbieren kann. Sinn ist damit immer sprachlich artikulierter Sinn, der sich von der Erscheinungsweise seines G_esagtseins nicht abtrennen läßt. Der Sprechende bewegt sich in einem lateralen Geflecht von sprachlichen Grenzlinien, d. h. in Kontrasten und >metaphoren< Übergängen, er hat es nur mit Sprache zu tun und ist gerade deswegen von Sinn umgebenX~~
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VI. Am gemalten Bild lassen sich verwandte Strukturen aufzeigen. Näherliegender noch als bei der Sprache ist im Medium von Farbe und Fläche die Analyse entlang des Verlaufs von Grenzen, aus denen sich die Sinnlinie des Werkes dem Betrachter aufbaut. Das Bild ähnelt der Rede, insoweit es seine Sprachkraft durch Kontraste zwischen bildliehen Elementgrenzen gewinnt. Mit der Simultaneität der VerschiedenenSinnrichtungen des Bildes ist die Vollzugsform des Übergangs zwischen den Grenz-Kontrasten : gesetzt, deren Bedingung in der sich erhaltenden Emiöglichung (Potentialität) von Sinn beruht. Der Betrachter folgt anschauend einem ausgebreiteten Geflecht von Grenzlinien der bildnerischen Sprache- und daraus entspringen ihm die Erscheinungen, entspringt Sinn, hier das Blau eines Himmels, dort die Form eines Gesichts oder die Vieldeutigkeit einer Farbstruktur, schließlich formulieren sich die komplexen Konstellationen dieser oder anderer Einzelerscheinungen aus. 12 Bei · der Betrachtung der Grenzlinien im Bilde und ihres Verhältnisses untereinander ist von. ausschlaggebender Bedeutung, daß sie sich gegeneinander nicht absolut eindeutig determinieren, sie haben »Spiel« untereinander, d. h. aus der vielfältigen Korrelierbarkeit der Grenzen und ihrer jeweiligen Binneninhalte entsteht das Faktum von Zwisch~nräumen, von denen bereits Mallarme im Vol'Wort zu »Un coup de des« bemerkte, daß sie »Zum Wichtigsten werden«. Jeder Betrachter, etwa eines traditionellen Historienbildes hat diese Edahrung gemacht, daß sich die verschiedenen Bildaspekte untereinander in einem Prozeß anschaulicher Sinngenerierung befinden, dessen Ergebnisse sich von diesem Prozeß aus permanenten Übergängen nicht ablösen lassen. Zwar sind, etwa in der Abendmahldarstellung Tintorettos (San Giorgio Maggiore, Venedig), die einzelnen Personen für sich abgeklärt und als Jünger wiedererkennbar. Diese vordergründige Selbigkeit von Figuren steht jedoch unter komplexen Erscheinungsbedingungen. Die Begrenzung einer Binnenfläche, an der man z. B. die Mitteilung abliest, »Kopf des Judas«, grenzt zugleich eine umgreifende Grundfläche aus, die nicht nur die Figur zur Abhebung bringt, sondern ihrerseits Raum meint, andere Figuren ausgrenzt, auf ein dazu querliegendes System des Helldunkels sich bezieht udgl. So 461
kann man sagen, daß der Bestimmtheit eines Grenzkonturs die Öffnung von Rahmenbedingungen für Unbestimmtheiten vielfältiger Art wie ein Schatten folgt. Dieses Wechselverhältnis erlaubt auch die umgekehrte Beschreibung, daß nämlich die unbestimmten Zwischenräume den einzelnen Bildentitäten (z. B. Figuren) Profil verleihen. Zugleich stellen sie diese in das offene Gefüge eines Austauschs von Beziehungen, dessen Sinnmitteilung weit über die literarisch kodifizierte Geschichte (Abendmahl) und ihre Konnotationen hinausreicht. Was wir in einer ersten allgemeinen Analyse die Identität von Sein und Erscheinung im Bilde nannten (ihre Ununterscheidbarkeit), basiert real auf dieser prinzipiellen Unausgefülltheit der Zwischenräume, auf der Beweglichkeit der lateralen Grenzlinien. Zwischenräume stellen sich im Medium der Bildfläche als eines zweidimensional ausgedehnten Kontinuums notwendigerweise ein, sobald es Farbe, Linie und Binnenfläche gestalten. Die unstillbare übergänglichkeit hat den Charakter des Potentiellen, worin sich immer d~utlicher das dem Bilde eigentümlich ontologische Substrat erkennen läßt. Was wir allgemein als Grenzlinien und als Kontraste zwischen Grenzen beschrieben haben, -heißt in der Sprache kunsthi$torischer Analyse u. a. die Simultaneität des Farbaufbaus, die _-Struktur der literarisch inkoiporierten Geschichte, Perspektive, Hell-Dunkel, Komposition etc. Die Grenzlinien und ihre Kontraste untereinander haben mit Dingen in der Welt ebenso wenig irgendeine Ähnlichkeit, wie sie sich als begriffsförmig oder überhaupt sprachförmig im Sinne des Aussagesatzes begreifen lass~n. Das Geflecht der Grenzen eröffnet den Zugang zu einer Sinnerfahrung, die in der bildtranszendenten Welt sprachlich bestimmbarer Inhalte kein Äquivalent besitzt obwohl die Grenzen auch in der Lage sind, literarisch wiedererkennbare Elemente (z. B. Figuren) zu markieren. '\Das ikonische »Pl~~«, welches au_s dem Kontrast der Grenzen hervorgeht und über die Positivität einzelner benennbarer Binnenörter Macht behält, läßt sich nicht nur gegen den methodischen Ansatz Panofskys kehren, etwa als dasjenige, was die Einheitsbeziehung seiner drei Schichten abgeben könnte. Auch die weitere Differenzierung der Schichtenanalyse führte hier nicht weiter, weil weiter verkannt würde, daß die ikonischen Funktoren, welche_ den vieldeutigen Beziehungsreichtum des Bildes aufbauen, gerade Qualitäten der Grenzen sind, die sich als ihre Bedeutungsleere 462
