H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 4 Kriminologie und ...
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H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 4 Kriminologie und Forensische Psychiatrie
H.-L. Kröber D. Dölling N. Leygraf H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 4 Kriminologie und Forensische Psychiatrie
Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Limonenstraße 27 12203 Berlin
Prof. Dr. med. Norbert Leygraf Institut für Forensische Psychiatrie Rheinische Kliniken Essen Kliniken der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45174 Essen
Prof. Dr. jur. Dieter Dölling Institut für Kriminologie Juristische Fakultät Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg
Prof. Dr. med. Henning Saß Universitätsklinikum Aachen Ärztlicher Direktor Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
ISBN 978-3-7985-1448-5 Steinkopff Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Steinkopff Verlag ein Unternehmen von Springer Science+Business Media www.steinkopff.com © Steinkopff Verlag 2009 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Redaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe Herstellung: Klemens Schwind Satz: K + V Fotosatz GmbH, Beerfelden SPIN 10932162
80/7231-5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Vorwort
Für die Erstellung von psychiatrischen und psychologischen Gutachten in Strafverfahren sind Kenntnisse über kriminologische Befunde zu den Erscheinungsformen und Ursachen der Delinquenz und zur Täterpersönlichkeit hilfreich. Sie erleichtern es, den einzelnen Fall einzuordnen und seine Besonderheiten zu erkennen. Der vierte Band des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie hat daher den Themenbereich Kriminologie und Forensische Psychiatrie zum Gegenstand. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt geht es um kriminologische Grundlagen. Hier werden zentrale Befunde der Kriminologie über Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität, über Täter und Opfer und über die Ursachen von Delinquenz dargestellt. Zu diesem Abschnitt gehört auch ein Kapitel über Zusammenhänge zwischen Delinquenz und psychischer Störung. Der zweite Abschnitt ist der Kriminologie und Psychopathologie von Delinquenzformen gewidmet, die in der Praxis der forensischen Begutachtung eine wichtige Rolle spielen. Erörtert werden Gewaltkriminalität, Sexualdelinquenz, Eigentums- und Vermögenskriminalität, Drogendelinquenz, Straßenverkehrskriminalität und politisch motivierte Delinquenz. Für jeden dieser Kriminalitätsbereiche werden zunächst die strafrechtlichen Grundlagen dargestellt. Sodann werden kriminologische Befunde geschildert und schließlich werden von psychiatrischer Seite Aspekte behandelt, die für die Begutachtung von Täterinnen und Tätern in dem jeweiligen Deliktsbereich von Bedeutung sind. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Wirklichkeit des Strafverfahrens unter soziologischen und psychologischen Aspekten. Indem die einzelnen Themen aus der Sicht von verschiedenen Wissenschaften beleuchtet werden, bemüht sich auch der vorliegende Band des Handbuchs um die Förderung des interdisziplinären Dialogs über forensische Fragen. Februar 2009
H.-L. Kröber, Berlin D. Dölling, Heidelberg N. Leygraf, Essen H. Sass, Aachen
Inhaltsverzeichnis
1
Kriminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1
Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Heinz
1
1.1.1 1.1.1.1
„Kriminalitätskontrolle“ und „Kriminalität“ . . . Kriminalitätskontrolle – Begriff, Gegenstand, System, Träger und Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . „Medienkriminalität“, „registrierte“ Kriminalität und „Kriminalitätswirklichkeit“ . . . . . . . . . . . . . „Medienkriminalität“ – Realitätsgehalt massenmedial vermittelten Wissens über Kriminalität . „Registrierte“ Kriminalität – ein repräsentatives, lediglich verkleinertes Abbild der „Kriminalitätswirklichkeit“? . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichbarkeit als methodische Voraussetzung für regionale Querschnitts- oder zeitliche Längsschnittvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Konsequenzen aus der Einsicht in die Kontrollabhängigkeit von „registrierter“ Kriminalität . . . . . . . . . . . . .
20
Kriminalität im Dunkelfeld – Umfang, Struktur und Entwicklung . . . . . . . . . . 1.1.2.1 Umfang und Struktur der Dunkelfeldkriminalität 1.1.2.2 Entwicklung der Dunkelfeldkriminalität . . . . . . 1.1.2.2.1 Ergebnisse von Opferbefragungen . . . . . . . . . . . 1.1.2.2.2 Ergebnisse von Täterbefragungen . . . . . . . . . . .
21 21 28 28 29
1.1.1.2 1.1.1.2.1 1.1.1.2.2 1.1.1.2.3 1.1.1.2.4
1 1 3 3 4 18
1.1.2
1.1.3 1.1.3.1 1.1.3.2 1.1.3.3
„Registrierte“ Kriminalität – Umfang, Struktur und Entwicklung . . . . . . . . . . Umfang und Struktur der in der PKS registrierten Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung polizeilich registrierter Kriminalität Ausmaß und Entwicklung der Opfergefährdung im Spiegel der PKS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 38 42 55
VIII
z
Inhaltsverzeichnis
1.1.4 1.1.4.1
..
66
. . . .
. . . .
66 66 71 75
.. ..
81 82
..
85
..
93
.. ..
93 98
. . . .
. . . .
98 100 109 124
1.1.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126 130
1.2
Delinquenz im Lebensverlauf . . . . . . . . . . . . . . K. Boers
134
Deskriptive Karrierestudien . . . . . . . . . . . . . . . . Karriereparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsorientierte Mehrfaktorenund Karriereuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.1 Klassifizierung und Verlaufspfade (Trajektorien) 1.2.3.2 Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Lebensverlaufsforschung und „developmental criminology“ . . . . . . . . . . . 1.2.5 Soziologische Längsschnittforschung . . . . . . . . . 1.2.5.1 Soziologisch-ätiologische Längsschnittstudien . . 1.2.5.2 Soziologisch-konstruktivistische Studien . . . . . . 1.2.6 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136 139
1.1.4.1.1 1.1.4.1.2 1.1.4.1.3 1.1.4.1.4 1.1.4.1.5 1.1.4.2
Polizeilich ermittelte Tatverdächtige . . . . . . . Tatverdächtige nach Alter, Geschlecht, Nationalität und Merkmalen der Tatbegehung Tatverdächtige nach Alter . . . . . . . . . . . . . . . Tatverdächtige nach Geschlecht . . . . . . . . . . . Tatverdächtige nach Nationalität . . . . . . . . . . Tatverdächtige nach Merkmalen der Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrfach- und Intensivtäter . . . . . . . . . . . . . Tatverdächtigen- und Verurteiltenbelastungszahlen in zeitlicher Perspektive . . . . . . . . . . .
1.1.5
Vom Tatverdächtigen zum Verurteilten – Differenzielle Entkriminalisierung im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle . . . . . . . . . . . 1.1.5.1 Differenzielle Entkriminalisierung durch die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.2 Strafgerichtliche Sanktionierungspraxis . . . . . 1.1.5.2.1 Charakteristik der Sanktionierungspraxis insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5.2.2 Die Strafzumessungspraxis der Gerichte . . . . 1.1.5.2.3 Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . 1.1.5.3 Strafgefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1 1.2.2 1.2.3
143 144 150 153 154 154 161 166 168
Inhaltsverzeichnis
1.3
Delinquenz und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . D. Hermann
1.3.1 1.3.2
z
175
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsversuche zu Geschlechterunterschieden hinsichtlich Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Empirische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 178 183 184
1.4
Delinquenz und Zuwanderer . . . . . . . . . . . . . . A. Hartmann
186
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Deskription von Zuwanderergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Befunde zur Viktimisierung von Zuwanderern . 1.4.5 Kriminalität Nichtdeutscher . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5.1 Kriminalität im Hellfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5.2 Verzerrungsfaktoren der PKS . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5.3 Struktur der Kriminalität im Hellfeld . . . . . . . . 1.4.5.4 Befunde von Dunkelfeldstudien . . . . . . . . . . . . . 1.4.6 Zur Kriminalität der (Spät-)Aussiedler . . . . . . . 1.4.7 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.7.1 Theorien der sozialstrukturellen Benachteiligung 1.4.7.2 Etikettierungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.7.3 Kulturkonflikttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 187 189 190 191 191 192 196 199 200 202 202 203 204 206
1.5
209
1.4.1 1.4.2 1.4.3
1.5.1 1.5.1.1 1.5.1.2 1.5.1.3 1.5.2
Delinquenz in der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . A. Hartmann
Historische Bedeutung des Themas . . . . . . . . . „Räuberbanden“ und „landschädliche Leute“ . Erste Ansätze einer empirischen Kriminologie Chicago-Schule der Kriminologie . . . . . . . . . . Allgemeine Beschreibung und Bewertung von Straftätergruppierungen . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Situative Tätergemeinschaften . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.1 Jugendkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.2 Einzelne bekannte Gruppierungen . . . . . . . . . . 1.5.3.2.1 Autonome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.2.2 Punker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.2.3 Hooligans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Banden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.1 Historische Banden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
. . . .
209 209 210 210
. . . . . . . . .
210 213 213 214 215 216 216 217 217
IX
X
z
Inhaltsverzeichnis
1.5.4.2 Strafrechtlicher Bandenbegriff . . . . . 1.5.4.3 Kriminologischer Bandenbegriff . . . 1.5.4.4 Skinheads und rechtsradikale Szene 1.5.4.5 Rocker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Organisierte Kriminalität . . . . . . . . . 1.5.6 Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
218 218 221 223 223 225 230
Viktimologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . T. Görgen
236
1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4
Zentrale Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfelder der Viktimologie . . . . . . . . . Entstehung und Entwicklung der Viktimologie Grundlegende Perspektiven („Strömungen“) in der Viktimologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.5 Theorien der Opferwerdung . . . . . . . . . . . . . . 1.6.6 Empirische Opferforschung . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.6.1 Viktimisierungsrisiken im Spiegel behördlicher Kriminalstatistiken . . . . . . . . . . . 1.6.6.2 Viktimisierungsbefragungen . . . . . . . . . . . . . . 1.6.6.3 „Echte Opferbefragungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.7 Ausgewählte Befunde der Viktimisierungsforschung . . . . . . . . . . . . . 1.6.8 Opferrechte und Opferhilfe . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.9 Perspektiven der Viktimologie . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.2.1 1.7.2.2 1.7.3
. . .
236 237 237
. . .
239 241 243
. . .
243 245 248
. . . .
249 255 258 259
Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern M. Dudeck, H. J. Freyberger
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Riskofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ereignis- und Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . Psychischen Verarbeitungsprozesse von Gewalterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3.1 Transgenerationale Traumatransmission und Gewalttransmission . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3.2 Psychodynamische und bindungstheoretische Erklärungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4 Psychische Folgeerkrankungen am Beispiel von Angststörungen, depressiven und dissoziativen Störungen . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
265 . . . .
265 268 269 269
..
272
..
272
..
274
.. ..
279 282
Inhaltsverzeichnis
1.8 1.8.1 1.8.2
Erklärungsmodelle von Delinquenz . . . . . . . . . D. Hermann
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die paradigmatische Verortung von Kriminalitätstheorien . . . . . . . . . . . . . 1.8.3 Kriminalitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1 Die Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1.1 Utilitaristische Kriminalitätstheorien . . . . . 1.8.3.1.2 Biologische Kriminalitätstheorien . . . . . . . 1.8.3.1.3 Anomietheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1.4 Subkulturtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1.5 Lerntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1.6 Sozialisationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.1.7 Labelingtheorien und ethnomethodologischer Ansatz . . . . . 1.8.3.1.8 Ökologische Kriminalitätstheorien . . . . . . . 1.8.3.2 Neuere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.2.1 Kontrolltheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.2.2 Konstruktivistische Kriminalitätstheorie von Hess und Scheerer . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3.2.3 Feministische Kriminalitätstheorien . . . . . 1.8.3.2.4 Haferkamps handlungstheoretischer Ansatz 1.8.3.2.5 Voluntaristische Kriminalitätstheorie . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9
z
286
....
286
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
287 288 288 288 289 291 293 294 295
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
297 300 303 303
... ... .. ... ...
. . . . .
307 309 311 312 315
Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-L. Kröber
321
1.9.1
Methodische Probleme der empirischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen psychischer Störung und Delinquenz . . . . . . . . 1.9.2 Klinische Vorstellungen zu den Kausalbeziehungen zwischen psychischer Störung und Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
322 328 335
Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen . . . . . . . . . . . . . .
339
2.1
Gewaltdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
2.1.1
Juristische Grundlagen zur Gewaltdelinquenz . . D. Dölling, C. Laue
339
XI
XII
z
Inhaltsverzeichnis
2.1.1.1 Der Gewaltbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1.1 Der Gewaltbegriff des StGB . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1.2 Die Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs . . . . . . . . . 2.1.1.2 Einzelne Deliktgruppen im StGB . . . . . . . . . . . 2.1.1.2.1 Straftaten gegen das Leben . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2.2 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit 2.1.1.2.3 Straftaten gegen die persönliche Freiheit . . . . . 2.1.1.2.4 Weitere Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2.5 Delikte gegen Eigentum, Vermögen und gegen die sexuelle Selbstbestimmung . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2
. .
339 339
. . . . .
340 342 342 345 348 354
. .
355 356
Kriminologische Grundlagen der Gewaltdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Dessecker
356
2.1.2.1 2.1.2.1.1 2.1.2.1.2 2.1.2.2 2.1.2.2.1 2.1.2.2.2 2.1.2.2.3 2.1.2.3
Ausmaß und Entwicklung der Gewaltdelinquenz Daten der polizeilichen Kriminalstatistik . . . . . . Entwicklung der Gewaltdelinquenz . . . . . . . . . . Gewaltdelinquenz im Dunkelfeld . . . . . . . . . . . . Bevölkerungsbefragungen bis 1995 . . . . . . . . . . Bevölkerungsbefragungen seit 1995 . . . . . . . . . . Befragungen von Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . Gewalthandlungen in psychiatrischen Einrichtungen . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3
357 357 358 360 360 361 362 363 366
Forensisch-psychiatrische Aspekte der Gewaltdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Saß, S. Herpertz
367
2.1.3.1 Allgemeine Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.1 Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.2 Gewaltdelinquenz und Impulsivität . . . . . . . . . . 2.1.3.1.3 Epidemiologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.4 Ätiologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.5 Gewaltdelinquenz und familiäre Nahbeziehungen 2.1.3.1.6 Psychopathologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1.7 Tätertypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.2 Spezialfragen bei einzelnen Deliktformen . . . . . 2.1.3.2.1 Tötungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.2.2 Brandstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367 367 369 370 372 375 377 378 379 379 388 395
Inhaltsverzeichnis
z
2.2
Sexualdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
2.2.1
Juristische Grundlagen zur Sexualdelinquenz . . D. Dölling, C. Laue
399
2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4 Delikte im Zusammenhang mit Prostitution . 2.2.1.5 Pornografiedelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.6 Sexualität in der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.. ..
399 400
. . . . .
. . . . .
402 407 408 410 410
Kriminologische Grundlagen der Sexualdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Dessecker
411
2.2.2.1 Ausmaß und Entwicklung der Sexualdelinquenz 2.2.2.1.1 Daten der polizeilichen Kriminalstatistik . . . . . . 2.2.2.1.2 Entwicklung der Sexualdelinquenz . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Sexualdelinquenz im Dunkelfeld . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2.1 Befragungen der gesamten Bevölkerung . . . . . . 2.2.2.2.2 Befragungen junger Menschen . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Kriminalitätskarrieren und Legalbewährung . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411 411 413 415 415 416 417 419
2.2.3
420
2.2.2
Sexualstraftäter – Klinisches Erscheinungsbild . H.-L. Kröber
2.2.3.1
Verantwortlichkeit für das eigene Sexualverhalten . . . . . . . . 2.2.3.2 „Progredienz“ als Normalverlauf und als Symptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.3 Sexuell motivierte Gewaltdelikte . . . . . . . 2.2.3.3.1 Vergewaltigung und sexuelle Nötigung . . 2.2.3.3.2 Sadistische Taten und Verdeckungsmorde 2.2.3.4 Sexueller Missbrauch von Kindern . . . . . 2.2.3.4.1 Gelegenheitstäter und stabil Pädosexuelle 2.2.3.4.2 Intakte Verhaltenskontrolle, hohe, aber nicht rasche Rückfälligkeit . . . 2.2.3.5 Abnorme sexuelle Gewohnheiten, insbesondere Exhibitionismus . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.....
420
. . . . . .
. . . . . .
424 427 427 432 437 437
.....
444
..... .....
445 453
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
XIII
XIV
z
Inhaltsverzeichnis
2.3
Eigentums- und Vermögensdelinquenz . . . . . . .
457
2.3.1
Juristische und kriminologische Grundlagen der Eigentums- und Vermögensdelinquenz . . . . B.-D. Meier
457
2.3.1.1 Juristische Grundlagen . . 2.3.1.1.1 Eigentumsdelikte . . . . . . . 2.3.1.1.2 Vermögensdelikte . . . . . . 2.3.1.2 Kriminologische Befunde 2.3.1.2.1 Phänomenologie . . . . . . . 2.3.1.2.2 Verfolgungspraxis . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
Klinisches Erscheinungsbild und psychiatrische Aspekte der Eigentumsund Vermögensdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . H.-L. Kröber, C. Paar
2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4
457 458 460 462 464 465 469
470
Diebstahldelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychisch auffällige Diebe und „Kleptomanie“ . Betrugsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftskriminalität und „white-collar-criminality“ . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.5 Besonderheiten der Begutachtung von Betrügern 2.3.2.6 Verläufe, Haft und Therapieansätze . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
486 489 491 493
2.4
Drogendelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
2.4.1
Juristische Grundlagen zur Drogendelinquenz . . D. Dölling, C. Laue
497
2.4.1.1 Illegale Drogen und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Das Betäubungsmittelgesetz . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497 497 500
2.4.2
Kriminologische Grundlagen der Drogendelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kreuzer
Komplexität des Zusammenhangs von Drogenumgang, Drogenabhängigkeit und Delinquenz 2.4.2.1.1 Thesen zum Zusammenhang von Drogen und Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1.2 „Normalität“ von Drogenumgang und Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1.3 Risikokonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
470 476 482
500
2.4.2.1
.
500
.
500
. .
503 505
Inhaltsverzeichnis
2.4.2.1.4 Fehlannahmen über „Einstiegsdrogen“ . . . . . . . 2.4.2.2 Formen und Verläufe der Delinquenz Drogenabhängiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2.1 Delikttypen und Delinquenzbelastungen . . . . . . 2.4.2.2.2 Drogen- und Delinquenz-„Karrieren“ – Befunde nach früheren und neuen qualitativen Studien bei i.v. Drogenabhängigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2.3 Dispositionen, frühe Sozialisationsstörungen und spätere Delinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2.4 Drogenbedarf und Finanzierung . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2.5 „Klassischer Morphinist“ und jüngerer „Junkie“ 2.4.2.3 Drogen und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3.1 Situationen und Erscheinungsformen von Gewaltdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3.2 Gewaltpotenzial einzelner Drogen . . . . . . . . . . . 2.4.2.3.3 Thesen zum Zusammenhang von Drogengebrauch, Drogenabhängigkeit und Gewalt . . . . 2.4.2.4 Kriminologische Aspekte der Anwendung des Betäubungsmittelstrafrechts . . . . . . . . . . . . 2.4.2.4.1 Zur Cannabisstrafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.4.2 Zur Verfolgung von Drogenabhängigen . . . . . . . 2.4.2.5 Kriminologische Aspekte der Begutachtung Drogenabhängiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.5.1 Funktionale Zuordnung der Delikte . . . . . . . . . . 2.4.2.5.2 Umfang der Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.5.3 Tatabfolge und Tatplanung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.6 Kriminologische Analyse der Drogenpolitik . . . 2.4.2.6.1 Das „Drogenproblemproblem“ und der Strafrechtseinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.6.2 Drogenpolitische Strategien und Modelle . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3
Die Delinquenz von Alkohol- und Drogenkonsumenten aus psychiatrischer Sicht . . . . . . . M. Heilmann, N. Scherbaum
Einige statistische Angaben zur Delinquenz von Suchtmittelkonsumenten . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2 Jurisprudenz und Suchthilfesystem . . . . . . . . 2.4.3.3 Die Entstehung von stoffgebundenen Abhängigkeiten und Delinquenz . . . . . . . . . . 2.4.3.4 Die Suchtmittelwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.4.1 Allgemeine suchtmedizinische Bemerkungen 2.4.3.4.2 Die Suchtmittelwirkungen im Speziellen unter forensischen Gesichtspunkten . . . . . . .
z
511 512 513 517 522 523 524 526 526 528 529 530 530 533 535 535 537 537 538 538 539 544 547
2.4.3.1
.. ..
547 548
.. .. ..
549 551 551
..
552
XV
XVI
z
Inhaltsverzeichnis
2.4.3.5
Die forensisch-psychiatrische Relevanz der Delikte von Konsumenten psychotroper Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.5.1 Begutachtung und Behandlungsmöglichkeiten nach dem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.5.2 Alternative Behandlungsmaßnahmen nach dem Betäubungsmittelgesetz . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
..
563
..
563
.. ..
575 576
2.5
Straßenverkehrsdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . .
578
2.5.1
Juristische und kriminologische Grundlagen zur Straßenverkehrsdelinquenz . . . . . . . . . . . . . H. Schöch
578
2.5.1.1 2.5.1.1.1 2.5.1.1.2 2.5.1.1.3 2.5.1.2 2.5.1.2.1
Juristische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff des Straßenverkehrsrechts . . . . . . . . Verkehrsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrsordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . Kriminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . Begriff und Bedeutung der Straßenverkehrsdelinquenz . . . . . . . . . . 2.5.1.2.2 Umfang und Entwicklung der Straßenverkehrsdelinquenz . . . . . . . . . . 2.5.1.2.3 Persönliche und soziale Merkmale registrierter Verkehrstäter . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1.2.4 Forschungsergebnisse zur Fahrunsicherheit unter Alkohol- und Drogeneinfluss . . . . . . . 2.5.1.2.5 Beiträge der Kriminologie zur Verkehrssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1.2.6 Spezial- und generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der Verkehrsdelinquenz Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2
2.5.2.1 2.5.2.2 2.5.2.2.1 2.5.2.2.2 2.5.2.2.3 2.5.2.3 2.5.2.3.1 2.5.2.3.2 2.5.2.3.3
. . . . .
578 578 578 587 589
...
589
...
590
...
591
...
593
...
594
.. ...
595 598
Verkehrsdelinquenz aus psychiatrischer und psychologischer Sicht . G. Laux, A. Brunnauer
599
Einleitung . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie, Statistik . . . Unfallstatistiken . . . . . . . . . Verkehrszentralregister . . . Medizinisch-psychologische Bedingungsfaktoren . . . . . . Aggressives Fahren . . . . . . „Unfällerpersönlichkeit“ . . Einstellung . . . . . . . . . . . .
599 600 600 602 604 606 607 608 608
............ ............ ............ ............ Untersuchung ............ ............ ............ ............
. . . . . . . . .
. . . . .
. . . . . . . . .
. . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis
2.5.2.3.4 2.5.2.4 2.5.2.4.1 2.5.2.4.2 2.5.2.4.3 2.5.2.5
z
Der abgelenkte Fahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotrope Substanzen und Verkehrssicherheit Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente/Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . Psychische Störungen/ psychiatrische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.5.1 Altersbedingte Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.5.2 Verkehrssicherheit bei demenziellem Syndrom . 2.5.2.5.3 Verkehrssicherheit bei schizophrenen und affektiven Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.6 Begutachtung der Verkehrssicherheit . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
609 609 610 612 613
2.6
Politisch motivierte Delinquenz . . . . . . . . . . . .
626
2.6.1
Juristische und kriminologische Grundlagen zur politisch motivierten Delinquenz . . . . . . . . D. Dölling, C. Laue
626
2.6.1.1 Juristische Grundlagen . . . . . . . . . . 2.6.1.1.1 Schutz von politischen Rechtsgütern 2.6.1.1.2 Sonstige politisch motivierte Delikte 2.6.1.2 Kriminologische Grundlagen . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
626 627 631 633 635
Forensisch-psychiatrische Aspekte der politisch motivierten Delinquenz . . . . . . . . H. Saß
635
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
643
3
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
618 619 621
. . . . .
2.6.2
. . . . .
617 617 617
Soziologie und Psychologie des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
645
3.1
Soziologie des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . D. Hermann
645
3.1.1 3.1.2
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über den Gang der Strafverfolgung – normative und rechtstatsächliche Aspekte . . . . . Die Veränderung von Kriminalität im Hellfeld . Anzeigeverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
645
3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7
646 648 650 651 652 653
XVII
XVIII
z
Inhaltsverzeichnis
3.1.7.1 Beobachtungen . . . . . . . . 3.1.7.2 Aktenanalysen . . . . . . . . . 3.1.7.3 Methode der fiktiven Fälle 3.1.7.4 Kombinierte Methoden . . 3.1.8 Zusammenfassung . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
654 654 657 658 659 660
Psychologie des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . S. Niehaus, B. Englich, R. Volbert
662
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Einflüsse auf die Entscheidungsfindung vor Gericht . . . . . 3.2.2.1 Einflüsse von Richtermerkmalen . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Einflüsse von Tätermerkmalen . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Einflüsse der Art der Präsentation von Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3.1 Ankereffekte im juristischen Kontext . . . . . . . . . 3.2.2.3.2 Ankereffekten zugrunde liegende kognitive Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3.3 Korrekturansätze für Ankereffekte im juristischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Glaubwürdigkeitsattribution . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Schwerpunkte der Forschung zur Glaubwürdigkeitsattribution . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Der prozessorientierte Zugang . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Der ergebnisorientierte Zugang . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.4 Schlussfolgerungen für die Rechtspraxis . . . . . . 3.2.4 Sekundäre Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1 Empirische Studien zu Auswirkungen von Strafverfahren auf Opfer . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1.1 Retraumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1.2 Verfahrensverursachte langfristige Schädigungen 3.2.4.1.3 Passagere Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.2 Schlussfolgerungen für die Praxis . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
662
678 679 679 680 681 683
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
689
3.2
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
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. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
3.2.1 3.2.2
663 663 663 664 665 666 667 668 669 670 672 676 678
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Klaus Boers Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster Bispinghof 24/25 48143 Münster Dr. Dipl.-Psych. Alexander Brunnauer Inn-Salzach-Klinikum gGmbH Gabersee Haus 13 83512 Wasserburg a. Inn Priv.-Doz. Dr. Axel Dessecker Kriminologische Zentralstelle Viktoriastraße 35 65189 Wiesbaden Prof. Dr. jur. Dieter Dölling Institut für Kriminologie Juristische Fakultät Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg Dr. Manuela Dudeck Psychiatrische Klinik der Universität Greifswald im Klinikum Stralsund Rostocker Chaussee 70 18435 Stralsund Priv.-Doz. Dr. Birte Englich Universität Köln Abteilung Psychologie Gronewaldstraße 2 50931 Köln
Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger Psychiatrische Klinik der Universität Greifswald im Klinikum Stralsund Rostocker Chaussee 70 18435 Stralsund Prof. Dr. Thomas Görgen Deutsche Hochschule der Polizei Zum Roten Berge 18–24 48165 Münster Prof. Dr. Arthur Hartmann Hochschule für öffentliche Verwaltung (HfÖV) Doventorscontrescarpe 172 C 28195 Bremen Dr. Martin Heilmann Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Klinik der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45147 Essen Prof. Dr. Wolfgang Heinz Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht Fachbereicht Rechtswissenschaft Universität Konstanz Universitätsstraße 10 78464 Konstanz
XX
z
Autorenverzeichnis
Priv.-Doz. Dr. Dieter Hermann Institut für Kriminologie Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg Prof. Dr. med. Sabine Herpertz Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Universität Rostock Gehlsheimer Straße 20 18147 Rostock Prof. Dr. Arthur Kreuzer Am Lutherberg 5 35463 Fernwald Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Limonenstraße 27 12203 Berlin Dr. Christian Laue Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg Prof. Dr. Gerd Laux Inn-Salzach-Klinikum gGmbH Gabersee Haus 13 83512 Wasserburg a. Inn Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier Juristische Fakultät Kriminalwissenschaftliches Institut Leibnitz Universität Hannover Königsworther Platz 1 30167 Hannover
Dr. Susanna Niehaus Hochschule Luzern – Soziale Arbeit Werftestrasse 1 6002 Luzern, Schweiz Dr. med. Corinna Paar Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Limonenstraße 27 12203 Berlin Univ.-Prof. Dr. med. Henning Saß Ärztlicher Direktor Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Prof. Dr. Norbert Scherbaum Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Klinik der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45147 Essen Prof. Dr. Heinz Schöch Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften LMU München Prof.-Huber-Platz 2 80539 München Priv.-Doz. Dr. Renate Volbert Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Limonenstraße 27 12203 Berlin
1 Kriminologische Grundlagen
1.1
Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland W. Heinz
1.1.1
Kriminalitätskontrolle und Kriminalität
1.1.1.1 Kriminalitätskontrolle – Begriff, Gegenstand, System, Träger und Mittel Unter „Kriminalitätskontrolle“ wird umgangssprachlich zumeist die Tätigkeit von Polizei und Strafjustiz verstanden. In der Kriminologie hingegen wird „Kriminalitätskontrolle“ nicht auf diese Institutionen beschränkt. Darunter werden vielmehr „alle staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, Strategien und Sanktionen (verstanden), welche die Verhaltenskonformität im strafrechtlich geschützten Normbereich bezwecken“ (Kaiser 1996, S. 219). Polizei und Justiz sind danach nur einer von mehreren Trägern, das Strafrecht nur eines von mehreren Mitteln der Kriminalitätskontrolle, die Strafe nur eine von mehreren Sanktionsmöglichkeiten. Kriminalitätskontrolle wird auch – und vor allem – von der Familie, der Schule, der Nachbarschaft, von den Peergroups und von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Statt staatlicher Strafe werden hierbei informelle Reaktionen verwendet, von Spott oder Missbilligung über körperliche Züchtigung (z. B. der Eltern) bis hin zum Abbruch von Beziehungen. Begrifflich wird deshalb unterschieden zwischen formeller, von Polizei und Justiz ausgeübter Sozialkontrolle und informeller strafrechtlicher Sozialkontrolle, deren Träger alle anderen (außerjustiziellen) Einrichtungen sind, die Verhaltenskontrolle ausüben. Dieser Differenzierung der Kriminalitätskontrolle entspricht auch eine begriffliche Unterscheidung des Begriffs der „Kriminalität“. Formelle strafrechtliche Sozialkontrolle hat unmittelbar nur mit der bekannt gewordenen und in der Folge statistisch registrierten Kriminalität zu tun, auf die durch die Strafverfolgungsorgane reagiert wird. Die Träger der informellen strafrechtlichen Sozialkontrolle werden dagegen zunächst und vor allem mit nicht registrierter Kriminalität konfrontiert. Ihre Entscheidung entweder gar nichts zu unternehmen, es bei einer informellen Reaktion zu belassen oder aber durch eine Anzeige Polizei und Justiz einzuschalten, bestimmt zugleich, welche Ereignisse – und unter Umständen auch bereits Tatverdächtige – registriert werden, wo genau im Einzelnen also die Grenze zwischen Hellfeld (der registrierten Kriminalität) und dem Dunkelfeld (der
2
z
1 Kriminologische Grundlagen
nicht registrierten Taten bzw. nicht registrierten Tatverdächtigen) verläuft. Während sich formelle strafrechtliche Sozialkontrolle auf die Kontrolle von „Kriminalität“ beschränkt, also auf jene Verhaltensweisen, die durch Strafgesetze pönalisiert sind (der Einfachheit halber wird auf die Ordnungswidrigkeiten nicht eingegangen), erstreckt sich informelle Sozialkontrolle auch auf den weiten Bereich sozial abweichenden Verhaltens. Daraus ergibt sich die für die weitere Darstellung entscheidende Differenzierung in Vorfälle, die den Trägern der formellen Sozialkontrolle bekannt wurden und von ihnen als „Kriminalität“ statistisch registriert worden sind, und solche, die ihr nicht bekannt wurden oder, anders formuliert, die Differenzierung in Hellfeld (amtlich registrierter) und Dunkelfeld (nicht registrierter Kriminalität). Dass ein Teil der Vorfälle zwar amtlich bekannt, aber statistisch nicht registriert wird, sei es, weil dies nicht geboten ist (z. B. Straßenverkehrsdelikte in der polizeilichen Kriminalstatistik), sei es, weil die statistische Registrierung unterlassen wird (vgl. hierzu Kürzinger 1978), oder dass zwar eine statistische Registrierung erfolgte, aber diese (gemessen an den statistischen Erfassungsregeln) fehlerhaft ist (vgl. hierzu die Nachweise in Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 20 f.), soll zwar der Vollständigkeit halber erwähnt, aber aus Raumgründen nicht weiter vertieft werden. Die Notwendigkeit der Differenzierung in „Hellfeld“ und „Dunkelfeld“ beruht darauf, dass Informationen über einen potienziell strafbaren Vorgang auf die Personengruppen, von denen eine irgendwie geartete Reaktion erwartet wird, höchst unterschiedlich verteilt sind. Insbesondere im Jugendbereich kommt nur ein kleiner Teil aller möglicherweise strafrechtlich relevanten Vorkommnisse zur Kenntnis der Polizei. Exemplarisch kann dies am Ergebnis einer in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durchgeführten repräsentativen Befragung von Jugendlichen in Bielefeld und Münster verdeutlicht werden. Die Jugendlichen sollten angeben, welche von den bei dieser Altersgruppe quantitativ besonders bedeutsamen Delikten sie begangen hatten (einfacher und schwerer Diebstahl, einfache und gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung sowie Betrug). Gut ein Viertel aller von den Jugendlichen als tatsächlich begangen berichteten Straftaten blieb nach Auskunft der Befragten gänzlich unentdeckt. Ein weiteres Drittel wurde nur den Freunden bekannt und lediglich knapp ein letztes Drittel gelangte zur Kenntnis von Personen, von denen eine verhaltenssteuernde bzw. kontrollierende Reaktion erwartbar war (z. B. Eltern, Lehrern, Polizei usw.). Insgesamt nur knapp 5% der Taten waren danach der Polizei bekannt geworden (vgl. Tabelle 1.1.1). Die Rate der in anderen Untersuchungen ermittelten selbstberichteten Polizeikontakte ist, in Abhängigkeit von Art und Zahl der erfragten Delikte sowie der Frage nach der Art der Kontakte, zwar teilweise deutlich höher. Das Verhältnis selbstberichteter Delinquenz zu offizieller Registrierung geht aber – über alle erfragten Delikte gemessen – kaum über 15% hinaus. Dieser Befund verdeutlicht exemplarisch, dass das, was in den Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken als „Kriminalität“ registriert wird, nur ein (sogar nur kleiner) Ausschnitt aus der „Kriminalitätswirklichkeit“ ist.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
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Tabelle 1.1.1. Verteilung der Delikte im Dunkelfeld, Hellfeld und Kontrollfeld nach Reichweite der Information und des Delikttypus (in % der Delikte; N = 1912). Delinquenzbefragung bei 13bis 17-jährigen deutschen Jugendlichen in Bielefeld und Münster 1986/87 Gesamtdelinquenz (N = 1912 = 100%) Absolutes Dunkelfeld (N = 529)
Gesamtes Hellfeld (N = 1383 = 100%)
Kontrollfeld (N = 648 = 100%)
27,7%
Reichweite der Information bis zu . . . z Freunden (N = 690) 36,1% z Eltern (N = 434) 22,7% z Lehrern/Vorgesetzten 6,6% (N = 127) z Polizei (N = 87) 4,6% z anderen (N = 45) 2,3%
49,9% 31,4% 9,2%
67,0% 19,6%
6,3% 3,2%
13,4% –
Quelle: Karstedt-Henke, Crasmöller (1988) S. 709
1.1.1.2
Medienkriminalität, registrierte Kriminalität und Kriminalitätswirklichkeit
1.1.1.2.1 Medienkriminalität – Realitätsgehalt massenmedial vermittelten Wissens über Kriminalität Das in der Bevölkerung vorhandene Wissen über Kriminalität wird ganz überwiegend durch die Massenmedien vermittelt und aus ihnen gewonnen. In deren Berichterstattung stehen zumeist Aufsehen erregende Einzelfälle, namentlich Sexual- oder Tötungsdelikte, im Vordergrund. Vermittelt wird – verallgemeinert – das Bild einer immer brutaler werdenden Kriminalität. Was aus der Medienforschung bekannt ist, dass Medien den Menschen eine soziale Realität vorführen, die sowohl von der direkt erlebten Erfahrungswelt als auch von empirisch belegbaren Fakten erheblich abweicht, trifft auch hier zu. Wird nämlich dieses massenmedial vermittelte Bild von Kriminalität mit den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) kontrastiert, dann sind kaum Gemeinsamkeiten erkennbar, vielmehr Selektion, Verdichtung, Verzerrung und Dramatisierung. Deshalb überrascht nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kriminalitätsentwicklung stark überschätzen, insbesondere die Entwicklung der schwerwiegenden Formen der Kriminalität. Es werden Zunahmen vermutet, wo es – der PKS zufolge – tatsächlich Abnahmen gegeben hat, etwa bei Tötungsdelikten (vgl. Abb. 1.1.1). Die (Fehl-)Einschätzung von Kriminalität ist folgenreich, weil z. B. die Einschätzung, die Gerichte urteilten zu milde, um so ausgeprägter ist, je höher die vermutete Zunahme der Kriminalität ist, weil ferner Zusammenhänge zwischen der Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung und
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1 Kriminologische Grundlagen
18 67
Betrug (ohne Schwarzfahren)
48
2200 Körperverletzung §§ 223-227, 229, 231 StGB
59 53
435* Wohnungseinbruchdiebstahl (§ 244 I 3 StGB) ***1 KFZ-Diebstahl einschließlich unbefugte Ingebrauchnahme
-46 39 -71 47 -24
2160 Handtaschenraub
20
volendeter Mord (§ 211)
-41
vollendeter Sexualmord
-38
-100
tatsächliche Veränderung PKS 2003 vs. 1993 Veränderung geschätzt
-3
Straftaten insgesamt
26 259
-50
0
50
100
150
200
250
300
Veränderung (%)
Abb. 1.1.1. Entwicklung der Kriminalität im Zeitraum von 1993–2003 nach Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und nach Einschätzung der Bevölkerung. Quelle: Pfeiffer, Windzio, Kleimann (2004) Tabelle 1
der Kriminalitätsfurcht bestehen, weil schließlich durch diese (Fehl-)Einschätzung die kriminalpolitische „Großwetterlage“ beeinflusst wird. Deshalb kommt es zunächst darauf an, ein möglichst wirklichkeitsgetreues Bild von Kriminalität zu zeichnen als Voraussetzung sowohl einer evidenzbasierten Kriminalpolitik als auch eines rationalen Umgangs mit Taten, Tätern und Opfern.
