Brian Garfield
Ein Mann sieht rot
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Brian Garfield
Ein Mann sieht rot
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Wie ein Faustschlag wirkt dieser Roman, der eine Auseinandersetzung provoziert, die längst fällig war: Selbstjustiz gegen Gangsterterror? Rache auf eigene Faust - ein Thema, dessen Verfilmung mit Charles Bronson in der Hauptrolle ein Welterfolg wurde. ISBN 3-8118-2140-7 Titel der Originalausgabe: Deathwish Aus dem Amerikanischen von Heinz Nagel Copyright © 1972 by Brian Garfield Copyright © 1974 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung Genehmigte Taschenbuchausgabe Umschlagfoto: Karkosch Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz Wöllzenmüller, Druck und Bindung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
Buch Dieser Roman lieferte die Vorlage für den Charles-Bronson-Film »Ein Mann sieht rot«, der ein großer Erfolg wurde, aber auch heftige Diskussionen auslöste. New York - Hauptstadt des Verbrechens. Ein biederer Bürger greift zur Selbstjustiz, nachdem eine Gruppe Halbwüchsiger seine Frau und seine Tochter überfallen und mißbraucht hat. Die Frau stirbt, die Tochter erleidet einen schweren psychischen Schock. Steuerberater Paul Kersey, zunächst fassungslos diesem Verbrechen an seiner Familie gegenüberstehend, provoziert kleine, mickrige Kriminelle, um sie auf frischer Tat zu überraschen und zu erschießen. Er wird zum Rächer auf eigene Faust - und die Polizei duldet Kerseys Killerei, weil ihr die abschreckende Wirkung auf Gangster und Gauner zupaß kommt. Die Entscheidung, den durch nichts motivierten Überfall auf seine Familie zu rächen, fällt Kersey nicht leicht, er muß sich dazu zwingen, und dem Schwenk vom braven Bürger zum brutalen Bösewichtjäger geht ein differenzierter psychologischer Prozeß voraus. »Ein erstklassiger Thriller« (New York Magazine)
1 Später legte er es sich zurecht, wo er zu der Zeit des Überfalls auf Joanna und Carol gewesen war. Es mußte ein paar Minuten nach dem Mittagessen gewesen sein. Es war ein feuchtfröhliches Beisammensein mit den Kunden gewesen, und Paul hatte die Wirkung der Martinis gespürt. Er war etwas schwankend mit Sam Kreutzer hinausgegangen, und sie hatten sich an der Fünfundfünfzigsten Straße ein Taxi geschnappt. Als sie die Seventh Avenue hinunterfuhren, waren sie am oberen Times Square im Verkehr steckengeblieben, und Paul erinnerte sich noch, wie er beinahe an den giftigen Qualmschwaden eines Omnibusses erstickt wäre, der neben dem Taxi zum Stillstand kam. Um die Zeit mußte es passiert sein: Die Polizei hatte die Zeit des Überfalls auf zwei Uhr vierzig festgelegt. Ein drückend schwüler Mittag. To uristen und Nutten bewegten sich mit leeren Blicken und in verschwitzten Kleidern den Gehsteig entlang. An den Straßenecken verkauften Männer in rußigen T-Shirts Spielzeug und Ledergürtel. Normalerweise konnte man es nicht sehen, wie die vergiftete Luft einem die Lungen angriff, also achtete man nicht darauf; aber die Auspuffgase des Busses brachten Paul zum Husten, und das wiederum trug ihm stechende Kopfschmerzen ein. Das kam von zuviel Gin. Er rieb sich die Augen. Sam Kreutzer zündete sich eine Zigarette an. »Es kommt noch so weit, daß man sich nichts mehr einzuatmen traut, was nicht durch eine Zigarette gefiltert ist.« Er blies den Rauch gegen sein Streichholz. »Herrgott, schau dir diese architektonische Monstrosität an. Einfach scheußlich.« »Was denn?« »Astor Plaza.« -3 -
Beton und Kunststoff, dort, wo einmal das alte Astorhotel gestanden hatte. »Ich treff dich in der Astorbar«, sagte Sam Kreutzer nachdenklich, und das weckte Pauls Erinnerung. »Eine gottverdammte Schande. Die Politiker beklagen sich immer über Vandalismus, und dann reißen sie historische Baudenkmäler ein, um für diese Eierkisten Platz zu schaffen.« Das Taxi machte einen Ruck nach vorne, und sie schafften einen halben Häuserblock. Paul sagte: »Wie geht's mit der Wohnungssuche?« »Keine Fortschritte. Am Wochenende haben wir uns in Westchester umgesehen.« »Vielleicht solltet ihr euch weiter draußen einmal umsehen.« »Ich könnte eine lange Bahnfahrt nicht ertragen. Aber wir denken jetzt manchmal dran, uns ein Haus zu mieten - vielleicht in Leonia oder in Fort Lee. Bloß raus aus Manhattan. Hätten wir schon vor Jahren tun sollen.« Sam klopfte ihm aufs Knie. »Du und Joanna, ihr solltet es genauso machen. Warum hierbleiben - verlangt doch keiner, daß ihr mitten in einem Kriegsschauplatz lebt.« »Wir haben es einmal versucht«, sagte Paul und machte eine abwehrende Handbewegung. »Vor zwanzig Jahren. Die Dinge haben sich verändert, Paul.« Über den Dächern der 42. Straße war die Sonne schwach und wässerig durch die Dunstschwaden zu sehen, viel zu kümmerlich, um in den Augen zu brennen. »Du bist verrückt«, sagte Sam. »Du willst mir einreden, daß du die Stadt immer noch liebst - ich möchte nur wissen, warum.« »Wenn man es dir erklären muß, begreifst du es ohnehin nicht.« »Ich hab' einmal einen Priester gekannt, der das gleiche Argument dazu benutzt hat, die Existenz Gottes zu beweisen.« »Nun, für den Priester war das ganz logisch, weil er keinen -4 -
Beweis brauchte.« »Yeah«, sagte Sam trocken. Er ließ seine klaviertastenlange Reihe weißer Zähne unter dem spärlichen Schnurrbart aufblitzen, den er sich im Urlaub hatte wachsen lassen und den er, wie er beiläufig meinte, wieder abrasieren wollte. Er verlieh ihm ein verwegenes Aussehen; er war ein dünner, unauffälliger Mann aus Minnesota, der sich in den acht Jahren so ziemlich alle New Yorker Stilrichtungen zugelegt hatte: Koteletten, die seine Ohren verdeckten, Haar, das sich im Nacken kräuselte, gestreifte Anzüge mit breitem Revers und modisch laute Krawatten. Außerdem hatte er sich die gängigen Litaneien der Respektlosigkeit für alle Wertbegriffe des Establishments zugelegt. Und trotzdem würde er nie ein New Yorker sein. Der ewige Kleinstädter. Der Taxifahrer arbeitete sich verzweifelt nach links hinüber, um am Broadway in die Zweiundvierzigste einbiegen zu können. »Schau dir dieses Durcheinander an«, meinte Sam und deutete mit seiner Zigarette auf den Times Square, die Menschenmassen, den Verkehr. »Das ist einfach sinnlos geworden. Man erreicht keinen mehr am Telefon, weil er immer irgendwo in einem Taxi im Verkehr feststeckt, unterwegs zu einer Besprechung. Das Telefonsystem taugt nichts, und Post kommt auch keine durch.« Sam spreizte hilflos die Hände; er liebte große Gesten. »Und die Trucks von der Müllabfuhr fahren mitten in der Nacht mit kaputten Auspuffanlagen durch meine Straße wie Shermantanks, und dann brauchen sie eine verdammte Stunde dazu, genau unter meinem Fenster mit den Mülltonnen Krach zu machen. Und wenn es einmal schneit, dann brauchen die eine Woche, um die Straßen freizukriegen. Wahnsinn ist das. Darauf gibt es nur eine Antwort.« Paul lächelte. »All right, du erwartest ja jetzt, daß ich dich -5 -
danach frage. Was ist denn die Antwort?« »Es gibt nur eine Lösung. Wir müssen die Umwelt abschaffen, dann ist nichts mehr da, was man verschmutzen kann.« Paul reagierte mit dem höflichen kleinen Lächeln, das der Witz verdiente. Sam meinte: »Du zahlst für die Privatschulen für die Kinder. Du zahlst für die private Wachgesellschaft, die deine Türe behütet. Die zahlst in Geld und in Fleisch an die Einbrecher und die Gangster. Und nach Sonnenuntergang gibst du deine Freiheit der Bewegung auf und so weiter und so fort.« Er sah Paul bestürzt an. »Herrgott, was tue ich denn hier?« »Du verdienst deinen Lebensunterhalt«, sagte Paul gedehnt. »Und trägst mir den üblichen Klagenkatalog vor, wie die anderen auch.« »Nun, zumindest gehe ich nicht so weit wie du mit deinen verrückten Extremen liberaler Güte.« »Was meinst du damit?« »Du bist ein verdammter Märtyrer, Paul, weißt du das? Du und Joanna, ihr geht wirklich hinaus in die Wildnis und tut etwas. Schau dir doch diese schrecklichen Nadelspuren an deinem Revers an - was war das denn, dein Knopf für die Lindsay-Wahl oder dein Abzeichen der Aktion für Gefängnisreformen?« »Irgend jemand muß sich doch darum kümmern«, sagte Paul.
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2 Er war lange genug Angestellter der Steuerberatungsfirma Ives, Gregson & Co. gewesen, so daß ihm ein Büro mit Fenster auf der Laxington-Avenue-Seite zustand, im achtzehnten Stockwerk. Und auf der Milchglasscheibe der Tür stand sein Name in goldenen Lettern: Paul R. Kersey. Es war ein kleines Büro mit einem dicken, flauschigen Teppich und einem Druckknopftelefon. Die Klimaanlage summte leise. Er lehnte sich erleichtert in seinen Sessel zurück und zerkaute zwei Aspirintabletten. Die Heinzelmännchen hatten seinen Eingangskorb wieder gefüllt, aber er griff nicht gleich danach. Er saß da und genoß die Erleichterung, die das beruhigend massive Büro und das etwas altmodische Graybargebäude, in dem es sich befand, auf ihn ausstrahlte: da war Sicherheit, Dauer, Solidität. Thelma meldete ihm mit dem Summer, daß Bill Dundee ihn besuchen wolle. Paul stand nicht auf und streckte dem anderen auch nicht die Hand hin; sie begrüßten sich nie mit Handschlag. »Heiß«, sagte Dundee anstatt einer Begrüßung. Er war plump, und seine Haut glänzte, und sein Haar war sorgfältig über seinen kahlen, rosafarbenen Schädel gekämmt. Kugelförmig, beinahe knochenlos wirkte er. Am Anfang hatte Paul angenommen, er sei der typische schwerfällige, penible Schreibtischstratege, aber die Aura von Grobschlächtigkeit, mit der Dundee sich umgab, war Schein, hinter dem sich ein Kern von gerissenem Humor verbarg. Das war jetzt ganz deutlich. Dundee wirkte zufrieden, beinahe übermütig. »Ich bin auf dem Kriegspfad.« »Gegen die Leute von der Steuer?« »Gegen die Computer. Das da habe ich dir mitgebracht - ich dachte, du würdest's vielleicht lesen wollen. Vielleicht gewinne ich in dir einen weiteren Mitstreiter.« Dundee legte das Buch auf den Schreibtisch, und Paul drehte -7 -
es herum und las den Titel: »Guerillahandbuch für Leute, die Computer hassen«. »Lies es«, sagte Dundee. »Ich habe meinen Feldzug schon begonnen. Heute morgen habe ich meine Stromrechnung bezahlt. Dabei hab' ich den Scheck um zwei Cent niedriger ausgestellt als die Rechnung und zwei zusätzliche Löcher in die Lochkarte geschnitten. Und Marjorie habe ich gesagt, daß sie von jetzt an Briefmarken quer aufkleben soll - das bringt die Magnetbandleser durcheinander.« Dundee ließ sich in den ledernen Besuchersessel sinken. Er blickte zum East River hinüber und schien drauf und dran, eine Bemerkung über den Smog zu machen, ließ es dann aber bleiben; Dundee war ein New Yorker und hatte es im Gegensatz zu Sam Kreutzer nicht nötig, über die Stadt zu sprechen. »Hast du gerade zu tun?« fragte er. »Nein, ich bin gerade reingekommen.« »O ja, stimmt, du warst ja mit den Majestäten aus Arizona Mittag essen. Wie ist's denn gelaufen?« »Ich nehme an, wir kriegen den Auftrag.« »Ich hab's gleich gewußt, daß du dafür am besten geeignet bist. Du machst den Verkauf auf die sanft e Tour, und Sam zieht unterdessen seine Zahlenschau ab und reißt Witze.« »Ich bin nicht einmal sicher, daß ich den Auftrag haben will. Solche Fusionen können unangenehm werden. Erinnerst du dich an die Sache Bradshaw?« »Die hat Mel Gregson seinen ersten Herzinfarkt eingetragen. Schwer zu vergessen. Ich bin übrigens neulich im Harvard Club zufällig mit Bradshaw junior zusammengetroffen.« Dundee schüttelte traurig den Kopf. »Da wird das Blut auch von einer Generation auf die nächste immer dünner. Hat überhaup t keinen Mumm. Erinnerst du dich an den alten Herrn?« »Bradshaw? Nein, das war vor meiner Zeit.« -8 -
»Verdammt, so jung bist du auch wieder nicht. Du bist genauso alt wie ich. Er ist erst vor zwölf Jahren gestorben.« »Ich meine, vor meiner Zeit bei der Firma. Ich war damals noch in der Innenstadt.« Dundee runzelte kurz die Stirn. Oh-ja-habe- ich-vergessendumm- von- mir sollte das heißen. »Irgendwie habe ich bei dir immer den Eindruck, du wärst seit je schon hiergewesen, Paul. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist oder nicht. Jedenfalls, was den jungen Bradshaw angeht - komisch, er ist mindestens fünfundvierzig, aber für alle hier ist er immer noch Bradshaw junior. Hat mordsmäßig angegeben, wie er letzten Monat zehntausend Dollar verdient hat, indem er rechtzeitig verkaufte, als die Aktien zu sinken anfingen. Irgend so 'ne weise Bemerkung hat er gemacht: ‚Nur die Dummen warten auf den letzten Dollar’, überhaupt kein Stil, diese zweite Generation. Der alte Herr, der war ganz was anderes. Du hast sicher die Geschichten gehört.« »Ein paar.« »Ein richtiger Gründertyp. Fing unten in Houston an, indem er Ziegelsteine von alten Gebäuden verkaufte, die abgerissen wurden.« »Das hab' ich nie gewußt.« »Die meisten Leute wissen das nicht. Alle scheinen zu glauben, er habe einfach als Siebzehnjähriger mit einem Stock im Dreck gekratzt und Öl gefunden. Nicht Bradshaw. Er hat sich sein Kapital hart verdient und sich dann ins Ölgeschäft eingekauft. Aber eines muß man ihm lassen, er wußte wirklich, wozu das Geld da ist.« »Ja?« »Das erste Jahr, in dem wir für ihn tätig waren, hat er sieben Mädchen auf eine Spesenquittung gesetzt und behauptet, er habe insgesamt vierhundert Dollar für sie ausgegeben - und unter vier Augen hat er mir dann erzählt, in Wirklichkeit seien's mehr -9 -
gewesen.« Dundee schüttelte in bewundernder Erinnerung den Kopf. »Ich erinnere mich noch daran, wie er einmal einem Neiman-Marcus-Modell dreitausend Dollar dafür bezahlt hat, daß es nackt in einer Ölfontäne bei einem seiner Bohrtürme eine Dusche nahm. Ich glaub', ich hab' den Ausschnitt aus den Daily News immer noch.« »Der letzte der großen Mäzene.« »Und das ist noch nicht alles. Er hat sich natürlich einen ganzen Stall erstklassiger Presseagenten gehalten - was ihn eine Stange Geld kostete -, bloß um in seinen letzten Jahren seinen Namen aus den Zeitungen herauszuhalten, aber nachgelassen hat er nie. Mann, hat der einen Wirbel gemacht - vier, fünf Nächte hintereinander von einem Nightclub zum andern, aus einer Show raus und in die andere rein, wie ein Wirbelsturm. Nie ins Bett gegangen. Ein kurzes Nickerchen an einem Restauranttisch schien ihm auszureichen. Und die ganze Zeit hatte er zwei oder drei Callgirls in seiner Hotelsuite, damit er nicht erst zum Telefon greifen mußte, wenn er sein Vergnügen haben wollte. Und, damit wir uns richtig verstehen, er war damals immerhin schon in den Sechzigern.« Dundee lächelte: »Er war natürlich ein brutales, altes Schwein, ein richtig bemoostes Haupt, aber seinen Charme hatte er auch. Solche Leute gibt's heute nicht mehr.« »Vielleicht ist das ganz gut so«, sagte Paul trocken. »Nein. Heutzutage sind wir alle bloß siebenstellige Zahlen. Und wenn wir nicht zu den Waffen greifen, dann erdrücken die Computer jeden potentiellen Bradshaw, der uns vielleicht noch übriggeblieben ist.« Er stupste mit dem Finger gegen das Buch auf Pauls Tisch. »Lies es. Ich wette, du machst auch mit.« Damit schien Dundees Anekdote für den heutigen Tag zu Ende; er räusperte sich, und als er fortfuhr, klang seine Stimme geschäftsmäßig. »So. Und jetzt zu Ira Nemserman, dieser Trottel lernt's doch nie.« -1 0 -
»Herrgott.« Dundee holte ein paar zusammengefaltete Blätter aus der Tasche und warf sie auf das Anticomputerbuch. »Lies dir das durch.« Paul warf einen Blick darauf. Ira Nemserman war ein Selfmademan. Er hatte gelernt, Geld in Millionenbeträgen zu zählen, aber für ihn war jede Zahl, vor der kein Dollarzeichen stand, eine Zahl, die man mit Fingern und Zehen abzählen mußte, und normalerweise stimmte die Rechnung dann nicht. Allem Anschein nach hatte Nemserman die beiden Seiten selbst mit der Schreibmaschine beschrieben - eine Kurzübersicht über Einnahmen und Ausgaben im letzten Quartal -, und irgend jemand, wahrscheinlich Dundee, hatte zwei Posten mit einem roten Kreis versehen: den Kauf eines Aktienpakets am sechzehnten Januar und den Verkauf desselben Pakets am neunzehnten Juni. »Nicht zu glauben«, sagte Paul. »Ich kann das einfach nicht glauben.« »Er ist ein Kind. Das weißt du doch.« »Aber ein Kind, dem das Geld aus den Ohren kommt. Das ist ja schließlich nicht das erste Mal.« »Ich denke, du rufst ihn am besten an, Paul.« »Herrgott, den Hals möchte ich ihm umdrehen.« »Eh' du das tust, solltest du daran denken, wieviel Honorar er uns bezahlt.« Dundee erhob sich zum Gehen. »Und vergiß nicht, dieses Buch zu lesen.« Als Dundee gegangen war, griff Paul nach dem Telefon und drückte den Vorzimmerknopf. »Holen Sie mir Ira Nemserman ans Telefon, ja, Thelma?« Es dauerte zehn Minuten, bis sie sich wieder meldete. »Darf ich zu Mr. Nemserman durchstellen?« »Ja, natürlich.« -1 1 -
»Kersey?« »Mr. Nemserman«, sagte er müde. »Wo sind Sie?« Die Stimme klang wie eine Reihe von Betonbrocken, die eine Baurutsche hinunterpoltern. »Im Dampfbad in meinem Health Club. Was kann ich für Sie tun?« »Können Sie sprechen?« »Sicher kann ich sprechen. Ich hab' vor keinem Geheimnisse. Das sollten Sie doch wissen - schließlich sind Sie mein Steuerberater, haha.« Paul schloß die Augen und drückte sich mit beiden Händen gegen die Schläfen. »Mr. Nemserman, ich hab' hier Ihre Quartalszahlen vor mir.« »Gut. Diesmal habe ich Ihnen die ganze Arbeit abgenommen. Alles fein säuberlich aufgeschrieben. Zum Teufel, Kersey, ich mach' Ihnen dreiviertel Ihrer Arbeit - Sie sollten Ihr Honorar kürzen, wissen Sie das?« »Das ist komisch, Mr. Nemserman, ich habe nämlich gerade dran gedacht, es zu verdoppeln.« »Haha.« »Sie haben da ein Problem.« »Jetzt hör sich einer das an. Er sagt mir, daß ich ein Problem habe. Kersey, im Augenblick habe ich so viele Probleme, daß ich mindestens zehn Tage brauchte, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wenn jetzt ein neues auftauchen sollte. Der Dow Jones ist heute mehr als acht Punkte gesunken und der Börsenindex sechsunddreißig Cent.« »Mr. Nemserman, Sie wollen doch bei diesem Paket Conniston-Aktien Kapitalgewinne in Anspruch nehmen, ist das richtig?« »Ja, und?« »Sie haben am sechzehnten Januar gekauft, die Aktien bis neunzehnten Juni behalten und sie mit einem Gewinn von -1 2 -
vierhundertzweiundvierzigtausend Dollar verkauft.« »So steht es doch auf meinem Papier, oder?« »Ja, Sir. So steht es darauf. Sie sind sicher, daß Sie sich mit diesen Daten nicht geirrt haben? Könnte ja sein, daß Sie Juni geschrieben und Juli gemeint haben?« »Sagen Sie mir bloß, warum ich bis zum Juli hätte warten sollen, da doch die Aktien im Juni so hoch standen?« »Mr. Nemserman, vom sechzehnten Januar bis zum neunzehnten Juni sind es genau fünf Monate und drei Tage.« »Fünf Mon... - oh, mein Gott.« Paul rollte die Augen zur Decke. »Stimmt. Sie haben einen Kapitalgewinn erklärt, und die Steuer dafür würde etwas mehr als hundertzehntausend ausmachen, aber in Wirklichkeit ist das Ganze reines Einkommen, weil Sie die Papiere nicht die Mindestzeit von sechs Monaten behalten haben. Ihre Steuerschuld für diesen Verkauf wird also etwa zweihundertsiebzigtausend mehr, als Sie angenommen haben, betragen.« »Herrgott im Himmel.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, entweder zum Nachdenken oder für ein kurzes Stoßgebet; jedenfalls sagte Nemserman schließlich: »Und was mache ich jetzt?« »Zahlen.« »Unsinn. Lieber gehe ich ins Gefängnis.« »Das könnten die wahrscheinlich einrichten.« »Kommen Sie, Kersey, Sie sind doch der Schlaukopf. Sagen Sie mir, was ich tun soll.« »Nun, Sie kennen die Tricks wahrscheinlich genauso gut wie ich.« »Zum Teufel damit. Wer hat schon Zeit, all den beschissenen Feindruck zu lesen?« Der Mann verfügte über ein jährliches Bruttoeinkommen in der Größenordnung von einer Million -1 3 -
Dollar und hatte nicht die Zeit, die Einkommensteuerrichtlinien zu lesen. Paul schüttelte den Kopf. Nemserman knurrte: »Was schlagen Sie vor?« »Nun, es gibt natürlich die üblichen Schachzüge. Sie könnten Ihre Kosten ungeheuer aufblähen - damit läßt sich ein Teil der Steuer abwälzen. Sie könnten natürlich auch Ihre Steuerschuld um fünfunddreißigtausend reduzieren, wenn Sie heiraten.« »Das können Sie vergessen.« »Dann könnten Sie eine mündelsichere Anlage vornehmen, die nur mit sechsundzwanzig Prozent versteuert wird. Damit würden Sie wieder über Kapitalertrag versteuert werden. Es ist schon ziemlich spät im Jahr, um das noch zu versuchen, aber wenn Sie sich beeilen, läßt es sich vielleicht machen.« »Yeah?« »Oder eine Stiftung. Sie könnten selbst eine Stiftung errichten und Ihr Geld übereignen und dann das Geld von der Stiftung zurückborgen.« »Wie macht man das?« »Steuerformular zehndreiundzwanzig. Sie füllen es aus und reichen es ein und beantragen damit Steuerfreiheit für wohltätige Stiftungen. Falls es Ihnen gelingt, Ihrer Stiftung einen religiösen oder wohltätigen Anstrich zu geben, haben Sie es geschafft.« »Worauf warten Sie dann? Errichten Sie mir eine Stiftung.« »Es wäre besser, wenn Ihr Anwalt das machen würde, Mr. Nemserman.« »Oh. Yeah. Well, okay, Kersey. Danke. Ich werde das gleich in die Wege leiten. Herrgott, das sind doch wirkliche Banditen, diese Steuerknilche, wissen Sie das? Herrgott, dieses Land geht wirklich noch vor die Hunde.« »Nun, vielleicht haben Sie Glück und finden einen Computer, dem Sie sympathisch sind.« -1 4 -
»Ha.« Nemserman legte ohne ein weiteres Wort auf, und Paul lehnte sich in seinem Sessel zurück. Nicht zu glauben, dachte er. Nach einer Weile fing er plötzlich zu lachen an. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und legte träge den Kopf zurück. Der Smog über dem East River begann sich zu verziehen, und er sah, wie ein Frachter sich gegen die Strömung vorwärtskämpfte. Seine Schrauben wühlten das Wasser auf. Das Elektrizitätswerk auf dem anderen Ufer, in Queens, erzeugte eine Menge Rauch. Seine Kopfschmerzen waren weg; er fühlte sich wohl: siebenundvierzig Jahre alt, etwas übergewichtig vielleicht, aber insgesamt gesund; man mußte nur ge legentlich einmal richtig lachen mit Freunden wie Sam Kreutzer und Bill Dundee und Kunden wie Nemserman, das war gar nicht so schwer zu erreichen. Er griff nach dem Papierstapel in seinem Eingangskorb. Die Sprechanlage summte. »Ihr Schwiegersohn, Mr. Kersey? Mr. Tobey?« Thelmas Stimme klang beunruhigt. »Er sagt, es sei wichtig.« Er drückte den beleuchteten Knopf auf seinem Telefon, mehr neugierig als beunruhigt. »Hello, Jack?« »Pop, ich - es ist etwas passiert.« Jack Tobeys Stimme klang metallisch - als hielte er seine Gefühle mit Gewalt zurück. »Was denn?« »Ich - oh, verdammt, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hör zu, man hat sie überfallen. In der Scheißwohnung. Ich fahre jetzt -« »Jack, was zum Teufel redest du hier?« »Sie - tut mir leid, Pop. Ich will mich zusammenreißen. Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Carol und Mom. Jemand ist eingebrochen, hat sie zusammengeschlagen. Gott weiß, -1 5 -
warum. Man bringt sie jetzt mit einer Ambulanz in die Notaufnahme im Rooseveltkrankenhaus - weißt du, wo das ist?« »West, Neunundfünfzigste?« »Ja. Ich glaube - ich glaube, Mom geht's ziemlich schlecht. Carol hat den Polizisten gesagt, daß sie mich anrufen sollen.« Polizisten. Paul kniff die Augen zusammen, und seine Hand schloß sich fester um den Hörer. »Aber was ist denn geschehen? Wie geht es ihnen? Hast du Dr. Rosen angerufen?« »Hab' ich versucht. Er ist nicht da. Verreist.« »Mein Gott. Aber was ist denn passiert?« »Ich weiß nicht. Ich fahr' jetzt hin. Der Polizist war am Telefon ziemlich kurz angebunden.« »Aber was - « »Hör zu, Pop, wir sollten jetzt keine Zeit mit Telefonieren verschwenden, wir treffen uns dort.« »All right.« Er legte den Hörer auf die Gabel und starrte seinen von Sommersprossen bedeckten Handrücken an.
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3 Er folgte den Schildern zur Notaufnahme und fand dort Jack. Er saß da, hatte eine Schulter hochgezogen und ließ seine Fingergelenke schnappen. Jack blickte auf. Seine Augen blieben ausdruckslos. »Tut mir leid, mein Taxi blieb im Verkehr stecken. Du bist ja wohl schon eine ganze Weile hier.« Er hatte das Gefühl, sich bei irgend jemandem entschuldigen zu müssen. Jack sagte: »Du kannst dich ebensogut hinsetzen. Die lassen uns nicht hinein.« Die Leute auf den harten Bänken an der Wand saßen da und hatten kleine unbedeutende Wunden und unsichtbare Krankhe iten. Der Raum hatte einen ganz bestimmten Geruch und auch ein bestimmtes Geräusch; das Geräusch war ein stummer Chor der Schmerzen, aber es war der Geruch, den Paul nicht ertragen konnte. Krankenhauspersonal in schmutzigen weißen Mänteln und Anzügen huschte herein und hinaus. Ein leerer Ambulanzwagen fuhr von der offenen Rampe weg. Es mußten gut zwanzig Leute im Raum gewesen sein. Die meisten von ihnen saßen, ein paar rannten hin und her, und abgesehen von einer Frau, die dasaß und blindlings die Hand eines kleinen Jungen hielt, schien niemand auf die anderen zu achten. Der Schmerz war etwas Persönliches, etwas Privates, das man nicht mit anderen teilte. Ein Polizist saß auf der Bank neben Jack. Paul nahm auf seiner anderen Seite Platz. Jack sagte: »Der Beamte ist so freundlich und bleibt hier, um zu sehen, ob er helfen kann. Das hier ist mein Schwiegervater.« Der Polizist streckte die Hand hin. Er hatte ein hart wirkendes schwarzes Gesicht. »Joe Charles.« »Paul Kersey. Können Sie mir sagen - was vorgefallen ist?« -1 7 -
»Ich habe es gerade Mr. Tobey hier erklärt. Wir wollten Mrs. Tobey nicht zu sehr verhören, sie ist ziemlich durcheinander.« »Und was ist mit meiner Frau?« Er sagte es ganz leise, dabei wollte er es schreien. Aber in einem Raum voll Fremder, die Schmerz litten, sprach man mit gedämpfter Stimme. Ein Mann saß da und hielt einen verletzten Arm gegen den Leib gepreßt. Er blutete in seinen Schoß. Paul riß den Blick von ihm los. Der Polizist sagte: »Das wissen wir nicht. Sie hat noch gelebt, als man sie aus dem Krankenwagen trug.« Sie hat noch gelebt - die Wortwahl des Polizisten ließ Pauls Puls in seinen Schläfen hämmern. Ein junger Mann in Weiß kam in Begleitung einer Krankenschwester in den Raum. Der junge Mann winkte der Frau mit dem kleinen Jungen zu. Die Frau nahm den Jungen an der Hand und folgte dem Arzt und der Schwester. Der Mann mit dem verletzten Arm sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Das Blut tränkte seine Hosen. Einen Augenblick später sagte der Polizist: »Entschuldigen Sie mich«, stand auf und ging zu dem Mann hinüber und zog ein Taschentuch heraus. Paul starrte seinen Schwiegersohn an. Jacks Gesicht war grau. Er schien nicht den Drang zu empfinden, etwas zu sagen, also fragte Paul: »Was hat er gesagt?« »Nicht viel.« War Jack zu benommen, um sich ausfragen zu lassen? Paul versuchte es noch einmal. »Hast du mit Carol gesprochen?« »Ja. Aber da war nicht viel herauszuholen. Sie scheint einen Schock erlitten zu haben.« »Und - Joanna?« Jack schüttelte den Kopf. »Hör zu, das ist sehr schlimm.« »Um Himmels willen, sag es mir doch.« -1 8 -
»Die haben sie beide geschlagen.« »Wer? Warum?« Er beugte sich vor und packte Jack am Handgelenk. »Du bist Anwalt. Denke wie ein Anwalt. Mach deine Aussage wie ein Zeuge, kannst du das nicht? Sag es mir.« Jack schüttelte den Kopf, wie, um ihn klar zu bekommen. »Pop, ich weiß es einfach nicht. Zwei Männer, vielleicht mehr. Irgendwie haben sie sich Zutritt zu deiner Wohnung verschafft. Ich weiß nicht, ob sie eingebrochen sind oder ob Mom oder Carol sie hereingelassen haben. Ich weiß nicht, was sie dort wollten. Ich weiß nicht, was sie getan haben oder warum sie es getan haben, nur daß sie - angegriffen haben -, beide. Oh, keine Vergewaltigung. Vergewaltigung meine ich nicht. Das war es nicht. Sie haben sie nur - geschlage n -« »Mit den Händen?« »Das nehme ich an. Ich konnte kein Blut sehen. Ich glaube nicht, daß sie Messer oder so etwas benutzt haben, sonst wäre doch Blut zu sehen gewesen, oder?« »Wer hat die Polizei gerufen? Du?« »Nein. Carol hat die Polizei gerufen. Und dann hat die Polizei mich verständigt.« »Wann ist es denn passiert?« »Weiß ich nicht.« Jack sah auf seine Uhr und zog sich geistesabwesend die Hemdmanschette vor. »Vor zwei Stunden etwa, schätze ich.« Pauls Hand ließ Jacks Handgelenk nicht los. »Was ist mit Joanna? Was hat der Polizist gemeint - noch am Leben?« Jacks Kopf sank herunter; er starrte auf seine Schuhe. »Pop, die - die müssen ihr den Hals herumgedreht haben, als wäre sie eine Stoffpuppe.« Eine Schwester kam herein, berührte den Polizisten am Arm. »Was machen Sie denn?« »Ich versuche, die Blutung des Mannes zu stillen.« -1 9 -
»Das ist keine Arterie, Officer. Und es ist besser, ihn etwas bluten zu lassen, als ein nicht sterilisiertes Taschentuch auf seine Wunde zu drücken.« »Miß, ich habe genügend Fälle von Schock wegen Blutverlust gesehen. Ich weiß schon, daß Sie hier zuviel zu tun haben. Ich versuche ja nur zu helfen.« »Danke. Das war's dann.« Die Schwester nahm den Verletzten am Arm und führte ihn weg. Der Mann sah sich über die Schulter nach dem Polizisten um, änderte dabei aber seinen Gesichtsausdruck nicht. Der Polizist kam zu der Bank zurück. Jack sagte: »Was ist ihm denn passiert?« »Er war in einer Bar. Jemand hat eine Flasche zerschlagen und ihm den Arm damit zerschnitten. Aus keinem bestimmten Grund - er kannte den Mann nicht einmal. An diesen heißen Sommertagen spielen die Leute manchmal verrückt. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich auch.« Der Polizist schien sich verpflichtet zu fühlen, sich für alles zu entschuldigen, was auf der Welt vorgefallen war. Paul begriff, wie ihm zumute war. Es war, als trüge man die Verantwortung für alles, was geschah, als solle man versuchen, es wiedergutzumachen. Paul fragte: »Können Sie mir etwas Näheres sagen?« Der Polizist meinte: »Ich weiß selbst nicht sehr viel darüber. Später können Sie ja das Revier anrufen. Wollen Sie die Nummer?« »Bitte.« Paul holte seinen Kugelschreiber heraus und fand einen Fetzen Papier in der Tasche - die Quittung für das Mittagessen. Er schrieb auf die Rückseite, was der Polizist ihm diktierte: »Zwanzigstes Revier. Sieben-neun- neun, vier-eins- null- null. Gleich um die Ecke von Ihrem Gebäude. Ich weiß nicht, ob Sie es schon bemerkt haben. Einhundertfünfzig West, Achtundsechzigste, der kurze Block zwischen dem Broadway -2 0 -
und der Amsterdam Avenue.« »Wen soll ich denn verlangen?« »Ich weiß nicht, wer Ihren Fall übernehmen wird. Wahrscheinlich einer der Detektivleutnants.« »Wer ist denn der Revierchef?« Der Polizist lächelte schwach. »Captain DeShields, aber er würde Sie nur nach unten weiterverweisen an den Beamten, der den Fall bearbeitet.« »Macht es Ihnen etwas aus, mir alles zu sagen, was Sie wissen?« »Es ist nicht viel. Ich war nicht der erste, der hinkam. Es scheint, als wären ein paar Männer in das Gebäude hineingelangt, ohne daß der Pförtner sie sah. Vielleicht waren es Rauschgiftsüchtige, das sind sie ja meistens. Auf der Suche nach etwas zum Stehlen.« »Wie kamen sie denn in unsere Wohnung?« »Ich gestehe, das weiß ich nicht. Wenn die Tür nicht doppelt versperrt war, haben sie das Schloß vielleicht mit einem Stück Plastik geöffnet. Oder sie haben einfach geklopft, und Ihre Frau hat sie eingelassen. Einbrecher tun das oft - sie klopfen an, um festzustellen, ob jemand zu Hause ist. Wenn sich niemand meldet, brechen sie ein. Sonst entschuldigen sie sich meistens irgendwie, daß sie das falsche Stockwerk erwischt hätten, und gehen weg.« »Aber die hier sind nicht weggegangen.« »Nein, Sir.« Der Polizist sprach ganz unpersönlich, als mache er eine Zeugenaussage vor Gericht, trotzdem spürte man sein Mitgefühl. Paul sagte: »Sie sind entkommen.« »Ja, Sir. Als ich wegging, durchsuchten unsere Leute immer noch das Gebäude, aber ich glaube nicht, daß sie jemanden finden werden. Möglicherweise hat sie einer in dem Gebäude -2 1 -
oder in Ihrem Stockwerk gesehen. Vielleicht ist jemand mit ihnen im Lift gefahren. Dort sind jetzt Detektive, die jeden im Haus fragen, ob sie wen gesehen haben. Möglicherweise erhalten sie eine Beschreibung. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, daß Ihre Tochter sie uns beschreiben kann, sobald sie sich wieder besser fühlt.« Paul schüttelte den Kopf. »Man findet die nie, diese Tiere, oder?« »Manchmal fangen wir sie.« Pauls Blick huschte etwas aggressiv zu der Türe hinüber. Wann um Himmels willen würden sie ihm etwas sagen? Eine unbestimmte, auf niemanden gerichtete Wut begann ihn zu erfüllen, aber er war noch nicht soweit, an Rache zu denken. Der Polizist sagte lahm: »Die tun alles, was in ihrer Macht steht.« Es war nicht klar, ob er damit die Detektive oder die Ärzte meinte. Ein lautes Stöhnen war zu hören. Es konnte von jedem der dutzend Leute in dem Raum stammen. Paul wollte aufspringen und sich mit Gewalt Zutritt verschaffen; aber sobald er die Türe hinter sich hätte, würde er nicht wissen, wie es weiterginge. Und jemand würde ihn hinauswerfen. Der ranzige Gestank war zum Wahnsinnigwerden. Nach einer Weile - er hatte aufgehört, auf die Uhr zu sehen - erhob sich der Polizist schwerfällig, und die Handschellen, die er am Gürtel trug, klirrten. Der dicke Kolben des Revolvers befand sich jetzt in Pauls Augenhöhe. Der Polizist sagte: »Hören Sie, ich hätte nicht einmal so lange bleiben dürfen. Ich muß zu meinem Partner zurück. Aber wenn ich irgend etwas tun kann, rufen Sie das Revier und verlangen Sie mich, Joe Charles ist mein Name. Ich wünschte, ich hätte mehr für Sie tun können.« Paul blickte hoch, an dem Revolver vorbei, auf das harte junge Gesicht des Polizisten. Dann griff er nach oben und -2 2 -
schüttelte dem Mann die Hand: »Sie sind verdammt nett gewesen.« Sie saßen endlos da und warteten, daß irgend jemand käme und etwas sage. Jack bot ihm, ohne zu denken, eine Zigarette an; Paul, der noch nie geraucht hatte, schüttelte den Kopf. Jack zündete sich die neue Zigarette an dem glimmenden Stummel der alten an. Paul warf einen Blick auf das NO-SMOKINGSchild, sagte aber nichts. Auf der gegenüberliegenden Bank saß eine Frau, der man die Schmerzen ansah, die sie litt, aber sie strickte unentwegt an etwas Gelbem: Eine Männersocke? Ein Kinderpullover? Ihr Gesicht war gespannt und blaß. Was auch immer ihr Leiden sein mochte, es war ihr gelungen, ihr Schicksal würdevoll zu ertragen. Paul kam sich wie ein Voyeur vor; er sah weg. Jack murmelte: »Vielleicht waren es junge Burschen, weißt du. Einfach Halbstarke.« »Wie kommst du darauf?« »Wir haben jeden Tag welche in der Rechtshilfe. Sie sind einfach durchgedreht, sonst gar nichts. Sie schlucken, was sie im Medizinkästchen finden, und dann ballern sie in der Gegend herum.« »Du glaubst, die waren high?« »Das ist ein altmodischer Ausdruck, Pop, er trifft nicht mehr richtig. Vielleicht haben sie einen Speed-Trip gemacht, oder es waren Junkies, die dringend einen Schuß brauchten. Entweder Drogen, die sie genommen hatten, oder Drogen, die sie sich nicht verschaffen konnten - beides ist möglich.« »Was haben all diese Spekulationen für einen Sinn?« sagte Paul finster. »Nun, eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Ich meine, für so etwas gibt es kein rationales Motiv.« »Und irgendwie muß alles immer einen Sinn haben, nicht -2 3 -
wahr?« »Wenn so etwas geschieht, muß man doch wissen, weshalb es geschehen ist, oder?« »Was ich wissen möchte«, antwortete Paul böse, »ob man nicht irgendwie hätte verhindern können, daß es geschah.« »Wie?« »Herrgott, das weiß ich doch nicht. Es müßte doch irgendeine Möglichkeit geben, diese Bestien von den Straßen zu holen, ehe sie Gelegenheit bekommen, so etwas zu tun. Bei dem hohen Stand unserer technischen Entwicklung möchte man doch meinen, daß es irgendeine Methode geben muß, um sie psychologisch zu testen, um die Gefährlichen ausfindig zu machen und zu behandeln.« »Ein paar hunderttausend Süchtige in den Straßen, Pop - wer kann es sich leisten, jeden einzelnen von ihnen zu behandeln, solange wir siebzig Prozent unseres Staatshaushaltes dafür verwenden, immer neue Waffensysteme zu entwickeln und zu bauen und unsere Overkillkapazität gegenüber dem Rest der Welt zu erhöhen?« Da saß man in einem düsteren Raum einer Unfallstation und redete müde Gemeinplätze. Darauf lief es immer hinaus. Aber keiner von beiden war wirklich bei der Sache, und so sanken sie schnell in angsterfülltes Schweigen. Es war die Art von Raum, wo man die Dinge nicht ansah; man vermied es hinzusehen. Pauls Blicke huschten zwischen der Türe und seinen verkrampften Händen hin und her. Jack stand auf und begann auf und ab zu gehen, er war zu gereizt, um stillzusitzen. Ein oder zwei Leute guckten ihn an. Ärzte und Schwestern kamen herein, holten Leute, nahmen sie mit. Eine Ambulanz traf ein mit einem Mann auf einer Tragbahre, den zwei Pfleger sofort durch den Warteraum hindurchtrugen. Joanna und Carol sind bestimmt auch so hereingebracht worden, dachte er. -2 4 -
Vielleicht ging man von der Theorie aus, daß jemand, der es noch auf eigenen Füßen bis hierher geschafft hatte, auch gesund genug war, um sechs Stunden zu warten. Paul spürte, wie seine Lippen sich kräuselten; er glättete schnell seine Züge, als eine junge Schwester auftauchte, aber sie war gekommen, um jemand anderen zu holen. Jack setzte sich knurrend hin und zündete sich wieder eine Zigarette an. Der Boden rings um seine Füße war mit zerdrückten Kippen übersät. »Herrgott, ich ertrag das nicht mehr. Die arme Carol - Herr Jesus.« Ein schneller Blick seitwärts zu Paul: »Und Mom. Was für eine dreckige -« Paul stützte die Ellbogen auf die Knie, hielt den Kopf zwischen den Händen. Der fühlte sich an, als wöge er eine halbe Tonne. »Die könnten uns wenigstens etwas sagen«, meinte Jack. »Verdammt, was würde es die schon kosten, jemand auf eine Minute herauszuschicken und uns zu sagen, was hier vorgeht?« Paul blickte auf. »Bist du auch sicher, daß sie wissen, daß wir hier sind?« »Ich hab' mit dem Arzt gesprochen, als wir ankamen. Er weiß es.« »Nun, ich nehme an, er hat eine ganze Menge Patienten dort hinten.« » Irgend jemand könnte er schicken.« Es war kindisch, und Jack schien sich darüber klar zu sein; er verstummte. Paul lehnte sich wieder gegen die Wand und sah zu, wie der Rauch seiner Zigarette sich in die Höhe kringelte. »Wie ist denn dieser Arzt?« »Jung. Ich nehme an, er ist hier Stationsarzt.« »Ich wünschte, wir hätten Dr. Rosen bekommen können.« »Wenn man die braucht, sind sie immer verreist. Vermutlich spielt der Schweinehund gerade Golf in Putnam County.« -2 5 -
»Bei der Hitze?« Jack fuchtelte bloß wütend mit seiner Zigarette herum; das war seine einzige Antwort. Paul hatte lange dazu gebraucht, mit seinem Schwiegersohn warmzuwerden; er fühlte sich in seiner Gesellschaft immer noch unsicher. Jack kam aus Neu Mexico, für ihn war New York eine Art persönliche Herausforderung, eine Herausforderung zu Reformen. Er trat allem mit humorlosem Ernst entgegen. Wie man nur in einer solchen Zeit etwas so Seltsames denken kann. Wenn es je eine Zeit gab, die Dinge ernst zu nehmen... vielleicht war es nur, weil er ein Ziel für seine Wut brauchte, und Jack war zur Hand. Carol hatte sie damals mit Jack überrascht... sie war mit ihm ausgerissen, hatte ihn geheiratet, ein Fait accompli. Joanna hatte immer großen Wert auf Formen gelegt; das Unglück, das sie daher empfunden hatte, hatte Pauls Abneigung gegen den jungen Mann noch verstärkt. Es war für die beiden gar nicht nötig gewesen, auszureißen, niemand hatte die Ehe verboten; aber sie hatten ihre eigenen Vorstellungen - sie behaupteten, sie seien weggelaufen, um Paul und Joanna die Kosten einer großen Hochzeit zu ersparen; in Wirklichkeit war das Ganze wahrscheinlich nur ein Produkt ihrer romantischen Vorstellungen. Ein Friedensrichter hatte sie getraut, ohne daß irgendeiner ihrer Freunde oder die Familie zugegen gewesen wäre. Was war daran eigentlich romantisch? Carol hatte die ersten drei Jahre als Sekretärin weitergearbeitet, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hatten damals in einer billigen Wohnung in der Dyckmanstreet gewohnt, während Jack sein Jurastudium auf der ColumbiaUniversität abschloß. Für Paul und Joanna war das recht schwierig gewesen, weil sie nicht recht wußten, in welchem Maße sie sie unterstützen sollten. Jack und Carol besaßen den Stolz jugendlicher Selbständigkeit und nahmen, was man ihnen gab, mit einer Art unfreundlichen Widerstrebens entgegen, als -2 6 -
erwiesen sie dem Geber einen Gefallen, indem sie Hilfe annahmen. Vielleicht empfanden sie das tatsächlich so. Aber Paul hatte dreiundzwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht, für sein einziges Kind zu sorgen, ihm Schutz und Wärme angedeihen zu lassen, und so fiel es ihm nicht leicht, zu begreifen, wie vergnügt Carol diese primitive Existenz in der Dyckmanstreet hinnehmen konnte. Eine Wohnung, die man nicht einmal von Küchenschaben reinhalten konnte. Als Jack dann die Prüfung vor der Anwaltskammer bestanden und den Job bei der Rechtshilfe bekommen hatte, waren sie zum Glück nach Greenwich Village gezogen, um näher bei seinem Büro wohnen zu können; ihre Wohnung war eine von den alten Eisenbahnerwohnungen, aber zumindest etwas freundlicher. Jack besaß den ganzen Eifer seiner Generation. Dabei entsprang seine Hingabe mehr idealistischen Motiven als pekuniären Interessen; er würde nie wohlhabend sein, Carol aber einen ausreichenden Lebensstandard bieten; wahrscheinlich würden sie irgendwann einmal ein kleines Haus auf Long Island kaufen und Kinder großziehen. Am Ende hatte Paul alles hingenommen, hatte Jack hingenommen - weil er keine andere Wahl hatte, weil Carol zufrieden schien und weil er zu begreifen begann, daß er von Glück reden konnte, daß sie sich keinen langhaarigen Radikalen oder eine ausge flippte Gruppe von Kommuneangehörigen ausgesucht hatte. Sie hatte das Temperament dazu: sie war intelligent, schnell, vorlaut, ungeduldig, und ein Großteil ihrer Empfindungen war gegen das Establishment gerichtet. Vermutlich hatte sie während ihrer zwei Collegejahre verschiedene Drogen ausprobiert; von sich aus hatte sie nie ein Geständnis abgelegt, und Paul hatte sie nie gefragt. Sie verfügte über einen guten Verstand, aber ihre Schwäche bestand darin, daß sie sich von dem jeweils letzten, mit dem sie sprach, überzeugen ließ: manchmal war sie zu eifrig darauf aus, freundlich zu wirken. Jack Tobey übte wahrscheinlich genau die Art stützenden Einflusses auf sie aus, -2 7 -
die sie brauchte. Es wäre töricht gewesen, mehr zu verlangen. Jack trug eine Brille mit einem kräftigen schwarzen Gestell auf seiner schnabelartigen Nase; er war dunkel, etwas zottig und legte keinen großen Wert auf seine Kleidung - und die meiste Zeit fand man ihn in dem Jackett, das er jetzt trug, einem haarigen Tweedsakko in der Farbe von Zigarettenasche. Abgewetzte braune Schuhe und eine nichtssagende Krawatte auf halbmast unter einem am Kragen offenen Hemd. Paul hatte ihn vor Gericht in Aktion gesehen. Das war eines der wenigen Male gewesen, wo er sich daran erinnerte, den Jungen in einem Straßenanzug gesehen zu haben; nachher hatte Carol ihm erklärt, daß Jack diese Konzession an die üblichen Gepflogenheiten nur deshalb gemacht hatte, weil er die Richter und ihre Gewohnheit, ihre Vorurteile voll Sarkasmus auf unordentliche junge Verteidiger abzuladen, kennengelernt hatte. ... Ein plump wirkender junger Mann in Weiß erschien an der Tür, und Jack, der ihn offenbar erkannte, erstarrte. Der Arzt entdeckte ihn und kam auf ihn zu. »Ihre Frau wird durchkommen.« Das sagte er zu Jack. Paul stand langsam auf, und Jack sagte: »Und wie geht es meiner Schwiegermutter, Doktor?«, mit einer Stimme, die die Antwort schon vorwegnahm. Paul räusperte sich. »Darf ich sie sehen?« Der Arzt drehte langsam den Kopf herum. »Sie sind Mr. Kersey? Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewußt.« Das war eine Entschuldigung ohne Reue. Der Arzt schien müde; seine Stimme klang eingerostet, so müde, daß keine Spur eines Gefühls mehr durchdrang. Er schien seine Gefühle streng rationieren zu müssen. »Ich weiß-«, das runde junge Gesicht des Arztes sank nach unten. »Mrs. Kersey ist tot. Es tut mir leid.«
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4 Die Beerdigung erschien ihm völlig unwirklich, wie ein Blick in eine düstere Welt, die für ihn keine Realität hatte. Es war der falsche Tag für ein Begräbnis. Die Hitze war verflogen, die Inversionsschicht irgendwohin verschwunden. Es war ein milder Tag, voll Sonnenschein, angenehm. Mit Beerdigungen verband man die Vorstellung von Regen, wenigstens tat Paul das, und das messerscharf klare Wetter am Freitag ließ ihm die Ereignisse noch weniger wirklich erscheinen. In jener ersten Nacht - Joanna war am Dienstag gestorben hatten sie ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Er erinnerte sich nur undeutlich an die Taxifahrt zu Jacks Wohnung. Jack hatte ihm sein Bett überlassen, und am Morgen hatte Paul ihn auf der Couch im Wohnzimmer gefunden, rauchend, kaffeetrinkend; Jack hatte überhaupt nicht geschlafen. Paul war aus seinem Tablettenschlaf aufgewacht und weder ausgeruht noch wach gewesen. Die ihm nicht vertraute Umgebung erhöhte sein Empfinden irrealer Existenz; es war gerade, als wäre er erst vor einer halben Stunde als erwachsener Mensch geboren worden, in einer fremden Welt, die ihm bedeutungslos und künstlich vorkam. Er hatte nichts vergessen; aber als er Jack im Wohnzimmer vorfand und sie zu reden begannen, schien es, als wären sie Schauspieler, die schon so oft am selben Platz gesessen und dieselben Worte gesagt hatten, daß alles, was sie sagten und taten, jede Bedeutung verlor. Die Städtische Leichenschaubehörde hatte jemanden geschickt, um Jacks Unterschrift auf einem Formular mit einer Autopsiegenehmigung zu besorgen. Jack wies unfreundlich darauf hin, daß das sinnlos und absurd sei, da bei Gewaltverbrechen, die zum Tode geführt hätten, zwangsläufig eine Post- mortem-Untersuchung durchgeführt würde. Der -2 9 -