oder ihre Unbestimmtheit quaJifizieren. Das ikonis~h_Diclue.ist das (yqp_derv:erbalen Sprache. aus g~st:hen) Leerste am Bilde: die\ Nicht- Figur, d. h. die gleichzeitige Beziehungsfom1- von Figur zu Figur, von Figur zu Komposition, zu Farbaufbau etc. In der Unbestimmtheit des Kontrastes zwischen Grenzen hat sowohl die unsubstituierbare Sinnlichkeit ihren Ort, wie, gleichzeitig, jene »Logik« von Korrespondenzen, aus deren Komplexität sich die phanomenale · Gegebenheit eines bestimmten Bildes ergibt. Wir haben es dabei mit dem Paradox zu tun, daß die Unbestimmtheit gerade das anschaulich Dichteste ist, das wor~n die Bildlichkeit des Bildes am stärksten sie selbst, d. h. Erscheinung wurde. Gleichzeitig muß man sich klar machen, daß die kennzeichming der Grenzlinien unter dem Namen der Leere oder Unbestimmtheit aus der Perspektive einer literarischen oder doch jedenfalls sprachlich determinierten Bilderwartung edolgt. Ri~- Flä~heni!!_Yersiml,_ __wie sie g_e_zan.!!,e im reifen und späten Werk entwickelte, ist ein Beispiel mehr für die Erzeugung der Fülle einer Erscheinung, die mit der Kategorie »Leere« nur negativ erfaßt ist. Gemeint ist jenes gegenseitige Sichumdeuten eines gleichen Farb-Flächen-Textes zu verschiedenen Sinnrichtungen hin. In den »Großen Badenden« (London Nat. Gal.) erweist sich ein beliebig herausgegriffenes gleiches Flächenstück in der linken Bildhälfte (im Rücken der äu~ersten Figur) als in mindestens dreifacher Hinsicht vieldeutig. In ihm sind zugleiCh das Volumeii eines Baumes, die Spiegelung des blauen Himme:ls und der Kontur einer Figur angeJegt, ohne daß dabei das eine oder andere - über sein bloßes Inauguriert-sein hinaus - präzis bestimmt wäre. Ein weiteres Beispiel: Die Formdynamik, welche organoide Binnenflächen gegenüber ihrem Grund in Reliefs von Hans Arp entfalten, ist von einer Dichte der Erscheinung, die als Leere zu kennzeichnen wiederum nur trifft, wenn man die hermeneutische Umkehrung mitsieht. Es ist die Abwesenheit von Sagbarkeit, die an die unauslptbare Fülle der Erscheinung nicht heranreicht, in ihr gebrochen wird und als das sprachlich »Leerste« das bildlich »Dichteste« exponiert. Bilder dagegen, welche sich in den I)ie11s.t einer vordergriiridigen und einlinigen Intention der Mitteilung stellen (z. B. Reklamen) vollziehen diese Umkehrung nicht und heben sich durch den Mangel an Leere selbst auf : verschwinden in der transparenten Botschaft, die sie anzeigen. 463
. I?i~jkonische Komplexion, dafür wäre nicht nur Arp ins Feld zu führen, erweist sich als unabhängig von einer ~öglichst großen Anzahl an bildliehen Details. Auch einfache Konstellationen von Binnenformen auf Flächen können zu einer höchst vieldeutigen Fülle der Erscheinung führen, aufgrun.d des Fließens von Flächenenergien, die aus dem einfachen Kontrast ein unendliches Korrespondenzverhältnis von Binnenenergien zu Grundenergien machen. Auch an Mondrian ließe sich nachweisen, daß das vom Künstler gestaltete Grenzliniensystem mit den aus ihnen entstandenen Teilflächen und primären Farbwerten nicht mit seiner geometrischen Definition zusammenfällt, die er durch die systematische Einführung des rechten Winkels zu provozieren scheint. In planer Geometrie würde der Übergangscharakter verschwinden und damit die eigentliche Ikonik. Aus Beispielen dieser Art tritt hervor, wie sich im Prozeß der sprachlichen Interpretation, entlang der Grenzen, die Differenz und Konvergenz der Medien zugleich einstellt. Das Verhältnis von Binnenflächen zum Bildgrund bei Arp ist von der Sprache her gesehen ganz »bedeutungslos«, von der Logik des Bildes her gesehen ist es in einem höchsten Maße »Phänomen«. Die Existenz der Form (äas gesamte System aus Grenzen, Binnenflächen und Zwischenr~umen) staut sich ununterscheidbar von ih~r Erscheinung, zu einer Dichte auf, die wir sprachlich dann zu ~euten vermögen, wenn wir die Eindeutigkeit sprachlicher Verm~l.ntingen und Bestimmungen am Phänomen umkehren und damit transparent machen für die Anschauung des Betrachters. Auch das, was man künstlerischen Stil nennt, ist ein Geflecht von Grenzlinien, ein bestimmter Scopus in ihrer kohärenten Anordnung. Hier hat auch die kunstgeschichtliche Forschung anerkennen müssen, daß dem Stil ein außerbildlicher Inhalt nur um den Preis sehr globaler Konstruktionen zu unterlegen ist. Cezanne beispielsweise hat erkannt, daß sich im Bilde nicht die Grenzen von Gegenständen zueinander verhalten, die Dingkontinuität im Modus der Bilderscheinung ohne jeden künstlerischen Vorrang ist, sondern Farbflächen - unabhängig von den Dinggrenzen, sie überlappend, ig~orierend.- miteinander modulieren. Die Grenzlinien werden hierbei als ein System der aufeinanderstoßenden . Farbflächengrenzen ausgearbeitet, · die in jene, schon charakterisierte, inversive und schweb~nde Bewegung geraten, in der sie die eine Sinnrichtung (hier ist ein Baum)
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exponieren in dem Maße, wie zugleich die konkurrierende Sinnrichtung (hier ist Himmels-Blau) oder eine weitete Sinnrichtung (hier ist der Rücken einer Figur) die andere(n) zurückdrängt. Die Bedeutungsexposition der Bilderscheinung ist zugleich dieses und jenes, und beides in einem, und zusätzlich ein Drittes usw.wenn wir das Gesehene in dieser Weise auf den Modus seiner Genese hin betrachten;Wir verstehen, was es bedeutet, wenn die Bildlichkeit nicht als präs~-;;-ti~chheschdeben wurde, sondern als Potentialität. Die Nichtunterscheidung eines »Etwas« von den Bedingungen seiner Phänomenalität, der Sinnrichtungen mit ihrer übergangsform untereinander - was wir global die Identität von Existenz und Erscheinungsweise nannten - ist Ausdruck 'nicht einer einmaligen und als solche gegenwärtigen Abbildlichkeit, sondern eines Prozesses, bei dem sich das Sein durch sein völliges Heraustreten und übergehen in Erscheinung nicht erschöpft (vollends positiv würde), sondern durch die gänzliche Unausschöpfbarkeit seiner Sinngenese, einen unaufhebbaren Zuwachs an Sein produziert. Diese Beispiele lassen sich naturgemäß über die ganze Bildgeschichte hin vermehren. . ·Wir durchschauen es als ein ganz falsches Ideal, das Inventar von Bedeutungen aufstellen zu wollen, die in einem Bild vorkommen~ Deshalb, weil ein Bild nicht aus einer Summe von Teilen {etwa Zeichen) besteht, sondern sich als ein offenes Feld von Beziehurigen und Kontrasten zwischen Grenzen konstituiert. Von hier aus fällt nochmals ein Licht auf die Simultaneität als Eigenschaft von Bildlichkeit. Ihre falsche Deutung als omnipräsente Gegenwart, die den Betrachtet: nach dem Prinzip von Hase und Igel immer damit überrascht, daß sie ihm voraus, schön immer »da« ist, wurde bereits abgewiesen. In Simultaneität liegt aber nicht nur die Einheit von Übergang und Anwesenheit aller Phänomene, sondern jene Ur-Grenze der Bildlichkeit, Einheitsform aller Grenzlinien in ihr, aus der sich die spezifischen Verräumlichungen und Verzeitlichungen einer konkreten Bildwelt aufbauen. An der Simultaneität erhellt sich das komplexe Verhältnis vofl' Bildlichkeit und Bild. Mit dem Grund des Bildes meinten wir keinen anschauungslosen Ort in einer metaphysischen Hinterwelt, sondern den Prozeß des Phänomens selbst. Aüg~;iqglaber darf die gängige Memungheißen, die da~ Eit1zelne :Biicie'(dem analytische Kategorien folgen können, wie Figur, Gegenstand,