1.1.1.2.2 Registrierte Kriminalität – ein repräsentatives, lediglich verkleinertes Abbild der Kriminalitätswirklichkeit? z Kriminalität und soziale Kontrolle Seit Beginn einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit „Kriminalität“ war den Kriminalstatistikern bewusst, dass in Kriminalstatistiken immer nur ein Ausschnitt der „Kriminalität“ erfasst wird. Die Kluft zwischen „Realität“ und statistischem Abbild wurde lange Zeit durch die Annahme eines „konstanten Verhältnisses“ überbrückt, das die Grundlage kriminalstatistischer Arbeit bilden sollte. Ansonsten wären, so einer der Pioniere der Kriminalstatistik im 19. Jahrhundert, Adolphe Quételet, Kriminalstatistiken „wertlos“ und die darauf gestützten Aussagen „falsch und absurd“ (Quételet 1921, S. 253). Von den Zeitgenossen und Nachfolgern Quételets wurde diese „stillschweigende Annahme“ übernommen; ihre allgemeine Fassung erhielt sie in Wadlers „Gesetz der konstanten Verhältnisse“. Danach werden sich „unter normalen Verhältnissen“ die wirkliche Kriminalität (K), die zur Anzeige gelangende Kriminalität (A), die abgeurteilte Kriminalität (U) und die zur Verurteilung führende Kriminalität (V) „ziemlich nahe kommen.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
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Auf jeden Fall werden dann die Größen A, U und V symptomatische Begleiter von K bilden und so ziemlich alle Veränderungen, denen dieser Faktor unterworfen ist, proportional mitmachen. Man könnte diese Regelmäßigkeit in den Beziehungen füglich das ,Gesetz der konstanten Verhältnisse‘ nennen“ (Wadler 1908, S. 15). Von diesem vermeintlichen „Gesetz“ ging die Mehrzahl der Kriminalstatistiker in der Folgezeit zunächst aus. Dem liegt die Annahme zugrunde, Kriminalität sei ein isolierbares, auch ohne soziale Kontrolle bestehendes sozialpathologisches Phänomen, die zwischen Realität und statistischem Abbild liegenden „Verzerrungsfaktoren“, namentlich diejenigen, die die Größe des Dunkelfeldes bestimmen, aber auch die einer Verurteilung entgegenstehenden Faktoren (vgl. hierzu Abb. 1.1.4 bis 1.1.6) seien externe und im gedachten Idealfalle vermeidbare Störungen. Die Forschung hat inzwischen gezeigt, dass Kriminalität nicht als ein naturalistisch gegebener und zu messender Sachverhalt existiert. Was als Kriminalität wahrgenommen wird, ist sowohl das Ergebnis vorgängiger gesellschaftlicher Festlegungen als auch von zumeist mehrstufig erfolgenden Prozessen der Wahrnehmung von Sachverhalten, deren Interpretation und Bewertung. Dementsprechend gibt es auch nicht „das“ Messinstrument, mit dem „die“ Kriminalität gemessen werden könnte, sondern (durchaus unterschiedliche) Wahrnehmungen und (durchaus unterschiedliche) Bewertungen auf jeder Tätigkeitsstufe. z Kontrollabhängigkeit von Kriminalität – Konsequenzen für das Verständnis von registrierter Kriminalität z Konsequenzen für die Analyse von Umfang und Struktur registrierter Kriminalität. Die Einsicht, dass Kriminalität nicht in Isolierung von sozialer Kontrolle gesehen werden kann, hat Konsequenzen für die Interpretation von kriminalstatistischen Daten, und zwar für die Analyse von Umfang und Struktur der Kriminalität einerseits, der Kriminalitätsentwicklung andererseits. z Welche Sachverhalte als „Kriminalität“ bewertet werden, ist nicht fest vorgegeben. Erst durch eine zeit-, raum- und kulturabhängige Festlegung (formeller Verbrechensbegriff) werden die von der jeweils geltenden Rechtsordnung einer Gesellschaft mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen bestimmt. Der Kernbestand – Delikte gegen Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen – ist zwar in westlichen Kulturen relativ stabil. Änderungen im gesellschaftlichen Wertkonsens können aber als Folge einer Neubewertung von Rechtsgütern entweder zu Entkriminalisierungen (z. B. Abtreibungs- oder Teile des Sexualstrafrechts) oder aber zu Neukriminalisierungen (z. B. Ächtung von Gewalt) führen. Änderungen in Bereichen der Technik (z. B. Straßenverkehr, Computer, Internet), der Wirtschaft (z. B. elektronischer Zahlungsverkehr), in Tätergruppierungen und Vorgehensweisen (z. B. organisierte Kriminalität) oder in Prozessen sozialer Ausgrenzung (z. B. fremdenfeindliche Straftaten) können zu neuen Tatbegehungsmöglichkeiten führen, Hemmschwellen herabsetzen, Tat-
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1 Kriminologische Grundlagen
begehungsanreize schaffen, zu Ausweich- oder Verlagerungsprozessen usw. führen. Werden derartige Verhaltensweisen bzw. deren Zunahme oder Intensität als sozialschädlich bewertet, führt dies zumeist zu einer strafrechtlichen Neukriminalisierung. Änderungen sozialer Kontrolle, sei es durch deren Abschwächung (z. B. Einführung von Selbstbedienungsläden), durch deren Intensivierung (z. B. Maßnahmen der technischen Objektsicherung) oder durch deren Verlagerung (z. B. Prioritätenänderung polizeilicher Kontrolle, so etwa bei Btm-Delikten) können – zumeist als unbeabsichtigte Nebenfolge – ebenfalls Verhalten (oder dessen Wahrnehmung) in sozial erwünschter oder unerwünschter Weise beeinflussen mit der möglichen Folge, dass hierauf mit strafgesetzlichen Maßnahmen reagiert wird. Insbesondere bei Zeitreihenvergleichen sind deshalb nicht nur Änderungen der Verhaltensweisen, sondern auch derartige Ent- und Neukriminalisierungen mitzubedenken und deren Einfluss auf den statistischen Ausweis abzuschätzen. z Die Bezeichnung eines Vorfalles als „Kriminalität“ durch das Opfer oder durch Tatzeugen setzt zunächst dessen faktische Wahrnehmung voraus. Viele folgenlose Trunkenheitsfahrten im Straßenverkehr und die Mehrzahl der Rauschgiftdelikte bleiben (vom Täter abgesehen) unentdeckt, weil es bei diesen Delikten keinen Dritten gibt, der persönlich betroffen ist. Die weit überwiegende Zahl der Ladendiebstahlsdelikte – durch „Kunden“ oder Mitarbeiter – bleibt im Dunkelfeld (Schätzungen schwanken zwischen 90% und 95%). Selbst für schwere und schwerste Straftaten ist nicht auszuschließen, dass die straftatbestandsmäßige Handlung unbekannt bleibt. So gibt es z. B. nach den Ergebnissen einer 23 rechtsmedizinische Einrichtungen in Deutschland einbeziehenden Studie (Brinkmann et al. 1997; Brinkmann 2002) bei vorsätzlicher Tötung von Familienangehörigen offenkundig ein hohes Dunkelfeld, vor allem bei von Familienangehörigen verübten Tötungen von Kindern oder älteren Menschen (vgl. Scheib 2002). z Der als solcher wahrgenommene Sachverhalt muss ferner als Straftat bewertet werden. Dies ist nicht selbstverständlich. Beim Betrug zielt z. B. die Täuschung durch den Täter darauf ab, dem Opfer den vermögensschädigenden Charakter seiner Verfügung zu verheimlichen. Deshalb merkt beim „erfolgreichen“ Betrug der Betrogene gar nicht, dass er in rechtswidriger Weise getäuscht wurde. In manchen Milieus gelten Tätlichkeiten als normal und hinnehmbar; nicht selten verwischen sich bei Tätlichkeiten die Grenzen von Täter und Opfer, sodass das Opfer gelegentlich Grund hat, falls es sich als solches überhaupt sieht, die Anzeige zu unterlassen. Durch die deliktspezifisch höchst unterschiedliche Entdeckungs- und Bewertungswahrscheinlichkeit werden folglich Taten- wie Täterstrukturen vorbestimmt. So werden z. B. komplexe Delikte, die vor allem von Erwachsenen – insbesondere im Berufs- und Wirtschaftsleben oder als Gewaltdelikte im sozialen Nahraum – begangen werden, eher seltener entdeckt als die vor allem von jungen Menschen verübte, leicht sichtbare Straßenkriminalität.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
z Von den Ereignissen, die das Opfer, die Tatzeugen oder andere wahrnehmen und als „kriminell“ bewerten, wird schließlich nur ein Teil den Behörden bekannt. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die weitaus überwiegende Zahl aller Delikte der Polizei nicht durch eigene Kontrolltätigkeiten, sondern erst durch Anzeigen bekannt wird. Im Bereich der „klassischen Kriminalität“ gelangen im Schnitt mehr als 90% der Vorfälle erst durch Anzeigen zur Kenntnis der Polizei (Schwind 2008, S. 34). Umfang, Struktur und Entwicklung der registrierten Kriminalität sind deshalb fast völlig eine Funktion der Anzeigebereitschaft. Aus Dunkelfelduntersuchungen ist ferner bekannt, dass von den persönlich erlittenen Eigentums- und Gewaltdelikten – nach der Selbstauskunft der Befragten – durchschnittlich nur jedes zweite Delikt angezeigt wird, wobei diese Angaben sogar überhöht – bei einzelnen Delikten deutlich überhöht – sein dürften (Heinz 1993, S. 30; Schwind et al. 2001, S. 114). Die Anzeigewahrscheinlichkeit ist nach Deliktart und -schwere, nach Täter- und Opfermerkmalen, nach Täter-Opfer-Beziehungen, nach Einschätzung polizeilicher Aufklärungswahrscheinlichkeit usw. unterschiedlich hoch. Auch Gewaltkriminalität wird, wie Opferbefragungen hinsichtlich Raub, Vergewaltigung und Körperverletzung zeigen, nur zu einem geringen Teil angezeigt (vgl. Abb. 1.1.2). Nach Auskunft der Befragten beruhte die Nichtanzeige zu einem erheblichen Teil, nach einigen deutschen Untersuchungen zu etwa der Hälfte, darauf, dass der Vorgang von den Betroffenen als „nicht schwerwiegend genug“ eingestuft wurde oder dass die Polizei – nach Einschätzung der Befragten – „hätte auch nichts machen können“ (vgl. Abb. 1.1.3). z Der Polizei wird vor allem die im öffentlichen Raum stattfindende Gewaltkriminalität bekannt. Zahlreiche Gewalttaten im familiären Bereich (Kindesmisshandlung, sexueller Missbrauch und sonstige Formen der Gewalt in der Familie) und in bestimmten Gruppen (Rotlichtmilieu, organisierte Kriminalität) werden eher selten bekannt, d. h. durch unterschiedliche Anzeigewahrscheinlichkeiten werden Fall- und Tätergruppen erneut selektiert. Daraus wiederum folgt unter Umständen eine faktische Verfolgungsimmunität für Täter mit hoher Anzeigeverhinderungsmacht. Wegen des generellen Zusammenhangs von Deliktschwere und Anzeigewahrscheinlichkeit ist das Hellfeld polizeilich registrierter Kriminalität zu den schwereren Deliktformen hin verschoben. Die in der PKS registrierte Kriminalität ist demnach kein verkleinertes, unverzerrtes Abbild des Kriminalitätsgeschehens; Hellfeldkriminalität ist (in fast jeder Beziehung) ein nicht repräsentativer Ausschnitt der Kriminalitätswirklichkeit. z Die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken messen nicht „das“ Hellfeld der Kriminalität. Vielmehr geben sie für jede Institution der Strafverfolgung, also von Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht, die Ergebnisse von deren Tätigkeit und deren Sachverhaltsbewertung wieder. Insofern geben diese Statistiken als Tätigkeitsnachweise Aufschluss über die Ergebnisse der in den einzelnen Abschnitten des Strafverfahrens
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1 Kriminologische Grundlagen SozialwissenschaftenBUS
Mehrthemengroßumfrage
KfZ-Sachbeschädigung sonstige Sachbeschädigung PKW-Diebstahl KfZ-Teile-Diebstahl Fahrraddiebstahl sonstiger einfacher Diebstahl Betrug Raub Einbruch, versuchter Einbruch tätlicher Angriff sexueller Angriff (sexuelle Belästigung, freches Benehmen) (Unfall mit Verletzung) 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Anzeigeraten (% der Opfer)
Abb. 1.1.2. Anzeigeverhalten in Abhängigkeit vom erlittenen Delikt. Bundesweite Repräsentativbefragung 1997; SozialwissenschaftenBus III/97 N = 3272; Mehrthemengroßumfrage N = 20 070 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.2 Sozialwissenschaften Bus III/97 N = 3272
Mehrthemengroßumfrage N = 20 070
Opfer
Opferrate Anzeigerate
Opfer
Opferrate Anzeigerate
5,7
57,0
884
4,4
51,8
2,0
61,5
289
1,4
52,2
1,0 2,6 5,2 3,4
90,6 74,4 72,9 57,3
213 506 851 503
1,1 2,5 4,2 2,5
79,3 73,3 69,6 57,7
4,0 1,1 1,8
26,5 57,1 88,3
449 169 339
2,2 0,8 1,7
38,1 59,8 80,5
2,0 0,3 2,1
37,9 44,4 20,6
294 44 297
1,5 0,2 1,5
32,7 61,4 19,2
1,0
75,0
235
1,2
69,8
z KfZ-Sachbe186 schädigung z sonstige Sach65 beschädigung z PKW-Diebstahl 32 z KfZ-Teile-Diebstahl 86 z Fahrraddiebstahl 170 z sonstiger ein110 facher Diebstahl z Betrug 132 z Raub 35 z Einbruch, ver60 suchter Einbruch z tätlicher Angriff 66 z sexueller Angriff 9 z (sexuelle Belästi- 68 gung, freches Benehmen) z (Unfall 32 mit Verletzung)
Quelle: Heinz, Spiess, Schnell, Kreuter (1998)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
Polizei hätte nichts machen können/keine Beweise
z
26,8
nicht schwerwiegend/kein Schaden/Kinderstreich
20,1
Polizei hätte doch nichts dagegen getan
15,8
selbst geregelt, Täter war mir bekannt
12,4
andere Gründe
12,2
war nicht versichert
4,2
nicht getraut (Angst vor Vergeltung oder Rache)
3,8
Fall einer anderen Behörde gemeldet
3,2
Angst vor/Abneigung gegen Polizei
1,5
0
10
20
30
Nennungen (%)
Abb. 1.1.3. Gründe für Unterlassen einer Anzeige. Bundesweite Repräsentativbefragung 1997; SozialwissenschaftenBus III/97 N = 3272; Mehrthemengroßumfrage N = 20 070 zusammen (Mehrfachnennungen möglich) Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.3 Nennungen a absolut
a
Fälle %
(Personen)
607
26,8
541
456
20,1
421
357 280
15,8 12,4
312 260
277 95 86
12,2 4,2 3,8
262 94 79
72
3,2
69
34
1,5
31
2264
100%
auch Mehrfachnennungen
Quelle: Heinz, Spiess, Schnell, Kreuter (1998)
Nennung (Nichtanzeigegrund)
„Die Polizei hätte auch nichts machen können/ es gab keine Beweise“ „War nicht besonders schwerwiegend/ hatte keinen Schaden/Kinderstreiche“ „Die Polizei hätte doch nichts dagegen getan“ „Habe es selbst geregelt, Täter war mir bekannt“ „Anderer Grund/andere Gründe“ „Ich war nicht versichert“ „Habe mich nicht getraut (aus Angst vor Vergeltung oder Rache)“ „Ich habe den Fall einer anderen Behörde gemeldet“ „Hatte Angst vor der Polizei/Abneigung gegenüber der Polizei/wollte nichts mit Polizei zu tun haben“ gesamt
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10
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1 Kriminologische Grundlagen
stattfindenden Registrierungs-, Definitions- und auch der Ausfilterungsprozesse (vgl. Tabelle 1.1.2). Allerdings sind insbesondere die stattfindenden Ausfilterungsprozesse nur begrenzt statistisch messbar. Denn derzeit wird jede Statistik isoliert geführt. Wiedergegeben wird der Kenntnisstand bei Abschluss des jeweiligen Verfahrens, also bei Abgabe der Akten durch die Polizei an die Staatsanwaltschaft (PKS), bei Abschluss des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens (Staatsanwaltschaftsstatistik) oder nach rechtskräftiger Erledigung des Hauptverfahrens (Strafverfolgungsstatistik). Erfolgt eine „Korrektur“, z. B. eine andere rechtliche Bewertung, dann ändert dies nichts an der statistischen Erfassung auf den vorhergehenden StuTabelle 1.1.2. Übersicht über die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken in der Bundesrepublik Deutschland Verfahrensabschnitt (Erhebungseinheit)
Datensammlung (veröffentlichende Stelle auf Bundesebene)
Ermittlungsverfahren polizeiliche Ermittlungen (Tatverdacht: Fall, Tatverdächtige, Opfer)
Polizeiliche Kriminalstatistik (Bundeskriminalamt) (seit 1953)
Entscheidung der Staatsanwaltschaft über das Ergebnis der Ermittlungen (Geschäftsanfall und Art der Erledigung, bezogen auf Verfahren; seit 1998 auch auf Personen)
Staatsanwaltschaftsstatistik (Statistisches Bundesamt) (seit 1981)
Hauptverfahren strafgerichtliche Tätigkeit (Geschäftsanfall und Form der Erledigung, bezogen auf Verfahren)
Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen (Statistisches Bundesamt) (seit 1959)
strafgerichtliche Entscheidungen (Aburteilungen, Verurteilung, bezogen auf Personen)
Strafverfolgungsstatistik (Statistisches Bundesamt) (seit 1950)
Strafvollstreckung/Strafvollzug Strafaussetzung zur Bewährung (mit Unterstellung unter hauptamtlichen Bewährungshelfer) (Erlass/Widerruf der Strafaussetzung, bezogen auf Probanden)
Bewährungshilfestatistik (Statistisches Bundesamt) (seit 1963)
Vollzug einer Freiheitsstrafe (Zahl und Art der Justizvollzugsanstalten, Belegung, Belegungsfähigkeit, demografische Merkmale der Gefangenen)
Strafvollzugsstatistik (Statistisches Bundesamt) (seit 1961)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
fen. Aber auch aus anderen Gründen – unterschiedliche Erfassungszeitpunkte (und damit unterschiedlich große zeitliche Distanz zum Tatzeitpunkt), Erhebungseinheiten und Erfassungsgrundsätze – sind die statistischen Daten von Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS), Staatsanwaltschaftsstatistik (StA-Stat) und Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat) nicht exakt aufeinander beziehbar (vgl. Heinz 2003). Immerhin erlaubt die Gegenüberstellung die Abschätzung der Größenordnung des stattfindenden Ausfilterungsprozesses (vgl. Abb. 1.1.4), der statistisch allerdings nur hinsichtlich der Tatverdächtigen, nicht aber hinsichtlich der Fälle dargestellt werden kann. Die quantitativ stärkste Ausfilterung erfolgt auf der Ebene der Polizei, denn jeder nicht aufgeklärte Fall führt zur Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft. Im Schnitt wird nur jeder zweite Fall (2006: 55,4%) aufgeklärt. Nichtaufklärung im Sinne der PKS heißt, dass kein namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger festgestellt werden konnte. Zum Dunkelfeld der den Behörden nicht bekannt gewordenen Taten kommt also noch das Dunkelfeld der nicht ermittelten Täter hinzu. Bei den Tatverdächtigen handelt es sich folglich um eine Auslese aus einem doppelten Dunkelfeld, dem Dunkelfeld der nicht angezeigten Taten und dem Dunkelfeld der zwar angezeigten Taten, aber der nicht ermittelten Tatverdächtigen. Diese beiden Dunkelfelder bestehen unabhängig voneinander. Eine hohe Aufklärungsrate ändert nichts an einer bereits durch Unterschiede in der Anzeigeerstattung vorgegebenen Verzerrung der registrierten Kriminalität. Wenn z. B. nur 5% der Ladendiebstähle entdeckt und der Polizei bekannt werden, dann kann auch eine bei über 95% liegende Aufklärungsquote nichts daran ändern, dass nur über die Tatverdächtigen dieser 5% entdeckter Fälle etwas ausgesagt werden kann. Aussagen über Täter, seien es Tatverdächtige oder Verurteilte, sind also regelmäßig Aussagen über in hohem und unterschiedlichem Maße ausgelesene Gruppen. Denn nicht nur die Anzeige-, sondern auch die Aufklärungswahrscheinlichkeit ist deliktspezifisch unterschiedlich groß und darüber hinaus von der Handlungskompetenz und Verteidigungsmacht des Verdächtigen beeinflusst. So sind z. B. Jugendliche im Allgemeinen eher zu einem Geständnis zu bewegen als Erwachsene; sie haben zu den schwer aufklärbaren Delikten der Betrugs- und Wirtschaftskriminalität kaum Zugang; sie verüben dagegen Delikte häufiger in Cliquen und im öffentlichen Raum (was ihre Taten „sichtbarer“ macht) und sie agieren unprofessioneller. Durch diese Faktoren kann z. B. ein Teil des Unterschiedes zwischen der Jugend- und der Erwachsenenkriminalität oder (möglicherweise) zwischen der Kriminalität von Männern und Frauen erklärt werden. Nicht in allen Fällen, in denen die Polizei meint, einen Tatverdächtigen ermittelt zu haben, bejaht die Staatsanwaltschaft einen für die Anklageerhebung hinreichenden Tatverdacht. Wird von der Abgabe des Ver-
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z
1 Kriminologische Grundlagen
polizeilich registrierte Fälle
5 255 494
aufgeklärte Fälle
293
2 864 385
strafmündige Tatverdächtige (=100)
160
1794 621
Abgeurteilte Verurteilte zu ambulanten Sanktionen zu stationären Sanktionen
100 732 003
41
575 152
32
514 431
29
60721
3
Abb. 1.1.4. Polizeilich registrierte Straftaten und ermittelte Tatverdächtige im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle (Trichtermodell) 2006. Verbrechen und Vergehen insgesamt, ohne Straftaten im Straßenverkehr. Absolute Zahlen und Relation zu der Zahl der im selben Jahr registrierten strafmündigen Tatverdächtigen. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin. Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.4 2006
Polizeilich registrierte Fälle/Tatverdächtige (ohne Staatsschutzund Straßenverkehrsdelikte)
z polizeilich registrierte 5 255 494 Fälle z aufgeklärte Fälle 2 864 385 z strafmündige 1 794 621 Tatverdächtige z Abgeurteilte z Verurteilte z zu ambulanten Sanktionen Verurteilte, darunter – Geldstrafe – bedingte Jugendoder Freiheitsstrafe z zu stationären Sanktionen Verurteilte, darunter – Jugendarrest – unbedingte Jugendstrafe – unbedingte Freiheitsstrafe
Abgeurteilte und Relation zu 100 Verurteilte (ohne strafmündigen Tatverdächtigen Straftaten im Straßenverkehr)
100 732 003 575 152 514 431
40,8 32,0 28,7
371 201 86 722
20,7 4,8
60 721
3,4
19 357 6 490
1,1 0,4
34 834
1,9
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
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Polizeilich registrierte Fälle: jede polizeilich registrierte Straftat, aber ohne Ordnungswidrigkeiten, Staatsschutz- und Straßenverkehrsdelikte Aufgeklärte Fälle: Straftaten, für die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis ein mindestens namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger festgestellt worden ist Strafmündige Tatverdächtige: Personen, die zum Zeitpunkt der Tat das 14. Lebensjahr vollendet haben und nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte verdächtig sind, eine rechtswidrige (Straf-)Tat begangen zu haben Abgeurteilte: Abgeurteilte i. S. der Strafverfolgungsstatistik sind Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen, gegen die andere Entscheidungen (Freispruch, Einstellung des Strafverfahrens, Absehen von Strafe, Anordnen von Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie Überweisung an den Vormundschaftsrichter gemäß § 53 JGG) getroffen worden sind. Da in der polizeilichen Kriminalstatistik Verkehrsdelikte nicht registriert werden, wurden hier nur Abgeurteilte ohne Vergehen im Straßenverkehr berücksichtigt Verurteilte: Angeklagte, gegen die nach allgemeinem Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geldstrafe (auch durch einen rechtskräftigen Strafbefehl) verhängt worden ist, oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe, Zuchtmittel oder Erziehungsmaßregeln geahndet wurde. Unberücksichtigt blieben Verurteilungen wegen Vergehen im Straßenverkehr Zu ambulanten Sanktionen Verurteilte: bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Geldstrafe, Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafe sowie bei Strafarrest; bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: ambulante Erziehungsmaßregeln (Weisungen), ambulante Zuchtmittel (Verwarnung, Auflagen), zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe Zu stationären Sanktionen Verurteilte: bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, nicht zur Bewährung ausgesetzter Strafarrest. Nach Jugendstrafrecht: unbedingte Jugendstrafe, Jugendarrest, Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung gem. § 12 JGG Die Gegenüberstellung der Daten von PKS und Strafverfolgungsstatistik (StVStat) zeigt lediglich die ungefähren Größenordnungen des Ausfilterungsprozesses. Denn es handelt sich weder bei den Daten der PKS über aufgeklärte Fälle um Untermengen der bekannt gewordenen Fälle, noch sind die Verurteilten eine Untermenge der Tatverdächtigen desselben Jahres z Wegen unterschiedlicher Erfassungszeiträume und Erfassungsgrundsätze stammt nur ein Teil der Verurteilten aus den Tatverdächtigen desselben Berichtsjahres z Die Abgrenzung der Ausweise über Tatverdächtige und Verurteilte (ohne Straftaten im Straßenverkehr) ist nicht völlig identisch z Die als Bezugsgröße dienende Zahl der Tatverdächtigen ist etwas zu niedrig. Wie aus der StA-Statistik hervorgeht, werden nur rund 80% der Ermittlungsverfahren gegen bekannte Täter von der Polizei eingeleitet. In der PKS sind insbesondere nicht berücksichtigt die von der Staatsanwaltschaft unmittelbar und abschließend bearbeiteten Vorgänge, die von den Finanzämtern (Steuervergehen) und von den Zollbehörden (außer den Rauschgiftdelikten) durchermittelten und an die Staatsanwaltschaft abgegebenen Vorgänge Die Zahlen geben nur an, dass im Jahr 2006 im früheren Bundesgebiet (mit Gesamtberlin) 5 255 494 Fälle polizeilich bekannt geworden und im gleichen Jahr 2 864 385 Fälle aufgeklärt worden sind; entsprechend geben sie an, dass 1 794 621 strafmündige Tatverdächtige ermittelt worden sind und im gleichen Jahr 575 152 Verurteilungen (ohne Straftaten im Straßenverkehr) erfolgten. Da es sich nicht um Untermengen handelt, können auch keine Anteile berechnet werden. Die Angaben an der rechten Seite des „Trichters“ sind dementsprechend nicht als Prozentsätze zu verstehen; sie dienen lediglich dazu, die Größenordnungen zu verdeutlichen Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Strafverfolgungsstatistik 2006
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1 Kriminologische Grundlagen
fahrens an andere Behörden abgesehen, dann wird von den Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige ein gutes Drittel (2006: 34,4%) im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Prüfung des Sachverhalts aus diesem Grund ausgeschieden (vgl. Tabelle 1.1.18). Ein weiteres Drittel wird aus Opportunitätsgründen (2006: 34,2%), insbesondere wegen geringer Schwere der Tat, eingestellt. Die dann noch verbliebenen 31,4% der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige wurden 2006 durch Anklage oder Strafbefehl erledigt. Die letzte Stufe der Filterung stellt die gerichtliche Entscheidung dar. Von den Angeklagten werden derzeit knapp 20% nicht verurteilt, darunter etwas weniger als 3% freigesprochen. Bei 8,7% der Verurteilten wurde 2006 bereits im Urteil eine mit Freiheitsentzug verbundene Strafe (unbedingte Freiheits- oder Jugendstrafe, Jugendarrest) angeordnet, 12,9% erhielten eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheits- oder Jugendstrafe, 78,4% wurden zu Geldstrafe oder zu einer ambulanten Sanktion nach Jugendstrafrecht verurteilt. Im Ergebnis wird also – im Schnitt – nur jeder zweite Fall aufgeklärt; nur jede dritte als tatverdächtig registrierte und in der PKS gezählte Person wird auch verurteilt; nur bei etwas mehr als drei von hundert polizeilich ermittelten Tatverdächtigen wird schließlich eine freiheitsentziehende Sanktion verhängt. z Das Strafverfahren ist aber nicht nur ein Prozess der Ausfilterung, sondern auch ein Prozess der Bewertungsänderung im weiteren Gang des justiziellen Verfahrens. Die Erfassung in der PKS tendiert zur Überschätzung, und zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der Taten und der Tatverdächtigen als auch hinsichtlich der Schwere des Sachverhalts, d. h., im Zweifel wird der als schwerer zu beurteilende Sachverhalt angenommen (Überbewertungstendenz). Diese Überbewertung wird, wenn sie im weiteren Fortgang des Verfahrens korrigiert wird, im statistischen Ausweis der PKS nicht zurückgenommen. Insbesondere bei schweren Delikten findet im weiteren Verfahrensgang häufig eine Umdefinition statt, und zwar regelmäßig ein „Herunterdefinieren“. Deren Ausmaß und Art lassen freilich die gegenwärtigen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken nicht erkennen. Aus Aktenanalysen sind aber Größenordnungen bekannt (vgl. Heinz 1999 b, S. 730 ff.). Bei – nach polizeilicher Ausgangsdefinition – vorsätzlichen Tötungsdelikten stellte z. B. Steitz bei einer Analyse von 250 Strafverfahren des Jahres 1971 aus sechs deutschen Großstädten fest, dass es nur in 34% auch zu einer entsprechenden Verurteilung kam. Ein Großteil dieser Abweichungen von der polizeilichen Bewertung beruhte darauf, dass zum einen das Verfahren – aus den verschiedensten Gründen, vor allem aber wegen Todes des Beschuldigten – eingestellt werden musste, zum anderen aber wegen anderer Delikte verurteilt wurde. Im Untersuchungsgut von Steitz erfolgte in jedem vierten Fall eine Umdefinition zu einem anderen, nicht vorsätzlichen Tötungsdelikt (vgl. Abb. 1.1.5). Dass auch in den polizeilich registrierten Fällen von Mord/ Totschlag auf 100 strafmündige Tatverdächtige nur 24 wegen dieser De-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
100
Schuldunfähigkeit
4,0
sonst. Einstellung gem. § 170 II
10,8
Sicherungsverfahren Freispruch/Einstellung Gericht
4,8 6,4
Verurteilung wegen anderen Delikts
25,2
10,7 19,1
3,6
4,5 6,4 5,5 5,5
80
14,3 4,3 7,1
60
13,6 34,3
40
45,5
Verurteilung wegen Tötungsdelikts
bezogen auf N Delikete (%)
Einstellung wegen Todes
14,4
20
34,4 25,7
Tötungen insges. 250
vollendete Tötung 110
versuchte Tötung 140
0
Abb. 1.1.5. Auslese und Bewertungsverschiebung bei vorsätzlichen Tötungsdelikten. Ergebnisse einer Aktenanalyse von 250 Fällen. Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.5 Vorsätzliche Tötungen insgesamt
vollendet
versucht
N
%
N
%
N
%
100 14,4
110 21
100 19,1
140 15
100 10,7
4,0
5
4,5
5
3,6
10,8
7
6,4
20
14,3
4,8 6,4
6 6
5,5 5,5
6 10
4,3 7,1
25,2
15
13,6
48
34,3
34,4 24,0
50 6
45,5 8,5
36 34
25,7 35,4
42,3
15
23,1
48
57,1
z Gesamtzahl Delikte 250 z Einstellungen 36 wegen Todes z Einstellungen wegen 10 Schuldunfähigkeit z sonstige Einstellungen 27 gem. § 170 II StPO z Sicherungsverfahren 12 z Freispruch/Einstellung 16 durch Gericht z Verurteilung, und zwar – wegen anderen 63 Delikts – wegen Tötungsdelikt 86 z vorläufige Umdefinition 40 StA (Anklage) z endgültige Umdefinition 63 Gericht (Urteil)
Quelle: Steitz (1993) S. 111, Tabelle 3 a (eigene Zusammenstellung und Berechnung)
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1 Kriminologische Grundlagen
polizeilich als Mord/Totschlag registrierte Fälle strafmündige Tatverdächtige
2101
88 100
2390
Abgeurteilte
737
Verurteilte
569
24
Freiheitsstrafe1 insgesamt
569
24
Freiheitsstrafe1 ohne Bewährung
546
23
lebenslang (nur allgemeines Strafrecht) 1
31
87
4
Freiheits- und Jugendstrafe
Abb. 1.1.6. Vorsätzliche Tötungsdelikte – polizeilich registrierte Straftaten und ermittelte Tatverdächtige im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle (Trichtermodell) 2006. Absolute Zahlen und Relation zu der Zahl der im selben Jahr registrierten strafmündigen Tatverdächtigen. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.6 2006
Vorsätzliche (vollendete oder versuchte) Tötungsdelikte (§§ 211, 212, 213, 216 StGB) Abgeurteilte Relation zu Polizeilich 100 strafregistrierte und mündigen Verurteilte Fälle/TatTatververdächtige dächtigen
z z z z z z
polizeilich registrierte Fälle 2101 aufgeklärte Fälle 2002 strafmündige Tatverdächtige 2390 Abgeurteilte Verurteilte, darunter Jugend/Freiheitsstrafe insgesamt davon – bedingte Jugend-/ Freiheitsstrafe, davon – bedingte Jugendstrafe – bedingte Freiheitsstrafe – unbedingte Jugend-/Freiheitsstrafe, davon – unbedingte Jugendstrafe – unbedingte Freiheitsstrafe, darunter lebenslang z zeitige Jugend-/Freiheitsstrafe
Anteile in % der Verurteilten
737 569 569
100 30,8 23,8 23,8
23
1,0
4,0
5 18 546
0,2 0,8 22,8
0,9 3,2 96,0
82 464
3,4 19,4
14,4 81,5
87 482
3,6 20,2
15,3 84,7
Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006; Strafverfolgung 2006
100 100
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
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likte Verurteilte kommen (vgl. Abb. 1.1.6), ist deshalb Ergebnis nicht nur von Ausfilterung, sondern auch von Bewertungsänderungen. z Das, was schließlich an Informationen für die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken aufbereitet und in Tabellenwerken ausgewiesen wird, ist letztlich ein zwar wesentlicher, aber kein vollständiger Ausschnitt dessen, was den Strafverfolgungsbehörden bekannt geworden ist. Die Nachweise beschränken sich im Wesentlichen auf Verbrechen und Vergehen, Ordnungswidrigkeiten werden nur summarisch in den Tätigkeitsstatistiken ausgewiesen; Vergehen im Straßenverkehr werden nicht für die PKS erfasst. Die strafrechtlichen Reaktionen, insbesondere die „weichen“ (Diversionsentscheidungen, TOA), werden nur zum Teil oder nur der Zahl nach nachgewiesen; bei ambulanten Sanktionen wird zwar die Zahl, nicht aber die Höhe erfasst. Die Art der Erledigung in besonderen Verfahrensarten, etwa durch Strafbefehl, ist für die Sanktionen nicht erfasst (vgl. Heinz 2008 a, II., 2.2; Heinz 2008 b). Ferner können das Registrierverhalten, insbesondere mögliche Bewertungsänderungen bei unklaren Sachverhalten, sowie die Art der Falloder Vorgangszählung, von Einfluss sein (vgl. Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 17 ff.). Hierzu fehlen regelmäßige Erhebungen. Art und Weise der Datenaufbereitung, insbesondere in festen Tabellenprogrammen, die keine Verknüpfung der Daten zulassen, stecken schließlich den Rahmen möglicher Analysen ab und begrenzen diese (vgl. Heinz 1998). z Konsequenzen der Kontrollabhängigkeit für die Analyse der Entwicklung registrierter Kriminalität. Änderungen der registrierten Kriminalität können nach alledem beruhen auf Änderungen z der (wirklichen) Kriminalität, z der rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere hinsichtlich des Umfangs der Strafbarkeit, z der sozialen Kontrolle bzw. Anzeigebereitschaft, z der Verfolgungsintensität der Instanzen der formellen strafrechtlichen Sozialkontrolle oder z der Erfassungsgrundsätze für die Statistiken oder z des Registrierverhaltens der statistikführenden Stellen. Die wohl einflussreichsten Faktoren sind, abgesehen von Änderungen der statistischen Erhebung oder Aufbereitung, einerseits Änderungen der Kriminalitätswirklichkeit, andererseits der sozialen Kontrolle, namentlich der Anzeigebereitschaft. Der Vergleich von Daten aus Dunkelfeldforschungen mit Hellfelddaten zeigt durchweg erhebliche Diskrepanzen sowohl bezüglich Umfang und Struktur, insbesondere aber im Hinblick auf die Entwicklung der Kriminalitätsindikatoren. Aufgrund des seit 1973 jährlich durchgeführten US-amerikanischen National Crime Victim Survey ist empirisch begründet, dass
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1 Kriminologische Grundlagen
sich Dunkelfeld- und Hellfelddaten gegenläufig entwickeln können, es also kein „Gesetz der konstanten Verhältnisse“ gibt, wonach die Hellfelddaten im Wesentlichen die Entwicklung der Kriminalitätswirklichkeit widerspiegelten (vgl. Abb. 1.1.7). Aus den wenigen deutschen Untersuchungen geht hervor, dass die Hellfelddaten weitaus größere Änderungsraten aufweisen können als die Dunkelfelddaten. So stellte z. B. Schwind bei seinen im Abstand von jeweils rund zehn Jahren durchgeführten Befragungen in Bochum fest, dass zwischen 1975 und 1998 die polizeilich registrierten Körperverletzungen um 228%, die Gesamtzahl aller (also auch der im Dunkelfeld gebliebenen) Körperverletzungsdelikte aber nur um 124% gestiegen ist (vgl. Abb. 1.1.9). Die internationale Dunkelfeldforschung hat ferner gezeigt, dass das Anzeigeverhalten der Opfer deliktspezifisch erheblich unterschiedlich ist, eine enorme Varianz zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen aufweist und zudem keinesfalls über die Zeit konstant ist. Dies gilt insbesondere für Gewaltdelikte. In fast sämtlichen neueren Schülerbefragungen, die seit Ende der 1990er Jahre in Deutschland durchgeführt worden sind, wurde eine Zunahme der Anzeigebereitschaft festgestellt. Ohne Zusatzinformationen aus Dunkelfeldforschungen bleibt deshalb gänzlich ungewiss, ob die statistischen Zahlen die Entwicklung der „Kriminalitätswirklichkeit“ widerspiegeln oder ob sie lediglich das Ergebnis einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld sind. „Die Annahme, die ,Kriminalitätswirklichkeit‘ habe sich ebenso oder zumindest ähnlich wie die ,registrierte‘ Kriminalität entwickelt, ist eine Schlussfolgerung, die auf der (stillschweigenden, aber zumeist unzutreffenden) Annahme beruht, sämtliche neben der Kriminalitätsentwicklung maßgebenden Einflussgrößen auf ,registrierte‘ Kriminalität seien im Vergleichszeitraum konstant geblieben“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 1, 12). Die verfügbaren Hellfeldstatistiken geben deshalb, gemessen an Dunkelfeldbefunden, weder den Umfang noch die Struktur und auch nicht die zeitliche Entwicklung des Kriminalitätsgeschehens zutreffend wieder.
1.1.1.2.3 Vergleichbarkeit als methodische Voraussetzung für regionale Querschnitt- oder zeitliche Längsschnittvergleiche Sowohl die Messung von Kriminalität im regionalen Querschnitt oder im zeitlichen Längsschnitt als auch der Vergleich von nach Alter, Geschlecht oder Nationalität unterschiedlich zusammengesetzten Tätergruppen setzt voraus, dass jeweils Vergleichbares miteinander verglichen wird. Das Vorkommen von Kriminalität ist nicht gleichmäßig über alle Bevölkerungsgruppen verteilt, sondern in hohem Maße vom Alter und vom Geschlecht abhängig. Deshalb wird dieses beeinflusst nicht nur von der Größe, sondern vor allem von der Zusammensetzung der Bevölkerung. Diese Änderungen in Bevölkerungsgröße wie -struktur können z. B. Folge von politischen Ereignissen sein (z. B. des deutsch-deutschen Einigungsprozesses 1990, in dessen Folge die Wohnbevölkerung in Deutschland um gut 15 Mil-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
4,5
Gewaltkriminalität (Mio.)