Untersuchungsbeamte hatte mitteilen lassen, die Leiche würde am Donnerstag freigegeben werden; an welches Bestattungsunternehmen sollte man sie schicken? Triviale mechanische Einzelheiten. Entscheidungen, die zu treffen waren. Sollte ein Go ttesdienst abgehalten werden? Wenn nicht, wie führte man eine Beerdigung durch? Sie war nicht religiös gewesen; Paul auch nicht. Sie stammten beide aus religiös indifferenten Familien, dem Namen nach jüdischen Glaubens, in der Praxis ohne Interesse. Selbst ihre politischen Freunde und die Wohltätigkeitsorganisationen, denen sie gelegentlich Spenden zukommen ließen, waren ohne Verbindungen zu irgendwelchen Sekten; sie hatten nie die Zionistenbewegung oder den Tempel oder den B'Nai Brith unterstützt. Aber am Ende hatte Jack jemanden angerufen und sich den Namen eines Rabbi geben lassen. Sie taten das, weil es die einfachste Lösung war, und weil Joanna aus dem Zeremoniell immer Erleichterung geschöpft hatte. »Das ist das mindeste, was wir tun können«, hatte Jack irgendwie rätselhaft gesagt - was konnten sie sonst schon jetzt für sie tun? -, Paul hatte eingewilligt, weil er keinen Grund zum Widerspruch und auch keine Energie für irgendwelche Dispute hatte. Man bewahrte sich nur deshalb ein gewisses Maß an Vernunft, weil es so viele idiotische Entscheidungen zu treffen galt. Wann sollte die Beerdigung stattfinden? Das Begräbnis? Wen sollte man dazu einladen? Am Ende stellte er fest, daß der Bestattungsunternehmer sich um die meisten Einzelheiten kümmerte, und der Rest ergab sich von selbst; ihre engsten Freunde riefen an, und Paul nahm ihre Kondolenz so gefaßt entgegen, wie er nur gerade konnte, und sagte ihnen dann, daß der Gottesdienst am Freitag um halb drei stattfinden würde, nannte ihnen die Adresse des Bestattungsunternehmens und -3 0 -
hörte sich benommen ihre wiederholten Bekundungen von Mitgefühl an. Dennoch überraschte ihn die Zahl der Leute, die erschienen. Der Rabbiner, der Joanna nie persönlich gekannt hatte, sprach kurz von einem einfachen Rednerpult in einem kapellenähnlichen Raum im Bestattungsunternehmen. Seine Bemerkungen waren pflichtgemäß und harmlos; anschließend begaben sie sich alle auf den Bürgersteig an der Amsterdam Avenue hinaus, wo es ein einigermaßen organisiertes Durcheinander gab, bis alle ihre Plätze in schwarzen Limousinen gefunden hatten und die Fahrzeuge des Leichenzugs in der richtigen Ordnung aufgereiht waren. Sam Kreutzer und Bill Dundee blieben auf dem Weg zu ihren Wagen bei Paul stehen, berührten ihn am Arm und murmelten ihm etwas zu. Einige Leute aus dem Büro waren da, und zu seiner Überraschung sogar ein Kunde - George Eng, der chinesische Geschäftsführer von Amercon, mit dem er und Kreutzer am Dienstag zu Mittag gegessen hatten. Zwei Ehepaare aus ihrem Wohnhaus waren auch da, ebenso verschiedene Cousinen, Vettern, Neffen und Nichten aus Manhattan und Queens; Joannas Schwägerin aus Syracuse in Vertretung von Joannas Bruder Myron, der einen untergeordneten Posten auf dem Konsulat in Malaysia hatte und nicht hatte kommen können. Er hatte aber das größte Blumenarrangement geschickt. Paul fand sich am Grabe stehend und die Teilnehmer katalogisierend, als käme es darauf an, Pluspunkte an jene ihrer Bekannten zu verteilen, die sich dafür entschieden hatten, zu kommen. Der Sarg war von Anfang an geschlossen gewesen; man hatte die Leiche nicht mehr zur Schau gestellt. Paul hatte sie nicht mehr gesehen, seit er die Wohnung Dienstag morgen verlassen hatte; sie war gerade mit dem Staubsauger von Zimmer zu Zimmer gegangen. Er empfand nicht den Wunsch, ihre -3 1 -
Überreste zu sehen, und hatte sich ungeduldig die überflüssigen Erklärungen des ,Leichenpflegers’ angehört, warum es am besten so gemacht würde. Jenseits aller hochtrabenden Worte lief es darauf hinaus, daß die Täter sie ziemlich schlimm zugerichtet und die Chirurgen sie bei der Autopsie aufgeschnitten hatten. Es wäre zwar für die Leichenpfleger möglich, sie wieder zusammenzuflicken, würde aber teuer und wenig attraktiv sein. Als sie ihr Gespräch beendet hatten und auf dem Nachhauseweg waren, hatte Paul zu seiner Überraschung eine verbitterte Bemerkung Jacks über ,Schönheitschirurgie an Toten’ gehört; das war nicht der Ton, den Jack normalerweise anschlug, das deutete darauf hin, unter welcher Nervenbelastung er litt. Die ganze Woche über hatte Paul aufmerksam auf das Verhalten anderer Leute geachtet, ihre Reaktionen auf die Ereignisse beobachtet, ohne jemals ganz die eigene zu beachten. Es war, als stünde ihm die Reaktion noch bevor; er existierte in einer völlig abgesonderten Welt ohne Gefühle und wartete auf die Explosion oder den Zusammenbruch oder die Tränen oder was sonst kommen würde. Eigentlich erwartete er, daß er plötzlich wie ein Feuerwerkskörper hochgehen würde. Jack stand neben Carol und hielt ihren Arm. Der Protest gegen das, was geschehen war, hatte sie erstarren lassen. Wie ihr Vater hatte sie noch nicht zu sich zurückgefunden; im Gegensatz zu ihm hatte sie sich wie in eine Kapsel, die jeder bemerkte, zurückgezogen. Sie sah schrecklich aus, dachte er: sie stand gebeugt da, das Haar hing ihr feucht und schwer ins Gesicht. Normalerweise war sie eine Frau, die alle Männer zweimal hinsehen machte, aber jetzt sah sie alt aus, hart, wütend: als wäre sie niemandes Tochter. Wahrscheinlich war das in gewissem Ausmaß eine Folge der Drogen. Den größten Teil der ersten drei Tage hatte sie unter dem dauernden Einfluß von Beruhigungstabletten gestanden, denn jedesmal, wenn man aufhörte, ihr welche zu geben, spannte sie sich wie eine Uhrfeder, und wenn man sie berührte, -3 2 -
zuckte ihr starrer Körper wie unter elektrischem Strom. Gestern hatte er nach ihrer Hand gegriffen, versucht, Kontakt herzustellen; ihre Hand war eiskalt gewesen, und sie hatte sie weggezogen, die Lippen zusammengepreßt, das Gesicht abgewandt. Das war kein völliger Schock sie konnte ein ganz vernünftiges Gespräch führen, mit einer Stimme, die ohne den sonst üblichen Ausdruck war -, aber Paul machte sich Sorgen um sie. Jack war ebenso wie er der Meinung, daß sie vielleicht eine psychiatrische Untersuchung brauchen würde, falls sie den Zustand nicht von sich aus innerhalb der nächsten ein, zwei Tage überwand. Vielleicht würde sie nach der Beerdigung wieder zu entkrampfen anfangen. Der Sarg war im Grab, die Seile waren wieder eingerollt; der Rabbi hörte zu reden auf, und die Leute begannen sich zu entfernen. Ein paar kamen vorbei, um mit Paul oder Carol zu sprechen; die meisten - jene, die das Leid anderer Leute peinlich berührte - gingen schnell, bemüht, so auszusehen, als hätten sie es nicht eilig. Henry Ives, der Seniorpartner in der Firma, blieb stehen und sagte: »Sie brauchen natürlich nicht ins Büro zurückzukommen, solange Ihnen nicht danach ist. Gibt es irgend etwas, was wir tun können, Paul?« Er schüttelte den Kopf und sagte sein Dankeschön und sah Ives nach, wie er zu seinem wartenden Cadillac humpelte, ein kahlköpfiger alter Mann mit Altersflecken auf der Haut. Es war nett von ihm gewesen, zu kommen; wahrscheinlich mochte er all diese Erinnerungen an den Tod noch weniger als die meisten - er war wenigstens dreiundsiebzig. Jack sagte: »Wir können ebensogut gehen.« Er starrte auf den Sarg hinab. »Ich denke auch.« »Willst du auch ganz bestimmt nicht noch ein paar Tage hierbleiben?« -3 3 -
»Nein. Ihr habt wirklich keinen Platz. Es würde eng, wir würden einander auf die Nerven gehen«, sagte Paul. Er spürte Jacks Erleichterung. »Nun, trotzdem. Bleib wenigstens heute abend noch. Wir finden schon was im Kühlschrank.« In der schwachen Innenbeleuchtung waren irgendwie die Schrammen unter Carols Make-up noch deutlicher zu sehen. Sie setzte sich auf die Couch, schlug die Beine übereinander und beugte sich vor, als hätte sie Magenschmerzen. »Ich mach' dann schon etwas zurecht.« »Schon gut, Darling. Ich mach' was.« »Nein.« Das klang unfreundlich. »Ich mach' es selbst.« »All right, schon gut. Beruhige dich nur.« Jack setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie rührte sich nicht. »Vielleicht sollten wir Dr. Rosen anrufen«, schlug Paul vor. Sie sah ihn an. »Ich bin völlig gesund.« Sie stand ruckartig auf und verließ das Zimmer. Beim Gehen ruhte ihr Gewicht auf den Absätzen. Paul hörte sie in der Küche mit Geschirr rumoren. »All right«, murmelte Jack. »Irgendwie muß sie sich abreagieren.« Er sah sich um. »Eigentlich überrascht es mich, daß hier niemand herumgestöbert hat.« »Was? Warum?« »Einbrecher lesen immer die Todesanzeigen. Die wissen, daß zur Zeit der Beerdigung niemand zu Hause sein wird.« »Am hellichten Tage?« »Die meisten Einbrüche finden bei Tageslicht statt. Die Leute sind ja nicht zu Hause. Diese Kerle, die Mom und Carol überfallen haben - das war ja auch am hellichten Tage.« Paul zog seine schwarze Anzugjacke aus und setzte sich im Hemd hin. »Erinnert sie sich jetzt schon besser daran? Kann sie sich erinnern, wie sie aussahen?« »Ich weiß nicht. Sie will immer noch nicht darüber reden, und -3 4 -
ich wollte sie nicht bedrängen. Natürlich erinnert sie sich daran sie hat ja keine Amnesie. Aber sie unterdrückt es mit aller Macht. Das ist ganz natürlich.« »Ja. Aber die Polizei braucht irgendwelche Hinweise.« »Ich habe heute morgen mit Leutnant Briggs telefoniert. Wir bringen sie Montag früh hin, dann kann sie sich die Verbrecheralben ansehen, vielleicht findet sie sie.« »Hat sie überhaupt darüber gesprochen?« »Neulich abends sprach sie kurz davon. Als der Leutnant ins Krankenhaus kam. Ich war sehr erfreut, wie sachte er bei seinem Verhör vorging. Es ist ihm gelungen, Dinge von ihr zu erfahren, die ich nicht herausgebracht habe. Ein wirklicher Profi ich wünschte, es gäbe mehr von der Sorte.« »Was hat sie denn gesagt?« »Offenbar waren sie zu dritt. Junge Männer, wahrscheinlich Teenager. Sie sagte, sie - hätten dauernd gelacht. Als wären sie hysterisch.« »Drogen?« »Das nehme ich an. Das muß es sogar gewesen sein. Entweder das, oder sie waren total durchgedreht, aber jemand, der sich die ganze Zeit so verhält, wäre nicht auf der Straße man hätte die schon längst festgenommen.« »Hat sie dir gesagt, wie sie in die Wohnung kamen?« »Leutnant Briggs hat sie es gesagt. Wie es scheint, waren Mom und Carol gerade vom Supermarkt heimgekehrt. Sie kamen also in die Wohnung zurück, und ein paar Minuten darauf klopfte jemand an die Tür und sagte, er sei der Botenjunge vom Supermarkt. Als sie die Tür öffnete, stand der Junge mit einem großen Pappkarton da. Mom dachte, es sei die Ware, die sie gekauft hatten, also ließ sie den Jungen herein. In dem Augenblick, als er in der Wohnung war, ließ er den Karton fallen - es zeigte sich dann, daß er leer war; die Polizisten haben -3 5 -
ihn nach Fingerabdrücken abgesucht, aber Papier nimmt Abdrücke nicht besonders gut auf, und so fanden sie nur Schmierstellen. Jedenfalls zog der Junge ein Messer, und seine zwei Freunde drängten sich hinter ihm durch die Tür. Einer von ihnen packte Carol, und die beiden anderen fingen an, auf Mom einzuschlagen und wollten wissen, wo sie das Geld aufbewahrte.« »Wir haben nie viel Geld in der Wohnung.« »Sie hatte nur drei oder vier Dollar in der Handtasche - sie hatte vor, nachmittags zur Bank zu gehen - und Carol hatte nur zehn oder elf Dollar und ein paar Wertmarken für die U-Bahn. Wir haben in letzter Zeit sehr sparsam gelebt, wir hatten gerade diese Möbel gekauft, und die Raten sind etwas höher, als wir angenommen hatten.« »Also«, sagte Paul langsam, »als sich herausstellte, daß nur ein paar Dollar in der Wohnung waren, wurden die drei wütend, ist es das?« »Ja, so scheint es. Sie müssen Amphetamine genommen haben, so klingt es wenigstens. Offenbar kicherten und lachten sie die ganze Zeit. Carol sagt, das sei das Schlimmste daran gewesen - sie hörten nie zu lachen auf. Ich nehme an, der Grund, daß sie - sie nicht so schwer verletzt haben wie Mom, war, daß sie die Besinnung verlor, als sie sah, was sie Mom antaten und es ihr zu viel wurde. Natürlich erinnert sie sich nicht an das, was nachher geschah. Als sie wieder zu sich kam, waren sie weg. Sie war so geistesgegenwärtig, ans Telefon zu gehen und die Polizei anzurufen.« Paul preßte seine Faust in die andere Hand. »Sie haben den tragbaren Fernseher und ein paar andere Dinge mitgenommen. Man möchte ja eigentlich annehmen, daß irgend jemand gesehen hat, wie sie die Sachen aus dem Gebäude schleppten.« »Offenbar nein. Die drei müssen sich am Supermarkt herumgetrieben und gesehen haben, wie Mom und Carol ohne -3 6 -
Pakete herauskamen. Das deutete darauf hin, daß sie sich die Sachen ins Haus liefern ließen. Dann folgten ihnen die drei wahrscheinlich zum Haus. Du weißt ja, wie dich dein Portier immer mit Namen grüßt? Es muß den Jungen also gar nicht schwergefallen sein, Moms Namen in Erfahrung zu bringen wenn der Portier sie ,Hello, Mrs. Kersey’ anruft und neben der Haustür der Gebäudewegweiser hängt und neben jedem Namen ein Klingelknopf ist. Also fanden sie ihren Namen und die Wohnungsnummer, und Leutnant Briggs nimmt an, daß sie dann zur Einundsiebzigsten Straße herumgingen, zu diesem alten Mietblock, der abgerissen werden soll. Es dürfte kein Problem gewesen sein, in dieses Gebäude einzudringen und durch den Keller in den großen Hof hinter deinen Block zu kommen. Dann brauchten sie nur noch in den Keller deines Gebäudes einzubrechen. Es ist nicht das erste Mal, daß Einbrecher sich auf diesem Wege Zutritt verschafft haben. Wenn ich du wäre, würde ich mit dem Hausmeister reden, daß er Eisenstangen und Vorhängeschlösser an den Kellerfenstern anbringt.« »Also die Scheune absperren, nachdem das Pferd gestohlen wurde.« »Es ist nicht das letzte Mal, daß jemand versuchen wird, in das Gebäude einzubrechen. In diesem Hexenkessel, in dem wir leben, passiert das alle paar Minuten.« Paul nickte unbestimmt. »Es fällt mir nur so schwer, das zu glauben. Das kann ich einfach nicht in meinen Kopf bekommen - solch ein sinnloser, gottverdammter Mord.« »Nun, ich bezweifle, daß er mit Vorbedacht begangen wurde. Ich glaube nicht, daß jemand mit seinen bloßen Händen tötet, wenn er nicht wütend oder im Drogenrausch ist. Nicht auf diese Weise.« Paul spürte ihn kommen: den schnellen Ausbruch blendender Wut. Er sagte mit zusammengepreßten Zähnen: »Würdest du sie so verteidigen?« -3 7 -
»Was?« »Der Aufhänger für ihre Verteidigung. Sie waren für ihre Handlungen nicht verantwortlich.« Seine Stimme imitierte plötzlich die des anderen, eine bösartige Karikatur. » ‚Euer Ehren, sie wußten nicht, was sie –' « »Augenblick mal, Pop.« »-,taten', verdammt noch mal, mir ist es scheißegal, wie du das nennst. Für mich ist das überlegter, kaltblütiger Mord, und wenn du glaubst -« »Ich glaube nicht«, sagte Jack kühl, »ich weiß. Natürlich war es Mord.« »Du brauchst mich gar nicht zu beruhigen. Ich hab' dich schon vor Gericht gesehen, wie du versucht hast, aus deinen schleimigen, schuldigen kleinen Klienten unschuldige Opfer zu machen. Ich kann -« »Pop, jetzt hör mir zu. Wer auch immer das Mom und Carol angetan hat, der ist des Mordes ersten Grades schuldig. So lautet das Gesetz - ein jeder Todesfall, der aus einer strafbaren Handlung entsteht, ist Mord ersten Grades, selbst wenn der Tod nur zufällig eintrat - und das war weiß Gott bei Mom nicht der Fall. Die drei haben eine strafbare Handlung begangen räuberische Erpressung -, und sie sind des Mordes ersten Grades schuldig. Mein Gott, glaubst du etwa, daß ich dagegen argumentieren will? Glaubst du ehrlich, daß ich -« »Ja, das glaube ich!« Er stieß es wütend hervor. »Glaubst du, daß deine schönen, sauberen Paragraphen all das wegdiskutieren können? Glaubst du wirklich, daß diese Wilden all diese komplizierten Paragraphen verdienen?« »Nun, was würdest du denn vorschlagen?« Jack war kühl, sanft, überlegt. »Sie fangen und sie an die nächste Laterne hängen, wäre das dein Vorschlag?« »Das wäre noch besser als das, was sie verdienen. Man sollte -3 8 -
sie jagen wie tolle Hunde und abknallen, wenn man sie sieht. Man sollte sie - « »Pop, jetzt redest du dich in etwas hinein. Das nützt niemandem etwas. Ich empfinde genauso wie du, ich begreife genau, was du jetzt durchmachst. Aber man hat diese Dreckskerle noch nicht einmal gefangen, und du zie hst bereits den vorschnellen Schluß, daß irgendein cleverer Anwalt sie freibekommen wird. Was nützt es denn, die Dinge mit so nutzlosen Überlegungen noch schwerer zu machen? Die haben diese Burschen noch nicht erwischt und werden sie wahrscheinlich nie erwischen. Warum also sich über Fehlurteile der Justiz aufregen, die noch gar nicht vorgekommen sind?« »Weil ich gesehen habe, wie es mit diesen Dingen steht. Selbst wenn die Polizei sie fängt, dann gehen sie einfach durch die Drehtüre wieder hinaus - zurück auf die Straßen. Und zwar hauptsächlich wegen wohlmeinender Schweinehunde, wie du einer bist! Hat dich denn selbst das nicht zum Nachdenken über das veranlaßt, was du tust?« »Es hat mich zum Nachdenken veranlaßt«, sagte Jack. Er sah zur Küche hinüber. »Wollen wir es für den Augenblick dabei bewenden lassen?« »Aus was für einem Holz seid ihr jungen Leute denn geschnitzt? Wenn ich du wäre, hätte ich vor zwei Tagen meine Kündigung eingereicht und mich um einen Job bei der Staatsanwaltschaft beworben. Wie bringst du es denn fertig, in dein Büro zurückzugehen und weiterhin diese schmutzigen kleinen Ungeheuer zu verteidigen?« »So einfach ist das nicht, und das weißt du auch.« »Wirklich?« fragte er. »Ist das nicht vielleicht unser größter Fehler? Machen wir es uns nicht zu leicht, wenn wir uns darüber beklagen, daß es nicht ,so einfach’ wäre? Herrgott, vielleicht ist es so einfach, und wir haben bloß nicht den Mumm dazu, uns danach zu verhalten!« -3 9 -
»Dann möchtest du dir also zwei Cowboycolts umschnallen und hinausgehe n und sie abknallen, ist es das?« »In diesem Augenblick«, sagte Paul, »ist das genau das, was ich tun möchte, und ich bin keineswegs so sicher, daß es so falsch wäre.« »Ich höre ganz gut, du brauchst nicht zu schreien.« »Entschuldige«, schnappte Paul. Da saß Jack in seinem zerdrückten schwarzen Anzug, das Haar wirr vom Kopf abstehend, und aus seinen Augen leuchtete eine Bitterkeit, die Paul begriff und mitempfand. Paul ließ seinen Blick zu lange auf Jacks Gesicht verharren; das veranlaßte Jack dazu, aufzustehen und zur Bar zu gehen. »Möchtest du etwas zu trinken?« »Ich könnte einen gebrauchen.« »Ich wette, du hast dir schon gedacht, ich würde nie mehr danach fragen.« Jacks Lächeln war zu kurz. Er klappte den Wandschrank auf und füllte zwei Gläser zur Hälfte mit Scotch. Kein Eis, kein Soda. Er reichte eines Paul und ging mit dem anderen zur Couch. »Tut mir leid. Ich nehme an, ich wollte dich beruhigen - nicht weil es dir etwas nützt, sondern weil ich bei all dieser Verzweiflung, die in der Luft liegt, selbst Beruhigung brauchte. Verstehst du das?« »Natürlich. Tut mir leid, daß ich so hochgegangen bin.« Aber sie redeten jetzt wie vorsichtige Fremde. Er wußte nicht, was schlimmer war. Jack sagte: »Die ganze Woche habe ich an etwas gedacht, das - oh, vor zwei, drei Jahren passierte. Es muß nach Mitternacht gewesen sein. Ich hatte irgend etwas in der Innenstadt zu tun, mit einem Kunden, und es war eine angenehme Nacht, also ging ich zu Fuß nach Hause. Vor dem Bryant Park stieß ich auf ein Mädchen. Vielleicht fünfzehn. Sie war ein Wrack. Es stellte sich heraus, daß eine ganze Bande Halbwüchsiger sie vergewaltigt -4 0 -
hatte, dort im Park. Ich gab ihr das Geld für ein Taxi und sagte ihr, sie solle die Polizei rufen. Ich glaube nicht, daß sie es getan hat.« »Warum nicht?« »Sie schien es irgendwie leichtzunehmen. Wahrscheinlich konnte sie sich etwas Schlimmeres vorstellen, als von einer ganzen Bande vergewaltigt zu werden. Sie war wütend auf die Boys, aber nicht wirklich böse. Weißt du, was ich meine?« »Könnte ich nicht behaupten.« »Nun, ich denke, worauf ich hinaus will ist, daß man die meisten dieser Dinge einfach nicht mehr ernstnimmt. Oder sie zumindest als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Weißt du, was das Mädchen zu mir gesagt hat? Sie sagte, eigentlich hätte sie ja wissen müssen, daß man um diese Zeit nicht in den Bryant Park geht. Irgendwie schien sie der Meinung, das Ganze sei ihre eigene Schuld. Man hätte sie nicht vergewaltigt, wenn sie nicht hingegangen wäre.« »Willst du damit sagen«, hauchte Paul, »daß Carols Mutter sich das, was geschehen ist, selbst zuzuschreiben hat, wegen irgend etwas, das sie getan hat?« »Ganz und gar nicht. Geh nicht gleich wieder hoch. Ich nehme an, wenn ihr beiden gelebt hättet, als befändet ihr euch in einer belagerten Festung - immer zuerst ein Blick durch den Türspion, nie einen Fremden in die Wohnung lassen, zusätzliche Schlösser und Sperrketten an der Tür anbringen, nie die Wohnung ohne einen scharfen Hund an der Leine verlassen - ich nehme an, wenn ihr bereit gewesen wäret, so zu leben, dann würde sie noch am Leben sein, aber wer kann das ertragen?« Paul kannte Leute, die es ertrugen. »Hör zu, Pop, ich weiß, daß das auch nichts mehr ändert, aber eines Tages wirst du das Ganze als einen tragischen Unfall sehen müssen - so, als hätte eine Seuche sie hingerafft oder als wäre sie von einem Bus überfahren worden. Es hat keinen Sinn, -4 1 -
sich aufzuregen und Rache und Vergeltung zu fordern. Selbst wenn man diese drei Schweinehunde erwischt und sie für den Rest ihres Lebens hinter Gitter steckt, wird das in Wirklichkeit nichts ändern.« Paul wartete auf das unvermeidliche ,Es macht sie auch nicht mehr lebendig’, aber Jack sprach es nicht aus. »Wir beide müssen uns damit abfinden«, dröhnte Jack unbarmherzig weiter. »In diesen Zeiten muß man sich unfähig vorkommen, wenn man nicht ein Türschloß binnen drei Sekunden mit einer Plastikkarte aufbekommt - jeder Junge auf der Straße kann das. Kennst du die Verbrechensstatistiken? Ich höre sie jeden zweiten Tag von irgendeinem miesepetrigen stellvertretenden Staatsanwalt. In New York findet alle zwölf Sekunden ein Überfall oder ein Raub statt - im letzten Jahr sind etwa siebzigtausend Fälle gemeldet worden, und das ist wahrscheinlich weniger als die Hälfte der Zahl derer, die nicht gemeldet wurden. Im Falle von Straftaten werden nur in etwa einem Sechstel der Fälle Verhaftungen vorgenommen, und davon wiederum kommt es nur bei einem Drittel zu einem rechtskräftigen Urteil. In Mordfällen natürlich ist der Prozentsatz wesentlich höher - die Polizei klärt gewöhnlich etwa achtzig Prozent auf, aber wir haben immer noch etwa drei Morde pro Tag in der Stadt. Du und ich und Carol und sogar Mom - wir sind jetzt Statistikzahlen. Statistikzahlen in einem gottverdammten Buch. Das ist es, was es einem so schwermacht, das Ganze auch aus der persönlichen Perspektive zu sehen. Für dich und für mich ist das die erschütterndste Sache, die je geschehen ist - für die Polizisten ist es etwas, das sie die ganze Zeit sehen, so oft, daß sie sich nicht einmal mehr darüber aufregen können.« Paul spürte, wie es sauer in ihm aufstieg. »Ich danke dir, Jack, du bist ein wahrer Balsam und Trost für mich.« »Es tut mir leid. Ich wollte keine weisen Reden führen. Aber ich bin in diesem Geschäft - so würdest du es wohl ausdrücken -4 2 -
, zumindest am Rande. Ich habe jeden Tag mit der Polizei zu tun. Und ich glaube, du mußt dich auf die Möglichkeit vorbereiten, daß in diesem Fall nichts mehr herauskommen wird. Man muß doch weiterleben, oder?« »Nein,« sagte Paul langsam. »Man muß nicht weiterleben.« »So etwas will ich nicht mehr hören.« Er stand breitbeinig da, den Drink in der Hand. Den Kopf hatte er gesenkt und schwang ihn vor und zurück, so wie ein ausgepumpter Boxer im Ring, der versucht, seinen Gegner ausfindig zu machen. »Ich denke nicht an Selbstmord. So habe ich es nicht gemeint.« Aber die Worte kamen, als hätte ein Fremder sie gesprochen. Er dachte nach. Sein Atem ging ruckartig, er ballte die Faust, eine lockere Faust. »Ich habe mein ganzes Leben lang nie in Wut einen Menschen geschlagen, nie einen Schwarzen ,Nigger’ genannt oder von irgend jemand auch nur einen Penny gestohlen. Ich habe meine Zeit und mein Geld einem Dutzend karitativer Einrichtungen gewidmet, überall habe ich gespendet.« »Und das ist der Dank, den du bekommst«, murmelte Jack. »Ich weiß, Pop. Und du hast auch recht, es gibt keine Antwort darauf.« »Es gibt eine Antwort, und ich habe vor, sie zu verlangen. Ich will diese drei Killer.« »Wahrscheinlich wird man sie fassen. Vielleicht auch nicht. Aber wenn man sie nicht faßt, was willst du dann tun? Allen anständigen Prinzipien den Rücken kehren, die du bisher vertreten hast? Dich der John Birch Society anschließen oder dem Ku-Klux-Klan?« »Nun, ich weiß nicht, was ich dann tun würde«, sagte Paul unbestimmt. »Aber Herrgott, irgend etwas muß es doch geben!« »Meinst du vielleicht: einen Privatdetektiv einstellen? Oder dir einen Revolver verschaffen und selbst auf die Jagd machen? So etwas gibt es nur im Fernsehen, Pop.« -4 3 -
»Nun, trotzdem, vielleicht hast du mir da einen Tip gegeben. Ein Privatdetektiv könnte -« »Privatdetektive sind nicht das, was die Filme aus ihnen gemacht haben, Pop. Es gibt sie dazu, daß sie einem Beweismaterial bei Scheidungsfällen besorgen und für Sicherheitsaufgaben, zur Spionageabwehr in der Industrie und als Bankwächter. Es gibt keine Privatdetektive, die Mordfälle untersuchen, und selbst wenn es sie gäbe, könnten sie bestimmt der Polizei nicht das Wasser reichen. Zumindest verfügt die Polizei über Personal, eine Organisation und Fachwissen.« »Und totale Gleichgültigkeit.« »Das würde ich nicht sagen. Erinnerst du dich an den Polizisten, der im Krankenhaus bei uns blieb?« Paul konnte sich sogar an seinen Namen erinnern: Joe Charles. »Er war nur ein Streifenpolizist in Uniform.« »Sicher. Aber ein menschliches Wesen. Ihm bedeutet seine Arbeit etwas... einige von den Polizisten sind korrupt, und manchen ist ihre Arbeit scheißegal, aber die Bullen sind in Wirklichkeit gar nicht die Schweine, als die sie von den radikalen Studenten immer beschimpft werden.« »Schon recht«, knurrte Paul. »Das ändert nichts an der Tatsache - falls deine Vermutung zutrifft -, daß eine ausgezeichnete Chance besteht, daß diese Bestien nie der Gerechtigkeit zugeführt werden.« »Der Gerechtigkeit - oder der Rache?« »Was für einen Unterschied macht es denn, wie ma n es nennt?« Jack schüttelte den Kopf. »Alles, was ich sage, ist, daß du und ich wahrscheinlich nie etwas daran werden ändern können. Eines steht ja fest: Wir können nicht auf die Straße hinausgehen und diese Killer selbst finden. Wir wüßten nicht einmal, wo wir nachsehen müßten.« -4 4 -
»Dann sagst du also, wir sollten die ganze Sache vergessen und uns wieder ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen.« »Oder Briefe an die Times schreiben.« Die Bemerkung ließ Paul aufblicken. Er sah ihn an. Diese Art von Sarkasmus erwartete man von Jack nicht. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Paul. »Wahrscheinlich hast du recht.« »Kann sein, daß wir uns daran gewöhnen müssen, Pop.« »Nun, ich denke, wir können es versuchen.«
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5 In dieser Nacht schlief er überhaupt nicht; aber damit hatte er auch gar nicht gerechnet. Er hatte Chloralhydrat-Kapseln, für den Fall, daß er sie wollte. Aber er wollte sie nicht. Er hatte das Gefühl, wenn er fortfuhr, alles mit Drogen zu betäuben, dann würde er nur um so länger brauchen, sich anschließend von seinen Dämonen zu befreien. Es war besser, ihnen ins Gesicht zu sehen und ein Ende damit zu machen. Es war die erste Nacht seit dem Mord, die er in seiner eigenen Wohnung verbracht hatte. Er hatte Carols Wohnung früh verlassen, ehe die Sonne unterging. Das war nicht seine Absicht gewesen, es hatte sich aus einem Streit so ergeben: Carol hatte wie eine Schlafwandlerin etwas aufgetischt, das man kaum essen konnte, und sie hatten sich alle drei widerwillig an den Tisch gesetzt. Sie schoben das Essen auf ihren Tellern herum und sprachen sehr wenig. Einmal stand Jack auf, um eine Mahler-Schallplatte auf die Stereoanlage zu legen; ein paar Minuten später stand er wieder auf und nahm sie weg. Wahrscheinlich gab es gar keine Musik, die für diese Stunde gepaßt hätte - schwere Musik verstärkte ihr Gefühl der Niedergeschlagenheit; triviale Musik hätte wie Hohn gewirkt. Unter diesen Umständen konnte keiner von ihnen das Schweigen ertragen, und so hatten sie zu reden begonnen: unsicher, gezwungen. Die bedeutungsvollen Dinge wurden nicht ausgesprochen; es war schlimm genug, sie denken zu müssen. Also hatten sie versucht, unpersönliche Konversation zu führen, aber das war zu anstrengend, und so war geschehen, was nicht zu vermeiden war: das Gespräch hatte sich Dingen zugewandt, die im Augenblick für sie wichtig waren: ob Paul jetzt die Wohnung behalten sollte, ob sie bei der Polizei anrufen sollten, um zu erfahren, ob sich irgend etwas ergeben hätte, oder ob sie warten sollten, bis die Polizei sie anrief. -4 6 -
Am Ende war wieder ein Streit daraus geworden - Rache gegen Realität -, und Paul war aufgestanden, um irgend etwas zu betonen, seine Stimme hatte gezittert, und plötzlich hatte Carol sich die Ohren mit den Händen zugehalten, die Augen zugepreßt und einen ohrenbetäubenden schrillen Schrei ausgestoßen. »Am besten gehst du jetzt nach Hause«, hatte Jack gesagt. »Ich würde lieber warten, bis der Arzt kommt.« »Nein, ich glaube, das würde sie noch mehr aufregen. Das verstehst du doch.« Jack hatte ihr eine Pille gegeben und sie ins Bett gelegt, während Paul Dr. Rosen anrief; jetzt nahm Jack Pauls Jacke und reichte sie ihm. »Ich will hier nicht grausam erscheinen.« »Verdammt noch mal, schließlich bin ich ihr Vater.« »Im Augenblick erinnerst du sie an ihre Mutter, glaube ich.« Eine scharfe Bemerkung lag ihm auf der Zunge irgend etwas Beißendes über Jacks Lizenz, Wohnzimmerpsychologie zu praktizieren -, aber er hatte sie dann hinuntergeschluckt; Jack war im Augenblick zu verletzlich; sie hatten sich schon zu sehr in Hitze geredet. Also war er gegangen, Galle in der Kehle. Ein Taxi von der Horatio Street zur oberen Westside. An der Ecke Siebzigste Straße und Westend war er ausgestiegen, bei Grün über die Straße gegangen und den halben Block bis zu seinem Wohnhaus, wobei er jedes Gesicht, das ihm begegnete, argwöhnisch und böse anstarrte. Der Nachtpförtner nickte ihm zu und widmete ihm ein höfliches, erkennendes Lächeln, als wäre nie etwas geschehen. War es möglich, daß der Mann nichts wußte? Paul blieb automatisch vor dem Briefkasten stehen, um ihn aufzusperren. Er war angefüllt mit kleinen, steifen Umschlägen Kondolenzkarten. Er stopfte sie sich in die Taschen, sperrte den Briefkasten wieder ab und durchschritt den Korridor von der Lobby bis zum hinteren Lift. Er fuhr eine n Teil der Strecke mit einem Ehepaar in mittleren Jahren, dem er oft genug begegnet -4 7 -
war, um es zu grüßen; ihre Namen kannte er nicht. Falls sie die Zeitung gesehen hatten, brachten sie ihn jedenfalls nicht damit in Verbindung; sie nickten ihm zu und sagten »Gute Nacht«, als sie im siebten Stock ausstiegen. Ihren Pekinesen führten sie an der Leine, er schnüffelte und zerrte. Paul fuhr in den zwölften Stock hoch, steckte den Schlüssel ins Schloß und schob sich mit angespannten Bauchmuskeln in die Wohnung, nic ht wissend, was er finden würde oder wie er darauf reagieren würde. Jemand hatte einen Zettel unter der Türe durchgeschoben. Er lag jetzt schief auf dem Teppich. Er beugte sich hinunter, um ihn aufzuheben, darauf vorbereitet, sich ärgern zu müssen, halb erwartend, daß es ein Drohbrief von den Mördern war. Es war eine Kondolenzkarte von den Bernsteins nebenan. Er tat sie zu dem Stapel aus seiner Tasche und legte alles auf das Tischchen unter dem Spiegel im Flur. Sie waren in diese Wohnung gezogen, nachdem Carol auf das College gekommen war und sie die traurige Gewißheit hatten, daß Carol wohl nie mehr auf längere Zeit bei ihnen zu Hause wohnen würde. Da war nur das Wohnzimmer, mittelgroß, und das große Schlafzimmer an der Ecke, und das Bad und die Küche, in die man unmittelbar aus dem Flur kam. Das Gebäude war vierzig oder fünfzig Jahre alt, es hatte die hohen Decken und die zahllosen eingebauten Schränke, die in jener Zeit üblich waren, die eigenartigen Fresken, die etwa einen Fuß unter der Decke rings um die Zimmer liefen, und die Edwardianischen Beleuchtungskörper an der Decke. Das Haus war nicht ganz so alt, daß die Badewanne noch auf klauenbewehrten Füßen stehen konnte, aber irgendwie vermittelte einem das Badezimmer doch den entsprechenden Eindruck. Es war eine kleine Wohnung, aber eine bequeme. Sie hatte ausreichend viele Fenster, und die meisten blickten auf die attraktive Reihe umgebauter Backsteinhäuser der gegenüberliegenden Seite der 71. Straße hinunter. Er trat die Tür hinter sich zu, warf einen Blick in die Küche -4 8 -
und ging ins Wohnzimmer. Das war aufgeräumt worden; alles lag am richtigen Platz. Hatte die Polizei sich die Mühe gemacht? Die Putzfrau war es nicht gewesen, sie kam montags. Er runzelte die Stirn; er hatte mit Unordnung gerechnet, hatte sich mit dem Gedanken beschäftigt, daß er saubermachen müsse. Man spürte Joanna noch in der Wohnung, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er ging durch die Räume und versuchte etwas zu fühlen. Es war, als habe sein Unterbewußtsein Angst, ihn etwas fühlen zu lassen. Etwas fiel ihm auf, das nicht hierher gehörte, und er brauchte ein paar Augenblicke, um festzustellen, was es war. Er mußte sich im Wohnzimmer umsehen, jeden Gegenstand studieren. Die Stühle, der Kaffeetisch, der Bücherschrank, der Fernseher, die Klimaanlage im Fenster... Er ging zurück. Der Fernseher. Die Killer hatten den Fernseher gestohlen. Da war ein neuer Apparat, genau in der Ecke, wo früher das alte Koffergerät auf dem Tisch gestanden hatte. Er sah aus wie ein Farbgerät - die Type mit eingebautem Stereo und MW/UKW-Radio. Er eilte in vier langen Schritten durch das Zimmer. Und da war ein Zettel: »Paul - in der Hoffnung, es damit etwas erträglicher zu machen unser tiefstes Mitgefühl -« meine Kollegen aus dem Büro »PS. Den Kühlschrank haben wir gefüllt.« Das ließ ihn zusammenbrechen: er weinte. Sie hatten nie ein Farbgerät besessen, und er hatte nicht viele Farbprogramme gesehen - nur gelegentlich die schlecht eingestellten Footballspiele über einer Bar und ein- oder zweimal die Oscarverleihung auf dem riesigen Gerät irgendeines Freundes. Er verbrachte zwanzig Minuten damit, an den Knöpfen herumzudrehen, alle Kanäle einzustellen, Ablenkung zu finden. Er war zu unruhig. Er schaltete aus und überlegte, -4 9 -
sich einen Drink zu machen, entschied sich aber dann dagegen. Das Telefon klingelte. Es war Jack. »Dr. Rosen ist gerade weggegangen. Er hat ihr ein paar stärkere Beruhigungsmittel verschrieben. Er verschafft ihr einen Termin mit einem Psychiater am Montagmorgen.« »Nun, ich denke, das ist für den Augenblick das beste.« »Hoffentlich reißt sie das heraus. Ich kann mir vorstellen, daß es das tun wird. Rosen sagt, er habe einen sehr guten Mann.« »Das kann ich mir denken.« »War verdammt nett von ihm, daß er gekommen ist. Wo findet man heute schon einen Arzt, der bereit ist, Freitag abend einen Hausbesuch zu machen?« »Er ist seit beinahe zwanzig Jahren unser Hausarzt.« »Ich sag' dir Bescheid, wenn sich irgend etwas ergibt. Im Augenblick schläft sie - die Pillen. Das arme Mädchen. Herrgott, ist das eine böse Geschichte... Was machst du denn? Ist bei dir alles in Ordnung? Du kannst ja immer noch zurückkommen und die Nacht hier verbringen, wenn dir das lieber ist. Ich weiß, daß es dort drüben scheußlich sein muß, so ganz alleine.« »Irgendwann muß ich mich ja doch daran gewöhnen. Da kann ich ebenso gut jetzt damit anfangen.« »Hat doch keinen Sinn, es dir selbst schwerzumachen.« »Ich komm' schon zurecht«, knurrte er. »Wahrscheinlich komm' ich morgen mal vorbei, um nach Carol zu sehen.« »Fein.« Nachdem er aufgelegt hatte, schien ihm die Wohnung noch leerer. Er stieß den Beschluß, den er vorher gefaßt hatte, um und machte sich einen Drink, trug ihn ins Schlafzimmer und setzte sich, riß an seiner Krawatte, beugte sich vor und begann die Schuhbänder aufzuknüpfen. Dann trat er die Schuhe von sich, griff nach seinem Glas und -5 0 -
hörte sich plötzlich aufschreien. Er konnte es nicht glauben. Bisher hatte er es immer geschafft, seine Fassung zu bewahren; alles andere hielt er für Schwäche. Er saß da wie aus Stein, wand sich innerlich, empfand Angst und Schrecken vor seinem eigenen unbestimmten Drang, irgend etwas Gewalttätiges zu tun. Er wollte alles zerschlagen, was in seiner Reichweite stand. Schließlich begann er, rhythmisch mit der Faust auf die Matratzenseite einzuschlagen. Er kniete nieder, schlug immer noch nach der Matratze. Seiner Faust tat es nicht weh, und der Matratze tat es auch keinen Schaden, und nach einer Weile wurde ihm klar, daß ihm das keine Befriedigung verschaffen würde. Er erinnerte sich an einen Jungen auf der Oberschule, der mit der Faust eine Türfüllung in einem der Studiersäle eingeschlagen hatte - sie einfach durchschlagen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, ob der Junge das aufgrund einer Wette getan hatte oder aus schierer Wut; es war einer der Athleten gewesen, ein vierschrötiger Bulle, den alle fürchteten. Paul überlegte, ob er auch eine Tür einschlagen sollte, hatte aber Angst vor dem Schmerz, er wollte sich die Hand nicht brechen. Ein Hammer, dachte er. Das würde guttun – mit einem Hammer auf irgend etwas einschlagen, so kräftig zuschlagen, wie er nur konnte. Und was tun? Die Möbel zertrümmern? Die Wände? Sein Gehirn ließ ihn im Stich. Mitten in der Nacht stand er auf und duschte. Dann lag er auf dem Bett, trocknete, wünschte, Joanna wäre da. Er hätte sie angeschrien, und dabei hätte er sich besser gefühlt. Erst letzte Woche war ihm aufgefallen, wie stark sie zugenommen hatte wie das Fleisch ihrer formlosen Brüste und ihrer Achselhöhlen sich am Rand ihres Büstenhalters zusammenschob; wie dick ihre Hüften geworden waren, ihre Taille und ihre Schenkel, das schwere, weiche Fleisch unter ihrem Kinn. Nun, sie war -5 1 -
sechsundvierzig Jahre alt, ein Jahr jünger als Paul, fast auf den Tag genau. Sie waren beide Wassermänner. Wassermänner, dachte er. All die intensiven Versprechungen in der Jugend; aber nach ihrer Hochzeit hatten sie sich schnell an ein behäbiges Leben gewöhnt, ein Leben ohne jeden Funken. Sie waren langsam fett geworden, fett und formlos. Beide waren schon seltsam früh alt geworden, älter, als ihre Jahre glauben ließen - so, als wären sie nie jung gewesen. Am Anfang war sie ein attraktives Mädchen gewesen, das sich graziös bewegte und eine weiche Stimme hatte, eine Stimme ohne den schrillen Messington, wie ihn die meisten Mädchen in New York an sich hatten. Wahrscheinlich hatten sie einander von Anfang an gemocht. Und so war es immer weiter gegangen. Sie hatten sich überraschend selten gestritten. Er wußte, daß sie beide Menschen waren, die sozusagen erst den Kessel heizen und Dampf ansammeln mußten, ehe sie ihrer Wut freien Lauf lassen konnten, und bis es dazu kam, gab es meistens irgendeinen Anlaß, um sich abzureagieren - das Büro, die Wohltätigkeitsorganisationen, in denen Joanna fast den ganzen Tag tätig war und für die Paul alle Zeit, die er erübrigen konnte, aufgewendet hatte. Jetzt im nachhinein war er unglücklich darüber, daß sie ihr Leben vielleicht zu sorgfältig, zu einseitig gelebt hatten. War er jetzt traurig, weil er sie geliebt hatte, oder empfand er ein Schuldgefühl, weil er sie nicht geliebt hatte? Nichts war zurückgeblieben, nur eine Handvoll verlorener Träume - aber das waren Träume, die schon vor langer Zeit verlorengegangen waren; ihr Tod war vielleicht nicht mehr als ein abschließender Punkt dahinter. Die meiste Zeit war es eine gute, ruhige Freundschaft gewesen - nicht das, was sie sich in ihren Jugendjahren erträumt hatten, aber vielleicht das Höchste, was sie beide hatten erreichen können. Sie gaben einander keine Schuld dafür; aber wenn er Freunde und Bekannte sah, die ihre Ehepartner anbeteten, dann erinnerte er sich an den Neid, den er -5 2 -
empfunden hatte. Was würde er jetzt mit sich an den Wochenenden anfangen? Es war keine strahlende Filmehe gewesen, aber sie war ein Teil seines Lebens geworden. Es war wichtig, jemanden zu haben. Er begann zu begreifen, was sein Vater, der einen guten Teil seines Lebens allein gelebt hatte, hatte erdulden müssen. Und jetzt kam es wieder: Kurzatmigkeit, eine ihn schwach machende Wut, die alle Teile seines Körpers erfaßte. Er löste sich schwerfällig aus den zerwühlten Decken und ging ins Badezimmer, schaltete das Licht an und starrte sich im Spiegel an. Sein rötlich-blondes Haar begann oben sehr dünn zu werden. Die Sommersprossen, die seine Wangen und Hände bedeckten, schienen sich vermehrt zu haben und größer geworden zu sein, so daß seine Haut wie die einer Knackwurst aussah. Seine Augen lagen in roten Säcken; er sah die Falten in seinem Gesicht, die Hauptlappen an seinem Hals, den Beginn eines Bauches. Ein ausgewaschener, verbrauchter Kadaver. Er ging in die Küche, bewegte nichts außer seinen Beinen; goß sich einen neuen Martini - zehn zu eins - ein, machte sich gar nicht erst die Mühe, Eis hineinzutun und schlurfte wieder ins Wohnzimmer zurück. Als er sich setzte, wurde ihm klar, daß dies seit Jahren das erste Mal war, daß er nackt durch seine Wohnung gegangen war. Weder ihm noch Joanna war es gelungen, ihre kleinbürgerliche, bescheidene Herkunft zu verdrängen; sie zogen sich immer im Schlafzimmer um und gingen nie nackt durchs Wohnzimmer oder die Küche. Eisige Schauer schüttelten ihn. Er nahm die oberste Zeitschrift von dem Stapel neben der Couch; schlug sie willkürlich auf und las einen Abschnitt und fing dann wieder von vorne an, bemerkte, daß er überhaupt nicht auf das geachtet hatte, was er las. Nach dem zweiten Versuch gab er auf und klappte die Zeitschrift zu. So ging es nicht. Er mußte etwas tun: er mußte anfangen, -5 3 -
irgendwelche Pläne zu machen. Er beschloß, am Morgen die Polizei anzurufen. Vielleicht tat ihnen eine kleine Aufmunterung ganz gut. Er kippte den halben Martini hinunter und sah sich mit einem ganz anderen Blick im Zimmer um: versuchte, sich zu vergegenwärtigen, wie es geschehen war. Wo hatten sie es getan? Auf dem Teppich? Oder hier auf der Couch? Er versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es war schwer, sich ein Bild davon zu machen. Er hatte nie echte Gewalt gesehen, nur im Fernsehen oder im Kino. Bis das hier geschehen war, war er insgeheim überzeugt gewesen, daß ein guter Teil davon reine Fiktion war - ein Teil des Männlichkeitsmythos, den die Männer in den Städten aufbauten, um sich ihre Männlichkeit und die Härte der Welt, die sie bewohnten, zu bestätigen. Intellektuell wußte er natürlich, daß das nicht stimmte, aber in seinen innersten Gefühlen und Regungen glaubte er einfach nicht, daß es Killer und Schläger gab. Er hatte sein ganzes Leben in der Sündenhauptstadt der Welt verlebt, abgesehen von den zwei Jahren in der Vorstadt, und doch hatte er nie mit eigenen Augen Laster oder Korruption oder Gewalt gesehen - nichts, was über den gelegentlichen Ausbruch eines Autofahrers oder Fußgängers hinausging, den unartikulierte Wut so überwältigte, daß er Taxifahrer anzuschreien anfing und mit den Fäusten auf ihre Kotflügel einschlug. Er hatte nie einen Buchmacher gesehen, nie einen Gangster gekannt. Er wußte, daß in seiner Umgebung Rauschgift verkauft wurde: nur einen Häuserblock östlich lag der Needle Park, und er hatte die Gesichter voll ausdrucksloser Langeweile gesehen, von denen er wußte, daß sie Süchtigen gehörten, aber er hatte nie selbst gesehen, wie Rauschgift den Besitzer wechselte, nie außerhalb der Ordination eines Arztes eine Spritze. Manchmal hatten ihm die Rudel von Jugendlichen mit ihrem schrillen Gelächter Angst gemacht, wenn sie durch die U-Bahn-Züge rannten oder in Knä ueln an Straßenecken -5 4 -
herumlungerten, aber er hatte nie gesehen, daß sie irgendeinen Akt der Gewalt begingen. Manchmal konnte man sich nur schwer der Vorstellung entziehen, daß die Seiten der Daily News und des Mirror gar nicht über Tatsachen berichteten, sondern nur der schwülstigen Phantasie von Kolportageschreibern dienten. Er kannte viele Leute, in deren Wohnungen man eingebrochen hatte. Einmal, drei oder vier Jahre war es her, hatte eine geschickte Hand, die durch eine sich schließende UBahn-Tür herausschoß, Carol die Handtasche weggeschnappt. Solche Dinge geschahen, aber sie geschahen anonym; man hatte dabei nicht das Gefühl persönlicher menschlicher Gewalttätigkeit. Und jetzt mußte er sich an ein ganz neues Universum der Wirklichkeit gewöhnen.