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Fläche etc.), als das zuvorderst Sichtbare erkennt und bei dem sie sich auch als dem überhaupt Sichtbaren beruhigt. Das Bildphänomen baut seine Sprache aus der Einheitsform aller Binnenformen und deren divergenten Bedeutungen auf, nicht im Sinne von Umschließen und Enthalten-sein wie ein Gefäß »Etwas« enthält. Sondern im Sinne eines Bildwerdens, bei dem sich die Weise wie Partikulares erscheint, von der tragenden Matrix, in der die Partikularitäten umgriffen erscheinen, nicht abhebt. Diese Einheitsform nicht eines Bildseins, sondern eines Bilderscheinens und damit eines Vorgangs in actu nennen wir schon immer »simultan«. Von der Simultaneität her wird die Bildlichkeit des Grundes erst bildhaft, wird z. B. ein Gesicht in der Welt, eine Landschaft in der Natur oder einfach Farbe als Stoff, aus dem Status einer äußeren Sachlage, in den der bildliehen Erscheinung überführt. Daß nicht nur dieses und jenes_ im Bild vorkommt,. ,. sondern mit -d~~--SY:st~~ seiner Repräselltanz simultan hervor-,tritt, verleiht dem Bilde jenen Zuwachs an Potentialität~--welcher· ·' es aus der Dienstfunktion einer Abbildlichkeit befreit und zu_: einem Element der Erkenntnis macht, in dem sich was überhaupt-,~ »ist«, auf eine anschauungsbezogene Weise, als ein Sichtbares darstellt. Insofern Bilder derart aus ihrer eigenen Logik sprechen, s1cn:-·durch die Nichtunterscheidung ihres »Seins« und »Erscheinens« auszeichnen," beglaubigen sie sich durch nichts als sich selbst, durch die Modi, in denen sie Sichten des Ungesehenen eröffnen. l:linter die Potentialität des Bildes und seine Beglaubigung durch sich selbst kann kein Betrachter greifen, um sie als ein Etwas oder Ding vor sich zu bringen. Darin scheiterte, wie wir sahen, auch die Bestimmungskraft der verbalen Sprache. Die Verräumlichung und Verzeitlichung des Bildes folgt deshalb auch nicht dem simplen Linearismus der Schrift, als des Schattenrisses der sich entrollenden Intention der Sprache. Das Bild reicht hinter solche lediglich kodifizierende Funktionen zurück und generiert seine Bedeutungen in einem freien Schematismus,_ für d~n -:H~-;:1zoirtafe___una -vertikale, -- biago~ale, Seitenparallelen, Links urid -Rechts etc. zu maßgebenden Vektoren werden. Die Bildgeschichte beschreibt die historische Entfaltung der im Medium des Bildes möglichen Schemabildung aus der, was »Raum« und »Zeit« jeweils bedeuten, ins Sichtbare übertritt.
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VII. Unsere Kritik· am planen Abbildungsverhältnis zwischen den Medien verdeutlichte die sprachlichen Verhexungen, in deren Bann das Bild ein eigenes Wesen einbüßt. Die Selbstbegrenzung der Gestalt des Logos, in historischer wie systematischer Hinsicht, eröffnet die Differenz, die das Bild von seinem GegenMedium trennt. Sie schafft Raum für die Eigenbestimmung des Bildes, ohne doch die Erhellungskraft des sprachlichen Mediums von sich abzustoßen, was zur Verstrickung in eine .wortlose Deixis des Gesehenen geführt haben würde. In der ·gelungenen Übersetzung der beiden Medien stellt sich jene Ambiguität ein, bei der nicht länger ein (sprachliches) Original einer (bildlichen) Verdeutschung überzuordnen wäre. Das wirklich übers~~zte bringt den >Ausgangstext< nicht zum Verschwinden, sondern hebt ihn auf, -was besagt, daß der Überschritt zur Vorlage durch die Sprac~_e. _iil. die übersetzt wurde, möglich -bleibt. Der logische Charakter dieses permeablen Verhältnisses . erwies sich immer wieder als Umkehrung. Die Hermeneutik des Bildes kann die Ver.s!l:<;huil.g durchschaubar machen, die darin besteht, den Sinna~_tausch zwischen den Medien als ein positives Verhältnis der Substitution ·zu konzipieren. Damit arbeitet sie zwei komplementaren Drohungen entgegen, derjenigen Bilder in Sprache Z'!J!Jl Verschwinden zu bringen, wie derjenigen, sie gegen jede sprachliche Verständigung, in der wir uns schon immer bewegen, abzuriegeln. Die erfolgreiche Rekonstruktion des Übergangs zwischen Bilderfahrung und Sprache stellt so nurwieder her, was in der hermeneutischen Praxis, d. h. immer da, wo Betrachter Bilder begreifen und von ihnen ergriffen werden, ungedeutetes Faktum war. . Die methodische Schwierigkeit, die wir zu lösen versuchen, ·besteht· dadn, .. die Umkehrurig im Verhältnis von Bild und : Sprache auch wirklich zu vollziehen. Das Bildliehe läßt sich deswegen nicht in die Prosa des Gedankens überführen; weil es .selbst schon ein übersetztes darstellt. Bei einer bildlichen>Gegebenheit< rekurrieren wir nicht auf >E!Was~lin--sil11l(relrier-·Sach läj~; -~~~~~r~ .au.f -~en 9"berg~g. des._Bil_~s~_ins i~ ~ie _Bil.~~r~ch~i ,nung. Das_ Bild trägt in diesem Sinne zu Recht den alten Namen :des Lebens (Zoon), - der Maler den eines Zoographos -, da sich in seiner Logik die starre Setzung von Realität und abgeleitetem