4,0 3,5 3,0
Gewaltkriminalität (National Crime Victim Survey)
-2 % -28 %
2,5
-33 %
2,0 1,5
-49 %
Polizeilich registrierte Gewaltkriminalität (UCR)
-20 % -1 %
+66 %
2000 2002 1999
05 2005 vs. 1973
+117 %
1,0 0,5 0
1973 1975
1980
1985
1990
1995
Abb. 1.1.7. Gewaltkriminalität im Dunkelfeld und polizeilich registrierte Gewaltkriminalität. USA 1973–2005 Gewaltkriminalität (NCVS): Zahl der polizeilich registrierten Tötungsdelikte plus Zahl der in der Opferstudie ausgewiesenen Vergewaltigungen, Raubdelikte und schweren sowie gefährlichen Körperverletzungen („aggravated assault“), unabhängig davon, ob sie bei der Polizei zur Anzeige gebracht worden sind Polizeilich registrierte Kriminalität: Zahl der im Uniform Crime Report des FBI enthaltenen Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Raubdelikte und schweren sowie gefährlichen Körperverletzungen („aggravated assault“). Nicht enthalten sind Raubüberfälle auf Geschäfte und Unternehmen sowie Delikte mit Opfern unter zwölf Jahren Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.7
1973 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Änderung 1973–2005
National Crime Victimization Survey (NCVS)
Uniform Crime Reports (UCR)
N
N
Änderung 5-JahresZeitraum
3 589 800 3 593 800 3 793 600 3 357 700 3 499 700 3 493 500 2 186 300 1 823 400 –49,2
0,11 5,56 –11,49 4,23 –0,18 –37,42 –16,60
Relation NCVS UCR
Änderung 5-JahresZeitraum
715 300 843 300 1 107 500 1 125 900 1 555 900 1 549 900 1 223 500 1 190 600
17,89 31,33 1,66 38,19 –0,39 –21,06 –2,69
5,0 4,3 3,4 3,0 2,2 2,3 1,8 1,5
66,4
Quelle: Bureau of Justice Statistics, U.S. Department of Justice: Key Crime & Justice Facts at a Glance (veröffentlicht unter: http://www.ojp.usdoj.gov/bjs/glance/cv2.htm)
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1 Kriminologische Grundlagen
lionen anstieg). Abgesehen von solchen außergewöhnlichen Umständen sind sie regelmäßige Folge von Schwankungen der Geburtenraten oder von Wanderungsbewegungen. Der Vergleich absoluter Zahlen ist deshalb irreführend. Vielmehr müssen demografische Veränderungen bzw. Unterschiede in Bevölkerungsgröße und -struktur verschiedener Regionen/Gebiete in statistischer Hinsicht dadurch berücksichtigt werden, dass die absoluten Zahlen jeweils zur Größe der Wohnbevölkerung in Bezug gesetzt und sogenannte Belastungszahlen (Tatverdächtigenbelastungszahl, Verurteiltenbelastungszahl) berechnet werden, bei denen die Zahl der Tatverdächtigen bzw. der Verurteilten jeweils auf 100 000 der alters- und/oder geschlechtsgleichen Wohnbevölkerung bezogen wird. Solche Berechnungen setzen indes voraus, dass die Bezugsgröße, hier: die Zahl der zur Wohnbevölkerung gemeldeten Personen, hinreichend genau bekannt ist. In der Wohnbevölkerung sind aber nicht berücksichtigt z nicht meldepflichtige Personen, insbesondere ausländische Durchreisende und Touristen sowie grenzüberschreitende Berufspendler, ferner Angehörige der Stationierungsstreitkräfte und der ausländischen diplomatischen und konsularischen Vertretungen mit ihren Familienangehörigen, z zwar meldepflichtige, aber nicht gemeldete Personen, insbesondere sich illegal Aufhaltende. Wenn, wie dies geschehen ist, sowohl die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen als auch der mutmaßliche Anteil der nicht bei den Einwohnermeldebehörden registrierten Ausländer zunimmt, dann führt dies zu einer systematischen, stetig stärker werdenden Überschätzung der Tatverdächtigungsbelastungszahl von Nichtdeutschen. Auf der Grundlage der veröffentlichten Daten der amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken sind deshalb gültige Tatverdächtigungsbelastungszahlen beziehungsweise Verurteiltenbelastungszahlen für die nichtdeutschen Tatverdächtigen beziehungsweise Verurteilten nicht ermittelbar. Sowohl Bundeskriminalamt als auch Statistisches Bundessamt verzichten aus diesem Grund seit vielen Jahren auf die Berechnung entsprechender Belastungszahlen. Möglich ist lediglich die Berechnung von Belastungszahlen für die Teilgruppe der deutschen Tatverdächtigen und Verurteilten. Denn nur für diese Gruppe ist die Bezugsgröße, die Wohnbevölkerung, mit hinreichender Genauigkeit bekannt.
1.1.1.2.4 Methodische Konsequenzen aus der Einsicht in die Kontrollabhängigkeit von registrierter Kriminalität Aufgrund der Daten zur Hellfeldkriminalität allein kann kein sachgerechtes Bild von Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität gewonnen werden. Erforderlich ist vielmehr zweierlei: Zum einen müssen diese Informationen, soweit wie möglich, durch Befunde aus anderen Quellen, insbesondere aus Dunkelfelduntersuchungen und durch andere Datenquellen (z. B. Daten der Versicherungen, der Verkehrsbetriebe, der Kaufhäuser,
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
schulärztliche Berichte) ergänzt und geprüft werden. Zum anderen genügt es selbst für eine Analyse der Hellfeldkriminalität nicht, die Daten nur einer der verschiedenen Statistiken, etwa der PKS, heranzuziehen. Die unterschiedlichen Ausfilterungen und Bewertungen – einschließlich der abschließenden justiziellen Bewertung – sind durch Berücksichtigung sämtlicher relevanter Informationen abzubilden, um Fehleinschätzungen und Falschbewertungen möglichst zu vermeiden. Nur auf diese Weise lässt sich das mögliche Maß an Überbewertung und Überschätzung zu Beginn eines Verfahrens in etwa beurteilen. Und nur indem jeder Statistik ihre „relative Wahrheit“ zugebilligt wird, lässt sich der verbreiteten Gefahr vorbeugen, die Daten der PKS als Prüfmaßstab zu nehmen mit der Folge, „Nichtverurteilung“ als Versagen der Strafverfolgungsorgane zu deuten. Sowohl das Fehlen regelmäßig erhobener Dunkelfelddaten als auch – aus kriminologischer Sicht – Lücken und Mängel des derzeitigen Systems der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken (vgl. Heinz 2008 b) erlauben es indes nur eingeschränkt, diesen Forderungen zu entsprechen. Hinzu kommt, dass bislang Kriminalitätsanalysen auf der Grundlage von mehreren Datenquellen die seltene Ausnahme waren, weshalb Erfahrungen und Erkenntnisse mit der an sich gebotenen Datentriangulation kaum gemacht bzw. gesammelt werden konnten. Von amtlicher Seite aus wurde mit dem Ersten Periodischen Sicherheitsbericht erstmals versucht, „ein möglichst umfassendes Bild der Kriminalitätslage zu erstellen, das Erkenntnisse aus den vorhandenen amtlichen Datensammlungen, insbesondere Daten der polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafrechtspflegestatistiken, . . . in einem Bericht zusammenfasst und zugleich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen . . . verknüpft“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. XXIX). Damit ist ein Standard erreicht, hinter dem die wissenschaftliche Kriminalitätsanalyse nicht mehr zurückbleiben sollte.
1.1.2
Kriminalität im Dunkelfeld – Umfang, Struktur und Entwicklung
1.1.2.1 Umfang und Struktur der Dunkelfeldkriminalität Als mögliche Methoden der Dunkelfeldforschung werden das Experiment, die teilnehmende Beobachtung sowie die Befragung von – im Idealfall – repräsentativen Bevölkerungsstichproben (in Form von sog. Täter-, Opfer oder Informantenbefragung) eingesetzt. Als Erkenntnismittel für eine repräsentative, auf Kontinuität angelegte Informationsgewinnung hinsichtlich Umfang, Struktur und Entwicklung des Dunkelfeldes scheiden Experiment und teilnehmende Beobachtung indes zumeist aufgrund des Aufwandes und wegen der kaum zu gewährleistenden Repräsentativität der Befunde aus. Vor allem aus forschungsökonomischen Gründen hat sich die Befragung durchgesetzt, und zwar insbesondere als Täter- oder als Opferbefragung (zu Methoden der Dunkelfeldforschung vgl. Heinz 2006 b).
21
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1 Kriminologische Grundlagen
In Deutschland wurden die ersten Opferuntersuchungen in den 1970er und 1980er Jahren anhand von lokal begrenzten Stichproben durchgeführt. Als fester Bestandteil kriminologischer Regionalanalysen im Rahmen kommunaler Kriminalprävention haben sich Opferbefragungen auf gemeindlicher Ebene spätestens seit Mitte der 1990er Jahre etabliert. Auf bundesweiter Ebene wurden die ersten Opferbefragungen erst Ende der 1980er Jahre durchgeführt, zunächst bei Stichproben, die für die alten beziehungsweise die neuen Bundesländer, später auch für das gesamte Gebiet der Bundesrepublik repräsentativ waren. Die letzte, bundesweit repräsentative Befragung fand 2004/5 statt, und zwar im Rahmen des International Crime Victim Survey. Täterbefragungen, allerdings beschränkt auf junge Menschen, die sich in regelmäßig leicht erreichbaren Situationen befinden – vor allem als Schüler, als Studenten oder als Rekruten bei der Musterung –, wurden seit den 1960er Jahren immer wieder in Deutschland durchgeführt (Nachweise bei Heinz 2006 b). Mit Befragungen lässt sich indes nur ein Teil des Dunkelfeldes erforschen, weil es eine Reihe von Fall- und Tätergruppen gibt, die sich mit dieser Methode entweder nicht oder nur mit (un)verhältnismäßig großem Aufwand untersuchen lassen. Hierzu zählen insbesondere schwere Formen der Kriminalität sowie Ereignisse im Privatraum von Familie und Partnerschaft. Über Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität in ihrer Gesamtheit ist deshalb – empirisch belegt – nichts bekannt. Aber auch bezüglich der Eigentums- und Vermögensdelikte, dem gegenwärtigen Hauptbefragungsgebiet von Dunkelfeldforschungen, kann das Dunkelfeld weder vollständig noch verzerrungsfrei aufgehellt werden. Die Grenzen für Dunkelfeldforschungen beruhen zum einen auf den allgemeinen methodischen Problemen von Stichprobenbefragungen, zum anderen auf speziellen Problemen dieses Befragungstyps. Hierzu zählen die beschränkte Erfragbarkeit bestimmter, namentlich schwerer Delikte, die Verständlichkeit der Deliktfragen, die Erinnerungsfähigkeit der Befragten und der Wahrheitsgehalt der Aussagen (vgl. Heinz 2006 b, S. 262 f.). Kriminalitätswirklichkeit wird aber auch in diesen gegenständlich beschränkten Dunkelfeldforschungen nicht gemessen, sondern immer nur die Selbstbeurteilung und Selbstauskunft der Befragten, d. h. es wird erfasst, wie Befragte bestimmte Handlungen definieren, bewerten, kategorisieren, sich daran erinnern und bereit sind, darüber Auskunft zu geben. Dunkelfeldforschungen sind deshalb kein Ersatz für Kriminalstatistiken, sie sind aber eine notwendige Ergänzung der Kriminalstatistiken, um – jedenfalls für Teilbereiche – die stattfindenden Selektionsprozesse, insbesondere hinsichtlich der Anzeige, erkennen, quantitativ einordnen und in ihrer Bedeutung für das kriminalstatistische Bild bewerten zu können. Im Unterschied zu den USA und einigen europäischen Staaten, wie Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden, wo schon seit Jahren periodische Opferbefragungen bei national repräsentativen, großen Stichproben durchgeführt werden, gibt es in der Bundesrepublik noch keine periodische Opferuntersuchung. Die in den 1990er Jahren erstmals bundes-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
weit durchgeführten Opferbefragungen (zusammenfassend Heinz 2006 b, S. 251) sind wegen unterschiedlicher Grundgesamtheiten, wegen Unterschieden in den Stichprobengrößen, im Stichprobendesign, in den Erhebungsmethoden und des Erhebungskontextes, vor allem in den Operationalisierungen der abzufragenden Viktimisierungen sowie wegen unterschiedlicher Referenzzeiträume nur bedingt miteinander vergleichbar. Nach den beiden 1997 bundesweit durchgeführten Opferbefragungen berichteten rund 20% der Befragten über eine Viktimisierung innerhalb der letzten zwölf Monate im Bereich vor allem der Eigentums- oder Vermögensdelikte. Im Wesentlichen zeigen diese Befunde: z Unter den üblicherweise abgefragten Delikten – Sachbeschädigung, einfacher Diebstahl, Einbruchdiebstahl, Angriff/Drohung, Körperverletzung, Tabelle 1.1.3. Opferprävalenzraten in bundesweit repräsentativen Untersuchungen – 1995, 1996 und 1997 – Referenzperiode jeweils 12 Monate Studie Referenzjahr N Sachbeschädigung z PKW beschädigt z sonstiges Eigentum beschädigt
FG KKP 1998 1995 20 693
Heinz 1996 1996 3097
Heinz u .a. 1998 SWB 1997 3272
Heinz u. a. 1998 MTU 1997 20 070
7,3 3,1
7,9 2,2
5,7 2,0
4,4 1,4
Diebstahl z Kraftfahrzeugdiebstahl z Diebstahl aus Auto/von Autoteilen z Fahrraddiebstahl z Einbruch-/Einbruchsversuch z Einfacher Diebstahl sonstigen persönlichen Eigentums
1,3 3,9 5,0 2,1 4,2
1,1 3,5 4,5 2,0 4,4
1,0 2,6 5,2 1,8 3,4
1,1 2,5 4,2 1,7 2,5
Betrug
5,9
5,2
4,0
2,2
Gewalt z Drohung, tätlicher Angriff z Raub/Raubversuch z Vergewaltigung/-versuch
2,8 1,4 0,6
3,7 1,5 0,4
2,0 1,1 0,3
1,5 0,8 0,2
22,7
20,6
19,5
15,9
Gesamtprävalenzrate
SWB Befragungsergebnisse SozialwissenschaftenBus III/97 MTU Befragungsergebnisse GfM-GETAS-Mehrthemengroßumfrage Quellen: FG KKP Forschungsgruppe Kommunale Kriminalprävention in Baden-Württemberg (1998) Heinz (1996) SozialwissenschaftenBus III/96 (unveröffentlicht) Heinz u. a. (1998) Heinz W., Spiess, G., Schnell, R., Kreuter, F. (1998)
23
z
z z
z z
1 Kriminologische Grundlagen
Raub, Vergewaltigung – dominieren die einfachen Fälle von Diebstahl und Sachbeschädigung. Gewaltdelikte sind – auch im Dunkelfeld – relativ seltene Ereignisse (vgl. Tabelle 1.1.3). Das Dunkelfeld ist, wie die Angaben der Befragten zur Anzeigeerstattung erkennen lassen, deliktspezifisch unterschiedlich groß. Die Anzeigewahrscheinlichkeit weist erhebliche Varianz auf (vgl. oben Abb. 1.1.2), und zwar vor allem in Abhängigkeit vom Delikt, namentlich von der (subjektiv eingeschätzten) Deliktschwere und vom Versicherungsschutz sowie von der Einschätzung des Erfolgs polizeilicher Tätigkeit. Vergewaltigung wird z. B. weitaus seltener angezeigt als ein Wohnungseinbruch; Straftaten in der Familie oder unter Beteiligung von Verwandten bleiben häufiger im Dunkelfeld als vergleichbare Straftaten unter Fremden. Bei Eigentumsdelikten beeinflusst vor allem die Schwere des erlittenen Schadens und das Vorhandensein einer Versicherung die Anzeigebereitschaft, d. h. mit der Schadenshöhe und in Abhängigkeit von Versicherungsbedingungen steigt die Wahrscheinlichkeit der Anzeige. Männer werden insgesamt gesehen etwas häufiger Opfer als Frauen (vgl. Abb. 1.1.8). Jüngere Menschen werden häufiger Opfer als ältere Menschen. Die Opferraten nehmen im Schnitt nach dem 35. Lebensjahr deutlich ab, allerdings bestehen erhebliche deliktspezifische Unterschiede (vgl. Abb. 1.1.18).
Hinsichtlich der Deliktstruktur zeigen (allerdings auf leicht erreichbare Zielpopulationen, wie Schüler, Studenten, Wehrpflichtige beschränkte) Täterbefragungen (zusammenfassend Heinz 2006 b) innerhalb des schmalen und überwiegend minder schweren Deliktspektrums, das diesen Befragungen regelmäßig zugrunde liegt, ein vergleichbares Bild. Es dominieren 35
Anteile bezogen auf Befragte in der jeweiligen Altersgruppe (%)
24
M: Männer F: Frauen
nur Sachbeschädigung (auch) Diebstahl (auch) Nahraum (auch Gewalt)
30 25 20 15 10 5 0
M
F
16–24
M
F
25–29
M
F
30–34
M
F
35–44
M
F
45–54
M
F
55–64
M
F
≥65
M
F
gesamt
Abb. 1.1.8. Viktimisierung nach Alter und Geschlecht. Bundesrepublik Deutschland, Mehrthemenumfrage 1995 (N = 20 695)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
25
Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.8 Männer Alter in vollende- 16–24 ten Jahren
R(n)
25–29
30–34
35–44
45–54
55–64
> 64
854 66,9
875 69,9
820 72,4
1388 74,5
1076 75,2
1273 77,1
1240 87,0
7526
422 33,1 z nur Sach49 beschädigung 3,8 z (auch) Diebstahl/ 235 Betrug 18,4 z (auch) Nah14 raumdelikte 1,1 z (auch) Gewalt 124 9,7
376 30,1 55 4,4 247 19,7 12 1,0 62 5,0
312 27,6 60 5,3 192 17,0 14 1,2 46 4,1
476 25,5 95 5,1 288 15,5 33 1,8 60 3,2
355 24,8 64 4,5 204 14,3 29 2,0 58 4,1
379 22,9 84 5,1 199 12,1 51 3,1 45 2,7
185 13,0 43 3,0 98 6,9 21 1,5 23 1,6
2505
keine Opfererfahrung Opfererfahrung
R(n)
1276
450 1463 174 418
1251
1132
1864
1431
1652
1425
10 031
25–29
30–34
35–44
45–54
55–64
> 64
R(n)
985 73,4
913 73,2
921 76,6
1600 77,0
1139 77,9
1287 84,6
1615 89,2
8460
357 26,6 nur Sachbeschä- 50 digung 3,7 (auch) Diebstahl/ 185 Betrug 13,8 (auch) Nahraum- 16 delikte 1,2 (auch) Gewalt 106 7,9
335 26,8 70 5,6 183 14,7 19 1,5 63 5,1
282 23,4 46 3,8 163 13,6 18 1,5 55 4,6
477 23,0 85 4,1 280 13,5 33 1,6 79 3,8
323 22,1 61 4,2 182 12,5 26 1,8 54 3,7
234 15,4 38 2,5 141 9,3 25 1,6 30 2,0
195 10,8 22 1,2 104 5,8 33 1,8 36 2,0
2203
Frauen Alter in vollende- 16–24 ten Jahren keine Opfererfahrung Opfererfahrung z z z z
R(n)
1342
1248
1203
Quelle: Lisbach, Spiess (2003) S. 210, Abb. 1
2077
1462
1521
1810
372 1238 170 423 10 663
26
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.4. Dunkelfeldkriminalität – Prävalenzraten delinquenten Verhaltens in den letzten 12 Monaten, nach Geschlecht. KFN-Schülerbefragung 2000 (Hamburg, Hannover, Leipzig, München, Friesland, jeweils 9. Jahrgangsstufe; gewichtete Daten; gültige N = 9829) Delinquenz in den vergangenen 12 Monaten
männliche Jugendliche
weibliche Jugendliche
Insgesamt
Schwarzfahren Ladendiebstahl Fahren ohne Fahrerlaubnis Körperverletzung Vandalismus/Sachbeschädigung Graffiti sprühen Diebstahl von Fahrrad/Mofa Einbruch in Gartenlaube Raub Drohung mit Waffe Einbruch in Auto Erpressung
2759 1355 1178 1043 935 568 365 289 222 220 145 77
63,4% 29,5% 25,7% 22,9% 20,2% 12,2% 7,8% 6,2% 4,7% 4,6% 3,1% 1,6%
2917 1288 608 367 384 233 90 89 61 43 32 22
63,3% 26,3% 12,3% 7,4% 7,7% 4,7% 1,8% 1,8% 1,2% 0,9% 0,6% 0,4%
5676 2643 1786 1410 1319 801 455 378 283 263 177 99
63,4% 27,8% 18,8% 14,8% 13,7% 8,3% 4,7% 3,9% 2,9% 2,7% 1,8% 1,0%
Gesamtprävalenzrate total . . . ohne Schwarzfahren
3428 2554
71,4% 53,2%
3394 1928
67,6% 38,4%
6822 4482
69,4% 45,6%
Quelle: Wilmers et al. (2002), S. 88 (absolute Zahlen von den Verf. mitgeteilt)
Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung und Sachbeschädigung (vgl. als Beispiel Tabelle 1.1.4). Schwere Straftaten sind ebenso die Ausnahme wie die sehr oft wiederholte Straftatbegehung. Bei jugendtypischen Verfehlungen dominiert die Begehung in Gruppen Gleichaltriger. Auch nach Dunkelfeldergebnissen ist die Delinquenzbelastung von Mädchen und Frauen wesentlich geringer als die ihrer männlichen Altersgenossen. Sie ist freilich nicht so gering, wie dies nach den Kriminalstatistiken zu sein scheint. Das Verhältnis beträgt in den einzelnen Untersuchungen zwischen 1 zu 1,3 bis 1 zu 3 (vgl. Heinz 2002 b, S. 139 ff.). Bei einigen Delikten, wie Fahrgeldhinterziehung, Ladendiebstahl, Rauschmittelumgang, gleichen sich die Belastungen der Geschlechter fast völlig; mit steigender Häufigkeit und Schwere der erfragten Delikte nimmt dagegen der Geschlechterabstand wieder zu. Mit Gewalt assoziierte Delikte finden sich fast nur bei Jungen. Intensiv- oder Mehrfachtäter sind eine kleine Minderheit. Wird bei jungen Menschen nicht nur nach den im letzten Jahr, sondern auch nach in früheren Jahren verübten Delikten gefragt, dann zeigt sich, dass es für den unteren und teilweise für den mittleren Schwerebereich der Kriminalität (einfache Diebstähle, Unterschlagung, Betrügereien, Schlägereien, Schwarzfahren, Hausfriedensbrüche, Vandalismus, Drogenbesitz usw.) im statistischen Sinne – jedenfalls für männliche Jugendliche – „normal“ ist, im Jugendalter zu delinquieren. „Im Schnitt über 90% der mit Be-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
fragungen erfassbaren Jungen und jungen Männer geben an (bzw. zu), mindestens einmal in ihrem seitherigen Leben, regelmäßig jedoch wiederholt, Handlungen begangen zu haben, die juristisch unter eine Strafnorm des Strafgesetzbuchs oder eines Gesetzes aus dem sog. Nebenstrafrecht . . . subsumiert werden könnten“ (Kerner 1993, S. 29). Straftaten werden im Jugendalter nicht nur von einer kleinen Außenseitergruppe begangen; in gelegentlichen und bagatellhaften Formen ist die Straftatbegehung „ein statistisch normales Phänomen dieser Entwicklungsphase“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 552). Insoweit muss die übliche Scheidung in Kriminelle und Nichtkriminelle aufgegeben werden zugunsten der Vorstellung eines Kontinuums, an dessen einem Ende die Mehrzahl der Jugendlichen mit wenigen und leichten Delikten steht, an dessen anderem Ende sich relativ wenige Jugendliche mit vielen und/oder schweren Delikten befinden. Insofern ist Jugendkriminalität – im Bereich der Massen- und Bagatellkriminalität – ein alters- beziehungsweise entwicklungstypisches Phänomen. Diese allgemeine Verbreitung (Ubiquität) bagatellhafter oder leichter jugendtypischer Verfehlungen steht im Widerspruch zur Annahme, Verstöße gegen Strafnormen seien immer oder doch regelmäßig Symptome für manifeste Erziehungsdefizite. Jugendkriminalität ist – im statistischen Sinne – im unteren Schwerebereich der Kriminalität „normal“, anormal ist es aber – ebenfalls im statistischen Sinne –, deshalb erwischt und strafrechtlich verfolgt zu werden. Nur ein Teil der Befragten, die in Täterbefragungen eine Deliktbegehung angegeben hatten, wird auch „erwischt“. In der bereits erwähnten repräsentativen Befragung von 13- bis 17-jährigen Jugendlichen in Bielefeld und Münster wurden nach Auskunft der Jugendlichen insgesamt nur knapp 5% der zugegebenen Delikte (Körperverletzung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Betrug) der Polizei bekannt (Karstedt-Henke u. Crasmöller 1988, S. 709). Diese Größenordnung wird bestätigt durch die Ergebnisse einer Befragung von Studenten, bei der lediglich 7% der delinquent gewordenen Befragten angaben, von der Polizei aufgrund delinquenten Verhaltens, insbesondere wegen Ladendiebstahls, Unfallflucht oder Sachbeschädigung, belangt worden zu sein (vgl. Kreuzer et al. 1993, S. 164 ff.). Einschränkend muss freilich hinzugefügt werden, dass diese Befunde hinsichtlich der gesamten Bandbreite jugendkriminellen Verhaltens nicht verallgemeinerbar sind, denn es handelt sich hierbei um eine Feststellung, die für bestimmte Delikte getroffen worden ist, wobei diese Delikte die Besonderheit aufweisen, dass entweder die Entdeckungswahrscheinlichkeit (z. B. Ladendiebstahl, Betrug) oder die Anzeigebereitschaft (z. B. einfache Körperverletzung, Betrug) und/oder die Aufklärungswahrscheinlichkeit sehr gering sind. Gleichwohl heißt dies, dass Jugendkriminalität überwiegend im Dunkelfeld bleibt. Doch auch wenn die Mehrzahl der – jedenfalls leichteren – Delikte im Dunkelfeld bleibt, wächst die Wahrscheinlichkeit polizeilicher Registrierung mit steigender Deliktschwere und -häufigkeit. Aber selbst bei den Höchstbelasteten ist die Polizeiauffälligkeit (jedenfalls bei Bagatelldelikten) die Ausnahme; unter dem Gesichtspunkt der Deliktschwere bietet sich ein ähnliches Bild.
27
28
z
1 Kriminologische Grundlagen
Dennoch, auch dies zeigen Dunkelfelduntersuchungen, hören die meisten Jugendlichen von selbst auf, Straftaten zu verüben, d. h. auch ohne förmliche Reaktion durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Justiz. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle kommt es nicht zu einer „kriminellen Karriere“. Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten bleibt für die weit überwiegende Zahl der Jugendlichen Episode im Rahmen ihres Reifungs- und Anpassungsprozesses. „Es werden also nur wenige erwischt, fast alle aber hören auf, auch ohne verfolgt worden zu sein“ (Kerner 1984, S. 22). Kennzeichnend für Jugendkriminalität ist deshalb: z ihre weite Verbreitung in allen sozialen Schichten („Ubiquität“), z ihre Episodenhaftigkeit, d. h. Jugendkriminalität bleibt regelmäßig auf diesen Entwicklungsabschnitt beschränkt, z ihre Bagatellhaftigkeit, z ihre Nichtregistrierung durch die Polizei, z die Spontanbewährung, d. h. der weitestgehende Abbruch der Tatbegehung, und zwar auch ohne Intervention durch Polizei oder Justiz, sowie z die Beschränkung von schwerer oder häufig wiederholter Straftatbegehung auf eine kleine Gruppe (Mehrfach- oder Intensivtäter).
1.1.2.2
Entwicklung der Dunkelfeldkriminalität
1.1.2.2.1 Ergebnisse von Opferbefragungen Hinsichtlich der Entwicklung der Dunkelfeldkriminalität fehlen für Deutschland bundesweit repräsentative, wiederholt und mit vergleichbarem Design durchgeführte Untersuchungen. Die einzige deutsche, regional (auf Bochum) beschränkte Studie, in der mit vergleichbarer Methode zu drei verschiedenen, jeweils mindestens zehn Jahre auseinander liegenden Messzeitpunkten (Bochum 1975, 1986, 1998) Daten auch zum Anzeigeverhalten erhoben worden sind, ergab hinsichtlich Diebstahl eine leichte Abnahme und hinsichtlich Körperverletzung eine deutliche Zunahme der Anzeigebereitschaft. Die Zahl der im Dunkelfeld verbliebenen Körperverletzungen war 1975 siebenmal so hoch wie im Hellfeld, 1998 dagegen nur noch dreimal so hoch (vgl. Abb. 1.1.9). Zwei Drittel der Zunahme polizeilich registrierter Körperverletzungsdelikte in Bochum beruhten demnach, werden diese Ergebnisse zugrunde gelegt, auf einer bloßen Veränderung der Anzeigebereitschaft. Ob dies über Bochum hinaus, bundesweit und auch für andere Deliktgruppen gilt, lässt sich für die Situation in Deutschland mangels entsprechender repräsentativer, bundesweit kontinuierlich durchgeführter Dunkelfeldforschungen nicht sagen.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
Anzahl Körperverletzungen
10000
nicht angezeigt angezeigt
8000
z
Σ =8748
Σ =7079
Σ =7231
6214
6241
865
990
Anzeigerate (%)
1975 12
1986 14
1998 23
im Vergleich zu 1975 (1975=100): angezeigt nicht angezeigt Anzahl KV gesamt
100,0 100,0 100,0
114,5 100,4 102,1
228,4 109,0 123,6
6000 6772
4000 2000 0
1976
Abb. 1.1.9. Entwicklung der absoluten Zahlen angezeigter und nicht angezeigter Körperverletzungen in den Untersuchungen Bochum I bis Bochum III (1975/1986/1998) Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.9
Körperverletzung insgesamt z Körperverletzung – nicht angezeigt z Körperverletzung – angezeigt Anzeigerate z Anstieg insgesamt z Anstieg Dunkelfeld z Anstieg Hellfeld
Bochum I (1975)
Bochum II (1986)
Bochum III Änderung Anteil an (1998) 1998 Änderung gegenüber (in %) 1975
7079
7231
8748
1669
6214
6241
6772
558
33,4
865
990
1976
1111
66,6
12,2 100 100 100
13,7 102,1 100,4 114,5
22,6 123,6 109,0 228,4
66,6 23,6 9,0 128,4
Quelle: Schwind, Fetchenhauer, Ahlborn, Weiß (2001) S. 142
1.1.2.2.2 Ergebnisse von Täterbefragungen Nicht nur zur Entwicklung selbst erlittener Viktimisierung durch Opferbefragung, sondern auch zur Veränderung selbstberichteter Delinquenz im zeitlichen Längsschnitt fehlen für Deutschland bundesweit repräsentative Studien. Anhaltspunkte geben lediglich Befunde aus wiederholt durchgeführten Befragungen zu selbstberichteter Delinquenz bei Studenten sowie Schülerbefragungen zu Delinquenz innerhalb wie außerhalb der Schule. Er-
29
30
z
1 Kriminologische Grundlagen
gänzend herangezogen werden können ferner noch die dem Bundesverband der Unfallkassen gemeldeten Unfälle durch Raufereien an allgemeinbildenden Schulen. Nach den regelmäßig seit 1976/77 durchgeführten Gießener Studentenbefragungen haben sich die Lebenszeitprävalenzen bei Eigentumsdelikten und bagatellhafter Delinquenz – bei Schwankungen im Einzelnen – kaum verändert, ausgenommen bei Drogenkonsum (vgl. Kreuzer et al. 1993, S. 145, Tabelle 54). Schülerbefragungen zeigen, dass es in den 1990er Jahren auch im Dunkelfeld zu einem Anstieg der Jugendgewalt gekommen ist, der aber moderater ausfiel als die Anstiege in der PKS suggerieren. So stellten z. B. Mansel und Hurrelmann fest, dass die Prävalenzrate Jugendlicher bei Gewaltdelikten nach PKS-Daten in NRW zwischen 1988 und 1996 um 121% gestiegen ist, sich also mehr als verdoppelt hatte, in ihren Schülerbefragungen stellten sie dagegen eine Zunahme von nur 30% fest (vgl. Tabelle 1.1.5). Ferner wurde ein Anstieg bei den Mehrfachtätern bei Gewalttaten (von 6,6% auf 9,7%) und bei Eigentumsdelikten (von 5,0% auf 10,0%) festgestellt. Weniger der steigende Anteil jugendlicher Gewalttäter als die Tatsache, dass ein kleiner Anteil von Jugendlichen immer häufiger gewalttätig wird, war nach Auffassung der Autoren das Beunruhigende ihrer Befunde. Tabelle 1.1.5. Gewalt- und Eigentumsdelikte Jugendlicher aus Nordrhein-Westfalen 1988 und 1996. Tatverdächtigenbelastungszahlen und Prävalenzraten (Ergebnisse der Schülerbefragung – 7. und 9. Schuljahrgangsstufe in Essen, Bielefeld und Kreis Lippe)
Tatverdächtigenbelastungszahlen der Jugendlichen (PKS NRW) z Straftaten insgesamt (ohne Straßenverkehr) z Gewaltdelikte Prävalenzraten (Schülerbefragung – 7. und 9. Schuljahrgang) z Eigentums- und Fälschungsdelikte – mindestens eine Handlung a z Aggressive Handlungen b a
b
1988
1996
%-Veränderung 1988 . . . 1996
4672 421
7343 929
57,2 120,7
20,4
35,0
71,6
37,2
48,2
29,6
Zusammengefasst sind die Ergebnisse zu folgenden Fragen: irgendwo Sachen mitgenommen haben, die ihnen nicht gehören (einfacher Diebstahl), irgendwo eingebrochen haben (z. B. in ein Gebäude, ein Auto oder einen Automaten) (schwerer Diebstahl, Einbruchdiebstahl), eine Unterschrift nachgemacht haben (Urkundenfälschung). Zusammengefasst sind die Ergebnisse zu folgenden Fragen: Sachen von anderen absichtlich zerstört oder beschädigt (Sachbeschädigung), jemanden absichtlich geschlagen oder verprügelt (Körperverletzung), jemanden bedroht, damit er oder sie das tut, was Du willst (Erpressung), jemandem eine Sache mit Gewalt weggenommen (Raub).
Quelle: Mansel, Hurrelmann (1998) Tabelle 4
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Der Forschungsstand sprach deshalb bis vor Kurzem noch dafür, dass „der längerfristige Anstieg jugendlicher Aggression und Delinquenz kein bloßes Artefakt offizieller Statistiken ist. Auch hinsichtlich der besonderen Problematik multipel belasteter Intensivtäter besteht Übereinstimmung. Insgesamt ist aber der Zuwachs in den Befragungsdaten geringer als in der PKS“ (Lösel u. Bliesener 2003, S. 5). Wird dieser Befund akzeptiert, dann liegt die Annahme nahe, dass eine Zunahme der Anzeige- und Registrierungswahrscheinlichkeit für den stärkeren Anstieg in der PKS verantwortlich war. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre scheint jedoch eine Änderung eingetreten zu sein. Die Raten selbstberichteter Delinquenz, auch der Gewaltdelinquenz, nehmen nicht mehr zu, sondern gehen überwiegend zurück. Sehr deutlich ist dies an den Ergebnissen von Sturzbecher et al. ablesbar. In ihrer für 13- bis 18-jährige brandenburgische Schüler repräsentativen Befragung kamen Sturzbecher et al. zum Ergebnis, dass es zwischen 1993 und 1996 sowohl zu einem Anstieg der Befürwortung von Gewalt gekommen ist als auch zu einer deutlichen Zunahme der von den Jugendlichen nach eigenen Angaben begangenen Gewalthandlungen (Langner u. Sturzbecher 1997, S. 176 ff.). In der dritten und vierten Welle dieser Untersuchung (1999 im Vergleich zu 1996; 2001 gegenüber 1999) war dagegen die aktive Begehung von Gewalthandlungen rückläufig (Sturzbecher 2001; Sturzbecher et al. 2002, S. 191 ff.). Die Gewaltakzeptanz war 1996 gegenüber 1993 etwas geringer, 2001 war insoweit gegenüber 1999 keine nennenswerte Veränderung feststellbar. Der Anteil der Jugendlichen mit hoher Gewaltakzeptanz war mit 3% jedoch relativ gering. In ihrer 1998, 2002 und 2006 in Greifswald durchgeführten Schülerbefragung (9. Jahrgangsstufe) stellten Dünkel et al. (2006, S. 26 ff.) für alle zehn erhobenen Delikte (fünf Gewalt- und fünf Nichtgewaltdelikte) eine Abnahme der Lebenszeitprävalenz zwischen dem ersten und dem letzten Befragungszeitpunkt von rund 22% fest (vgl. Abb. 1.1.10). Dies beruhte vor allem auf dem Rückgang beim Ladendiebstahl; Gewaltdelikte waren im Wesentlichen konstant. Insgesamt berichteten 6,1% der Jugendlichen von fünf oder mehr verübten Gewaltdelikten. Dieser Anteil der Mehrfachtäter bei Gewaltdelikten blieb relativ stabil, der leichte Anstieg von 6,1% (1998) auf 6,8% (2006) war statistisch nicht signifikant. Die Anzeigequote bei Gewaltdelikten stieg (bezogen auf die Jahresinzidenzraten) von 14,8% auf 17,9% an, bezogen auf die letzte Gewaltopfererfahrung von 21,3% auf 23,8% (ebd., S. 50 f.). Hinsichtlich der Schadensfolgen wurde keine Zunahme von schweren Folgen festgestellt. Im Gegenteil: Bezüglich aller Gewaltviktimisierungen hat sich der Anteil der leichten Schäden erhöht (materieller Schaden bis maximal 50 1 oder keine ärztliche Behandlung erforderlich). Bei den angezeigten Gewaltviktimisierungen erhöhte sich der Anteil der minderschweren Fälle zwischen 1998 und 2006 um gut 10%-Punkte (ebd., S. 501 f.). Der Anteil der Jugendlichen mit gewaltbefürwortenden Einstellungen ging insgesamt gesehen leicht zurück, was aber vor allem auf einem Austausch der Jugendlichen mit deutlicher Ablehnung und eher ambivalen-
31
32
z
1 Kriminologische Grundlagen 68,0
insgesamt
55,5 53,2 57,6
Ladendiebstahl
43,9 41,0 3,5 3,5 2,7
Einbruchdiebstahl (Auto)
11,6 10,8 11,2
Fahrzeugdiebstahl (Fahrrad, Mofa etc.)
19,4 18,8 19,3
Vandalismus 11,5 8,3 9,4
massive Belästigung
4,3 2,9 4,1 6,7 7,8 8,0 1,7 1,7 2,3 4,2 3,3 4,4
Raub jemanden „abziehen” Erpressung Bedrohung mit Waffe
1998 2002 2006
20,9
Körperverletzung
15,2 20,1
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Abb. 1.1.10. Selbstberichtete Delinquenz (Lebenszeitprävalenzraten). Schülerbefragungen in Greifswald 1998, 2002 und 2006, jeweils 9. Jahrgangsstufe (1998 = N 1529, 2002 = N 724, 2006 = N 832). Quelle: Dünkel, Gebauer, Geng (2006) S. 27, Abb. 6.2
ter Einstellung beruhte. Die Gruppe der Jugendlichen mit gewaltbefürwortenden Einstellungen blieb dagegen konstant (ebd., S. 55 ff.). Die vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) (Baier 2008, S. 25 ff.) 1998 und 2005/06 in Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd ebenfalls bei Schülern der neunten Jahrgangsstufe durchgeführten Befragungen ergaben – zusammengefasst für alle Städte – bei den Gewaltdelikten (Raub, Erpressung, Bedrohung mit Waffe und Körperverletzung) einen Rückgang sowohl der Lebenszeitprävalenz (von 25,3% auf 21,7%), der Zwölfmonatsprävalenz (von 20,1% auf 17,2%) als auch der Mehrfachtäteranteile, also der Jugendlichen, die angaben, fünf und mehr Gewaltdelikte verübt zu haben, von 5,9% auf 4,5% (vgl. Abb. 1.1.11 und 1.1.12). Aber auch bei den anderen erfragten Delikten wurden signifikante Rückgänge festgestellt. Die Erfassung der Folgeschäden von Gewaltübergriffen (finanzielle oder körperliche Folgen) bestätigte nicht die These einer zunehmenden Brutalisierung (vgl. Abb. 1.1.13). Die Anzeigebereitschaft der jugendlichen Opfer von Gewalttaten stieg zwischen 1998 und 2005/06 von (Durchschnitt aller Städte) 21,6% auf 23,5% (Körperverletzung mit Waffe) beziehungsweise. von 14,8% auf 19,7% (Körperverletzung ohne Waffe) (ebd., S. 19). Fuchs et al. (2005, S. 71 ff.) stellten in ihrer repräsentativen, in den Jahren 1994, 1999 und 2004 durchgeführten Studie an bayerischen Schulen
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 32,7
Ladendiebstahl
16,9 2,5 1,1
Autoeinbruch
6,3
Fahrzeugdiebstahl
4,2 16,3
Sachbeschädigung
13,2 4,4 3,2 2,2 1,1 5,2 2,2
Raub Erpressung Bedrohung mit Waffe
1998 9. Klasse (7205) alle Städte 2005/06 9. Klasse (8490) alle Städte 18,4
Körberverletzung
15,8
0
5
10
15
20
25
30
35
(%)
Abb. 1.1.11. Selbstberichtete Delinquenz (Einjahresprävalenz). Schülerbefragungen in Hannover, München, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart (insgesamt) 1998 vs. 2005–2006, jeweils 9. Jahrgangsstufe (1998 = N 7205, 2005/066 = N 8490) Quelle: Baier (2008) S. 26, 27, 32
10,1
Ladendiebstahl
4,1
Autoeinbruch
0,7 0,3
Fahrzeugdiebstahl
0,7
1,3 4,4
Sachbeschädigung
3,2 1,7
Raub
0,8 0,7 0,3
Erpressung
1998 9. Klasse (7205) alle Städte 2005/06 9. Klasse (8490) alle Städte 1,3
Bedrohung mit Waffe
0,3 3,7 3,5
Körberverletzung 0
2
4
6
8
10
12
(%)
Abb. 1.1.12. Selbstberichtete Delinquenz (Mehrfachtäter – 5 und mehr Taten) von Jugendlichen in Hannover, München, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart (insgesamt) 1998 vs. 2005–2006. Anteile, bezogen auf befragte Jugendliche insgesamt (1998 = N 7205, 2005/066 = N 8490) Quelle: Baier (2008) S. 26, 27, 32
fest, dass Schulgewalt im Allgemeinen rückläufig war, und zwar bei allen Verhaltensindizes (physische, verbale, psychische Gewalt sowie Gewalt gegen Sachen). „Bei allen vier Gewaltformen ist das Gewaltniveau sichtbar und statistisch signifikant unter dem Gewaltniveau der vorangegangenen Messzeitpunkte angesiedelt“ (ebd., S. 82). Der kleine harte Kern, der überproportional für das Gewaltaufkommen verantwortlich ist, ging „von ca. 3% auf etwa 2%“ (ebd., S. 108) zurück.