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6 In der Sonntagsausgabe der Times stand ein Bericht, der Joannas Namen erwähnte. Sam Kreutzer rief um zehn Uhr an, um es ihm zu sagen. »Wie kommst du denn zurecht?« »Ist schon in Ordnung.« »Eine scheußliche Zeit. Gibt es irgend etwas, was wir tun können, Paul?« »Nein. Gar nichts.« »Vielleicht möchtest du mal vorbeikommen und mit uns zu Abend essen, irgendwann diese Woche.« »Darf ich dir später Bescheid sagen, Sam? Im Augenblick mag ich niemanden sehen.« Er wollte der Freundlichkeit seiner Freunde entgehen. Ihnen war es nicht passiert; für sie war es etwas aus zweiter Hand. Man blutete nur aus seinen eigenen Wunden. Das Mitgefühl der Menschen hatte etwas Saccharinartiges an sich, dafür konnten sie nichts, aber Mitleid war dennoch etwas Grausames. Er rief Jack an. Carol schlief noch. Paul sagte, er würde später noch einmal anrufen. Wahrscheinlich würde er nicht zum Essen kommen, es sei denn, sie fühlte sich viel besser, andernfalls würde er sich die Einladung gerne aufheben. Er ging hinaus, um sich die Times zu kaufen. Ging die Avenue bis zur Zweiundsiebzigsten hinauf und quer über die Straße zu dem Zeitungsstand an der U-Bahn-Station am Broadway. Es war ziemlich warm. Er sah sich eine Weile den Strom von Leuten auf den Straßen an, fragte sich zum ersten Mal in seinem Leben, wer unter ihnen nun die Killer waren und wer die Rauschgiftsüchtigen und wer die Unschuldigen. Nie zuvor hatte er akute physische Angst davor gehabt, auf der Straße zu gehen; er war immer auf seiner Hut gewesen, hatte spät nachts Taxis benutzt, war nie durch dunkle Straßen gegangen oder alleine in unbewohnte Viertel gegangen, aber das war eine Art -5 6 -
gedankenloser Angewohnheit gewesen. Und jetzt ertappte er sich dabei, wie er jedes Gesicht musterte und Anzeichen von Gewalttätigkeit darin suchte. Er trug die Times die Zweiundsiebzigste Straße zurück, schritt langsam aus, sah sich bewußt Dinge an, die er jahrelang als selbstverständlich hingenommen hatte: den Schmutz, die grauen, hastigen Gesichter, die zerbrechlichen dünnen Mädchen, die unter den Vordächern standen und warteten. Es war nicht viel Verkehr - an diesen letzten warmen Sonntagen nach dem Labor Day floh ein jeder aus der Stadt, versuchte den Sommer so lange wie möglich auszudehnen, indem er draußen auf dem Lande oder an den überfüllten Stränden Sonnenlicht tankte. Eine Frau stand vor einem der billigen Läden und starrte mit leerem Blick in ein Schaufenster. Im Fenster hing ein rotes Schild: Como sabe Vol - que no tiene enfermedad venerea? Woher wissen Sie, daß Sie keine Geschlechtskrankheit haben? Es schien eine primitive Frau zu sein, das dunkle Gesicht war von Narben durchzogen, der Mund locker: eine alte Vettel, eine böse Hexe mit einer schmierigen Einkaufstasche, die aus ihrer schwammigen Hand hing. Wieviele Killer waren ihrem Schoß entsprungen? Wieviele Schläger waren zwischen ihren alten ausgemergelten Schenkeln gelegen? Er eilte zu seiner Wohnung zurück, verstört. Am Montag befand er sich immer noch tief in einer Gefühlsregung, die er posttraumatische Tristesse nannte. Letzte Nacht hatte er Schlaftabletten genommen; sie machten ihn am Morgen gereizt. Letzte Nacht war er zu dem Schluß gelangt, daß es am besten wäre, heute ins Büro zu gehen - selbst wenn er dabei keine Arbeit erledigen konnte, würde es doch besser sein, Leute um sich zu haben, die er kannte - aber jetzt wußte er, daß er das nicht würde ertragen können. Er ging zur Bank, weil er nicht mehr viel Bargeld hatte. Es -5 7 -
war nur ein kurzer Weg, über die Straße von dem Zeitungsstand an der Ecke zwischen Broadway und der Zweiundsiebzigsten. Dieselbe Route, die er gestern gegangen war, um die Times zu kaufen; dieselbe Route, die er Tausende von Malen gegangen war zur U-Bahn und zurück, zu seinem Büro. Und doch war es jetzt anders. Er schlich sich in die Bank, als wäre sie ein Versteck, ein Zufluchtsort. Er hatte daran gedacht, sich einen schweren Spazierstock zu kaufen und den als Waffe zu tragen. Aber ein Spazierstock war unhandlich; jemand mit einem Messer konnte ihn unterlaufen, und außerdem würde es sie vielleicht ärgern, wenn sie sahen, daß jemand eine offenkundige Keule trug. Am Tresen stand er hinter einem dicken Mann in einer schmierigen Schürze, der sich Kleingeld besorgte, wahrscheinlich für die Registrierkasse eines Schnellimbisses. Als der Mann wegging, trug er einen Sack mit schweren Münzrollen. Paul kaufte Fünfundzwanzig-Cent-Stücke im Wert von zehn Dollar. Als er wieder in seiner Wohnung war, schob er das Kleingeld in eine Socke, knotete sie zusammen und probierte aus, damit zuzuschlagen. Dann steckte er das Geld in die Tasche. Er würde es jetzt immer bei sich tragen. Er war nicht sanftmütig; er war einfach ein Feigling. Es dämmerte ihm, daß das Erschreckendste an seiner Existenz seine Hilflosigkeit war. Er kam sich vor wie ein Narr. Er holte die Münzen aus der Tasche, band die Socke wieder auf und verstaute die Rolle mit Geldstücken in einer Schublade. Die Schublade öffnete sich einen Zollbreit und blieb dann stecken. Er riß daran; sie glitt heraus, entfiel seiner Hand, polterte zu Boden. Der ganze Kleinkram, der in der Schublade gewesen war – Sicherheitsnadeln, Spielkarten -, fiel auf den Boden. Er fluchte, so laut er konnte. -5 8 -
Nachdem er die Schublade wieder in das Tischchen geschoben und ihren Inhalt aufgehoben hatte, rollte er die Münzen wieder ein und verstaute die Socke in seiner Tasche. Er rief einen Schlosser an, und der Mann erbot sich, am Mittwoch zu kommen und die Schlösser auszuwechseln, an ihrer Stelle schwere, kräftige Modelle anzubringen, die man nicht mit einer Plastikkarte öffnen oder durch Gewaltanwendung eindrücken konnte. Ein paar Stunden saß er da und konstruierte in seiner Phantasie alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen, mit denen er seine Wohnung vor Eindringlingen schützen konnte. Schrotflinten mit Drähten, die am Abzug befestigt waren. Bomben. Anschließend fing er an, sich selbst einen Narren zu schelten, einen Idioten, einen Paranoiker. Kurz nach fünf rief Jack an. »Ich versuche schon seit Mittag, dich zu erreichen.« »Ich hatte den Hörer abgenommen. Zu viele Kondolenzanrufe.« »Ich weiß schon, was du meinst.« »War Carol bei dem Psychiater?« »Ja, wir waren heute morgen dort. Er schien mir ein netter Kerl, machte einen recht vernünftigen Eindruck. Er hat ihr ein paar Tranquilizer verschrieben und gesagt, sie würde wahrscheinlich eine Weile brauchen, um damit fe rtigzuwerden. Ich glaube, er hat sich länger mit mir als mit Carol unterhalten. Ein langer Vortrag, daß ich mich beruhigen müsse und ihr gegenüber ruhig und verständnisvoll sein müsse, bis sie es hinter sich gebracht habe. Man hätte meinen können, sie wäre schwanger.« »Das klingt aber, als habe er wahrscheinlich recht. Bist du nicht erleichtert?« -5 9 -
»Das war ich nachher auch. Aber sie ist unglaublich deprimiert, Pop. Sie reagiert kaum, wenn ich sie anspreche. Es ist gerade, als spräche ich mit einer Wand.« »Vielleicht ist das teilweise die Wirkung der Tranquilizer.« »Vielleicht«, sagte Jack, ohne daß seine Stimme dabei sehr überzeugend klang. »Glaubst du, daß es ihr guttun würde, wenn ich vorbeikäme und sie besuchte?« »Nein. Ich habe es dem Arzt gegenüber erwähnt. Er sagte, es wäre vielleicht besser für sie, wenn sie dich eine Weile nicht sähe. Ich sagte ihm, daß es vielleicht schwierig sein könnte, dich zu überzeugen, aber er scheint der Ansicht zu sein, es sei vor allem wichtig, sie möglichst vor gewissen Assoziationen mit dem Verbrechen zu schützen. Offenbar identifiziert sie dich damit, weil es deine Wohnung war. Versteh das bitte nicht falsch, Pop - nicht, daß sie dir für irgend etwas Schuld gäbe, aber es könnte tatsächlich besser sein, wenn du sie ein paar Tage nicht siehst.« »Hat er das gesagt?« »Ja. Es tut mir leid - ich weiß, daß es für dich schon schlimm genug ist, auch ohne -« »Schon gut, ich verstehe.« Er war nicht sicher, ob er wirklich verstand, aber er wollte sich jetzt nicht streiten. Es wäre nutzlos gewesen. »Nun, ich rufe dich morgen an.« Er legte auf und fühlte sich scheußlich dabei. Er hatte am Sonntag morgen die Polizei angerufen; Montag abend rief er wieder an und wurde mit einem Leutnant Malcolm Briggs verbunden. »Ja, das stimmt, Mr. Kersey, ich bin mit der Untersuchung des Falles beauftragt.« »Ich wollte bloß wissen, ob sich irgend etwas ergeben hat. Irgendwelche - Hinweise.« »Nun, ich würde Ihnen gerne etwas Positives sagen, aber im -6 0 -
Augenblick haben wir wirklich nichts, was man als Hinweis bezeichnen könnte. Wir haben ein oder zwei Leute gefunden, die eine Gruppe Halbwüchsiger um die richtige Tageszeit an jenem Nachmittag vor dem Supermarkt herumlungern sahen. Einer unserer Zeugen meint, er würde sie wahrscheinlich wiedererkennen, wenn er sie sähe; sofern wir sie also festnähmen, könnte er sie für uns identifizieren. Aber bis jetzt hat sie noch niemand in unseren Bilderkarten gefunden. Ihre Tochter hat sich gestern natürlich die Bilder angesehen, aber sie konnte sich nicht positiv an irgendeines der Gesichter erinnern und es identifizieren.« »Ich wußte gar nicht, daß sie auf dem Polizeipräsidium war.« »Das war sie auch nicht. Ich habe mit Mr. Tobey gesprochen, und er schilderte mir ihren Zustand. Also habe ich den stellvertretenden Inspektor dazu überredet, die Bücher von zwei Streifenpolizisten in ihre Wohnung bringen zu lassen. Sie hat sich unsere gesamten Fotos derjenigen Leute angesehen, die in irgendeiner Weise dafür bekannt sind, daß sie so operieren. Wie gesagt, sie hat nichts gefunden. Aber eine Art Beschreibung hat sie uns gegeben. »Oh?« »Sie schien ziemlich sicher, daß zwei davon Puertoricaner waren und der dritte ein Neger. Natürlich kann es auch ein schwarzer Puertoricaner gewesen sein - davon gibt es eine ganze Menge.« »Sagen Sie, gibt es da nicht eine Methode, die man dazu benützt, Gesichter dadurch zu rekonstruieren, daß man sie aus einzelnen Bestandteilen zusammensetzt?« »Sie meinen den Identikit? Ja, Sir. Dazu schien sie nicht in Stimmung zu sein.« »Nun, in ein paar Tagen sollte sie sich ja besser fühlen.« »Sie kann es jederzeit versuchen, Sir.« -6 1 -
Nachdem er aufgelegt hatte, fielen Paul noch ein halbes Dutzend weiterer Fragen ein, die er hätte stellen sollen. Er brütete am Telefon und wählte dann die Nummer in der Horatio Street. »Jack?« »Oh, hello, Pop. Ist was?« »Warum hast du mir nicht gesagt, daß Carol sich die Verbrecherkartei angesehen hatte?« »Vermutlich hatte ich nicht daran gedacht, ich meine, schließlich erkannte sie ja keines der Bilder.« »Muß sie aber mächtig erregt haben.« »Sie bestand darauf, Pop. Es war ihre Idee.« »Nach dem, was geschehen ist, glaube ich nicht, daß es eine besonders gute Idee war.« »Nun, ich dachte, es sei ein beruhigendes Zeichen, daß sie Interesse dafür hatte. Nachher freilich fand ich auch, daß es alles nur schlimmer gemacht hat.« Jacks Stimme klang plötzlich schrill. »Verdammt, Pop, was machen wir bloß?« Er wünschte, er wüßte eine Antwort darauf. Als er auflegte, wurde ihm klar, warum Jack ihm nicht davon erzählt hatte. Jack hatte einen Ausbruch erwartet; er wußte, wie besorgt Paul sein konnte. Dann fragte er sich, warum er nicht explodiert war. Er schien immer noch unter Druck zu stehen. Und irgendwann würde etwas in ihm bersten.
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7 Am Donnerstag wurde Carol in das presbyterianische Columbia-Krankenhaus zur Beobachtung eingeliefert; so wenigstens nannte es der Psychiater. Donnerstag früh begann Paul sich darüber klarzuwerden, wie gefährlich es war, sich alleine abzukapseln. Je länger er in der Wohnung blieb, desto erschreckender wurde die äußere Welt. Er mußte etwas unternehmen. Es war zu einfach, sich abzuriegeln, idiotische Fernsehprogramme anzustarren und leere Wände. Mehr zu trinken, als er aß. Sich überhaupt nicht zu bewegen. Er bildete sich sogar ein, einen Herzanfall zu haben. Abgesehen von den Stunden, in denen er zu schlafen versuchte, mied er das Schlafzimmer. Es war zu voll von Joanna. Er wußte, daß er eigentlich ihre Sachen packen und sie wegschaffen sollte, aber er wollte noch nicht in ihre Nähe kommen. Also beschränkte er sich auf das Wohnzimmer, die Küche, den Vorraum; manchmal ging er zwischen den einzelnen Räumen hin und her; gewöhnlich saß er aber mit starrem Blick vor dem Fernseher, ob er nun eingeschaltet war oder nicht. Er hatte in den letzten hundert Stunden die Wohnung nur dreimal für kurze Rundgänge verlassen. Es war nicht gut. Der Körper verfaulte dabei, der Geist ließ nach; nur die unbewußten Phantasiegebilde gediehen dabei. Er beschloß, Sam Kreutzer im Büro anzurufen und die Einladung zum Abendessen anzunehmen, sofern sie noch galt; er präparierte sich auf die Möglichkeit, daß Sam und seine Frau für heute abend eine andere Verabredung hatten, und griff nach dem Telefon. Es klingelte, ehe er es berühren konnte. Jack, der ihm von Carols Einweisung in das Krankenhaus berichten wollte. Nachher konnte Paul sich nicht klar an das Gespräch erinnern. Er wußte, daß er Jack angeschrien hatte - unsinnige Fragen, auf -6 3 -
die Jack keine Antwort haben konnte; dumme, grausame Vorwürfe, die nur zu eisig kühlen Antworten von Jack führten. Schließlich legte Jack auf. Er hatte nicht einmal den Namen des Psychiaters erfahren. Er würde zurückrufen müssen, um ihn sich zu beschaffen. Aber nicht gleich; er mußte Jack zuerst Zeit lassen, um abzukühlen - und sich auch. Er duschte - schrubbte sich heftig ab, bis seine gerötete Haut schmerzte. Rasierte sich mit akribischer Sorgfalt. Zog eine Garnitur völlig frischer Kleider an, von der Haut weg, zum ersten Mal seit fünf Tagen. Sein bester Straßenanzug - der graue Gabardineanzug, bei dem Joanna darauf bestanden hatte, daß er ihn in dem Laden in der Oxford Street kaufte, als sie das letzte Mal zusammen in London gewesen waren, vor drei Jahren. Er knotete sich seine Krawatte präzise und befestigte sie mit der silbernen Krawattennadel an seinem Hemd, wischte sich die Schuhe mit einem Lappen ab, musterte sich im Spiegel, kämmte sich das Haar noch einmal und schickte sich an, zur Türe hinauszugehen. Vor dem Gebäude lagen Glasscherben wie Gefrorenes auf dem Bürgersteig - eine zerbrochene Flasche. Er ging um die Scherben he rum, blickte nach links und nach rechts, ob Verkehr käme, und schritt dann vorschriftswidrig quer hinüber zur östlichen Seite der Avenue. Als er die Siebzigste zum Broadway hinaufging, kamen gerade die Kinder aus der Schule. Sie veranstalteten einen Heidenlärm und rannten in dichten Rudeln herum. Seine Bauchmuskeln verkrampften sich. Zuerst sah er keinem der Jungen ins Gesicht - als könne er sich damit vormachen, sie existieren nicht, als könne er sie daran hindern, ihn zu sehen. Er ließ sie um sich herumfließen. Ihre hohen Stimmen klangen schrill, ihr Gelächter brüchig. Klang da wilde Brutalität heraus, oder bildete er sich das nur ein? Als er sich seinen Weg mitten durch die schreiende, tobende -6 4 -
Masse bahnte, fing er plötzlich an, den Leuten gerade ins Gesicht zu sehen. In seiner Tasche schloß sich seine Faust um die Socke mit den Münzen. Ein hochgewachsener junger Mann fiel Paul auf. Die Augen des Jungen flackerten, als sie die Pauls trafen: flackerten und wichen aus. Paul wäre beinahe stehengeblieben. Sein Kopf drehte sich herum, um dem jungen Mann zu folgen, der etwas zu dem Jungen, der neben ihm ging, sagte; beide lachten, sahen sich aber nicht in Pauls Richtung um. Als er den Straßenübergang erreichte, hatte er grünes Licht; er schlenderte quer über die Amsterdam Avenue, und dann hielt ihn die Ampel am Broadway auf, also vollführte er eine Rechtswendung und ging auf den Columbus Circle zu. Er hatte jetzt das Rudel von Schülern hinter sich gelassen; seine Muskeln entspannten sich wieder. Aber seine Gedanken rasten noch weiter: Was hatte er erwartet? Mitten auf einer von Schulkindern überfüllten Straße angegriffen zu werden? Mit dem großen Jungen, der ihn angestarrt hatte, ins Handgemenge zu geraten? Du mußt dich zusammenreißen. Er näherte sich den sauberen, attraktiven Gebäuden des Lincoln Center. Eine plötzliche Regung veranlaßte ihn, den Broadway auf der Fünfundsechzigsten zu überqueren. Er betrat den Central Park. Gleich hinter dem Parkeingang kam ein Landstreicher mit ausgestreckter Hand auf ihn zugetaumelt. Paul, der immer das Gefühl hatte, die sozial Schwachen unterstützen zu müssen, eilte mit abgewandtem Gesicht vorbei. Der Park war mit den Abfällen einer gleichgültigen Menschheit übersät: weggeworfene Zeitungen, zusammengeknüllte Vespertüten, verrostete Flaschendeckel, leere Dosen, zerbrochene Flaschen. Vor einigen Jahren hatte er einen ganzen Sommer lang, jede freie Stunde, über die er verfügte, bei der freiwilligen Unratbeseitigungsaktion mitgeholfen. Na schön, -6 5 -
man hat es ihnen gesagt, sie hatten ihre Chance. Er dachte den Gedanken und die Folgen, die sich daraus ergaben, nicht zu Ende: er fürchtete sich davor. In der Nähe des Zoos saß ein Betrunkener auf einer Bank. Er schwankte. Seine Augen verfolgten Paul. Er sah aus, als habe er keine Vergangenhe it und kein Recht auf eine Zukunft, er starrte Paul unverwandt an, und sein Kopf drehte sich, um Paul zu folgen. Pauls Nackenhaare sträubten sich. Er eilte durch den Zoo und wieder hinaus auf die Fifth Avenue. Er hatte sich kein besonderes Ziel vorgenommen, war nur dem Drang gefolgt, hinauszugehen, sich Bewegung zu verschaffen, seiner ungesunden Isoliertheit ein Ende zu machen. Aber jetzt wußte er, wohin er wollte. Er beschleunigte seinen Schritt, obwohl seine Füße anfingen, heiß zu werden und wehzutun. Die Türe schloß sich mit einem saugenden Geräusch hinter ihm. Marilyn, die Empfangsdame, eine irgendwie bereits matronenhaft wirkende sechsundzwanzigjährige Brünette mit der Andeutung eines Doppelkinns, sah ihn überrascht an. Ihr Blick vereinigte Erstaunen, Freude und Mitgefühl. »Aber, Mr. Kersey!« zirpte sie. »Wie nett!« Und dann erinnerte sie sich; ihr Gesichtsausdruck veränderte sich so abrupt, daß es komisch wirkte. »Oh, es hat uns allen so schrecklich leid getan... die arme Mrs. Kersey... muß ja schrecklich für Sie gewesen sein -« Er nickte und murmelte etwas und eilte durch die Korridortür, ehe sie etwa auf den Gedanken kommen konnte, ihn schützend an ihren großen, weichen Busen zu drücken und ihn daran zu ersticken. Er ging zu Sam Kreutzers Büro und wurde von Sams Sekretärin ähnlich empfangen; als er das Büro betrat, war Dundee bei Sam. Ihre Überschwenglichkeit ließ ihn eine Weile nicht zu Wort kommen. »Ich fing an, einen Budenkoller zu bekommen. Ich dachte, ich kehre am besten zur Arbeit zurück. -6 6 -
Wahrsche inlich bin ich im Augenblick nur wenig nütze, aber vielleicht hilft es mir, einfach dazusitzen und Papierchen herumzuschieben.« »Da hast du ganz bestimmt recht«, sagte Dundee. »Wenigstens hast du dann ein paar freundliche Gesichter, die dir Gesellschaft leisten.« Er ergriff seinen Arm mit einer Hand und klopfte ihm mit der anderen auf die Schulter. »Es dauert immer 'ne Weile, Mann, aber wir sind alle hundertprozentig auf deiner Seite. Wenn du irgend etwas brauchst, irgend etwas...« »Schon gut, Bill.« Er versuchte, der Situation etwas an Peinlichkeit und Banalität zu nehmen: »Sam, falls deine Einladung noch gilt - was ich wirklich mehr als alles andere brauche, ist, glaube ich, etwas Vernünftiges zu essen. Ich hab' von Konserven gelebt Tiefkühlkost -, sogenannten TV-Dinners, die so schmecken, als wären sie schon einmal aufgewärmt worden.« Er war nicht sicher, ob er es sich einbildete: eine Spur von Verwirrung in Sams Gesicht? Aber dann wischte ein Lächeln sie weg. »Aber sicher, Paul. Ich rufe gleich an und sag' ihr, daß sie einen Teller mehr hinstellen soll.« Es beunruhigte ihn etwas: Ärgerte Paul sich wirklich? Hatte er das Gefühl, daß es peinlich werden würde? Vielleicht hätte Paul nicht fragen sollen... »Ich weiß genau, was du meinst«, hörte er Dundee sage n. »Als Anne im Krankenhaus war und die Kinder alle auf der Schule - ich hab' mich nie so glücklich gefühlt wie damals, als sie schließlich nach Hause kam und wieder auf den Beinen war. Zum Kotzen, dieser Dreck, den sie einem da verkaufen - ich möchte wetten, die schütten Sägemehl und Eisenfeilspäne hinein, ehe sie das Zeug einfrieren.« Ein Geruch stieg Paul in die Nase, belästigte ihn; süßlich und dick. Schließlich wurde ihm bewußt, daß es Dundees Rasierwasser sein mußte. -6 7 -
Dundees Lächeln war erstarrt - als wäre ihm gerade klargeworden, daß seine Bemerkungen etwas verfehlt gewesen waren: Anne war nach ihrer Operation aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Joanna würde nie wieder zurückkommen. Das war es, was Dundee gerade dachte: er trug seine Gedanken immer im Gesicht. Und Paul wußte nicht, wie er Dundees Schuldgefühl beseitigen sollte, ohne die Stimmung noch peinlicher zu machen, als sie schon war. Das Beste war, es zu übersehen, so zu tun, als habe er gar nichts bemerkt, einfach weiterzureden. So sagte er, so schnell er konnte: »Ich hatte das deutliche Gefühl, daß die Dinge hier kurz vor dem Chaos standen, solange ich weg war. Also bin ich zurückgekommen. Zum Teil, um zu sehen, ob vielleicht jemand die Finger in der Keksdose hat«, - ein Auflachen, zu laut und zu herzhaft von Dundee - »und zum Teil, um all den Schaden wieder gutzumachen, den ihr beiden bestimmt in der Zwischenzeit in meinen Angelegenheiten angerichtet habt.« Sam Kreutzer sagte: »Wir haben tatsächlich gerade über einen deiner Klienten gesprochen, als du hereinkamst. Nemserman. Der Bursche hat sich ja wirklich den Schwanz eingezwickt.« »Ist er euch auf die Nerven gegangen?« »Er ruft alle ein, zwei Tage an und möchte wissen, wann du wieder da sein wirst. Er hat mich übrigens gebeten, dir sein Mitgefühl auszudrücken.« Paul fragte sich, ob das wohl stimmen mochte. Er zweifelte daran; er konnte sich nicht vorstellen, daß Nemserman irgendwelcher Gefühle für andere Menschen fähig sei. Wahrscheinlich hatte Sam das jetzt einfach aus dem Stegreif erfunden, weil es sich so gehörte. Dundee sagte: »Ich habe gestern mit ihm gesprochen - Sam war nicht da, als er anrief. Er muß von irgendeinem Buchmacherbüro aus angerufen haben - der Lärm im Hintergrund war unerträglich.« -6 8 -
»Was wollte er denn?« »Erstens, wann Paul Kersey seinen fetten Hintern heben und wieder ins Büro kommen würde. Das ist mehr oder weniger ein wörtliches Zitat. Zweitens, er scheint - zumindest für den Augenblick - seine Lektion gelernt zu haben, was seine Vorstellungen über Kapitalgewinn angeht. Er hat seinen Makler beauftragt, jedesmal zu überprüfen, ob schon sechs Monate vergangen sind, falls er auf die Idee kommen sollte, ein Aktienpaket zu verkaufen. Drittens, sagte er, dieses Problem habe ihn an eine weitere Schwierigkeit erinnert, die er besprechen wollte.« »Und hat er es getan?« »Nun ja. Ich will mich nicht in deine Geschäfte einmischen, Paul - ich hab' sie alle vertröstet. Ich will sie dir wirklich nicht stehlen. Aber Nemserman scheint schon die ganze Woche wie auf Kohlen gesessen zu haben. Also hab' ich schließlich nachgegeben und ihm den Rat gegeben, den er suchte.« »Was für einen Rat?« »Nun, er hat einen ganzen Koffer voll erstrangiger Papiere, die er schon seit tausend Jahren besitzt. Ich meine, ein paar von den verdammten Biestern hat er schon seit Roosevelts erster Präsidentschaft.« »Franklin?«, sagte Sam Kreutzer trocken, »oder Teddy?« Dundee sagte: »Wenn er die Papiere jetzt verkaufte, würde er natürlich eine ungeheure Kapitalgewinnsteuer für den Wertzuwachs bezahlen müssen. Einige dieser Papiere sind in den letzten vierzig Jahren, wenn man Splits und Kapitaldividenden hinzuzählt, von zehn Dollar auf sechshundert gestiegen. Er war ganz verzweifelt bei dem Gedanken, so viele Steuern bezahlen zu müssen und sucht natürlich einen Ausweg.« »Und was hast du ihm gesagt?« -6 9 -
»Daß er einen Treuhandfonds errichten, die Aktien einbringen und sie behalten soll. Wenn er sie behält, bis er stirbt, gehen sie auf seine Erben über, und die Erben können sie verkaufen, ohne Kapitalgewinnsteuer zahlen zu müssen. Und wenn er die Aktien in einen Treuhandfonds für seine Erben einbringt, erspart das auch Erbschaftssteuern.« Dundee redete zu viel und zu schnell. Paul versuchte ihn zu beruhigen. »Genau das hätte ich ihm auch geraten, Bill, mach dir keine Sorgen darüber. Ich glaube ohnehin nicht, daß er deinen Rat annehmen wird, aber wenigstens wird er sich später nicht beklagen können, daß wir ihn schlecht beraten hätten.« Sam Kreutzer sagte: »Warum wird er den Rat nicht annehmen?« »Soweit mir bekannt ist, hat er nur zwei Erben - eine Schwester und einen Neffen - und er haßt sie beide wie die Schande.« »Warum errichtet er dann keine Wohltätigkeitsstiftung?« »Das versuche ich ihm seit Jahren einzureden. Er sagt immer wieder, eines Tages würde er es tun. Aber das wird er nie. Er hat keinen einzigen wohltätigen Knochen im Leibe.« »Also wird er alles zwei Leuten hinterlassen, die er haßt, und den größten Teil wird sicher die Regierung via Erbschaftssteuer schnappen. Nun, wahrscheinlich ist ihm ohnehin egal, was nach seinem Tode passiert. Für Leute wie Nemserman ist das Ganze bloß Monopolygeld. Für die kommt es bloß darauf an, beim Spielen zu gewinnen. Sobald Nemserman stirbt und das Spiel zu Ende ist - wen interessiert dann, was aus den Jetons wird?« Dundee sagte: »Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, die Dinge so zu sehen.« Paul machte es sich auf einem Sessel bequem. »Vielleicht hat er recht. Manchmal bin ich überzeugt, daß diese Welt, in der wir existieren, nichts anderes ist als eine schwarze Wüste, in der Blinde herumtasten und Steine aufheben, um einander damit zu -7 0 -
töten.« Er hatte das nicht sagen wollen; er hatte es auf der Zunge gehabt, und es war ihm entschlüpft. Als er sah, wie sie darauf reagierten, bedauerte er, es ausgesprochen zu haben. Dundee suchte plötzlich nach einer Ecke, auf die er sich konzentrieren konnte, und Sam Kreutzer starrte Pauls Krawatte an und sagte: »Ja, schon gut, Paul, ich glaube, wir können uns sehr wohl vorstellen, wie dir jetzt zumute ist. Ich denke, im Laufe der Zeit wirst du die Dinge wieder etwas freundlicher sehen.« »Das bezweifle ich«, sagte Paul - ganz gleichmäßig und ohne Nachdruck; er hatte keine Lust, einen hitzigen Disput anzufangen, spürte aber, daß etwas in ihm nach draußen drängte. »Erinnerst du dich an den Abschnitt in der Times vom Sonntag? Wir lesen die ganze Zeit solche Artikel, aber wir denken uns nichts dabei. Man glaubt nicht, daß solche Dinge wirklich geschehen - solange sie einem nicht persönlich geschehen.« »Das darfst du den Leuten nicht übelnehmen. Sie sind dem Tag und Nacht ausgeliefert - da stumpft man ab. Man hört so viel von Verbrechen, die auf den Straßen verübt werden und so regelmäßig, daß es für die meisten Menschen keine Bedeutung mehr hat. Vielleicht ist das sogar gut so. Wir brauchen alle so etwas wie einen Abwehrmechanismus - sonst würden wir doch alle wahnsinnig.« Carol... er zwang sich bewußt, weiterzumachen. »Sam, es muß doch irgendeine Wirkung haben, wenn man liest, daß selbst Blindenhunde Nervenzusammenbrüche haben vom Streß des Lebens in dieser Stadt. Dann werden Polizisten in ihren Revierräumen erdolcht - bedeutet es denn nichts, daß man in der Stadt New York nicht einfach in eine Polizeistation hineingehen kann, sondern eine Türglocke drücken muß und warten muß, bis man eingelassen wird?« »Warum glaubst du denn, daß wir uns eine Wohnung außerhalb der Stadt suchen?« Was Sam damit sagen wollte, war -7 1 -
klar. »Vielleicht ist das die Antwort, ich weiß es nicht. Vielleicht wäre Joanna noch...« »Herrgott, Paul, beruhige dich doch, ja?« »Ich bin schon leidlich klar. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich hier zusammenbreche, Sam. Ich habe nur in den letzten Tagen viel nachgedacht. Es ist nicht leicht, zu erkennen, daß man vielleicht einen großen Teil seines Lebens Dingen gewidmet hat, die völlig falsch waren.« Sam schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht glauben, Paul und du wirst es auch nicht glauben, sobald du Zeit gehabt hast, alles im richtigen Zusammenhang zu sehen und diese schreckliche Geschichte hinter dich zu bringen.« Das Gespräch wurde erst am Abend fortgesetzt, weil Pauls Antwort durch die Ankunft von Henry Ives, dem Seniorpartner, unterbrochen wurde. »Marilyn hat uns gesagt, daß sie da wären. Freut mich, Sie zu sehen, Paul - wirklich, freut mich.« Paul schüttelte die knorrige alte Hand. Die Starrheit von Ives' Mund, der wie ein Münzschlitz aussah, war ein Hinweis darauf, wie peinlich ihm die Szene war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid uns diese schreckliche Geschichte tut, Paul - wie leid sie uns tut und welchen Ärger wir empfinden. Furchtbaren Ärger, um die Wahrheit zu sagen. Die Tatsache, daß unsere sogenannten Staatsdiener zulassen, daß solche Dinge geschehen, sie immer wieder zulassen -«, er atmete tief und fuhr dann fort: »... schämen muß man sich, Paul. Wissen die schon irgend etwas über diese Gangster? Wie ich höre, hat man sie bis jetzt noch nicht festgenommen. Eine Schande ist es, eine ungeheure Schande.« Der Themenwechsel hatte Paul aus der Bahn gerissen; wenn Ives einmal eine seiner Reden anfing, dann führte er sie unabänderlich zu Ende, bis sie ausgelaufen waren: der fanatische Eifer des Egoisten beseelte Ives, und all seine -7 2 -
Ansichten waren fest eingefahren und unabänderlich. »Nein«, sagte Paul, »bis jetzt hat man sie noch nicht festgenommen. Man arbeitet noch daran. Ich war mit der Polizei in Verbindung. Die haben ein oder zwei Hinweise.« »Nun, dann sollten sie weiß Gott etwas unternehmen. Wie ich höre, waren es Teenager, stimmt das?« »So scheint es.« »Eine Schande«, sagte Ives erneut und hob den Finger, als wollte er sich jede Unterbrechung verbitten, obwohl ohnehin niemand vorgehabt hatte, ihn zu unterbrechen. »Dieser junge Abschaum wächst in einem Wohlfahrtsstaat auf und sieht, daß Gewalt nicht bestraft wird, sieht, daß die alten Tugenden nur für dumme, fromme Narren sind. Was können wir denn von diesem Abschaum erwarten? Diese Radikalen haben Waffenlager auf ihren Dachböden und predigen den Umsturz eines Wirtschaftssystems, das mehr Menschen der Armut entrückt hat als jedes andere wirtschaftliche System in der Geschichte. Sie bewaffnen sich, um ehrliche, hart arbeitende Bürger wie Sie und mich anzugreifen, Polizisten zu erschießen, und was geschieht? Die Öffentlichkeit wird von Propagandaschreiern dazu animiert, sich über das Verhalten der Polizei zu empören, die sie und die Öffentlichkeit verteidigt!« Hinter Ives' Rücken wechselten Sam und Dundee amüsierte Blicke toleranter Geduld: ihr gelegentliches Kopfnicken und zustimmendes Brummen wiegten den alten Mann in Sicherheit. Alles war hier beim alten geblieben, so als hätte sich nie etwas geändert; vielleicht hatte sich sogar für Henry Ives und die anderen nichts geändert. Für Paul war alles ganz anders; Form und Farbe der Welt hatten sich gegenüber dem, was zuvor gewesen war, völlig verwandelt. An diesem Abend sagte er bei Tisch zu Sam: »Wir alle werden mit ursprünglicher Naivität in diese Gesellschaft hineingeboren, weißt du. Und diejenigen von uns, die nicht aus -7 3 -
dieser Naivität herauswachsen, werden Liberale.« »Oh, Augenblick mal, Paul - du kannst doch nicht -« »Sicher kann ich. Ganz bestimmt sogar kann ich. Wer hat denn das bessere Recht dazu als ich?« Das war eine Frage, auf die weder Sam noch Adele eine Antwort geben wollten. »Mir ist erst vor kurzem klar geworden, was wir wirklich sind, wir Liberalen. Wir verlangen Reformen. Wir wollen die Situation der Unterprivilegierten verbessern - aber warum? Damit sie materiell besser dran sind? Unsinn. Nur um unser Schuldgefühl zu verringern. Wir zerreißen unsere Kleider, wir sind bereit, zu zeigen, wie sehr wir willens sind, jede unerhörte Forderung zu akzeptieren, solange sie nur schwarz oder jung ist oder von jemandem vorgebracht wird, der sich einbildet, berechtigten Anlaß zu haben. Wir wollen einen jeden beruhigen - wißt ihr, was ein Liberaler ist? Einer, der das Zimmer verläßt, wenn es zum Streit kommt.« »Ich glaube«, sagte Adele Kreutzer leichthin mit einem Ton, der besagte ,Wir wollen jetzt die Luft reinigen’, »wir werden hier Zeuge, wie Paul Kersey zu einem rechten Radikalen wird.« Sie hatte eine kräftige Stimme; die paßte zu ihrem langen, schmalen Kinn. Sie war schmal und dunkel und trug eine schwache Aura selbstverspottender Melancholie. »Natürlich, man kann einfach in New York nicht weiterleben. Die Schweinehunde, die diese schrecklichen Dinge tun, können nur in Städten wie dieser überleben - schickt sie doch in ein Dorf auf dem Lande, sie würden das bestimmt nicht überleben. Dort würden sie keinen Ort finden, an dem sie sich verstecken können.« »Das mag stimmen«, sagte Paul, »aber ich bin nicht sicher, daß die einzige Antwort darauf im Weglaufen liegt.« »Ich kann mir keine andere vorstellen«, sagte Sam, und als er merkte, daß beide ihm zuhörten, fuhr er selbstgefällig fort: -7 4 -
»Man brauchte bloß eine Zehn-Megatonnen-A-Bombe auf das Empire-State-Building zu werfen.« »Das ist's«, sagte Adele vergnügt. »Ja, das wäre die Lösung.« Der Witz war schwach, aber er erreichte sein Ziel. Den Rest des Abends mied Paul das Thema, wenn es ihm auch schwerfiel, an irgend etwas anderes zu denken; gelegentlich ließ er ihr Gespräch einfach an sich vorbeiziehen. Er ging früh, da er vorhatte, um halb elf zu Hause zu sein, um Jack anrufen zu können. Die Kreutzers schienen erleichtert, ihn gehen zu sehen; es würde eine Weile dauern, dachte er, bis sie ihn wieder einluden. Sollten sie doch zum Teufel gehen. Er stieg aus dem Lift und ging quer durch die Lobby und stellte fest, daß ihr Pförtner nirgends zu sehen war. Jeder könnte einfach hereinkommen. Er schob das Kinn vor. Er ging auf die Fünfundvierzigste hinaus und suchte die Straße nach einem Taxi ab. Aber keines war zu sehen; die Kreutzers wohnten an der Eastside in der Nähe des UNO-Gebäudes, und nachts herrschte hier nicht viel Verkehr. Ein leichter Nieselregen lag in der Luft. Er klappte den Jackenkragen hoch und schob die Hände in die Taschen und ging so zur Second Avenue, wobei er gelegentlich Pfützen und Abfallhaufen auf der Straße ausweichen mußte. Er hielt sich am Bürgersteig ziemlich weit außen, weil die Gebäude - Parkplätze, Ladebuchten - von tiefen Schatten erfüllt waren, wo leicht jemand lauern konnte. Nur einen halben Blick von den Lichtern und dem Verkehr der Avenue war er entfernt; aber Gegenden wie diese wimmelten von Asozialen, das wußte er. Er hob die Schultern, seine Backenmuskeln spannten sich. Schritt um Schritt die graue Straße hinauf, mit Regentropfen, die ihm kalt über den Nacken liefen. Die Schritte hallten über das feuchte Pflaster. -7 5 -
Es war wie ein Spießrutenlaufen. Als er die Ecke erreichte, hatte er das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Der Widerschein der Neonlichter schmolz und verlief sich in dem feuchten Asphalt. Er überquerte die Straße und wartete auf ein freies Taxi. Wartete einige Minuten, dann wurde ihm klar, daß es eine jener Nächte werden würde, in denen es auf der ganzen Welt nirgends ein Taxi gab. Er drehte sich im Kreise herum, ließ seine Blicke schweifen - nichts. Lastwagen, gelegentlich ein grüner Bus in Richtung auf die Innenstadt, große Limousinen, die vorbeizischten, besetzte Taxis. Einen halben Block nördlich von ihm taumelte eine Gestalt im Licht einer Schaufensterlampe vor: ein Betrunkener, der dem brüchigen Pflaster aus dem Wege gehen wollte. Er kam geradewegs auf Paul zu. Verängstigt bog er ab und ging in Richtung Westen die Fünfundvierzigste Straße entlang. Es war noch früh, aber über der Gegend lag eine »Vier-Uhrfrüh-Aura«. Er sah überhaupt niemanden, bis er die Ecke zur Third Avenue erreichte. Ein junges Paar tauchte auf, ein untersetzter junger Mann in einem weiten Jackett und ein Mädchen mit unten weiter werdenden Hosen, der das Haar gerade bis zur Hüfte hing; Mitglieder der befreiten jungen Generation, sorgfältig darauf bedacht, einander nicht zu berühren, erregt aufeinander einredend, über irgendein modisches, banales Thema. Vielleicht versuchten sie sich darüber klarzuwerden, ob sie in seine Wohnung oder die ihre gehen sollten; vielleicht hatten sie bereits das Stadium erreicht, in dem sie sich eine Wohnung teilten, in dem sie ihre Familiennamen mit einem Bindestrich verbanden und beide auf den Briefkasten setzten. Sie sahen aus, als ob sie einander nicht besonders gut leiden könnten. Paul winkte einem sich nähernden Taxi zu. Sein Freizeichen leuchtete, aber es fegte an ihm vorbei, ohne seine Fahrt zu verlangsamen. -7 6 -
Er wartete vier rote Lichter ab, bis ein Taxi neben ihm anhielt. »Siebzigste, Westend«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, lehnte sich zurück und stieß mit dem Kopf gegen die Wagendecke. War das nur in Taxen so, oder war es bei allen modernen Autos unmöglich, sich auf den Rücksitz zu setzen, ohne sich zu ducken und stets Angst vor einer Kollision zu haben? Paul hatte keinen Wagen mehr besessen, seit sie von ihrem kurzen Abstecher in das Vorstadtleben zurückgekehrt waren; abgesehen von Taxen, war der einzige Wagen, in dem er seit einem Jahr gesessen hatte, die Limousine des Bestattungsunternehmens gewesen. Durch die Plexiglasscheibe, die den Fahrersitz vom Passagierabteil trennte, konnte er den Fahrer nur undeutlich erkennen; er hatte den Eindruck eines mächtigen Negerkopfes, eine dicke Speckfalte im schwarzen Nacken. Keiner von beiden sagte ein Wort. Die rote Ampel vor ihnen schien nicht zu funktionieren, und so wich der Fahrer ihr aus, indem er an der Siebenundvierzigsten nach links bog und durch die Stadt fuhr; den ganzen Häuserblock entlang lehnten auf der Eighth Avenue Mädchen in dunklen Nischen. An der Ninth Avenue sah er eine Traube von streitsuchenden Teenagern, die Hände unvermeidlich in den Taschen, die Gesichter apathisch verschlossen. Rauschgiftsüchtige? Vielleicht kam es auch daher, daß in ihnen nur noch gewalttätige Brutalität und sonst nichts existierte. Sie sahen aus, als wären sie bereit, jeden Augenblick jemanden zu töten. Hätte er vor zwei Wochen dasselbe gedacht? Wahrscheinlich nicht, dachte er; wahrscheinlich hätte er gespürt, welche Langeweile sie plagte und beschlossen, dem Sportclub in der Nachbarschaft noch mehr Zeit zu widmen. »Diese junge Leute brauchen bloß Interessen. Wir müssen ein paar Footballclubs gründen. Gründen wir einen Ausschuß und -7 7 -
sammeln wir etwas Geld für die Sportgeräte.« Aber das war jetzt nicht mehr die Antwort. Warum sollten Spiele sie anziehen, in denen Krieg gespielt wurde, wo sie doch wirkliche Kriege hatten, an denen sie teilnehmen konnten? Für ihn waren das neue Gedanken, und er fühlte sich mit ihnen nicht wohl, aber sie verdrängten doch alles andere aus seinem Geist. Als sie an den Lincoln Towers vorbeifuhren, war er tief in einen phantastischen Tagtraum versunken, der sich mit einem Fußballclub bösartiger Teenager befaßte, denen Paul hochexplosive Granaten, als Bälle getarnt, lieferte, die dazu bestimmt waren, andere Teenagerbanden zu vernichten. Er zahlte durch den kleinen Schlitz im Plexiglas und stieg an der Ecke aus. Er wollte gerade die Straße überqueren, als sein Blick auf ein Kabriolett fiel, das vor dem Supermarkt parkte. Ein Teil des Daches war aufgeschlitzt, es hingen Fetzen herunter. Wahrscheinlich hatte irgend etwas von bescheidenem Wert auf dem Rücksitz gelegen; jemand hatte ein Messer gezogen, den Wagen aufgeschlitzt, hineingegriffen und den Gegenstand gestohlen. Eigentlich sollten die Leute ja so klug sein, Wagen mit Segeltuchverdeck nicht an der Straße zu parken... Er blieb stehen, richtete sich auf. Was zum Teufel sind das für Gedanken? Müssen wir denn jedes gottverdammte Recht aufgeben, das wir besitzen? Müssen wir wirklich zulassen, daß die uns dazu bringen, das alles aufzugeben? Der Regen glitzerte wie wertvolle Steine auf der Straße. Er blickte zum Fluß hinüber - am Häuserblock entlang, unter den Betonstrukturen der Westside Highway. Die Lichter eines Bootes glitten vorbei. Dort draußen auf dem dreckigen Fluß in einem Boot, dort wärst du sicher. Sicher, dachte er. Ist das alles, wonach unser Sinn noch steht? Die Ampel schaltete um, und er hatte die Straße überquert und den Bürgersteig betreten, ehe er den Mann sah, der an der Ecke -7 8 -
des Gebäudes im Schatten stand. An der Wand stand, die Schulter etwas vorgezogen, die Arme verschränkt, lächelnd. Ein schwarzer Mann in einer enganliegenden Jacke und mit einem Cowboyhut; so wirksam konstruiert wie ein Bajonett. Pauls Zehen krümmten sich in seinen Schuhen. Sein Haar sträubte sich; Adrenalin ergoß sich in seinen Blutstrom, und seine Hände zitterten. Sie standen Angesicht zu Angesicht da, dazwischen ein Meter Nieselregen. Paul drehte sich sehr langsam herum, setzte einen Fuß vor den anderen und ging die Straße hinauf, den Schlag seines Herzens in den Ohren. Vor seinem Wohnblock parkte ein großer Lieferwagen, in entgegengesetzter Richtung zum Verkehr; unter dem Scheibenwischer klemmte ein Strafzettel der Polizei, aber man hatte den Wagen nicht abgeschleppt: jemand hatte irgend jemand anderem ein paar Dollar zugesteckt. Paul blieb neben dem Wagen stehen und benutzte seinen großen Außenspiegel, um die Straße hinunterzublicken. Der schwarze Mann stand noch dort, wo er gestanden hatte, im Schatten kaum zu erkennen. Schweißüberströmt trat Paul in das Haus ein. Das Lächeln des Mannes: wußte er, wer Paul war? War er einer von denen, die Joanna getötet hatten? Er ließ zu, daß seine Phantasie mit ihm durchging. Komm, reiß dich doch zusammen. Jugendliche, hatte Carol gesagt. Teenager. Der Mann war ausgewachsen - er war keiner von ihnen. Wahrscheinlich hatte nur Pauls zu offensichtliche Angst ihn amüsiert; wahrscheinlich war er ein Intellektueller, ein Schriftsteller oder ein Musiker, der beschlossen hatte, sich an jene Ecke zu stellen und zu warten, wie lange die Bullen brauchen würden, um ihn weiterzujagen - irgendein Experiment, um die Verbohrtheit der Weißen zu beweisen. Paul überlegte einen Augenblick, umzukehren, wieder hinauszugehen und dem Mann zu sagen, daß das kein besonders weises Experiment war. Wenn ich einen Revolver in der Tasche -7 9 -
gehabt hätte und du mich so angesehen hättest, dann hättest du ziemlichen Ärger kriegen können, Mann. Das war nur eine Phantasievorstellung; es war unmöglich, noch einmal hinauszugehen. Er nickte dem Pförtner zu und ging nach hinten zu dem Lift. Aber eine ganz geläufige Phantasievorstellung. Das möchte ich wetten. Wenn ich dort gewesen wäre, als der Bursche das Dach aufschlitzte - wenn ich das mit angesehen hätte und zu der Zeit eine Waffe gehabt hätte.