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Bildschein aufhebt und was >wirklich< genannt zu werden verdient, sich aus der Konkurrenz der Erkenntnismedien Bild und Sprache ausdeutet. Wir sahen das Bild durch Grenzlinien strukturiert. Damit lag zugleich eine bestimmte Artikulation zeitlicher und räumlicher Momente vor, zugleich mit ihrer Rückbindung an eine ursprüngliche Bildlichkeit, die sich im Obergang zwischen Grenzen meldet. Dei Übergang ist einheitsstiftend auf das ganze System der Bilderscheinung hin und er markiert Kontrast und Einklang zwischen den Binnenelementen. Bildlichkeit, die ko-nkret erfahren ~ird als die anschauliche Aufforderung,- ·v~m einem- zum anderen innerhalb de~ Rahme~s überzugehen; unter der Ägiae einer generierenden Bildmatrix, wird von einer analytischen Pe.rsp~ktive, die l.,Jr~ache 1,1p,d WirkuJJ.g, vorher und nachher, empirisch oder transzendental unterscheidet, verfehlt. Bilder eÖ.thaitell, s9 g~sehen, nicht nur Fig~ren, Dinge etc., die Etwas meinen, sondern_ zugleich auch das Schema für die Weise des Entgeg~nkommens der verschiedenen Sinnrichttt~gen. Im wörtlichen Sinrie denkwürdig ist die Infragestellung aller Kategorien, die wir zur Bestimmung des Bildes in Anschlag brachten. Wir sprachen davon, die >Seinsleeren< Stellen, die Kontraste, >Nicht-Figur<) hindurch zurücksehen könne auf die Möglichkeit einer Identität vor allen polaren Kontrapositionen von Diesem und Jenem. >Vor<, >Durch<, >Zurück< sind dabei metaphorische Zwänge der Sprache, die ins Bild eine Räumlichkeit hineintragen, die es von sich her nicht nahelegt. ~~-~--~e~__Bildgrund ein abstraktes Prinzip hinter der Bilderscheinung, so prätendierte er lJ.rsprünglichkeit. Eine solche Verführung 1st. ein Schein de~ Sprache, der im Bilde zu falsifizieren ist : Grund und Phänomen kehren sich im Bild simultan um. Es ist ganz >Oberfläche< (aber keines -Dinges), ein tausendäugiger Aigus, der aus ·der Dichte des Phänomens dem Betrachter entgegenblickt. . .. . :Öie übersetzbarkeit des Bildes in Sprache hat ihr Fundwent dariJl, daß auch in der Sprache selbst dieser Rückgang auf Bildlid.1.keit vollzogen werden kann. Der gemeinsame Grund für die Übersetzung der beiden Medien, von dem wir sagten, er 468
müßte in jeder gelungenen Interpretation mitübersetzt werden, ist die Struktur der Bildlichkeit selbst, die in sich die Ungetrenntheit des Menschen mit dem ganzen Umkreis des Erfahrbaren, ein ursprüngliches Eingeprägtsein von Seele und Sein schematisiert. 13 Von dieser Struktur der Bildlichkeit können wir denkend reden, etwa in der Theorie der Einbildungskraft, die sich (nach Kant) dieses Grundes als der gemeinsamen Wurzel aller Stämme des Erkenntnisvermögens (Vernunft, Verstand, Anschauung, Urteilskraft) denkend versichert. Re.al erfahren und sichtbar zu machen v~rmöge~ wir die$en Grund aber nur im Bilde. Da~ _Bild reic~t deshalb zurück in eine Vorgeschichte des Denkefis und d_e.s werdenden Bewußtseins, vor die metaphysischen Entitäten-Sinnlichkeit und Geist, Innen und Außen, Sein und Erscheinung. Das Problem der Bildlichkeit meldet sich, wenn der Übergang zwischen diesen polaren Reflexionsbegriffen bestimmt werden soll. Es meldet sich als die N abtstelle von Zeichen und Bezeichnet~!~!· Die H~~~~~e~tik des Bildes gleicht somit in diesem Aspekt einer systematischen Archäologie unserer Begriffssprache, auf der Suche nach dem von ihr Verdeckten. Sie klärt den spezifischen Übersetzungsvorgang zwischen den Medien Bild und Sprache, der sich in anderer Weise auch sonst unseren Erfahrungen Ut1d unserem Denken ergibt, wenn es beispielsweise darum geht, den Zusammenhang von Anschauung und Begriff oder von Theorie und Praxis darzustellen. Das hier skizzierte Verfahren hermeneutis~her. Kritik kann deshäfb--~f~---d~r--Speiialfall· der universäten überset_zungsafbeit des Geistes__ yerstanden werden, eines Geistes freilich, der die Sinne und ihre Organe .ril.cht außer sich hat. Die damit inaugurierte Idee der Interpretation, als das Kernstück einer Theorie und Geschichte des Bildes, hat ihr Ideal keineswegs in einem sonnenhaften Logos und in der totalen Selbstdurchsichtigkeit eines absoluten Wissens, sondern sie vollendet sich in der Rekonstruktion einer Offenheit für neue Erfahrungen.
Anmerkungen !1 Vgl. Helmuth Plessner, Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Aus.. drucks, in: H.-G. Gadamer (Hrsg.), Das Problem der Sprache
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(8. Deutscher Kongreß für Philosophie, 1966), München 1967, S. 555-566 ; und Michael Polanyi, The tacit dimension, N ew York 1966. ~) Vgl. Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, 2 Bde., München 1971, und meine EinleitungS. XXI-LXI. 3 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 128 ff., besonders die Seinsdarstellung des Bildes als Emanation. 4 Erwin Panofsky, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in : Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1964, S. 85 ff., bes. S. 95. 5 a.a.O., S. 95. (6' Vgl. W. A. Koch, Varia Semiotica, Hitdesheim 1971, S. 296 ff. Schon die Bestimmung isotierbarer und konventioneller Zeichen scheitert in der Malerei,. um so mehr dann die nachfolgende Bedeutungsanalyse. Vgl. ferner Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, bes. S. 197 ff. und S. 236 ff. Auch Eco kann die Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht eliminieren, die der Semiotik der Malerei eine sehr enge Grenze setzt. Vgl. Jean Paris, Syntaxe du Visible, in: Change Nr. 26/27 S. 8, der von zwei Häresien spricht: >L'annexion du visuel par le linguistique et l'annexion du linguistique par le visuek 7 Poetische Metaphern _kommunizieren auf ihre Weise innerhalb der Sprache- mit Bildlichk:eit. Sie sind in dem Sinne absolut, als sie einen Sinn präsentieren, fUr den es keine diskursive Übersetzung gibt. Hölderlin reflektiert ·.darüber in: >Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes<, u. a. in der Wendung vom >Grund des Gedichtes<, Dieser >... seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen dem Ausdruck, dem Dargestellten, d.em sinnlichen Stoffe, dem eigentlich Ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste der idealischen Behandlung.< (SWIV, Stuttgart 1965, S. 254). 8 Vgl. zu dieser Erweiterung des Begriffes von >Übersetzung< den Beitrag von Walter Benjamin: Die Aufgabe des Obersetzers, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1961, S. 56-69. 9 Schon die vielleicht wirkungsvollste europäische Ursprungsmythe der Bildlichkeit, die von Narziß, der sich im spiegelnden Wasser betrachtet und verliert, exponiert nicht zufällig das Bild als Spiegel, Selbsterfahrung als Spiegelung. Daneben zeugt dieser Mythos von der Vertrautheit mit der Erfahrung, daß sich im Medium des Bildes und der ihm eigenen Kräfte einer oft magisch getönten Räumlichkeit und Zeitlichkeit, eine Auslöschung des Subjektes vollzieht. Das Bild ist in einem radikalen (nicht gattungsbezogenen) Sinne memorial, d ..h: es bezeugt den Tod. Die von ihm inaugurierte Diffusion der mens~!ili chen Personalität stellt ein weiteres Mal seinen naturhaften, vor all Positivität zurückreichend Rang unt~r Beweis. Diese Erfahrungen