33
34
z
1 Kriminologische Grundlagen Körperverletzung mit Waffe 79,3 83,7
kein Schaden 13,8
Schaden über 50 €
7,4 11,8 10,5
keine ärtzliche Behandlung
36,0 37,6
ärtzliche Behandlung Körperverletzung ohne Waffe
89,5 92,7
kein Schaden 5,5 3,4 8,7
Schaden über 50 € keine ärtzliche Behandlung
12,6
1998 9. Klasse (7205) alle Städte 2005/06 9. Klasse (8490) alle Städte
24,7 20,8
ärtzliche Behandlung 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
(%)
Abb. 1.1.13. Entwicklung der Folgeschäden von Gewaltübergriffen (in %, gewichtete Daten). Schülerbefragung, 9. Klasse, Hannover, München, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart (insgesamt) 1998 (Körperverletzung mit Waffe ohne Schwäbisch Gmünd) vs. 2005–2006 Quelle: Baier (2008) S. 24
Block et al. belegten in ihrer 1998, 2000 und 2005 durchgeführten Schülerbefragung (9. Jahrgangsstufe) in Hamburg, dass Eigentumsdelikte in allen drei Messzeitpunkten zurückgegangen sind (vgl. Abb. 1.1.14). Bei Raub, Erpressung sowie Bedrohung mit Waffen erfolgte der Rückgang zwischen 1998 und 2000; danach blieben die Prävalenzraten stabil. Bei Körperverletzung gingen die Prävalenzraten zwischen 1998 und 2000 zurück, danach stiegen sie wieder an, erreichten aber nicht das Niveau von 1998. „In der Summe fällt die Delinquenz durch personengerichtete Gewaltdelikte in 2005 signifikant niedriger aus als noch im Jahr 1998, obwohl zwischen 2000 und 2005 in der Summe leichte, aber nicht signifikante Anstiege zu vermerken waren . . . Die leichten Zunahmen in Hamburg fallen zum einen deutlich geringer aus als die Steigerungsraten der PKS. Sie sind auch im Dunkelfeld ausschließlich im Bereich der Körperverletzung angesiedelt und betreffen dort nur die gelegentliche Täterschaft“ (Block et al. 2007, S. 193). Die Mehrfachtäterraten sind, auch bei Gewaltdelikten, kontinuierlich gesunken. Sie lagen 2005 mehr als 30% niedriger als noch 1998; 1998 waren 7,4% der Stichprobe Mehrfachtäter der Gewalt, 2005 nur noch 4,3% (vgl. Abb. 1.1.15). Das Anzeigeverhalten hat sich nur geringfügig verändert (ebd., S. 141 ff.). Gewalt befürwortende Einstellungen der Jugendlichen gingen ebenfalls zurück, die wesentlichen Veränderungen fanden zwischen der ersten und der zweiten Erhebungswelle statt (ebd., S. 78 ff.). Die von Boers u. Reinecke 2002 bei der neunten Jahrgangsstufe in Duisburg durchgeführte Befragung wurde 2004 erneut bei der neunten Jahrgangsstufe wiederholt (Boers u. Reinecke 2004 a, b). Auch hier zeigte sich,
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 38,3 28,4
Ladendiebstahl
23,2 4,1 3,7 5,4 4,3 4,5 3,9 2,4 1,8
Einbruchdiebstahl Fahrrad- und Mofadiebstahl Autoeinbruch
19,0
Vandalismus
14,6 14,8
Graffiti
8,7 6,9 21,6
Körperverletzung
16,0 19,2 7,3
Bedrohung mit Waffe
3,3 2,9 2,5 1,2 0,9
Erpressung
1998 9. Klasse Hamburg 2002 9. Klasse Hamburg 2005 9. Klasse Hamburg
5,1
Raub
3,3 3,3
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
(%)
Abb. 1.1.14. Selbstberichtete Delinquenz (Einjahresprävalenz). Schülerbefragungen in Hamburg 1998, 2000, 2005, jeweils 9. Jahrgangsstufe (ohne Förderschule, gewichtete Daten) (1998 = N 3093, 2000 = N 3435, 2005 = N 1979) Quelle: Block, Brettfeld, Wetzels (2007) S. 158 13,3 7,1
Ladendiebstahl
5,0
Einbruchdiebstahl
0,8 0,7
Fahrrad- und Mofadiebstahl
0,9 0,7 0,7 0,5 0,3
1,5
Autoeinbruch
5,2
Vandalismus
4,1 3,3
Graffiti
3,1 1,6 4,9
Körperverletzung
3,6 3,3 2,0
Bedrohung mit Waffe
0,6 0,7 0,7 0,2 0,1
Erpressung
1998 9. Klasse Hamburg 2002 9. Klasse Hamburg 2005 9. Klasse Hamburg
1,8
Raub
0,7 0,7
0
2
4
6
8
10
12
14
(%)
Abb. 1.1.15. Prozent selbstberichteter Mehrfachtäterschaft für die letzten 12 Monate (5 und mehr Delikte) im Zeitvergleich Hamburg, 1998, 2000, 2005, jeweils 9. Jahrgangsstufe (ohne Förderschule, gewichtete Daten) (1998 = N 3093, 2000 = N 3435, 2005 = N 1979) Quelle: Block, Brettfeld, Wetzels (2007) S. 158
35
36
z
1 Kriminologische Grundlagen Eigentumsdelikte:
29
22
Einbruch
5
3
7 7
Hehlerei 2 2 2 2
Kfz-Aufbruch Kfz-Diebstahl
4 4
Automatenaufbruch
6 6
Fahrraddiebstahl Ladendiebstahl
21
14
sonstiger Diebstahl
2
3
Gewaltdelikte:
19
16
Raub
3
4
1 1
Handtaschenraub
3 3
Körperverletzung mit Waffe Körperverletzung ohne Waffe
17
14
Sachbeschädigungsdelikte:
19
Scratching
10
Sachbeschädigung
15
11
Graffiti
13
8
Drogenhandel
5
0
5
2002 9. Klasse (2627) Duisburg 2004 9. Klasse (3339) Duisburg
6
10
25
12
15
20
25
30
(%)
Abb. 1.1.16. Selbstberichtete Delinquenz (Prävalenzraten delinquenten Verhaltens in den letzten 12 Monaten). Schülerbefragungen in Duisburg 2002 und 2004, jeweils 9. Jahrgangsstufe (2002 N = 2627, 2004 N = 3339). Quelle: Boers, Reinecke (2004 a) S. 2, (2004 b) S. 4
dass bei keinem der erfragten 18 Delikte die Neuntklässler des Jahres 2004 höhere Prävalenzraten aufwiesen als ihre Altersgenossen zwei Jahre zuvor, im Gegenteil. Bei den Gewalt-, Eigentums- und Sachbeschädigungsdelikten waren die Schülerinnen und Schüler 2002 deutlich, und zwar jeweils um fünf bis sieben Prozentpunkte, höher belastet als die 2004 Befragten (vgl. Abb. 1.1.16). Lediglich der Anteil der schweren Gewalttäter (Körperverletzung mit Waffen, Raub) war in beiden neunten Klassen ungefähr gleich groß. Wie dieser Überblick zeigt, bestehen durchaus Unterschiede zu Umfang und Entwicklung der selbstberichteten Jugenddelinquenz, und zwar sowohl zwischen den einzelnen Studien als auch innerhalb der einzelnen Studie zwischen den Erhebungsgebieten und den einzelnen Messzeitpunkten. Dennoch gibt es in zentralen Punkten Übereinstimmungen: In sämtlichen seit Ende der 1990er Jahre durchgeführten Befragungen von Schülern der neunten Jahrgangsstufe wurde insgesamt betrachtet z entweder ein Rückgang oder zumindest eine Konstanz sowohl der Gewaltdelikte als auch der von den Jugendlichen berichteten Viktimisierungserlebnissen festgestellt sowie z zumeist ein Rückgang von gewaltbefürwortenden Einstellungen bei den Jugendlichen.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
z Die Erfassung der Folgeschäden von Gewaltübergriffen bestätigte nicht die These einer zunehmenden Brutalisierung. z In einigen Studien wurde ein deutlicher Anstieg der Anzeigebereitschaft der jugendlichen Opfer von Gewalttaten ermittelt. z Die eigentliche Problemgruppe ist der „kleine harte Kern“, der je nach Abgrenzungskriterium zwischen 3% und 9% beträgt und von dem ein erheblicher Teil der selbstberichteten Gewalt ausgeht. Aber auch dieser „Kern“ wird nicht größer, sondern eher kleiner. Bestätigt wird dieser Befund von Schülerbefragungen durch Daten des Bundesverbandes der Unfallkassen. Grundlage hierfür sind die seit 1993 erfolgenden Meldungen über tätliche Auseinandersetzungen unter Schülern, zu denen die Schulen in Deutschland gesetzlich verpflichtet sind, wenn Schüler infolge der Gewalttat ärztlich behandelt werden mussten. Der Bericht zeigt, dass Unfälle durch Raufereien mit meldepflichtigen, erheblichen Verletzungsfolgen zwischen 1993 und 1997 weitgehend konstant blieben. Für die folgenden sechs Jahre zeichnete sich jedoch ein deutlicher Rückgang ab: 1997 wurden 15,6 solcher Unfälle pro tausend versicherte Schüler registriert, 2003 waren es nur noch 11,3, d. h. zwischen 1997 und 2003 hat es einen Rückgang um gut 27% gegeben. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass wenn schon nicht die Quantität, so doch die Brutalität der Raufhändel zugenommen hat. Gemessen an den Frakturen als Indiz für die Schwere von aggressionsverursachten physischen Verletzungen lassen die dem Bundesverband gemeldeten Raufunfälle keine zunehmende Brutalisierung erkennen. Im Untersuchungszeitraum 1993–2003 ging die Zahl der gemeldeten Frakturen von 1,5 pro 1000 Schüler auf 1,0 zurück (vgl. Abb. 1.1.17). Für keine der Schularten ist eine zunehmende Brutalisierung, gemessen über die beobachteten Frakturenquoten, erkennbar. Anstiege der Gewaltdelikte, wie sie die PKS für die Körperverletzungsdelikte bei Jugendlichen ausweist, finden also durch diese Untersuchungen keine empirische Bestätigung. Ob und inwieweit freilich die bei Schülerinnen und Schülern gewonnenen Befunde übertragbar sind auf höhere Altersjahrgänge, ist mangels Dunkelfeldforschung für Deutschland derzeit ungewiss. Die im Jahr 2002 vorgelegten Vorschläge einer von BMI und BMJ eingesetzten Arbeitsgruppe, die den Auftrag hatte, eine Konzeption für eine periodisch durchzuführende „Bevölkerungsumfrage zu Kriminalitätserfahrungen und Sicherheitsempfinden – BUKS“ zu erarbeiten (vgl. Heinz 2006 b), wurden von den zuständigen Ministerien aus Kostengründen noch nicht umgesetzt.
37
z
1 Kriminologische Grundlagen 1,9
17 16
15,5
15
14,4 13,9
14 13
14,4
14,9
1,7
14,3
1,6
13,3
13,2
1,5
1,6
13,2
1,5 1,4
12 11
1,8
15,6
11,3 1,3
1,3
1,3
10
1,4 1,3
1,2
1,2
1,2
1,2 1,1
9
1,1 1,0
8
1,0
7
0,9
6
0,8
Frakturen infolge von Raufunfällen pro 1000 versicherte Schüler
Raufunfälle pro 1000 versicherte Schüler
38
0,7
5 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Abb. 1.1.17. Entwicklung gewaltverursachten Verletzungsgeschehens an Schulen in Deutschland 1993–2003. Raufunfälle sowie Frakturen infolge von Raufunfällen je 1000 versicherte Schüler Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.17
z Raufunfälle insgesamt z Frakturen infolge von Raufunfällen
1993
1995
1997
1999
2001
2003
15,5 1,5
13,3 1,4
15,6 1,6
14,9 1,3
13,2 1,2
11,3 1,0
Quelle: Bundesverband der Unfallkassen (2005) S. 15, Tabelle 10, S. 19, Tabelle 13
1.1.3
Registrierte Kriminalität – Umfang, Struktur und Entwicklung
1.1.3.1 Umfang und Struktur der in der PKS registrierten Kriminalität 2006 wurden bundesweit 6.304.223 Fälle von der Polizei registriert. Hinzu kommt noch eine quantitativ nicht genau zu bestimmende Menge von Verdachtsfällen wegen Staatsschutz- und Verkehrsdelikten, die nach den Richtlinien für die PKS statistisch nicht registriert werden, die aber gleichfalls Gegenstand von Ermittlungs- und Strafverfahren sind. Würden auch die in der PKS nicht ausgewiesenen Verkehrsdelikte – entsprechend ihrem Anteil unter den Verurteilungen – berücksichtigt, dann müsste derzeit statt von 6,3 Millionen von rund 8,2 Millionen Fällen ausgegangen werden. Bei etwas mehr als 40% der registrierten Fälle handelte es sich um Diebstahlsdelikte, davon entfiel wiederum etwas mehr als die Hälfte auf Diebstahl ohne erschwerende Umstände (vgl. Abb. 1.1.18). Auf Eigentums- und Vermögensdelikte – Diebstahl (41,3%), Unterschlagung (1,6%), Veruntreuung (0,6%) und Betrug (15,1%) – entfielen 2006 insgesamt 58,7% aller registrierten Straftaten; wird auch noch Sachbeschädigung (12,1%) berücksichtigt, dann entfallen auf diese Gruppe 70,8% aller Straftaten (ohne Staatsschutz- und Verkehrsdelikte).
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
sonstige Straftatbestände nach StGB (20,0 %)
Vermögens- und Fälschungsdelikte (18,6%)
gegen strafrechtliche Nebengesetze (7,3 %) Diebstahl unter erschwerenden Umständen §§ 243-244 a StGB (19,7 %)
Straftaten gegen das Leben (<0,1 %) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (0,8 %) Roheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit (12 %)
darunter: Diebstahl ohne erschwerende Umstände (einschl. Ladendiebstahl) Ladendiebstahl (6,8 %) §§ 242, 247, 248 a-c StGB (21,6 %)
Abb. 1.1.18. Struktur der polizeilich registrierten Straftaten (Verbrechen und Vergehen, ohne Staatsschutz- und ohne Verkehrsdelikte), Deutschland 2006. Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.18 Schlüsselzahl
Straftaten(gruppen)
N
%
– 7000 6700 5000 4 ***
Straftaten insgesamt strafrechtliche Nebengesetze sonstige Straftatbestände (StGB) Vermögens- und Fälschungsdelikte Diebstahl unter erschwerenden Umständen (§§ 243–244 a StGB) Diebstahl ohne erschwerende Umstände (§§ 242, 247, 248 a–c StGB) darunter: Ladendiebstahl Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Straftaten gegen das Leben
6 304 223 459 697 1 261 560 1 171 066 1 239 287
100 7,3 20,0 18,6 19,7
1 362 615
21,6
934 062 754 315
6,8 12,0
52 231 3452
0,8 0,1
3 **** 326 * 2000 1000 0000
Die Abgrenzung der Deliktgruppen entspricht den Hauptdeliktgruppen der PKS. Ladendiebstahl: Schlüsselzahl 326 *. Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
Obwohl aufgrund selektiver Anzeigepraxis eher die schadensschweren Fälle angezeigt werden, belief sich der Schaden im Sinne des Geldwertes des erlangten Gutes bei 19,7% aller vollendeten Eigentums- und Vermögensdelikte auf nicht mehr als 15 1; bei knapp zwei Drittel (2006: 62,9%) überstieg der Schaden nicht mehr als 250 1 (vgl. Tabelle 1.1.6). Schadensschwere Delikte von 5000 1 und mehr sind eher selten. Erwartungsgemäß sind vor allem bei Wirtschaftskriminalität derartige Schäden relativ häufiger.
39
3 478 246
Eigentums- u. Vermögensdelikte i. w. S. insgesamt, darunter: z Wirtschaftskriminalität z Eigentums- u. Vermögensdelikte i. w. S. insgesamt – ohne Wirtschaftskriminalität 2,4 97,6
2 492 965 663 1 198 711 250 312 703 972 9 027 470 390 083 619 1 732 432 183
25,8 1,2 3,0 0,1 0,1 0,9
85 095 3 393 151
1 479 474 291
29,3
4 319 831 217 3 870 279 066
8 190 110 283
1 147 942 76 243 502 688 152
0,0 0,0 38,4
100
80 160 70 719 338
8 190 110 283
(3)
0,0 1,3
100
3 478 246
z Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten 24 z Raub, räuberische Erpressung, räuberischer Angriff 43 621 auf Kraftfahrer (§§ 249–252, 255, 316 a StGB) z erpresserischer Menschenraub (§ 239 a StGB) 68 z Geiselnahme (§ 239 b StGB) 41 z Diebstahl ohne erschwerende Umstände 1 336 219 (§§ 242, 247–248 a–c StGB) z Diebstahl unter erschwerenden Umständen 1 018 165 (§§ 243–244 a StGB) z Betrug (§§ 263, 263 a, 264, 265, 265 a, 265 b StGB) 897 179 z Veruntreuungen (§§ 266, 266 a, 266 b StGB) 40 095 z Unterschlagung (§§ 246, 247, 248 a StGB) 102 836 z Erpressung (§ 253 StGB) 3 207 z Insolvenzstraftaten (§§ 283, 283 a–d StGB) 4 326 z Straftaten gegen strafrechtliche Nebengesetze 32 465 auf dem Wirtschafssektor
z Vollendete Delikte mit Schadenserfassung
(1)
52,7 47,3
100
30,4 14,6 3,8 0,1 4,8 21,2
18,1
0,0 0,0 6,1
0,0 0,9
100
19,7
16,2 19,8
19,7
26,4 8,9 14,5 38,9 61,7 50,4
7,0
33,8 63,4 24,6
29,2 18,7
13,6 44,0
43,2
42,0 14,2 46,4 27,2 0,3 16,7
33,2
11,8 7,3 53,0
20,8 47,8
43,2
15 bis unter 250 5 (6)
34,2 3,4
4,2
5,4 27,3 9,0 8,7 32,7 22,1
5,2
35,3 4,9 1,0
20,8 3,1
4,2
mehr als 5000 5 (7)
bis unter 15 5 (5)
in % von (2) (4)
in 5
Insgesamt
z
in % von (1) (2)
Schadensklassen (in % von 1)
Schadenssummen
vollendete Fälle
Tabelle 1.1.6. Höhe des polizeilich registrierten Schadens bei vollendeten Eigentums- und Vermögensdelikten. Deutschland 2006
40 1 Kriminologische Grundlagen
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Gemessen an der Gesamtzahl der registrierten Straftaten handelt es sich, in quantitativer Betrachtung, bei den im Blickfeld der Öffentlichkeit stehenden Fällen der Gewaltkriminalität – im Sinne der PKS werden hierunter zusammengefasst: vorsätzliche Tötungsdelikte, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung, gefährliche und schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme, Angriff auf den Luft- und Seeverkehr – um eher seltene Ereignisse. Auf sie entfielen 2006 insgesamt 3,4% aller polizeilich registrierten Fälle. Im Wesentlichen handelte es sich um gefährliche und schwere Körperverletzung (2,4%), Raub und räuberische Erpressung (0,9%), Vergewaltigung/sexuelle Nötigung (0,1%) sowie Mord/Totschlag (0,04%) (vgl. Tabelle 1.1.7). Zu 95% besteht Gewaltkriminalität aus den beiden Deliktsgruppen „gefährliche und schwere Körperverletzung“ (70,0%) sowie aus „Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“ (24,9%). Auf Vergewaltigung und sexuelle Nötigung entfielen im Jahr 2006 3,8%, auf Mord/Totschlag 1,1% aller Gewaltdelikte. Einbezogen sind hierbei nicht nur vollendete, sondern auch die nur versuchten Fälle. Ebenfalls selten wurden von der Polizei Delikte der Wirtschaftskriminalität erfasst (2006: 2,4% der vollendeten Fälle mit Schadenserfassung). Gleichwohl entfielen 52,7% aller in der PKS bei vollendeten Fällen registrierten Schäden auf Wirtschaftskriminalität (vgl. Abb. 1.1.19). Während bei Wirtschaftskriminalität die enorme Diskrepanz zwischen der Fallzahl und den unmittelbar verursachten Schäden zumindest erkennbar wird, sind Gefährdungen und Schäden, die durch Gewaltkriminalität beziehungsweise durch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verursacht werden, noch weitaus gravierender. Sie lassen sich freilich aufgrund der gegenwärtigen statistischen Angaben kaum abschätzen und auch nicht ansatzweise bestimmen. J Schaden i.S. der PKS ist der Geldwert des rechtswidrig erlangten Gutes. Bei Vermögensdelikten ist unter Schaden die Wertminderung des Vermögens zu verstehen. Falls kein Schaden feststellbar ist, gilt ein symbolischer Schaden von 1 1. Dies gilt auch, wenn bei einem vollendeten Vermögensdelikt nur eine Vermögensgefährdung eingetreten ist. Wenn ein Betrugsschaden gleichzeitig Insolvenzschaden ist, ist der volle Schaden (ab 1. 1. 1994) bei den Insolvenzstraftaten zu erfassen. Beim dazugehörigen Betrugsdelikt ist dagegen ein Schaden von 1 1 zu erfassen. Schaden wird in der PKS nur für die vollendeten Fälle ausgewiesen. Straftaten gegen strafrechtliche Nebengesetze auf dem Wirtschafssektor: – Straftaten nach dem AktG, GenG, GmbHG u. a., – Straftaten wegen illegaler Beschäftigung, – Straftaten i. V. m. Bankgew. u. WertpapierG, – Straftaten gegen Urheberrechtsbestimmungen. Hinweis zur Untererfassung: Ein Bundesland hat bei den vollendeten Fällen 9 Fälle erfasst, in den Schadensklassen jedoch nur 1 Fall ausgewiesen (in der Schadensklasse 5000 bis unter 25 000 Euro). Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 7
41
42
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.7. Polizeilich registrierte Gewaltkriminalität mit Untergliederungen. Deutschland 2006 Fälle insgesamt
Straftaten insgesamt 6 304 223 Gewaltkriminalität 215 471 davon: Mord 818 Totschlag und Tötung 1 650 auf Verlangen Vergewaltigung 8 118 und sexuelle Nötigung 53 696 Raub, räuberische Erpressung, räuberischer Angriff Körperverletzung 171 mit Todesfolge gefährliche/schwere 150 874 Körperverletzung erpresserischer 90 Menschenraub Geiselnahme 53 Angriff auf den Luft1 und Seeverkehr
%-Anteil bezogen auf %-Anteil Vollendung Versuch insge% von StrafGewaltsamt Gewalttaten kriminakriminalilität tät 100 3,42
100
5,90
5 932 535
12,10
189 307
100
0,01 0,03
0,38 0,77
59,20 76,20
334 393
0,2 0,2
0,13
3,77
16,80
6 758
3,6
0,85
24,92
18,80
43 621
23,0
0,00
0,08
0,60
170
0,1
2,39
70,02
8,60
137 921
72,9
0,00
0,04
24,40
68
0,0
0,00 0,00
0,02 0,00
22,60 0,00
41 1
0,0 0,0
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tab. 1
1.1.3.2 Entwicklung polizeilich registrierter Kriminalität Die polizeilich registrierte Kriminalität (ohne Staatsschutz- und ohne Vergehen im Straßenverkehr) ist, wie in allen westlichen Industriestaaten, sowohl gemessen nach absoluten als auch nach relativen – auf 100 000 Einwohner bezogenen – Zahlen, gestiegen. 1963 wurden 1 678 840 Fälle in der PKS ausgewiesen, im Jahr 2006 das 3,1 fache, nämlich 5 255 494 (alte Länder; Deutschland insgesamt: 6 304 223). Im gleichen Zeitraum ist freilich auch die Wohnbevölkerung von 57 606 300 (1963) auf 69 093 201 (alte Länder; Deutschland insgesamt: 82 437 995) (2006) gestiegen. Die wegen dieser demografischen Veränderungen aussagekräftigeren Häufigkeitszahlen – Zahl der registrierten Fälle pro 100 000 der Wohnbevölkerung – sind dementsprechend nicht ganz so stark angestiegen, und zwar von 2914 auf 7606 (alte Länder; Deutschland insgesamt 7647), also „nur“ um das 2,6fache (vgl. Abb. 1.1.20).
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland Fälle: 2%
sonstige Eigentumsund Vermögenskriminalität
Schaden: 53 %
2%
98 %
z
sonstige Eigentumsund 47 % Vermögenskriminalität
53 %
Wirtschaftskriminalität
Schadenssumme Eigentums- und Vermögenskriminalität gesamt: 8,2 Mrd. EUR darunter: Wirtschaftskriminalität: 4,3 Mrd. EUR sonstige Eigentums- und Vermögenskriminalität: 3,9 Mrd. EUR
Abb. 1.1.19. Wirtschaftskriminalität im Vergleich mit anderen Eigentums- und Vermögensdelikten. Anteil der Fälle und Anteil der Schadenssummen, Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.19 Fälle
Schadenssummen
Schadensklassen (in % von 1)
insgesamt
in % von (1)
in 5
in % von (2)
bis unter 15 5
15 bis unter 250 5
mehr als 5000 5
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
3 478 246 100 Eigentums- u. Vermögensdelikte i. w. S . insgesamt, darunter: Wirtschafts85 095 2,4 kriminalität
8 190 110 283 100
19,7
43,2
4,2
4 319 831 217 52,7
16,2
13,6
34,2
Eigentums- und 3 393 151 97,6 Vermögensdelikte i . w. S. insgesamt – ohne Wirtschaftskriminalität
3 870 279 066 47,3
19,8
44,0
3,4
Wirtschaftskriminalität: Summenschlüssel 8930 der polizeilichen Kriminalstatistik Schaden (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.6) Hinweis zur Untererfassung: (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.6) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 7
43
z
1 Kriminologische Grundlagen 9000
Straftaten (ohne Verkehr) insgesamt, darin sonstige BtM-Delinquenz Sachbeschädigung Diebstahl, Unterschlagung Betrug Gewaltkriminalität
8000 7000 Häufigkeitszahl
44
6000 5000
sonstige BtM-Delinquenz Sachbeschädigung
4000 Diebstahl, Unterschlagung
3000 2000 1000
Betrug Gewaltkriminalität
0 0
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
PSK ab 1963 ohne Straftaten im Straßenverkehr und ohne Staatsschutzdelikte. 1971 Änderung der Erfassung 1990 Sonderentwicklung in Berlin-West. 1992: durch Erfassungsfehler überhöht
Abb. 1.1.20. Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Fälle 1963–2006. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.20 Absolute Zahlen
1965
1975
1985
1995
2005
2006
z Fälle insgesamt
1 789 319
2 919 390
4 215 451
6 668 717
6 391 715
6 304 223
z BtMG (Rauschgift1003 delikte) (SZ 7300) z Sachbeschädigung 107 236 (SZ 6740) z Diebstahl, Unter- 1 076 646 schlagung (SZ ****, 5300) z Betrug (SZ 5100) 177 343 z Gewaltkriminalität 45 889 (SZ 8920)
29 805
60 941
158 477
276 740
255 019
213 746
342 309
607 909
718 405
761 117
1 942 587
2 677 018
3 916 046
2 830 981
2 705 402
209 841 80 699
372 196 102 967
623 182 170 170
949 921 212 832
954 277 215 471
Häufigkeitszahlen (pro 100 000 z Fälle insgesamt 3030,7 z BtMG (Rauschgift1,7 delikte) (SZ 7300) z Sachbeschädigung 181,6 (SZ 6740) z Diebstahl, Unter- 1823,6 schlagung (SZ ****, 5300) z Betrug (SZ 5100) 300,4 z Gewaltkriminalität 77,7 (SZ 8920)
Einwohner) 4721,5 6908,8 48,2 99,9
8178,6 194,4
7747,5 335,4
7647,2 309,3
345,7
561,0
745,5
870,8
923,3
3141,7
4387,5
4802,7
3431,5
3281,7
339,4 130,5
610,0 168,8
764,3 208,7
1151,4 258,0
1157,6 261,4
Häufigkeitszahl (HZ) ist die Zahl der bekannt gewordenen Fälle insgesamt oder innerhalb einzelner Deliktarten, errechnet auf je 100 000 Einwohner; HZ = (erfasste Fälle × 100 000)/Wohnbevölkerung; Gewaltkriminalität (vgl. Tabelle 1.1.7) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1963–2006
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Wie Abb. 1.1.20 zeigt, wurden die größten Steigerungsraten in den 1970er und 1980er Jahren verzeichnet. Entgegen pauschalen Behauptungen über besorgniserregende Kriminalitätsanstiege haben sich die Häufigkeitszahlen polizeilich registrierter Kriminalität seit 1993 auf hohem Niveau stabilisiert; sie liegen derzeit sogar unter dem Stand von 1992. Derartige Gesamtzahlen zur Entwicklung von registrierter Kriminalität sind zwar beliebt, sie vermitteln aber ein Zerrbild, vergleichbar demjenigen, das bei einer Viehzählung entstünde, würden „Rindvieh, Schweine und Haushühner addiert werden, um aus der Gesamtsumme auf die Höhe, das Steigen und Fallen des Viehbestandes Schlüsse zu ziehen“ (Hoegel 1911/1912, S. 659). Der Fehler eines derartigen Vorgehens liegt darin, dass nach Art, Schwere und Entwicklung völlig unterschiedliche Straftaten zusammengezogen werden. Obwohl hierüber Übereinstimmung besteht, wird dennoch vielfach mit solchen „Schlagzeilenergebnissen“ gearbeitet. Eine zumindest nach Deliktgruppen gegliederte Betrachtung ist indes unverzichtbar für ein sachgerechtes Bild der registrierten Kriminalität. Der Anstieg der polizeilich registrierten Kriminalität wird vor allem von den Eigentums- und Vermögensdelikten, namentlich dem Diebstahl, getragen. Zu 32% beruht der seit 1963 erfolgte Anstieg auf Diebstahlsdelikten, zu 18% haben Betrug und zu 16% Sachbeschädigungsdelikte hierzu beigetragen. Wie insbesondere das Beispiel der Eigentums- und Vermögensdelikte zeigt, werden bei einer Gesamtbetrachtung unterschiedliche, ja gegenläufige Entwicklungen maskiert. Entgegen immer wieder geäußerten Annahmen, Diebstahl habe zugenommen, werden seit 1993 stetig weniger Diebstahlsdelikte registriert. Augenfällig ist vor allem der Rückgang von Diebstahl unter erschwerenden Umständen, insbesondere von Kfz-Diebstahl und Wohnungseinbruchdiebstahl (vgl. Abb. 1.1.21). Hier dürften vor allem verbesserte Sicherungsmaßnahmen gegriffen haben. Im Unterschied zur Entwicklung der Diebstahlsdelikte haben sich die registrierten Fälle von Betrug in den letzten 30 Jahren nahezu verdoppelt. Dies geht – neben der Leistungserschleichung – vor allem auf Waren- und Warenkreditbetrug zurück. Hier dürfte die wachsende Verbreitung von Internethandel und Internetauktionen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Die Zahl der im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehenden Gewaltdelikte ist zwar ebenfalls angestiegen; ihr Anteil an den insgesamt registrierten Straftaten erhöhte sich von 2,7% (1963) auf 3,4% (2006). Die gebotene Einzeldeliktanalyse zeigt aber, dass zu differenzieren ist: z Gewaltkriminalität im Sinne der PKS ist ein Sammelbegriff, der Deliktformen unterschiedlichster Schwere zusammenfasst. Quantitativ bedeutsam sind freilich nur zwei Deliktgruppen: 70,0% der gesamten Gewaltkriminalität entfielen 2006 auf gefährliche/schwere Körperverletzung, deren Spektrum reicht von der jugendtypischen, gemeinschaftlich verübten Rauferei bis hin zur Körperverletzung mit Waffen und/oder mit schwersten gesundheitlichen Folgen. Raub und räuberische Erpressung hatten einen Anteil von 24,9%. Mit deutlichem Abstand folgten Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (3,8%) sowie Mord/Totschlag (1,1%).
45
z
1 Kriminologische Grundlagen 250 225 200 175
Häufigkeitszahl
46
150 125 100 75 50 25 0 1985
einfacher Diebstahl schwerer Diebstahl Wohnungseinbruch Betrug Kraftfahrzeugdiebstahl 1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.21. Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Eigentums- und Vermögenskriminalität 1985–2006 (Index 1985 = 100). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.21 Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Eigentumsund Vermögenskriminalität und Index 1985 = 100 1985 1785,4 z Diebstahl ohne er100 schwerende Umstände (§§ 242, 247, 248 a–c StGB) (SZ 3***) z Diebstahl unter 2523,2 100 erschwerenden Umständen (§§ 243–244 a StGB) (SZ 4 ***) 114,2 z Diebstahl von Kraft100 wagen einschl. unbefugte Ingebrauchnahme (SZ *** 1) z Wohnungseinbruch224,5 diebstahl (§ 244 Abs. 1 100 Nr. 3 StGB) (SZ 435*) z Betrug §§ 263, 263 a, 610,0 264, 264 a, 265, 265 a, 100 265 b StGB (SZ 5100)
1990
1995
2000
2005
2006
1830,5 102,5
1877,4 105,2
1781,6 99,8
1715,8 96,1
1652,9 92,6
2464,8 97,7
2842,2 112,6
1849,3 73,3
1589,7 63,0
1503,3 59,6
115,1 100,9
247,1 216,5
101,1 88,6
61,0 53,5
51,3 45,0
242,5 108,0
259,0 115,4
170,4 75,9
133,0 59,2
128,7 57,3
580,6 95,2
764,3 125,3
938,8 153,9
1151,4 188,8
1157,6 189,8
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1985–2006
z Stetig angestiegen ist lediglich die Gruppe gefährliche und schwere Körperverletzung (vgl. Abb. 1.1.22). Da diese Deliktgruppe aber mit 70% den Großteil der Gewaltkriminalität ausmacht, bestimmt sie das Gesamtbild und dessen Entwicklung.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 275 250 225
Häufigkeitszahl
200
z
47
gefährliche/schwere Körperverletzung Raub, räuberische Erpressung Vergewaltigung* Mord, Totschlag, KV mit Todesfolge
175 150 125 100 75 50 25 0
1963 65
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
* Durch gesetzliche Änderungen (insbes. 1998) Vergleichbarkeit mit Vorjahren eingeschränkt)
1971 Änderung der Erfassung 1990 Sonderentwicklung in Berlin-West. 1992: durch Erfassungsfehler überhöht. Gebiet: BRD alt; ab 1991 mit Berlin-Ost, ab 1993 mit neuen Ländern. HZ bezogen auf je 100 000 der Wohnbevölkerung HZ Häufigkeitszahl; KV Körperverletzung
Abb. 1.1.22. Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Gewaltkriminalität 1963– 2006. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.22 Gewaltkriminalität – absolute Zahlen und Häufigkeitszahlen 1965 z Gewaltkriminalität (SZ 8920)
N 45 889 HZ 77,7
1975
1985
1995
2005
2006
80 699 130,5
102 967 168,8
170 170 208,7
212 832 258,0
215 471 261,4
z Vorsätzliche Tötung, N Körperverletzung mit HZ tödlichem Ausgang
1 908 3,2
3 145 5,1
2 919 4,8
4 523 5,5
2 569 3,1
2 639 3,2
z Vergewaltigung und sexuelle Nötigung
N HZ
5 923 10,0
6 850 11,1
5 919 9,7
6 175 7,6
8 133 9,9
8 118 9,8
z Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer
N HZ
7 655 13,0
20 362 32,9
29 685 48,7
63 470 77,8
54 841 66,5
53 696 65,1
z Gefährliche und schwere Körperverletzung
N 30 403 HZ 51,5
50 274 81,3
64 314 105,4
95 759 117,4
147 122 178,3
150 874 183,0
Häufigkeitszahl (HZ) (vgl. Legende zu Abb. 1.1.20) Vorsätzliche Tötung, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang (SZ 0100+0200+0220 a+2210 b): §§ 211, 212, 213, 216, 217, 227, 231 StGB; Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (SZ 1100): §§ 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB; Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (SZ 2100): §§ 249–252, 255, 316 a StGB; Gefährliche und schwere Körperverletzung (SZ 2220): §§ 224, 226, 231 StGB. Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1963–2006 a b
bis 1998: Kindstötung § 217 StGB (1993–1998: einschl. der unaufgeklärten Fälle der Tötung neugeborener Kinder) bis 1998: §§ 226, 227, 229 II StGB
48
z
1 Kriminologische Grundlagen
z Raubdelikte sind nach deutlichen Anstiegen seit 1998 rückläufig (vgl. Abb. 1.1.23). z Bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre waren auch die Häufigkeitszahlen für Vergewaltigung rückläufig; der seitdem erfolgte Anstieg dürfte weniger auf häufigerem Vorkommen als vielmehr auf gesetzlichen Änderungen beruhen.1 z Die schwersten Formen der Gewaltkriminalität, nämlich vorsätzliche Tötungsdelikte (einschließlich Körperverletzung mit tödlichem Ausgang), sind – gemessen in Häufigkeitszahlen – im Wesentlichen rückläufig, von der Sonderentwicklung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre 2 abgesehen (vgl. Abb. 1.1.24). Die Häufigkeitszahlen liegen derzeit auf dem Stand der ersten Hälfte der 1960er Jahre. z Auch die Häufigkeitszahlen der Sexualmorde an Kindern sind in diesem Zeitraum nicht angestiegen, sondern waren rückläufig (vgl. Abb. 1.1.25). In den letzten 20 Jahren wurden in den alten Ländern der Bundesrepublik durchschnittlich 3,7 Fälle des vollendeten Mordes aus sexuellen Motiven an Kindern gezählt, in den letzten fünf Jahren nur 3,4 Fälle. Werden (wegen möglicher Austauschprozesse) auch die beiden durch das Sechste StrRG (Gesetz zur Reform des Strafrechts) von 1998 eingeführten Erfolgsqualifikationen – Vergewaltigung/sexuelle Nötigung mit Todesfolge (§ 178 StGB) sowie sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176 b StGB) – berücksichtigt, ist jedenfalls kein Anstieg erkennbar. Insgesamt wurden danach in Deutschland in den letzten fünf Jahren pro Jahr durchschnittlich 5,2 Kinder Opfer einer vorsätzlichen oder einer wenigstens leichtfertigen Tötung im Zusammenhang mit einem Sexualdelikt. Soweit die kriminalstatistischen Daten überhaupt vergleichbar sind (hierzu Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 36 ff.), zeigt sich, dass Deutschland im europaweiten Vergleich sowohl 1
Vgl. Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 49 ff.; Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 81 ff. Durch das 33. StÄG von 1997 wurden sexuelle Nötigung und Vergewaltigung zu einem einheitlichen Verbrechenstatbestand zusammengefasst, Regelbeispiele für besonders schwere Fälle geschaffen, die Beschränkung auf den außerehelichen Bereich entfiel. Durch das 6. StrRG von 1998 wurden die bisherigen Regelbeispiele in Qualifikationstatbestände umgewandelt. Seit 1998 werden diese tatbestandlichen Erweiterungen in der PKS unter der bisherigen Schlüsselzahl nachgewiesen. Vermutlich haben ferner die durch das Gewaltschutzgesetz von 2002 geschaffenen Möglichkeiten dazu geführt, dass vermehrt Straftaten im familiären Bereich angezeigt werden. 2 Der Anstieg der vorsätzlichen Tötungsdelikte zwischen 1991 und 1995 ist eine Folge statistischer Erfassungsregeln. Die Fallerfassung erfolgt im Zeitpunkt der Abgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft, also ohne Rücksicht auf den Tatzeitpunkt. Die von der zentralen Ermittlungsgruppe Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) erfassten Fälle von Mord und Totschlag (Grenzzwischenfälle und ungeklärte Tötungsfälle in Gefängnissen der ehemaligen DDR) aus den Jahren 1951 bis 1989 wurden vor allem 1993 bis 1995 in der PKS erfasst. Dies dürfte zu einem großen Teil den sprunghaften Anstieg und den ab 1995 erfolgenden Rückgang erklären.