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8 »Sie wollten mich sprechen, Mr. Ives?« »Bitte, setzen Sie sich, Paul.« Ives war der einzige Überlebende der drei bleistiftbewehrten Buchhalter, die die Firma neunzehnhundertsechsundzwanzig gegründet hatten. Sie war stadtaufwärts gerückt, und das in Etappen von der Beaver Street bis zur Dreiundvierzigsten. Das Büro des Alten war ein Repositorium für Erinnerungsstücke der einzelnen Stationen. Ein antiker Börsenticker, zwei Großmutteruhren und vier scheußliche vergoldete Cherubim als Wandschmuck. Die Möbel standen in reizvollem Gegensatz zueinander, Produkte unterschiedlicher Dezennien und verschiedener Stufen von Firmenprosperität: In einer Ecke stand ein moderner dänischer Stuhl, ein nachgemachtes viktorianisches Stehpult und eine Bronzelampe aus den zwanziger Jahren mit einem ganz gewöhnlichen, billigen Schirm. Es war ein riesiges Büro mit dicken Teppichen, das fünfzig Quadratmeter umfaßte und aus mächtigen Eckfenstern einen guten Blick auf das UNO-Gebäude und den East River bot. Paul zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Ives fragte: »Wie geht es Ihrer Tochter?« »Seit letzter Woche hat sich nicht viel verändert.« »Eine Schande«, sagte der alte Mann. »Ich hoffe wirklich, daß sie darüber hinwegkommt.« »Die Ärzte sind zuversichtlich.« »Ja. Nun. Dennoch kann ich mir vorstellen, daß Sie sich große Sorgen um sie machen.« »Ja, natürlich.« »Es gibt etwas, womit ich Ihnen helfen kann - oder genauer gesagt, womit ich Ihnen helfen kann, sich selbst zu helfen. -8 1 -
Deshalb habe ich Sie zu mir gebeten. Es ist ein Auftrag für Sie, und wenn alles sich wunschgemäß entwickelt, sollte sogar noch ein nennenswerter Bonus dabei zu verdienen sein. Ich bin sicher, daß die Krankenhauskosten Sie ziemlich belasten - ich weiß, daß Sie versichert sind, aber trotzdem gibt es immer beträchtliche Kosten, für die die Versicherungsgesellschaften nicht aufkommen.« »Ja, Sir, das stimmt. Ich mußte ein paar Aktien verkaufen.« »Dann sollte Ihnen das helfen.« »Ich bin Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit sehr verbunden, Mr. Ives, aber ich ziehe es vor, keine Wohltätigkeitsgeschenke anzunehmen.« »Das ist es auch nicht, Paul. Sie werden es sich verdienen.« Ives hatte die Ellbogen auf die ledernen Armlehnen seines Drehsessels gestützt. Er legte die Fingerspitzen gegeneinander und spähte darüber hinweg und machte damit ganz klar, daß er eine rein geschäftliche Besprechung zu führen gedachte. »Es handelt sich natürlich um diese Amercon-Angelegenheit. George Eng hat heute morgen angerufen. Ihr Aufsichtsrat möchte in der Richtung weiterarbeiten, die er Ihnen vor ein paar Wochen geschildert hat.« »Also eine Fusion mit Jainchill Industries.« »Ja, Howard Jainchill war letzte Woche hier in der Stadt, und George Eng hat einige Besprechungen mit ihm gehabt. Alles scheint sich ganz gut zu entwickeln, aber ernsthafte Verhandlungen können sie natürlich erst dann führen, wenn die beiden Gesellschaften gegenseitig ihre Bücher näher überprüft haben. Und damit sind wir jetzt dran als Buchprüfer von Amercon.« »Wir sollen also die Jainchillzahlen überprüfen.« »Ja, ganz richtig. Jainchill hat die Hauptverwaltung in Arizona.« -8 2 -
Pauls Blick wurde starr. Ives fuhr fort: »Ich dachte mir, offengestanden, eine Reise aus der Stadt heraus könnte für Sie in diesem Augenblick ganz gut sein.« »Nun, ich hatte nicht darüber nachgedacht, aber es könnte eine gute Idee sein«, sagte Paul unsicher. Als Paul dann nichts hinzufügte, meinte der alte Mann: »Nun, dann wäre das also klar. Sie fliegen Ende nächster Woche mit George Eng hin.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ives, aber sollte eine so wichtige Angelegenheit nicht von einem der Seniorpartner bearbeitet werden?« »Das ist nicht nötig. Es fällt in Ihr Ressort.« »Nun, ich möchte nur sicher sein, daß es nicht zu - zu Reibungen kommt.« »Paul, ich lege keinen großen Wert darauf, Ihnen einen Gefallen zu tun, höchstens am Rande. Sie haben einen scharfen Blick für großzügige Buchhaltungsmethoden anderer Buchhalter, und Sie haben immer klar Ihre Meinung gesagt. Sie haben den Fall Masting letztes Jahr bearbeitet, also kennen Sie sich bei Fusionen dieser Art etwas besser aus als unsere übrigen Mitarbeiter. Und Sie -« »Entschuldigen Sie, Mr. Ives, aber im Fall Mastings wußten wir, daß die Bücher frisiert waren, das hat uns einen Vorteil verschafft - wir wußten, was wir suchen mußten. Wollen Sie damit sagen, daß die Jainchill- Leute dasselbe tun?« »Zutrauen würde ich es ihnen«, sagte Ives mit einem kleinen Lächeln um seinen strengen Mund. »Ich kenne Jainchill nicht persönlich, aber er hat den Ruf, ein Mann mit der Geschäftsmoral eines bankrotten Autohändlers zu sein.« »Haben die Leute bei Amercon einen bestimmten Verdacht?« »Nach George Eng nicht. Aber Jainchill weiß, daß Amercon seine Firma schon eine Zeitlang beschnüffelt. Er wäre ein Narr, wenn er nicht etwas herumjongliert hätte, um seinen Gewinn positiv darzustellen. Jeder tut das, wenn er auf eine Fusion aus -8 3 -
ist. Wir wissen zum Beispiel, daß Jainchill letztes Jahr die Kosten von neuen Fabriken etwas langsamer abgeschrieben hat er ist von degressiver auf lineare Abschreibung übergegangen. Natürlich wurden damit auch die Beträge niedriger, die er in die Bücher einsetzen mußte, um die Abnutzung von Fabrik und Geräten auszugleichen. Sie werden sich das genau ansehen müssen, um die richtigen Zahlen zu bekommen und festzustellen, um wieviel das die gemeldeten Gewinne angehoben hat. Wenn es darauf hinausläuft, die Fußnoten zu entziffern, die in Firmenberichten stehen, dann gibt es in diesem ganzen Betrieb niemanden, der das besser versteht als Sie. Ich gehe jede Wette ein, daß Jainchills Gewinn- und-VerlustRechnung besser aussieht, als es den Tatsachen entspricht. Die Frage ist nur, um wieviel besser? Im Prinzip ist es Ihre Aufgabe, das festzustellen, aber außerdem müssen Sie natürlich auch nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Bei Amercon müssen sie eine klare Vorstellung von dem haben, was sie kaufen, ehe sie ein Angebot abgeben können.« »Natürlich.« »Dann wäre alles klar. Ich wollte nur sichergehen, daß Sie sich den Auftrag zutrauen - es wird eine harte Sache, Paul. Es wird Ihre Zeit einige Wochen in Anspruch nehmen. Ich wollte schon jetzt mit Ihnen darüber sprechen, weil Sie sich entscheiden müssen, ob Sie so lange Ihre Tochter allein lassen wollen und diesem Auftrag Ihre ganze Aufmerksamkeit widmen.« Man hatte ihm ohnehin nicht erlaubt, Carol zu sehen. Die Reise würde ihm vielleicht helfen, einen klaren Kopf zu bekommen; die Dinge bedrückten ihn. »Ich mache es gerne, Mr. Ives. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir Gelegenheit dazu geben.« »Wir besprechen die Einzelheiten mit George Eng, ehe Sie -8 4 -
abreisen. Sie haben noch zwei Wochen Zeit, um sich vorzubereiten. Ich weiß, daß Sie Ihre Sache gut machen werden, Paul - ich hatte immer volles Vertrauen zu Ihnen.« Paul ging erleichtert zur Tür. Als er sich noch einmal umsah, hatte Ives eine Fachzeitung vor sich und las mit gerunzelter Stirn.
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9 »Nun, Sie haben recht gute Scharniere an dieser Tür«, sagte der Schlosser. »Ein Glück. An manchen dieser neueren Bauten haben sie Scharniere, die man mit einem Zahnstocher eindrücken könnte.« Der erste Schlosser, mit dem Paul sich verabredet hatte, war gar nicht erschienen. Zuerst hatte er das nicht bemerkt und eine Weile darauf vergessen. Den zweiten hatte er vor zwei Tagen angerufen - einen untersetzten kahlköpfigen Mann mit Blumenkohlohren und wild blickenden Augen. Er hatte seine Werkzeuge über den ganzen Flur ausgebreitet, und unter der Tür lag Sägemehl, dort, wo er gebohrt hatte. »Sie verstehen doch mit diesem Schloß können Sie die Türe nicht mehr einfach zuziehen. Sie müssen den Schlüssel umdrehen, sonst ist sie überhaupt nicht versperrt.« »Das begreife ich. Worauf es mir ankommt ist, daß keiner rein kann, wenn die Tür abgesperrt ist. Wenn ich nicht absperre, so ist das meine eigene Dummheit.« »Klar. Nun, es gibt natürlich auf der ganzen Welt kein Schloß, das gegen geübte Einbrecher hundertprozentig sicher wäre, aber von denen gibt es nicht viele, und die interessieren sich gewöhnlich nicht für solche Häuser wie das hier. Wo Sie mit denen Ärger kriegen, ist drüben auf der Eastside - die Fünfte am Park entlang, die Sechziger im Osten, Sutton Place, solche Gegenden. Ich hab' da eine Wohnung, da hab' ich schon drei Schlösser an die Haustür gemacht, die teuersten Schlösser, die es gibt, aber das hat den Einbrecher nicht dran gehindert, sie aufzubekommen, als er in der Zeitung gelesen hatte, daß diese Leute eine Kreuzfahrt nach Europa angetreten hatten. Richtig leergeräumt hat er die Wohnung.« Der Schlosser kratzte Sägemehl aus dem Loch, das er gebohrt -8 6 -
hatte, und dann fing er an, einen komplizierten Mechanismus hineinzuschieben. »Es lohnt sich wirklich nicht, wenn man den Zeitungen sagt, daß man verreist«, sagte er. »Sie haben doch nicht etwa vor, irgendwelche Wertstücke zu verkaufen, oder?« »Warum?« »Wenn Sie das vorhaben, dann setzen Sie nur ja nicht Ihren Namen und Ihre Adresse in das Inserat. Das ist genauso, als würden Sie den Dieben gleich eine gedruckte Einladung ins Haus schicken.« »Daran hätte ich nicht gedacht.« »Hören Sie, da gibt es viele Dinge, die man tun kann, um es diesen Burschen schwerer zu machen. Die meisten Leute lassen bloß ein einziges kleines Licht brennen, wenn sie ausgehen - das ist dumm. Jeder Einbrecher auf der ganzen Welt kennt dieses Spiel mit der einzelnen Lampe. Was ich meinen Kunden immer sage, ist: Wenn Sie abends ausgehen oder den Tag über ins Büro oder was auch sonst, lassen Sie zwei, drei Lichter an und schalten Sie das Radio ein, so daß man es vor der Tür hören kann. Und dann noch etwas - an den heißen Sommertagen gehen diese Rauschgiftsüchtigen die Straße entlang und schauen sich die Fenster der Mietshäuser an. Wenn die eine Klimaanlage in einem Fenster sehen, die nicht eingeschaltet ist und tropft, dann wissen sie, daß niemand zu Hause ist. Kostet gar nicht so viel Elektrizität, ein paar Lichter anzulassen und die Klimaanlage niedrig eingestellt laufenzulassen, wenn man nicht zu Hause ist, und das Radio auch. Eine billige Versicherung, sage ich immer.« »Ich werd' daran denken.« Er war seit 1948 nicht mehr Ski fahren gewesen und auch damals nur ein paarmal. Aber in seinem Traum fuhr er jetzt einen langen, weißen Abhang hinunter - schneller und immer schneller, und dann wurde der Hang steiler, und er konnte keinen Bogen schlagen, und der kalte Wind pfiff an seinen -8 7 -
Ohren vorbei, und die Skier sausten unter ihm mit erschreckender Geschwindigkeit dahin, und der Abhang neigte sich immer stärker, und er konnte nicht abbiegen. Er erwachte mit eiskalten Füßen und lag im Bett und lauschte auf die Müllwagen und sah zu, wie Fetzen von schwachem Licht durch die Jalousien hereinblitzten. Dort draußen brachten sie Leute um. Er konnte an nichts anderes denken als an das. Und in dieser ganzen schlaflosen Nacht nichts anderes tun, als diesen Gedanken immer wieder durch seinen Kopf wälzen. Seine Füße waren kalt, und doch war der Ra um von einer abgestandenen Hitze erfüllt und dem dicken Geruch von schlechtem Schlaf. Er stand auf und schaltete die Klimaanlage ein, ging an den Kühlschrank und goß sich ein Glas Milch ein und brachte es zu dem Nachttisch neben seinem Bett. Jetzt hörte er über dem dröhnenden Wispern der Klimaanlage das Vorbeifegen von Wagen unten auf der Straße - es hatte zu regnen begonnen. Seine Augen verfolgten die feuchten Lichtbewegungen an der Decke; er hörte den Regen, wenn eine Windbö ihn gegen das Fenster trieb. Er konnte es jetzt nicht mehr länger ertragen, und so stand er auf und holte sich ein paar Wollsocken aus der Schublade, zog sie sich an und stieg wieder ins Bett, zerrte sich die Decke bis ans Kinn hoch. Mit der Decke riß er das Milchglas herunter, so daß die Milch sich über den Teppich ergoß. Er fluchte, so laut er konnte; sprang aus dem Bett, holte einen Schwamm und Papiertücher. Es hatte einfach keinen Sinn, noch einmal einschlafen zu wollen. Halb drei Uhr morgens. Er griff nach einem Buch, aber seine Augen vermochten den Druck nicht festzuhalten; er legte es wieder weg, schaltete das Licht ab und setzte sich im Dunkeln im Bett auf. Selbst in der Dunkelheit - vielleicht ganz speziell in der Dunkelheit - hatte der Raum Ecken, an denen noch Erinnerungen hafteten. Ich sollte die Wohnung aufgeben, -8 8 -
irgendwohin ziehen. Vielleicht in eines dieser Wohnhotels ziehen, wo man täglichen Zimmerservice bekommt. Zum Teufel, dachte er, das einzig Vernünftige ist es, aus der Stadt wegzuziehen. Ich sollte mir ein Ein-Zimmer-Apartment in einem dieser Hochhäuser auf der anderen Seite des Hudson bei den Palisades besorgen oder vielleicht sogar einen Bungalow in Jersey oder in Orange County. Nicht Long Island, dachte er; Long Island konnte er nicht ertragen. Aber irgendwo außerhalb der Stadt - raus aus diesem Wahnsinn. Das ist falsch. Das heißt aufgeben. Ich laufe nicht weg. Ich bleibe da und kämpfe. Wie kämpfe ich? Mitten in der Nacht webt der Verstand merkwürdige, lächerliche Phantasien. Er kam sich wie ein Esel vor, holte ein Glas Wasser, spülte eine Schlaftablette hinunter, stellte den Wecker und ging wieder zu Bett. »Verdammt, Leutnant, sind Sie denn gar nicht weitergekommen?« »Wir tun alles, was wir können, Mr. Kersey. Wir haben schon einige Leute zum Verhör festgenommen.« »Es genügt nicht!« »Hören Sie, ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Sir, aber wir tun alles, was in unserer Macht steht. Wir haben sogar ein paar Leute speziell auf den Fall angesetzt. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen kann.« »Sie könnten mir sagen, daß Sie die Schweinehunde festgenagelt haben.« »Ja, das könnte ich, Sir, aber das wäre nicht wahr.« »Die Spur wird immer kälter, Leutnant.« »Das weiß ich, Sir.« »Verdammt noch mal, ich will Ergebnisse haben!« Aber es befriedigte ihn auch nicht, seine Wut an dem Beamten auszulassen, und nachdem er das Telefon aufgelegt -8 9 -
hatte, saß er da, ließ seine Gelenke schnappen und hielt nach irgend jemand Ausschau, den er schlagen konnte. Mittagessen bei Schrafft's - einzelne Tische, an denen kleine alte Damen mit Topfhüten saßen. Im Dschungel ziehen wir uns alle zum Abendessen an. Er erinnerte sich, wie er vor etwa einem Jahr in demselben Restaurant gewesen war - er hatte damals mit Sam Kreutzer zu Mittag gegessen -, er war an seinem Tisch gesessen und hatte zugesehen, wie eine ältere Frau, die alleine an einem Tisch saß, plötzlich Wassergläser und Bestecke gegen den Wandspiegel warf. Er war erschüttert gewesen. Wenn es heute geschähe, würde er darin nur ein ganz normales, logisches Verhalten sehen. Ein jeder lebte wie ein Schauspieler in einem Einakter, den niemand begriff; es von einem Augenblick zum nächsten zu schaffen, war genauso, wie wenn man seinen Hut bei böigem Wetter festhalten wollte. Nach dem Mittagessen kehrte er ins Büro zurück und verbrachte eine Stunde mit der Lektüre der Amercon-Papiere, die George Eng vor zwei Tagen gebracht hatte. Vertiefte sich ganz in Zahlen und Kombinationen, um Ende nächster Woche auf die Reise in den Westen vorbereitet zu sein. Um halb vier rief er Jacks Büro an, aber Jack war bei Gericht. Kurz vor fünf versuchte er es noch einmal. Diesmal traf er ihn an: »Wie geht's ihr?« »Scheußlich.« Seine Kopfhaut zog sich zusammen. »Was ist geschehen?« »Nichts Plötzliches. Es ist schwer zu beschreiben - es ist, wie wenn man zusieht, wie jemand in Triebsand sinkt und genau weiß, daß es nichts auf der Welt gibt, womit man ihm helfen kann.« »Sie reagiert einfach nicht?« »Der Arzt fängt an, von Schockbehandlungen zu sprechen. -9 0 -
Insulinschock, kein elektrischer.« Plötzlich war er müde; seine geschwollenen Augen brauchten länger zum Auf- und Zumachen. Zu allem anderen jetzt auch das noch - soviel konnte ein Mensch einfach nicht ertragen. Und Jack sagte: »... eine Art katatonischer Amnesie. Sie sieht Dinge an und sieht sie offenbar auch, sie erkennt dich, wenn du ins Zimmer kommst, aber es ist, als wäre da keine gefühlsmäßige Reaktion, als sähe sie alles ohne jegliche Assoziation. Man kann sie herumdrehen und sie anstoßen, und sie geht quer durchs Zimmer, gehorsam wie ein Aufziehspielzeug. Sie ißt ganz alleine, wenn man das Essen vor sie stellt, aber es scheint ihr völlig gleichgültig zu sein, was es ist. Gestern abend hat sie einen ganzen Teller Kalbsleber leergegessen, und du weißt doch, wie sie das Zeug haßt. Sie schien es überhaupt nicht zu bemerken. Es ist gerade, als wäre eine Art Kurzschluß irgendwo zwischen ihrem Geschmacksorgan und dem Hirn oder zwischen den Augen und dem Hirn. Wenn ich sie besuche, weiß sie, wer ich bin, aber sie erkennt mich nicht - nicht in dem Sinne, daß sie mich in Beziehung zu sich selbst setzt.« Er hörte Jack zu und erstickte beinahe an dem Kloß, der ihm in der Kehle saß. Nachdem er aufgelegt hatte, kam Dundee ins Büro, warf einen Blick auf sein Gesicht und sagte erschreckt: »Paul?« »Im Augenblick kann ich über nichts reden, Bill. Jetzt nicht.« Er verließ das Gebäude und ging durch die Grand Central Station zu den Stufen der Untergrundbahn, ging mit schweren, entschlossenen Schritten, ging zur Plattform hinunter und wartete auf die Bahn. Der Tunnel war heiß und überfüllt und stank nach abgestandener Luft und Urin und Ruß. Verschmierte, verschwitzte Leute drängten sich auf der Plattform. Er hatte noch nie mit eigenen Augen gesehen, wie jemand auf die Schienen gedrückt wurde, aber er wußte, daß es geschah. Ganze -9 1 -
Reihen von Leuten, dicht zusammengepreßt, über die Betonschwelle hinausgebeugt, die Schienen entlangstarrend, auf die herannahenden Scheinwerfer wartend. Die Züge hatten heute Verspätung; als der nächste eintraf, mußte er sich hineinzwängen und den Bauch einziehen, als die Türen sich schlossen. Es war beinahe unmöglich zu atmen. Er legte die Hand über die Tasche, in der er die Geldbörse trug, und ließ sie während der kurzen Fahrt zum Times Square dort. Eine schwarze Hand hielt die Halteschlaufe unmittelbar neben seiner Wange. Vernarbte Knöchel, rosafarbene Nägel. Er blickte über seine Schulter, und einen Augenblick hätte er schwören können, daß es derselbe Mann in dem Cowboyhut war, der vor ein paar Nächten an seiner Ecke gestanden hatte, ihn angestarrt hatte, gelächelt hatte. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß es nicht dasselbe Gesicht war. Du fängst an, paranoid zu werden, dachte er. Aus irgendeinem unbestimmten Grund war der Broadway Express weniger überfüllt; normalerweise fuhren damit sogar noch mehr Menschen als auf der Pendellinie. Er fand einen Sitzplatz und setzte sich mit eng zusammengepreßten Beinen hin, die Ellbogen gegen den Leib gepreßt, zwischen zwei Frauen eingequetscht. Der Atem einer der beiden roch so nach Knoblauch, daß einem dabei übel werden konnte; er wandte das Gesicht und atmete so schwach wie möglich. Der Zug rumpelte und schwankte auf seinen ausgefahrenen Schienen. Der Schmutz hing sichtbar in der Luft. Ein paar der Deckenlampen waren ausgebrannt; der halbe Wagen lag im düsteren Halbdunkel da. Er ertappte sich dabei, wie er die Gesichter der dicht zusammengedrängten Passagiere, eines nach dem anderen, musterte, als suche er nach Hinweisen darauf, welchen Wert diese Menschen hatten: wenn man etwas gegen die Überbevölkerung tun wollte, mußte man hier damit beginnen. Er zählte die Köpfe und entdeckte dann, daß von den achtundfünfzig Gesichtern, die er sah, nur sieben zu den Leuten -9 2 -
zu gehören schienen, die ein Recht auf Überleben hatten. Der Rest war nur Pack. Es hätte ein Nazi sein müssen. Ein protestierendes Kreischen der Bremsen; der Zug kam ruckartig zum Stillstand. Er sprang aus dem Wagen auf die Plattform der Zweiundsiebzigsten Straße und folgte der Menschenmenge zu der schmalen Treppe. Der Trichter blockierte alles, und die Menge stand da und drehte sich im Kreise, wie Bienen vor einem Bienenstock; es dauerte endlos lange, bis er die Treppe erreicht hatte. Sie waren wie Vieh, das man in eine Bahn treibt. Menschliches Vieh die meisten; man konnte an ihren Gesichtern und Leibern sehen, daß sie das Leben nicht verdienten, sie hatten nichts beizutragen, abgesehen von der stinkenden phantasielosen Existenz ihrer verkommenen Kadaver. Sie hatten nie ein Buch gelesen, einen Satz gebildet, eine knospende Blume betrachtet und sie wirklich gesehen. Alles, was sie taten, bestand darin, daß sie einem in den Weg traten. Ihre Leben waren endlose Litaneien aus Ärger, Enttäuschung und Klagen; so vegetieren sie dahin, von der Wiege bis zur Bahre. Was nützen sie denn irgend jemandem? Man sollte sie vernichten. Er kämpfte sich seinen Weg bis zu dem Drehkreuz durch und setzte seine Ellbogen mit einer Unhöflichkeit ein, die keine Unterschiede machte; drängte sich hinaus auf die Verkehrsinsel aus Beton und holte tief Atem. Er weinte über die abgedroschenen Serien im Fernsehe n; er kannte jede Werbesendung auswendig. Um halb zehn sagte mitten in einem Programm ein Ansager: »... fahren im Anschluß an diese Durchsage fort«, und da stürmte er durchs Zimmer und schaltete das Gerät aus. Nach, dachte er, nicht »im Anschluß«. Wo zum Teufel gingen diese Idioten denn zur Schule? Es heißt ganz einfach ,nach dieser Ansage’. Ich bin durchgedreht. Ich brauche etwas. Eine Frau? Keine Huren. Mit einer Hure wäre es Hohn und Spott. Vielleicht eine Frau: eine Fremde von sympathischer Wesensart. Es hieß immer, daß man sie in den Städten leicht fand, aber er -9 3 -
hatte es noch nie versucht. Eine Bar, dachte er. Hieß es nicht immer, daß einsame Leute dorthin gingen? Aber er ging nie allein in Bars. Er hatte nie Leute begreifen können, die es taten. Trotzdem war es besser, als in diesem Isolierkäfig hier zu verfaulen. Er knotete sich seine Krawatte, zog sich sein Jackett an und ging hinaus.