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sind vielfach bezeugt, u. a. in der Todesdrohung, die sich mit der Enthüllung verschleierter Bilder verknüpft. Noch die Phänomene der Bildhoheit, der Bilderschändung und des Bildersturms setzen eine Seinsgeltung des Bildes voraus. Vgl. W. Brückner, Bildnis und Brauch, Berlin 1966, und W. Benjamins Bemerkungen in:· Der Erzähler, a.a.O., S. 421 : >Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann.< · 10. Vgl. zu diesen Begriffen H.-G. Gadamer, a.a.O., J. Derrida, Grammatologie, ·Frankfurt/M. 1974, bes. S. 81, 99, 122, und mein eigener Versuch, Die Dialektik der ästhetischen Grenze, in: Neue Hefte für Philosophie Nr. 5, S. 118-138. /1\ Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt: M. Merleau-Ponty; Das ~ittel-:-._ i.__ bare Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in : D(l!_ A,~ge HiJd..der Geist, Reinbek 1967, S. 69-114. · 12 Vgi:TlLGeörgiades~ Musik und Schrift, München 1962, S. 12: >>Dem Komponisten stehen keine präformierten den Worten analoge Gebilde zur Verfügung, die bedeuten, sondern nur Möglichkeiten von Tori- und Zeitrelationen, nur Elemente- nicht den Worten, sondern eher den Lauten vergleichbar.... Der Akt des Sinn-Realisierens geschieht hier (in der Komposition- G. B.) erst durch Verknüpfung dieser bedeutungsfreien Elemente im Bereich der tönenden Sphäre; .. ,« 13 Die aporetische >Lösung< des Übersetzungsproblems nach der Devise Wittgensteins, worüber man nicht reden könne, darüber müsse man schweigen, erweist sich vor diesem Hintergrund als ein nominalisti-scher Schein. Sie wird dem Faktum nicht gerecht, daß der Übergang zwischen den Medien Bild und Sprache schon immer existiert, wenn wir über Bilder reden, und sie verfehlt den Phänomencharakter des Bildes. S. J. Schmidt hat für dieses Problem eine Lösung nach dem Modell der negativen Theologie vorgeschlagen:>, .. den durch keine · Beschreibung zu kassierenden Eigenwert eines Kunstwerkes< als das radikale >Andere< der Beschreibung zu qualifizieren. Auch diese Lösung verstrickt sich in einen nominalistischen Konflikt, der zwar den Eigenwert von >Kunst< oder >Bild< als Gegenwirklichkeit no.ch festhält, aber nicht klären kann, warum es uns gelingt, Bilder sprachlich verständlich zu machen. Das Verfahren der Umkehrung scheint diese Schwierigkeiten vermeiden zu können, die beim negativen Modell Schmidts unabwendbar sind. Vgl. S. J. Schmidt, Wissen::· schaftstheoretische Vberlegungen zum Entwurf einer >kriteriologischen< Kunstwissenschaft, in: S. Moser (Hrsg.),- Information und Kommunikation, Referate und Berichte der 23. Internationalen Hochschulwochen, Alpbach 1967, München/Wien 1968, S. 156.
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- Zur Soziologie der symbolischen Formen I 07 Bourdieu u. a., Eine illegitime Kunst 44 I Brou~/T~mime, Revolution und Krieg in Spanien.
2
- Drei Studien zu Hegelx 10
- Einleitung in die Musikso7.iologie - Kierkegaard 7 4 - Negative Dialektik 11 J
14:1
1 Bde. uB
- Noten zur Literatur 3 H
- Philosophie der neuen Musik 139 - Philosophische Terminologie Bd. 1 1J - Philosophische Terminologie Bd. 1 JO - Prismen I 78 - Soziologische Schriften I J06 Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W.Adornos 111
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation 4]6
Bruder, Psychologie ohne Bewußtsein 41 S Bubner, Handlung, Spn.chc und Vernunft 382 - Gesd!id!tsprozesse und Handlungsnormen 46 3 Bucharin/Deborin, Kontroversen 64 Bürger, Vermittlung- Rezeption -Funktion 2.88 - Tradition und Subjektivität 32.6 - Zur Kritik der idealistischen 1\.sthetik 4 I 9 Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte 286 Castel, Die psyd!iatrische Ordnung 451 Castor.iadis, Durchs Labyrinth 4 3 ~
Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce 141 - (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie 375 - Transformation der Philosophie, Bd. I 164 - Transformation der Philosophie, Bd. 1 165 Arnaszus1 Spieltheorie und Nutzenbegriff f t Ashby, Einführung in die Kybernetik J4
Cerquiglini/Gumbred!t (Hg.), Der Diskurs der Literatur· und Sprachhistorie 41 I · · Childe, Soziale Evolution I I J Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie 42 - Reflexionen über die Sprad!e 18 J ·
Avineri, Hegeb Theqrie des modernen Staates 146
- Sprad!e und GeiSt I 9 Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie 99 Claessens, Kapitalismus als Kultur 175
Bacbelard, Die Philosophie des Nein p 5 Bad!ofen, Das Mutterred!t IJJ Barth, Wahrheii·und Ideologie 68 Batscha/Garber (Hg.), Von der ständisd!en zur bür· gerliehen Gesellsd!aft 36 J Bauriedl, Beziehungsanalyse 474 ·Baxandall, Die Wirklid!keit der Bilder 441 Becker, Grundlagen der Mathematik II4 Bendix, Freiheit und historisches Schidual 390 - Könige oder Volk. 1 Bde. JJ 8 Benjamin, Charles Baudelaire 47
- Der Begriff der Kunstkritik 4 - Ursprung des deutschen Trauerspiels 2.15 Materialien zu Benjamins Thesen ~Ober den Begriff
der Gesd!id!te• (hg. v. Bulthaup) 111 Bernfeld, Sisyphos 37 Bilz, Studien über Angst und Sd!merz 44 - Wie frei ist der Mensd!l I7 Bloch, Das Prinzip Hoffnung. ) Bde. J - Geist der Utopie JJ - Naturred!t 150 - Philosophie d. Renaissance 1 J1 - Subjekt/Objekt 1p - Tübinger Einleitung 1 J)
Condon:et, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortsr:hrjtte des menschlidlen Geistes I 7 ~
Coulmas, über Schrift J 78
Cremerius, Psydlosomat. Medizin 2.~ s
- (Hg.), Rezeption der Psychoanalyse 196 van den Daele, Krohn, Weingart (Hg.), Geplante
Forsd!ung 119 Dahme/Rammsted• (Hg.), Georg Simmel und die Moderne 469 Dahmer, Libido und Gesellsd!aft 341 Danto, Analytische Gesd!icbtsphilosophie pB Dehorin/Bucharin, Kontroversen 64 Deleu>,e/Guattari, Anti-Odipus 114 Denninger (Hg.), Freiheit!id!e demokratisd!e Grundordnung. 1 Bde. I JO Denninger/Lüderssen, Polizei und Strafproz.eß