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 200 175
Häufigkeitszahl
150 125 100 75 50
vorsätzliche Tötung, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang Raub, räuberische Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer gefährliche und schwere Körperverletzung Vergewaltigung, sexuelle Nötigung
25 0 1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.23. Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Gewaltkriminalität 1985– 2006 (Index 1985 = 100). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.23 Häufigkeitszahl (HZ) polizeilich registrierter Gewaltkriminalität und Index 1971 = 100
z Gewaltkriminalität (SZ 8920) z Vorsätzliche Tötung, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang z Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer z Gefährliche und schwere Körperverletzung z Vergewaltigung, sexuelle Nötigung
1985
1990
1995
2000
2005
2006
HZ Index
168,8 100
175,5 104,0
208,7 123,7
227,7 134,9
258,0 152,9
261,4 154,9
HZ Index
4,8 100
4,1 85,5
5,5 115,9
3,8 78,9
3,1 65,1
3,2 66,9
HZ Index
48,7 100
56,0 115,1
77,8 160,0
72,3 148,6
66,5 136,6
65,1 133,9
HZ Index
105,4 100
107,0 101,6
117,4 111,4
142,3 135,0
178,3 169,2
183,0 173,6
HZ Index
9,7 100
8,2 84,1
7,6 78,1
9,1 94,1
9,9 101,6
9,8 101,5
Häufigkeitszahl (HZ) (vgl. Legende zu Abb. 1.1.20) Vorsätzliche Tötung, usw. (vgl. Lebende zu Abb. 1.1.22) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1985–2006 a b
bis 1998: Kindstötung § 217 StGB (1993–1998: einschl. der unaufgeklärten Fälle der Tötung neugeborener Kinder) bis 1998: §§ 226, 227, 229 II StGB
49
z
1 Kriminologische Grundlagen 225 200 175
Häufigkeitszahl
50
150 125 100 75 50 25 0 1971
Straftaten insgesamt Mord/Totschlag insgesamt Raubmord Mord in Zusammenhang mit Sexualdelikten 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.24. Entwicklung der Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Tötungs- und Sexualdelikte 1971–2006 (Index 1971 = 100). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.24 Häufigkeitszahl polizeilich registrierter Tötungskriminalität und Index 1971 = 100 1971 z Straftaten insgesamt (SZ . . .)
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
HZ 3983,1 4721,5 6198,4 6908,8 7108,2 8178,6 7624,7 7647,2 Index 100,0 118,5 155,6 173,5 178,5 205,3 191,4 192,0
z vorsätzliche HZ 4,1 Tötung ins- Index 100,0 gesamt (SZ 0100+ 0200)
4,8 116,0
4,4 107,6
4,6 111,1
3,9 93,6
4,9 117,8
3,4 81,7
3,5 85,6
z Raubmord (SZ 0110)
HZ 0,2 Index 100,0
0,2 139,4
0,2 130,1
0,2 143,2
0,2 106,5
0,2 93,0
0,1 46,5
0,1 46,4
z Mord im HZ 0,1 Zusammen- Index 100,0 hang mit Sexualdelikten (SZ 0120)
0,1 66,9
0,1 78,9
0,1 79,6
0,1 49,5
0,0 23,4
0,0 26,2
0,0 22,2
Vorsätzliche Tötung (SZ 0100+0200): §§ 211, 212, 213, 216, 217 StGB. Häufigkeitszahl (vgl. Legende zu Abb. 1.1.20) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1971–2006
Häufigkeitszahl (je 100 000)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 0,13 0,12 0,11 0,10 0,09 0,08 0,07 0,06 0,05 0,04 0,03 0,02 0,01 0
z
Sexualmord an Kindern (absolute Zahlen) Sexualmord an Kindern (Häufigkeitszahlen je 100000) gleitender 5-Jahres-Mittelwert erweiterter neuer Schlüssel (Häufigkeitszahlen je 100000)
13 12 11 10 9
10 9
9
8 7
7 6
7
7
7
6
5
6
5
6 6
5 5
6
5 4
4 3
3
3
4 3
2
3 2 2 2
3
4
4
3
3
2
1
1971
75
1980
1985
1990
1995
2006 1999
2000
Sexualmord an Kindern (SZ 0120)
2006
alter (0120) + neuer Schlüssel (1115 + 1318)
Abb. 1.1.25. Kinder als Opfer vollendeter Sexualmorde 1971–2006. Absolute Zahlen und Häufigkeitszahlen (je 100 000 der Wohnbevölkerung unter 14 Jahren). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.25 absolute Zahl und Häufigkeitszahl (HZ) polizeilich registrierter Sexualmorde an Kindern 1971 Sexualmord (SZ 0120)
absolute 9 Zahl HZ 0,07
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
7
6
3
3
1
2
3
0,06
0,06
0,04
0,03
0,01
Sexualmord, absolute Vergewaltigung/ Zahl sexueller Miss- HZ brauch mit Todesfolge (SZ 0120, 1115+1318)
Durch- 36 Jahre schnitt 20 Jahre letzte 5 Jahre
1971–2006 1987–2006 2002–2006
0,02
0,03
6
3
0,08
0,05
Sexualmord (SZ 0120)
Sexualmord, Vergewaltigung/sexueller Missbrauch mit Todesfolge (SZ 0120, 1115+1318)
absolute Zahl
HZ
absolute Zahl
HZ
5,3 3,7 3,4
0,05 0,03 0,03
5,2
0,05
SZ Schlüsselzahl der PKS Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1971–2006
51
z
1 Kriminologische Grundlagen
bei vollendeten als auch bei versuchten Tötungsdelikten im unteren Bereich der Kriminalitätsbelastung liegt (vgl. Abb. 1.1.26). Die Todesursachenstatistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die nicht durch unterschiedliche strafrechtliche Definitionen beeinflusst ist, bestätigt nicht nur diese Einordnung von Deutschland im europäischen Vergleich (vgl. Abb. 1.1.27), sondern zeigt zugleich, dass „die deutsche Entwicklung laut WHO am deutlichsten ausgeprägt nach unten ging“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 47). Aus der Zunahme polizeilich registrierter Körperverletzungsdelikte wird in großen Teilen der Medien und in Teilen der Politik gefolgert, es seien tatsächlich mehr derartige Delikte vorgekommen. Dieser Schluss ist ebenso schlicht wie regelmäßig falsch. Denn, wie gezeigt, kann eine Veränderung registrierter Kriminalität unter anderem auch Folge einer gestiegenen Anzeigebereitschaft sein. Werden die Ergebnisse der Bochumer Studie von Schwind et al. (2001) zugrunde gelegt, dann dürfte der überwiegende Teil des registrierten Kriminalitätsanstiegs auf einer Veränderung der Anzeigebereitschaft beruhen. Eine Zunahme der Anzeigequote bei Körperverletzungsdelikten wurde ferner in der Mehrzahl der in den letzten acht bis zehn Jahren durchgeführten Schülerbefragungen festgestellt.
5,6
Polizeidaten ESB 2000 Polizeidaten HO 1999–2001
5
1,2 1,1
1,2 1,2
1,6 1,2
1,5 1,5
1,6 1,6
2,1 1,7
2,1 2,2
2,5
1,0 1,1
1
2,1
2,9 1,1
1,6
2
1,8
1,9
2,5
3
2,9 2,7
3,4
4 3,0
Delikte je 100000 Einwohner
6
St
aa
te
US
A n Ne ES us B ee l Au and str ali en EU Kan ad -S ta at a en HO Ja pa Fin n nl No and rd ir Sc land ho ttl an d Po l en Fr a En nkr eic gl an h d/ W ale s I t De ali ut en sc hl a Ös nd te rre ic Sp h an ien Sc hw eiz
0
30
52
Abb. 1.1.26. Vollendete Tötungsdelikte um das Jahr 2000: Internationale und europäische Gegenüberstellung von polizeilich registrierten Fällen a ESB European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics; HO Home Office Research Quelle: Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz (Hrsg) (2006) Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin, S. 43, Abb. 1.1.2.2.-2 a
Die für die Erstellung der Grafik notwendigen Daten wurden von Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner freundlicherweise zur Verfügung gestellt
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Fälle je 100000 der Bevölkerrung
1,4 1,2 1,0
1,2 1,1
1,1
1,1
1,1
1,1
0,8
1,0
1,0
1,0
0,9
0,9
0,9
1,0 0,9
0,6
0,7
0,7
2000
2001
0,4 Deutschland Durchschnitt
0,2 0 1994
1995
1996
1997
1998
1999
Abb. 1.1.27. Todesfälle infolge von Mord, Totschlag und Körperverletzung. Entwicklung in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt von elf europäischen Staaten 1994–2001 a Quelle: Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz (Hrsg) Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2006, S 47, Abb. 1.1.2.2.-4 a
Die für die Erstellung der Grafik notwendigen Daten wurden von Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Weiter relativiert werden die kriminalstatistischen Befunde über die Zunahme von gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie von Raub durch Ergebnisse sowohl der neueren Dunkelfeldstudien als auch durch Aktenanalysen. Sowohl den bereits erwähnten Schülerbefragungen zufolge als auch nach den Erkenntnissen des Bundesverbandes der Unfallkassen gibt es keine Anzeichen für eine steigende Brutalisierung der Gewaltdelinquenz junger Menschen. Vielmehr werden zunehmend minder schwere Gewaltdelikte angezeigt. Dies wird bestätigt durch Analysen von Ermittlungsund Strafakten, also von Befunden aus dem Hellfeld. In einer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführten Aktenanalyse wurde festgestellt, dass 1996 in den wegen Raubes oder qualifizierter Körperverletzung in Hannover durchgeführten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen unter 21-jährige Beschuldigte der Anteil der schweren Delikte geringer war als 1993 (vgl. Tabelle 1.1.8). Die Kriminologische Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei im Bayerischen Landeskriminalamt kam zu einem vergleichbaren Ergebnis. Die Auswertung der Ermittlungs- und Strafakten der 1989 und 1998 in München wegen Gewaltkriminalität registrierten Heranwachsenden und Jungerwachsenen zeigte, dass der prozentuale Anteil der als „minder schwer“ beurteilten Fälle 1998 ebenfalls etwas höher war als noch 1989 (vgl. Tabelle 1.1.9). Beide Untersuchungen bestätigen jedenfalls nicht die Annahme, polizeilich registrierte Gewaltkriminalität sei „schwerer“ geworden. Dasselbe wurde in Aktenanalysen in drei Staatsanwaltschafen in Nordrhein-Westfalen festgestellt (1986 vs 1996, Althoff u. Egelkamp 2006, S. 35 f.).
53
54
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.8. Verletzungsgrad der Opfer der von unter 21-jährigen Angeklagten in Hannover verübten gefährlichen/schweren Körperverletzungs- bzw. Raubdelikte; 1993 und 1996 im Vergleich Verletzungen beim Opfer
z ohne Verletzungen z Verletzung ohne Behandlung z ambulante Behandlung z stationäre Behandlung z insgesamt
gefährliche/schwere Körperverletzung
Raub
1993
1993
1996
1996
N
%
N
%
N
%
N
%
18 46
9,7 24,9
25 58
13,2 28,6
71 28
57,7 22,8
138 45
68,0 22,2
94 27
50,8 14,6
91 15
44,8 7,4
20 4
16,3 3,3
18 2
8,9 1,0
185
100
189
100
123
100
203
100
Quelle: Pfeiffer u. Delzer (1999) S. 711, Abb. 3.; Pfeiffer, Delzer, Enzmann, Wetzels (1999) S. 97 f. Tabelle 1.1.9. Verletzungsgrad der Opfer der von Heranwachsenden oder Jungerwachsenen in München verübten, polizeilich registrierten Gewaltkriminalität; 1989 und 1998 im Vergleich Gewaltkriminalität Verletzungsgrad aller Opfer 1989
z z z z z z
ohne Verletzungen leicht (ohne ambulante Behandlung) mittel (mit ambulanter Behandlung) schwer (mit stationärer Behandlung) lebensbedrohend tödlich
z insgesamt
1998
N
%
N
%
103 245 129 30 2 2
20,2 47,9 25,2 5,9 0,4 0,4
154 284 168 21 9 4
24,1 44,4 26,3 3,3 1,4 0,6
511
100,0
640
100,0
Quelle: Elsner u. Molnar (2001) S. 173 (absolute Zahlen mitgeteilt von den Autoren)
Hinsichtlich der in der PKS erfassten Tatmodalitäten – allein handelnder Tatverdächtiger, Konsument harter Drogen, unter Alkoholeinfluss, Verwendung oder Drohung mit Schusswaffen – zählt vor allem das letztgenannte Kriterium zu den „harten“. Sowohl die Drohung mit als auch die Verwendung von Schusswaffen sind seit einigen Jahren rückläufig (vgl. Abb. 1.1.28). Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es nicht zu einer qualitativen Zunahme des Schweregrades registrierter Gewaltdelikte gekommen ist.
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 20 18
Häfigkeitszahl
16 14 12 10 8 6 4 2
mit Schusswaffe gedroht geschossen
0 1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.28. Verwendung von Schusswaffen – gedroht oder geschossen (Häufigkeitszahlen, pro 100 000 der Wohnbevölkerung). Alte Länder mit Westberlin, 1991 und 1992 mit Gesamtberlin, seit 1993 Deutschland Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.28 1985
1990
1995
z mit Schusswaffe absolut gedroht HZ Index
7128 11,7 100,0
6589 10,5 90,0
12 855 12 482 9177 15,8 15,2 11,1 135,0 130,0 95,2
z mit Schusswaffe abssolut geschossen HZ Index
6787 11,1 100,0
4185 6,7 60,0
8 163 10,0 90,0
2000
2005
6 937 5039 8,4 6,1 75,9 54,9
2006 8813 10,7 91,5 4584 5,6 50,0
HZ Häufigkeitszahl Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1985–2006
1.1.3.3 Ausmaß und Entwicklung der Opfergefährdung im Spiegel der PKS Opfer werden derzeit in den Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken nur bei bestimmten Straftaten(gruppen) erfasst. Am ausführlichsten sind die Nachweise in der PKS. Seit 1971 werden für ausgewählte Straftaten und Straftatengruppen (insbesondere bei Straftaten gegen das Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei Rohheitsdelikten, insbesondere bei Raub, und bei Straftaten gegen die persönliche Freiheit) Angaben zum Opfer, seit 1983 auch zur Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung erfasst. Als Opfer gelten hierbei „natürliche Personen, gegen die sich die mit Strafe bedrohte Handlung unmittelbar richtete“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 14). Entgegen alltagstheoretischen Annahmen zeigt die Todesursachenstatistik, dass Tötungsrisiken im Alltag ungleich höher sind als das Risiko, Opfer eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes zu werden (vgl. Abb. 1.1.29). In der Bundesrepublik kamen im Jahr 2006 auf ein Opfer eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdeliktes (einschließlich Körperverletzung mit Todesfolge) 19,7 tödliche Unfälle, davon 5,2 im Straßenverkehr.
55
z
1 Kriminologische Grundlagen 24
25 20
Opfer je 100 000
56
15 12
10 6
5 1
0
Unfälle insgesamt
Selbsttötung
Tod durch Verkehrsunfall
Tod durch Mord/Totschlag oder infolge Körperverletzung
Abb. 1.1.29. Tötungsrisiken – Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.29 Todesursache
N
HZ
Relation pro 100 vorsätzliche Tötungen
z z z z
19 479 9765 5174 988
23,63 11,85 6,28 1,20
19,7 9,9 5,2 1,0
Unfälle (einschließlich Spätfolgen) vorsätzliche Selbstbeschädigung Verkehrsunfall vorsätzliche Tötung (einschl. Körperverletzung mit Todesfolge)
HZ Häufigkeitszahl Quelle: Todesursachenstatistik 2006. Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
Die Analyse der Opferdaten der PKS ergibt die bereits aus der Dunkelfeldforschung bekannten deutlichen delikt-, alters- und geschlechtsspezifischen Unterschiede. 2006 wurden von 100 000 Einwohnern 1,0 Opfer eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdeliktes, 61,3 Opfer eines vollendeten Raubes (einschließlich räuberischer Erpressung und räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer), 200,5 Opfer einer vollendeten gefährlichen/schweren Körperverletzung. Männer werden insgesamt gesehen häufiger Opfer als Frauen (ausgenommen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung), Jugendliche und Heranwachsende werden häufiger Opfer als Erwachsene; unter den Erwachsenen sind ältere Menschen weniger gefährdet als jüngere. Wie Tabelle 1.1.10 und die Abbildungen 1.1.30 und 1.1.31 zeigen, sind männliche Jugendliche und Heranwachsende bei (schwerer/gefährlicher) Körperverletzung und Raub besonders gefährdet, bei Delikten also, bei denen sie auch die statistisch am stärksten kriminalitätsbelastete Altersgruppe bilden. Das feste Tabellenprogramm der veröffentlichten PKS erlaubt es nicht, Opferalter bzw. -geschlecht in Beziehung zu setzen zu Tatverdächtigenalter beziehungsweise -geschlecht, um z. B. festzustellen, ob es sich überwiegend
m w
m w
m w
m w
z Jugendliche (14 bis unter 18)
z Heranwachsende (18 bis unter 21)
z Erwachsene (21 bis unter 60)
z Erwachsene (60 und älter) 279,1 167,3
1377,7 980,3
4685,9 2369,3
3639,0 2202,3
737,1 609,8
0,8 0,9
1,2 1,0
1,8 1,1
0,4 0,5
0,9 0,8
1,0 0,9
1,0
Tötungsdelikte (SZ 0100 + 0200)
0,2 1,7
1,4 27,9
8,5 145,9
19,0 210,3
6,0 22,1
2,9 31,8
17,7
17,3 29,0
76,8 43,9
347,9 75,5
423,6 61,6
47,2 10,1
86,2 37,4
61,3
gegen die Raubdelikte sexuelle Selbst- (SZ 2100) bestimmung (SZ 1100)
35,0 13,4
329,1 108,2
1512,2 354,2
1008,2 352,0
120,3 54,7
311,7 94,1
200,5
gefährliche/ schwere Körperverletzung (SZ 2220)
99,5 38,4
330,1 269,5
488,2 534,3
383,5 375,8
103,5 80,3
256,8 195,2
225,4
gegen die persönliche Freiheit (SZ 2300)
Tötungsdelikte (SZ 0100 + 0200) Mord (§ 211 StGB), Totschlag und Tötung auf Verlangen (§§ 212, 213, 216 StGB); gg. die sexuelle Selbstbestimmung (SZ 1100) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses (§§ 174, 174 a, 174 b, 174 c, 177, 178 StGB); Raubdelikte (SZ 2100) Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–252, 255, 316 a StGB); gefährliche/schwere Körperverletzung (SZ 2220) Körperverletzung (§§ 223–227, 229, 231 StGB); gg. die persönliche Freiheit (SZ 2300) Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 234, 235, 236, 239–239 b, 240, 241, 316 c StGB) Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tab. 91
m w
1278,0 808,1
m w
z Kinder (bis unter 14)
1038,0
insgesamt
Opfer insgesamt
Straftaten insgesamt vollendet
Geschlecht
Altersgruppe
Tabelle 1.1.10. Opfergefährdung nach Alters-, Deliktgruppen und Geschlecht bei vollendeten Delikten (Häufigkeitszahlen pro 100 000 der Wohnbevölkerung). Bundesrepublik Deutschland 2006
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland z
57
z
1 Kriminologische Grundlagen Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen 2,0
Gewaltdelikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung 225
männlich weiblich
1,8
1,8
1,2 0,8
1,1 0,9
1,2 1,0
0,8
0,8
0,6 0,4
0,4
0,9
0,5
Häufigkeitszahlen
175
1,4 1,0
125 100 75 25
<14
145,9
150
50
0,2 0
210,3
200
1,6
Häufigkeitszahlen
58
14 – <18 18 – <21 21 – <60
0
≥60
22,1
19,0
6,0
<14
27,9 8,5
1,4
14 – <18 18 – <21 21 – <60
Alter (Jahre)
0,2 1,7
≥60
Alter (Jahre)
Abb. 1.1.30. Opfergefährdungszahlen nach Altersgruppen und Geschlecht bei vollendeten Delikten im Vergleich (vorsätzliche Tötungsdelikte, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung), Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.30 Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen (SZ 0100+0200) vollendet
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses (SZ 1100) vollendet
N
HZ
N
insgesamt
808
1,0
14 564
17,7
m w
421 387
1,0 0,9
1167 13 397
2,9 31,8
m w
50 42
0,9 0,8
329 1 159
6,0 22,1
z Jugendliche m (14 bis unter 18 Jahre) w
8 9
0,4 0,5
369 3 876
19,0 210,3
z Heranwachsende m (18 bis unter 21 Jahre) w
26 15
1,8 1,1
125 2 045
8,5 145,9
z Erwachsene m (21 bis unter 60 Jahre) w
269 218
1,2 1,0
326 6 123
1,4 27,9
z Erwachsene (60 Jahre und älter)
68 103
0,8 0,9
18 194
0,2 1,7
z Opfer insgesamt
z Kinder (bis unter 14 Jahre)
m w
HZ
Opfergefährdungszahlen: Opfer pro 100 000 der (hier: alters- und geschlechtsgleichen) Wohnbevölkerung; vorsätzliche Tötungsdelikte: Mord (§ 211 StGB), Totschlag und Tötung auf Verlangen (SZ 0100 u. 0200; §§ 212, 213, 216 StGB); Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses (SZ 1100; §§ 174, 174 a, 174 b, 174 c, 177, 178 StGB). Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 91
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
um Straftaten innerhalb derselben Alters- beziehungsweise Geschlechtsgruppe handelt oder nicht. Eine aufgrund der anonymisierten Einzeldatensätze der PKS Baden-Württemberg 2006 zu Tatverdächtigen und Opfern durchgeführte Analyse zeigt (vgl. Abb. 1.1.32), dass z Opfer und Tatverdächtige – bezogen auf die polizeilich registrierten Fälle der gefährlichen oder schweren Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen – überwiegend derselben Altersgruppe angehörten, denn – bei den 14- bis unter 21-jährigen Opfern gehörten 70% der Tatverdächtigen derselben Altersgruppe an, 26% waren älter; – bei erwachsenen Opfern im Alter zwischen 21 und unter 40 Jahren stammten 53% der Tatverdächtigen aus derselben Altersgruppe, 12% waren älter, 35% waren unter 21 Jahre alt;
Raubdelikte 500
gefährliche/schwere Körperverletztung 1600
männlich weiblich
1400
Häufigkeitszahlen
Häufigkeitszahlen
400 300 200 100
männlich weiblich
1200 1000 800 600 400 200
0
<14
14 – <18 18 – <21 21 – <60
≥60
Alter (Jahre)
0
<14
14 – <18 18 – <21 21 – <60
≥60
Alter (Jahre)
Straftaten gegen persönliche Freiheit 600
Häufigkeitszahlen
500
männlich weiblich
400 300 200 100 0
<14
14 – <18 18 – <21 21 – <60
≥60
Alter (Jahre)
Abb. 1.1.31. Opfergefährdungszahlen nach Altersgruppen und Geschlecht bei vollendeten Delikten im Vergleich (Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer; Körperverletzung und Straftaten gegen die persönliche Freiheit), Deutschland 2006
59
60
z
1 Kriminologische Grundlagen
Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.31 Raub, räuberische Erpressung (SZ 2100) z Opfer
gefährliche/schwere Körperverletzung (SZ 2200)
Straftaten gegen die persönliche Freiheit (SZ 2300)
insge- 50 511 samt m 34 779 w 15 732
61,3
165 318
200,5
185 775
225,4
86,2 37,4
125 724 39 594
311,7 94,1
103 590 82 185
256,8 195,2
z Kinder
m w
2 608 532
47,2 10,1
6 650 872
120,3 54,7
5 720 4 216
103,5 80,3
z Jugendliche
m w
8 225 1 135
423,6 61,6
19 575 487
1008,2 352,0
7 445 6 925
383,5 375,8
z Heranwachsende
m w
101 058
347,9 75,5
22 173 964
1512,2 354,2
7 158 7 489
488,2 534,3
z Erwachsene (21 bis unter 60 Jahre)
m w
17 318 613
76,8 43,9
74 224 23 705
329,1 108,2
74 461 59 068
330,1 269,5
z Erwachsene (60 Jahre und älter)
m w
1 527 3 394
17,3 29,0
102 566
35,0 13,4
8 806 4 487
99,5 38,4
z insgesamt
Opfergefährdungszahlen (vgl. Legende zu Abb. 1.1.30) Raub, räuberische Erpressung (SZ 2100) (§§ 249–252, 255, 316 a StGB); gefährliche/schwere Körperverletzung (SZ 2200) (§§ 223–227, 229, 231 StGB); Straftaten gegen die persönliche Freiheit (SZ 2300) (§§ 234, 235, 236, 239–239 b, 240, 241, 316 c StGB) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 91
– bei erwachsenen Opfern im Alter von 40 Jahren und mehr waren 25% der Tatverdächtigen unter 21 Jahre alt; z mit zunehmendem Alter der Opfer der Anteil der unter 21jährigen Tatverdächtigen abnahm, z junge Menschen insgesamt häufiger als Opfer denn als Tatverdächtige vertreten waren. Insgesamt gesehen heißt dies, dass junge Menschen zwar relativ häufig als Täter von Gewaltkriminalität in Erscheinung treten, dass sie aber noch häufiger Opfer von Gewalt sind; dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung auch der innerfamiliären Gewalt, deren Vorkommen in der PKS deutlich unterrepräsentiert ist. Delikte gegen die Person und Sexualstraftaten geschehen besonders häufig im sozialen Nahraum und weisen deshalb einen höheren Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer auf als alle Eigentums- und Vermögensdelikte, Erpressung ausgenommen. Abbildung 1.1.33 veranschaulicht diesen Zusammenhang. Bei jeweils 55% der Opfer von Mord und Totschlag sowie bei
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 100 90 80
5%
13 %
12 %
21 %
13 %
35 %
Anteil (%)
70 60
53 % 34 %
50 41 %
40
70 %
30 20
Altergruppe des Täters (%): ≥40 21 – <40 14 – <21 <14
35 % 40 % 22 %
10 0
z
4%
<14
2%
14 – <21
21 – <40
≥ 40
Altersgruppe des Opfers
Abb. 1.1.32. Täter-Opfer-Altersbeziehung bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen (SZ 2221), Baden-Württemberg 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.32 Tatverdächtige nach Opfer bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung auf Straßen, Altersgruppen Wegen oder Plätzen (SZ 2221) nach Altersgruppen
z z z z z
bis unter 14 Jahre
14 bis unter 21 Jahre
21 bis unter 40 Jahre
40 Jahre und älter
N
%
N
%
N
%
N
%
100 40,3 34,0 13,2 12,6
890 28 627 190 45
100 3,1 70,4 21,3 5,1
910 1 317 485 107
100 0,1 34,8 53,3 11,8
255 6 57 104 88
100 2,4 22,4 40,8 34,5
insgesamt 159 bis unter 14 Jahre 64 14 bis unter 21 Jahre 54 21 bis unter 40 Jahre 21 40 Jahre und älter 20
Quelle: Landeskriminalamt Baden-Württemberg (anonymisierte Einzeldatensätze PKS 2006)
58% der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung wurde die Tat von Verwandten oder näheren Bekannten verübt. Bei Raub wurden dagegen bei nur 10% der Opfer Bekannte oder Verwandte als Tatverdächtige ermittelt. Die Veränderung der Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung bei Gewaltdelikten, namentlich bei Körperverletzung (vgl. Abb. 1.1.34), – zunehmend handelt es sich um Tatverdächtige aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis – dürfte wohl weniger eine Veränderung in der Realität widerspiegeln als vielmehr Folge einer Veränderung des Anzeigeverhaltens sein. In Fällen häuslicher Gewalt wird den Opfern Beratung und Hilfe angeboten; dies mag dazu geführt haben, dass sich Opfer vermehrt hilfesuchend an die Polizei wenden.
61
z
1 Kriminologische Grundlagen 100
7
11,3
11,4
90 80
60 50 40
16,3
14
2,5
0,3
45,3
keine Vorbeziehung
11,6 0,8
flüchtige Vorbeziehung Landsmann
20,5
Bekanntschaft
7,4
Verwandtschaft
64,6
12,1 29,3
0,6
39,7
27,3 8,2
20
0
ungeklärt
34,7 10,5
30
10
14,5
21
20,4
70
Anteil (%)
62
26,0
Mord/ Totschlag
0,4 9,3 1,2
18
13,8
gegen sexuelle Selbstbestimmung
Körperverletzung
Raubdelikte
Gewaltkriminlität insgesamt
Abb. 1.1.33. Täter-Opfer-Beziehung bei Gewaltdelikten (Opfer insgesamt), Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.33 Mord und Totschlag (SZ 0100+ 0200)
Opfer 2911 Verwandt756 schaft Bekanntschaft 852 Landsmann 72,0 flüchtige 307 Vorbeziehung keine Vor595 beziehung ungeklärt 329
KörperSexuelle verletzung Selbstbestimmung (SZ 2200) (SZ 1100)
100 17 199 100 26,0 3 154 18
597 504 100 82 437 13,8
GewaltRaub, räuberische kriminalität (SZ 8920) Erpressung und räuberischer Angriff (SZ 2100) 61 892 100 254 483 100 718 1,2 18 771 7,4
29,3 2,5 10,5
6 828 40 163 291 27,3 45,0 0,3 3 802 0,6 2 358 14 72 320 12,1
5 735 254 5 102
9,3 0,4 8,2
52 102 20,5 2 016 0,8 29 495 11,6
20,4
3 622
21
207 524 34,7
39 966
64,6 115 163 45,3
11,3
1 192
7
68 130 11,4
10 117
16,3 36 936 14,5
SZ Schlüsselzahl Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 92
Die Zunahme polizeilich registrierter Gewaltkriminalität führte zu einem entsprechenden Anstieg der Opfergefährdungszahlen (Opfer pro 100 000 der Wohnbevölkerung). Dennoch: Das Risiko, Opfer eines vollendeten vorsätzlichen Tötungsdeliktes zu werden, ist insgesamt, rein quantitativ betrachtet, gering und – im statistisch überblickbaren Beobachtungszeitraum ab 1971 – derzeit insgesamt niedriger als noch 1971 (vgl. Abb. 1.1.35). Seit
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 100
z
18
15
14
13
13
13
11
11
11
10
11
ungeklärt
18
35
35
34
34
34
35
35
keine Vorbeziehung
35
36
35
35
35
12
12
11
11
12
12
12
12
40
12
12
12
11
1
1
1
1
1
flüchtige Vorbeziehung Landsmann
30
2
2
2
20
24
25
25
10
10
10
90 80
Anteil (%)
70 60 50
10 0
2
2
2
1
28
28
28
28
27
Bekanntschaft
14
14
14
14
14
Verwandtschaft
27
27
27
27
11
11
12
13
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Abb. 1.1.34. Täter-Opfer-Beziehung bei Körperverletzungsdelikten (SZ 2200), Deutschland 1995– 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.34 1995 N z z z z z
Opfer Verwandtschaft Bekanntschaft Landsmann flüchtige Vorbeziehung z keine Vorbeziehung z ungeklärt
2000 %
274 402 100 27 006 9,8 66 542 24,2 4 476 1,6 29 856 10,9
N
2005 %
N
2006 %
N
%
436 332 100 50 615 11,6 117 771 27,0 6 256 1,4 50 352 11,5
570 435 100 79 136 13,9 159 364 27,9 4 027 0,7 69 058 12,1
597 504 100 82 437 13,8 163 291 27,3 3 802 0,6 72 320 12,1
94 444
34,4
154 264
35,4
199 802
35,0
207 524
34,7
52 078
19,0
57 074
13,1
59 299
10,4
68 130
11,4
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1995–2006, Tabelle 92
Anfang der 90er Jahre gehen die Opfergefährdungszahlen bei vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikten zurück. Dies muss aber nicht bedeuten, dass die Delikte abgenommen oder weniger gefährlich geworden sind, denn dieser Befund kann auch auf Verbesserungen des Rettungswesens oder der ärztlichen Kunst, das Leben zu erhalten, beruhen. Angestiegen sind dagegen die polizeilich registrierten Risiken bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung (vgl. Abb. 1.1.36). Bei diesen Delikten ist freilich davon auszugehen, dass nur ein Teil des Anstiegs real ist, ein – nicht unerheblicher – Teil dürfte dagegen auf einer Verschiebung zwischen Hell- und Dunkelfeld durch ein verändertes Anzeigeverhalten vor allem bei minder schweren Fällen beruhen. Im Unterschied zu gefährlicher/schwerer
63
z
1 Kriminologische Grundlagen
Häufigkeitszahl (Opfer je 100 000)
1,75
männlich weiblich
1,50 1,25 1,00 0,75 0,50 0,25 0 1971
1980
1990
2000
2005
2006
Abb. 1.1.35. Opfergefährdungszahlen nach Geschlecht bei vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikten (§§ 211, 212, 213, 216 StGB, vor 1999 auch noch § 217 StGB), Deutschland 1971–2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.35 Opfer vollendeter Fälle von vorsätzlichen Tötungsdelikten (§§ 211, 212, 213, 216 StGB, vor 1999 auch § 217 StGB)
m w
N N
m w
HZ HZ
1971
1980
1990
2000
2005
2006
451 360
479 400
457 352
578 437
478 391
421 387
1,55 1,13
1,63 1,25
1,51 1,08
1,45 1,03
1,18 0,93
1,04 0,92
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1971–2006, Tabelle 91 325
Häufigkeitszahl (Opfer je 100000)
64
300
männlich weiblich
250 200 150 100 50 0 1973
1981
1991
2000
2005
2006
Abb. 1.1.36. Opfergefährdungszahlen nach Geschlecht bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung (§§ 224, 226, 231 StGB) – vollendete Fälle, vor 1999: Gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Vergiftung (§§ 223 a, 224, 225, 227, 229 StGB) (Deutschland 1973–2006) Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.36 Opfer vollendeter Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie Vergiftung (§§ 223 a, 224, 225, 227, 229 StGB)
m w
N N
m w
HZ HZ
1973
1980
1990
2000
2005
2006
36 154 7 279
53 382 13 580
55 340 15 137
93 495 29 228
120 636 38 618
125 724 39 594
122,42 22,55
182,09 42,28
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1973–2006, Tabelle 91
183,02 46,66
234,26 69,17
298,95 91,63
311,66 94,05
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
65
Häufigkeitszahl (Opfer je 100 000)
100 80
männlich weiblich
60 40 20 0
1971
1980
1990
2000
2005
2006
Abb. 1.1.37. Opfergefährdungszahlen nach Geschlecht bei vollendetem Raub, räuberischer Erpressung und räuberischem Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–252, 255, 316 a StGB), Deutschland 1971–2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.37 Opfer vollendeter Fälle von Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–252, 255, 316 a StGB)
m w
N N
m w
HZ HZ
1971
1980
1990
2000
2005
2006
9056 3662
12 411 7079
19 124 11 983
36 942 16 678
34 283 15 981
34 779 15 732
31,15 11,47
42,33 22,04
63,25 36,94
92,56 39,47
84,96 37,92
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 1971–2006, Tabelle 91
Körperverletzung ist bei Raub (vgl. Abb. 1.1.37) seit dem Höchststand 1997 eine – bei leichten Ausschlägen nach oben oder nach unten – rückläufige Entwicklung der registrierten Opfergefährdung zu verzeichnen, die in den letzten Jahren freilich auf hohem Niveau stagniert. Wie die Abbildungen 1.1.35, 1.1.36 und 1.1.37 zeigen, besteht zwischen Männern und Frauen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten nur ein geringer Unterschied in der Opfergefährdung (2006: 1,1 zu 1). Bei Raub sind Männer etwas mehr als doppelt so stark gefährdet wie Frauen (2006: 2,3 zu 1). Am größten ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung (2006: 3,3 zu 1). Die Zunahme der Opfergefährdung bei Raub und Körperverletzung erfolgte vor allem zu Lasten der Männer. Pro 100 000 haben die Gefährdungszahlen für die männlichen Opfer weitaus stärker zugenommen als die der weiblichen Opfer.
86,21 37,37
66
z
1 Kriminologische Grundlagen
1.1.4
Polizeilich ermittelte Tatverdächtige
1.1.4.1
Tatverdächtige nach Alter, Geschlecht, Nationalität und Merkmalen der Tatbegehung
1.1.4.1.1 Tatverdächtige nach Alter Von den polizeilich registrierten Straftaten wurden 2006 55,4% aufgeklärt, d. h., dass die (Straf-)Tat „nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis mindestens ein namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger begangen hat“ (Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, S. 12). Zu diesen 3 492 933 aufgeklärten Fällen wurden 2 283 127 Tatverdächtige ermittelt, d. h. im Schnitt wurde ein Tatverdächtiger mit rund 1,5 Fällen in Verbindung gebracht. Zahlenmäßig am häufigsten registriert wurden erwachsene männliche Deutsche: Von den ermittelten Tatverdächtigen waren 72,8% 21 Jahre und älter (vgl. Abb. 1.1.38); 4,4% waren (strafunmündige) Kinder, 12,2% Jugendliche, 10,6% Heranwachsende. 75,9% aller Tatverdächtigen waren männlich, 78,0% aller Tatverdächtigen Deutsche.