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10 Er saß auf dem Barhocker, die Absätze in dem Chromring festgehakt, die Knie zusammengedrückt, um den Mann nicht zu berühren, der neben ihm saß. »Verdammt noch mal, natürlich habe ich Vorurteile«, sagte der Mann. »Ich bin viel mehr wert als jeder Nigger, dem ich je begegnet bin.« Er war groß, und auf seinem Schädel war nicht mehr viel von seinem schwarzen Haar übriggeblieben; ein Mann, der mit seinen Händen arbeitete und wahrscheinlich mit seinem Rücken. Schmierige graue Hosen, ein Flanellhemd mit bis zu den Ellbogen hochgerollten Ärmeln und dichtes Haar auf den Armen. Sofern er tätowiert war, so sah man das jedenfalls nicht an den Unterarmen, aber er war der Typ dazu. In der Bar war ein schwarzes Pärchen gewesen: gut angezogen, auffällig, in Leder und grellen Farben und mit Afrohaar. Als sie die Bar verlassen hatten, hatte sich der große Mann ohne weiteres herumgedreht und Paul angesprochen: »Diese verdammten Nigger kommen hier rein, als gehörte ihnen das Lokal. Sie arbeiten doch, um sich ihr Geld zu verdienen, stimmt's? Ich muß auch arbeiten, meine Kinder gehen auf dreckige Schulen, sie kommen nicht ins Sommerlager - um meine Kinder machen sich diese elenden Politiker keine Sorgen, bloß um die beschissenen Nigger kümmern sie sich, damit die Sommerlager und vernünftige Schulen bekommen. Wissen Sie, wie viele Millionen Nigger wir hier haben, die Unterstützung beziehen und die Sie und ich mit unseren Steuern bezahlen? Da habe ich heute früh in der Zeitung gelesen, daß ein paar fette Nigger, die von der Unterstützung leben, einen Demonstrationsmarsch auf das Rathaus veranstalten, haben Sie das gelesen?« »Nein...« »Sie fordern - nicht daß sie bitten würden, fordern eine -9 5 -
Scheißzulage für Weihnachtsgeschenke für ihre beschissenen Bankette. Hat jemals Ihnen einer eine Weihnachtszulage für Ihre Kinder geschickt? Herrgott, ich muß arbeiten, um mein Geld zu verdienen, und ich krieg' keine großartigen Geschenke für meine Kinder, ich kann es mir nicht leisten; die können von Glück reden, daß sie ein paar neue Spielzeugautos bekommen und neue Klamotten für die Schule, bloß die beschissenen Neger, denen schieben die's ja hinten rein. Herrgott, wenn ich diese Nummer von den dreihundert Jahren Sklaverei noch ein einziges Mal höre, dann drehe ich dem Dreckskerl den Hals um, der sie mir vorsingt, das schwör' ich bei Gott. Nicht bloß, daß die gleich nebenan von unsereinem einziehen wollen, daß die unsereinem das Haus niederbrennen wollen - sondern was passiert? Irgend so ein in die Nigger verliebtes Schwein sagt, wir müssen mehr Steuern bezahlen und den Niggern mehr von unserem hartverdienten Geld geben, und uns unsere Jobs wegnehmen lassen, weil sie auf diese Weise vielleicht nett zu uns sein werden und am Ende mein Haus doch nicht in Brand stecken wollen. Nun, ich will Ihnen was sagen -«, er richtete den Finger auf Paul, »- das Ganze ist eine einzige Scheiße, und jeder Niggerbastard, der sich untersteht, mir einen Ziegelstein in mein Fenster zu werfen, kriegt eine aufs Fett gebrannt, daß er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Ich hab 'ne Schrotbüchse neben meinem Eingang stehen - und 'nen Waffenschein dafür, daß wir uns recht verstehen - und wenn so ein schwarzes Schwein sich bei meinem Haus rumtreibt, dann lege ich den zuerst um und stell' dann erst Fragen. Man muß es diesen Schweinen nur zeigen, 'ne andere Sprache verstehen die nicht.« Noch vor einem Monat hätte Paul versucht, dem Mann zu zeigen, daß alles nicht so einfach war, nicht so klar. Jetzt war er aber nicht mehr so sicher, ob der Mann nicht gar recht hatte. Eine liberale Gesellschaft war genauso gefährlich wie liberale Eltern; sie produzierten höllische Kinder. Schließlich sah der Mann auf die Uhr über der Bar; leerte sein -9 6 -
Bier und ging. Paul bestellte sich seinen dritten Gin and Tonic und drehte dann das Glas zwischen den Handflächen, suchte etwas, auf das er den Blick richten konnte. An der Wand hinter ihm waren fünf Nischen; zwei davon von Paaren besetzt, die im Flüsterton miteinander zu reden schienen. In der vordersten Nische saß eine dicke Frau und beobachtete die Straße; hie und da gab sie dem Barkeeper ein Zeichen, und Paul sah kurz ein aufgedunsenes Gesicht. Zu alt und zu verwüstet, um zu dem blondgefärbten Haar zu passen. Sie stand immer wieder auf und schob Münzen in die Jukebox bei der Türe; der ganze Raum vibrierte, und Paul fragte sich, warum Jukeboxes in Bars immer die schweren Baßtöne zu betonen schienen. Ich brauchte bloß hinzugehen und zu sagen:» Darf ich mich zu Ihnen setzen?' Er tat es nicht; er wußte, daß er es nicht tun würde. Einmal blieb sie sogar auf dem Rückweg zu ihrer Nische stehen und starrte ihn an. Er ließ den Blick sinken und hatte den Eindruck, als zucke sie die Achseln und wandte sich ab. Als er wieder aufblickte, schob sie sich gerade in die Nische, den engen Rock über den kräftigen Hüften gespannt. Der Barkeeper füllte sein Glas wieder auf, und Paul versuchte ein Gespräch mit ihm zu beginnen, aber der Barkeeper war nicht von der gesprächigen Sorte, vielleicht war er auch schlecht gelaunt. Am anderen Ende der Bar drängten sich fünf oder sechs Männer und sahen sich das Footballspiel im Fernsehen an, unterhielten sich mit der leichten Vertrautheit langer Bekanntschaft; wahrscheinlich Ladenbesitzer aus der Umgebung - chemische Reinigung - Schuhreparatur, Lebensmittel - und sie sahen nicht so aus, als würden sie Wert auf einen Fremden legen. Er zahlte, stieg vom Hocker, kippte den vierten Drink zu schnell hinunter und spürte seine Wirkung in dem Augenblick, als er den Bürgersteig betrat. Der Verkehr auf dem Broadway -9 7 -
schien seinen Augen zu schnell abzulaufen. Es bereitete ihm einige Mühe, ohne zu schwanken zu gehen. An der Ecke der Vierundsiebzigsten Straße beschloß er, eine Seitenstraße zu nehmen, weil er nicht wollte, daß alle Leute auf der Zweiundsiebzigsten ihn in diesem Zustand sahen. Er hatte schon einige Meter zurückgelegt, als die Angst ihn erfaßte. Die ganze Länge der Straße war niemand zu sehen; die Schatten waren finster, und die massiven Gebäude ragten weit in die Straße hinein. Treppen, Vordächer, abgestellte Lieferwagen: dahinter konnten sich Killer versteckt halten, vielleicht auch in den schmalen Gassen... Er erinnerte sich an jene andere Nacht, die Angst, die er empfunden hatte, als er durch die Eastside gegangen war; er richtete sich auf. Jetzt ist es höchste Zeit, sich gegen diese Panik zu wehren. Er ging schneller weiter; aber die Hand in seiner Tasche schloß sich um die Socke mit den Münzen, und seine Eingeweide zogen sich zusammen, und es hatte gar keinen Sinn, sich einzureden, daß die Finsternis um ihn keine Schrecken barg. Sein Herzschlag war ebenso laut wie das Echo seiner Schritte auf dem Beton. Zuerst hörte er die Bewegung hinter sich gar nicht. Im Augenwinkel ein undeutlicher Umriß. Er blieb nicht stehen, drehte sich nicht herum; er bewegte sich weiter, hielt die Augen geradeaus in der wahnwitzigen Hoffnung, wenn er so täte, als wäre es nicht da, würde es auch wieder verschwinden. Er ging schnell, konnte aber seine Angst nicht dadurch verraten, daß er zu rennen anfing. Sein Leben war plötzlich alles, was er hatte, alles, was er sich wünschte. Vielleicht war das Ganze doch nur Einbildung - vielleicht war da gar niemand, nur der Widerhall seiner eigenen Schritte, sein eigener Schatten, der sich an einer Stuckwand entlang bewegte? Und doch sah er sich nicht um, konnte es nicht. Noch mußte er die Hälfte des Straßenzuges hinter sich bringen; die Straßenlampe verbreitete -9 8 -
einen Tümpel aus Licht um sich, der die Schatten noch tiefer erscheinen ließ. »He, stehenbleiben, Mutterficker.« Die Stimme wie eine Klinge an seinem Rückgrat. Dicht genug, um ihn zu berühren. Unmittelbar hinter ihm. »Stehenbleiben. Umdrehen, Honkie. « Ich bilde mir das nur ein, ich höre gar nichts, Er stand wie erstarrt, die Schultern gespannt, jeden Augenblick auf eine Gewalttat wartend. » Mutterficker, umdrehen hab' ich gesagt. « Es war eine leise, angespannte Stimme - etwas schrill, die Stimme eines Heranwachsenden, eine Stimme, die Mut vortäuschen wollte - in Wirklichkeit aber Angst verdeckte. Wie versteinert. Aber: mein Gott, der hat genauso viel Angst wie ich! Und als Paul sich langsam herumdrehte, um seiner Angst ins Auge zu sehen, hörte er das Klappmesser sich klickend öffnen, und irgend etwas in ihm explodierte wie eine grelle Flamme der Entdeckung: Wut. Rasende physische Wut. Das Adrenalin schoß durch seine Adern, und er spürte, wie die Hitze durch seinen Kopf schoß; und in dem gleichen Augenblick, in dem er sich herumdrehte, in dem der Angreifer sichtbar wurde, hob Paul die Rolle mit Münzen aus der Tasche, riß den Arm hoch, streckte sich, um diesem Feind den mächtigsten Schlag zu verpassen, den seine erhitzten Muskeln fertigbrachten... Er sah, wie das Licht der Straßenlampe über die Messerklinge huschte, sah es, nahm es aber nicht wahr, das einzige, was er jetzt kannte, war sein Ziel, war das Gewicht des Totschlägers in -9 9 -
seiner Hand, die jetzt auf diesen dunklen, schmalen Schädel herunterzuckte... und dann hörte er das ungeheure Brüllen, das sich seiner Brust entrang, den bestialischen Schrei eines Berserkers... ... und der Junge mit dem Messer zuckte in panischer Angst zurück, wich aus, riß die Arme über den Kopf; wirbelte herum, mühte sich, das Gleichgewicht zu bewahren, stemmte die Füße ein, rannte... Der wütende Schlag fand sein Ziel nicht, und Paul bremste die Hand, ehe die Rolle Münzen gegen sein eigenes Knie prallte, aber er verlor dabei das Gleichgewicht, konnte seinen Sturz gerade noch mit der Handfläche bremsen - schob ein Knie vor, kniete nieder, sah dem Jungen nach, der nicht einmal halb so groß wie er war, dem Jungen, der die Straße hinaufrannte, in eine Gasse hineinschoß, von der Stadt absorbiert wurde, als hätte es ihn überhaupt nicht gegeben. Die Straße war leer, und er erhob sich wieder, aber da erfaßte ihn die Reaktion und er begann so heftig zu zittern, daß er nach dem Geländer einer Eingangstreppe greifen mußte. Er hing daran fest und drehte sich herum, brach halb zusammen, bis er auf der dritten Stufe von unten saß. Heiße Schauer überfielen ihn und dann wieder Eiseskälte, alles drehte sich um ihn, und ein Aufwallen unbändigen Frohlockens ließ seine Stimme einen Freudenschrei ausstoßen: »Haaaaaaaaaaaaaaa!'«
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11 Bemüht, die Tatsache zu verbergen, daß sein Atem schwer ging, schenkte er dem Pförtner ein dümmliches Grinsen, überquerte die Vorhalle auf unsicheren Beinen und stand dann im Lift, bis die Türen sich schlossen; dann glitt er zu Boden und blieb sitzen, bis sie sich wieder öffneten, kroch hinaus und öffnete die Wohnungstür. Ihm war speiübel, Krämpfe plagten seinen Leib. Und dann lehnte er sich über den Küchenausguß und übergab sich. Er wusch sich den Mund aus, mußte sich erneut übergeben und spülte noch einmal nach. Dann hing er am Ausguß, von trockenem Erbrechen geschüttelt, bis der Schmerz schließlich nachließ. Schwitzend, mit prickelnder Kopfhaut, quälte er sich ins Wohnzimmer, auf die Couch, legte sich schwach und naß hin, fühlte, wie er die Besinnung verlor. ... als der Lärm der Müllwagen ihn weckte, war sein erster Gedanke: So betrunken war ich doch gar nicht. Und dann erinnerte er sich an alles. Aber er hatte seit Wochen nicht mehr so gut geschlafen: Als er auf die Uhr sah, war es halb neun. Es war bestimmt nicht viel später als elf gewesen, als er nach Hause gekommen war. Er hatte auch keinen Kater; er hatte sich nicht mehr so wohl gefühlt seit - er konnte sich gar nicht erinnern, seit wann. In der U-Bahn bot er seinen Platz einer alten Dame an - er lächelte über ihren überraschten Blick. Als er den Wagen am Times Square verließ und auf den nächsten Anschlußzug wartete, bemerkte er, daß er immer noch lächelte und wischte den Ausdruck mühsam von seinem Gesicht; der Gedanke kam ihm, daß er alle Symptome sexueller Befriedigung erlebte, und das beunruhigte ihn. Im Büro versuchte er den ganzen Morgen, seine Aufmerksamkeit auf die Zahlen und Notizen vor sich zu konzentrieren, mußte aber immer wieder an die vergangene -1 0 1 -
Nacht denken. Warum hatte er nicht die Polizei geholt? Nun, er hatte das Gesicht des Jungen nicht richtig gesehen, wahrscheinlich würde er ihn nicht wiedererkennen; und außerdem würden erfahrungsgemäß die Bullen überhaupt nichts ausrichten, und er würde nur Stunden damit vergeuden, indem er seine Geschichte ein halbes Dutzend mal erzählte, Aussagen unterzeichnete und sich Fotos ansah. Zeitverschwendung, meiner Zeit und ihrer. Aber das war es gar nicht; das war nur Rationalisation, und er wußte es auch. Rationalisation wofür? Er hatte die Antwort darauf immer noch nicht gefunden, als Dundee hereinkam und ihn zum Essen ins Pen and Pencil mitnahm. »Herrgott, du ißt ja, als hättest du seit einem Monat nichts Ordentliches mehr zu futtern bekommen.« »Mir kommt bloß der Appetit zurück«, sagte Paul. »Nun, das ist ja herrlich. Oder vielleicht auch nicht. Du hast abgenommen - steht dir gut. Ich wünschte, ich könnte das auch. Ich hab' die letzten zwei Jahre zum Mittagessen hauptsächlich Hüttenkäse gegessen und keine Kartoffeln. Kein Pfund habe ich dabei abgenommen. Du kannst von Glück reden - du mußt dir bald die Anzüge enger machen lassen.« Ihm war das noch gar nicht aufgefallen. Dundee sagte: »Mir scheint, dieser Amercon Job tut dir gut, was? Kannst von Glück reden, eigentlich beneide ich dich sogar.« Er empfand leichte Schuldgefühle, weil er eigentlich jetzt den Fall bereits intus haben sollte, jede Zahl und jede Einzelheit wissen müßte; ihm war zumute wie einem Schuljungen, der die Hausaufgabe verträumt hat. Am Nachmittag gab er sich große Mühe. Aber als er das Büro verließ, wurde ihm klar, wie wenig -1 0 2 -
er sich gemerkt hatte. Seine Gedanken waren zu geschäftig, um Zahlen und Dezimalstellen aufzunehmen; für ihn waren sie einfach nicht mehr wichtig. Verdammt noch mal, reiß dich zusammen. Du riskierst deinen Job. Er aß in Squire's Coffee Shop an der Ecke einen Hambur ger und fühlte sich nachher immer noch hungrig, bestellte aber keinen Nachtisch. Er erinnerte sich an Dundees Komplimente. Dann ging er nach Hause, wog sich und stellte fest, daß er zum ersten Mal seit zehn Jahren auf achtzig Kilo herunter war. Die Haut im Gesicht und am Leib wirkte etwas locker, aber er konnte seine Rippen spüren. Er beschloß, einem Sportclub beizutreten und täglich Gymnastik zu treiben - im Sheldon Hotel, ein paar Blocks vom Büro, gab es einen solchen Club, drei oder vier der Buchhalter gingen jeden Tag hin, schließlich mußte er in Form sein. In Form wofür? Er durchblätterte die Post, und sein Auge verharrte bei einer Anzeige einer Karateschule, und das brachte alles in Zusammenhang; er sagte laut: ,Du bist verrückt!’, aber zehn Minuten später ertappte er sich bei dem Gedanken, wieder in diese Bar am Broadway zu gehen, und jetzt war er wach genug, um auch sein Motiv dafür zu erkennen; es war gar nicht die Bar, an die er dachte, es war der Nachhauseweg. Jetzt fuhr er in seinem Stuhl hoch. Er wünschte sich, daß dieser Junge es noch einmal versuchte. Er stand auf und begann, in der Wohnung auf und ab zu gehen. »Beruhige dich, um Himmels willen, dreh' nicht durch.« Er hatte in den letzten ein, zwei Wochen angefangen, Selbstgespräche zu führen; er erkannte, daß er aufpassen mußte, sonst würde er sich eines Tages auf der Straße dabei ertappen. Zumindest begann er die Leute zu begreifen, die das gelegentlich beim Spazierengehen taten - sie schlenderten ganz -1 0 3 -
alleine dahin und führten erregte Gespräche mit imaginären Begleitern, Gespräche mit Gesten und nachdrücklichen Antworten auf Fragen, die niemand weit und breit gestellt hatte. Man begegnete solchen Leuten überall und hielt sich von ihnen zurück, wich ihrem Blick aus. Aber jetzt begann er sie zu begreifen. »Ruhig Blut«, murmelte er. Er wußte, daß er anfing, ebensoviel Erregung in sich aufzustauen wie dieser Junge gestern nacht. Ein zufälliger Sieg, und schon begann er sich so sicher und selbstbewußt zu fühlen wie ein bewaffneter Wächter in einem Blindengefängnis. Du hast Glück gehabt. Der Junge hatte Angst. Die meisten habe keine Angst. Die meisten sind Killer. Und dann erinnerte er sich an die Wut, die all seine Gewebe durchflutet hatte, erinnerte sich, wie sie alle Hemmungen zurückgedrängt hatte: hätte er das bei einem Veteranen des Straßenkampfes versucht, dann wäre er jetzt tot gewesen oder er läge zumindest auf einer Unfallstation und blutete aus sechzehn Stichen. Er hatte vierundzwanzig Stunden der Euphorie hinter sich; jetzt wurde es Zeit, wieder realistisch zu werden. Es war nicht sein Mut, der ihn gerettet hatte; nicht einmal diese armselige Waffe, die Rolle Münzen; es war Glück gewesen, die Angst des Jungen. Vielleicht war es der erste Versuch des Jungen gewesen. Was aber, wenn er einen abgebrühten Schläger vor sich gehabt hätte? Oder vielleicht ein ganzes Rudel davon? Er stieß mit den Fußspitzen an die weggeworfene Post und bückte sich, um sie aufzuheben und sie zum Papierkorb zu tragen. Die Anzeige für die Karateschule fiel ihm wieder ein und damit auch sein Entschluß, Gymnastik zu treiben. Das ist keine Lösung, dachte er. Man braucht Jahre, um sich Fertigkeit im Kampf mit der bloßen Hand zu erwerben; er hatte genügend auf Cocktailparties darüber gehört, um das zu wissen. Zwei, drei -1 0 4 -
Jahre, und man war vielleicht gut genug, um sich einen schwarzen Gürtel oder wie man das nannte zu erwerben. Aber was nutzte das gegen einen Killer mit einem Revolver oder gegen sechs Halbstarke mit Messern? Er schaltete den Fernseher ein und setzte sich. Eine der lokalen Stationen, die zu keinem der großen Netze gehörten; die Wiederaufführung einer Wildwestserie, die die großen TVStationen schon vor ein paar Jahren abgesetzt hatten. Cowboys, die sich mit Schafhirten anlegten, und ein Held auf der Durchreise, der sich für die Farmer und gegen die Revolverschwinger einsetzte. Er sah eine Stunde zu. Es war leicht zu erklären, weshalb die Westernfilme immer populär waren. Er wunderte sich, daß er das nicht schon früher begriffen hatte. Das war die Geschichte der Menschheit. So weit man auch zurückging, es gab immer Männer, die den Boden bearbeiteten, und immer Männer zu Pferde, die die anderen ausnutzen wollten, ihnen alles wegnehmen wollten, und der Held eines jeden Mythos war der Held, der die Farmer gegen die Ausbeuter zu Pferde verteidigte. Und der ewige Widerspruch war, daß der Held selbst stets ein Mann zu Pferde war. Die Bösen mochten Römer oder Hunnen oder Mongolen oder Viehzüchter sein, es war immer das gleiche, und der Vorkämpfer des Guten war immer ein bekehr ter Römer oder Hunne oder Mongole oder Viehzüchter; entweder das oder ein Farmer, der gelernt hatte, wie ein Hunne zu kämpfen. Der dann die Farmer organisierte, daß sie wie imitierte Hunnen wirkten und der dann die echten Hunnen in ihrem eigenen Spiel schlug. Es hatte nie eine erfolgreiche Fernsehserie über einen Gandhi gegeben; es gab nur Cowboys und Privatdetektive. Robin Hood war ein Revolverheld mit einem weißen Hut, und der Sheriff von Nottingham war ein Revolverheld mit einem schwarzen Hut, und es bestand kein Unterschied in ihrer Art zu kämpfen, die Frage war nur, wer am besten kämpfte. Und meistens war -1 0 5 -
das Thema dasselbe: Man mußte bereit sein, aufzustehen und für sich selbst zu kämpfen, sonst nahmen einem die Revolverhelden zu Pferde alles weg. Man mußte bereit sein, zu kämpfen. Das war es, was der Held immer die Farmer lehrte. Wir haben uns selbst diese Lektion seit Tausenden von Jahren gelehrt und sie doch noch nicht gelernt. Er begann sie zu lernen, das war es, was ihn drängte, auf die finstere Straße zurückzukehren und den verängstigten Halbstarken mit dem Messer zu finden. Mir ist nach einem Kampf zumute. Ehrlich, nach einem Kampf. Aber man mußte seinen Kopf benutzen. Das eine Gefühl hatte man im Bauch, das andere im Kopf, und die beiden waren sich selten einig, bloß daß der Bauch gewöhnlich gewann; aber trotzdem mußte man seinen Kopf benutzen, und der Kopf ließ keinen Zweifel daran, daß es nicht ausreichte, sich von blinder Wut hinreißen zu lassen - denn nächstes Mal würde es kein verängstigter Halbstarker sein, nächstes Mal würde es ein Killer mit einem Revolver sein, und selbst die Wut eines Irren war einem Revolver nicht gewachsen. Das einzige, womit man einem Revolver gewachsen war, war, wenn man selbst einen Revolver hatte.
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12 Jack reichte ihm das Glas hin. »Prosit.« Er trug es zur Couch und setzte sich. »Dann glaubst du also, daß sie sich wirklich besser fühlt?« »Dr. Metz sagte, es sei ermutigend.« »Sie werden also keinen Insulinschock vornehmen?« »Er möchte noch eine kleine Weile warten und sehen, ob sie selbst darüber hinwegkommt.« Jack zog sich einen Stuhl heraus und setzte sich hin. Er stützte die Ellbogen auf den Eßtisch. Ein Päckchen Karten lag ordentlich aufgestapelt auf dem Tisch; er hatte sie wahrscheinlich schon mit Patiencespielen dünngewalzt. Er wirkte ausgepumpt. »Ich schätze, da gibt es jetzt nichts zu tun. Bloß abwarten. Herrgott, leicht ist das nicht, Pop.« »Ich weiß.« »Wenn man sie so sieht, wie sie auf der Bettkante sitzt, Fusseln wegzupft...« »Ich würde sie gerne sehen.« »Glaub' mir, du würdest dich nachher nicht besser fühlen.« »Die schließen mich aus, diese Ärzte. Es gibt doch keinen vernünftigen Grund dafür.« »Carols Gründe sind jetzt auch nicht vernünftig. Aber ich werde Dr. Metz fragen, ich will sehen, was sich machen läßt.« Paul schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Er wußte, wenn er genügend Wirbel machte, würde man ihn zu ihr lassen. Aber hatte es einen Sinn? Doch inzwischen taten die so, als wäre er ein armer Verwandter mit irgendeiner ansteckenden Krankheit. Er war beleidigt. Aber Jack schien jetzt so verletzlich; seine Augen bettelten Paul an, ihm keine weiteren Fragen zu stellen, auf die er keine Antwort wußte. Er stellte sein leeres Glas ab. In letzter Zeit trank er viel und -1 0 7 -
schnell. Nun, das war schließlich begreiflich oder? Darüber würde er sich jetzt keine Sorgen machen, es gab zu viele andere Dinge, die jetzt bedacht werden wollten. Er wußte, was er Jack fragen wollte; er wußte nur nicht, wie er das Gespräch darauf lenken sollte. Schließlich sagte er: »Letzte Nacht bin ich angegriffen worden.« »Was bist du?« »Ein Halbstarker auf der Straße. Er hatte ein Messer. Ich nehme an, er wollte Geld.« »Du nimmst an? Du weißt es nicht?« »Ich hab' ihn verjagt.« Es bereitete ihm Stolz, es zu sagen. Jack riß den Mund auf und starrte ihn an. »Du hast ihn verjagt...« Das war eine unbewußt komische Reaktion; Paul mußte sich zwingen, ein Lächeln zu unterdrücken. »Um Himmels willen, Pop -« »Nun, ich denke, ich hatte Glück. Ein junger Neger, wahrscheinlich höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er hatte ein Messer, aber anscheinend wußte er nichts damit anzufangen. Ich hab' ihn angebrüllt und ausgeholt, um nach ihm zu schlagen - ich war richtig wild, das verstehst du doch. Ich dachte gar nicht erst nach. Wenn er klar gewußt hätte, was er tat, dann hätte er mich wahrscheinlich in Stücke geschnitten.« »Herr Jesus«, flüsterte Jack. Er starrte Paul an. »Jedenfalls, das nächste, was ich wußte, war, daß er wegrannte.« »Aber - wo ist das denn passiert?« »Gleich um die Ecke von der Wohnung. Vierundsiebzigste zwischen Westend und Amsterdam.« »Spätnachts?« »Nicht besonders spät, nein. Es muß gegen elf gewesen sein.« »Was hat die Polizei denn getan?« -1 0 8 -
»Nichts. Ich hab' es gar nicht gemeldet.« »Herrgott, Pop, du hättest doch -« »Ach, zum Teufel damit. Ich hab' ihn ja gar nicht richtig zu sehen bekommen. Was hätten die denn machen können? Bis ich das nächste Telefon erreicht hatte, war der Bursche schon sechs Blocks weiter.« »Ein Rauschgiftsüchtiger?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich, oder?« »Ja, die meisten sind süchtig.« »Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich war wütend. Wütender, als ich je in meinem Leben gewesen bin.« »Und da fingst du einfach an, auf den Jungen einzuschlagen? Herrgott, das ist...« »Nun, ich konnte offensichtlich nicht mehr klar denken. Ich hab' gar nicht getroffen - in dem Augenblick, als ich zuzuschlagen begann, rannte er weg. Ich hatte eine Rolle Münzen in der Hand, wahrscheinlich hat er sie für etwas Gefährlicheres gehalten.« Paul lehnte sich vor, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Aber angenommen, es wäre kein durchgedrehter Halbstarker gewesen? Angenommen, er hatte es wirklich ernst gemeint?« »Du willst doch auf etwas hinaus, oder?« »Jack, die sind in jeder Straße. Die greifen Leute um fünf Uhr am hellichten Tage an. Sie überfallen U-Bahn-Züge, als wären es Postkutschen. Na schön, es geschieht die ganze Zeit, aber was sollen wir denn dagegen unternehmen? Was soll ich denn dagegen unternehmen? Die Arme in die Luft strecken und um Hilfe schreien?« »Nun, gewöhnlich, wenn man sich ruhig verhält und ihnen das Geld gibt, dann lassen sie einen in Frieden, Pop. Alles, was die meisten von ihnen wollen, ist Geld. Es gibt nicht viele von ihnen, die so sind wie die, die Mom umgebracht haben.« -1 0 9 -
»Wir sollen ihnen also bloß die andere Wange hinhalten, wie?« Er stand abrupt auf. Jacks Kopf fuhr zurück. Paul sagte: »Verdammt noch mal, mir reicht das nicht. Jetzt nicht mehr. Das nächste Mal, wenn einer von diesen Dreckskerlen mich auf der Straße anspricht, will ich einen Revolver in der Tasche haben.« »Jetzt mal einen Augenblick -« »Wozu denn? Warten, bis der nächste mich anfällt und beschließt, mir ein Messer in den Leib zu stoßen?« Er war jetzt aufgestanden und kam sich irgendwie dumm dabei vor; um etwas zu tun zu haben, nahm er sein leeres Glas und trug es an den Barschrank. Während er sich einen Drink mixte, sprach er weiter: »Jack, du steckst doch mit den ganzen Strafverteidigern zusammen und kennst Leute im Büro des Staatsanwalts. Ich möchte einen Waffenschein für eine Pistole.« »So leicht ist das nicht, Pop.« »Ich habe irgendwo gelesen, daß es eine halbe Million New Yorker gibt, die Feuerwaffen besitzen.« »Sicher. Hauptsächlich Schrotflinten für die Jagd. Und bei den übrigen handelt es sich um Kriegsandenken und Jagdbüchsen. Es gibt natürlich eine bestimmte Zahl von Leuten, die illegal Waffen besitzen, aber das ist eine Verletzung des Sullivangesetzes - du könntest zwanzig Jahre dafür kriegen, eine Pistole ohne Waffenschein zu tragen.« »Und was ist mit all den Ladenbesitzern, die Revolver unter den Registrierkassen versteckt haben? Was ist mit denen?« »Pop, das ist eine andere Art Waffenschein. Es gibt zwei Arten von Lizenzen - solche, die den Besitz einer Waffe in der Wohnung oder in einem Geschäftslokal gestatten, und solche, mit denen man die Waffen bei sich tragen darf. Du könntest wahrscheinlich eine Wohnungslizenz bekommen, wenn du eine im Krieg erbeutete deutsche Luger in deiner Wohnung aufbewahren wolltest oder so etwas ähnliches, aber es ist eine -1 1 0 -
völlig andere Lizenz dafür nötig, eine Faustfeuerwaffe auf der Straße zu tragen.« »Und was ist mit all den Gangstern, die Waffenscheine besitzen?« »Das hier ist eine korrupte Stadt, Pop, das wissen wir alle. Wenn du zehn- oder zwölftausend Dollar hast, um damit die richtigen Leute zu schmieren, dann kannst du einen Schein bekommen. Das ist nicht fair, aber so läuft es eben. Das ist ein unverschämter Preis, aber die Mafia kann ihn sich leisten und schützt ihre Leute vor der Unbequemlichkeit, wegen Waffenbesitzes festgenommen zu werden. Aber ich habe noch nie gehört, daß ein gewöhnlicher gesetzesfürchtiger Bürger bereit gewesen wäre, so viel Geld für eine Waffe auszugeben. Und selbst wenn du es tätest, würdest du damit in den Verdacht geraten, irgendwelche verbrecherische Neigungen zu haben. Man würde anfangen, deine Wohnung zu beobachten, dein Telefon abzuhören, und du würdest dein ganzes Leben unter Beobachtung verbringen. Ist es das, was du willst?« »Ich will nur etwas, um mich verteidigen zu können.« »Hast du daran gedacht, die Stadt zu verlassen?« »Du?« konterte er. »Verdammt noch mal, das habe ich. Sobald Carol wieder auf den Beinen ist, verschwinden wir aus diesem Höllenloch. Ich hab' schon angefangen, die Immobilienanzeigen zu lesen. Du solltest das auch tun, Pop.« »Nein. Ich habe darüber nachgedacht. Ich werde das nicht tun.« »Warum?« »Ich bin hier geboren. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Ich habe versucht, in den Vororten zu leben. Es hat nicht funktioniert. Ich bin zu alt, um mich noch zu verändern, ich kenne meine Grenzen.« -1 1 1 -
»Aber die Dinge sind doch nicht mehr so wie damals. Früher konnte man ja auch das Leben hier ertragen.« Diesen galligen Ton kannte er gar nicht von Jack; aber er schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht weglaufen. Ich werde das einfach nicht tun.« »Warum zum Teufel denn nicht? Was hält dich denn hier fest?« Es war zu schwer, das zu erklären. Er würde nicht zulassen, daß ein Rudel Wilde, die nicht einmal wert waren, seine Schuhe zu putzen, ihn aus seiner Heimat vertrieb. Aber wie sagte man so etwas laut, ohne daß es wie eine abgedroschene Passage aus einem alten Cowboyfilm klang? Statt dessen sagte er: »Dann wirst du mir also nicht helfen, einen Waffenschein zu bekommen?« »Das kann ich nicht, Pop. Ich habe die Beziehungen nicht, die man dazu braucht.« »Und ich habe das Gefühl, wenn du sie hättest, würdest du sie nicht einsetzen. Du billigst die ganze Idee nicht.« »Ja, da hast du recht. Ich glaube nicht, daß es hilft, die Dinge zu beruhigen, wenn man das Arsenal auf den Straßen noch vergrößert.« »Es ist zu spät, um irgend etwas zu beruhigen«, sagte er. »Findest du nicht auch, daß es langsam an der Zeit ist, daß wir unseren Selbstrespekt, unsere Menschenwürde, wieder zum Leben erwecken? Niemand sollte eine öffentliche Straße hinuntergehen müssen, halb erstarrt vor Angst, daß jemand plötzlich mit einem Klappmesser aus einer Türnische gestürzt kommen könnte. Menschliche Wesen sollten einfach nicht so leben müssen.« »Und du glaubst, wenn du einen geladenen Revolver in der Tasche hältst, dann würde dir das deinen Selbstrespekt zurückgeben, dann würdest du dir vorkommen, als wärst du drei Meter groß? Ist es das?« -1 1 2 -
Bei wem klingt es jetzt wie ein schlechter Dialog aus einem alten Film? Jack besaß weder die Phantasie noch das Gefühl für Humor, um das zu verstehen. Jack sagte: »Du machst dir etwas vor, Pop. Hast du in deinem Leben jemals einen Revolver in der Hand gehabt?« »Ich war beim Militär.« »Schön, du warst also beim Militär. Auf der Schreibstube warst du, aber kein Infanterist in der vordersten Linie.« »Trotzdem mußten wir auf den Schießstand. Ich habe Waffen in der Hand gehabt.« »Karabiner. Das ist etwas ganz anderes. Es ist ziemlich kompliziert, mit einem Revolver umzugehen, Pop. Leute, die sich nicht besonders gut damit auskennen, schießen sich die ganze Zeit Löcher in die eigenen Knie. Und was passiert, wenn dich ein Mann überfällt, der selbst einen Revolver hat? Was passiert denn, wenn er deinen Revolver sieht? Herrgott, er bläst dir ein Loch in den Kopf.« Jack spreizte die Hände und zog das Kinn an. »Hör zu, du solltest den ganzen Gedanken vergessen. Ein Revolver ist auch kein Allheilmittel, Pop. Kugeln haben noch nie eine Lösung gebracht.« »Ich will gar keine Lösungen. Ich will mein Leben beschützen. Warum ist denn heutzutage dieser einfache Wunsch so unglaublich unmoralisch und falsch?« Er gab es schließlich auf, weil er merkte, daß Jack ihm nicht helfen würde; es hatte keinen Sinn, das Gespräch fortzusetzen. Er kannte alle Argumente, die Jack vorbringen würde; er hatte sie in der Vergangenheit alle selbst gebraucht. Und wenn er weiterbohrte, würde Jack vielleicht argwöhnisch werden und annehmen, daß Paul viel mehr als Selbstverteidigung im Sinn hatte. Auf dem Nachhauseweg fragte er sich, was er eigentlich genau im Sinn hatte. -1 1 3 -
Rache, dachte er. Sie lag eingerollt in seinem Unterbewußtsein wie eine giftige Schlange. Aber in Wirklichkeit war das ein sinnloses Phantasiegebilde. Die Polizei war nicht weitergekommen - sie würde auch nicht weiterkommen. Joannas Mörder waren auf freiem Fuße, und es bestand nicht die geringste Chance, daß sie jemand finden würde. Über kurz oder lang würden sie wegen irgendeiner Straftat verhaftet werden, aber, daß man ihnen je dieses Verbrechen nachwies, das war höchst unwahrscheinlich. Niemand wußte, wer sie waren, und es gab auch keine Möglichkeit, das herauszufinden. In diesem Sinne war es also gleichgültig, ob er nun bewaffnet auf die Straße ging oder nicht; er würde ja doch nie Gelegenheit bekommen, auf sie zu schießen. Er würde sie nicht einmal erkennen, selbst wenn sie ihm über den Weg liefen. Trotzdem hatte er einen Revolver gewollt. Es war leicht, Jacks Rat in den Wind zu schlagen, aber er kannte die Tatsachen; es war sehr enttäuschend, feststellen zu müssen, wie unmöglich es war, sich einen Waffenschein für eine Handfeuerwaffe zu besorgen. Es war schon dunkel, als er aus dem U-Bahn-Schacht kam. Wieder erfaßte die Angst seine Eingeweide, als er den einen Block zur Westend Avenue ging. Niemand griff ihn an, er erreichte seine Wohnung ohne Zwischenfall. Aber er war über und über mit öligem Schweiß bedeckt. Ich mag mich einfach nicht so fühlen, dachte er. Ist das so viel verlangt?
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13 Ein Telefon klingelte, näher beim Bett, als es hätte klingeln dürfen. Er riß die Augen auf. Die Umgebung war fremd, und er rollte sich, einen Augenblick desorientiert, zur Seite, sah das Telefon und hörte, wie es erneut klingelte. Sein Arm griff danach, er nahm den Hörer von der Gabel und hörte eine müde Frauenstimme leiern: »Sieben Uhr dreißig, Sir, Sie wollten geweckt werden.« Das Motel. Und die Hitze von Arizona draußen, gleich außerhalb der Reichweite der vor sich hinbrummenden Klimaanlage. Er frühstückte schnell im Coffee Shop und ging dann zu dem Parkplatz mit den schrägen Strichen direkt vor seinem Zimmer, wo der gemietete Wagen stand; die Sonne spiegelte sich schmerzhaft in den Chromleisten des Wagens, und die trockene Hitze steigerte sich bereits wieder einem erstickenden Mittag entgegen. Er stieg ein und ließ den Wagen an. Das Steuerrad war unmittelbar von der Sonne beschienen. Es war fast zu heiß, als daß man es berühren konnte. Er schaltete die Klimaanlage ein, aber der Motor lief noch nicht rund und starb wieder ab. Er fluchte leise und beschäftigte sich eine Weile mit dem Anlasser, bis der Motor wieder anlief. Er hatte seinen Führerschein immer wieder erneuert, obwohl er jetzt zwanzig Jahre lang keinen Wagen besessen und schon einige Jahre keinen mehr gefahren hatte. Er fühlte sich hinter dem Steuer immer noch unsicher, nachdem er jetzt doch beinahe eine Woche auf diesen Boulevards und Schnellstraßen unterwegs gewesen war; hier draußen herrschte ein ganz anderer Fahrstil, völlig anders als die dauernde ruckweise Bewegung, an die man sich bei Taxis so schnell gewöhnte. Es gab hier draußen genauso viele Aggressionen, aber man fuhr hier schnell, kam ganz rasch aus der Ferne heran. Tucson hatte eine Hauptstraße, -1 1 5 -
die tatsächlich Speedway hieß; in der Mitte gab es einen breiten Grünstreifen, Palmen, Gras, mehrere Spuren zu beiden Seiten die Straße selbst war so breit wie ein ganzer Häuserblock in New York, und die Fahrer schienen sich die ganze Zeit auf einer Rennpiste zu fühlen. Und meilenweit drängte sich eine Sportwagenhandlung an die andere, und Autowäschereien und Tankstellen. Alles glitzerte zu grell; obwohl er eine Sonnenbrille trug, mußte er die Auge n fast zukneifen. Williamson hatte ihm von der grausigen Mordserie erzählt. Sie hatten hier auch Angst. Kein Ort war mehr gefeit. Man dachte bei Überfällen und Morden immer an die finsteren Winkel der Städte - als würden breite Straßen und niedrige Dächer und die kupferfarbene Wüstensonne sie verhindern -, aber die Verbrechensrate war auch hier alarmierend hoch, und Williamson trug einen Revolver im Handschuhkasten seines Cadillac. Paul beneidete ihn. Vor zwei Tagen hatte er gefragt, wo Williamson die Waffe her hatte - wie er sich den Waffenschein beschafft hatte. »Nun, man braucht keine Lizenz, um einen Revolver zu kaufen. Man muß ihn natürlich registrieren - das ist Bundesgesetz -, aber man kann sich nicht weigern, Ihnen einen Revolver zu verkaufen, solange Sie beweisen können, daß Sie nicht in der Verbrecherkartei stehen. Theoretisch dürfen Sie eigentlich keine verborgene Waffe tragen, und die Polizei schreitet auch ein, wenn man Sie mit einer Waffe in der Tasche fängt, aber ich habe noch nie gehört, daß jemand verhaftet worden wäre, weil er ein Gewehr im Auto gehabt hätte oder im Haus. Sie können sich natürlich einen Waffenschein von den Polizeibeamten hier besorgen, wenn Sie wirklich einen wollen. Gott sei Dank ist das hier noch nicht so wie im Osten.« Hier waren alle ziemlich rechts, das war Goldwater-Land. Er fand ihre Ansichten immer noch widerlich, in den meisten Punkten wenigstens. Man vertrat hier freies Unternehmertum für -1 1 6 -
die Armen und öffentliche Subventionen für die Reichen. Man bestand darauf, daß ein jeder das Recht hatte, zu sterben, wenn er nicht genug Geld besaß, um sich teure medizinische Behandlungen leisten zu können. Man sah hier Kommunisten hinter jedem Busch und hätte am liebsten Atombomben auf Moskau und Peking geworfen. Man hatte das Recht auf anständige Beförderungsmittel, wenn man sich einen Cadillac leisten konnte; öffentliche Verkehrsmittel gab es in Tucson praktisch nicht. Aber was die Verbrecherbekämpfung anging, hatten sie hier die richtigen Ansichten, klare, harte Ansichten. Und er wußte jetzt, daß sie in dem Punkt recht hatten. Jainchills Büros nahmen die obersten drei Stockwerke eines nagelneuen Wolkenkratzers in der Nähe der Ausläufer der Berge ein, die im Hintergrund der Stadt aufragten. Das Gebäude bestand ganz aus Kunststoff und Glas; es strahlte die Wärme eines Computers aus. Er stellte den Wagen auf den riesigen Parkplatz, betrat die Lobby und spürte den Stoß eisiger Luft, die ihn wie ein arktischer Wind nach der Hitze draußen erfaßte. Er drückte den Liftknopf und sah zu, wie er aufleuchtete. Sie hatten ihm einen Konferenzraum zugewiesen. Der lange Tisch war mit Akten und Dokumenten übersät. Er hatte den Morgen allein mit den Zahlenkolonnen verbracht; mittags verließ er das Gebäude und fuhr zu dem Restaurant, um sich mit George Eng zum Mittagessen zu treffen. Unterwegs geriet er in eine kleine Verkehrsstockung; irgend so ein Idiot versperrte ihm den Weg - einer dieser unsicheren Fahrer, die durch die Kreuzungen krochen und dann, genau wenn die Ampel auf Gelb schaltete, plötzlich aufs Gaspedal traten und davonschossen -, so daß Paul an der Ampel steckenblieb. Er sah auf die Uhr und ärgerte sich. An der Ecke neben ihm war ein kleiner Laden mit Fischereigeräten und Fahrrädern und Waffen im Schaufenster. Jagdbüchsen, Schrotflinten und mehr verschiedene Arten von -1 1 7 -