- Atheismus im Christentum 1.~4
- Spuren 459 Materialien zu Blochs •Prinzip Hoffnung<
- Regeln und Repräsentationen 3ft
II1
Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte
und überarbeitete Neuausgabe. 14/79!174 in Kas-
Dreeben, Was wir in der Schule lernen 1.94
sette
- Säkularisierung und Selbstbehauptung (1. u. 1. Tell von •Legitimität«) 79 - Der Prozeß der theoretischen Neugierde (). TeU von •Legitimität«) 2-4 - Aspekte der Epod!ensd!welle (4. Teil von •Legitimität•) 174 - Die Genesis der kopernikanisd!en Welt. 3 Bde. 351 - Schiffbrud! mit Zuschauer 189 Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit 163 Böhme, Alternativen der Wissensd!aft JJ4 Böhme/van den Daele/Krohn, Experimentelle Philosophie 10J Böhme/v. Engelhardt (Hg.), Entfremdete Wissenschaft 178 Bonß/Honneth (Hg.), Sozialforsd!ung als Kritik 400 Bourdieu, Entwurf einer Theqrie der Praxis
218 Derrida, Die Sd!rift und die Differenz I77 - Grammatologie 417 Descombes, D.. Selbe und das Andere 346 Devereu:x, Normal und anormal 39J - Angst und Methode in den Verhaltenswissen· sd!aften 46I Dilrhey, Der Aufhau der gesd!id!tlichen Welt in den Geisteswissenschaften J~ 4 Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik H J
191
Dreier, Red!t-Moral-Ideologie 344 Drews/Bredit, Psyd!oanalytische Id!-Psyd!ologie ;8t Dubiel 1 Wissenschaftsorganis:ition 2.18 Duby, Krieger und Bauem 454 Duby/Lardreau, Gesd!id!te und Gesd!id!tswissensd!aft 409 Durkheim, Der Selbstmord 43 t - Soziologie und Philosophie I76 - Die Regeln der soziologisd!en Methode 464 Dux, Die Logik der Weltbilder 370 . l!dtstaedt/Klüwer (Hg.), Zeit allein heilt keine Wunden 308 Eco, Das offene Kunstwerk 2.21
l!delstein/Habermas (Hg.), Soziale Interaktion und soziales Verstehen 446
Edelstein/Keller (Hg.), Perspektivitiit und Interpretation 36-i Eder, Die Entstehung staatl. organisierter Gesell-
schaften 33> Ehlidt (Hg.), Erzählen im Alltag }23 Einführung in den Strukturalismus (hg. v. Wahl) xo Eliadc, Schamanismus I z6 Elias, Die höfische Gesellschaft 4'3
- über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I 158 - über den Prozeß der Zivilisation, Bd. > 1!9 MateriaHen zu Elias• Zivilisationstheorie ZJ3 Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert
Elias' ZivilisationStheorie > 418 Enzensberger, Literatur und Interesse
Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Weltund Lehensanschauung in Frankreich. • Bde. lJ6 Grunberger, Vom Narzißmus zum Objekt 39• Guattari/Deleuze, Anti-ödipus 1>4 Habermas, Erkenntnis und Interesse 1 - Moralbewußtsein ... 12.2. - Theorie und Praxis lH - Zur Rekonstruktion de.s Historischen Materialismus J f4 Materialien zu Haberma.s' •Erkenntnis und Interesse4
49 Hare, Freiheit und Vernunft 457
- Die Sprache der Moral 41> 302
Erdheim, Die gesellschallliehe Produktion von Unbewußtheit 461 Erikson, Der junge Mann Lother U7 - Dime.nsionen einer neuen Identität 100
- Gandhis Wahrheit 261 - Identität und Lebenszyklus x6· Erlieh, Rossischer Formalismus 11 Ethnomethodologie (hg. v. Weingarten/Sacht Schenhein) 7' Euchncr, Naturrecht und Politik bei John Locke z8o Evans-Prichard, Theorien über primitive Religion 3!9 Fetscher, Rousseaus politische Philosophie I.fJ
Fichte, Politische Schriften (hg. v.Batscha/Saage) 2or Flader/Grodzicki/Schröter (Hg.), Psychoanalyse als Gespräch 377 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache 3 zz - Erfahrung und Tatsache 404 Foucault, Archäologie des Wissens 316 - (Hg.), Der Fall Riviere Ii8 - Die Ordnung der Dinge 96 - Sexualität und Wahrheit 448 - überwachen und Strafen 1g4 - Wahnsinn und Gesellschaft 39 Frank, Das Sagbare und das Unsagb~re 317 v. Friedeburg/Habermas (Hg.), AdernoKonferenz I 98 3 460 Friedensutopien, Kant/Fichte/Schlegel/Görres (hg. v. Batscha/Saage) 267 Fulda u. a., Kritische Darstellung der Met.._physik 3 I s Furth, Intelligenz und Erkennen 160 Galileo Galilei, Sidereus Nuntius 337 Gert, Die moralischen Regeln -405 Gethmann, Logik und Pragmatik 399 Geulen (Hg.), Perspektivenübernahme und soziales Handeln 348 Gleichmann/Goudsblom/Korte (Hg.), Materialien zu Norbert Elias• Zivilisationstheorie 2 J3 - Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie 2. .p s' . Giddens, Die Klassensuuktur fortgeschrittener Gesellschallen 4 J2 Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch 396 - Rahmen-Analyse 329 - Stigma 140 Goldstein/Freud/Solnit, Diesseits des Kindeswohls 3g3 Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd 237 Goudsblom, Soziologie auf der Waagschale 2>3 Gouldner, Reziprozität und Autonomie 304 Grewendorf (Hg.), Sprechakttheorie und Semantik q6 Griewank, Der neuzeitlidte Revolutionsbegriff J2
H~rman, Das Wesen der Moral 314
Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts •4! - Phänomenologie des Geistes 8 Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes' 9 · . Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. I 88 Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 2 89 Heinsohn, Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschall 4!! . Helfer/Kempe, Das geschlagene Kind 247 Heller, u. a., Die Seele und das Leben So Henle, Sprache, Denken, Kultur uo Hobbes, Leviathan 46z Höffe, Ethik und Politik z66 - Sittlich-politische Diskurse 3 go Hörisch (Hg.), Ich möchte ein soldler werden wie ... 283 Hörmann, Meinen und Vernehen 2.30 Hotfmann, Charokter und Neurose 438 Holbach, System der Natur 219 Holenstein, Roman JakoDsons phänomenologischer Strukturalismus
1 x6
- Von der Hintergehbarkeil der Sprache Jt6 Holton, Thematische Analysen der Wissenschaft 293 Honneth/Jaeggi (Hg.}, .Arbeit, Handlung, Normativitä.t .. Theorien des Historischen Materialismus z 32' Hymes 1 Soziolinguistik 2.9.9 Jäger (Hg.), Kriminologie im Strafprozeß 309 - Verbrechen unter totalitärer Herrsdlaft 388 Jaeggi, Theoretische Praxis I49 Jaeggi/Honneth (Hg.), Theorien des Historischen MateriaHsmus 1 182 Jacobson, E., Depression 4f6