Jugendliche bis unter 18 Jahre (12,2 %)
Kinder bis unter 14 Jahre (4,4 %)
Heranwachsende bis unter 21 (10,6 %) Vollerwachsene 25 Jahre und älter (60,7 %)
Jungerwachsene bis unter 25 (12,1 %)
Abb. 1.1.38. Alterszusammensetzung der polizeilich registrierten Tatverdächtigen, Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.38 2006 Tatverdächtige insgesamt
Kinder (bis unter 14 Jahre)
Jugendliche Heran(14 bis unter wachsende 18 Jahre) (18 bis unter 21 Jahre)
Jungerwachsene (21 bis unter 25 Jahre)
Vollerwachsene (25 Jahre und älter)
N 2 283 127 % 100,0 m 1 733 078 w 550 049 %w 24,1
100 487 4,4 71 727 28 760 28,6
278 447 12,2 201 799 76 648 27,5
275 471 12,1 217 640 57 831 21,0
1 386 898 60,7 1 050 285 336 613 24,3
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
241 824 10,6 191 627 50 197 20,8
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil sind vor allem junge Männer überrepräsentiert. Abbildung 1.1.39 zeigt die auf jeweils 100 000 der Wohnbevölkerung bezogenen Tatverdächtigenbelastungszahlen für Deutsche (für Nichtdeutsche und für Tatverdächtige insgesamt lassen sich wegen fehlender exakter Bevölkerungszahlen keine validen Belastungszahlen berechnen) nach Altersgruppen und Geschlecht. Ersichtlich ist: z Die Alterskurven für beide Geschlechter weisen keine Normalverteilung auf, sondern sind „rechtsschief“ und eingipfelig. Die Belastung der Tatverdächtigen steigt zunächst steil an, erreicht bei der Altersgruppe der männlichen Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) ihren Gipfel und fällt danach wieder ab; ab dem 35. Lebensjahr läuft sie allmählich aus. Diese Höherbelastung junger Menschen gehört zum Allgemeinwissen; viele Kriminologen gehen von nahezu universeller Gültigkeit dieses Befundes aus (vgl. Mischkowitz 1993). z Die Kriminalitätsbelastung der Frauen ist in allen Altersgruppen erheblich geringer als die der jeweiligen männlichen Altersgruppe. z Der Belastungsgipfel bei tatverdächtigen Frauen liegt in einer jüngeren Altersgruppe als bei den Männern, was überwiegend auf einer altersspezifisch unterschiedlichen Deliktstruktur sowie der geringeren Zahl von mehrfach auffälligen Frauen beruhen dürfte. Relativiert wird die Überrepräsentation junger Menschen unter den Tatverdächtigen wie unter den Verurteilten, wenn Art und Schwere der verübten Delikte betrachtet werden. Der Anteil der leichten Delikte ist bei Kindern und bei Jugendlichen am höchsten (vgl. Abb. 1.1.40). Sowohl nach der PKS als auch nach der Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat) dominieren bei der Jugendkriminalität die leichteren Eigentums- und Vermögensdelikte; ausweislich der StVerfStat auch noch die Straßenverkehrsdelikte (ausführlich Heinz 2006 a). Jugendkriminalität ist überwiegend opportunistische (durch Gelegenheiten ausgelöste, nicht planvoll begangene), unprofessionelle Bagatellkriminalität. Dies ist einer der Gründe für die leichte – und häufige – Überführung junger Menschen. Spitze und Verlauf der Alterskurven sind deliktspezifisch höchst unterschiedlich. Die Höchstbelastung bei Gewaltkriminalität weisen die 16- bis 18-jährigen, bei Rauschgiftkriminalität die 18- bis 21-jährigen, bei Betrug die 21- bis 23-jährigen und bei Wirtschaftskriminalität die 40- bis 50-jährigen Tatverdächtigen auf. Einen überproportional hohen Anteil der Tatverdächtigen beziehungsweise Verurteilten stellen junge Menschen bei Gewaltkriminalität, insbesondere bei Körperverletzung und bei Raub (wobei die alterstypische Begehungsweise nicht der Bankraub ist, sondern etwa das „Abziehen“ von Schals oder anderen Fanerkennungszeichen der gegnerischen Seite im Fußballstadion, zunehmend mehr von elektronischen Geräten, insbesondere Handys). Opfer dieser Gewaltkriminalität sind freilich überwiegend Gleichaltrige. Junge Menschen werden insgesamt überdurchschnittlich häufig wegen Delikten registriert beziehungsweise verurteilt, die entweder von der
67
z
1 Kriminologische Grundlagen 12000
Tatverdächtigenbelastungszahlen
68
10000
männlich weiblich
8000 6000 4000 2000 0 DTV <6
Relation m/w 3,5
6– <8
8 – 10 – 12 – 14 – 16 – 18 – 21 – 23 – 25 – 30 – 40 – 50 – ≥60 gesamt <10 <12 <14 <16 <18 <21 <23 <25 <30 <40 <50 <60
3,5
3,7
2,9
1,9
1,9
3,0
3,6
3,6
3,6
3,5
3,1
2,9
2,9
3,2
3,2
Abb. 1.1.39. Tatverdächtigenbelastungszahlen für Deutsche nach Altersgruppen und Geschlecht, Deutschland 2006. DTV deutsche Tatverdächtige Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.39 deutsche Tatverdächtige absolute Zahlen 2006
insgesamt bis unter 6 Jahre 6 bis unter 8 Jahre 8 bis unter 10 Jahre 10 bis unter 12 Jahre 12 bis unter 14 Jahre 14 bis unter 16 Jahre 16 bis unter 18 Jahre 18 bis unter 21 Jahre 21 bis unter 23 Jahre 23 bis unter 25 Jahre 25 bis unter 30 Jahre 30 bis unter 40 Jahre 40 bis unter 50 Jahre 50 bis unter 60 Jahre 60 und älter unter 14 Jahre insgesamt 14 bis unter 18 Jahre insgesamt 18 bis unter 21 Jahre insgesamt 21 bis unter 25 Jahre insgesamt 25 Jahre und älter 21 Jahre umd älter
Tatverdächtigenbelastungs- Relation zahl (deutsche Tatverm/w dächtige pro 100 000 der Altersgruppe)
männlich
weiblich
männlich
weiblich
1 343 504
436 587
3673,4
1131,8
3,2
598 2428 6801 14 151 34 644 71 499 95 922 155 691 88 860 76 633 141 547 225 797 216 977 120 478 91 478
161 652 1739 4570 17 187 35 126 30 189 41 019 23 556 20 547 39 158 69 764 72 803 41 310 38 806
28,4 336,1 911,8 1961,7 4529,3 8365,1 10 645,5 11 775,6 10 329,1 8729,9 6866,4 4391,3 3444,0 2508,5 1089,9
8,0 95,3 246,1 668,6 2365,4 4331,3 3525,6 3255,6 2862,1 2431,4 1969,0 1409,7 1189,1 858,0 343,3
3,5 3,5 3,7 2,9 1,9 1,9 3,0 3,6 3,6 3,6 3,5 3,1 2,9 2,9 3,2
58 622
24 309
1158,9
506,3
2,3
167 421
65 315
9535,4
3917,5
2,4
155 691
41 019
11 775,6
3255,6
3,6
165 493
44 103
9521,5
2643,9
3,6
796 277 961 770
261 841 305 944
2982,4 3382,1
897,4 991,8
3,3 3,4
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 40
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 100
männlich weiblich
Relatives Gewicht (%)
82
80
z
73
73 63
60
51
52 46
43
45
48
49
53
40 20 0 Kinder
Jugendliche
Heranwachsende
21 Jahre – <25 Jahre
≥25 Jahre
Tatverdächtige insgesamt
Abb. 1.1.40. Relatives Gewicht der leichten Delinquenz nach Altersgruppen und Geschlecht, Deutschland 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.40 Tatverdächtige insgesamt
Wegen leichter Delinquenz registrierte Tatverdächtige
Anteil der wegen leichter Delinquenz registrierten Tatverdächtigen an insgesamt der jeweiligen Altersgruppe
z Kinder
m w
71 727 28 760
52 410 23 682
73,1 82,3
z Jugendliche
m w
201 799 76 648
127 607 55 654
63,2 72,6
z Heranwachsende
m w
191 627 50 197
97 381 25 964
50,8 51,7
z Jungerwachsene
m w
217 640 57 831
99 377 24 725
45,7 42,8
z Vollerwachsene
m w
1 050 285 336 613
476 592 162 196
45,4 48,2
z insgesamt
m w
1 733 078 550 049
853 367 292 221
49,2 53,1
Leichte Delinquenz: Als Fälle „leichter“ Delinquenz wurden zusammengefasst: SZ 2240 (vorsätzliche leichte) Körperverletzung (§ 223 StGB), SZ 2250 fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) (§§ 303–305 a StGB), SZ 326* Ladendiebstahl, SZ 5150 Erschleichen von Leistungen (§ 265 a StGB), SZ 6740 Sachbeschädigung (§§303–305 a StGB), SZ 6730 Beleidigung (§§ 185–187, 189 StGB) Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
69
70
z
1 Kriminologische Grundlagen
sozialen Lage und den Zugangschancen (Fahren ohne Führerschein bzw. unbefugter Fahrzeuggebrauch) oder durch Bereicherungs-, Gewalt- und Aggressionselemente, häufig innerhalb der eigenen Altersgruppe, bestimmt sind (Diebstahl, Raub, Erpressung). Das Deliktspektrum erweitert sich erst mit zunehmendem Alter und wird zugleich schadensschwerer. Das Deliktspektrum der Erwachsenen ist nicht nur wesentlich breiter, sondern auch typischerweise schwerer als das junger Menschen. Dies zeigt sich beim Vergleich der Deliktstruktur, der Begehungsformen innerhalb einer Deliktgruppe wie schließlich der durchschnittlich innerhalb eines Delikts verursachten Schäden. z Erwachsene – und nicht Jugendliche – sind die typischen Täter des Drogen-, Waffen- und Menschenhandels und weiterer Spielarten der organisierten Kriminalität. Die höchsten Tatverdächtigenbelastungszahlen weisen die Erwachsenen aber auch auf bei zahlreichen Formen der klassischen Kriminalität, wie Gewalt in der Familie, Korruption, Wirtschaftsund Umweltkriminalität. Die so genannte Makrokriminalität, die mit Folter, Genozid und Vertreibung verbunden ist, wird regelmäßig von erwachsenen Tätern begangen. Derartige Erwachsenendelikte sind schwerer zu entdecken, schwerer nachzuweisen, bei Makrokriminalität stehen einer Verfolgung auch Hemmnisse entgegen. Insofern ist die Überrepräsentation junger Menschen auch eine Folge der Unterrepräsentation von Erwachsenen. z Über die Deliktschwere informieren die amtlichen Statistiken zwar nur unzulänglich. Als grober Indikator steht aber – im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte – der Wert der erlangten Beute beziehungsweise die Wertminderung des Vermögens zur Verfügung. Danach werden durch die polizeilich registrierte Wirtschaftskriminalität, die ein weit höheres Dunkelfeld haben dürfte als die gewöhnliche Eigentumskriminalität, höhere Schäden verursacht als durch die gesamte sonstige Eigentums- und Vermögenskriminalität (vgl. oben Abb. 1.1.19). z Werden Begehungsformen und Schäden innerhalb einer Deliktgruppe verglichen, etwa bei Raubdelikten, dann zeigt sich, dass durch die jugendtypischen Begehungsformen, nämlich Handtaschen- und Straßenraub, ein weitaus geringerer materieller Schaden – gemessen an der erlangten Beute – verursacht wird als durch die typischerweise von Erwachsenen verübten Raubformen, wie Überfälle auf Geldinstitute und Geldtransporte. Knapp die Hälfte (44,8%) der Tatverdächtigen des Handtaschen- und Straßenraubes waren im Jahr 2006 Jugendliche; auf diese beiden Deliktgruppen entfielen indes lediglich 13,3% aller durch Raub oder räuberische Erpressung verursachten Schäden. z Selbst hinsichtlich der körperlichen und psychischen Schäden, die etwa Opfern von Raubüberfällen zugefügt werden, deuten die vorliegenden Befunde darauf hin, dass junge Menschen zwar vermehrt Gewalt anwenden, während Erwachsene etwas häufiger „nur“ drohen, dass sich dieser höhere Gewaltanteil jedoch nicht in einer größeren Anzahl von Fällen mit erheblich verletzten Opfern niederschlägt.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
1.1.4.1.2 Tatverdächtige nach Geschlecht Kriminalität ist weitgehend männlich. Frauen sind als Tatverdächtige im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil deutlich unterrepräsentiert. Die Kriminalitätsbelastung der Männer ist um ein Mehrfaches höher und in der Regel schwerer als das der jeweiligen weiblichen Altersgenossen. Im Dunkel- wie im Hellfeld sind die Relationen weiblich zu männlich umso größer, je schwerer das Delikt ist. Dieser Befund einer insgesamt deutlich geringeren Belastung von Frauen mit registrierter Kriminalität gilt international und lässt sich seit Führung amtlicher Statistiken belegen. Es gibt kein Merkmal, das so stark hinsichtlich offiziell registrierter und bestrafter Kriminalität unterscheidet wie das Merkmal Geschlecht. Dementsprechend wird der Frauenanteil auf jeder Stufe des Strafverfahrens und mit der Zunahme der Eingriffsintensität der Sanktionen immer kleiner (vgl. Tabelle 1.1.11). Obgleich der Frauenanteil – jeweils früheres Bundesgebiet – an der strafmündigen Wohnbevölkerung 2006 51,6% betrug, belief sich der Anteil der weiblichen strafmündigen Tatverdächtigen nur auf 24,2%. Lediglich 19,2% der Verurteilten und nur noch 8,8% der zu stationären Sanktionen Verurteilten waren Frauen. Noch geringer war der Frauenanteil unter den Abgeurteilten mit vorangegangener Untersuchungshaft (7,5%); mit einem Anteil von 5,3% unter den Gefangenen am 31. 3. 2006 war er noch einmal deutlich niedriger. Unter den in Sicherungsverwahrung befindlichen Personen befand sich am 31. 3. 2006 keine Frau. Der Vergleich mit den Raten für 1984 zeigt im Übrigen, dass das Geschlechterverhältnis weitgehend unverändert geblieben ist. Wie die Analyse der Deliktstruktur von Frauen im Vergleich zu jener ihrer männlichen Altersgenossen zeigt, werden Frauen nicht nur seltener als ihre männlichen Altersgenossen registriert, sondern sie werden, wenn sie registriert werden, vor allem wegen Delikten registriert, die im Schnitt deutlich weniger schwer sind als die der Männer. Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche (vgl. Heinz 2002 b, Heinz 2006 a). Der Anteil der strafrechtlich vorbelasteten Frauen ist ebenfalls deutlich geringer. Dieser deutliche Geschlechterunterschied hinsichtlich der registrierten Kriminalität ist im Dunkelfeld nicht so deutlich ausgeprägt (vgl. oben Tabelle 1.1.4). Kriminalität von Frauen bleibt demnach zwar etwas häufiger im Dunkelfeld als die von Männern; dies ist jedoch erwartungsgemäß, denn es handelt sich hierbei um Delikte minderer Schwere, bei denen das Anzeigeverhalten und der Verfolgungsdruck insgesamt geringer sind. Hinzu kommt, dass es sich um Befragungsergebnisse bei jungen Menschen handelt, bei denen der Geschlechterabstand auch im Hellfeld geringer ist. Die unterschiedliche justizielle Behandlung ist deshalb wohl nur eine scheinbare. Denn bei Kontrolle von Deliktart, Deliktschwere und Vorstrafenbelastung verschwinden die Unterschiede beziehungsweise werden nahezu bedeutungslos. Selbst dort, wo Unterschiede noch feststellbar sind, sind diese nicht so groß, dass sie das Ausmaß der Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung erklären würden. Von daher spricht, jedenfalls für die
71
72
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.11. Tatverdächtige, Verurteilte sowie Strafgefangene und Sicherungsverwahrte 2006 mit Vergleich zu 1984, nach Geschlecht. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin (1984 mit Westberlin) insgesamt männlich weiblich
%-Anteil weiblich 2006
1984
z strafmündige Wohnbevölkerung 59 591 989 28 914 814 30 677 175 51,5 (1. 1. 2006)
52,8
z Bekannt gewordene Fälle z Aufgeklärte Fälle
5 255 494 2 864 385
z Tatverdächtige insgesamt 1 880 954 1 794 621 z strafmündige Tatverdächtige (ohne Vergehen im Straßenverkehr) z Abgeurteilte (ohne Verkehr) z Verurteilte (ohne Verkehr) z darunter (jeweils ohne Verkehr): – zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilte – davon: mit Strafaussetzung zur Bewährung zu stationären Sanktionen Verurteilte z Abgeurteilte mit vorangegangener Untersuchungshaft z Strafgefangene (31. 3.) z Sicherungsverwahrte (31. 3.)
1 425 051 1 363 378
455 903 24,2 431 243 24,0
23,6 23,6
732 003 575 152
591 566 464 469
140 437 19,2 110 683 19,2
19,8 19,9
147 470
130 420
17 050 11,6
10,0
86 749
75 050
11 699 13,5
13,4
60 721
55 370
5 351
8,8
6,6
24 078
22 283
1 795
7,5
6,6
53 159 368
50 317 368
2 842 0
5,3 0,0
3,4 0,5
Strafmündige Tatverdächtige Personen, die zum Zeitpunkt der Tat das 14. Lebensjahr vollendet haben und nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte verdächtig sind, eine rechtswidrige (Straf-)Tat begangen zu haben. Nicht erfasst sind Straßenverkehrsund Staatsschutzdelikte. Verurteilte sind Angeklagte, gegen die nach allgemeinem Strafrecht Freiheitsstrafe, Strafarrest oder Geldstrafe (auch durch einen rechtskräftigen Strafbefehl) verhängt worden ist, oder deren Straftat nach Jugendstrafrecht mit Jugendstrafe, Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln geahndet wurde. Unberücksichtigt blieben Verurteilungen wegen Vergehen im Straßenverkehr. zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilte zu Freiheitsstrafe, Strafarrest, Jugendstrafe oder Jugendarrest Verurteilte (ohne Straftaten im Straßenverkehr) insgesamt. zu stationären Sanktionen Verurteilte nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe, nicht zur Bewährung ausgesetzter Strafarrest, nicht zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe, Jugendarrest, Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung gem. § 12 JGG. Strafgefangene in den Justizvollzugsanstalten am 31. 3. einsitzende Strafgefangene (Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe verbüßende Personen) einschließlich der wegen Vergehen im Straßenverkehr Verurteilten. Untersuchungsgefangene in der Strafverfolgungsstatistik erfasste Personen – Abgeurteilte einschließlich Personen mit Entscheidungen gemäß § 59 StGB und § 27 JGG – mit vorangegangener Untersuchungshaft. Sicherungsverwahrte am 31. 3. in Sicherungsverwahrung befindliche Personen. Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 1984, 2006; Strafverfolgungsstatistik 1984; 2006; Strafvollzugsstatistik 1984, 2006 Reihe 4.1
79,3
0,5
–37,7
1 670 730 1 374 476 –629 647
1,7
29 757 53 358 23 601
–31,3
1 515 022 1 041 083 –473 939
17,5
101 773 119 583 17 810
für deutsche Tatverdächtige 5 273,2 1 781,1 6 717,6 9 090,0 3 882,1 11 486,4 3 816,8 2 101,0 4 768,8 72,4 118,0 71,0 1,8
–17,2
1 747 394 1 446 519 –300 875
42,7
92 144 131 489 39 345 33,1
3,1
1,1 1 663,4 3 193,1 1 529,7 92,0
–30,7
1 446 548 1 002 826 –443 722
2,2
24 062 32 021 7 959
weiblich
männlich
männlich
weiblich
Heranwachsende
Jugendliche
Straftaten insgesamt – Tatverdächtigenbelastungszahl 11 1985 12 2006 13 Änderung 2006 gegenüber 1985 (TVBZ) 14 %-Änderung gegenüber 1985 15 Relation der Änderung (TVBZ) m/w
Deutsche Bevölkerung (absolute Zahlen) 6 1985 7 2006 8 Änderung 2006 gegenüber 1985 (absolute Zahlen) 9 %-Änderung gegenüber 1985 10 Relation der Änderung (absolute Zahlen) m/w
Straftaten insgesamt (absolute Zahlen) 1 1985 2 2006 3 Änderung 2006 gegenüber 1985 (absolute Zahlen) 4 %-Änderung gegenüber 1985 5 Relation der Änderung (absolute Zahlen) m/w
Deutsche Tatverdächtige
2 910,0 3 294,6 384,6 13,2
18,5
19 657 977 23 299 338 3 641 361
34,2
572 056 767 621 195 565
männlich
Erwachsene
3,1
1,6
3,9
843,1 967,6 124,5 14,8
9,8
23 082 953 25 338 946 2 255 993
26,0
194 611 245 170 50 559
weiblich
Tabelle 1.1.12. Wegen Verbrechen oder Vergehen als tatverdächtig registrierte deutsche Jugendliche. Tatverdächtige und Tatverdächtigenbelastungszahl im Vergleich, 1985 und 2006 (1985 früheres Bundesgebiet mit Berlin-West, 2006 mit Gesamt-Berlin)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland z
73
männlich
männlich 232,1 261,2 29,0 12,5
männlich
TVBZ Tatverdächtigenbelastungszahl Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 1985, 2006 Bevölkerungsstatistik (Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit – Tabelle B 15) 1985, 2006 (unveröffentlicht)
Gewaltkriminalität insgesamt – Tatverdächtigenbelastungszahl für deutsche Tatverdächtige 16 1985 459,6 60,9 789,6 60,6 17 2006 1 574,2 363,8 1 979,5 205,3 18 Änderung 2006 gegenüber 1985 (TVBZ) 1 114,6 302,8 1 189,9 144,7 19 %-Änderung gegenüber 1985 242,5 497,0 150,7 238,7 20 Relation der Änderung (TVBZ) m/w 3,7 8,2
weiblich
Heranwachsende
Jugendliche
2,2
24,1 37,3 13,2 54,6
weiblich
Deutsche Tatverdächtige
weiblich
1 Kriminologische Grundlagen
Erwachsene
z
Tabelle 1.1.12 (Fortsetzung)
74
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
deutsche Situation, nichts für einen systematischen „Frauenbonus“ der Justiz. Entgegen Thesen einer generellen „Emanzipation in die Kriminalität“ oder von einer überproportionalen Zunahme „gewaltbereiter Mädchen und jungen Frauen“ zeigt die PKS, dass Frauenkriminalität weniger stark zugenommen hat als die Kriminalität ihrer männlichen Altersgenossen. Dass die prozentualen Zuwächse bei Frauen deutlich größer sind (z. B. bei weiblichen Jugendlichen zwischen 1985 und 2006 +118%, bei den männlichen Jugendlichen +72% – vgl. Tabelle 1.1.12) ist eine Folge der weitaus niedrigeren Ausgangsbasis. Eine Zunahme um zehn bei einer Ausgangsbasis von zehn bedeutet eine relative Zunahme um 100%, bei einer Ausgangsbasis von 100 dagegen nur um 10%. Deshalb sind bei deutlich unterschiedlichen Ausgangsbasen nur die Zuwächse der Tatverdächtigenbelastungszahlen aussagekräftig. Wie Tabelle 1.1.12 zeigt, wurden 2006 von 100 000 männlichen deutschen Jugendlichen 3817 mehr polizeilich registriert als noch im Jahr 1985; bei den Frauen waren es 2101. Die Zunahme bei den männlichen Jugendlichen beträgt also das 1,8 fache der Zunahme bei den Frauen. Noch deutlicher sind die Unterschiede bei Gewaltkriminalität. Die Zunahme der Tatverdächtigenbelastungszahlen bei den männlichen Jugendlichen ist um das 3,7 fache größer als bei den weiblichen Altersgenossen, bei den Heranwachsenden sogar um das 8,2fache. Nicht die Frauenkriminalität, sondern die Männerkriminalität hat stärker zugenommen (vgl. Heinz 2002 b).
1.1.4.1.3 Tatverdächtige nach Nationalität Da Staatsangehörigkeit weder ein kriminogener noch ein kriminoresistenter Faktor ist, ist aus kriminologischer Sicht eine Unterscheidung der Bevölkerung in Deutsche und Nichtdeutsche nicht sinnvoll. Da indes in den amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken nur nach dem Merkmal der Staatsangehörigkeit unterschieden wird, kann anhand amtlicher Statistiken derzeit nur danach differenziert werden. Nichtdeutsche sind im Vergleich zu ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung unter den Tatverdächtigen, den Verurteilten und den Strafgefangenen deutlich überrepräsentiert (vgl. Tabelle 1.1.13). Eine Reihe von Verzerrungsfaktoren beeinflussen indes das statistische Bild zu Ungunsten der Nichtdeutschen: Ein beachtlicher Teil der Delikte, wegen derer Ausländer ermittelt werden, können praktisch nur von ihnen verübt werden (Straftaten des Ausländer- und Asylrechts). Ausländische Tatverdächtige werden auch dann gezählt, wenn sie nicht zur (ausländischen) Wohnbevölkerung gehören (z. B. Touristen, Durchreisende oder Berufspendler) oder zwar meldepflichtig sind, sich aber nicht gemeldet haben. Dies hat zur Folge, dass die Belastungszahlen entsprechend überschätzt sind. Hinzu kommt, dass die Angaben der Bevölkerungsstatistik zur nichtdeutschen Wohnbevölkerung relativ ungenau sind. Ausländische und inländische Bevölkerung unterscheiden sich deutlich hinsichtlich Al-
75
76
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.13. Deutsche und Nichtdeutsche im System der Kriminalitätskontrolle 2006. Straftaten ohne Straftaten im Straßenverkehr. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin insgesamt
Deutsche
N
N
z Wohnbevölkerung 59 591 989 (1. 1. 2006) z Tatverdächtige 1 880 954 z Verurteilte 575 152 z Strafgefangene und 64 512 Sicherungsverwahrte a
Nichtdeutsche % an insgesamt
N
% an insgesamt
53 503 188 89,8
6 088 801
10,2
1 418 662 75,4 435 153 75,7 50 486 78,3
462 292 139 444 14 026
24,6 24,2 21,7
a Deutschland, alle Straftaten Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006; Strafverfolgungsstatistik 2006; Strafvollzugsstatistik, Reihe 4.1, 2006
ters- und Geschlechtsstruktur, d. h. der Anteil der – zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften – überproportional kriminalitätsbelasteten jungen Männer ist bei Ausländern deutlich höher (vgl. Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 417 f.). Die danach für einen seriösen Vergleich erforderliche Differenzierung ist nur hinsichtlich eines Teils dieser Verzerrungsfaktoren und nur bei einer Auswertung der – auf Bundesebene nicht vorliegenden – Rohdatensätze möglich. Eine Sonderauswertung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg anhand der PKS für 2002 zeigte z. B., dass sich die (bei Nichtberücksichtigung der Verzerrungsfaktoren bestehende) Höherbelastung der nichtdeutschen Tatverdächtigen um das 3,3fache deutlich reduziert, wenn nur die statistisch kontrollierbaren Verzerrungsfaktoren berücksichtigt werden (vgl. Tabelle 1.1.14). Dies allein genügt allerdings nicht, um völlig vergleichbare Gruppen zu bilden. Hierzu müssten zum einen mögliche Unterschiede im Kontroll- und Anzeigeverhalten, zum anderen sozialstrukturelle Merkmale berücksichtigt werden, insbesondere Merkmale der sozialen Lage (z. B. Beschäftigungsart, Arbeitslosenquote, Ausbildung, Einkommen, Wohnverhältnisse, soziale Integration). Diesbezüglich enthält jedoch die PKS keinerlei Informationen. Werden deutsche Tatverdächtige nach sozialstrukturellen Merkmalen differenziert, dann zeigen sich auch hier deutliche Unterschiede in der Höhe der Belastung. Nach allen kriminologischen Theorien und Erfahrungen ist deshalb die Mehrfachbelastung der Nichtdeutschen gegenüber den – im Schnitt nicht so stark sozial benachteiligten – Deutschen erwartbar. Die Beurteilung der registrierten Kriminalität von Nichtdeutschen ist dementsprechend umstritten. Während einige Forscher vermuten, bei Kontrolle aller Verzerrungsfaktoren würde sich keine höhere Belastung ergeben, die Mehrfachbelastung sei ein Artefakt der Statistik, geht die Mehrzahl der Kriminologen von einer tatsächlich bestehenden höheren Belastung (zumindest einiger Gruppen) von Nichtdeutschen aus (Nachweise bei Heinz
1 966 167 455
1 966 559 023 44 352 7 934 44 352 7 934 44 352
7 934
2 327 222 608
2 293 668 449 64 979 9 721 60 336 9 026 59 467
8 896
13 813
14 607 15 115
4 644 109 426 20 627 18 850 15 984
4 916 55 153
1 187 570 76 057 6 404 58 383
nichtdeutsche TV
25,4
26,5
16,4 31,7
24,8
25,9
12,2 31,2
Anteil Nichtdeutsche (%)
1,7
1,8
2,4
2,4
2,5
–3,3
Relation der TVBZ D : ND = 1: . . .
TV Tatverdächtige, TVBZ Tatverdächtigenbelastungszahl, * wg. Ausl./Asylverf. rechtl. Verstöße (SZ 7250) Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- und das Freizügigkeitsgesetz/EU Quelle: Eigene Berechnung nach Daten einer Sonderauswertung des LKA Baden-Württemberg mit den Daten der PKS BW 2002
8 518 942 167 455 1 966 167 455
9 706 512 243 512 2 509 225 838
Wohnbevölkerung ab 8 J. registrierte TV ab 8 J. = TVBZ melderechtlich erfasste TV (ohne Durchreisende, Illegale, Stationierte Streitkräfte) = TVBZ melderechtliche erfasste TV (ohne Durchreisende, Illegale, Stationierte Streitkräfte) – ohne ausschließlich wegen Ausl./Asylverfahrensrechtliche Verstöße (SZ 7250) * Erfasste = TVBZ männliche Wohnbevölkerung, 14 bis unter 25 J. registrierte männl. TV, 14 bis unter 25 J. = TVBZ melderechtlich erfasste männl. TV (ohne Durchreisende, Illegale, Stationierte Streitkräte) = TVBZ melderechtlich erfasste männl. TV (ohne Durchreisende, Illegale, Stationierte Streitkräfte) -- ohne ausschließlich wegen Ausl./Asylverfahrensrechtliche Verstöße (SZ 7250) * Erfasste = TVBZ
deutsche TV
TV ab 8 J insgesamt
Analyseeinheit
–47%
–43%
–27%
–27%
–23%
0%
Reduktion der Überrepräsentation
Tabelle 1.1.14. Kontrolle der statistischen Überrepräsentation der nichtdeutschen Tatverdächtigen anhand der in der PKS verfügbaren Kontrollvariablen: Aufenthaltsstatus; ausschließlich wegen Statusdelikten (SZ 7250) registriert; Geschlecht und Alter (BW 2002)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland z
77
78
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006 a). Eine eindeutige empirische Klärung all dieser Fragen steht noch aus; soweit ersichtlich wurden bislang in keiner Untersuchung sämtliche Verzerrungsfaktoren, insbesondere hinsichtlich der sozialen Lage und der sozialen Kontrolle, methodisch einwandfrei berücksichtigt. Analysen entsprechend der Staatsangehörigkeit sind aber letztlich nicht weiterführend, weil beide Gruppen durch Migrationsprozesse erheblich beeinflusst worden sind. Unter den Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit befindet sich inzwischen eine große Gruppe mit Migrationshintergrund. Hierzu zählen insbesondere die Zuwanderer mit deutschem Pass, namentlich Aussiedler, sowie die (nicht zuletzt aufgrund des im Jahr 2000 veränderten Einbürgerungsrechts) größer gewordene Gruppe der Nachkommen von Arbeitsmigranten mit deutschem Pass. In der Wohnbevölkerung waren 2006 insgesamt 8,8% Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit registriert, im Mikrozensus 2005 wurden dagegen 17,9% Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne festgestellt (vgl. Tabelle 1.1.15). In den Ländern des früheren Bundesgebietes und in Großstädten ist dieser Anteil noch einmal deutlich höher. Der Migrantenanteil ist ferner unter jungen Menschen deutlich höher als in den mittleren oder höheren Altersgruppen. Die verfügbaren polizeilichen Sonderauswertungen zu Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund sind erstmals im Bericht der Bund-Länder-AG „Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen“ (Bund-Länder-AG 2007) für die Innenministerkonferenz zusammengestellt worden. In Berlin wurde 2006 im Bereich der Jugendgruppengewalt ein Anteil von 44,7% der Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund ermittelt. Bremen meldete für 2006 einen Anteil der Intensivtäter mit Migrationshintergrund von 56% (ebd., S. 17). Sehr belastbar sind derzeit diese Zahlen noch nicht, denn es wird keine einheitliche Definition verwendet. Und eine Aussage hinsichtlich des Maßes an Überrepräsentation ist offenbar noch nicht möglich, weil keine Daten vorliegen, „die es erlauben, die genannten Zahlen zu Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund in Beziehung zu Bevölkerungsanteilen zu setzen“ (ebd., S. 17). Eine inzwischen vorliegende Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes ergibt aber, dass in Berlin der Migrantenanteil bei den Jugendlichen 31,5% beträgt (vgl. Tabelle 1.1.15). Die Zahlen über den Migrantenanteil unter Tatverdächtigen relativieren sich also erheblich, wenn der Migrantenanteil in der Normalbevölkerung dazu in Beziehung gesetzt wird. Seit einigen Jahren liegen aus Dunkelfeldstudien Informationen zur Delinquenz von jungen Migranten vor. Für die Gesamtdelinquenz, die stark durch die weit verbreitete Bagatelldelinquenz sowie leichtere Kriminalität (Schwarzfahren, Ladendiebstahl, leichtere Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung) geprägt ist, gibt es kaum Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund (Baier et al. 2006, S. 246; Boers et al. 2006, S. 80; Naplava 2003, S. 75 ff.). Hinsichtlich der Gewaltdelikte ergibt sich demgegenüber kein einheitliches Bild. In den Schülerbefragungen in Ham-
8,5 9,5 10,0 8,8
Alter von . . . bis unter . . . Jahren unter 14 Jahren 10 773 14 – 18 Jahren 3 784 18–21 Jahren 2 868 21 Jahren und mehr 65 013 10 230 3 786 2 925 65 524
82 465
N
28,2 23,1 22,9 15,8
17,9
355,8 136,6 112,3 2 785,7
3 390,4
Berlin insgesamt N
38,7 31,5 26,6 19,4
22,2
Personen mit Migrationshintergrund i. e. S. % an insgesamt
„Zu den Personen mit Migrationshintergrund gehört die ausländische Bevölkerung – unabhängig davon, ob sie im Inland oder im Ausland geboren wurde – sowie alle Zugewanderten unabhängig von ihrer Nationalität. Daneben zählen zu den Personen mit Migrationshintergrund auch die in Deutschland geborenen eingebürgerten Ausländer sowie eine Reihe von in Deutschland Geborenen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei denen sich der Migrationshintergrund aus dem Migrationsstatus der Eltern ableitet. Zu den letzteren gehören die deutschen Kinder (Nachkommen der ersten Generation) von Spätaussiedlern und Eingebürgerten und zwar auch dann, wenn nur ein Elternteil diese Bedingungen erfüllt, während der andere keinen Migrationshintergrund aufweist. Außerdem gehören zu dieser Gruppe seit 2000 auch die (deutschen) Kinder ausländischer Eltern, die die Bedingungen für das Optionsmodell erfüllen, d. h. mit einer deutschen und einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland geboren wurden“ (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Anhang, Glossar) i. e. S. im engeren Sinne Quellen: Bevölkerungsstatistik, Tabelle B 15, Mikrozensus 2005 (unveröffentlichte Sonderauswertung)
a
8,8
82 438
Bevölkerung insgesamt
N
Personen mit Migrationshintergrund i. e. S. % an insgesamt
Deutschland insgesamt
Deutschland insgesamt
Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit % an insgesamt
Mikrozensus 2005
Wohnbevölkerung (1. 1. 2006)
Tabelle 1.1.15. Wohnbevölkerung in Deutschland nach Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit und mit Migrationshintergrund a im engeren Sinne (jeweils in Tausend)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland z
79
80
z
1 Kriminologische Grundlagen
burg, Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd gaben vor allem türkischstämmige Jugendliche und Befragte aus dem ehemaligen Jugoslawien zum Teil bis zu zweimal häufiger als die einheimischen Schüler an, ein Gewaltdelikt begangen zu haben; sie wiesen zudem höhere Mehrfachtäteranteile auf (Baier et al. 2006, S. 246 ff.; Block et al. 2007, S. 150 ff.; Naplava 2003, S. 75 ff.). In der Duisburger Schülerbefragung hingegen war zwischen türkischstämmigen und einheimischen Jugendlichen kaum ein Unterschied feststellbar; auch unter den Mehrfachtätern waren sie nicht überrepräsentiert (Boers et al. 2006). Auch hier gilt es freilich zu bedenken, dass Migranten in Deutschland überwiegend eine Sozialstruktur haben, die sich im Durchschnitt von der übrigen Bevölkerung merklich unterscheidet. Sie leben öfter in Großstädten, sind jünger, häufiger männlich und kommen oftmals aus sozialen Schichten mit niedrigerem Einkommen und geringerer Bildung. Diese Merkmale erhöhen bei Ausländern ebenso wie bei Deutschen die „Delinquenzbereitschaft“ und damit die Wahrscheinlichkeit, in der Kriminalstatistik aufzutauchen. Jugendliche, und zwar gleichgültig ob Migranten oder nicht, gehören dann „häufiger zur Gruppe der Gewalttäter, wenn sie z Hauptschulen beziehungsweise Real-/Gesamtschulen besuchten, z Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen zustimmen, z ein unbeständiges Temperament hatten, z häufiger gewalthaltige Computerspiele spielen, z Eltern haben, die Gewalt nicht missbilligen, z elterliche Gewalt erleben mussten, z Bekanntschaft mit delinquenten Freunden haben, z selbst Opfer von Gewalt geworden sind, z häufig die Schule schwänzten, z häufig Alkohol konsumierten“ (Steffen 2007, S. 200). Seit Mitte der 1980er Jahre kam es zu einer verstärkten Einwanderung von (Spät-)Aussiedlern aus Osteuropa. Über ihre Kriminalitätsbelastung lässt sich derzeit noch keine auf Kriminalstatistiken gestützte Aussage machen. Örtlich beziehungsweise regional beschränkte Untersuchungen lieferten ein zunächst uneinheitliches Bild. Eine von der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei im Landeskriminalamt Bayern durchgeführte Untersuchung ergab, dass sich die Spätaussiedler als Gesamtgruppe in keiner Hinsicht bedeutsam von den „sonstigen Deutschen“ in Umfang und Struktur der registrierten Kriminalität unterscheiden (Luff 2000, S. 36 ff.). Eine neuere, vor allem nach Altersgruppen differenzierte Analyse der kriminologischen Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts Freiburg i. Br. (Grundies 2000, S. 290 ff.) zeigt freilich, dass sich die Straftatenproblematik auf junge männliche Spätaussiedler der „letzten Welle“ ab Mitte der 1990er Jahre konzentriert. „Während sich die Prävalenzraten, d. h. die auf die Personengruppen bezogenen Auffälligkeiten, der Aussiedler in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nur wenig von denjenigen der sonstigen Deutschen unterschieden, gab es in der ersten Hälfte der 90er Jahre einen deutlichen
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Anstieg. Er ging überwiegend auf die seit 1991 zugezogenen jungen Spätaussiedler zurück, und innerhalb dieser Gruppe wiederum besonders auf diejenigen jungen männlichen Personen, die aus der ehemaligen Sowjetunion kamen“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 327 f.).
1.1.4.1.4 Tatverdächtige nach Merkmalen der Tatbegehung Unter den Tätergemeinschaften wird vor allem die organisierte Kriminalität vielfach als bedrohlich bewertet. Wenngleich es an deren Existenz kaum noch Zweifel gibt, so bestehen, abgesehen von begrifflichen Unsicherheiten, doch erhebliche objektive Schwierigkeiten, tatsächliche Erkenntnisse über Existenz und Umfang zu gewinnen. Dem gegenwärtigen Forschungsstand zufolge „bestehen hierzulande als höchst entwickelte Form dieser Kriminalität bis in die jüngste Zeit vorwiegend so genannte Netzwerke professionell-organisierter Täter, die geschäftsmäßig agieren, alle Aspekte der Straftaten von der Vorbereitung bis zur Beuteverwertung rational voraus planen, und durchweg überregional bzw. international orientiert sind. Es gibt Anzeichen für das Vorhandensein von vor allem ausländischen streng hierarchisch strukturierten kriminellen Gruppierungen in Deutschland, . . . die aufgrund von seit längerem ansässigen Einwanderergemeinden über entsprechende Anlaufstellen in Deutschland verfügen. Auch diese sollten regelmäßig nicht als bürokratisch oder gar quasi-militärisch durchorganisierte Syndikate missverstanden werden“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 234). Hinsichtlich der Tatbegehung gibt es, vor allem im Bereich von Gewalt und von Straßenverkehr, einen engen Zusammenhang zwischen Drogen, insbesondere der legalen Droge Alkohol, und Kriminalität (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 297 f.). Höhere Alkoholisierungsgrade sind vorwiegend mit Gewalt- und gewalttätigen Sexualdelikten verknüpft. Illegale Drogendelikte sind Kontrolldelikte, d. h. die Zahl registrierter Delikte hängt weitgehend von den Überwachungsstrategien und den eingesetzten Personalressourcen ab, ferner wird davon auch die soziale Zusammensetzung der Tatverdächtigen beeinflusst. Kontrolldelikte setzen freilich die Existenz des zu kontrollierenden Phänomens voraus. Insofern dürften die PKS-Daten die groben, langfristigen Trends widerspiegeln. Drogendelikte sind danach seit den späten 1960er Jahren in stetiger Zunahme begriffen. Sowohl nach PKS-Daten als auch nach Befragungsergebnissen dominieren Cannabis, in großem Abstand folgen Heroin, Morphin, Amphetamine und Kokain (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 281 ff.). Erstmals seit 1986 wird in der PKS ausgewiesen, ob der Tatverdächtige bereits von früheren Ermittlungen her als Konsument harter Drogen bekannt ist. Der Anteil der nach Einschätzung der ermittelnden Beamten von Konsumenten harter Drogen verübten aufgeklärten Fälle stieg seitdem von 2,6% auf 7,9% (Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, S. 70 – in den alten
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82
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1 Kriminologische Grundlagen
Bundesländern dürfte der Anteil höher sein). Freilich sind „die Erkennbarkeit und Erfassung von ,Konsumenten harter Drogen‘ . . . unvollständig. Deutlich wird dies bei der direkten Betäubungsmittel-Beschaffungskriminalität (insbesondere Rezeptfälschung, Apothekeneinbruch). Zu erwarten wäre, dass diese Delikte fast ausschließlich von Drogenabhängigen begangen werden. In der Statistik wird dies jedoch nur in 53,6% der aufgeklärten Fälle ausgewiesen. Es ist anzunehmen, dass insbesondere beim aufgeklärten Diebstahl (10,7%) oder Raub (15,4%) eine Drogenabhängigkeit der Täter oft nicht erkannt wird. Die Anteile von Straftaten durch ,Konsumenten harter Drogen‘ an den aufgeklärten Straftaten dürften daher bei diesen Delikten höher liegen als statistisch registriert“ (Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, S. 70). Damit hat man einen indirekten Hinweis auf Beschaffungskriminalität 3, die ansonsten in der PKS nicht abgebildet wird. Ein Teil dieser lückenhaften Erfassung wird freilich auch damit erklärt werden können, dass sich „ein Großteil der Raubüberfälle, Nötigungen und anderen funktionalen Gewalttaten innerhalb des Drogenmilieus abspielt, wo die Bereitschaft, sich per Strafanzeige oder Strafantrag der Polizei anzuvertrauen, aus naheliegenden Gründen gegen Null tendiert, demgemäß schon von vorne herein gar kein für die PKS relevanter Ansatz für Tatregistrierung und -aufklärung gegeben ist“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 219 f.).