Revolvern, als er je geglaubt hatte, daß es überhaupt gäbe. Er starrte sie an. Hinter ihm plärrte eine Hupe. Die Ampel hatte umgeschaltet. Er fuhr quer über die Kreuzung und legte den Kopf zur Seite, um die Straßenschilder lesen zu können. Er konnte sie nicht sehen. Wieder hupte der Idiot hinter ihm, und er fuhr weiter, ohne herausgebracht zu haben, an welcher Kreuzung er gewesen war. Aber er wußte, daß er sich auf der Fourth Avenue befand; er würde den Laden wiederfinden können. Die Straße senkte sich jetzt unter den Eisenbahngeleisen hindurch, und als er auf der anderen Seite des Tunnels wieder herauskam, begann er einen Parkplatz zu suchen. »Die Krabben sind hier recht gut. Die kommen aus Guayana, die fliegen sie frisch hier herauf.« »Ich verbeuge mich vor der Weisheit des Ostens«, sagte Paul und klappte die Speisekarte zu. George Eng lächelte über den kleinen Witz und bestellte bei dem Kellner. Als sie mit ihren Drinks allein waren, sagte er zu Paul: »Wie läuft's denn?« »Stetig und ermüdend. Ich habe noch nichts Erschütterndes gefunden.« »Hatte ich gehofft.« George Eng hatte ein fleischiges Gesicht, und seine Bewegungen waren die eines schweren Mannes, aber er war nicht übergewichtig. Paul hatte ihn erst letztes Jahr kennengelernt; er nahm an, daß Eng eine Abmagerungskur gemacht hatte, sich aber noch nicht daran gewöhnt hatte, schlank zu sein. Er hatte dünnes, schwarzes Haar und einen selbstbewußten Fu-Manchu-Schnurrbart, der seinen orientalischen Zügen einen bösartigen Ausdruck verlieh. Er war in Hawaii als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren worden; er sprach ohne erkennbaren Akzent. Er kleidete sich konservativ und hatte einen teuren Geschmack; er war ein guter Geschäftsmann, der sich schnell entscheiden konnte. Paul war -1 1 8 -
ihm nur bei geschäftlichen Besprechungen und Anlässen begegnet - Cocktailparties, Geschäftsessen. Abgesehen davon, kannte er den Mann nicht; Eng war ein zurückhaltender Mensch, der nicht leicht aus sich herausging. Es hatte Monate gedauert, bis Paul den Mut gehabt hatte, in seiner Gegenwart harmlose Chinesenwitze zu machen, und er hatte das nur begonnen, weil ihm klargeworden war, daß Eng das erwartete und Spaß daran hatte. Das Restaurant, in dem sie saßen, machte sein Hauptgeschäft zu Mittag, und bei den Kunden schien es sich in erster Linie um solche zu handeln, die auf Spesen lebten. Die Drinks waren reichlich, die Speisenkarte war gepflegt, und zwischen den Tischen standen Säulen und Pflanztröge. Die Beleuchtung war zurückhaltend und indirekt, aber man brauchte auch seine Augen nicht zu strapazieren, um den Ausdruck seines Gegenübers zu erkennen. »Also gut«, sagte Georg Eng, »dann lassen wir uns auf den Handel ein. Sie haben die Bücher jetzt die ganze Woche geprüft. Was können Sie mir sagen?« »Es ist ziemlich genau das, was wir erwartet hatten. Nichts Alarmierendes. Natürlich haben sie alles getan, um die Firma im besten Licht erscheinen zu lassen - schließlich wußten sie schon einige Zeit, daß Sie kommen würden.« »Aus gewissen Gründen haben wir das absichtlich zu erkennen gegeben. Wollte sehen, wieviel Tricks sich die Geschäftsleitung hier einfallen läßt. Wir haben ihnen genügend Gelegenheit gegeben, ihre wahre Farbe zu zeigen, meinen Sie nicht auch?« »Ja, das würde ich sagen.« »Und welches sind ihre wahren Farben?« »Ein bleiches Grau, würde ich sagen«, meinte Paul. »Sie haben ja schon die routinemäßige Bilanz gesehen. Die ist in New York über Datenverarbeitung gemacht worden. Wir -1 1 9 -
wußten ja bereits, daß sie ihre Überschußrechnung und den Cash Flow etwas frisiert haben.« »Sie wollen damit sagen, daß ich nicht überrascht zu sein brauche, wenn sie das auch mit dem Rest der Firma so gehalten haben.« Paul nickte. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Ihnen das etwas ausmachen würde.« »Wovon reden wir jetzt genau?« »Ich habe ein halbes Dutzend Punkte gefunden, bei denen Sie einhaken können, glaube ich. Sie haben zum Beispiel versucht, die Aktiva der Firma dadurch hochzutreiben, daß sie die Tochtergesellschaft zu Buchwert statt zu den ursprünglichen Kosten bewertet haben.« Eng schnitt eine Grimasse. »Das ist billig. Ich bin von Jainchill enttäuscht.« »Sie können es ihm nicht verübeln, daß er es versucht hat.« »Ich hatte die leise Hoffnung, daß er es etwas weniger offensichtlich treiben würde. Was noch?« »Nun, sie haben angefangen, ihre Entwicklungskosten über einen Zeitraum von fünf Jahren zu amortisieren. Damit haben sie aber erst letztes Jahr begonnen - vorher hatten sie sie jedes Jahr über Kosten abgerechnet. Daran ist nichts Unehrenhaftes, aber das rückt die Dinge in ein etwas freundlicheres Licht. Das einzig Nennenswerte, das ich fand, ist ein schneller Anstieg in den Aktienoptionen, die sie innerhalb der letzten achtzehn Monate an ihre leitenden Angestellten ausgaben.« »Anstelle von Barprämien, meinen Sie.« »Ja. Früher haben sie fast ausschließlich Barprämien bezahlt.« »Wie hoch sind die Aktienoptionen?« »Ich bin noch nicht ganz fertig. Wenn ich jetzt mein Urteil abgeben müßte, würde ich sagen: um die vierhunderttausend -1 2 0 -
Dollar.« Eng schob eine Zigarette in eine kurze silberne Spitze und zündete sie mit einem diamantenbesetzten Feuerzeug an. »Und diese Aktienoptionen sind natürlich nicht als Einkommen verbucht?« »Nein.« »Solche Optionen«, murmelte Eng, »können sich als Belastung der Dividenden auswirken. Wenn die so weitermachen, könnte sich das kapitalvermindernd auswirken.« »Nun, ich bin sicher, daß die nicht vorhatten, diese Politik fortzuführen. Sie wußten, daß Sie herumschnüffeln würden, es bestand eine gute Chance, daß Amercon ein Kaufangebot machen würde - Sie hätten an ihrer Stelle das gleiche getan.« »Es läuft also praktisch darauf hinaus, daß sie ihre eigenen leitenden Angestellten in Form von Optionen auf etwas bezahlt haben, was in ihrer Hoffnung einmal Amercon-Aktien sein werden.« »Darauf läuft es hinaus.« »Ziemliche Frechheit«, bemerkte Eng, »aber wenn sie nichts Schlimmeres versucht haben, wird mir das keine schlaflosen Nächte eintragen. Ich hatte mehr Sorge, daß ihre Betriebsabrechnung vielleicht die tatsächlichen Produktionskosten nicht ausweisen könnte oder daß sie zu große Bestände überalterter Ware haben könnten. Das ist mir einige Male passiert - Verluste, die eigentlich schon viel früher hätten abgeschrieben werden müssen, aber die irgendwie irgendwo in einem Lager steckenbleiben, ohne daß sie richtig kontiert sind.« Plötzlich erfaßte sein Blick Paul voll. »Aber so etwas haben Sie nicht gefunden.« »Nein. Das will freilich nicht sagen, daß es so etwas nicht geben könnte. Ich habe nur keine Hinweise darauf gefunden. Genau werden wir das erst wissen, wenn wir die Inventurlisten -1 2 1 -
aller Tochtergesellschaften überprüft haben.« »Und wieviel Zeit wird das in Anspruch nehmen?« »Das kommt darauf an, wie detailliert Sie die Prüfung haben wollen. Jainchill hat fünf Tochtergesellschaften. Drei davon hat er im Laufe der letzten vier Jahre übernommen. Natürlich hat er bei der Übernahme eine Buchprüfung vornehmen lassen. Wir können jetzt entweder diese Zahlen akzeptieren oder selbst eine Prüfung vornehmen.« »Was würden Sie empfehlen, Paul?« »Ich wäre bereit, seine Prüfergebnisse anzuerkennen. Es würde Sie ziemlich viel Geduld kosten und drei oder vier Monate Zeit, um alles das noch einmal zu durchwühlen. Und vergessen Sie nicht, als Jainchill diese Fusionen vornahm, hatte er keinen Käufer für seine eigene Firma. Er hat fähige Buchprüfer angestellt, die in seinem Auftrag alles gründlich durchgesehen haben, ehe er diese Firmen übernahm. Er konnte sich gar nicht leisten, etwas anderes zu tun - er mußte sichergehen, daß er nicht die Katze im Sack kaufte. Er befand sich in genau derselben Lage, in der Sie sich jetzt befinden.« Eng spießte eine Krabbe auf und ließ sie an der Gabel über seinem Teller schweben. »Angenommen, wir entscheiden uns dafür, diese Zahlen zu akzeptieren. Wie lange würden Sie dann dazu brauchen, um den Rest Ihrer Prüfung abzuschließen?« »Meinen Teil davon oder das Ganze?« »In New York sollten die bis Ende nächster Woche fertig sein. Ich meine Ihre Arbeit hier.« »So wie die Dinge jetzt aussehen, würde ich sagen, daß hier alles bis Mitte der Woche fertig sein könnte. Sagen wir Mittwoch abend. Dann brauche ich noch ein paar Tage am Computer in New York. In zehn Tagen sollte alles fertig sein.« Eng nickte. »Gut. Dann wollen wir es so machen. Mein Aufsichtsrat ist ganz erpicht darauf, diese Fusion über die Bühne -1 2 2 -
zu bringen.« Die Krabbe vollendete den Weg zu seinem Mund und verschwand darin. »Wie gefällt es Ihnen hier draußen?« Der plötzliche Themawechsel, verbunden mit einer Änderung im Tonfall, verunsicherte ihn. »Nun - ziemlich heiß hier.« Eng zuckte die Achseln. »Dafür gibt es überall Klimaanlagen. Das halbe Jahr jedenfalls ist es angenehm - kein Schnee, man braucht nie einen Mantel.« »Hat man mir auch gesagt.« »Mir scheint, Ihnen gefällt es nicht sonderlich.« »Das würde ich nicht sagen. Die ganze Lebensart ist zu grundverschieden, würde ich sagen - ich habe mein ganzes Leben in New York verbracht, ich hätte für andere Leute nichts dagegen. Aber mich erinnert es an die Vorstädte. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ja. Ein gewisser kleinstädtischer Geruch, obwohl eine halbe Million Menschen hier wohnen. Sie haben es also offenbar einmal mit dem Leben im Grünen versucht.« Paul nickte, kaute zu Ende, schluckte, griff nach seiner Serviette. »Vor ein paar Jahren. Es gehört eine ganz bestimmte Art von Geduld dazu, in einem Haus zu leben und sich an all die Kleinigkeiten des täglichen Alltags zu gewöhnen. Jedesmal, wenn man eine Zeitung kaufen möchte oder eine Flasche Milch, muß man in einen Wagen steigen und irgendwohin fahren. Für die meisten Leute ist das ganz gut - aber ich konnte mich nie daran gewöhnen. Und ich konnte mich auch nie an das Gefühl gewöhnen, daß meine Nachbarn um mich herumschnüffelten. In der Stadt belästigen einen die Nachbarn nicht, es sei denn, man läßt es sie wissen, daß man etwas mit ihnen zu tun haben will.« »Mich überrascht, daß Sie so reden, nach dem, was geschehen ist.« »Ich glaube, meine Frau hätte mich verstanden.« -1 2 3 -
Die Lichtkegel eines Autoscheinwerfers wischten durch das Motelzimmer, von den Jalousien am Fenster in einzelne Streifen zerlegt. Er schaltete den Fernseher ein und starrte ein paar Minuten, ohne zu denken, auf den Schirm; schaltete ab und ging hinaus. Die Hitze des Tages hatte sich in den Mauern und im Pflaster gefangen und drängte jetzt wieder heraus. Ringsum blinkten Neonleuc hten, Autos huschten vorbei, das Brüllen der schweren Trucks erschütterte die Luft. Hinter dem staubigen Himmel waren die Berge, eine unbestimmte schwere Masse. Er ging über den Vorplatz des Motels zum Bürgersteig und dann an dem neonbeleuchteten Streifen entlang zu einem Stuckgebäude, das ganz für sich allein in einem kiesbelegten Hof stand. Reklameschilder für Schlitz und Coors Bier füllten seine Fenster; er ging hinein und versuchte sich zurechtzufinden. Es war eine billige Kneipe - acht hölzerne Nischen, eine dunkle, verkratzte Bar mit Sesseln, deren Polsterung aufgeplatzt war, verstaubte Schnappschüsse an den Wänden und ein halbes Dutzend zerbrochener Gewehre an der Wand. Eine Anzahl Leute saß, über ihre Drinks gebeugt, da und hörte sich das Stampfen und Klagen von Hillbilly-Platten aus dem Musikautomaten an. Einige blickten ihn an, stellten fest, daß sie ihn nicht kannten, und zogen sich wieder in sich selbst zurück. Plötzlich hatte er keine Lust mehr; er schickte sich an, sich umzudrehen und wieder hinauszugehen, aber der Barkeeper widmete ihm ein breites Grinsen und ein »Howdy, there«, und Paul ging zu einem freien, sechs Fuß breiten Platz an der Bar und bestellte einen Martini Dry. Wenn sein Aussehen ihn nicht schon gekennzeichnet hatte, so tat es seine Martinibestellung; einige Augenpaare huschten zu ihm herüber. Er nahm das Glas und trug es in eine freie Nische, setzte sich mit halbgeschlossenen Augen und ließ die winselnde Musik über sich zusammenschlagen. Er wollte nicht denken; das Denken tat in letzter Zeit weh. Cowboystiefel stampften vorbei; er blickte auf und sah den -1 2 4 -
Rücken eines großen Mannes in einem Straßenanzug und einem weißen Zehn-Gallonen-Hut. Er verspürte den Drang zu grinsen. Der Mann in Stiefeln und Hut verließ das Lokal, und Paul ließ seinen Blick an der Bar entlangschweifen, musterte die Leute dort. Sie waren alle so erpicht darauf, daß die Fremden ihre Wüstenstadt mögen sollten. Die gezwungene Gastfreundschaft, die geradezu aufdringliche Freundlichkeit. Für ihn war es ein fremdes La nd; in Europa hatte er sich weniger deplaciert gefühlt. Sam Kreutzer würde sich hier zu Hause fühlen, aber nicht ich. Eine weinerliche Stimme gab in der Jukebox ein Lied zum besten, in dem es um einen einsamen Eisenbahnzug ging, der heulend und pfeifend in der Ferne verschwand und die Gedanken und die Liebe eines Mexikanermädchens aus Yuma mit sich trug. Gitarren und Fideln und Rhythmus, nasale Stimmen. Songs, die immer traurig waren, die sich mit verlorener Liebe befaßten. Hier draußen gab es keinen Gershwin, keinen Porter, keinen Rogers; das war eine fremde Sprache. Er kaufte sich einen zweiten Drink und hörte den einfachen traurigen Melodien zu. Sie machten seine Vergangenheit wieder zur Realität; er trank schnell und kaufte sich einen dritten und saß dann da und drehte das Glas zwischen den Fingern. Erinnerte sich an die Zeiten, wo alles noch seine Ordnung gehabt hatte, wo man Recht von Unrecht hatte unterscheiden können. Die Tage der schwarzen Telefone, der Doppeldeckerbusse auf der Park Avenue, der Konfettiparaden für Helden, die man nicht auslachte, Grable und Gable und Hayworth und Cooper, ein freundlicher Streifenpolizist, ein Fisch, den man in eine Zeitung eingeschlagen hatte, geheime Träume in braunen Papierbeuteln. Onkel Irwin in der Zeit der Depression, der weiße Hemden getragen hatte, um der Welt zu beweisen, daß er sich die Wäscherechnung leisten konnte, die Bedeutung der Keuschheit und die Übel des Alkohols und -1 2 5 -
unsere braven amerikanischen Boys, Pat O'Brien und Apfelkuchen und der Darktown Strulter's Ball und Glenn Millers Stardust. Herrgott, ich kann mich noch an Glenn Miller erinnern. Ja, Glenn Miller - sehr wichtig, sich an Glenn Miller zu erinnern. »Ich heiße Shirley Mackenzie.« Sie stand an seinem Tisch, ein Glas in der Hand, und schob die Eiswürfel mit einem Strohhalm herum. Er war so verblüfft, daß er sie nur anstarrte. Sie trug ein dunkelbraunes Samtband um ihr dunkles Haar. Ein schmales Gesicht mit großen Augen und aufgeworfenen Lippen. Ein schlanker Körper in einer silbernen Bluse und einem kurzen Lederrock. Sie lächelte ein wenig, nicht aufdringlich. »Irgendwie schauen Sie genauso aus, wie mir zumute ist. Deshalb bin ich rübergekommen. Aber wenn Sie wollen, haue ich wieder ab.« »Nein - nein, bleiben Sie doch. Setzen Sie sich.« Er erhob sich etwas schwerfällig, dachte an seine guten Manieren. »Ich will mich wirklich nicht aufdrängen. Ich meine -« »Nein, ich kann etwas Gesellschaft brauchen.« »Nur, wenn Sie wollen.« Sie hatte eine gute Stimme, tief, eine Art Whiskybariton. Ein walnußbraunes Gesicht; wenn sie sich ins Licht wandte, sah er, daß sie ein gutes Stück älter war, als er zuerst geglaubt hatte. Fünfunddreißig vielleicht. Ihre Nägel waren bis aufs Fleisch abgebissen. Wie er so dastand, während sie sich in die Nische setzte, wurde ihm klar, daß er kurz vor der Grenze zur Trunkenheit stand: er sah nur noch undeutlich, sein Gleichgewichtssinn funktionierte nicht mehr ganz, seine Zunge war dick und schwerfällig. Er setzte sich wieder hin und sah sie über den Tisch hinweg an. »Paul. Paul Kersey.« Sie lächelte kurz und nickte. »Ich glaube, Namen haben nicht -1 2 6 -
viel zu sagen, oder? Ich meine, das ist wie Schiffe, die sich nachts begegnen oder so.« Ihre Lippen zitterten etwas, ehe sie sie zwischen die Zähne nahm. Sie hielt ihr Glas mit beiden Händen fest. »Also gut, Shirley Mackenzie.« »Sie haben es sich gemerkt. Nicht zu glauben.« Ihr Gesicht legte sich etwas zur Seite; das Lächeln war jetzt breiter, aber so etwas wie Spott über sich selbst lag darin. »Was wollten Sie da zuerst sagen - ich sehe so aus, wie Sie sich fühlen?« »Oh, so, als ob Ihnen die Welt zusammengebrochen wäre und jetzt vor Ihren Füßen läge.« Sie warf den Kopf in den Nacken und hob ihr Glas, eine zuprostende Geste; die Eiswürfel klirrten gegen ihre Zähne, und sie kippte das Glas einfach hinunter. »Hören Sie, ich bin keine Barfliege mit einer rührseligen Geschichte, falls Sie sich das gedacht haben.« »Im Augenblick wüßte ich nicht einmal, ob es mir etwas ausmachen würde.« »Das ist schmerzlich aufrichtig. Aufrichtig, was Sie betrifft, und schmerzlich für mich.« Sie lächelte wieder, um ihm zu zeigen, daß sie nicht beleidigt war. »Möchten Sie noch einen?« Er deutete auf ihr Glas. »Sicher. Aber ich bezahle ihn selbst.« Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch. »Nicht nötig«, murmelte er ungeschickt. »Was trinken Sie denn?« »Scotch und Soda.« »Eine bestimmte Marke?« »Barscotch. Ich konnte nie einen Unterschied feststellen.« Er kaufte die beiden Drinks und brachte sie zum Tisch. Sie -1 2 7 -
wehrte sich nicht dagegen, daß er bezahlte, aber ihre Tasche stand noch auf dem Tisch. Er nahm einen Schluck und wußte, daß sein Mund um Mitternacht ranzig schmecken würde. Was zum Teufel. »So«, sagte er und hielt inne, wußte nicht, was er noch sagen sollte. »Tut mir leid, ich kann Ihnen auch nicht helfen. Ich bin auch nicht gewöhnt, Fremde in Bars aufzugabeln.« »Ich auch nicht.« Beide lächelten. Dann veränderte sich die Form ihrer Augen. »Haß ist ein sehr aufregendes Gefühl, wissen Sie das?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich weiß nicht. Ich saß dort drüben an der Bar und dachte darüber nach, meinen Mann, diesen Schweinehund, umzubringen - meinen ehemaligen Mann, entschuldigen Sie. Ich meine, ich habe wirklich darüber nachgedacht, ihn umzubringen, mir vorgestellt, wie es sein würde, ihn mit Klavierdraht zu erwürge n oder ihm ein Küchenmesser in den Hals zu stecken. Ich würde das natürlich nie tun, so verrückt bin ich nicht. Aber haben Sie je solche Tagträume?« »Ich denke schon.« »Es ist doch aufregend, nicht? Das bringt die Säfte richtig in Wallung. Es ist sehr stimulierend.« »Wissen Sie, da haben Sie recht...« »Sie sagen das, als wäre es Ihnen schon passiert, ohne daß Sie es bisher bemerkt hätten.« »Ja, so etwas Ähnliches.« Sie schüttelte den Kopf - wieder dieser Spott. »Ich nehme an, Sie wollen über Ihres nicht sprechen.« »Mein was?« »Nun, das, was Ihre Welt in Trümmer geschlagen hat. Schön, machen wir einen Handel - reden wir von etwas anderem. Wohnen Sie hier?« -1 2 8 -
Seine Augen weiteten sich. »Hier? In Tuscon?« »Anscheinend also nicht.« »Ich bin überrascht. Ich dachte, man würde es mir auf zehn Meter ansehen, daß ich von New York komme.« »Nun, wenn ich eine Einheimische wäre, dann wäre mir das wahrscheinlich aufgefallen. Ich bin aus Los Angeles.« »Von dort oder dorthin unterwegs?« »Von dort. Ganz entschieden. Heute bin ich bis hier gekommen - ich wohne in dem Motel nebenan.« »Ich auch.« Das führte zu einer kurzen Gesprächspause; sie ließ die Augen auf ihren Drink sinken. Paul sagte: »Hören Sie, ich wollte damit gar nichts sagen. Das sollte kein Hinweis sein. Ich wohne einfach dort, das ist alles.« »Langsam komme ich mir vor«, sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich ganz anders klang, böse, »langsam komme ich mir vor wie 'ne kleine Nutte. Bitte entschuldigen Sie.« »Wofür denn?« »Daß ich mich hier anbiedere wie ein kleines mannstolles Barmädchen und dann durchdrehe, wenn Sie 'ne Spur von Interesse zeigen. Tut mir wirklich leid.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ganz bestimmt nicht.« Noch ein Schluck: vorsichtig mit dem Zeug. »Wo geht's denn dann hin?« »Fragen Sie mich morgen, wenn ich in meinen Wagen steige. Vielleicht habe ich dann eine Ahnung.« »Sie sind also sozusagen frei wie der Vogel in den Lüften.« Ein schiefes Lächeln, sie senkte die Augen, ihr Haar flog ihr über das Gesicht, wie eine Maske. »Ich habe eine Schwester in Houston. Ich nehme an, daß ich dort hinwill. Widerstrebend.« »Sonst keine Familie? Keine Kinder?« -1 2 9 -
»Drei Kinder.« Sie biß den Satz förmlich ab. »Mein Mann hat sie bekommen.« »Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein.« »Schon gut. Sie brauchten ja bloß die Zeitungen von Los Angeles zu lesen. Alle wissen es. Ich tauge nicht, meine eigenen Kinder aufzuziehen - so hat's der Richter ausgedrückt.« »Tut mir leid. Wirklich.« »Es hilft natürlich, wenn der Mann Anwalt ist und der Richter sein Freund.« Ihr Gesicht fuhr hoch. »Sehe ich so aus, als würde ich meine Kinder vernachlässigen?... ach Scheiße, lassen Sie nur, wie sollten Sie drauf 'ne Antwort geben? Hören Sie, ich hab' Ihnen versprochen, daß wir über etwas anderes reden wollen. Was machen Sie hier? Urlaub?« »Geschäfte. Leider sehr langweilig.« »Bis aus New York? Müssen große Geschäfte sein.« »Groß für manche Leute. Für mich ist es nur ein Job.« »Was machen Sie denn? Oder bin ich zu neugierig?« »Nein, gar nicht. Ich bin Buchprüfer, ich überprüfe die Bücher einer Firma hier. Daran ist nichts Geheimes, aber ich kann Ihnen versprechen, das Thema ist noch langweiliger als abgestandenes Spülwasser.« »Also gut. Wovon wollen wir dann reden? Atom-U-Boote? Das Wetter?« »Mir ist's wirklich egal.« »Wir brauchen uns überhaupt nicht zu unterhalten. Manchmal ist es so anstrengend.« Sie griff nach ihrer Handtasche und kippte den restlichen Scotch hinunter. »Warum gehen wir eigentlich nicht?« Ihre Stimme klang keck, aber sie wich seinem Blick aus. Er ging mit ihr über den Vorplatz des Motels und konzentrierte sich dabei auf sein Gleichgewicht. Sie ging neben ihm her mit ihrem vagen Lächeln, und ihre Hüften bewegten -1 3 0 -
sich rhythmisch hin und her. »Dieser über und über bespritzte Station Wagon, das ist der meine. Mein Zimmer.« »Dann sage ich gute Nacht, und viel Glück.« »Nein.« Sie blieb unter der Tür stehen. »Mögen Sie mich? Bin ich Ihnen sympathisch?« »Ja - ja, natürlich.« Sie öffnete die Tür; sie war nicht abgesperrt gewesen. Sie zog ihn hinein und schob die Tür hinter ihm zu. Das einzige Licht war das, was durch die heruntergezogenen Jalousien hereinfiel. In ihm funkelten ihre Augen, verrieten einen verzweifelten, wilden Appetit. »Ich will Sie festhalten. Ich will, daß du mich festhältst. Bitte, halt' mich eine Minute...« Er griff nach ihr, und sie hauchten sich gegenseitig Alkohol ins Gesicht und küßten sich; er spürte die Tränen auf ihren Wagen. »Oh, komm ins Bett,« sagte sie, »wir brauchen es anscheinend beide, und für zwei einsame Leute wie uns ist das doch eine freundliche Sache, oder? Oder?« Als er erwachte, erinnerte er sich, geträumt zu haben. Er war völlig ausgepumpt; tobende Kopfschmerzen, ein leeres, ausgetrocknetes Gefühl in seinem Leib. »Du kannst jetzt das andere Auge aufmachen, ich habe Kaffee gekocht.« Er setzte sich auf und griff nach der Tasse. Seine Finger zitterten. Er sah sie zum ersten Mal an. Sie hatte immer noch rote Flecken am Kinn, von seinen Bartstoppeln. Der Kaffee roch gut, schmeckte aber schrecklich. Sie war bereits angezogen - dieselbe Bluse und derselbe Lederrock wie gestern abend. Eine gutaussehende Frau, dachte er. Klein, zu mager, etwas ledern um die Augen; aber verdammt gut aussehend. In der Nacht war er eine Zeitlang wach gelegen und hatte sich vorgestellt, wie es sein würde, mit einer Frau zusammenzuleben, die ihn vom Fernsehen ablenken könnte und -1 3 1 -
den Killern in den Straßen. Sie sagte: »Ich hab' schon fertiggepackt. Ich dachte, ich sollte dich schlafen lassen, aber dann fiel mir ein, daß es peinlich sein könnte, wenn ich wegführe und das Zimmermädchen dich dann hier fände.« Ein kurzes Ziehen in seinem Hals; für einen Augenblick so etwas wie Panik. »Du fährst weiter?« »Höchste Zeit. Bis Houston ist es weit.« Sie betupfte sich die Lippen mit einem Papiertuch, stellte die Tasse ab und schob sich dann vor dem Spiegel den Rock zurecht. »Danke für letzte Nacht. Ich hab' jemand gebraucht, sonst hätte ich es nicht bis heute morgen geschafft.« Als sie zur Tür hinausging, fiel ihm ein, daß sie sich wahrscheinlich nicht einmal an seinen Namen erinnerte. »Wiedersehen, Shirley Mackenzie.« Er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte; die Tür schloß sich, während er noch sprach, klappte zu und ließ ihn ganz allein im Zimmer. »Oh, Herrgott«, ächzte er und fing zu weinen an. Es war Samstag; er verbrachte den halben Tag im JainchillKonferenzzimmer und aß in einem Drive- in zu Mittag, fuhr dann in die Stadtmitte, den Speedway hinunter zur Fourth Avenue und dann die Fourth hinunter bis zum Bahnhof. Das Sportartikelgeschäft war dort, wo er es vermutet hatte. Er ging hinein und sagte: »Ich möchte einen Revolver kaufen.« Im Flugzeug döste er, den Kopf an die Plexiglasscheibe gelehnt. Die Stewardeß ging den Mittelgang entlang und prüfte, ob alle Passagiere angeschnallt waren; die Lichter von New York ließen die Dunstglocke über der Stadt aufglühen. Die Maschine zog ein paar Kreise und landete dann auf dem Kennedy-Flughafen. -1 3 2 -
Er holte seinen Koffer, ging hinaus und überlegte sich, ob er die fünfzehn Dollar für ein Taxi ausgeben solle; am Ende nahm er den Bus zum Eastside Terminal in Manhattan und von dort ein Taxi. Die Luft in seiner Wohnung war stickig, obwohl es draußen kühl war. Er riß die Fenster auf und trug seinen Aktenkoffer ins Bad, wo ihn niemand von der anderen Straßenseite sehen konnte; das Badezimmer ha tte ein Milchglasfenster. Dann klappte er den Klodeckel herunter, setzte sich darauf, holte den Revolver heraus und hielt ihn in der Faust und starrte das schwarze, ölig schimmernde Metall an.
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14 Als er Donnerstag morgen zur Arbeit ging, hatte er ihn in der Tasche. In dem überfüllten U-Bahn-Wagen war schlechte Luft. Als jemand gegen ihn stieß, schob er den Mann unsanft weg; der Revolver machte ihn arrogant, er würde aufpassen müssen. Mitten in dem schwankenden Wagen stand ein uniformierter Streifenpolizist und beobachtete alle Passagiere mit steinernen, unbeeindruckten Augen. Paul sah ihn nicht an. Er hatte zehn Minuten in seiner Wohnung damit verbracht, Spiegel so aufzubauen, daß er sich von allen Seiten sehen konnte und sicherging, daß der Revolver, den er in der Hosentasche trug, keine zu auffällige Beule machte; er wußte, daß der Polizist ihn unmöglich erkennen konnte, trotzdem waren seine Nerven angespannt, und er eilte in dem Augenblick hinaus, als die Türen sich eben öffneten. Es war ein sehr kleiner Revolver, ein kompaktes fünfschüssiges Modell mit einem kurzen Lauf und einem Metallbügel über dem Hammer, um zu vermeiden, daß er an der Kleidung hängen blieb. Er hatte dem Verkäufer gesagt, daß er eine kleine Waffe für sein Angelzeug wolle, eine Waffe, die sich nicht in den Leinen verfing und auch nicht zu viel Platz wegnahm. Der Mann hatte versucht, ihm eine einschüssige 22er Pistole zu verkaufen, aber Paul hatte sie abgelehnt und gesagt, er sei nicht treffsicher genug, um sich mit einer einzigen Kugel sicher zu fühlen. Einen 22er Revolver hatte er ebenfalls abgelehnt, worauf der Verkäufer wissend gelächelt und halblaut bemerkt hatte, daß eigentlich jeder das Recht haben sollte, eine Waffe im Handschuhkasten zu haben, und das da müßte eigentlich genau ric htig sein, oder? Die Waffe bestand zum größten Teil aus Aluminium, war sehr leicht. Paul hatte gefragt, ob es einen Schießplatz in der Stadt gäbe, wo er üben könne, und der Verkäufer hatte ihn zu einem -1 3 4 -
Schießklub etwa zehn Meilen außerhalb in den Bergen gewiesen; er hatte zwei Dollar bezahlt und den Samstagnachmittag und den ganzen Sonntag damit verbracht, einige hundert Schuß abzugeben. Sonntag abend klingelten seine Ohren, und seine rechte Hand war halb taub von dem ständigen Rückstoß, aber er war sicher, daß er aus einigen Metern Abstand einen Menschen treffen konnte, und das reichte, um sich zu schützen. Sonntag abend hatte er die Waffe sorgfältig gereinigt und geölt, sie dann in eine Socke gewickelt und sie unten in den Aktenkoffer gelegt. Es hatte nur einen schlimmen Augenblick gegeben - als er in die Maschine stieg, hatten sie die Passagiere durchsucht; aber er sah nicht wie ein Flugzeugentführer oder Rauschgiftschmuggler aus und wußte es auch. Sie schauten in seinen Aktenkoffer hinein, berührten aber nichts; man schob ihn ganz höflich durch, aber er hatte eine Stunde lang ununterbrochen geschwitzt. Nachher hatte ihn Wut über das verdrehte Wertesystem erfüllt, daß es zu einem Vergehen machte, die Mittel zu seinem eigenen Schutz bei sich zu tragen. Er war sicher, daß das, was er empfand, nicht Schuldgefühl war; es war nur die Angst, ertappt zu werden, und das war etwas völlig anderes. Und sie hatten einfach kein moralisches Recht, einem Menschen diese Art von Furcht einzuflößen. Jedenfalls war es so besser, als um sein Leben fürchten zu müssen. Nur Verbrecher und Narren wanderten ins Gefängnis. Wenn man ihn je mit der Waffe in der Tasche ertappte, würde das zwar lästig sein, aber nicht kritisch für ihn, das wußte er; er hatte Jack, er kannte ein paar fähige Anwälte, und er hatte genügend moralische Motive, um gewiß zu sein, daß ihm schlimmstenfalls eine kleine Geldstrafe, wahrscheinlich sogar nur eine Strafe auf Bewährung, zudiktiert werden würde. Die einzigen, die ins Gefängnis gesteckt wurden, waren solche, die man auf frischer Tat bei Überfällen ertappte, und selbst dann konnte man mit einem Funken Verstand das Gefängnis -1 3 5 -
vermeiden. Das war das Ärgerliche an dem ganzen System. Letztes Jahr hatte Jack einen fünfzehnjährigen Jungen vor dem Jugendgericht verteidigt, dem man zur Last legte, einen Kassierer in einem Laden mit einem Messer bedroht zu haben und ihm achtzehn Dollar geraubt zu haben. Überall in dem Laden waren große Schilder gewesen, auf denen stand, daß der Laden per Fernsehen überwacht wurde, aber der fünfzehnjährige Junge konnte nicht lesen. Sie hatten ihn innerhalb von vierundzwanzig Stunden festgenommen. Er wurde verurteilt, aber nicht wegen seines Verbrechens, sondern wegen seines Analphabetentums. »Ich habe ihn natürlich dazu veranlaßt, sich schuldig zu bekennen«, hatte Jack müde gesagt. »Ich mache ungern einen Handel mit dem Ankläger, aber so klappt es am besten. Aber weißt du, was einen wirklich schafft? Die bringen diesem Jungen das Lesen bei, doch den Unterschied zwischen Recht und Unrecht bringen sie ihm nicht bei. Eine Woche, nachdem er rauskommt, nageln die ihn wahrscheinlich wieder fest für einen Überfall auf einen Laden, der keine Fernsehkameras hat. Oder er nimmt sich das nächste Mal einen Pfandleiher vor und versucht, die Kasse auszuleeren, und der Ladenbesitzer jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.« Damals war es ihm sehr traurig vorgekommen. Jetzt stand Paul eindeutig auf der Seite des Ladenbesitzers. Jack, dachte er. Als er all die Willkommensgrüße hinter sich hatte und ihm genügend Leute auf die Schulter geklopft hatten, ging er an seinen Schreibtisch und rief Jacks Büro an. »Ich hab' schon vorher versucht, dich zu erreichen.« »Ich war im Krankenhaus.« Seine Finger griffen nach dem Schreibtisch, krampften sich an der Platte fest. »Das klingt so niedergeschlagen. Was ist denn?« »Jetzt nicht - nicht über zwei Telefonvermittlungen. Hör zu, Pop, können wir uns irgendwo treffen - gegen Mittag? Ich hab' meinen Terminkalender etwas umgestellt, heute morgen habe -1 3 6 -
ich zwei Fälle vor Gericht, aber nach halb zwölf bin ich frei, falls die Verhandlung sich nicht in die Länge zieht.« »Natürlich. Aber könntest du nicht wenigstens - « »Lieber nicht. Hör zu, ich komm' in dein Büro, ja? Sollte gegen zwölf dort sein. Warte auf mich, ja?« Er verbrachte den größten Teil des Vormittags im EDV-Raum und überhäufte die Programmierer mit Zahlen. Das war leichter, als nachzudenken. Jack war nie ein Typ gewesen, der sich geheimnisvoll gab; es mußte also etwas mit Carol zu tun haben aber das war noch verblüffender. Paul hatte letzte Nacht angerufen, er war von Arizona aus mit Jack in Verbindung geblieben, und es war nichts vorgefallen, das man nicht hätte erwarten können - Carol reagierte auf die Therapie, die Ärzte rechneten damit, sie innerhalb einer Woche entlassen zu können... Zehn Minuten vor zwölf war er in seinem Büro. Als Thelma den Summer der Sprechanlage betätigte, zuckte er zusammen, aber sie sagte: »Es ist Mr. Kreutzer.« Sam kam mit einem breiten Grinsen unter seinem Schnurrbart zur Tür herein. »Nun, wie war's denn dort draußen in der Sonne?« »Schön - schön.« »Wie wär's mit Mittagessen? Bill und ich dachten, wir holen uns drunten bloß ein Sandwich. Kommst du mit?« »Geht leider nicht. Jack kommt gleich.« »Den nehmen wir auch mit, was soll's. Wir haben nichts gegen Anwälte.« »Nein, es ist eine Familiengeschichte. Das nächste Mal. Wie geht's Adele?« »Prima. Macht sich über dich Sorgen. Sie ist anscheinend der Ansicht, daß wir uns bei dir für letztes Mal entschuldigen sollten. Du warst ziemlich durchgedreht, begreiflicherweise, und -1 3 7 -
ich denke, wir hätten kein solches Theater machen sollen. Vergeben und vergessen?« »Aber sicher, Sam. Da gibt es doch nichts zu vergeben.« »Dann wirst du auch eine Einladung nicht ablehnen. Wir haben morgen in zwei Wochen unseren fünfzehnten Hochzeitstag - Freitag, den dritten. Wir machen da eine kleine Feier zu Hause. Keine Geschenke. Darauf bestehen wir. Du darfst nur dich selbst mitbringen. Einverstanden?« »Nun - ja. Danke, Sam. Ich komme.« »Prima. Schreib es dir in deinen Terminkalender, damit du es nicht vergißt.« Sam sah auf seine Uhr und schob sich die Manschette zurecht. »Nun, dann werde ich gehen. Bis später.« Er ging hinaus. Um viertel nach zwölf fing Paul an, unruhig zu werden. Er kritzelte in seinem Terminkalender herum, ging den Korridor hinunter und wusch sich die Hände, kam in sein Büro zurück und rechnete damit, Jack vorzufinden, fand es aber leer, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und spielte mit seinem Revolver. Als der Summer ertönte, schob er die Waffe schnell in die Tasche und blickte auf, als die Tür sich öffnete und Jack hereingeschlurft kam; seine Augen wirkten ausgewaschen und sein herunterhängender, verkniffener Mund verrieten Niedergeschlagenheit und Angst. Er trat die Tür hinter sich zu. »Nun, was ist denn?« »Laß mich zuerst hinsetzen.« Jack ging zu dem Lederstuhl und sank hinein wie ein Boxer, der nach der fünfzehnten Runde in seiner Ringecke zusammenbricht. »Herrgott, für die Jahreszeit ist es heiß.« »Was ist denn mit Carol, Jack?« »Alles.« »Aber sie hat sich doch so gut erholt - « »Nicht so gut, Pop. Ich wollte dich nicht über das Telefon -1 3 8 -
beunruhigen. Ich hab' die Dinge etwas besser hingestellt, als sie waren.« »Ach, ich verstehe.« »Bitte, zieh jetzt nicht die eisgekühlte Nummer ab, Pop. Ich hielt es damals für das beste. Was hatte es für einen Sinn, dir Sorgen zu machen? Du hättest bloß deine Arbeit durcheinandergebracht oder Schluß gemacht und wärst hierher zurückgeflogen. Es gab nichts, was du hättest tun können. Selbst mich haben sie zwei Wochen nicht zu ihr gelassen.« »Dann würde ich vorschlagen«, sagte Paul mit zusammengebissenen Zähnen, »daß wir uns einen anderen Psychiater suchen. Dieser Mann macht den Eindruck, als gehöre er selbst in eine Anstalt.« Jack schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist schon in Ordnung. Wir haben drei andere Psychiater außer ihm konsultiert. Sie waren alle seiner Meinung. Einer von ihnen hat sich gegen die InsulinTherapie ausgesprochen, aber sonst haben sie sich alle eben seiner Diagnose angeschlossen und auch die gleiche Behand lung befürwortet. Es ist nicht ihr Fehler, Pop. Es hat einfach nicht geklappt.« »Was willst du damit sagen?« »Pop, die haben es mit Hypnose probiert, zweimal mit dem Insulin-Schock, und es hat einfach nicht funktioniert. Sie reagiert nicht. Sie zieht sich jeden Tag weiter in ihr Schneckenhaus zurück. Willst du es in ihrem Fachchinesisch hören? Das kann ich dir stundenlang erzählen. Ich hab' es mir seit Wochen angehört. Catatonia. Dementia praecox. Passive schizoide Paranoia. Die haben mit Freudschem Jargon rumgeworfen wie mit Steinen. Jedenfalls läuft es darauf hinaus, daß sie ein Erlebnis hatte, dem sie nicht gewachsen war, und jetzt befindet sie sich davor auf der Flucht, einer Flucht in sich selbst.« Jack bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Herrgott, Pop, -1 3 9 -
sie ist überhaupt kein Mensch mehr, bloß eine Puppe.« Paul saß da und blickte auf Jacks gesenkten Kopf hinunter. Er wußte, was für eine Frage er stellen mußte, er mußte sich dazu zwingen, sie zu stellen. »Was wollen sie denn machen?« Es dauerte lange, bis Jacks Antwort kam. Schließlich hob er das Gesicht. Seine Wangen waren grau; seine Augen waren völlig undurchsichtig geworden. »Die wollen, daß ich Papiere unterschreibe, um sie für dauernd in eine Anstalt einzuweisen.« Es überkam ihn in Wellen. Seine Kopfhaut schrumpfte. Jack sagte: »Die Entscheidung muß ich treffen, und ich werde sie auch treffen, aber ich will deinen Rat.« »Gibt es eine andere Möglichkeit?« Jack spreizte die Hände. »Was geschieht, wenn du die Papiere nicht unterzeichnest?« »Nichts, denke ich. Sie werden sie im Krankenhaus behalten. Die Versicherung wird uns bald aussteuern. Und wenn uns das Geld ausgeht, wird das Krankenhaus sie hinauswerfen.« Jacks Kopf ging vor und zurück, rhythmisch - ausgepumpt, benommen. »Pop, sie kann nicht einmal selbst essen. « »Und wenn sie eingewiesen wird? Was dann?« »Ich habe das überprüft. Ich habe eine Police, die das einschließt, bis zu sechshundert pro Monat. Dr. Metz hat ein Sanatorium in New Jersey empfohlen. Sie verlangen etwas mehr als sechshundert, aber ich schaffe die Differenz. Es ist nicht das Geld, Pop.« »Diese Einweisung - ist die endgültig?« »Das kann niemand beantworten. Manchmal haben sie nach ein paar Monaten alles hinter sich und sind wieder ganz normal. Manchmal schaffen sie es nie.« »Was willst du dann von mir?« Er sah, wie Jacks Züge sich qualvoll veränderten. »Hör zu, ich liebe sie.« »... ja«, ganz sanft. »Man steckt nicht einfach jemanden, den man liebt, in eine Anstalt und wendet -1 4 0 -
ihm den Rücken zu. Das kann man einfach nicht.« »Aber es verlangt doch niemand von uns, daß wir ihr den Rücken kehren.« »Ich könnte sie nach Hause holen«, murmelte Jack. »Ich könnte sie füttern und sie waschen und sie ins Bad tragen.« »Und wie lange würdest du das aushalten?« »Ich könnte eine private Pflegerin einstellen.« »Trotzdem könntest du nicht so leben, Jack.« »Ich weiß. Rosen und Metz sagen es auch.« »Dann haben wir doch in Wirklichkeit gar keine andere Wahl. Oder?« Als Jack ging, holte er den Revolver aus der Tasche. Das war es, was ihn zusammengehalten hatte, sonst wäre er zerbrochen. Und vor seinem inneren Ohr der ewige Refrain: die Killer. So. Und jetzt haben sie das noch ihrer Schuld hinzugefügt. Sie haben kein Recht, uns das anzutun. Niemandem dürfen sie das antun. Man muß etwas dagegen unternehmen.