- Das Selbst und die Welt der Objekte 241 Jakobson, R., Hölderlin, Klee, Brecht r62 - Poetik 262 - /Pomorska, Poesie und Grammatik 386 Jakobson, R./ Gadamer/Holenstein, Das Erbe Hegels II 440 Jamme/Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft 4'3 jokisch (Hg.), Techniksoziologie 379 Kant, Die Metaphysik der Sirten 190 - Kritik der praktischen Vernunf\ J6 - Kritik der reinen Vernunft. z Bde. H - Kritik der Uneilskraft !7 - Schriften zur Anthropologie I I 92 - Schriften zur Anthropologie 2 I 93 - Schriften zur Metaphysik und logik r I 88 - Schriften zur Metaphysik und Logik 2 189 - Schriften zur Naturphilosophie 191 - Vorkritische Schriften bis 1768 I 186 - Vorkritische Schriften bis I768 • 187 Kant zu ehren 61 · Materialien zu Kants ·Kritik der praktischen·· Vernunft~ 59
Materialien zu Kants ~Kritik der reinen Vernunfee 58 Materialien zu Kants )Kritik der Urteilsknftc 6o Ma<erialien zu Kants •Rechtsphilosophie• 17.1 Kenny, Wittgenstein 69 Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus 4~9 Keupp/Zaumseil (Hg.), Gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens 246 Kierkegaard, Philosophische Brocken 147 - Ober den Begriff der Ironie U7 Koch (Hg.), Seminar: Die juristisd>e Methode im Staatsrecht 198 -Körner, Erfahrung und Theorie 197 Kohut, Die Heilung des Selbst 3l3 - Die Zukunft der PsychOanalyse n.5 - Introspektion, Empathie und Psychoanalyse 207 - Narzißmus q 7 . Kojeve, Regel. Kommentar zur >Phänomenologie des Geistes• 97 Koselleck, Kritik und K:rise 36 Koyre, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum )10 Kraca·uer, Der Detektiv-Roman ~97 - Geschiclue- Vor den letzten. Dingen 11 Küppers/Lundgreen/Weingart, Umweltforschung
21! Kuhlmann/Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion 408 Kuhn, Die Entstehung des Neuen 136 - Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 2J Lacan, Schriften 1 1 37 Lange, Geschichte des Materialismus. 2 Bde. 70 Laplanche/Pontolis, Das Vokabular der Psychoanalyse 7 Leach, Kultur und Kommunikation 212 Leclaire, Der psychoanalytische Prozeß 119 Lenk, Zur Sozialphilosophie der Technik 414 Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache ll7 Lenski, Macht und Privileg 18 3 Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte 227 - (Hg.), GeschiChte der Soziologie. 4 Bdo. 367 Leuriinger, Reflexionen über die Universal· grammatik 28% Livi -Strauss, Das wilde Denken I 4 - Mythologica I, Das Rohe und das Gekochte t67 - Mythologica II, Vom Honig zur Asche t68 - Mythologica 111, Der Ursprung der Tischsitten t69 - Mythologica IV, Der nackte Mensch. 2 Bde. 170 - Strukturale Anthropologie 1 216 - Traurige Tropen 240 Lindner/Lüdke (Hg.), Materialien zur ästhetischen Theorie th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne 122 Locke, Zwei Abhandlu11gen ~ IJ Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie 9.3 - Methodisches Denken 73 Lorenzer, Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis 173 - Sprachspiel und Interaktionsformen 8t - Sprachzerstörung und Rekonstruktion 31 Lüderssen, Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen 347 LUderssen/Sack (Hg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. 1 Bde. 327 - s. a. unter Seminar Lüderssen/Seibert (HS.)• Autor und Täter ~61 Lugowski, Die Form der Individualität im Roman_
ISI
Luhmann, Funktion der Religion 407 - Legitimation durch Verfahren 44 3 - Zweckbegriff der Systemrationalität 12 Luhmann/Pfürtner (Hg.), Theorietechnik und'Moral 106 Luhmann/Schorr (Hg.), Zwischen Technologie ·und"--'Selbstreferenz 391 Lukacs, Der junge Hege!. 2 Bde. JJ Macpherson, Nachruf auf die liberale Demokratie )05
- Politische Theorie des Besitzindividualismus 41 Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur 104 Mandeville, Die Bienenfabel JOD Mannheim, Strukturen des Denkens 198 Markis, Protophilosophie 318 Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichaphilosophie 394 . Martens (Hg.), Kindliche Kommunikation 272 Marxismus und Ethik (hg. v. Sandkühler/Vega) 75 deMause (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen 139 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft .18 Mehrtons/Richter (Hg.), Naturwissenschaft, Tedmik und NS-Ideologie 303 Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen 42 7 Meillassoux, Die wilden Früchte der.Frau 447 Meja/Stehr (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie. 2 Bde. 361 · Menne, Psychoanalyse u~d Unterschidu .301 Menninger, Selbstzerstörung 249 Merleau-Ponry, Die Abenteuer der Dialektik tOJ · Merton, Auf den Schultern von Riesen 426 Metra!, Die Ehe 357 Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft I I~ Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus 43 Mittelmaß, Die Möglichkeit von Wissenschaft ,6a - (Hg.), Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln 270 - Wissenschafr als Lebensform 376 Mitterauer/Sieder (Hg.), Historische Familien. forschung 387 Mommsen, Max Weber JJ Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie 54 Morris, Pragmatische Semiotik und Handlungs: ' theorie - Symbolik und Realität 342 Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von E. Bloch 372 Needham, Wissenschaftlicher Universalismus 264 Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus zB I Nowotny, Kernenergie: Gefahr oder Notweridig-. keit 290 · O'Connor, Die Finanzkrise des St~ates 8 3 Oelmüller, Unbefriedigte Aufklärung 263 Oppitz, Notwendige Beziehungen 101 Oser, Moralisches Urteil in Gruppen, Soziales Handeln, Vorteilungsgerechtigkeit 33J · Parin/Morgenthaler/Parin-Manh~y. Fürchte deinen Nächsten 2 3J Parsons, Gesellschaften 106 Parsons/Schütz, Briefwechsel 201 Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen .j2J Peukert, Wissenstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie z 3I Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde 17 - Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde 77
'7'