1.1.4.1.5 Mehrfach- und Intensivtäter Eine kleine Gruppe von Tatverdächtigen und Verurteilten fällt durch mehrfache Straftatbegehung und durch die Dauer der Registrierung auf. In ausländischen Untersuchungen wurde festgestellt, dass zwischen 6% und 10% der Täter zwischen rund 40% und teilweise mehr als 60% aller Taten begehen, die für die jeweiligen Altersgruppen offiziell bekannt werden (vgl. Heinz 2006 a mwN). In zwei neueren Untersuchungen der Kriminologischen Forschungsgruppe (KFG) der Bayerischen Polizei im Bayerischen Landeskriminalamt wurde innerhalb der registrierten Tatverdächtigen zwischen 14 und 25 Jahren ein „harter Kern“ von etwa 10% festgestellt, der für rund 50% der insgesamt für diese Altersgruppe registrierten Straftaten verantwortlich gemacht wurde. Über die quantitativen und qualitativen Ausmaße des Phänomens Mehrfach- und Intensivtäter gibt es freilich schon deshalb nur wenig präzise Angaben, weil es keine eindeutigen Definitionen gibt. Mehrfachauffälligkeit ist vor allem ein Problem männlicher Jugendlicher. Nur drei (3,4%) der in der Untersuchung der KFG registrierten 87 tatverdächtigen Jugendlichen mit 20 und mehr Straftaten waren weiblich. Festgestellt wurde ferner: „Je mehr Delikte pro Tatverdächtigem polizeilich er3
Zur direkten Beschaffungskriminalität zählt zum einen die eigentliche Verschaffungskriminalität (Diebstahl oder Raub von Drogen), zum anderen herkömmliche Formen von Kriminalität, wie Rezeptfälschung. Bei der indirekten Beschaffungskriminalität werden zumeist Gegenstände deliktisch erlangt, aus deren Verkaufs- oder Tauscherlös Drogen erworben werden.
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
fasst wurden, umso seltener war das erste Delikt ein einfacher (Laden-)Diebstahl, umso häufiger dagegen eine schwerwiegendere Straftat und umso breiter im Allgemeinen auch die ,Deliktspalette,: Für die Extremgruppe der (87) jungen Tatverdächtigen mit 20 und mehr Straftaten ist eine Spezialisierung im Sinne von Tatperseveranz die Ausnahme“ (Steffen 2003, S. 156). Die Deliktstruktur der Mehrfachtäter weist ähnliche Züge auf wie die der nur einmal oder gelegentlich auffallenden jungen Menschen. Wie bei diesen, so verbreitert sich mit zunehmendem Alter das Deliktspektrum, eine zunehmende Spezialisierung auf bestimmte Delikttypen erfolgt zumeist nicht. Der Anteil der schwereren Delikte ist zwar höher, die Annahme einer generellen Steigerung der Schwere der Straftaten im zeitlichen Längsschnitt ist aber nicht gesichert. Entgegen der weit verbreiteten Annahme „Einmal Verbrecher – immer Verbrecher“ (Stelly u. Thomas 2001) gilt auch für die Tätergruppe der Mehrfachauffälligen, dass viele nur während einer begrenzten Altersphase mit strafjustiziell registriertem Verhalten in Erscheinung treten. „Bei dem Großteil der jugendlichen Mehrfachtäter [kommt es] beim Übergang ins Erwachsenenalter zu einem völligen Ende oder zumindest deutlichen Rückgang der Auffälligkeiten. Unabhängig davon, ob nur offiziell registrierte oder selbst berichtete Delinquenz gemessen wird, und unabhängig davon, ob es sich um repräsentative Kohortenstudien oder um hochselektive Täterpopulationen handelt, das Ergebnis lässt sich immer wieder reproduzieren: die Beendigung der kriminellen Karriere ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall“ (Stelly u. Thomas 2006, S. 45). Selbst intensiver handelnde Täter gehen oft nicht über ein Intervall von zwei bis drei Jahren hinaus, insbesondere wenn eine Integration in das Berufsleben gelingt und feste Bindungen zu Bezugspersonen, etwa durch Gründung einer eigenen Familie, entwickelt werden. „Fünf und mehr Jahre werden nur von einer kleinen Minderheit erreicht. Bei den gehäuft Rückfälligen im Jugendalter dauert die ,Karriere‘ überwiegend (nur) 7 bis 9 Jahre . . . Karrieren, die das 30. Lebensjahr überdauern, sind äußerst selten; sie treten relativ gehäuft dann vor allem bei solchen Tätern auf, die schwerer verurteilt wurden und mehrfach freiheitsentziehende Strafen verbüßt haben“ (Kerner 1989, S. 204). Studien, die auch die aktuellen Lebensbedingungen in den späteren Lebensphasen berücksichtigen, zeigen, dass frühe biografische Risikomerkmale ihre erklärende Kraft verlieren: Entscheidend für das Legalverhalten in späteren Lebensphasen, z. B. für das Ende krimineller Karrieren im Erwachsenenalter, sind nicht die frühen Defizite und Belastungen, sondern die aktuellen sozialen Einbindungen, etwa in Beruf und Familie (Stelly u. Thomas 2001). Diese werden durch Inhaftierung freilich eher gestört und unterbrochen als gefördert. Die Situation dieser jugendlichen Mehrfachauffälligen ist typischerweise durch soziale und individuelle Defizite und Mängellagen gekennzeichnet, wie Frühauffälligkeiten im Verhalten, „familiäre Probleme, insbesondere auch durch erfahrene und beobachtete Gewalt in der Familie, materielle Notlagen bis hin zu sozialer Randständigkeit und dauerhafter sozialer Aus-
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84
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1 Kriminologische Grundlagen
grenzung, ungünstige Wohnsituationen, Schwierigkeiten in Schule, Ausbildung und Beruf und dadurch (mit)bedingte subjektive wie objektive Chancen- und Perspektivlosigkeit“ (Steffen 2003, S. 153; Elsner et al. 1998, S. 115, 203). Hinzu kommen häufig noch persönliche Probleme durch Alkohol- oder Drogenkonsum. Ähnliches wurde im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht hinsichtlich junger Gewalttäter festgestellt: „Forschungen über die Hintergründe von Gewalt, insbesondere Gruppengewalt, haben gezeigt, dass bei vielen jungen Menschen problematische Sozialisationserfahrungen sowie Ausgrenzungsprozesse und Perspektivlosigkeit den Hintergrund für Gewaltanwendung darstellen“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 596). Die Erwartung, diese Gruppe zu Beginn ihrer kriminellen Karriere erkennen und gezielt behandeln oder sich im Sinne eines „selective incapacitation“ vor ihnen schützen zu können, konnte bislang durch die kriminologische Forschung nicht eingelöst werden. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist es weder hinsichtlich Ansatz noch Fortsetzung, geschweige denn Abbruch, möglich, diese kleine Gruppe von Mehrfachauffälligen von den Jugendlichen zu unterscheiden, die eine Spontanbewährung aufweisen, zumal das spontane Aufhören auch noch nach längerer „krimineller Karriere“ vorkommt (zusammenfassend Heinz 2006 a). Bei retrospektiver Betrachtung findet sich, insbesondere unter den mehrfach Auffälligen, zwar die bekannte Häufung von Problemen, namentlich Frühauffälligkeit, Herkunft aus sozioökonomisch belasteter Familie, gestörte Erziehungsverhältnisse, Schulstörungen, Lehrabbruch usw. Nur, prospektiv lässt sich diese Gruppe der mehrfach Auffälligen nicht erkennen, denn diese Belastungsmerkmale finden sich in beachtlichem Maße auch bei nicht oder nur gering Auffälligen. Verdeutlicht werden kann dies an Tabelle 1.1.16. Um sie zu bilden, hat Kerner (1993) auf der Grundlage der Daten der bekanntesten US-amerikanischen Kohortenstudie, der Philadelphia Kohortenstudie, einen Belastungsindex, bestehend aus zehn Belastungsmerkmalen, vor allem aus den Bereichen Familie, aus dem Schulverhalten und aus Persönlichkeitsmerkmalen, gebildet. Die Spalten eins bis fünf zeigen das erwartete Bild: Nicht oder kaum belastete Jugendliche haben keine oder nur eine geringe Tabelle 1.1.16. Zusammenhang zwischen Problembelastung junger Menschen (8- bis unter 18-Jährige) und der Anzahl ihrer polizeilichen Registrierung (Polizeikontakte). Philadelphia-Kohorte I (N = 9945) Personen in % mit . . . Polizeikontakten Belastungsindex 0 z z z z
nicht oder kaum belastet gering belastet mittel belastet stark belastet
Quelle: Kerner (1993), S. 44
80,8 73,4 61,1 41,8
1 13,3 16,8 19,4 16,1
2–4 5,4 8,5 15,0 21,9
5–10 0,6 1,2 4,0 14,4
11–39 – 0,1 0,5 5,7
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Zahl von Polizeikontakten; die stark belasteten Jugendlichen weisen dagegen wesentlich mehr Polizeikontakte auf. Unter dem Gesichtspunkt der Prognose dagegen zeigt sich, dass dieser Belastungsindex ungeeignet ist, insbesondere dann, wenn es darum geht, diejenigen herauszufinden, die in eine „kriminelle Karriere“ (hier z. B.: fünf Kontakte und mehr) zu geraten drohen. Denn wie die letzte Zeile mit den Ergebnissen für die prognostisch „stark Belasteten“ zeigt, hatten rund 42% keinen Polizeikontakt, d. h. es hätte sich, wäre ihnen ein entsprechender Kontakt prognostiziert worden, um „falsche Positive“ gehandelt; mit Bezug auf Mehrfachtäter hätte sich sogar die Rate der Fehlprognose auf 80% erhöht. Denn von den stark Belasteten hatten nur 20% fünf und mehr Polizeikontakte.
1.1.4.2 Tatverdächtigen- und Verurteiltenbelastungszahlen in zeitlicher Perspektive Die Zahlen polizeilich ermittelter Tatverdächtiger sind, wie die polizeilich registrierten Fallzahlen, gestiegen, wenngleich nicht ganz in demselben Maße. Diese nicht völlig parallele Entwicklung ist zum einen bedingt durch die in den 1960er und 1970er Jahren rückläufigen und erst seit einem Jahrzehnt wieder ansteigenden Aufklärungsraten, zum anderen dadurch, dass sich die Relation aufgeklärte Fälle pro Tatverdächtigem deutlich verändert hat. 1963 wurden im Schnitt 1,1 Fälle, seit der Umstellung auf die echte Tatverdächtigenzählung, also ab 1984, 1,5 Fälle pro Tatverdächtigem registriert. Deshalb sind Vergleiche erst ab Mitte der 1980er Jahre sinnvoll möglich. Die in Abb. 1.1.41 erfolgte Gegenüberstellung von Fall-, Tatverdächtigenund Abgeurteiltenzahlen zeigt, in welch hohem Maße eine Ausfilterung insbesondere durch die Staatsanwaltschaft stattfindet. Sie zeigt aber auch, dass diese Ausfilterung über die Zeit hinweg größer geworden ist, denn der Abstand zwischen Tatverdächtigen- und Abgeurteilten- beziehungsweise Verurteiltenzahlen wurde vor allem in den 1980er Jahren größer. Wie die nach Altersgruppen differenzierte Analyse der Tatverdächtigenzahlen zeigt, ist – gemessen an Tatverdächtigenbelastungszahlen – die registrierte Kriminalität der (deutschen) Jugendlichen, der Heranwachsenden und der Jungerwachsenen nicht nur wesentlich höher als die der Erwachsenen, sondern sie ist vor allem seit Anfang der 1990er Jahre deutlich angestiegen (vgl. Abb. 1.1.42). Vor allem der Anstieg der polizeilich registrierten Gesamtkriminalität wird fast ausschließlich von jungen Menschen (unter 25 Jahren) getragen. Diese anhand der Daten der PKS ablesbare Entwicklung wird indes durch die Daten der Strafverfolgungsstatistik nur teilweise bestätigt. Zwar sind, insbesondere bei Raub und bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung, auch die Verurteiltenbelastungszahlen angestiegen, aber bei weitem nicht in dem Maße wie die Tatverdächtigenbelastungszahlen. Die Schere zwischen Tatverdächtigenbelastungszahlen und Verurteiltenbelastungszahlen wurde auch hier immer größer (vgl. Abb. 1.1.43 zu gefährlicher und schwerer Körperverletzung bei Jugendlichen und
85
z
1 Kriminologische Grundlagen 6 5
(Millionen)
86
polizeilich registrierte Fälle
4 3
aufgeklärte Fälle
2
polizeilich registrierte Tatverdächtige
1
Verurteilte ohne Verkehr
0 AQ VU/100 TV
1985
1990
1995
2000
200506
47 37
47 32
48 31
53 30
54 55 33
AQ Aufklärungsquote; VU Verurteilte; TV Tatverdächtige
Abb. 1.1.41. Polizeilich registrierte Fälle, Tatverdächtige, Abgeurteilte und Verurteilte 1985–2006 – jeweils Verbrechen oder Vergehen (ohne Vergehen im Straßenverkehr). Absolute Zahlen. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, ab 1991 (PKS) bzw. ab 1995 (StVStat) mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.41
Polizeilich registrierte Fälle aufgeklärte Fälle Aufklärungsquote Tatverdächtige insgesamt strafmündige Tatverdächtige Abgeurteilte (ohne Verkehr) Anklagequote (% strafmündige TV) Verurteilte (ohne Verkehr) Verurteiltenquote (% strafmündige TV)
1985
1990
1995
2000
2005
2006
4 215 451
4 455 333
5 232 363
5 074 482
5 317 378
5 255 494
1 988 478 47,2 1 290 999
2 093 130 47,0 1 437 923
2 506 689 47,9 1 682 118
2 680 570 52,8 1 831 746
2 879 942 54,0 1 901 536
2 864 385 54,5 1 880 954
1 232 188
1 375 423
1 594 494
1 718 418
1 813 560
1 794 621
606 115
576 338
639 375
669 807
749 684
732 003
49,2 452 291 36,7
41,9 433 682 31,5
40,1 497 935 31,2
39,0 522 839 30,4
41,3 591 357 32,6
40,8 575 152 32,0
Polizeilich registrierte Fälle (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4) Aufgeklärte Fälle (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4) Polizeilich registrierte Tatverdächtige: Personen, die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte verdächtig sind, eine rechtswidrige (Straf-)Tat begangen zu haben. Strafmündige Tatverdächtige (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4) Abgeurteilte (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4) Verurteilte (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4) Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 1985–2006; Stafverfolgungsstatistik 1985–2006
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Heranwachsenden). 1984 kamen beispielsweise auf 100 wegen gefährlicher/ schwerer Körperverletzung registrierte deutsche, jugendliche Tatverdächtige 31 Verurteilte, 2006 dagegen nur noch 25. Diese Auseinanderentwicklung von Tatverdächtigenbelastungszahl und Verurteiltenbelastungszahl ist erklärungsbedürftig. Für Eigentumsdelikte liegt die Vermutung nahe, diese Diskrepanz sei Folge der Zunahme von vermehrten Verfahrenseinstellungen. Bei den gravierenden Deliktformen, insbesondere bei Gewaltkriminalität, dürfte dies freilich keine hinreichende Erklärung sein. Allein mit vermehrter Einstellung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren lässt sich dieser Befund in diesem Ausmaß jedenfalls nicht erklären, denn auch bei Jungerwachsenen und (teilweise) bei Vollerwachsenen öffnet sich diese Schere. Als Erklärung kommen vor allem folgende Möglichkeiten in Betracht: z Zunahme vor allem im Bereich der minder schweren Delikte, die vermehrt aus Opportunitätsgründen eingestellt werden, deshalb also nicht zur Verurteilung gelangen (ebenso Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 526). Dass zumindest ein Teil der Zunahme polizeilich registrierter Gewaltkriminalität darauf beruhen dürfte, dass vermehrt minder schwere Delikte angezeigt werden, zeigen die bereits erwähnten Aktenanalysen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei im Bayerischen Landeskriminalamt. z Freilich wäre, wenn allein die minder schweren Delikte zugenommen hätten, zu erwarten gewesen, dass vermehrt aus Opportunitätsgründen eingestellt wird. Die Auswertung der Akten staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Verfahren, die in den Jahren 1989 und 1998 in München gegen Heranwachsende und Jungerwachsene wegen Gewaltkriminalität durchgeführt worden waren, ergab den erwartungswidrigen Befund, dass nicht die Opportunitätseinstellungen, sondern vor allem der Anteil der mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren deutlich zugenommen hat (vgl. Tabelle 1.1.17). Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Verdachtschöpfung durch die Polizei in abnehmendem Maße durch die Münchener Staatsanwaltschaft bestätigt werden konnte. Dieser Befund lässt auch die Interpretation zu, dass es zu einer Änderung der polizeilichen Verdachtschöpfung und Bewertung gekommen ist. Welche dieser Erklärungsmöglichkeiten zutrifft, ist derzeit noch offen. Fest steht aber, dass ein Teil, wenn nicht gar ein erheblicher Teil der Zunahme der Kriminalitätsbelastung junger Menschen im Bereich der Gewaltkriminalität auf einem veränderten Anzeigeverhalten beruht, durch das vor allem minder schwere Delikte vermehrt zur Anzeige kommen. Nicht auszuschließen ist, dass durch eine erhöhte Sensibilisierung für Gewalt Vorgänge angezeigt werden, deren Tathergang unklar bleibt. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die Sensibilisierung zu einer Veränderung der polizeilichen Verdachtschöpfung und Bewertung geführt hat.
87
z
1 Kriminologische Grundlagen 8000
Häufigkeitszahlen (je 100 000)
88
7000
TVBZ-J VBZ-J
TVBZ-H VBZ-H
TVBZ-JE VBZ-JE
TVBZ-VE VBZ-VE
6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 1984
1990
1995
2000
2006
TVBZ Tatverdächtigenbelastungszahl; VBZ Verurteiltenbelastungszahl, bez. auf je 100.000 der deutschen Wohnbevölkerung J Jugendliche (14 bis unter 18 J.); H Heranwachsende (18 bis unter 21 J.); JE Jungerwachsene (21 bis unter 25 J.); VE Vollerwachsene (ab 25 J.); TV Tatverdächtige; VU Verurteilte
Abb. 1.1.42. Deutsche Tatverdächtige und Verurteilte (pro 100 000) nach Altersgruppen 1984– 2006. Verbrechen und Vergehen insgesamt (ohne Vergehen im Straßenverkehr). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, ab 1991 (PKS) bzw. ab 1995 mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.42 1985
1990
1995
2000
2006
TVBZ J (14 < 18) VBZ J (14 < 18) Relation: VU pro 100 TV
3566,3 1241,2 34,8
4377,5 947,6 21,6
5810,8 1012,9 17,4
6803,3 1355,1 19,9
6552,5 1435,8 21,5
TVBZ H (18 < 21) VBZ H (18 < 21) Relation: VU pro 100 TV
4248,9 1685,0 39,7
4365,6 1410,1 32,3
5788,3 1705,9 29,5
7185,3 2142,7 29,8
7417,4 2355,7 31,5
TVBZ JE (21 < 25) VBZ JE (21 < 25) Relation: VU pro 100 TV
3574,3 1728,9 48,4
3443,4 1509,4 43,8
3991,9 1847,8 46,3
5206,9 2269,7 43,6
5939,9 2680,6 44,9
TVBZ VE (25 ++) VBZ VE (25 ++) Relation: VU pro 100 TV
1618,0 596,5 36,9
1633,8 547,4 33,5
1657,2 526,7 31,8
1740,4 544,7 31,3
1852,3 595,0 33,1
Tatverdächtige: (vgl. Legende zu Abb. 1.1.41) Verurteilte (vgl. Legende zu Abb. 1.1.4); Abk. s. Abb. 1.1.42 Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 1984–2006, Tabelle 40; Strafverfolgungsstatistik 1984–2006 (eigene Berechnungen, auch anhand interner Daten des BKA sowie der Maschinendatensätze für die Strafverfolgungsstatistik)
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 1000
TVBZ-J VBZ-J
Häufigkeitszahlen (je 100 000)
900
TVBZ-H VBZ-H
800 700 600 500 400 300 200 100 0 1984
1990
1995
2000
2006
26 26
21 24
24 24
25 24
VBZ/TVBZ-J (%) 31 VBZ/TVBZ-H (%) 31
TVBZ Tatverdächtigenbelastungszahl; VBZ Verurteiltenbelastungszahl, bez. auf je 100.000 der deutschen Wohnbevölkerung; J Jugendliche (14 bis unter 18 J.); H Heranwachsende (18 bis unter 21 J.)
Abb. 1.1.43. Deutsche Tatverdächtige und Verurteilte, nach Altersgruppen (Jugendliche und Heranwachsende) – gefährliche und schwere Körperverletzung. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, ab 1991 (PKS) bzw. ab 1995 mit Gesamtberlin, 1984–2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.43 1985
1990
1995
2000
2006
TVBZ J (14 < 18) VBZ J (14 < 18) Relation: VU pro 100 TV
187,4 58,2 34,8
233,0 61,3 31,1
378,9 79,2 26,3
634,0 153,6 20,9
803,9 200,5 24,9
TVBZ H (18 < 21) VBZ H (18 < 21) Relation: VU pro 100 TV
321,0 93,3 39,7
326,6 84,5 29,1
405,2 98,1 25,9
635,9 154,9 24,2
931,8 226,2 24,3
TVBZ JE (21 < 25) VBZ JE (21 < 25) Relation: VU pro 100 TV
248,3 65,3 48,4
218,9 52,4 26,3
251,0 61,4 23,9
384,6 80,7 24,5
554,4 121,1 21,8
TVBZ VE (25 ++) VBZ VE (25 ++) Relation: VU pro 100 TV
75,9 12,8 36,9
70,2 11,5 16,9
71,3 11,3 16,4
79,6 12,0 15,9
94,3 14,1 15,0
Gefährliche und schwere Körperverletzung: Polizeiliche Kriminalstatistik: Körperverletzung mit tödlichem Ausgang §§ 226, 227, 229 Abs. 2 StGB (ab 1999: §§ 227, 231 StGB) (SZ 2210) sowie gefährliche und schwere Körperverletzung §§ 223 a, 224, 225, 227, 229 StGB StGB (ab 1999: §§ 224, 226, 231 StGB) (SZ 2220) Strafverfolgungsstatistik: gefährliche und schwere Körperverletzung §§ 223 a, 224–226 StGB (ab 1999: §§ 224 Abs. 1 Nrn. 2–5, 226, 227 StGB) (lfd. Nr. 14, ab 1995 Nr. 13, ab 1998 Nr. 12); Abk. s. Abb. 1.1.42 Tatverdächtige (vgl. Legende zu Abb. 1.1.41) Verurteilte (vgl. Legende zu Abb. 1.1.41) Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 1987–2006, Tabelle 40; Strafverfolgungsstatistik 1984–2006; (eigene Berechnungen, auch anhand interner Daten des BKA sowie der Maschinendatensätze für die Strafverfolgungsstatistik)
89
90
z
1 Kriminologische Grundlagen
Relativiert wird dieses Bild steigender registrierter Jugendkriminalität durch den Befund, dass justizielle Auffälligkeit wegen jugendtypischer Verfehlungen – im Regelfall – im Lebenslängsschnitt ein nicht häufig (Episode) oder allenfalls ein in einem zeitlich begrenzten Lebensabschnitt gehäuft auftretendes Ereignis ist (passageres Phänomen). Justizielle Auffälligkeit mündet im Regelfall nicht in eine kriminelle Karriere. „Die Altersabhängigkeit der Straffälligkeit Jugendlicher und ein häufiger Spontanabbruch krimineller Aktivitäten selbst nach wiederholter offizieller Auffälligkeit stehen . . . außer Frage“ (Lösel 1995, S. 38). Dies wird beispielsweise belegt durch einen Vergleich der seit über 100 Jahren vorliegenden Kriminalstatistiken (vgl. Abb. 1.1.44), die zeigen, dass sich der Anstieg der Jugendkriminalität nicht weit in das Vollerwachsenenalter hinein fortsetzt. Zwar ist zu berücksichtigen, dass Vollerwachsene wahrscheinlich mehr und bessere Chancen haben, im Dunkelfeld zu bleiben als jüngere Täter. Aber dennoch lässt der deutliche Rückgang der Kriminalitätsbelastung bei der Gruppe der Vollerwachsenen darauf schließen, dass ein Großteil des registrierten kriminellen Verhaltens junger Menschen auf diese Altersphase beschränkt bleibt. Der Rückgang der Prävalenzrate mit zunehmendem Alter wird ferner belegt durch Untersuchungen über die spätere Auffälligkeit polizeilich registrierter Ersttäter sowie durch Kohortenuntersuchungen (vgl. Heinz 2006 a). Das „Nicht-mehr-auffällig-Werden“ ist quantitativ der Normalfall. „Die meisten jugendlichen Straftäter beenden spätestens Mitte 30 ihr delinquentes Verhalten im Sinne amtlicher Auffälligkeit“ (Stelly et al. 1998, S. 104 ff.).
2,2 34,8 – 18,2 6,6 2,2 5,5
4 63 – 33
12
4 10
181
z Insgesamt 295
20 32
16
19 53 – 19
94 42
N
6,8 10,8
5,4
6,4 18 – 6,4
31,9 14,2
%
100
Heranwachsende 1998
+ 4,6 + 5,3
–1,2
+ 4,2 –16,8 – –11,8
+ 18,1 –2,3
%-Punkte
relative Änderung 1998/1989
195
15 30
34
25 31
40 20
N
100
7,7 15,4
17,4
– – 12,8 15,9
20,5 10,3
%
Jungerwachsene 1989
268
17 37
41
23 32
94 24
N
100
6,3 13,8
15,3
– – 8,6 11,9
35,1 9,0
%
Jungerwachsene 1998
–1,3 –1,6
–2,1
– – –4,2 –4,0
+ 14,6 –1,3
%-Punkte
relative Änderung 1998/1989
Elsner u. Molnar (2001) S. 152, Tabelle 29 (die gewichteten Daten – hierzu ebd. S 146 – wurden von den Autoren freundlicherweise zur Verfügung gestellt)
100
13,8 16,6
%
25 30
N
Heranwachsende 1989
z § 170 II StPO z §§ 153–154 a StPO, §§ 45, 47 JGG z Zuchtmittel z § 27 JGG z Strafbefehl/Geldstrafe z Jugendstrafe/Haftstrafe mit Bewährung z Jugendstrafe/Haftstrafe ohne Bewährung z Freispruch z § 374 StPO/Sonstiges
Verfahrensausgänge
Tabelle 1.1.17. Erledigung staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Verfahren bei Heranwachsenden und Jungerwachsenen wegen Gewaltkriminalität im Vergleich der Jahre 1989 und 1998 (Tatverdächtige mit München als Tatort und Wohnort – gewichtete Daten)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland z
91
z
1 Kriminologische Grundlagen 3000
Verurteiltenbelastungsziffer (pro 100 000)
92
1900 1960 1970 1980 1990 2000 2003 2006
2500 2000 1500 1000 500 0 <18 21
25
30
40
50
≥50
Alter (Jahre)
Abb. 1.1.44. Wegen Verbrechen und Vergehen a Verurteilte nach Altersgruppen. Verurteiltenbelastungszahl (Verurteilte pro 100 000 Einwohner). Deutsches Reich; Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, ab 1995 mit Gesamtberlin b Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.44 Verurteiltenbelastungszahl zusammen
1900 1960 1970 1980 1990 2000 2003 2006
1166,9 767,8 701,2 727,8 681,6 722,0 751,3 832,4
davon im Alter von . . . bis unter . . . Jahren 14–18 *
18–21
21–25
25–30
30–40
40–50
50 u.m.
724,0 1101,9 1445,9 1357,3 947,6 1355,1 1355,5 1402,2
2366,0 1713,1 1755,0 1701,0 1410,1 2142,7 2278,9 2397,7
1715,8 1705,3 1721,9 1562,8 1509,4 2269,7 2396,0 2710,3
1678,2 1376,1 1201,0 1187,0 1215,9 1436,2 1584,1 1848,1
1399,2 832,0 833,8 929,4 924,8 906,4 948,3 1077,2
1048,1 587,4 468,6 586,9 660,9 648,7 668,8 731,1
448,5 236,7 161,7 192,4 196,1 195,0 201,2 225,6
Quellen: Berechnung nach: Statistik des Deutschen Reichs, NF, Bd 139, Berlin 1902, Tabelle III; Statistik des Deutschen Reichs, NF, Bd 429, Kriminalstatistik für das Jahr 1930, 7 f.; Strafverfolgung 1960, 1970; Strafverfolgung 1980, 1990, 2000, 2003, 2006 a
Verbrechen und Vergehen: ab 1960 ohne Vergehen im Straßenverkehr Deutschland (Früheres Bundesgebiet): 1960 ohne Saarland und Berlin; 1970, 1970, 1980, 1990 Früheres Bundesgebiet mit Westberlin; 2000, 2003, 2006 Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin * 1900: 12 bis unter 18 Jahre b
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
1.1.5
z
Vom Tatverdächtigen zum Verurteilten – Differenzielle Entkriminalisierung im Prozess strafrechtlicher Sozialkontrolle
1.1.5.1 Differenzielle Entkriminalisierung durch die Staatsanwaltschaft Empirisch betrachtet ist die Staatsanwaltschaft eine Einstellungsbehörde (vgl. Heinz 1999 a, S. 125 ff.). Von den 2006 in der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich der neuen Länder) erledigten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (gegen bekannte oder unbekannte Tatverdächtige) wurden lediglich 14,7% an die Strafgerichte in Form von Anklagen im weitesten Sinne oder von Anträgen auf Erlass eines Strafbefehls herangetragen (vgl. Tabelle 1.1.18, Zeile 13, Spalte 2). Eingestellt wurden 55,8% aller Ermittlungsverfahren, weil entweder die Polizei keinen Tatverdächtigen ermitteln konnte oder die Staatsanwaltschaft keinen hinreichenden Tatverdacht gegenüber einem bekannten Tatverdächtigen bejahte (vgl. Tabelle 1.1.18, Zeilen 2, 7, Spalte 2). Bleiben die Verfahren gegen unbekannte Täter sowie die bloß verfahrenstechnischen Erledigungen 4 unberücksichtigt, dann wurde 2006 ein Drittel (34,4%) dieser „bereinigten Verfahren“ (vgl. Tabelle 1.1.18, Zeile 7, Spalte 4) eingestellt, weil – entgegen der Auffassung der Polizei – aus Sicht der Staatsanwaltschaft kein hinreichender Tatverdacht bestand. Ein weiteres Drittel (34,2%) wurde aus Opportunitätsgründen eingestellt, teils weil das Delikt als geringfügig angesehen wurde oder unter Auflagen eingestellt werden konnte (vgl. Tabelle 1.1.18, Zeilen 8, 10, Spalte 4). Lediglich das knappe restliche Drittel (31,4%) wurde durch Anklage im weiteren Sinne oder durch Anträge auf Erlass eines Strafbefehls erledigt (vgl. Tabelle 1.1.18, Zeilen 13, Spalte 4). Die Zunahme des Geschäftsanfalls führte zu einer verfahrensökonomisch bedingten Änderung der staatsanwaltschaftlichen Erledigungsstruktur (vgl. Heinz 2002 a, S. 351 ff.). Absolut wie relativ ging die Zahl der durch Strafbefehl und durch Anklage im weiteren Sinne erledigten Ermittlungsverfahren sogar zurück, und zwar vor allem die Anklagen, was zu einem relativen Bedeutungsgewinn des verfahrensökonomischen, weil schriftlichen Strafbefehlsverfahren führte. Aufgefangen wurde der Anstieg des Geschäftsanfalls, wie Abb. 1.1.45 5 zeigt, fast ausschließlich durch vermehrte Opportunitätseinstellungen, insbesondere durch Einstellungen ohne Auflagen/Weisungen. Die 4
In diesen Fällen ist die Entscheidung über den weiteren Fortgang und die Art der Erledigung des Verfahrens entweder aufgeschoben (Verweisung auf den Weg der Privatklage, vorläufige Einstellung, Abgabe an eine andere Staatsanwaltschaft oder an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit) oder die Erledigungsart ist (in einigen Fallen) unklar und deshalb statistisch nicht zuordenbar („anderweitige Erledigungen“). 5 Für diese Längsschnittanalyse wurden – um systematische Verzerrungen infolge regional unterschiedlicher Erledigungsstrukturen zu vermeiden – nur diejenigen Länder berücksichtigt, für die seit 1981 statistische Daten vorliegen. Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein, für die erst Mitte bzw. Ende der 1980er Jahre Daten vorliegen, blieben deshalb ebenso unberücksichtigt wie die neuen Länder
93
94
z
1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.1.18. Erledigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren gegen unbekannte und bekannte Tatverdächtige. Bundesrepublik Deutschland 2006 (1) N
(2) %
8 093 996 100 1 erledigte Ermittlungsverfahren gegen bekannte und unbekannte Tatverdächtige insgesamt a 3 217 007 39,7 2 erledigte Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Tatverdächtige 4 876 989 60,3 3 erledigte Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige 4 Abgaben u. sonstige 918 792 11,4 Erledigungen b 5 Verweisung auf den Weg 174 038 2,2 der Privatklage 6 Abschließend erledigte 3 784 159 46,8 Ermittlungsverfahren i. w. S. (Z 3, abzgl. Z 4 u. 5) 1 301 803 16,1 7 Einstellungen gemäß § 170 Abs. 2 StPO c 353 337 4,4 8 Opportunitätseinstellungen ohne Auflage, aber ohne Sanktionsverzicht d 9 Anklagefähige Ermitt2 129 019 26,3 lungsverfahren i. e. S. e 10 Opportunitätseinstellungen 941 410 11,6 i. e. S. (Summe von Zeilen 11 und 12) 700 308 8,7 11 ohne Auflagen (i.e.S.) f 241 102 3,0 12 unter Auflagen g 1 187 609 14,7 13 Anklage i. w. S. h und Strafbefehlsantrag 14 Strafbefehlsantrag 581 713 7,2 15 Anklage i. w. S. 605 896 7,5 1 523 123 18,8 16 Sanktionskompetenz der StA i 17 Sanktionskompetenz 251 der StA – bezogen auf 100 Anklagen i. w. S.
(3) %
(4) %
(5) %
(6) %
(7) %
100
18,8 3,6 77,6 100
26,7
34,4
7,2
9,3
43,7
56,3
19,3
24,9
44,2
14,4 4,9 24,4
18,5 6,4 31,4
32,9 11,3 55,8
11,9 12,4 31,2
15,4 16,0 40,2
27,3 28,5 71,5
100 100
74,4 25,6 100 49,0 51,0
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
aus der Sicht der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik bedrohlich „steigende Kriminalität“ wurde durch Einstellung, und zwar ganz überwiegend als Bagatelle, „erledigt“. Ob dies darauf beruht, dass geringfügige Straftaten zugenommen haben oder darauf, dass sich die Schwereeinschätzung der Staatsanwaltschaft geändert hat oder aber auf der Einsicht, dass spezialpräventiv häufig bereits der Umstand genügt, dass gegen den Täter wegen einer Straftat ermittelt wird, eine Bestrafung indes nicht erforderlich ist, lässt sich den statistischen Zahlen nicht entnehmen. Die weder nach Delikt noch nach sozialen Merkmalen der Beschuldigten differenzierte StA-Statistik lässt nicht erkennen, welche Tat- und Tätergruppen vor allem von diesen Änderungen der Erledigungspraxis betroffen sind. Ersichtlich ist lediglich, dass in Jugendstrafsachen häufiger als im allgemeinen Strafverfahren aus Opportunitätsgründen eingestellt wird.
J Tabelle 1.1.18 (Fortsetzung) i. e. S. im engeren Sinne; i. w. S. im weiteren Sinne; StA Staatsanwaltschaft a erledigte Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige, zuzüglich Anzeigen gegen unbekannte Tatverdächtige, abzüglich der Verfahren, die sich zunächst gegen unbekannte Tatverdächtige richteten b Erledigungen durch Abgabe an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit, Abgabe an eine andere Staatsanwaltschaft, Verbindung mit einer anderen Sache, vorläufige Einstellung sowie anderweitige Erledigung c Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO sowie wegen Schuldunfähigkeit d Einstellungen gem. §§ 154 b Abs. 1–3 StPO, 154 c StPO, 153 c I, II StPO, 154 d und e StPO, 154 Abs. 1 StPO e Ermittlungsverfahren, die erledigt worden sind durch die Erledigungstatbestände in Zeilen 10, 13 f Einstellungen ohne Auflagen i. e. S. §§ 153 Abs. 1, 153 b Abs. 1 StPO einschl. § 29 Abs. 5 BtMG, § 45 Abs. 1 und 2 JGG, § 31 a BtMG g Einstellungen unter Auflagen § 153 a I StPO, § 45 Abs. 3 JGG, § 37 Abs. 1 BtMG bzw. § 38 Abs. 2 i. V. m. § 37 Abs. 1 BtMG h Anklagen vor dem Amtsgericht oder Landgericht, Antrag auf Eröffnung eines Sicherungsverfahrens, Antrag auf Durchführung eines objektiven Verfahrens, Antrag auf sofortige Hauptverhandlung (bzw. auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren – § 417 StPO), Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren i Sanktionskompetenz der StA meint die Verfahrenserledigungen, in denen die Sanktionsfestlegung faktisch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt, also bei (staatsanwaltschaftlichen) Einstellungen unter/ohne Auflagen i. e. S. und bei Strafbefehlsanträgen. Die Rate bezeichnet den Anteil dieser Erledigungen an der Zahl der anklagefähigen Ermittlungsverfahren i. e. S. (ohne „sonstige“ Einstellungen ohne Auflagen) Quelle: Staatsanwaltsstatistik 2006 (Berechnung der Quoten durch Verfasser)
95
z
1 Kriminologische Grundlagen 3,0 2,5
sonstige Einstellungen ohne Auflagen Einstellungen ohne Auflagen i.e.S.
2,0
(Millionen)
96
Einstellungen unter Auflagen
1,5
Einstellungen gem. § 170 II StPO
1,0
Strafbefehl
0,5
Anklage im weiteren Sinne
0 1981
1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.45. Erledigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren. Früheres Bundesgebiet, ohne Berlin, Hessen, Schleswig-Holstein, 1981–2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.45 1985 Durch Einstellung oder Anklage/Strafbefehlsantrag erledigte Ermittlungsverfahren insgesamt Einstellungen gemäß § 170 II StPO „Sonstige“ Einstellungen ohne Auflagen Anklagefähige Ermittlungsverfahren i. e. S. Einstellungen ohne Auflagen i. e. S. Einstellungen mit Auflagen Strafbefehlsantrag Anklage i. w. S.