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15 Er fuhr mit der U-Bahn die Lexington Avenue hinauf bis zur Achtundsechzigsten. Aß in einem Schnellimbiß und ging dann im Zickzack - einen Straßenblock hinunter, dann wieder einen quer dazu - zur Zweiundsiebzigsten und Fünften und dort in den Central Park hinein, ging schräg hindurch. Es war noch nicht ganz dunkel - dämmerig, ein kühler, rauher Wind, fallende Blätter, Leute, die ihre Hunde spazierenführten. Die Straßenlampen waren eingeschaltet, aber das Licht reichte nicht aus, um richtig zu sehen. Er ging langsam, wie von der harten Tagesarbeit erschöpft. Das war die Zeit, in der sie unter ihren Steinen hervorkamen, um müde Fußgänger auf dem Nachhauseweg zu überfallen. All right, dachte er, überfallt mich. Die Wut, die ihn erfüllte, sprengte alle Grenzen. Es war eine kühle Nacht, und er war nicht der einzige einsame Fußgänger im Park. Mit in die Taschen gestopften Händen. Er sah nicht wie ein bewaffneter Mann aus. Kommt. Kommt und holt es euch. Zwei junge Burschen: Jeans, ungepflegtes Haar bis auf die Schultern, pickelige Gesichter. Sie kamen auf ihn zu, die Daumen im Gürtel, suchten Ärger. Kommt, holt ihn euch doch. Sie gingen an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen; ein Fetzen ihrer Unterhaltung wehte ihm zu: »... Quatsch, Mann, schade ums Geld. So ein beschissener Film...« Zwei junge Burschen auf dem Nachhauseweg vom Kino. Nun, dann sollten sie sich wie jugendliche Verbrecher anziehen; auf die Weise konnten sie Ärger kriegen. Das Zwielicht war jetzt ganz hinter den Türmen der Stadt verblaßt; es wurde schnell dunkel. Er ging den Weg entlang, nur gelegentlich huschte ein Taxi, wahrscheinlich auf dem Weg ins Theater, an ihm vorbei. Ein offenkundiger Homosexueller mit zwei riesigen haarigen Hunden, die er an der Leine führte, ging -1 4 2 -
an ihm vorbei; er hatte ein verdrießliches Gesicht. Zwei ältere Ehepaare, Spaziergänger, von einem Dobermann an der Leine behütet. Drei junge Paare, modisch gekleidet, sie eilten an ihm vorbei, offenbar schon zu spät für die Theatervorstellung im Lincoln Center. Ein Polizist auf einem Motorroller, sein weißer Helm drehte sich herum, bekundete sein Interesse für Paul; jeder alleingehende Fußgänger war verdächtig. Paul sah den Polizisten gerade an. Der Motorroller summte weiter. Mitten im Park blieb er stehen und setzte sich auf eine Bank und sah zu, wie die Leute vorbeigingen, bis es ganz finster war. In seiner Tasche ölte der Schweiß den Handgriff des Revolvers in seiner Faust. Er stand auf und setzte seinen Spaziergang fort. Central Park West. Er bog nach Norden und überquerte auf der Dreiundsiebzigsten die Straße. Auf der Zweiundsiebzigsten bestand keine Gefahr, daß man überfallen wurde, die war zu überfüllt. Columbus Avenue. Und jetzt der finstere, lange Block zu dem Dreieck zwischen der Amsterdam Avenue und dem Broadway. Nichts. Er überquerte den Platz und sah den Broadway hinauf. Das war die Bar, in dem der Biertrinker sich über die »Nigger« beklagt hatte, die sich Unterstützung zahlen ließen. Die Vierundsiebzigste, einen Block von hier - dort hatte der Halbstarke mit dem Messer ihn von hinten angegriffen. Probier's jetzt noch einmal. Carol... Es war zu viel, um es zu ertragen. Dreiundsiebzigste und West End Avenue. Er stand unter der Straßenlaterne und blickte hinunter zu seinem Wohnhaus, zwei Blocks südlich von hier. Nichts Beunruhigendes zwischen hier und dort. Verdammt. Wo zum Teufel seid ihr? Aber er drehte um. Ging zur Vierundsiebzigsten hinauf und hinüber zur Amsterdam Avenue. Auf halbem Wege an dem Block entlang - er erkannte sogar die Treppe wieder, wo er -1 4 3 -
beinahe zusammengebroche n war, nachdem der Junge weggerannt war. Heute nacht gehörte der Block ihm allein, niemand griff ihn an. Amsterdam: Er bog um die Ecke, und seine Schritte wurden länger. In die Achtziger hinauf. Wohnviertel, in denen Weiße und Schwarze beieinander wohnten, gepflegte Eigentumswohnungen und dazwischen Mietskasernen. Er war noch nie zuvor nachts hier zu Fuß gegangen. Das Gefühl städtischer Gärung war zu stark: schwarze Halbstarke auf den Treppen vor den Häusern, alte Leute an den Fenstern. Füße, die anfingen, müde zu werden. Und kälter. Er erreichte eine Kreuzung und blickte zu dem Straßenschild empor. Neunundachtzigste und Columbus. Er bog nach Westen. Zwei junge Leute am Gehsteig - Puertoricaner in dünnen Windjacken. Okay, kommt doch. Aber sie blickten ihm nur nach. Wirke ich zu gefährlich? Was ist denn mit euch los? Sehe ich nicht aus wie leichte Beute? Traut ihr euch nur bei Frauen? Nein, es ist unfair. Reiß dich zusammen. Die sind wahrscheinlich genauso ehrlich wie du selbst. Riverside Drive. In einem der Apartments über ihm war eine Party: Der Wind wehte ihm Fetzen von Rockmusik zu; ein Papierbecher flog aus dem offenen Fenster herunter. Die Exkremente zivilisierter Vergnügungen. Einen halben Block weiter unten luden drei junge Männer Koffer in einen Volkswagen - das übliche Kettensystem: Einer trug die Koffer heraus, der nächste ging hinein, um sich die nächste Ladung zu holen, und der dritte bewachte den Wagen. Wahnsinn ist das. Niemand sollte das tun müssen. Er überquerte den Drive und ging zu den Treppen. In den Riverside Park hinunter. Die Bäume zeichneten sich silhouettenhaft vor den Lichtern ab. Verkehr floß vorbei. Er ging über die Wege, an den Spielplätzen vorbei, an den Hängen vorüber. Eine Anzahl -1 4 4 -
ausgefranster, vom Smog halb erstickter Bäume; hier war die Dunkelheit zähflüssig wie Sirup, und plötzlich spürte er eine atavistische Regung: Du bist hier, ich kann dich spüren. Du beobachtest mich, wartest auf mich. Komm doch. Aber er drang zwischen den Bäumen ein, und da war niemand. Weiter, den Weg entlang: Vor ihm das Ende des Parks, die Treppen zum Drive hinauf. Nicht weit dahinter die Zweiundsiebzigste Straße. Er dachte mit wildem Sarkasmus: All right, eine armselige Nacht zum Jagen. Aber du kommst doch wieder, nicht wahr? Er war völlig durchgekühlt; seine Füße taten weh. Er ging auf die Treppe zu. Bis zu seiner Wohnung waren es nur ein paar Blocks. Und als er auf die Treppen zuging, sah er undeutlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel, hörte die weiche, eindringliche Stimme: »He, warten Sie mal.« Paul blieb stehen. Drehte sich um. Ein großer Mann, sehr groß. Dünn, ausgemergelt, gebeugt. In eine dünne Jacke gekleidet, die an den Handgelenken zu kurz war. Ein hohläugiger Totenkopf. Schultern, die nervös zuckten. Das Haar entweder hellrot oder blond. Das Messer war ein Jagdmesser mit fester Klinge, in dem düsteren Licht böse funkelnd. »Haben Sie Geld bei sich, Kumpel?« »Vielleicht.« »Dann - dann geben Sie's her.« Das Messer kam zwei Zoll hoch. Die leere linke Hand winkte. Der Junkie leckte sich die Oberlippe, wie eine Katze, die sich wusch, rückte Paul näher. »Das ist es also«, hauchte der. »Was? He, das Geld her, Mann.« »Sie machen sich 'ne Menge Ärger.« Ein schneller Schritt nach vorn. Der Junkie ragte vor ihm auf, kaum eine Armlänge von ihm entfernt. »He, ich will Sie nicht -1 4 5 -
stechen. Also her mit dem Geld und hauen Sie ab, ja?« Die Stimme klang nervös, beinahe weinerlich, aber vielleicht war das das Rauschgift, das er intus hatte - oder das Rauschgift, das ihm fehlte; das Messer jedenfalls stand ganz ruhig da, die Klinge nach oben, die Faust am Heft mit einem Griff, dem man ansah, daß er damit umzugehen wußte. Sag nichts zu ihm. Tu es bloß. »Mann, das Geld!« Er holte ihn aus der Tasche und drückte ab, dreimal, und der Junkie taumelte zurück: Seine Hände krampften sich um die Wunden, versuchten das Blut darin festzuhalten, und das Totenkopfgesicht zeigte plötzlich einen Ausdruck schmerzlicher Entrüstung, nicht mehr Wut. Er taumelte von dem eisernen Gitter zurück und fiel auf die Seite, ohne seinen Fall mit dem Arm abzubremsen. Paul war bereit, erneut zu feuern, aber der Junkie bewegte sich nicht. Trunken taumelte er in seine Wohnung und stand schwitzend da, an allen Gliedern starr, Nadeln in den Beinen; von seinen eigenen Säften durchtränkt. »Mhm«, sagte er. »Mhm, mhm.«
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16 In der Times stand nichts davon. In den Daily News auf Seite zehn ein kurzer Abschnitt: ENTLASSENER ZUCHTHÄUSLER IM RIVERSIDE PARK ERMORDET . »Thomas Leroy Marston, vierundzwanzig, wurde gestern nacht im Riverside Park erschossen aufgefunden. Marston war vor zwei Wochen aus der Staatsstrafanstalt Attica auf Bewährung entlassen worden, nachdem er dort zweiundvierzig Monate einer fünfjährigen Strafe wegen Einbruchdiebstahls in Tateinheit mit Totschlag verbüßt hatte. Bei der Urteilsverkündung vor drei Jahren gab Marston zu, daß er heroinsüchtig war. Die Polizei lehnte eine Aussage darüber ab, ob sein Tod mit Drogen in Verbindung gestanden habe. Marston starb an drei Kugeln aus einem kleinkalibrigen Revolver. Der oder die Täter sind nicht festgenommen worden.« Die Polizei war nicht auf der Suche nach ihm. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Sie würden ihn auch nicht finden. Das konnte man spielend zwischen den Zeilen der News lesen. Die Polizei ging von der Theorie aus, daß Marston versucht hatte, einen Rauschgiftpusher übers Ohr zu hauen und daß der Pusher ihn erschossen hatte. Na schön; sollten sie doch ein paar von den Pushern festnehmen und verhören. Aber er würde in Zukunft sorgfältiger vorgehen müssen. Er hatte einige Fehler gemacht; die halbe Nacht war er mit dem Revolver vor sich auf dem Tisch im Wohnzimmer gesessen und hatte eiskalt die Vorgänge durchdacht. Es gab da einige Fehler, insbesondere Unterlassungssünden. Er hatte sich nicht überzeugt, daß Marston tot war. Er hatte sich in keiner Weise verkleidet; wenn es einen Augenzeugen gegeben hätte, wäre es ganz leicht gewesen, ihn zu identifizieren. Er war auf geradem Weg nach Hause gegangen, und es bestand die Möglichkeit, daß der Portier, wenn man ihn je verhören sollte, sich an den -1 4 7 -
Zeitpunkt erinnerte, an dem Paul angekommen war. In Zukunft - was habe ich eigentlich vor? Zum Teufel damit. Er würde sich selbst nichts vormachen. Die Straßen und Parks gehörten der Öffentlichkeit. Er hatte das Recht, sie jederzeit zu benutzen, wenn er Lust dazu hatte. Und jedermann, der versuchte, ihn anzugreifen oder zu berauben, würde sein eigenes Risiko tragen müssen. Freitag abend traf er sich mit Jack in einem Restaurant. Sie unterhielten sich über die technischen Dinge, die mit der Einweisung in die Anstalt zusammenhingen. Paul unterdrückte seine Sorge, indem er sie in Wut verwandelte; er hatte sich mit Carols Pein und seinem eigenen Verlust abgefunden; begann, weniger an seinen eigenen Schmerz zu denken und mehr an jene, die bis jetzt noch nicht die Opfer dieser gnadenlosen Stadt geworden waren. Indem er Marston getötet hatte, hatte er weiß Gott wieviele Verbrechen verhindert. Er fuhr mit einem Taxi nach Hause und starrte in den Fernseher, bis er vor dem Gerät einschlief. Samstag früh erwachte er mit Kopfschmerzen. Er hatte in der Nacht vorher nichts getrunken; er konnte seine Kopfschmerzen nicht begreifen. Wahrscheinlich die Luftverschmutzung. Er schluckte Aspirin und ging über die Straße in den Supermarkt, um sich Lebensmittel für die Woche zu kaufen. Er mußte an der Kasse Schlange stehen; die Kopfschmerzen machten ihn wahnsinnig, und er hätte sehr wohl Lust gehabt, sich mit Gewalt zur Kasse vorzudrängen. Im Laufe des Morgens ließen die Kopfschmerzen nach, aber nachmittags kamen sie zurück; er warf das Kreuzworträtsel auf den Boden und beschloß, etwas zu schlafen, vielleicht würden sie dabei vergehen. Als er erwachte, war es dunkel. Die Dunkelheit beunruhigte ihn; er stand auf und schaltete überall die Lampen ein. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, daß es beinahe neun war. Herrgott, ich kann doch nicht wieder den ganzen Abend zu Hause bleiben. -1 4 8 -
Kino? Er nahm sich die Anzeigen in der Zeitung vor; das einzige, was ihn interessierte, war die Wiederaufführung eines alten James-Bond-Filmes. Er hatte nicht die Geduld für einen intellektuellen, geistreichen Film, und alles andere war pornographischer Dreck. Die Vorstellung begann zur geraden Stunde, aber das hatte nichts zu sagen. Er fuhr mit der U-Bahn zur Fünfzigsten Straße und ging den Broadway hinunter. Er betrat den Kinosaal mitten in einer Verfolgungsjagd, suchte sich einen Platz und gab sich ganz der Choreographie der Gewalt hin. Der zweite Film endete mit einer Szene, in der jemand in einer ungeheuren Maschine zu Tode gedrückt wurde, die man normalerweise dazu benutzte, Automobile in etwa stuhlgroße Metallwürfel zusammenzupressen. Er verließ das Theater kurz vor Mitternacht, zu unruhig, um sich auch noch die erste Hälfte des anderen Films anzusehen. Nach dem Riesenaufwand an Lautsprechern im Theater schien ihm der Lärm auf dem Times Square unwirklich und leise. Er blieb stehen, um sich zu orientieren, fühlte sich seltsam, empfand ein eigenartiges Schuldgefühl: Er war nie alleine ins Kino gegangen und fühlte sich, als hätte jemand ihn beim Onanieren ertappt. Einmal, es war lange her, war er einmal ein Wochenende lang in San Franzisko gewesen und hatte auf seine Entlassung aus dem Militär gewartet; er hatte den größten Teil des Samstags und den ganzen Sonntag damit verbracht, von einer Vorstellung in die andere zu gehen. In diesen zwei Tagen hatte er elf Filme - sieben davon Wildwestfilme - gesehen. Nach sechs Monaten hinter einer Schreibmaschine auf Okinawa und nahezu zwei seekranke Wochen auf einem Truppentransporter hatte er nicht die Kraft besessen, die Sehenswürdigkeiten San Franziskos zu genießen oder die berühmten nächtlichen Vergnügungen der Stadt auszuprobieren; er war ganz in der unwirklichen Welt von Tex Ritter und John Wayne und Richard Dix und Bela Lugosi untergetaucht. -1 4 9 -
Times Square war eine offene Wunde, erfüllt von den Leibern von Huren, Touristen mit offenen Mündern, männlichen Prostituierten mit wiegenden Hüften, Männern, die sich unauffällig in Pornoläden und Pornokinos drängten. Alle paar Meter Polizisten, die paarweise gingen: aber alle bestochen, denn wenn sie das nicht wären, so hätten sie die Hälfte der Leute, die sie sahen, verhaften müssen. Dies hier war der Abschaum der Gesellschaft, die Jauchegrube der Stadt. Die ausgemergelten Gesichter verschwammen im taghellen Neonlicht zu einer einzigen Wand, und Paul bog schnell in die nächste Straße, angewidert, voll Ekel. Aus dem Flitter heraus, zur Siebenundfünfzigsten. Die Schaufenster der Autohändler, die Gruppen in guter Kleidung an den Ecken, die auf Taxis warteten, die sie von den Restaurants nach Hause bringen sollten. Ein Polizist an der Ecke, die stetige Wachsamkeit seiner Augen; Paul ging an ihm vorbei und spürte, wie es in seinem Gesicht zuckte. Ehe er es getan hatte, war er überzeugt gewesen, daß keine Gefahr bestand: Sie würden ihn nie ertappen. Aber jetzt war es geschehen. Und er stellte sich hundert Möglichkeiten vor, wie sie ihn finden könnten. Ein Augenzeuge? Fingerabdrücke - hatte er irgend etwas berührt? Er spürte, wie sein Gesicht sich rötete; er trat auf den Columbus Circle hinaus, umklammerte den Revolver in seiner Tasche. Angenommen, ein Polizist hielt ihn an und fragte ihn etwas: würde er damit fertig werden? Das Coliseum, und jetzt die attraktiven Gebäude des Lincoln Center, die aussahen, als habe ein Wunder sie vor den Bombenangriffen bewahrt, die die Umgebung in grauen Schutt verwandelt hatte. Die Stadt sah aus und mutete so an, als wäre sie okkupiert: der Weg den Broadway hinauf war wie eine geheime Patrouille hinter die feindlichen Linien, und man sah nie den dahineilenden Fremden ins Gesicht, die da mit gesenkten Köpfen an einem vorbeihuschten. -1 5 0 -
Das war es also, dachte er; er war der erste der Resistance, der erste Soldat der Untergrundbewegung. Am Montag in der Mittagspause ging er ins Village hinunter und stöberte in den Läden auf der Eight Street und der Greenwich Avenue herum und dann noch auf der Fourteenth Street. In verschiedenen Läden kaufte er einen dunklen Rollkragenpullover, eine Wendejacke, die auf einer Seite dunkelgrau, auf der anderen rot war, eine weiche Mütze, wie Taxifahrer sie zu tragen pflegten, und ein Paar zitronengelbe Handschuhe. An diesem Abend nahm er vor zehn einen Bus zur Sechsundneunzigsten Straße und betrat dort den Central Park. Die Tennisplätze lagen zu seiner Rechten; er ging an den Feldern entlang. Er trug die Kappe und das Jackett mit der grauen Seite nach außen. Komm jetzt doch. Aber er ging ganz durch den Park, ohne irgend jemanden zu sehen, abgesehen von zwei Radfahrern. Nun, heutzutage hatten alle Angst vor dem Park. Das Gesindel wußte das; es hatte seine Jagdgründe anderswohin verlegt. Er nickte bei der Feststellung - jetzt wußte er es; diesen Fehler würde er kein zweites Mal machen. An der Wand vor der Fifth Avenue bog er um den Kinderspielplatz herum und fing an zurückzugehen, aber dann fiel ein Lichtstrahl zwischen den Bäumen durch, und er sah eine reglose Gestalt auf der Parkbank, und irgend etwas löste all seine Warnsysteme aus: das kurze Haar in seinem Nacken sträubte sich, und er ging zwischen den Bäumen nach vorne, atmete langsam durch den Mund aus. Dort regte sich etwas - er hatte eine Bewegung wahrgenommen, ebenso substanzlos wie Nebel, aber sie war dort. Er blieb stehen, beobachtete. Er mußte einen Hustenanfall unterdrücken. Es war ein alter Mann, der zusammengekrümmt auf der Bank saß; wahrscheinlich ein Betrunkener. In einen alten, -1 5 1 -
ausgefransten Mantel gehüllt, ihn dicht an sich pressend. Aber das war es nicht, was Paul alarmiert hatte; da war etwas anderes. Und dann entdeckte er den Schatten. Einen Schatten, der sich langsam hinten an der Parkbank entlangschlich, aus dem toten Winkel dem Betrunkenen näherkam. Paul wartete. Vielleicht war es ein neugieriger, harmloser Passant; vielleicht sogar ein Polizist. Aber das glaubte er nicht. Das behutsame Anschleichen, das vorsichtige Schweigen... jetzt trat er ins Licht hinaus: ein Mann in enganliegenden Hosen und einer Lederjacke und einem schmalkrempigen Hut, den er schräg auf dem Kopf sitzen hatte. Er bewegte sich völlig lautlos hinten an die Bank heran und blickte auf den schlafenden alten Mann herunter. Jetzt hob er den Kopf und sah sich um: musterte prüfend den Horizont, und Paul stand wie erstarrt da, atmete nicht. Seine Finger krümmten sich um die Waffe in seiner Tasche. Der Neger schlich um die Parkbank herum, und als er den Weg betrat, war seine Hand zu sehen, und Paul hörte das leise Klicken, als das Messer aufklappte. Jetzt wird er diesen armen Betrunkenen ausrauben. Noch einmal sah der Neger sich um, dann kauerte er sich neben dem Betrunkenen nieder. Paul trat zwischen den Bäumen hervor. »Aufstehen«, ganz leise. Der Schwarze fing sofort zu rennen an, geduckt, wie er war. Rannte auf die Sicherheit zu, die die nächsten Bäume ihm boten. Paul schoß. Der Schuß ließ den Schwarzen wie erstarrt stehenbleiben: Er hielt an und drehte sich herum. Der hält mich für einen Polizisten. Nun, ich hab' dich nicht verfehlt, du Schwein. Ich wollte bloß, daß du dich 'rumdrehst, damit du sehen kannst, wie ich dich -1 5 2 -
erschieße. Er zitterte vor Wut: Dann hob er den Revolver und starrte in die Augen des Schwarzen, hart wie Glas. Der Mann hob die Hände in die Luft, ergab sich. Der Anblick seines bösen Gesichts jagte kalte Schauer über Pauls Rücken. Er trat vor, ins Licht, weil es wichtig war, daß der andere ihn sah. Ein Muskel arbeitete am Kinn des Schwarzen, dann veränderte sich sein Gesicht: »He, Mann, was soll das?« Eine Flamme schoß aus Pauls Revolverlauf; der Schuß hallte durch den Park, und der bittere Geruch von Schießpulver drang ihm in die Nase. Die Kugel bohrte sich dem Schwarzen in den Leib, zerfetzte ihn in einer Explosion von Gasen. Paul schoß noch einmal; der Schwarze fiel zurück, drehte sich um, begann auf die Bäume zuzukriechen. Es war bemerkenswert, was ein menschlicher Körper ertragen und wie er doch noch funktionieren konnte. Zweimal noch schoß er auf den Hinterkopf des Mannes. Jetzt blieb er liegen. Paul blickte zu dem Betrunkenen. Der hatte sich nicht von der Stelle geregt. Er blickte zur anderen Seite, lag zur Hälfte auf der Bank. Lebte er überhaupt? Paul ging zu dem Schwarzen hin und sah ihn an. Er hatte weiße Speicheltröpfchen im Mundwinkel. Sein Gesicht war zur Seite verzerrt, und seine Augen starrten ausdruckslos ins Leere. Sein Schließmuskel hatte versagt, und ein unverkennbarer Geruch hüllte die Leiche wie eine Wolke ein. Paul eilte zu dem Betrunkenen zurück. Der Mann schnarchte leise. Er zog sich unter die Bäume an dem Reitweg zurück. Vielleicht war ein Polizist in der Nähe. Er eilte zu dem Zaun zurück, der die Tennisplätze umgab; unmittelbar, bevor er ihn erreichte, bog er nach rechts und ging an dem mit Büschen bestandenen Abhang entlang, parallel zu dem Zaun, aber weiter unten, so daß niemand seine Umrisse sehen konnte. Alle paar Sekunden blieb er stehen und lauschte. -1 5 3 -
Die Leute hatten bestimmt die Schüsse gehört, aber niemand wußte, wo sie gefallen waren, und die meisten würden annehmen, daß es Fehlzündungen eines Lkw's gewesen waren. Niemand würde sie melden. Schüsse wurden nie gemeldet. Das einzige Risiko bestand darin, daß jemand etwas gesehen hatte. Ein vorübergehender Fußgänger, den er nicht bemerkt hatte, oder vielleicht ein weiterer Betrunkener, der versteckt zwischen den Bäumen lag. Er schlüpfte aus seinem Jackett und drehte es um, so daß jetzt die rote Seite außen war; steckte die Kappe und die Handschuhe in die Taschen. Den Revolver hatte er in die rechte Hosentasche zurückgeschoben - dort war der Revolver und vierhundert Dollar in Zwanzig- Dollar-Scheinen, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. Wenn ein Polizist aus irgendeinem Grund auf die Idee kam, ihn aufzuhalten und zu durchsuchen, so wollte Paul, daß er die vierhundert Dollar fand. Das konnte funktionieren; er wußte, wie so etwas lief. Er ging den Abhang entlang und glitt gelegentlich auf dem glitschigen Gras aus, bis er das Tor an der Sechsundneunzigsten Straße erreicht hatte. Er kam sich seiner Umwelt ausgesetzt und verletzbar vor; in der kühlen Luft schwitzte er leicht. Schwach und gebrechlich: und doch hatte er eine Befriedigung erfahren, die echt war, wirklich, hatte Gewalt ausgekostet, etwas, was die meisten Leute auch nicht entfernt erleben und nie begreifen würden... In seinem Briefkasten fand er ein vervielfältigtes Blatt Papier, das den Briefkopf der Westend-Avenue-Blockvereinigung trug. Das Blatt trug die Faksimileunterschrift eines gewissen Herbert Epstein: »Lieber Bewohner der Westend Avenue! Die Bewohner dieses Viertels machen sich begreiflicherweise ernste Sorgen um die Frage der SICHERHEIT auf den Straßen. Die Polizeistatistiken zeigen, daß Rauschgiftsüchtige und -1 5 4 -
andere gewalttätige Elemente es besonders auf die Bewohner dunkler oder schlecht beleuchteter Straßen abgesehen haben, und daß nachweisbar bessere Lichtverhältnisse auf den städtischen Straßen die Verbrecherraten um bis zu fünfundsiebzig Prozent reduziert haben. Ihre Blockvereinigung hofft, ein System besonders heller Straßenlampen für die Westend Avenue und die Seitenstraßen von der Siebzigsten bis zur Vierundsiebzigsten Straße zu kaufen und einrichten zu lassen. Städtische Gelder sind für diese Art von Installationen nicht vorgesehen. Eine ganze Anzahl von Blockvereinigungen hat bereits ihre eigene Initiative ergriffen und solche Beleuchtungssysteme für ihre Gegend gekauft. Sie kosten pro Beleuchtungseinheit dreihundertfünfzig Dollar; im Bereich unserer Blockvereinigung würden bereits Be iträge von nur sieben Dollar pro Person ausreichen, um unsere Beleuchtung so zu verbessern, daß die Verbrecher in finsterere Regionen verjagt werden könnten. Sie können Ihren Beitrag von der Steuer absetzen. Bitte spenden Sie im Interesse Ihrer eigenen Sic herheit so viel wie möglich. Mit aufrichtigem Dank Herbert Epstein.« Er ließ das Blatt offen auf seinem Schreibtisch liegen, um nicht zu vergessen, einen Scheck auszustellen. Vor Jahren hatte er an einigen Wochenenden seinen Onkel und seine Tante in Rockaway besucht. Man konnte den Rang und die Bedeutung der dortigen Mafia-Mitglieder an der Helligkeit der Scheinwerfer rings um ihre Häuser ermessen: Sie waren damals die einzigen gewesen, die Ursache hatten, um ihr Leben zu fürchten. Am Dienstag brachten sie Carol in das Sanatorium in der Nähe von Princeton. Das war das erste Mal seit Wochen, daß er -1 5 5 -
sie sah, und obwohl er sich vorbereitet hatte, gelang es ihm doch nicht ganz, seine Erschütterung zu verbergen. Sie wirkte zwanzig Jahre älter. Da war keine Spur mehr von dem fohlenhaften kleinen Mädchen mit dem süßen, eindringlichen Lächeln. Ebensogut hätte sie eine Schaufensterpuppe sein können. Jack redete pausenlos mit sanfter Stimme auf sie ein freundliche sinnlose Worte, wie man sie gebrauchte, um ein unruhiges Pferd zu beruhigen -, aber ihr war nicht anzumerken, daß sie auch nur ein Wort hörte; da war kein Anzeichen dafür, daß sie sich ihrer eigenen Existenz bewußt war, ganz zu schweigen von der irgendwelcher anderer Menschen. Dafür müssen die bezahlen, dachte er. Später, im Zug zurück zur Stadt, saß er neben Jack und blickte zum Fenster hinaus auf den peitschenden grauen Regen. Jack sagte kein Wort. Er schien von seinem nutzlosen Versuch, zu Carol vorzudringen, ausgepumpt. Paul überlegte, ob er irgend etwas Tröstendes sagen könnte, erkannte aber bald, daß es das nicht gab. Es wirkte eigenartig erleichternd auf ihn, wie sehr Jack unter all dem litt. Paul fühlte sich deshalb als der Stärkere von beiden. Er brach überhaupt nicht zusammen; er ertrug es. Aber dann wandten sich seine Gedanken nach innen, und er sah, daß er keinen Anlaß zur Selbstgefälligkeit hatte; er hatte sich sein Gleichgewicht nur deshalb bewahrt, weil ihn dasselbe Leiden erfaßt hatte, das auch Carol infiziert hatte - die Unfähigkeit, irgend etwas zu fühlen. Es war, als habe man eine durchsichtige Mauer rings um ihn erbaut - als wäre sein Empfindungszentrum gelähmt worden. Diese Mauer war seit einigen Tagen rings um ihn herum gewachsen, erkannte er. Er erinnerte sich an den Mann im Riverside Park: Das hatte ihn erschreckt; aber das war das letzte Mal gewesen, daß er echte Furcht empfunden hatte. Beim zweiten Mal - dem Mann, der den Betrunkenen hatte ausrauben wollen - hatte er sehr wenig -1 5 6 -
empfunden. Seine Erinnerung daran war seltsam fremdartig, so, als sei das Ganze eine Szene in einem Film gewesen, den er vor langer Zeit gesehen hatte. In dieser Nacht ging er wieder durch die Straßen, aber niemand griff ihn an. Um Mitternacht kam er nach Hause. Am Mittwoch früh rief er aus dem Büro Leutnant Briggs, den Detektiv von der Mordabteilung, an. Die Polizei hatte keinerlei Fortschritte hinsichtlich der Festnahme der Eindringlinge zu melden, die Joanna getötet und Carols Leben zerstört hatten. Paul brachte genügend rechtschaffene Empörung zustande, um dem Leutnant ein zusammenhangloses Gestammel von Entschuldigungen abzuringen. Als er auflegte, wurde ihm klar, wie unecht sein Ausbruch gewesen war. Er hatte impulsiv gehandelt, weil er fand, daß man das jetzt von ihm erwartete, und weil er keinen Verdacht durch auch nur eine Andeutung ungewöhnlichen Verhaltens erregen wollte. Er stellte fest, daß es ihm erstaunlich leichtfiel, eine unschuldige Rolle zu spielen: Es war leicht, der hilflose verletzte Bürger zu sein, leicht, den Menschen gerade ins Gesicht zu sehen ohne Furcht, daß verschwiegene Schuld sich zeigen würde. Wie schnell er sich doch die Gewohnheit angeeignet hatte, seine Geheimnisse zu hüten - als habe man ihm gestattet, seine eigenen Empfehlungsbriefe zu schreiben, in denen nur stand, was er hineinschreiben wollte. In dieser Nacht beschloß er, in einen neuen Teil der Wildnis einzudringen. Er nahm die Untergrundbahn zur Vierzehnten Straße und ging in die Gegend unter der Westside Highway, wo die Fernlaster parkten. Betrunkene schliefen unter den überstehenden Laderampen der Lagerhäuser; die riesigen grauen Tore zu den Lagern waren verschlossen. Auf den Seitenstraßen im Schatten der Hochstraße war die Beleuchtung sehr schwach, und die großen Überlandtrucks standen in ungleichmäßigen Reihen und blockierten zum Teil die schmalen Gänge. Die Luft war kalt und schwer; es regnete nicht, roch aber nach Regen. -1 5 7 -
Die dichte, undurchdringliche Nacht schien das Licht förmlich aufzusaugen. Er fand einen Wagen, der schräg zum Randstein stand, als habe er Motorschaden gehabt und sei von seinem Fahrer aus der Straßenmitte weggeschoben worden, damit dieser Hilfe holen könnte. Man hatte den Wagen förmlich abgenagt: Die Motorhaube war aufgeklappt, ebenso der Kofferraumdeckel, und man hatte Ziegelsteine unter die Achsen geschoben und die Räder und Reifen abmontiert. Er sah unter die Haube: Die Batterie fehlte. Das Fenster an der Fahrerseite war eingeschlagen worden. Als er sich den hochgeklappten Kofferraumdeckel ansah, stellte er fest, daß man ihn aufgestemmt hatte; man sah noch die Kratzer im Blech. Vor sechs Stunden war er vielleicht noch ein einwandfreier Wagen gewesen, mit einem kleinen Bröckel Schmutz in der Benzinleitung oder einem leeren Tank; jetzt war es ein abgenagtes Skelett, ein Wrack. Ein Klumpen heißer Wut regte sic h in seinem Bauch. Du mußt ihnen eine Falle stellen, dachte er. Dafür mußte es irgendeine Möglichkeit geben. Er ging weiter, hielt den Revolver in der Tasche fest, und nach einer kleinen Weile hatte er sich alles zurechtgelegt. Mittwoch früh rief er eine Mietwagenagentur an und bestellte sich einen Wagen, den er über Nacht zu mieten gedachte. Um halb elf fuhr er die Westside Highway hinunter bis zur Ausfahrt an der Achtzehnten Straße und klapperte dann den mit Schlaglöchern übersäten Weg zu den Lagerhäusern hinunter. An der Sechzehnten Straße rollte ein Streifenwagen der Polizei langsam an ihm vorbei. Seine Insassen musterten ihn ohne eine Spur von Interesse. Er fuhr um den Block herum und fand auf der rechten Straßenseite zwischen zwei in Doppelreihen geparkten Lastwagen einen Platz, etwas abseits von der Straßenbeleuchtung. Er parkte den Wagen schräg und kritzelte -1 5 8 -
auf einen Fetzen Papier: Benzin ausgegangen, gleich zurück und schob das Papier unter den Scheibenwischer. Autofahrer taten das häufig, um keine Strafmandate zu bekommen. Er sperrte die Türen bedächtig ab und ging weg, wobei er seine - scheinbare Wut deutlich zeigte; ging um die Ecke und um den ganzen Block herum und postierte sich dann im Schatten auf der anderen Straßenseite, so daß er den Wage n sehen konnte. Er stand zwischen den Anhängern von zwei Sattelschleppern, so daß die tiefen Schatten ihm einerseits gute Deckung, sein Platz aber gute Sicht bot. Hin und wieder fuhr ein Wagen vorbei. Zwei homosexuelle Fußgänger, deren Schritte ihre Angst beschleunigte, und die einander immer wieder berührten und lachten. Auf unbestimmte Weise widerten sie ihn an. Aber sie stellten für niemanden eine Bedrohung dar, nur für sich selbst, und er empfand nichts anderes als den Wunsch, sie gehen zu lassen. Diese Narren, dachte er, um diese Nachtstunde hier unbewaffnet herumzulaufen. Die schreien ja geradezu nach einem Überfall. Und dann überlegte er noch einmal: Das war nicht richtig. Sie hatten das Recht, hier unbelästigt zu gehen. Irgend jemand mußte die Stadt bewachen. Die Polizisten taten das offensichtlich nicht. Er hatte jetzt schon zwei Nächte lang ziemlich viel Zeit in dieser Gegend verbracht und dabei nur einen Streifenwagen der Polizei gesehen. Dann ist das also meine Sache, oder? Er mußte beinahe eine Stunde warten, aber schließlich kamen sie - zwei hagere Jungen in einem zerbeulten alten Station Wagon. Zuerst fuhren sie an dem geparkten Mietwagen vorbei. Ganz langsam fuhren sie vorbei, und der Junge auf dem Beifahrersitz kurbelte sein Fenster herunter und schob den Kopf ins Freie, um den kleinen Zettel unter dem Scheibenwischer lesen zu können. Pauls Muskeln spannten sich. Die beiden Jungen unterhielten sich angeregt, aber er konnte nicht hören, -1 5 9 -
was sie sagten; und dann schoß der Station Wagon davon und er lockerte seine Muskeln wieder. Eine halbe Stunde würde er noch warten, dann würde er nach Hause gehen. Jetzt kam er wieder die Straße herunter. Der alte Station Wagon. Rollte vor Pauls Wagen aus und kam zum Stillstand. Sie waren also um den Block herumgefahren, um sich zu überzeugen, daß keine Bullen in der Nähe waren. Sie stiegen aus dem Station Wagon und öffneten die hintere Tür. Er sah ihnen zu, wie sie Werkzeuge herausholten - eine Hebestange und noch etwas anderes. Sehr professionell. Als sie die Motorhaube seines Wagens öffneten, erschoß sie Paul beide.
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17 Am Donnerstag brachte er den Mietwagen zurück, ehe er zur Arbeit ging. Er verbrachte den größten Teil des Tages in dem Eckbüro bei Henry Ives. Sie gingen gemeinsam mit George Eng die Jainchillzahlen durch. Es bereitete ihm einige Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. George Eng gehörte zu den wohlhabenden Liberalen; er wohnte hinter den Barrikaden eines großen Apartmentgebäudes an der Park Avenue und schickte seine Kinder auf eine Privatschule. Trotzdem verbrachte er an jenem Nachmittag zwanzig Minuten damit, sich bitter über die bösen Erwachsenen zu beklagen, die von den Kindern außerhalb des Schulgebäudes Geld erpreßten und sie, wenn sie keines hatten, aus reinem Sport verprügelten. Engs jüngerer Sohn war vor ein paar Tagen blutend und hinkend nach Hause gekommen. Die Polizei hatte die Angreifer nicht feststellen können. Nicht, daß Engs Sohn irgend etwas verschwiegen hätte; er hatte sie nur nicht gekannt. Schüler aus einer öffentlichen Schule oder Halbstarke, die vorzeitig von der Schule abgegangen waren, sie lungerten oft um die Privatschulen herum und warteten auf die Schüler. Er aß mit Jack zu Abend, und sie unterhielten sich über Carol. Jack hatte sie gestern besucht; keine Veränderung. Jeden Tag wurde ihre Hoffnung geringer. Später, am selben Abend, erschoß er im East Village einen Mann, der mit einem tragbaren Fernseher eine Feuerleiter herunterkam. An diesem Wochenende hatte es nicht viel Neues gegeben. Irgendwann hatte die Polizei angefangen, Kombinationen anzustellen, und so geriet der Bericht in die SamstagabendFernsehnachrichten wie auf das Sonntags- Titelblatt der Times und in den redaktionellen Teil. EIN VIGILANT AUF UNSEREN STRASSEN? -1 6 1 -
Im Laufe der letzten zehn Tage wurden drei Männer, alle der Polizei nicht unbekannt, so wie zwei dem Rauschgiftdezernat bekannte Jugendliche an vier Stellen von Manhattan erschossen aufgefunden - alle fünf von Kugeln aus demselben Revolver getötet, wie der Erkennungsdienst der Polizei feststellte. Deputy Inspector Frank Ochoa, dem die Bearbeitung des Falles vom Freitag übertragen wurde, nennt ihn »den Vigilantenfall«. Inspector Ochoa sagt, zwischen den fünf Opfern bestehe keinerlei Verbindung, abgesehen von ihren »verbrecherischen Tendenzen« und der Tatsache, daß ballistische Untersuchungen ergaben, daß alle fünf von Kugeln aus demselben 32er Revolver getötet wurden. Aus Indizien, die sich bei der Tatortuntersuchung ergaben, stellt die Polizei die Theorie auf, daß möglicherweise alle fünf Opfer zum Zeitpunkt ihres Todes mit irgendwelchen verbrecherischen Handlungen beschäftigt waren. Drei von ihnen, darunter auch die beiden siebzehnjährigen Jungen (die einzigen zwei der fünf Opfer, auf deren Leichen man am selben Ort und zur selben Zeit stieß), wurden unter Begleitumständen aufgefunden, die diese Theorie erhärten. Die beiden Jungen wurden bei einem Station Wagon voll Werkzeuge gefunden, wie man sie zum Aufbrechen von Wagen benutzt. Das letzte Opfer, George Lambert, 22, wurde mit einem gestohlenen Fernseher am Fuße einer Feuertreppe entdeckt, die aus dem Fenster einer Wohnung führte, aus der das Gerät gestohlen worden war. Das Fenster wies deutliche Spuren eines Einbruchs auf. Die beiden anderen Opfer, die in öffentlichen Parks im oberen Manhattan aufgefunden wurden, waren vielleicht mit Rauschgifthandel oder bewaffneten Raubüberfällen beschäftigt. Beide waren mit Messern bewaffnet. Diese Tatsachen haben die Polizei zu dem vorläufigen Schluß geführt, daß eine selbsternannte Vigilantentruppe, bestehend aus einem Mann mit einem 32er Revolver, zur Zeit durch die Straßen unserer Stadt streift. » Irgendein Mann, der auf Rache -1 6 2 -
aus ist«, glaubt Inspector Ochoa. »Irgendein Verrückter, der sich für eine Ein-Mann-Polizeiaktion hält. « Inspector Ochoa hat eine Spezialeinheit auf den Fall angesetzt. »Wir fangen an, die einzelnen Indizien zusammenzutragen. Bis vor zwei Tagen waren die Fälle in verschiedenen Revieren, aus diesem Grund hat es auch so lange gedauert, die Verbindung herzustellen. Aber jetzt wird der Fall bearbeitet, und wir rechnen damit, den Mörder sehr schnell festnehmen zu können. « Am nächsten Morgen hatten sich alle Zeitungen darauf gestürzt. Inspector Ochoa stand auf der Titelseite der Times. Die Daily News widmete der Angelegenheit eine halbe Seite und befragte den »Mann auf der Straße«: »Welche Meinung haben Sie über den Vigilantenmörder?« und die sechs Antworten reichten von »Man kann ja schließlich das Gesetz nicht in seine eigene Hand nehmen« bis »Die sollten den Mann in Ruhe lassen, schließlich tut er das, was die Bullen schon lange hätten tun sollen«. Und am Nachmittag war im Leitartikel der Post zu lesen: »Mord ist keine Lösung. Der Vigilant muß festgenommen werden, ehe er weitere Opfer tötet. Unsere eindringliche Aufforderung an die Staatsanwaltschaft von Manhattan und die Polizei von New York ist es, keine Mühe zu sparen, um den Psychopathen der Gerechtigkeit zuzuführen.« Er stand mitten in der Nacht auf. Die Schlaftabletten wirkten nicht besonders gut. Er machte sich eine Tasse Tee und las die Zeitungsartikel zum zweiten Mal. Tasse und Unterteller klapperten in seiner Hand. Niemand hatte Zuspruch für ihn - er war elendiglich einsam; er wollte die Nacht nicht mit einer Frau verbringen - er wollte die Nacht überhaupt nicht verbringen. Er dachte an Ochoa und seine Spezialeinheit: Irgendwo dort draußen waren sie, ehrgeizige Männer, die auf ihn Jagd machten, anstatt die ehrlichen Bürger zu beschützen. Eine ganze Stadt, die sich selbst zerfleischte, und alles, was die Polizei tun -1 6 3 -
konnte, war, den Mann zu suchen, der sich bemühte, ihnen zu helfen. Es war kurz nach drei. Er ging nicht wieder zu Bett. Er hatte den Revolver gereinigt, seit er ihn das letzte Mal abgefeuert hatte, aber jetzt reinigte er ihn noch einmal und saß lange da und überlegte, ob er ihn weiterhin stets bei sich tragen solle. Vielleicht war es sicherer, ein Versteck dafür zu finden. Soweit ihm bekannt war, hatte er keine Spuren hinterlassen, die ihm die Polizei auf die Fersen ziehen konnten; aber die Polizei verfügte über eindrucksvolle technische Mittel, und es war durchaus möglich, daß man ihn aus irgendeinem Grund einmal verhören würde. Es würde besser sein, die Waffe nicht bei sich zu tragen. Aber es gab kein Versteck. Wenn man einmal angefangen hatte, ihn zu beargwöhnen, würde man sicherlich seine Wohnung und sein Büro durchsuchen. Und abgesehen von diesen beiden Orten gab es kein Versteck, das gleichzeitig sicher war und leichten Zugang erlaubte. Er legte sich komplizierte Pläne zurecht, die eines Edgar Allan Poe würdig gewesen wären: Er könnte einen Ziegelstein im Keller aus der Wand lösen und die Waffe dahinter verbergen - aber alles das war sehr riskant. Ein kleiner Junge könnte auf das Versteck stoßen; der Hausmeister es finden. Die Waffe war die einzig positive, unwiderrufliche Verbindung zwischen ihm und den Toten. Wenn die Polizei sie je in die Hand bekam, so konnte sie binnen kürzester Zeit beweisen, daß die Kugeln daraus abgeschossen waren, und dann war es nur noch eine Frage von Stunden, bis man ihn ausfindig gemacht hatte, weil der Händler, der sie ihm in Arizona verkauft hatte, die Fabrikationsnummer nach Washington gemeldet hatte. Halb fünf Uhr morgens. Seine Gedanken pendelten von einem Extrem zum anderen. Wenn sie ihn ertappten, würde er sich selbst töten, das war die sauberste, schnellste Art. Nein. Wenn sie ihn festnahmen, würde er vor Gericht kämpfen; er würde sich die besten Anwälte beschaffen, und die Öffentlichkeit -1 6 4 -
würde auf seiner Seite stehen. Aber es war nicht unvermeidbar, daß er festgenommen wurde. Sie hatten keinerlei objektive Gründe, ihn zu verdächtigen, solange er nur vorsichtig war. Sein Feldzug war wohlüberlegt, nicht das Ergebnis unüberlegter Zwänge; er konnte sich Ort und Zeit seiner Tat wählen, er konnte seine Aktionen auch einstellen, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Er hatte den Vorteil des freien Willens. Die Zeitungsleute hatten natürlich unrecht; er war keineswegs geistesgestört, das Ganze war kein unkontrollierter Zwang, da war nichts in ihm, was einen krankhaften Drang auslöste, unschuldige Opfer hinzuschlachten, bis er festgenommen wurde - er war kein verrückter Massenmörder, den der Haß, den er für sich selbst empfand, zwang, Strafe zu erbetteln. Natürlich bin ich verrückt, dachte er, aber nur im Vergleich mit den verrückten Normen der Gesellschaft war er nicht »normal«. Was er tat, war extrem. Doch es war nötig. Jemand mußte es tun: Jemand mußte den Weg zeigen. »Man sieht es ja bei den Kindern«, sagte George Eng. »Früher waren die gewöhnlich gegen die Polizei. Aber jetzt nicht mehr. Meine Kinder stehen ganz eindeutig auf der Seite der Polizei. Kann man ihnen das verübeln? Die Junkies rauben alles aus. Brechen in Schulen ein, holen die Rechenmaschinen und die Laborgeräte heraus, verprügeln die Kinder. Mein Sohn hat einen Freund in einer der Schulen draußen in Westchester - sie mußten die Schule diese Woche schließen. Vandalen. Sie haben das ganze Gebäude mit Feuerwehrschläuchen unter Wasser gesetzt alles ausgeraubt, auf die Stühle uriniert, die Wände mit Farben verschmiert. Ich will Ihnen etwas sagen, dieser Mann, der zur Zeit Manhattan unsicher macht und sie umbringt, leistet uns vielleicht allen einen Dienst. Wissen Sie, daß in meinem Gebäude achtundsechzig Mieter sind, von denen einundvierzig Dobermanns und Wolfshunde halten? Glauben Sie mir, so viele Hundeliebhaber gibt es nicht. Nicht wenn der Preis eines -1 6 5 -
abgerichteten Wachhundes beinahe zweitausend Dollar beträgt.« Engs Augen waren jetzt zusammengekniffen wie die eines Boxers; sein Mund war klein und böse. »Die Jugend will Gesetz und Ordnung noch mehr als wir. Die einzige Schwierigkeit bei unserem Polizeisystem ist, daß die Polizisten einen Monat brauchen, um den Polizeikommissar zu finden. Deshalb glaube ich, daß es unvermeidbar war, daß jemand wie dieser Mann auftauchen würde. Ich habe so das Gefühl, daß er selbst ein Polizist ist - einer, der unsere Gerichte mit ihren Drehtüren satt hat, durch die man die Verbrecher vorn herein und hinten wieder hinausschleust. Ich würde sogar wetten, daß er ein Polizist ist. Er weiß, daß das die einzige Sprache ist, die diese Verbrecher verstehen. Wenn er sie abschreckt - mir soll es nur recht sein. Ein paar von ihnen neutralisiert er auf diese Weise, und ich kann mir vorstellen, daß eine ganze Menge jetzt schon Angst hat, auf die Straßen zu gehen. Mich würde wirklich interessieren, wie die Verbrechensstatistiken aussehen, seit dieser Bursche seine Arbeit angefangen hat - ich möchte ein kleines Vermögen darauf wetten, daß zumindest die Zahl der Überfälle heruntergegangen ist.« Paul sah ihn über den Tisch im Restaurant an und brummte nur hin und wieder zustimmend, um zu zeigen, daß er zuhörte. Er hatte sich noch nicht entschieden, welche Richtung er in solchen Gesprächen einschlagen sollte; er wußte, daß solche Gespräche unvermeidbar waren, sollte er aber seine Handlungsweise verteidigen oder verdammen? Unterdessen hörte er sich alles sorgfältig an - achtete darauf, in welchem Tonfall gesprochen wurde. Das mußte er: Es war nicht das, was sie sagten, sondern das, was sie ungesagt ließen. Er war ein sehr feinfühliger Mensch. Er würde es merken, wenn jemand ihn beargwöhnte, aber er würde es schnell wissen müssen. Das war am schwersten von allem zu ertragen. Es gab niemand, dem er es sagen konnte. Niemand, dem er sich -1 6 6 -
anvertrauen konnte. Überhaupt niemand. Es war sehr wichtig, daß er sich kein Schema angewöhnte. Die Polizei arbeitete oft auf der Basis des Modus operandi. Sobald sie einmal ein Schema in seiner Tätigkeit entdeckt hatten, würden sie ihm Fallen stellen können. Von einer Tat zur nächsten hatte es keine Gemeinsamkeit gegeben; keine bestimmten zeitlichen Abstände, keine bestimmte Tageszeit und keine bestimmte Gegend, auf die er sich konzentriert hätte. Er dachte zurück und erkannte, daß er angefangen hatte, eine Art geographisches Schema aufzubauen. Er hatte an der oberen Westside im Riverside Park begonnen. Dann hatte er den Junkie im Central Park in der Nähe der Fifth Avenue getötet. Beide Male also ganz nahe bei seiner Wohnung. Dann war er in den Truck District an der Grenze zwischen Chelsea und dem westlichen Village hinuntergezogen. Anschließend zum East Village. Eine Art Kreis also; würden sie damit rechnen, daß er das nächste Mal in der oberen Eastside zuschlug? Abgesehen vom Times Square war das die einzige Gegend im mittleren Manhattan, wo er noch nic ht in Aktion getreten war. Das galt es also zu vermeiden. Er mußte umkehren. Das westliche Village. Hudson, Greenwich Village, Horatio, Bank Street. Er trug einen Papierbeutel mit Milch und einem Laib Brot: Jemand, der ein Paket trug, wirkte nie verdächtig. Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als er die Seventh Avenue heraufkam und an der Twelfth Street die Underground betrat. Er ließ seine Münze in den Schlitz fallen, schob sich durch das Drehkreuz und ging die Treppe hinunter zum Bahnsteig. Der Geruch war widerlich. Die Station war um diese Stunde leer; seine Füße taten weh, und er stand da, müde an die Säule mit der Uhr gelehnt, wartete auf den Zug. Er sah wie ein geeignetes Opfer aus und rechnete damit, -1 6 7 -
angegriffen zu werden, aber niemand betrat die Station. Der Zug brüllte in den Tunnel, und er stieg ein und setzte sich auf einen Platz neben der Tür. Auf dem Sitz gegenüber schlief ein uralter Wermutbruder; zwei vierschrötige Neger mit Essensträgern saßen am Ende des Wagens. Der Zug polterte durch die Station an der Eighteenth Street, ohne anzuhalten. Ein Beamter der Bahnpolizei ging durch den Wagen und hielt an, um den Wermutbruder zu schütteln und ihm einen Vortrag zu halten; Paul konnte nicht hören, was er sagte. Jetzt zog er den Mann auf die Füße und schob ihn vor sich her zum Wagen hinaus. Als die Tür sich öffnete, wehte der Lärm herein und ein kalter Wind. Die Tür schloß sich wieder halb, blieb aber dann stehen. Einer der schwarzen Arbeiter stand auf und schob sie wieder ganz zu. An der Penn Station stiegen die Arbeiter aus, und Paul war allein im Wagen. Die grünen Ampeln fegten an dem schmutzigen Fenster vorbei. Er begann, die Werbeplakate darüber zu lesen. Der Zug kam kreischend in der grell erleuchteten Times Square Station zum Stillstand, so ruckartig, daß Paul auf seinem Sitz nach vorn geschleudert wurde. Zwei Halbstarke stiegen ein und setzten sich Paul gegenüber. Radkappensammler, dachte er trocken. Sie sahen ihn unverschämt an, und einer von ihnen holte ein Taschenmesser heraus, klappte es auf und begann, sich die Fingernägel damit zu säubern. Man brauchte sie bloß anzusehen, um zu erkennen, was für Gesindel das war. Wieviele alte Frauen mochten sie schon überfallen haben? Wieviele Ladeneinbrüche mochten auf ihr Konto gehen? Der ohrenbetäubende Lärm des Zuges würde das Geräusch der Schüsse übertönen. Er könnte sie tot im Wagen liegenlassen, und man würde sie vielleicht erst irgendwo in der Bronx finden. Nein. Zu riskant. Wenigstens drei Leute hatten ihn in diesem -1 6 8 -
Abteil gesehen - der Bahnpolizist und die beiden Arbeiter. Sie würden sich vielleicht erinnern. Und was war, wenn jemand in der Zweiundsiebzigsten Straße einstieg, während Paul den Wagen gerade verließ. Eine U-Bahn war eine Falle; man konnte zu leicht in die Ecke getrieben werden. Wenn sie ihn angriffen, würde er das Risiko auf sich nehmen, andernfalls würde er sie laufen lassen. Es liegt also ganz bei euch beiden. Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie achteten nicht sonderlich auf ihn. Beide wirkten schläfrig - zu viel Heroin? Jedenfalls regten sie sich nicht, bis der Zug in die Station einfuhr. Sie waren vor Paul auf den Beinen, und er folgte ihnen über den Bahnsteig und die Treppe hinauf. Vielleicht würden sie dort stehenbleiben und ihn angreifen. Das taten sie nicht. Durch das Drehkreuz hinaus, durch die Hintertüre, quer über die Verkehrsinsel, über den Fußgängerübergang zur Ecke der Einundsiebzigsten und Amsterdam. Sie gingen in südlicher Richtung über die Straße und die Avenue hinunter, und Paul ließ sie gehen; das Polizeirevier war dort gleich um die Ecke, und außerdem war er viel zu nahe bei seiner Wohnung. Er fragte sich, ob die beiden sich wohl darüber im klaren waren, welches Glück sie gehabt hatten.