- Einführung in die genetische Erkenntnistheorie 6 Plessner, Die verspätete Nation 6& Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft 29r - The Great Transformation .z6o Pontalis, Nach Freud roB Pontalis/Laplanche, Das Vokabular der Psycheanalyse. 2 Bde. 7 Propp, Morphologie des Märchens 13 I Quine, Grundzüge der Logik 6s Rawls, Ei_ne Theorie der Gerechtigkeit 171 Red:, Identität, Rationalität und Verantwortung 369 Redlich/Freedman, Theorie und Praxis der Psychiatrie:.• Bde. 148 Reif (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit 4!3 Reinalter (Hg.), Freimaurer und- Geheimbünde 403 Ribeiro, Der zivilisatorische Prozeß 4JJ Ricc:Eur, Die Interpretation 7.6 Riner, Metaphysik und Politik 199 Rodi/Lessing (Hg.), Materialien zur Philosophie Wilhclm Diltheys 439 · Rosenbaum, Fo_rmen der Familie J74 Sandkühler (Hg.), Natur und ßeschichtlicher Prozeß
'397 v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache 29 Schadewaldt, Anfänge der Philosophie bei den Griechen >IB - Die Anfänge der' Geschichtsschreibung bei den Griechen 389 Schelling, Philosophie der Offenbarung 1BI - Ober das Wesen der menschlichen Freiheit rJ8 Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen IU
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Schleiermach er, Hermeneutik und Kritik z 1 t Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre 269 Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung 3n - (Hg.), Verhalten,- Handeln und System 310 - (Hg.), Max Webers Studie ü~er das antike Judentum 340 - (Hg.), Max Weber.s Studie über Konfuzianismus und Taoismus 401: · Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, .I~.J'-19)3 40I - (Hg.), Rationalität 449 Schnelle (Hg.), Sprache und Gehirn 343 Schöfthaler/Goldschmidt (Hg.), Soziale Struktur und Vernunft j6f Scholem, Die jüdische Mystik 330 - Von der mystischen Gestalt der Gottheit 209 - Zur Kabbala und ihrer Symbolik 13 Sdiütz, Das Problem der Relevanz J7t - Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt 9.1 - Theorie der Lebensformen HO Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt Bd. I >84 - Strukturen der Lebenswelt Bd. II 428 Schulze (Hg.), Europäische Bauernrevolten in der frühen Neuzeit 393 Schumann, Handel mit Gerechtigkeit 214 Schwemmer, Philosophie der Praxis 331 Schweppenhiiuser (Hg.), Benjamin über Kafka J+I Searle, Ausdruck und Bedeutung 349 - Sprechakte 4S8 Seebaß; Das Problem von Sprache und Denken 179 Seminar: Abweichendes Verhalten I (hg, v. Lüderssen/Sack) 84 - Abweichendes Verhalten I1 (hg. v. Lüderssen/Sack) Bs - Abweichendes Verhalten 111 (hg. v. Lüderssen/Sack) 86
- Abweichendes Verhalten IV (hg, v. LUderssen/Sack) 87 - Angewandte Sozialforschung (hg; v. Badura) I lJ - Zur Philosophie Ernst Blochs (hg . .,., B. Schmidt) 268 - Dialektik in der Philosophie Hegels (hg. v. Horstmann) 234 - Die juristische Methode im Staatsrecht (hg. v. Koch) t98 - Entstehung der antiken Klassengesellschaft (hg. v. Kippenberg) I30 - Entstehung von Klassengesellschaften (hg. v. Eder) JO - Familie und Familienrecht I (hg. v. Simitis/Zenz) 101 - FamiJie und ·Familienredtt li (hg. v. Simitis/Zenz) IOJ · - Familie und Gesellschaftsstruktur (hg. v. Rosenbaum) 244 - Freies Handeln und Determinismus (hg. v. Pothasc) •s7 - Geschichte und Theorie (hg. v. Baumgartner/RUsen) 98 - Gesellschaft und Homosexualität (hg. v. Lautmann) 200 - Hermeneutik und die Wissenschaften · (hg. v. Gadamer/Boehm) 238 - Kommunikation, Interaktion, Identität
(hg. v. Auwärter/Kirsch/Schröter) I s6 - Lirerar:ur.. und Kunstsoziologie (hg. v. BUrger) •4S - Medizin, Gesellschaft, Geschichte (hg. v. Deppe/Regus) 67 - Philosophische Hermeneutik (hg. v. Gadamer/Boehm) I44 - Politische tlkonomic (hg. v. Vogt) u - Regelbegriff in der praktischen Semantik (hg. v. Heringer) 94 - Religion und gesellschaftliche Entwicklung (hg. v. Seyfarth/Sprondel) 38 - Sprache und Ethik (hg. v. Grewendorf/Meggle) 9I - Theorien der künstlerischen Produktivität (hg. v. Curtius) r66 Simitis u. a., Kindeswohl .19.2. Simmel, Schriften zur SozioloGie 4 34 Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien >IO Solla Price, Linie Science - Big Science 48 Sore!, Ober die Gewalt 360 Spierling (H~.). Materialien zu Schopenhauers .Die Welt aJ; Wille und Vorstellung< 444 Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell }Z Sprachanalyse und Soziologie (hg. v. Wiggershaus) UJ Sprache, Denken, Kultur (hg. v. Henle) uo Strauss, Ans~lm, Spiegel und Masken 10.9 Strauss, Leo, Naturrecht und Geschichte 2.16 Sz.ondi, Das lyrische Drama des Fin de si~cle 90 - Einflihrung in die literarische Hermeneutik I z.-. - Poetik und Geschichtsphilosophie I 40 - Poetik und Geschichtsphilosophie II 7• - Schriften I 219 - Schriften 2 2 2.0 - Theorie des bürgerlichen Trauerspiel. I 1 Taylor;Hegel 416 Tfmime/Brou~, Revolution und Krieg in Spanien. z Bde. u8 Theorietechnik und Moral (hg. v. Luhmann/ Pfürtner) zo6 Theunissen, Sein und Schein 314
Theunis;en/Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Kierkegaards >4 t Thompson, Ober Wachstum und Form 410 Tiedemann, Dialektik im Stillstand 44! Toulmin, K:ritik der kollektiven Vernunfl: 437 - Voraussicht und Verstehen 3J8 . Touraine, Was nützt die. Soziologie? 1}3 Troitzsch/Wohlauf (Hg.), Technik-Geschidne )19 Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbst!>estimmung zzz - Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie 4! Uexküll, Theoretische Biologie .zo Ullrich, Technik und Herrs
>IJ Vranicki, Geschichte "des Marxismus, 1 Bde. 406 Wahl/Honig/Gravenhorst, Wissenschaftlichkeit und Interessen 398 Wahrheitstheorien (hg. v. Skirbekk) 210 Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens 311 Waldenfels/Broekman/Pabnin (Hg.), Phänomenologie und Marxismus I 19 s · - Phänomenologie und Marxismus II •96 - Phänomenologie und Marxismus III 2 3' - Phänomenologie und Marxismus IV 273
Watt, Der bürgerliche Roman 78 Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie 204 Weingart, Wissensproduktion und soziale·Struktur
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Weingarten u. a. (Hg.), Ethnomethodologie 7 r Weizenbaum, Macht der Computer 174 Weizsicker, Der Gestaltkreis 18 Wesel, Aufkliirungen über Recht ]68 - Der Mythos vom Matriar