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18 Die Party in Sams und Adeles kleiner Wohnung war überfüllt; Leute standen in sich verändernden Gruppen herum, und die ganze Wohnung roch nach dem Regen, den die Gäste auf ihren Mänteln hereingebracht hatten. Trotz der draußen herrschenden Kälte lief die Klimaanlage auf vollen Touren. Es waren vier Ehepaare aus dem Büro da, und Paul kannte die meisten anderen Freunde der Kreutzers, aber da waren auch fünf oder sechs Fremde: ein neues Ehepaar aus demselben Haus, das kürzlich aus Queens eingezogen war; ein Psychiater, den Adele irgendwo auf einer Party kennengelernt hatte; ein Mädchen, das behauptete, freiberufliche Schriftstellerin zu sein und gerade einen Artikel über die Bewohner der Mietswohnungen an der Eastside zu schreiben; ein weiteres Ehepaar, über das Paul bei der Vorstellung nichts Näheres erfuhr, zu dem er aber immer wieder hinsah, weil die Frau einen harten, zusammengekniffenen Mund und der Mann die Art von unpersönlich wirkenden Augen hatte, wie man sie mit Polizeibeamten und hohen Offizieren in Verbindung brachte. Der Rest waren alte Bekannte, abgesehen von einer modern gekleideten Aktienmaklerin um die Vierzig, die Paul schon zweimal beim Mittagessen mit Kollegen getroffen hatte, und Sams Zimmergenosse aus seiner Collegezeit, der zufällig geschäftlich über das Wochenende in der Stadt war - Paul erfuhr später, daß er Leiter der Marktforschungsabteilung einer Verpackungsfirma in Denver war. Es war leicht, sie alle in dem vertrauten Schema unterzubringen und sich dann wieder mit etwas anderem zu beschäftigen - abgesehen von dem Ehepaar mit den harten Augen. Die Unterhaltung war laut und lästerlich und voll erzwungener Herzlichkeit, jeder schrie, um sich Gehör zu verschaffen; sie lenkten ihre Reden durch die Litanei zu persönlichen Fragen und Weltproblemen, über gerade laufende -1 7 0 -
Filme und Politik. Sam und Adele schlänge lten sich durch das Zimmer, füllten Gläser nach und sorgten dafür, daß die Leute sich untereinandermischten - sie waren immer schon geschickte Gastgeber gewesen; sie stellten Paul der Aktienmaklerin vor und später der Journalistin, als wollten sie sagen: »Du brauchst nur auszuwählen«, und ein paar Augenblicke später ertappte er sie dabei, wie sie das gleiche mit dem ehemaligen Zimmerkollegen aus Denver taten. Die Aktienmaklerin zeigte sich von einer neuen Seite, die er bisher noch nicht gekannt hatte - der einer geschwätzigmilitanten Geschäftigkeit für die Frauenbefreiung -, und es gelang ihm, sich schnell von ihr zu lösen. Das Mädchen, das den Artikel über die Höhlenbewohner der Eastside schrieb, war nervös und hatte die Angewohnheit, viel zu schnell nach frischen Drinks zu greifen. Sie rauchte beständig mit selbstmörderischen Zügen und blies den Rauch durch die Nase. Paul empfand sie als in gleicher Weise abstoßend wie die Aktienmaklerin und vertiefte sich in ein Gespräch mit den Dundees, bis Adele ihre Runde machte und alle zu Tisch nötigte, um sich an dem Büfett zu bedienen, das sie vorbereitet hatte. Es herrschte einige Verwirrung, ehe alle Platz gefunden hatten; sie saßen auf den Fenstersimsen und dem Boden und aßen von Papptellern, die sie auf den Knie n hielten. Sam brachte ihm einen frischen Drink. »Sei vorsichtig mit dem Zeug - da ist Wasser drin. Du weißt ja, was die immer von der Umweltverschmutzung sagen.« Paul dankte ihm und hob sein Glas. »Alles Gute zum Hochzeitstag, Sam.« Die Reden wurden lockerer; zusammengedrängt, wie sie waren, wurden die Gäste immer vertraulicher, sprachen immer offener. Langsam wurden die Männer aggressiver, und die Frauen ließen ihren amourösen Regungen freien Lauf, und das Mädchen, das für die Zeitung schrieb, sagte zu Paul: »Sie scheinen mich wirklich zu verstehen«, und griff nach seiner -1 7 1 -
Hand. Er ging ins Bad, weniger weil er das mußte, sondern weil er einen Zufluchtsort brauchte. Die Kreutzers waren Leute, die Lesestoff im Klo ließen. Da lag eine neue Ausgabe des New York Magazine, dessen Titelblatt mit Schlagzeile verkündete: Der Vigilant: von einem Psychiater porträtiert, und er schlug es auf und setzte sich auf den Thron und las über sich selbst: »Ein rechtschaffener Mann streicht durch die Straßen New Yorks. Während wir anderen dasitzen und leere Reden über die Verwaltung durch die Behörden führen und darüber, wie die Stadt langsam, aber sicher vor die Hunde geht, gibt es einen Mann, der etwas tut. Wer ist er? Was hat sein Verhalten ausgelöst? Jedermann hat eine Meinung. Für die meisten der Anwälte, die ich befragte, ist der Vigilant ein gefährlicher Außenseiter, der um kein Jota besser ist als die Verbrecher, auf die er Jagd macht. Ein Anwalt sagte zu mir: ‚Erinnern Sie sich an die Verhandlung in Alice im Wunderland, wo die rote Königin sagt: Zuerst das Urteil, dann der Schuldspruch?’ Für manche Zyniker - darunter auch einige Polizeibeamte, die ich interviewte - tut er das, was wir alle zu tun versucht sind. Deputy Inspector Frank Ochoa, der den Auftrag hat, den Vigilanten zu verhaften, zuckte die Achseln, als ich ihn fragte, was er von dem Vigilanten hielt. ,Irgendwie ist er nicht ganz bei Trost, aber ich glaube nicht, daß er total verrückt ist. Überlegen Sie doch. Sehen Sie sich selbst an. Was würden Sie tun, wenn Sie wüßten, daß man Sie nie festnehmen würde? Wir haben schon früher mit solchen Burschen zu tun gehabt. Sie halten sich für viel zu raffiniert, als daß man sie je ertappen könnte.’ Für die Liberalen ist der Vigilant ein Wesen, das einer anderen Spezies angehö rt, ein Wesen, das man überhaupt nicht begreifen kann. Für die Schwarzen in Harlem ist der Vigilant ein Rassist im Stile des Ku-Klux-Klan (und die Tatsache, daß von seinen fünf Opfern nur zwei Neger waren, spielt dabei gar keine Rolle). Für -1 7 2 -
einen dreizehnjährigen Schüler ist der Vigilant eine Art Held aus den Comics, ein Abenteurer, der die Jagd liebt, und der mit einem wehenden Umhang durch die Stadt fliegt und Rache an den Verbrechern nimmt, eine Art Batman. Für einen Streifenpolizisten in West Village ist er ein guter Bürger, der die Polizei unterstützt. Ich habe mit Theodore Perrine, dem berühmten Gerichtspsychiater, in seinem Büro in der Columbia University gesprochen. Nachdem er zuerst, wie nicht anders zu erwarten, erklärte, daß man einen Psychiater nicht ernst nehmen dürfe, wenn er versuche, einen Patienten zu analysieren, den er nie persönlich kennengelernt hat, gab Perrine, der wahrscheinlich in mehr Gerichtsverhandlungen Zeugnis abgelegt hat als irgendein anderer amerikanischer Psychiater, folgende Meinung über den Charakter des Vigilanten zu Protokoll: ,Wir leben in einer todesorientierten Gesellschaft. Wir rechnen mit dem äußersten Elend, und viele von uns sind überzeugt, daß es keine Hoffnung gibt, ihm auszuweichen. Unsere Welt ist eine Welt von Kernphysikern mit schlechtem Gewissen und jungen Leuten, die sich einfach nicht mehr vorstellen können, daß wir Probleme haben, für die es möglicherweise Lösungen gibt. Jeder einzelne von uns fühlt sich vom Lauf der Dinge persönlich betrogen - die Zukunft ist nicht länger eine rationale Fortführung der Vergangenheit; wir alle neigen dazu, uns wie Versuchstiere zu empfinden, die überhaupt nichts über die Wissenschaft wissen, nur das, was wir beobachten können, während an uns eine Vivisektion durchgeführt wird. Das ist das Milieu, in dem wir uns alle bewegen müssen, und so ist es eigentlich alles andere als überraschend, daß einige von uns dieses Milieu so ablehnen, daß wir angefangen haben, uns immer unvernünftiger dagegen aufzulehnen. In uns allen ist ein großes Reservoir an Aggressionen. Wir hassen das Verbrechen, und doch unternehmen wir nichts -1 7 3 -
dagegen. Wir beginnen zu fühlen, daß wir nicht nur anständige Menschen sind, wir sind sogar so anständig, daß wir unbeweglich geworden sind. Das ist der Grund, wesha lb ein solcher Mann unsere Phantasie so beschäftigt - er setzt Träume in die Tat um, die wir alle schon einmal geträumt haben. Er ist natürlich nicht der einzige, der sie realisiert - wir haben ja oft genug gesehen, daß es eine ganze Anzahl von Gruppen gib t, die behaupten, für oder gegen eine bestimmte Sache zu sein und es plötzlich nötig finden, das Gesetz in ihre eigene Hand zu nehmen. Terrorismus ist ein legitimiertes politisches Werkzeug geworden. In dieser Hinsicht ist das einzig Ungewöhnliche an diesem Mann, daß er ihn als Ein-Mann-Bewegung betreibt. Wäre das Ganze ein organisiertes Unternehmen wie die Jüdische Verteidigungsliga oder die Schwarzen Panther, dann würde es uns weit weniger faszinieren. Der Einzelkämpferaspekt ist es, der auf uns Amerikane r Eindruck macht. Ein Individualist dort draußen, der gegen die Kräfte des Bösen kämpft - sehen Sie, das paßt genau in unsere Mythologie. Aber davon abgesehen, trägt dieser Mann nur den vertrauten Begriff des politischen Terrorismus in die Arena des Verbrechertums.’ Ich fragte: ,Sie wollen damit sagen, daß Sie nicht glauben, daß dieser Killer wesentlich geistesgestörter ist als wir anderen?’ ‚Geistesgestört ist ein juristischer Begriff, kein medizinischer. Aber ich würde meinen, daß dieser Mann jedenfalls kein Irrer im landläufigen Sinne ist. Abgesehen von der Natur seiner Verbrechen selbst, ist an seinem Verhalten nichts inhärent Irrationales. Man könnte es als das logische Resultat einer bestimmten Folge psychologisch zu begreifender Umstände sehen. Nehmen wir zum Beispiel an, er sei ein Kriegsveteran, der kürzlich aus Indochina zurückgekehrt ist, wo die GIs es als selbstverständlich betrachten, jemanden, der einem das Leben schwermacht, umzubringen. In Südostasien ist das eine Selbstverständlichkeit geworden, da regt sich niemand mehr darüber auf.’ -1 7 4 -
,Wollen Sie damit sagen, daß er ein Vietnam- Veteran ist?’ ,Nein. Er könnte einer sein, aber wir haben keinerlei Beweise dafür. Wenn meine Vermutung zutrifft, könnte man leicht erkennen, daß er ganz einfach das Wertsystem, das er dort gelernt hat, auf die Situation überträgt, die er hier vorfindet.’ ,Sie sagten, Sie hätten das Gefühl, der Vigilant würde Träume realisieren, die viele von uns teilen. Glauben Sie, das bedeutet, daß seine Handlungen andere Leute dazu veranlassen werden, das gleiche zu tun?’ ,Das erwarte ich, jetzt, da sie das Beispiel dieses Mannes haben.’ ,Dann sagen Sie, daß wir alle dazu fähig sind - daß es nur eine Frage des Ausmaßes ist?’ ,Ganz und gar nicht. Es gehört eine psychopathische Persönlichkeit dazu - ein Typ, der fähig ist, all das zu unterdrücken, was wir als die zivilisierten Hemmungen bezeichnen. Schuld, Angst, gesellschaftliche Regeln, die Angst vor dem Ertapptwerden.’ ,Dann vermag er also Recht nicht von Unrecht zu unterscheiden, meinen Sie das? Die juristische Definition der Geistesgestörtheit?’ ,Nein. Ich bin sicher, daß er Recht sehr genau von Unrecht unterscheiden kann. Er ist wahrscheinlich ein sehr viel größerer Moralist und sehr viel weniger ein Heuchler als die meisten von uns.’ Dr. Perrine ist ein hochgewachsener Mann, kahl, mit dünnem, weißem Mönchshaar, das seinen Schädel über den Ohren umgibt. Er spricht mit großen Gesten; seine Hände beschreiben beim Reden weite Bögen. Von ihm geht die Macht einer großen Persönlichkeit aus; es ist leicht zu begreifen, weshalb er bei dramatischen Gerichtsverhandlungen als Zeuge so gefragt ist. An diesem Punkt in unserem Interview zog er seinen Stuhl näher zu mir heran, beugte sich vor und tippte mir aufs Knie. ,Er -1 7 5 -
hat weniger Hemmungen, das ist der entscheidende Faktor. Er teilt diese Eigenschaft mit den Verbrechern, die er tötet. Die meisten von uns zeigen gelegentlich eine solche Reaktion - wir sehen, wie ein Verbrechen stattfindet, oder wir hören von einem, und wir denken bei uns: Ich hätte das Schwein umgebracht. Aber wir töten niemanden. Wir sind dagegen konditioniert, und wir halten es für falsch, auf die Ebene des Verbrechens hinunterzusteigen, weil es einen Unterschied geben muß zwischen uns und denen. Schauen Sie, die meisten von uns fühlen sich ganz wohl, solange sie nicht wissen, daß das Schlimmste passiert ist. Wir können so tun, als ob. Wir können diesen Hochseilakt fortsetzen, weil wir genügend Sperren gegen die Hoffnungslosigkeit aufgebaut haben, die diese Gewalttätigkeit in unserer Gesellschaft auslöst. Die meisten von uns wollen die Dinge gar nicht wissen, die diesen Mann dazu veranlaßt haben könnten, seine Mitmenschen zu töten.’ Dr. Perrine schränkte sein professionelles Lächeln etwas ein; seine Worte fielen jetzt schwer, langsam und wichtig, als hielte er einen Vortrag vor Studenten im ersten Studienjahr. ,In Wirklichkeit ist er ein umnachteter Idealist; ich würde annehmen, ein Mann, der Ungerechtigkeit und Frustration in unerträglichem Maße erlebt hat. Und das, was er erlebt hat, hat ihn dazu gebracht, die Verbrecher so zu hassen, daß er bereit ist, sich selbst zu vernichten, wenn er auf diese Weise einige von ihnen mitnehmen kann. Für ihn ist das eine fixe Idee; er ist von Wut und Zorn erfüllt und hat einen Weg gefunden, seine Wut in die Tat umzusetzen. Und dieser krankhafte Haß motiviert ihn. Aber ich sehe keine Anzeichen dafür, daß dieser Haß seine Fähigkeit zum logischen Denken beeinträchtigt hätte. Nehmen Sie zum Beispiel die Tatsache, daß all seine Opfer oder zumindest alle, die wir kennen - mit demselben Revolver getötet worden sind. Nun ist es unglücklicherweise gar nicht so schwer, sich Waffen zu verschaffen. Er hätte leicht jedesmal eine andere Mordwaffe benutzen können. Das hat er nicht getan. -1 7 6 -
Warum? Weil er will, daß wir wissen, daß er dort draußen ist. Das ist eine Botschaft für die Stadt, ein Warnruf.’ ,So wie die Telefonanrufe dieses verrückten Mörders in San Franzisko, die sagten Kommt und holt mich?’ ,Nein. Sie meinen den Tierkreismörder. Nein, den würde ich wirklich für einen Psychotiker halten. Wahrscheinlich hat der einen geladenen Revolver an seine Schläfe gehalten und festgestellt, daß er es nicht fertigbrachte, abzudrücken; und seitdem läuft er herum und sucht jemanden, der es für ihn tun will. Nein, unser Mann hier handelt nicht selbstzerstörerisch oder, um es präziser auszudrücken, das ist nicht sein dominierendes Motiv. Was er zu tun versucht, ist, uns andere auf eine Gefahr hinzuweisen, von der er glaubt, daß wir sie nicht genügend beachten. Er sagt uns, daß es falsch ist, den Kopf in den Sand zu stecken und vorzugeben, daß man nichts gegen das Verbrechen auf den Straßen tun kann. Er glaubt, daß es etwas gibt, das wir tun können - und er glaubt uns zu zeigen, was es ist.’ ,Das ist eigentlich wie das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, nicht wahr? Die Legende hat nur deshalb einen Wert, weil in ihr ein naives, ehrliches Kind vorkommt, das offen und genügend enthemmt ist, um zu verkünden, daß der Kaiser keine Kleider trägt. Sobald es einmal kein einziges ehrliches Kind mehr gibt, das die Wahrheit verkündet, verliert das Märchen seinen Sinn.’ Diesmal ist Dr. Perrines Lächeln abschätzig. ,Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, daß ich in diesem Manne einen tapferen Retter sehe, der das Verbrechen in dieser Stadt zurückhält, so wie ein Junge, der seinen Finger in den Deich steckt. Zu viele Leute fangen an, ihn auf diese Weise zu verherrlichen. In Wirklichkeit leistet er nur seinen Beitrag zur Vermehrung der Anarchie, von der wir weiß Gott schon mehr als genug haben. -1 7 7 -
Von ihrer praktischen Wirksamkeit aus gesehen, haben diese Morde, die er verübt hat, genauso viel Wirkung auf die Verbrecherstatistik im großen, wie man erreichen könnte, wenn man einem tollwütigen Wolf zwei Aspirintabletten verabreichte. Ich hoffe, Sie werden diesen Punkt in Ihrem Artikel hervorheben. Es hat keinen Sinn, die Handlungen dieses Mannes zu billigen, es hat keinen Sinn, sie moralisch aufzuwerten. Der Mann ist ein Mörder.’ ,Ich habe in diesem Zusammenhang gehört, daß der Vigilant weniger Wert darauf legt, Menschen zu töten, als ihnen beim Sterben zuzusehen. Es heißt, wenn er wirklich Gerechtigkeit will, warum fährt er dann nicht mit einer Infrarotkamera durch die Straßen und nimmt Photos von diesen Verbrechern bei der Ausübung ihrer Tat auf, anstatt sie totzuschießen?’ ,Ich habe dasselbe gehört, selbst von einigen meiner eigenen Kollegen. Aber ich glaube, diese Ansicht geht am Wesentlichen vorbei. Wir haben es hier mit einem Mann zu tun, der etwas Schreckliches erlebt hat, was ihm persönlich sehr naheging. Ich möchte annehmen, daß dieser Mann bereits versucht hat, die formelle Justiz einzuschalten, aber ohne Erfolg. Ihm ist es nicht wichtig, Verbrecher vor Gericht zu bringen, ihm ist es wichtig, drohende Gefahren sofort abzuwenden - indem er die Übeltäter in der endgültigsten Art, die ihm zur Verfügung steht, entfernt.’ ,Sie glauben, daß er vielleicht das Opfer eines Verbrechens war und miterleben mußte, wie der Täter straffrei ausging, oder so etwas?’ ,Durchaus möglich. Ja. Wenn Sie unsere Gerichte überhaupt kennen, haben Sie bestimmt schon Fälle erlebt, wo die Anklagevertretung monatelang etwas aufgebaut hatte, was dann von einem einzigen fehlgeleiteten Zeugen vom Tisch gefegt wurde, einfach weil er die Krawatte des Anklägers nicht mochte oder eine Schwester hatte, die der Mutter des Angeklagten ähnlich sah. Unser ganzes Gerichtssystem ist in Scherben, das wissen wir alle. Die Strafe muß, um abschreckend zu wirken, -1 7 8 -
unverzüglich und unparteiisch erfolgen, und keines von beiden ist bei unseren Gerichten der Fall. Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß dieser Mann das aus erster Hand weiß; wahrscheinlich war er selbst ein Opfer dieser sogenannten Gerechtigkeit.’ Für einen Psychiater scheint Dr. Perrine einige sehr unorthodoxe Vorstellungen zu haben. Ich frage also: ,Ist es denn nicht für Angehörige Ihres Berufes üblicher, sich auf die Seite der Angeklagten zu schlagen? Das Verbrechen ist eine Krankheit, die behandelt werden muß - und so weiter?’ ,Ich halte von diesen Schlagworten nichts. Persönlich neige ich zu der Ansicht, daß diese humanitäre Gefühlsduselei die Leiden unserer Gesellschaft, als Ganzes betrachtet, eher verstärkt hat. Wir haben Gesetze, weil wir uns schützen müssen. Diese Gesetze brechen heißt die Gesellschaft verletzen. Ich habe schon lange aufgegeben, an die therapeutische Lösung des Problems zu glauben, abgesehen von jenen Fällen, wo eindeutig heilbare irregeleitete Verhaltensweisen vorliegen - so zum Beispiel gewisse Sexualverbrechen, die nachgewiesenermaßen durch Drogenbehandlung oder Psychotherapie geheilt werden können. Aber wir sind viel zu weit gegangen, sind Gefahr gelaufen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Funktion der Strafe ist es nicht, den Verbrecher zu reformieren, sie soll vielmehr die Gesellschaft schütze n, indem sie bestimmte Arten von Fehlverhalten vermeidet oder abschreckt. Die ursprüngliche Idee, aus der heraus Übeltäter ins Gefängnis gesteckt wurden, war ganz einfach, sie von der Straße wegzuholen und sie damit zu hindern, für die Zeit ihrer Haft weitere Verbrechen zu begehen. Theoretisch war es mit der Todesstrafe dasselbe, nur daß sie natürlich dauernde Wirkung hatte. Meine Vermutung ist, daß das auch das Hauptziel unseres Vigilanten ist - diese Leute daran zu hindern, weitere Verbrechen zu begehen. Das erste Ziel des Schutzes der Gesellschaft scheint das zu sein, was viele von uns in unserem Bestreben, die Rechte des Angeklagten zu -1 7 9 -
schützen, vergessen haben - und vielleicht ist es das, woran uns dieser Mann zu erinnern versucht.’ Dr. Perrine schob seinen Sessel zurück und stand auf. Er sprach jetzt wieder langsam und wählte seine Worte sorgfältig; er war ganz bewußt aufgestanden. Sicherlich sollte das dem, was er sagen würde, besonderen Nachdruck verleihen. ,Dieser Mann hat sein Leben als Liberaler mit gutem Gewissen verbracht. Davon bin ich überzeugt. Und jetzt reagiert er gegen viele Dinge, die man ihn gelehrt hat - und unter diesen Dingen ist die Idee der Toleranz die wichtigste. Er hat begriffen, daß Toleranz nicht immer eine Tugend ist die Toleranz, die Erduldung des Bösen, kann selbst etwas Böses sein. Er fühlt sich im Kriege, und, wie Edmund Burke es ausgedrückt hat, ,Kriege sind für jene gerecht, für die sie notwendig sind’; für diesen Mann ist sein privater Krieg die äußerste Notwendigkeit. Sonst hätte er eben diesen Krieg nicht begonnen - er hätte zu viel Angst gehabt. Er ist ein sehr verängstigter Mann.’ ,Ich hatte das Gefühl, daß genau das Gegenteil der Fall sei. Man hat den Eindruck, daß er statt Nerven Stahlseile hat.’ ,Keineswegs. Er ist verängstigt. Nur ist seine Wut noch größer als seine Furcht.’ ,Glauben Sie, daß seine Furcht wirklich oder nur eingebildet ist?’ ,Furcht ist immer etwas Wirkliches. Die Frage ist nur, ob sie von den tatsächlichen Umständen bestätigt wird. Wenn dem nicht so ist, haben Sie es mit Paranoia irgendeiner Art zu tun’ ,Dann ist er paranoid?’ ,Die meisten von uns sind das in einem gewissen Ausmaß, ganz bestimmt, wenn wir in den Städten leben. Gewöhnlich kommen wir damit durch, unsere neurotischen Sperren schützen uns. Aber manchmal versagen diese Sperren, und das Ego bricht -1 8 0 -
zusammen, und die unbewußten Ängste überfluten die Bewußtseinszentren. Ich bin überzeugt, daß es für diesen Mann eine lebenswichtige und sehr persönliche Tatsache und nicht nur eine Ziffer aus einer Statistik ist, daß die Heroinsüchtigen in New York der Polizei um ein Tausendfaches überlegen sind.’ ,Dr. Perrine, wenn man Sie auffordern würde, mit Ihren Worten eine psychologische Kennzeichnung des Vigilanten zu geben, was würden Sie sagen?’ ,Das ist schwierig. So viel hängt von Faktoren ab, die wir nicht kennen - von seiner Erziehung, von dem, was er erlebt hat. Aber ich glaube, das kann man sagen: er ist sorgfältig, methodisch, ziemlich intelligent. Wahrscheinlich ein in gewissem Grade gebildeter Mann. Ganz bestimmt ist er nicht sehr jung. Ich würde sagen, daß er mindestens Mitte dreißig, wahrscheinlich sogar über vierzig ist.’ ,Was veranlaßt Sie zu dieser Meinung?’ ,Nun, ich sehe da eine gewisse Analogie zu unseren gefühlsmäßigen Reaktionen auf den Weltraumflug. Die Angehörigen meiner Generation sind von der ganzen Sache ziemlich mystifiziert, wir geben gar nicht erst vor, das gefühlsmäßig zu begreifen, obwohl wir vielleicht den wissenschaftlichen Hintergrund verstehen. Kinder andererseits nehmen Weltraumflüge als etwas Selbstverständliches hin meine jüngere Tochter zum Beispiel hat nie in einer Zeit gelebt, in der es nicht Weltraumflüge im Fernsehen gegeben hätte. Vor einer Weile hat sie mich ganz ernsthaft gefragt: ,Daddy, als du früher Radio gehört hast, was hast du denn dabei angesehen?’ Wissen Sie, daß ich mich daran nicht erinnern konnte? Aber worauf ich hinaus will, ist, daß die jungen Leute sich bereits an sich verändernde Bedingungen und instabile Werte gewöhnt haben. Es mag sein, daß sie die Dinge nicht mögen, die sie mit ansehen, es mag sogar sein, daß sie gewalttätig werden, um ihren Idealismus auszudrücken, aber tief im Grunde begreifen sie die Tatsachen und nehmen auch hin, daß diese Dinge -1 8 1 -
geschehen. Wenn sie handeln, handeln sie in Gruppen, weil dies das dominierende Ethos ist. Man findet keine einzelnen Teenager, die sich in die Wälder zurückziehen, um ‚biologisch’ Gemüse zu züchten; sie tun das in Kommunen. Man findet keine Individuen, die vor dem Pentagon gegen den Krieg protestieren - es sind immer Gruppen, und seien sie auch noch so schlecht organisiert. Unsere Jugend ist gruppenorientiert geworden; vielleicht ist das der Einfluß des Marxismus. Und der Individualismus, wenn Sie es so nennen wollen, der Individualismus, den dieser Mann vertritt, ist etwas, das unsere Jugend vehement abgelehnt hat. Und es ist mir auch ziemlich klar, daß der Mann von all den drastischen Dingen, die er um sich sieht, beunruhigt und verletzt ist - er begreift sie nicht, er kann nicht begreifen, was gesche hen ist, geschweige denn, es hinnehmen. Er wehrt sich, aber er tut es in der Tradition seiner Generation - nicht ihrer.’ ,Dann sagen Sie also, Sie würden das Bild eines Mannes in mittleren Jahren zeichnen, ziemlich gut ausgebildet, sorgfältig, intelligent. Könnten Sie noch etwas hinzufügen?’ ,Nun, ich sagte bereits, daß er meiner Ansicht nach wahrscheinlich ein verwirrter Liberaler ist. Wäre er ein Rechter, hätte er Zugang zu ähnlich denkenden Gruppen, und wir hätten es wahrscheinlich mit einer ganzen Welle von Morden zu tun eine ganze Bande wäre draußen und auf den Straßen und würde Menschen töten, nicht nur ein einziger auf sich gestellter Mörder. Das ist natürlich das Eigenartige an den Ultrarechten, sie predigen den Individualismus, verstehen es aber viel besser, sich zu organisieren, als die Linken. Und ich würde noch hinzufügen, daß er wahrscheinlich allein ist - wirklich allein -, und daß diese Situation etwas Neues, Unerwartetes in seinem Leben ist. Das heißt, mit hoher Wahrscheinlichkeit ist ihm erst vor ganz kurzer Zeit die Familie genommen worden. Vielleicht von Verbrechern getötet. Das ist nur eine Vermutung - alles, was ich sage, ist bloße Vermutung. Aber das würde einiges -1 8 2 -
erklären, wissen Sie. Wir alle kennen Leute, die an dem Tag, an dem sie geschieden werden, alle ihre Hemmungen zu verlieren scheinen. Sie tun Dinge, von denen sie, als sie noch verheiratet waren, nicht einmal geträumt hätten.’ ,Sie scheinen überzeugt zu sein, daß der Vigilant ein Mann ist. Ist es nicht möglich, daß es sich um eine Frau handelt?’ ,Das ist weniger wahrscheinlich, obwohl es möglich ist. Frauen greifen wesentlich seltener zur offenen Gewalt als Männer. Der Revolver ist keine weibliche Waffe.’ ,In der Presse ist einige Male darauf hingewiesen worden, daß die Mordwaffe eine 32er ist. Das ist ein ziemlich kleines Kaliber - früher nannte man das Damenrevolver.’ ,Das kann auch eine praktische Frage sein. Ein kleinkalibriger Revolver macht viel weniger Lärm als ein 45er, wissen Sie. Aber mein persönlicher Eindruck ist, daß es ein Mann ist, der im Umgang mit Feuerwaffen nicht geübt ist. Mit einem kleinen Revolver kann man viel leichter umgehen. Etwas genauer, weniger Rückstoß und Lärm, und außerdem kann man ihn natürlich leichter in der Tasche verstecken.’ Sonst gab es nicht mehr viel zu sagen. Aber wenn Dr. Perrine recht hat - und die Reputation hatte er -, dann halten Sie Ausschau nach einem Liberalen in mittleren Jahren, einem Angehörigen der Mittelklasse, der gerade seine Familie verloren hat, wahrscheinlich durch ein Verbrechen. Es könnte jeder sein, nicht wahr? Jemand, den ich kenne, jemand, den Sie kennen. Es könnten sogar Sie sein.«
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19 Das Wochenende verbrachte er in seiner Wohnung, nur am Sonntag fuhr er mit Jack nach Princeton. Die Predigten des Psychiaters hatten ihn beeindruckt; bis zu welchem Grade ließ sich die Polizei von seiner Meinung leiten? Würden sie auf die Idee kommen, jeden Mann in mittleren Jahren zu verhören, dessen Frau Opfer eines ungeklärten Verbrechens geworden war? Wieviele Männer wie ihn gab es? Der Revolver war das einzig echte Beweisstück, das sie finden konnten. Er sollte ihn verstecken. Aber er brauchte ihn: ohne ihn würde er für jeden Junkie, der seinen Fix brauchte, leichte Beute sein. Ohne ihn würde er aufs neue nur in Angst durch die Straßen der Stadt gehen können. New York war die einzige Stadt, die er kannte, in der es die wohlhabenden Bürger, die ehrlichen Leute waren, die in Gettos eingepfercht waren. Durch die meisten Stadtviertel konnte man des Nachts nicht unbewaffnet gehen; durch einige konnte man sogar des Tags nicht unbewaffnet gehen. Er mußte es riskieren. Es war besser als die Angst. »George Eng hat angerufen«, sagte Henry Ives. Er saß da und hatte die Augen zusammengekniffen, als sähe er in ein grelles Licht. Den alten Kopf hatte er etwas gesenkt. Paul saß nach vorne gebeugt da, die Arme auf die Knie gestützt. Er spürte, wie die Muskeln und Nerven in seinem Gesicht zuckten, wie die Sorge an seinem Mund zerrte: Ich hab' einen Fehler gemacht, dachte er. Irgendwo habe ich Mist gebaut. In Ives' Lächeln lag keine Spur einer Drohung, aber Paul spürte eine eisige Kälte. Eine Ader pochte über Ives' Brauen, zeichnete sich ganz deutlich auf seiner Stirn ab, als ärgere der andere ihn. Paul kniff den Mund zusammen und atmete tief durch die -1 8 4 -
Nase. Nach einem Schweigen, das seine Nerven beinahe zum Zerreißen gebracht hätte, hörte er Ives mit seiner kühlen, präzisen Stimme sagen: »Sie haben in dieser Jainchillsache gute Arbeit geleistet, Paul. George ist Ihnen sehr dankbar. Er ist nach Arizona unterwegs, um den Handel für Amercon perfekt zu machen. Er hat mich gebeten, Ihnen in seinem Namen zu gratulieren - wir alle wissen, unter welchem Druck Sie standen. Es gehört eine gehörige Portion Kraft dazu, so durchzuhalten, wie Sie das getan haben.« Paul richtete sich erleichtert auf; er bemühte sich, bescheidene Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. »Offen gesagt«, meinte Ives, und seine Augenbrauen zogen sich streng zusammen, »offen gesagt, haben wir Sie beobachtet, um zu sehen, wie Sie durchhalten. Ich kann jetzt gestehen, daß es einige gab, die meinten, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Sie anfangen würden, drei Martinis zum Mittagessen zu nehmen und die Arbeit verkommen zu lassen. Ich persönlich war der Meinung, daß Sie aus besserem Holz geschnitzt seien, aber ich habe mich von den anderen Partnern überreden lassen, abzuwarten. Ich kann Ihnen jetzt sagen, daß Sie die Prüfung mit Glanz bestanden haben.« Prüfung? Nach einigem Zögern brachte Paul nur ein »J-ja?« hervor. »Wir sind heute morgen in Mr. Gregsons Büro zusammengesessen. Ich habe den Vorschlag gemacht, daß wir Sie auffordern, sich der Firma als voller Partner anzuschließen. Es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß mein Vorschlag einstimmig angenommen wurde.« Paul hob überrascht den Kopf. Ives' Stimme wurde jetzt so leise, daß man sie kaum mehr zu hören vermochte, eine onkelhafte Vertraulichkeit schwang jetzt in ihr mit. »Wir sind alle der Meinung, daß Sie es verdienen, -1 8 5 -
Paul.« Er stemmte sich in die Höhe, schlurfte um seinen Schreibtisch herum und streckte ihm strahlend die Hand entgegen. Am Abend las er das Interview mit dem Psychiater noch einmal; er hatte sich an dem Zeitungskiosk an der Zweiundsiebzigsten Straße das Blatt gekauft und dabei dasselbe Gefühl gehabt, an das er sich aus seiner Juge ndzeit erinnerte, wenn er sich verbotene Abenteuerhefte gekauft hatte; die verstohlene Hast, die schnell hingeschobenen Münzen. Der Psychiater kam in seiner Zusammenfassung der Wahrheit unangenehm nahe. Bis zu welchem Grad traf der Rest seiner Überlegungen zu? Was für eine Art von Monstrum bin ich? Er studierte sich im Spiegel. Sein Gesicht wirkte abgehärmt; er hatte ungesunde, aufgedunsene Stellen unter den Augen. .....etwa die gleiche Auswirkung auf die Verbrecherrate, wie Sie sie bekommen würden, wenn Sie einem tollwütigen Wolf zwei Aspirintabletten verabreichten. Nun, das stimmte nicht. Er hatte die ganze Stadt aufgerüttelt. In allen Zeitungen, allen Fernsehberichten war davon die Rede. Das war das einzige Thema, über das man sprach. Die Polizisten bekannten öffentlich, daß sie dem Vigilanten Beifall spendeten. Und heute, in der Post ein Bericht über einen puertoricanischen Jungen - einen rauschgiftsüchtigen, mit zahlreichen Eintragungen in der Verbrecherkartei -, man hatte ihn in einer Gasse neben eine r Schule in Bedford-Stuyvesant gefunden, erstochen. Das bestärkte den Bericht von vor drei Tagen über einen Mann, den man an der Siebenundneunzigsten Straße, von drei 22erKaliber-Kugeln getötet, aufgefunden hatte - einen Mann, der schon zweimal wegen bewaffneten Überfalls Gefängnisstrafen verbüßt hatte; man hatte ihn mit einer automatischen Pistole in der Tasche gefunden. Und die Reporter überlegten: Ist dem Vigilanten seine 32er zu heiß geworden - hat er sie vertauscht? -1 8 6 -
Aber diese Taten hatte Paul nicht verübt; er hatte Nachahmer bekommen. Habe ich genug getan? Er mußte an zahllose Cowboys in zahllosen Westernfilmen denken, die nichts anderes wünschten, als ihre Revolver an den Nagel zu hängen. Aber so ging es nicht. Das war kein Western, wo am Ende alle Bösen tot waren. Die Bösen dieser Stadt waren immer noch am Leben und machten die Straßen unsicher. Das würden sie immer tun. Man konnte sie nicht alle töten. Aber das war keine Entschuldigung dafür, aufzugeben. Das wichtigste - das allerwichtigste war, zu wissen, daß man nicht aufgeben würde. Vielleicht gab es keine Sieger, vielleicht gab es nur Überlebende; vielleicht würde am Ende die Flamme verlöschen, so wie ein stinkender Kerzenstummel. Vielleicht war das Ganze nur Solipsismus, und all das war für niemanden wichtig, außer für ihn selbst. Aber was für einen Unterschied machte das? Er rief Jack an. »Hast du heute mit ihnen gesprochen?« »Ja. Keine Veränderung. Ich glaube, wir müssen lernen, damit zu leben, Pop.« »Ja, wahrscheinlich.« Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, schlüpfte er in seine Wendejacke und griff nach seinen Handschuhen, berührte den Revolver in seiner Tasche und sah auf die Uhr - elf Uhr zehn und verließ seine Wohnung.
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20 Von den Bäumen des Central Park blickte er über die Einhundertzehnte Straße hinüber auf die schäbigen Läden und Wohnungen. Wahrscheinlich benutzten die Rauschgiftsüchtigen die Hälfte davon als Schießplätze. Der eisige Wind fuhr ihm durch alle Glieder; er zog das Gesicht ein, die Schultern hoch und starrte nach Harlem hinüber. Der Verkehr bewegte sich in mürrischen Sprüngen unter den Ampeln hindurch. Er ging im Park am Rand der Bäume entlang. Die Lichter der höheren Gebäude bewegten sich mit ihm außerhalb der Baumwipfel. Er trat auf die Fifth Avenue hinaus und überquerte sie und ging dann die Einhundertelfte Straße in östlicher Richtung entlang, über die Madison Avenue und den dunklen, übelriechenden Block bis hin zu der Barrikade, die die auf ihrem Steinsockel verlaufenden Schienen auf der Park Avenue bildeten. Wie die Berliner Mauer, dachte er. Er bog nach Norden in das Getto, die Wand zu seiner Rechten und die Slumwohnungen zu seiner Linken. Er war nachts nie in dieser Gegend gewesen; auch am Tage war er nur ein paarmal in seinem Leben hier durchgekommen, und dann nur im Wagen oder im Zug. Es wirkte wie eine ausländische Stadt auf ihn, da war nichts von New York: die Gebäude waren niedrig und massiv, da war kein geschäftiger Verkehr, keine Fußgänger. Nicht einmal Betrunkene schliefen hier auf den Treppen; wahrscheinlich wußten sie, daß das sicherem Selbstmord gleichkam. Das war der Gegenpol zum Times Square, und doch war das Gefühl des Bösen, das über allem lastete, dasselbe. Der eisige Wind ließ die Gegend noch dunkler erscheinen; gelegentlich segelte eine Schneeflocke durch die Luft; seine Absätze hallten über das Pflaster, und er kam sich vor wie ein einzelner Überlebender, der die Straßen einer toten, verlassenen -1 8 8 -
Stadt durchsucht. Er sah ihre Silhouette auf dem Dach eines vierstöckigen Mietshauses: die sich bewegenden Schatten einer Gruppe von Menschen - drei oder vier, er konnte es nicht genau feststellen. Sie kamen immer wieder an den Rand und beugten sich nach vorne, um hinunterzusehen. Sie erinnerten ihn an die Fahrgäste in U-Bahn-Stationen, die sich über den Bahnsteig hinausbeugten, um zu sehen, ob die Lichter des Zuges im Tunnel auftauchten. Das ließ ihn erkennen, wonach sie Ausschau hielten: nach demselben - einem Zug. Er hatte von diesem Spiel gehört. Ein böses, gefährliches Spiel. Er schob sich dicht an die Wand heran und arbeitete sich auf die Ecke zu. Er hielt inne, ehe er sie erreichte; hielt sich dem Lichtkegel der Lampe an der Ecke fern, blieb im Schatten, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Dach. Er glaubte, das ferne Poltern des Zuges zu hören, vielleicht war es aber auch nur das Summen der Stadt. Er beobachtete sie auf dem Dach und begann, sie einzeln wahrzunehmen. Halbwüchsige Jungen, wenigstens drei von ihnen, und da war auch ein Mädchen, das gelegentlich zu sehen war. Sie schienen immer wieder auf dem Dach nach vorne zu gehen, und er erkannte, daß sie etwas aufhoben und nach vorne brachten, an den Rand, es dort aufstapelten. Munition. Undeutlich hörte er ihr nasales Lachen. Von seinem Standort aus schienen sie schrecklich weit über ihm zu sein, aber in Wirklichkeit handelte es sich nur um etwa siebzig Fuß - die Breite der Straße und die halbe Höhe des Gebäudes -, wenn man im rechten Winkel maß; Pauls Sichtlinie bildete die Hypotenuse. Er hatte noch nie jemand auf solch weite Distanz erschossen; er erinnerte sich, gehört zu haben, daß es schwierig war, im -1 8 9 -
steilen Winkel nach oben zu schießen. Er würde sehr sorgfältig vorgehen müssen. Wenigstens vier waren es; das mußte er auch mit ins Kalkül ziehen. Er griff in seine Jackentasche, wo er Ersatzpatrone n hatte, zählte sie hastig mit den Fingern - zehn. Die und die fünf, die er in der Trommel seines Revolvers hatte. Er konnte nicht viel verschwenden; drei Schuß pro Ziel, nicht mehr. Er schob sich dichter an die Ecke heran und sah sich um. An der Wand des gegenüberliegenden Gebäudes war das Spinnennetz einer Feuertreppe zu sehen. Er dachte daran, sie zu benutzen, entschied aber dann, daß es zu riskant wäre; sie konnten ihn sehen, wenn er die Straße überquerte. Und dann hatte er eine andere Idee. Er sank in den Schatten zurück und wartete. Der Zug näherte sich. Er sah, wie die drei Jungen Gegenstände hoben und sich gegen die niedrige Brüstung stemmten, die um das Dach lief. Der Lärm nahm zu, und als Paul den Kopf drehte, sah er die Lichter des Zuges oben an der steinernen Mauer entlanghuschen. Der Boden begann unter ihm zu zittern. Der Zug fuhr parallel zu ihm, und er sah Köpfe an Fenstern; er wandte seinen Blick zu dem Dach, und dort fingen sie an, ihre Wurfgeschosse hochzuheben und zu werfen: Ziegelsteine und Zementbrocken. Einige so schwer, daß die Jungen sie kaum heben konnten. Die großen trafen ihr Ziel nicht, aber dann war das Poltern zu hören, als die Ziegel das Dach und die Flanken des Zuges trafen, und Paul hörte das Klirren von zerbrechendem Glas. Hatten sie etwas im Inneren des Zuges getroffen? Wieder klirrte ein Fenster. Ein Ziegel prallte von dem Zug ab und pulverisierte sich mitten auf der Straße. Jetzt hatte auch das Mädchen auf dem Dach zu werfen angefangen. Paul zählte, fand aber bestätigt, daß es nur vier waren. -1 9 0 -
Ein Klirren von Glas; er war sicher, daß er von dem letzten Wagen einen Aufschrei gehört hatte; dann war der Zug verschwunden, und hinter ihm hallte nur sein Echo her. Er blickte wieder zum Dach hinauf. Sie waren verschwunden. Er eilte schnell zu der Ecke und schob den Kopf weit genug hinaus, um die Feuertreppe auf der anderen Straßenseite sehen zu können. Sie kamen jetzt herunter. Rannten die Eisentreppen von einem Stockwerk ins nächste herunter. Ihr böses Lachen hallte über die Straßenschlucht zu ihm herüber. Er wartete, bis der erste den untersten Treppenabsatz erreicht hatte. Der Junge schob die Sprungleiter mit seinem Gewicht vor und erreichte den Bürgersteig, während die Leiter ächzend protestierte. In dem unsicheren Licht stützte Paul die Waffe auf das linke Handgelenk, und als der Junge sich umdrehte, um etwas zu den anderen hinaufzurufen, betätigte er den Abzug mit gleichmäßigem Druck, bis der Revolver sich mit einem kleinen Ruck entlud und der Kopf des Jungen unter dem Aufprall der Kugel zur Seite flog. Die anderen sahen ihn fallen, kannten aber den Grund nicht und eilten weiter. Paul wartete; er hatte Zeit, sie wußten immer noch nicht, daß er da war. Sie kamen herunter und drängten sich um den Liegenden, und jetzt drückte Paul erneut ab und sah, wie sie es bemerkten, als einer von ihnen plötzlich in sich zusammensank. Und Pauls zweiter Schuß ihn noch einmal traf und dann Staub von der Straße hochfetzte. Der dritte duckte sich geistesgegenwärtig unter die Feuertreppe, während das Mädchen in einer Türnische Deckung suchte. Paul hörte sie schreien: »Hol dir das Schwein!« Und dann kam der, der sich unter die Feuertreppe geduckt hatte, auf ihn zugerannt, ein blitzendes Messer in der Hand. Hatte er noch einen Schuß übrig oder zwei? Plötzliche Angst -1 9 1 -
erfaßte ihn, und er wußte, daß er warten mußte, daß er sein Opfer mit einem Schuß erledigen mußte, weil er sich einen Fehlschuß nicht leisten konnte. Der Junge kam geradewegs auf ihn zu, und das Schreckliche war, daß er völlig lautlos kam; Paul sah ihn ganz deutlich, die funkelnden Augen, die Lippen, die seine Zähne freilegten, die geblähten Nasenlöcher... Und dann feuerte Paul, und die Bleikugel riß dem Jungen ein schwarzes Loch aus dem Gesicht, unmittelbar unter dem Auge. Der Schrei des Jungen war bereits der Schrei eines Toten, aber er stürzte gegen Paul, und Paul taumelte in panischer Angst zurück, als das fallende Messer über sein Handgelenk scharrte; der Revolver fiel auf den Boden und glitt weg, und Paul stürzte gegen die Wand, krümmte sich zusammen und preßte die Hand auf das schmerzende Handgelenk: Schweiß brach ihm im Gesicht aus, und der heiße Atem zischte durch seine Zähne. Der Junge lag jetzt auf dem Boden, und Paul hatte jetzt nur ein Ziel - seine Waffe -, riß sie hoch und schoß dem stöhnenden Jungen noch einmal ins Gesicht. Jetzt war sie leer, das wußte er, und er klappte die Trommel heraus, stieß die leeren Patronen heraus und fuhr in die Tasche, während seine Augen die gegenüberliegende Straßenseite absuchten - die beiden Jungen lagen dort. Wo war das Mädchen? Die Patronenhülsen. Er hatte sie in seiner fieberhaften Hast, mit der er nachgeladen hatte, auf den Boden fallen lassen - aber sie trugen seine Fingerabdrücke. Er hatte beim Laden keine Handschuhe getragen. Er bückte sich und hob sie auf und hatte einige Mühe, die fünfte zu finden, aber da war sie, in einer Spalte neben dem Bürgersteig, und nachdem er alle fünf in der Tasche hatte, sah er sich den Jungen an, der ihn mit dem Messer angegriffen hatte. Das Blut des Jungen sickerte in das Pflaster ein. Der da war nahe gekommen, hatte Pauls Gesicht gesehen. Er mußte tot sein. Paul schoß ihm durch den Kopf. -1 9 2 -
Selbst wenn die beiden anderen unter der Feuertreppe nicht tot waren, sie hatten ihn nicht gesehen. Er wandte sich von dem toten Jungen ab und ging in Richtung Süden. Er hatte etwa den halben Häuserblock hinter sich gebracht, als er sich umblickte und den Polizisten dort stehen sah. Der Polizist stand wie erstarrt im Licht der Straßenlampe da, aber seiner Kopfhaltung war deutlich anzusehen, daß er Paul sah. Paul war gelähmt vor Entsetzen: Der Revolver hing vergessen in seiner Hand. Er wußte, daß der Polizist nun erkannt hatte, was er war, er wartete, daß der Polizist etwas sagte, wartete, daß der Polizist seine Waffe zog. Er kam gar nicht auf den Gedanken, den Polizisten zu erschießen, obwohl er die Waffe in der Hand hielt; man erschoß keine Polizisten, man tat das einfach nicht. Der Polizist griff im Licht der Straßenlampe an seinen Kopf und nahm die Mütze ab und hielt sie in der rechten Hand. Dann wandte ihm der Polizist langsam den Rücken zu und stand da, ohne sich zu bewegen. Paul brauchte lange, um in sich aufzunehmen, was der Polizist damit meinte. Schließlich begann sein Herz heftig zu schlagen, und er setzte seinen Weg fort, nach Süden auf die Ecke zu. Er sah sich um, und der Polizist hatte sich immer noch nicht bewegt. Er duckte sich unter den Geleisen der Hochbahn durch, bis er die Mauer zwischen sich und den Polizisten gebracht hatte, und dann ging er zur Third Avenue hinüber und in die Stadt zurück, bis er ein Taxi fand, das ihn nach Hause brachte.
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