1990
1995
2000
2005
2006
1 789 305 1 831 292 2 123 679 2 261 236 2 575 474 2 523 062
615 654
597 858
653 404
723 470
863 501
855 098
81 702
107 485
161 874
186 114
244 102
234 919
1 091 949 1 125 949 1 308 401 1 351 652 1 467 871 1 433 045 172 524
216 028
345 312
390 170
450 230
456 720
136 161
146 193
162 387
168 443
175 703
167 182
360 376 422 888
394 384 369 344
437 462 363 240
398 581 394 458
423 556 418 382
406 180 402 963
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
1985
1990
1995
2000
Raten, bezogen auf anklagefähige Ermittlungsverfahren i. e. S. z Opportunitätseinstellungen 15,8 19,2 26,4 28,9 ohne Auflagen z Opportunitätseinstellungen 12,5 13,0 12,4 12,5 mit Auflagen z Strafbefehlsantrag 33,0 35,0 33,4 29,5 z Anklage i. w. S. 38,7 32,8 27,8 29,2 z Sanktionskompetenz StA 158,2 204,9 260,2 242,7 pro 100 Anklagen
2005
2006
30,7
31,9
12,0
11,7
28,9 28,5 250,8
28,3 28,1 255,6
z
i. e. S. im engeren Sinne; i. w. S. im weiteren Sinne Durch Einstellung oder Anklage/Strafbefehlsantrag erledigte Ermittlungsverfahren insgesamt: Einstellungen gegen bekannte Tatverdächtige mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 II StPO) und wegen Schuldunfähigkeit des Beschuldigten, Opportunitätseinstellungen gem. §§ 153 ff. StPO, § 45 JGG, §§ 31 a, 37 BtMG, Anklage i. w. S., Anträge auf Erlass eines Strafbefehls „Sonstige“ Einstellungen ohne Auflagen: Einstellungen gem. §§ 154 b Abs. 1–3 StPO, 154 c StPO, 153 c I, II StPO, 154 d und e StPO, 154 Abs. 1 StPO Einstellungen ohne Auflagen im engeren Sinne (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.18) Einstellungen unter Auflagen: (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.18) Einstellungen gem. § 170 II StPO (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.18) Strafbefehl: Anträge auf Erlass eines Strafbefehls Anklage im weiteren Sinne (vgl. Legende zu Tabelle 1.1.18) Sanktionskompetenz StA pro 100 Anklagen: Einstellungen durch die StA gem. §§ 153, 153 a, 153 b StPO, § 45 JGG, §§ 31 a, 37 BtMG und Anträge auf Erlass eines Strafbefehls pro 100 Anklagen i. w. S. Quellen: Staatsanwaltschaftsstatistik 1981–2006
Durch diese „Veränderung der Erledigungsstrukturen haben sich die Gewichte deutlich zu Gunsten der Staatsanwaltschaft, also der Exekutivbehörde im Strafverfahren, und zu Lasten der unabhängigen Gerichte verschoben. Das Hauptverfahren . . . ist weitgehend ersetzt worden durch Erledigungen im wenig formgebundenen Ermittlungsverfahren sowie im schriftlichen Verfahren. In rechtlicher Hinsicht hat dies zur Konsequenz, dass das Regelverfahren mit seinen Prinzipien die Ausnahme ist, dass die Würfel im Ermittlungsverfahren fallen und dass in immer stärkerem Maße aufgrund von ,exekutivischem‘ Recht, namentlich unter Regie der Landesjustizverwaltungen, bestimmt wird, wohin sie fallen“ (Heinz 2002 a, S. 352).
97
98
z
1 Kriminologische Grundlagen
1.1.5.2
Strafgerichtliche Sanktionierungspraxis
1.1.5.2.1 Charakteristik der Sanktionierungspraxis insgesamt Wie die Gegenüberstellung von Tatverdächtigen- und Verurteiltenbelastungszahlen (vgl. Abb. 1.1.46) zeigt, z sind die Verurteiltenbelastungszahlen deutlich niedriger als die Tatverdächtigenbelastungszahlen, z ist der Abstand zwischen Tatverdächtigen und Verurteilten besonders groß bei Jugendlichen und bei über 50-Jährigen, z liegen die Belastungsgipfel, und zwar bei Frauen wie bei Männern, bei den Tatverdächtigen in einer anderen Altersgruppe als bei den Verurteilten, z werden von den weiblichen Tatverdächtigen – wie die Relation „Verurteilte pro 100 Tatverdächtige“ zeigt – deutlich weniger verurteilt als von den männlichen. Sowohl die Verschiebung der Belastungsgipfel bei den Verurteilten (im Vergleich zu den Tatverdächtigen) als auch die geringere Verurteiltenquote der Jugendlichen, der älteren Erwachsenen und der Frauen ist Folge justizieller Selektionsprozesse, die – auf den ersten Blick betrachtet – vor allem jungen und älteren Menschen sowie Frauen zugute kommen. Auf 100 polizeilich ermittelte Tatverdächtige kamen z. B. im Jahr 2006 bei den Männern 34 Verurteilte, bei den Frauen dagegen nur 26. 6 Im Wesentlichen ist dies Folge der Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft wegen der bei diesen Altersund Geschlechtsgruppen überproportional häufig vorkommenden minder schweren Fällen. Die Entwicklung der Sanktionierungspraxis ist sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch im Jugendstrafrecht durch den zunehmenden Gebrauch informeller und ambulanter formeller Sanktionen gekennzeichnet (vgl. Heinz 2007 a). Im ersten Jahr mit statistischen Nachweisen für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, betrug der Anteil unbedingt verhängter freiheitsentziehender Sanktionen noch 39,1%; 2006 entfielen hierauf lediglich noch 8,7% aller Verurteilungen. Von sämtlichen nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht Verurteilten wurden 2006 69,3% zu einer Geldstrafe verurteilt. Weitere 12,9% wurden zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt, 9,1% nach Jugendstrafrecht zu ambulanten Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln. Das volle Ausmaß der Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen zeigt sich indes erst,
6
Exakte Anteile können nicht berechnet werden, weil die Verurteilten eines Jahres keine Untermenge der Tatverdächtigen desselben Jahres sind. Der langfristige Vergleich der Tatverdächtigen- und Verurteiltenzahlen, bei dem die Auswirkungen solcher zeitlicher Verschiebungen im Großen und Ganzen berücksichtigt werden können, zeigt indes, dass die genannte Größenordnung zutrifft.
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland Tatverdächtige
Verurteilte
12000
männlich weiblich
Anzahl (pro 100 000)
10000 8000 6000 4000 2000 0
14– 18– 21– 25– 30– 40– ≥50 ge- 14– 18– 21– 25– 30– 40– ≥50 ge<18 <21 <25 <30 <40 <50 samt <18 <21 <25 <30 <40 <50 samt Relation m/w 2,3
3,6
3,6
3,5
3,1
2,9
3,3
3,3
4,6
5,1
4,3
4,3
3,7
3,3
4,1
4,3
Verurteilte je 100 Tatverdächtige: männlich 26 weiblich 13
34 24
47 39
43 36
39 32
32 28
23 19
34 26
Abb. 1.1.46. Tatverdächtigen- und Verurteiltenbelastungszahlen (pro 100 000 der jeweiligen Altersgruppe). Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.46 Altersgruppen
insgesamt
Tatverdächtigenbelastungszahl
Verurteiltenbelastungszahl
Verurteilte je 100 Tatverdächtige
männlich weiblich Relation m/w
männlich weiblich Relation m/w
männlich weiblich
3,4
1382,1
322,3
4,3
34,6
27,1
3768,0
2,4
2256,3
502,4
4,5
24,7
13,3
3249,5
3,6
3959,7
780,4
5,1
33,5
24,0
2601,6
3,6
4373,5
1028,5
4,3
46,3
39,5
1892,0
3,5
2972,8
712,9
4,2
44,7
37,7
1354,8
3,1
1682,8
452,6
3,7
39,5
33,4
1152,3
3,0
1110,9
341,7
3,3
32,4
29,7
481,9
3,3
385,6
95,1
4,1
24,2
19,7
3996,7 1187,3
14 bis unter 9133,2 18 Jahre 18 bis unter 11 813,2 21 Jahre 21 bis unter 9440,9 25 Jahre 25 bis unter 6648,5 30 Jahre 30 bis unter 4263,2 40 Jahre 40 bis unter 3430,1 50 Jahre 50 Jahre 1595,5 und älter
Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006, Tabelle 40 (nur früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin); Lange Reihen über verurteilte Deutsche und Ausländer nach Art der Straftat, Altersklassen und Geschlecht 1976–2006
99
100
z
1 Kriminologische Grundlagen
wenn auch die Einstellungen gemäß §§ 153, 153 a, 153 b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt werden. Denn dann dürften gegenwärtig (Stand: 2006) lediglich noch 3,6% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein. Den Anstieg der Zahl der sanktionierbaren Personen hat die Praxis durch den vermehrten Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgefangen; auf diese Weise konnte die absolute Zahl der Verurteilten in etwa konstant gehalten werden (vgl. Abb. 1.1.47). Weniger als die Hälfte aller sanktionierbaren Personen wird derzeit auch verurteilt; der Anteil der nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht Verurteilten an den sanktionierbaren Personen ging von 63,7% (1981) 7 auf 44,4% (2006, mit Einstellungen gemäß §§ 31 a, 37, 38 BtMG 42,9%) zurück. Träger dieser Diversionsentscheidungen ist vor allem die Staatsanwaltschaft. Anfang der 1980er Jahre wurden zwei Drittel (67,4%) aller Diversionsentscheidungen durch die Staatsanwaltschaft ausgesprochen; dieser Anteil ist inzwischen auf 85,0% (unter Einschluss auch der BtMG-Entscheidungen: 85,8%) gestiegen. Die Diversionsrate 8 im Jugendstrafrecht ist, entsprechend dessen ausgeprägter spezialpräventiver Zielsetzung, mit derzeit 68,1% deutlich höher als im allgemeinen Strafrecht mit 52,5%. Regional wird freilich höchst unterschiedlich von diesen Einstellungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht; es gibt – soweit statistisch ersichtlich – keine Erledigungsart, die eine derart große Varianz in regionaler Hinsicht aufweist.
1.1.5.2.2 Die Strafzumessungspraxis der Gerichte Die Sanktionierungspraxis in Deutschland ist im langfristigen Vergleich gekennzeichnet durch z den zunehmenden Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgrund von Opportunitätsvorschriften, also der deutschen Variante von Diversion in Form verfahrensrechtlicher Entkriminalisierung (vgl. Abb. 1.1.47), und z die nachhaltige Zurückdrängung der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen (stationäre Sanktionen) zu Gunsten ambulanter Sanktionen, namentlich der Geldstrafe und der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. Abb. 1.1.48). 7
Der Längsschnittvergleich muss auf die Zeit ab 1981 beschränkt bleiben, weil erst ab diesem Berichtsjahr Daten über Opportunitätseinstellungen der Staatsanwaltschaft in der damals erstmals vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten StA-Statistik verfügbar sind. 8 Die Diversionsrate bezeichnet im Jugendstrafrecht den Anteil der Personen, bei denen das Verfahren gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist, an allen Personen, die entweder verurteilt (einschließlich Entscheidungen gem. § 27 JGG) wurden oder bei denen das Verfahren gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist. Entsprechend bezeichnet die Diversionsrate im allgemeinen Strafrecht den Anteil der Personen, bei denen das Verfahren gem. §§ 153, 153 a, 153 b StPO eingestellt worden ist, an allen Personen, die entweder verurteilt (einschließlich Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB) wurden oder bei denen das Verfahren gem. §§ 153, 153 a, 153 b StPO eingestellt worden ist.
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
absolute Zahlen (Mio.)
2,0
Einstellungen durch Staatsanwaltschaft ohne Auflagen
1,5
Einstellungen durch Staatsanwaltschaft mit Auflagen Einstellungen durch das Gericht
1,0
0,5 formell Sanktionierte
0
1981
1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.47. Entwicklung der informellen und formellen Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht und im Jugendstrafrecht 1981–2006. Absolute Zahlen (informell Sanktionierte gem. StPO, JGG, BtMG). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin * Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb 1.1.47 Sanktio- Formell Informell Sanktionierte (gem. StPO, JGG, BtMG) nierte Sanktioinsgesamt Einstellungen Einstellungen insgesamt nierte durch die StA durch das Gericht insgesamt
1981 1985 1990 1995 2000 2005 2006
1 178 338 1 247 966 1 344 747 1 586 442 1 663 818 1 812 046 1 772 981
750 960 724 999 697 687 765 898 739 643 790 192 760 528
427 378 522 967 647 060 820 544 924 175 1 021 854 1 012 453
ohne Auf- mit Auflagen lagen
ohne Auf- mit Auflagen lagen
136 001 219 944 309 820 472 181 568 198 650 643 656 406
32 440 30 137 41 179 39 445 38 197 46 671 42 435
152 073 168 533 186 792 209 454 213 630 222 436 212 392
Anteile, bezogen auf (informell und formell) Sanktionierte insgesamt 1981 100 63,7 36,3 11,5 12,9 1985 100 58,1 41,9 17,6 13,5 1990 100 51,9 48,1 23,0 13,9 1995 100 48,3 51,7 29,8 13,2 2000 100 44,5 55,5 34,2 12,8 2005 100 43,6 56,4 35,9 12,3 2006 100 42,9 57,1 37,0 12,0
2,8 2,4 3,1 2,5 2,3 2,6 2,4
106 863 104 353 109 269 99 464 104 150 102 104 101 220 9,1 8,4 8,1 6,3 6,3 5,6 5,7
StA Staatsanwaltschaft Einstellungen durch StA ohne Auflagen: Einstellungen ohne Auflagen gem. §§ 153 Abs. 1, 153 b Abs. 1 StPO, § 45 Abs. 1 und 2 JGG (bzw. § 45 Abs. 2 JGG a. F.), § 31 a BtMG; Einstellungen durch StA mit Auflagen: Einstellungen mit Auflagen gem. § 153 a Abs. 1 StPO, § 45 Abs. 3 JGG (bzw. § 45 Abs. 1 JGG a. F.), § 37 BtMG; Einstellungen durch das Gericht ohne Auflagen: Einstellungen gem. §§ 153 Abs. 2, 153b Abs. 2 StPO, § 31 a BtMG; Einstellungen durch das Gericht mit Auflagen: Einstellungen gem. §§ 153 a Abs. 2, § 47 JGG, § 37 BtMG; Formell Sanktionierte: nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht Verurteilte, einschließlich Personen mit Entscheidungen gem. §§ 59, 60 StGB, § 27 JGG. Quellen: Staatsanwaltschaftsstatistik 1981–2006; Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen 1981–2006; Strafverfolgungsstatistik 1981–2006 * Die Daten beziehen sich auf das frühere Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1991 (Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen), 1993 (Staatsanwaltschaftsstatistik) bzw. 1995 (Strafverfolgungsstatistik) mit Gesamtberlin
101
z
1 Kriminologische Grundlagen 100 90 80 70
Anteil (%)
102
sonstige
60
Geldstrafe
50
Freiheitsstrafen zur Bewährung unbedingte Freiheitsstrafen
40 30 20 10 0 1882
1990
10
20
30
1950
60
70
80
90
2000 06
Nicht dargestellt: Todesstrafe (0,01–0,03%)
Abb. 1.1.48. Entwicklung der Sanktionierungspraxis, aber ohne informelle Sanktionen. Deutsches Reich bzw. früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin. 1882–2006. Anteile, bezogen auf nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht Verurteilte Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.48 Jahr VerTodesurteilte strafe
N 1882 1900 1910 1920 1930 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2005 2006
N
%
freiheitsentziehende Sanktionen unbedingt
bedingt
N
N
%
315 849 90 0,03 242 589 76,8 456 479 38 0,01 263 866 57,8 538 225 43 0,01 259 466 48,2 608 563 113 0,02 353 244 58,0 594 610 43 0,01 188 313 31,7 8 530 296 356 115 950 39,1 548 954 127 851 23,3 61 388 643 285 73 099 11,4 53 024 732 481 70 203 9,6 80 813 692 363 49 921 7,2 77 743 732 733 64 441 8,8 95 791 780 659 64 866 8,3 100 240 751 387 65 078 8,7 97 296
Geldstrafe
%
1,4 11,2 8,2 11,0 11,2 13,1 12,8 12,9
Sonstige
N
%
69 974 181 195 263 857 231 728 392 797 172 575 335 978 464 818 494 114 512 343 513 336 545 971 520 791
22,2 39,7 49,0 38,1 66,1 58,2 61,2 72,3 67,5 74,0 70,1 69,9 69,3
N 3 196 11 380 14 859 23 478 4 924 7 831 23 737 52 344 87 351 52 356 59 165 69 582 68 222
% 1,0 2,5 2,8 3,9 0,8 2,6 4,3 8,1 11,9 7,6 8,1 8,9 9,1
Gebiet: 1882 bis 1939: jeweiliges Reichsgebiet; ab 1950 bis 1960: Bundesgebiet ohne Saarland und Berlin (West); ab 1961 Bundesrepublik Deutschland nach dem Gebietsstand vor dem 3. 10. 1990; sie schließen Berlin (West) ein Verurteilungen zu Strafen: 1882 bis 1936: Hauptstrafen (bei Doppelstrafen nur die jeweils schwerste Strafe) wegen Verbrechen und Vergehen; 1937 bis 1939 insgesamt verhängte Hauptstrafen (einschließlich Doppelstrafen). Von 1882 bis 1918 ohne die wegen Wehrpflichtverletzung
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Verurteilten, von 1914 bis 1936 ohne die Verurteilten wegen Verbrechen und Vergehen gegen die aus Anlass des Krieges oder der Übergangszeit erlassenen Strafvorschriften, von 1921 ab ohne die wegen Verstößen gegen das Militärstrafgesetzbuch Verurteilten. Von 1934 ab auch ohne die Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze, die zur Zuständigkeit des Volksgerichtshofs gehörten. Von 1937 bis 1939 Verbrechen und Vergehen überhaupt, aber ohne Verstöße gegen das Militärstrafgesetzbuch. Ab 1950: Verbrechen und Vergehen gegen Bundes- und Landesgesetze Personen: Bis Inkrafttreten von § 2 des Reichtsjugendgerichtsgesetzes am 27. 2. 1923: 12 Jahre und älter, seitdem 14 Jahre und älter Sonstige (Sanktionen): 1882 bis 1924: Verweis (gegenüber Jugendlichen); 1923 bis 1939: Absehen von Strafe gem. § 6 JGG 1923 zugunsten von Erziehungsmaßregeln und gem. § 9 Abs. 4 JGG 1923 in besonders leichten Fällen. Ab 1950: Ambulante Erziehungsmaßregeln und ambulante Zuchtmittel (jeweils als schwerste Sanktion) nach Jugendstrafrecht (Erziehungsmaßregeln, jedoch ohne Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung; Zuchtmittel (bis 1953: Auferlegung besonderer Pflichten gem. § 9 JGG a. F.), jedoch ohne Jugendarrest) Freiheitsentziehende Sanktionen zur Bewährung: 1923 bis 1936: Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe gegenüber Jugendlichen gem. § 10 JGG 1923. 1937 bis 1939 wurde in der amtlichen Statistik die Aussetzung der Freiheitsstrafe bei Jugendlichen (§ 10 JGG 1923) nicht mehr ausgewiesen. Der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen ist deshalb um bis zu zwei Prozentpunkte überschätzt. Ab 1954: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Aussetzungen zur Bewährung bei Gefängnis und Haft. Die gem. § 23 Abs. 1 StGB a. F. mögliche Strafaussetzung bei Einschließungsstrafe von nicht mehr als 9 Monaten wurde in der amtlichen Statistik überhaupt nicht, die Aussetzung von Strafarrest zur Bewährung (§ 14 Wehrstrafgesetz – WStG) bis 1974 nicht nachgewiesen. Quantitativ sind die nicht nachgewiesenen Aussetzungen bei Einschließung und Strafarrest bedeutungslos. Seit 1970 Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafe sowie – seit 1975 – bei Strafarrest. Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Strafaussetzung zur Bewährung bei Jugendstrafe bis einschließlich ein Jahr. Durch Art. 11 Nr. 6 des 1. StrRG 1969 wurde zum 1. 4. 1970 die Strafaussetzung zur Bewährung auch bei Jugendstrafen von mehr als einem bis einschließlich zwei Jahren eingeführt. In der amtlichen Statistik wurden diese „unter besonderen Umständen“ möglichen Aussetzungen erst seit 1975 ausgewiesen Freiheitsentziehende Sanktionen unbedingt: 1882 bis 1939 Zuchthaus, Gefängnis (soweit nicht zur Bewährung ausgesetzt), Festungshaft und Haft. 1921 bis 1933 einschließlich Arrest. 1937 bis 1939 sind die Quoten um bis zu zwei Prozentpunkte überschätzt, weil die Strafaussetzung zur Bewährung bei Jugendlichen (§ 10 JGG 1923) in der amtlichen Statistik nicht mehr ausgewiesen wurde. Ab 1950: Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht: Zuchthaus, nicht zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe und Haft. Seit dem 3. StrÄG vom 4. 8. 1953 auch Einschließung. Seit 1957 auch der durch das Wehrstrafgesetz vom 30. 3. 1957 eingeführte Strafarrest (insgesamt). Seit dem 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6. 1969 nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe und (seit 1975) unbedingter Strafarrest. Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht: Bis 1953 Jugendgefängnis, Jugendarrest und Fürsorgeerziehung, ab 1954 nicht zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe, Jugendarrest und Fürsorgeerziehung (ab 1991: Heimerziehung) Quellen: „Die Entwicklung der Strafen im Deutschen Reich seit 1882“, in: Kriminalstatistik für das Jahr 1928, S. 65, 69, Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 384. Kriminalstatistik für das Jahr 1929. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 398. Kriminalstatistik für das Jahr 1930. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 429. Kriminalstatistik für das Jahr 1931. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 433. Kriminalstatistik für das Jahr 1932. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 448. Kriminalstatistik für das Jahr 1933. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 478. Kriminalstatistik für das Jahr 1934. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 507. Kriminalstatistik für die Jahre 1935 und 1936. Mit Hauptergebnissen für die Jahre 1937, 1938 und 1939. Statistik des Deutschen Reichs. NF. Bd. 577. Strafverfolgungsstatistik 1950–2006
103
104
z
1 Kriminologische Grundlagen
z Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht Die nachhaltige Zurückdrängung der freiheitsentziehenden Sanktionen ist das bleibende Verdienst der Strafrechtsreform 1969. Innerhalb der durch Urteil verhängten Strafen dominiert seither im allgemeinen Strafrecht die Geldstrafe, auf die jährlich mehr als 80% aller Strafen entfallen. Seit der Strafrechtsreform 1969 sind allerdings – mit Schwankungen – die relativen Zahlen (bezogen auf Verurteilte) der verhängten Freiheitsstrafen um ein knappes Fünftel (1970–74: 16,5%; 2006: 19,3%) gestiegen (vgl. Abb. 1.1.49). Möglicherweise ist dieser Anstieg freilich ein statistisches Artefakt, weil im gleichen Zeitraum die Einstellungen aus Opportunitätsgründen zugenommen haben, durch die immer mehr minder schwere Fälle der Verurteilung entzogen werden. Gleichwohl liegen auch weiterhin absolute wie relative Zahlen sowohl der insgesamt verhängten als auch (insbesondere) der unbedingt verhängten Freiheitsstrafen deutlich unter dem Niveau vor der Strafrechtsreform von 1969. Freiheitsstrafen sind fast ausschließlich solche zeitiger Art. Von den 2006 insgesamt 124 663 verhängten Freiheitsstrafen waren 94 (= 0,1%) lebenslange Strafen, die fast ausschließlich bei Verurteilungen wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte verhängt wurden. Aber selbst bei dieser Deliktgruppe werden überwiegend zeitige Freiheitsstrafen verhängt (2006: 81,8%), lediglich bei vollendetem Mord ist die lebenslange Freiheitsstrafe nicht nur dogmatisch, sondern auch empirisch die Regel (2006: 70,3%). Die Strafmilderung dürfte vornehmlich auf der bei Tötungsdelikten besonders häufigen Annahme verminderter Schuldfähigkeit beruhen. Zeitige Freiheitsstrafen sind zu einem Drittel (2006: 33,6%) kurze Freiheitsstrafen unter sechs Monaten; insgesamt drei Viertel (2006: 75,4%) sind unter 12 Monaten. Weitere 16,5% waren von einer Dauer zwischen einem Jahr und unter zwei Jahren. Danach waren 2006 91,8% der Freiheitsstrafen – von ihrer Dauer her – gemäß § 56 StGB aussetzungsfähig. Hiervon wurden 76,1% zur Bewährung ausgesetzt. Die Aussetzungsrate (bezogen auf die jeweils aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen) ist zwar um so höher, je kürzer die Freiheitsstrafe ist; aber auch bei Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren ist – jedenfalls seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – die Aussetzung die Regel (2006: 72,4%) und nicht mehr die Ausnahme. z Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht Die Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht ist gekennzeichnet durch z die zunehmende Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht, z die Zurückdrängung formeller Sanktionen zu Gunsten solcher informeller Art (§§ 45, 47 JGG) und z die Zurückdrängung stationärer Sanktionen (als schwerster Sanktion) zu Gunsten solcher ambulanter Maßnahmen,
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 40 35
zur Bewährung ausgesetzt unbedingte verhängte Freiheitsstrafe
35,3 31,3
Verurteilte (%)
30 25 20
22,6 19,9 16,5
16,9
7,0
6,1
18,3
18,0
6,3
5,8
16,3
18,2
19,0
19,3
5,6
5,8
19,8
15 10 5 0
5,1
5,7
6,2
1960–64 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90–94 95–99 2000–04 2005
2006
Abb. 1.1.49. Nach allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafen Verurteilte, mit und ohne Strafaussetzung zur Bewährung (5-Jahres-Durchschnitte) 1960–2006. Anteile, bezogen auf nach allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafe Verurteilte. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.49 5-JahresZeiträume
Verurteilte Zu Freiheitsstrafe Verurteilte insgesamt Straufaus- in % insin % setzung Vergesamt Verurteilte zur Be- urteilte währung
unbedingt in % verhängte VerFreiheits- urteilte strafen
1955–59 1960–64 1965–69 1970–74 1975–79 1980–84 1985–89 1990–94 1995–99 2000–04 2005 2006
491 232 511 527 541 091 583 524 594 572 616 823 600 760 651 963 684 886 636 841 674 004 645 485
92 190 101 844 122 387 41 028 36 420 38 899 34 886 33 374 38 970 39 654 37 876 37 605
148 651 159 865 191 234 96 070 100 524 112 840 108 396 106 317 124 917 126 271 127 961 124 663
30,3 31,3 35,3 16,5 16,9 18,3 18,0 16,3 18,2 19,8 19,0 19,3
56 461 58 021 68 847 55 042 64 105 73 941 73 510 72 943 85 946 86 617 90 085 87 058
11,5 11,3 12,7 9,4 10,8 12,0 12,2 11,2 12,5 13,6 13,4 13,5
18,8 19,9 22,6 7,0 6,1 6,3 5,8 5,1 5,7 6,2 5,6 5,8
Quelle: Strafverfolgungsstatistik 1960–2006
z den vermehrten Gebrauch helfender, betreuender und restitutiver Maßnahmen. Indikatoren hierfür sind der Bedeutungsgewinn (innerhalb der ambulanten Sanktionen) – sowohl der Erziehungsmaßregeln – als auch und vor allem der Betreuung durch Bewährungshilfe infolge der Zunahme von Strafaussetzungen zur Bewährung bei Jugendstrafen.
105
106
z
1 Kriminologische Grundlagen
Der Anteil der nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden ist von 22,2% (1955) auf 64,3% (2006) gestiegen. Die deliktspezifische Analyse zeigt, dass die Einbeziehung der Heranwachsenden in der Tendenz mit der Schwere der Straftat zunimmt (Heinz 2007 a, Abb. 24). Auf Delikte, die keine schweren Rechtsfolgen nach sich ziehen und in einem summarischen Verfahren behandelt werden können, findet – soweit es überhaupt zu einer förmlichen Sanktionierung durch Strafurteil kommt – überwiegend allgemeines Strafrecht Anwendung. Von Diversion, also der Einstellung gemäß §§ 45, 47 JGG, wurde zunehmend Gebrauch gemacht, allerdings in regional höchst unterschiedlichem Maße. Unterschiede bestehen hinsichtlich des Ob und des Wie (mit oder ohne Auflagen/Weisungen) von Diversion (vgl. Abb. 1.1.50). Innerhalb der formellen, d. h. der durch Urteil verhängten Sanktionen kam es zu einer Zurückdrängung stationärer Sanktionen zu Gunsten solcher ambulanter, also den Freiheitsentzug vermeidenden Maßnahmen. So entfielen 1955 lediglich 50,4% auf ambulante Sanktionen als schwerste Maßnahme, 2006 waren es dagegen 74,1%. Unter den ambulanten Sanktionen – als schwerster Maßnahme – haben insbesondere die ambulanten Erziehungsmaßregeln und die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erfolgte Bedeutungsgewinn der ambulanten Erziehungsmaßregeln, genauer: der Weisungen, ging im Gefolge des 1. JGGÄndG allerdings wieder verloren zu Gunsten der ambulanten Zuchtmittel, namentlich zu Gunsten der 1990 eingeführten Arbeitsauflage (Heinz 2007 a, Abb. 30), wobei es sich hierbei um einen Austausch zwischen Arbeitsweisung und Arbeitsauflage gehandelt haben dürfte. Dementsprechend ist der Anteil der ambulanten Zuchtmittel, also Verwarnung und Auflage, wieder deutlich gestiegen auf zuletzt (2006) 78,4% aller ambulanten Sanktionen, also Weisungen, Verwarnung, Auflagen, zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. Die – durch das 1. JGGÄndG aufgehobene – Jugendstrafe von (relativ) unbestimmter Dauer hatte schon Ende der 1950er Jahre zu Gunsten der Jugendstrafen von mehr als einem Jahr kontinuierlich und drastisch an Bedeutung verloren (Heinz 2007a, Abb. 35). Der Anteil der insgesamt zu Jugendstrafe Verurteilten an allen Verurteilten war seit Beginn der 1960er Jahre und bis 1990 (1990: 15,7%) im Wesentlichen konstant. In den letzten Jahren stieg diese Rate jedoch deutlich an auf ihren bisherigen Höchststand von 19,5% (1994); 2006 betrug diese Rate 15,9%. Wegen des hohen und zunehmenden Anteils der gemäß §§ 45, 47 JGG eingestellten Verfahren ist aber eine lediglich auf die Anteile an den Verurteilten abstellende Betrachtungsweise irreführend. Denn durch Einstellungen gelangen – empirisch gesehen – die leichteren Fälle nicht mehr zur Verurteilung, weshalb sich unter den Verurteilungen der relative Anteil der „schweren“ Fälle, für die – ebenfalls empirisch betrachtet – eher freiheitsentziehende Sanktionen als „erforderlich“ erachtet werden, deutlich erhöht. Bei Bezugnahme auf die „Sanktionierten“ zeigt sich – für den Zeitraum ab 1981, für den statistische
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
100 90
informell Sanktionierte
80
Heimerziehung
Anteil (%)
70 60
ambulante Erz.-maßregeln
50
ambulante Zuchtmittel
40
Jugendstrafe zur Bewährung
30
unbedingte Jugendstrafe
20 10
Jugendarrest
0
BW BY BE HB HH HE NI NW RP SL SH Internierungsrate1 5 12 8 3 5 6 9 9 6 7 6
BB MV SN TH 5 5 5 5
AL 4NL BRD 8 5 8
2
1
) Internierungsrate: (unbedingte Jugendstrafe + Arrest + Heimunterbringung)/sanktioniert (%) ) BRD ohne Sachsen-Anhalt BW Baden-Württemberg; BY Bayern; BE Berlin; HB Bremen; HH Hamburg; NI Niedersachsen; NW Nordrhein-Westfalen; RP Rheinland-Pfalz; SL Saarland; SH Schleswig-Holstein; BB Brandenburg; MV Mecklenburg-Vorpommern; SN Sachsen, TH Thüringen; AL alte Länder, NL neue Länder
2
Abb. 1.1.50. Informell und formell Sanktionierte im Jugendstrafrecht, nach Ländern 2006. Jeweils schwerste Sanktion. Anteile bezogen auf (informell oder formell) Sanktionierte Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.50 2006
Nach Jugendstrafe Jugend- ambuJGG arrest lante ZuchtSanktio- unbe- bedingt mittel nierte dingt
Fürsorge-/ ambulante HeimErziehungserziehung maßregel
BadenWürttemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen NordrheinWestfalen Rheinland-Pfalz Saarland SchleswigHolstein Brandenburg
49 637
1146
1596
1478
10 198
1
212
54 230 17 931 4266 13 819 24 702 45 131 92 407
1221 492 41 314 385 603 1681
2065 415 62 78 658 1428 2883
5205 970 78 311 1148 3414 6646
10 482 1271 278 1201 4834 8858 16 686
2 2 1 2 7 5 11
1624 1046 42 611 129 1398 1475
18 288 5074 13 653
472 63 257
685 205 136
589 294 623
3762 1555 2352
3 0 4
32 75 101
12 082
212
368
391
1766
1
16
107
108
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006
Nach Jugendstrafe Jugend- ambuJGG arrest lante ZuchtSanktio- unbe- bedingt mittel nierte dingt
Fürsorge-/ ambulante HeimErziehungserziehung maßregel
Mecklenburg-Vor- 9835 pommern Sachsen 21 109 Thüringen 12 901
239
323
257
1224
6
16
447 326
901 503
531 377
3222 1883
0 2
327 31
Alte Länder 339 138 neue Länder 55 927 Deutschland (oh- 395 065 ne Sachsen-Anhalt)
6675 1224 7899
10 211 2095 12 306
20 756 1556 22 312
61 477 8095 69 572
38 9 47
6745 390 7135
auf nach JGG Sanktionierte insgesamt 100 2,3 3,2 3,0
20,5
0,0
0,4
100 100 100 100 100 100 100
2,3 2,7 1,0 2,3 1,6 1,3 1,8
3,8 2,3 1,5 0,6 2,7 3,2 3,1
9,6 5,4 1,8 2,3 4,6 7,6 7,2
19,3 7,1 6,5 8,7 19,6 19,6 18,1
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0
3,0 5,8 1,0 4,4 0,5 3,1 1,6
100 100 100
2,6 1,2 1,9
3,7 4,0 1,0
3,2 5,8 4,6
20,6 30,6 17,2
0,0 0,0 0,0
0,2 1,5 0,7
100 100
1,8 2,4
3,0 3,3
3,2 2,6
14,6 12,4
0,0 0,1
0,1 0,2
Mecklenburg-Vorpommern Sachsen 100 Thüringen 100
2,1 2,5
4,3 3,9
2,5 2,9
15,3 14,6
0,0 0,0
1,5 0,2
2,0 2,2 2,0
3,0 3,7 3,1
6,1 2,8 5,6
18,1 14,5 17,6
0,0 0,0 0,0
2,0 0,7 1,8
Anteile, bezogen BadenWürttemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen NordrheinWestfalen Rheinland-Pfalz Saarland SchleswigHolstein Brandenburg
Alte Länder 100 neue Länder 100 Deutschland (oh- 100 ne Sachsen-Anhalt)
JGG Jugendgerichtsgesetz Quelle: Straverfolgung 2006 (und unveröff. Daten für Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen) Abb. 1.1.50 (Fortsetzung)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Daten zur Diversion vorliegen – ein leichter Rückgang der insgesamt verhängten Jugendstrafen (Heinz 2007 a, Abb. 36). Dieser Rückgang beruht auf der Entwicklung bei Jugendstrafen bis zwölf Monate. Der Anteil der Jugendstrafen zwischen zwölf Monaten und zwei Jahren ist indes leicht gestiegen. Zwischen zur Bewährung ausgesetzter und unbedingt verhängter Jugendstrafe fand ein Austausch statt. 2006 wurden 60,5% aller Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt (68,7% der aussetzungsfähigen Jugendstrafen), 1955 waren es lediglich 32,4%. Die Aussetzungsquoten sind umso höher, je kürzer die verhängten Jugendstrafen sind, aber selbst bei Jugendstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren wurden 2006 55,3% der Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt.
1.1.5.2.3 Maßregeln der Besserung und Sicherung z Freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung Die absoluten wie die relativen Zahlen der Abgeurteilten, bei denen freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt, in Sicherungsverwahrung) angeordnet wurden, sind insgesamt sehr gering (vgl. Heinz 2007 b). In den letzten zwei Jahrzehnten sind die Zahlen indes deutlich gestiegen: 1976 kamen auf 1.000 Abgeurteilte 1,04 mit freiheitsentziehenden Maßregeln, 2006 waren es 2,66. Noch nie in der Geschichte der (alten Länder 9 der) Bundesrepublik Deutschland wurde bei so vielen Personen strafgerichtlich eine Unterbringung gemäß §§ 63, 64 StGB angeordnet wie in den letzten Jahren. Der bisherige Höchststand war 2004 mit 2577 (2006: 2.398) Personen erreicht (vgl. Abb. 1.1.51). Dieser Anstieg geht vor allem zurück auf die zunehmend häufiger angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Sicherungsverwahrung wird immer noch relativ zurückhaltend angeordnet, wenngleich auch hier mit leicht steigender Tendenz.10 Die Zahl der zum Stichtag (31. 3.) Untergebrachten ist infolge der längeren Verweildauer vor allem bei Sicherungsverwahrung und bei den im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten deutlich angestiegen (vgl. Abb. 1.1.52). Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland befanden sich zum Stichtag so viele Personen (31. 3. 2006: 8.536) im Vollzug dieser freiheitsentziehenden Maßregeln (ohne einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO). Derzeit sind 14,4% aller am Stichtag 31. 3. 2006 Gefangenen/ Verwahrten/Untergebrachten – infolge der ein Mehrfaches der durchschnittlichen Dauer der Strafhaft betragenden Unterbringungszeit – gemäß §§ 63, 64, 66 StGB Untergebrachte (vgl. Abb. 1.1.53). Trotz des Anstiegs der 9 10
Auch hierzu liegen noch keine statistischen Daten aus den neuen Ländern vor. In der Strafverfolgungsstatistik wird derzeit nur die Anordnung der Sicherungsverwahrung gem. § 66 StGB nachgewiesen; die Anordnung von vorbehaltener bzw. nachträglicher Sicherungsverwahrung wird nicht erfasst.
109
z
1 Kriminologische Grundlagen 3000 Sicherungsverwahrung Entziehungsanstalt psychiatrisches Krankenhaus
2500 2000
Abgeurteilte
110
1500 1000 500 0
1953
1960
1965
1970
1975
1980
1,5
1,4
0,8
0,8
1,1
je 1000 Abgeurteilte 1,3
1985 1,1
1990 1,2
1995 1,5
2000 2,3
2006 2,7
Abb. 1.1.51. Abgeurteilte mit Anordnung einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in Sicherungsverwahrung, 1953–2006. Absolute Zahlen. Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.51 1955 Abgeurteilte 620 730 §§ 63, 64, 66 StGB 961 § 63 StGB 602 § 64 StGB 196 § 66 StGB 163
1965
1975
1985
1995
2005
2006
643 948 868 419 236 213
779 219 656 336 268 52
924 912 990 425 526 39
937 385 1361 559 757 45
964 754 2564 861 1628 75
932 352 2481 796 1602 83
0,84 0,43 0,34 0,07
1,07 0,46 0,57 0,04
1,45 0,60 0,81 0,05
2,66 0,89 1,69 0,08
2,66 0,85 1,72 0,09
auf 1000 Abgeurteilte kommen §§ 63, 64, 66 StGB 1,55 1,35 § 63 StGB 0,97 0,65 § 64 StGB 0,32 0,37 § 66 StGB 0,26 0,33 Quelle: Strafverfolgungsstatistik 1953–2006
Gefangenenzahlen seit Anfang der 1990er Jahre war der Anteil der nach §§ 63, 64, 66 StGB Untergebrachten noch nie so hoch wie derzeit. Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Anordnung verhältnismäßig sein muss, und zwar sowohl hinsichtlich der begangenen als auch der zu erwartenden Taten (§ 62 StGB), dominieren Formen der schweren Kriminalität; wegen der unterschiedlichen Anordnungsvoraussetzungen gibt es aber deutliche Unterschiede zwischen §§ 63, 64 StGB (vgl. Abb. 1.1.54, 1.1.55). So wurden z. B. 2006 bei 12,7% der wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte (Mord oder Totschlag) Angeklagten eine Unterbringung im
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 9000
Sicherungsverwahrung Entziehungsanstalt psychiatrisches Krankenhaus
8000 7000
Anzahl
6000 5000 4000 3000 2000 1000 0
1962 65
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2006
Abb. 1.1.52. Im psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte (Stichtagszählung, Bestandzahlen jeweils 31. 3. eines jeden Jahres). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1992 (Sicherungsverwahrte) bzw. seit 1996 (Maßregelvollzug) mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.52 1965 Untergebrachte, jeweils 31. 3.
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2007
z Psychiatrie 4413 z Entziehungs- 281 anstalt z Sicherungs- 902 verwahrung z §§ 63, 64, 5596 66 insgesamt
4222 179
3494 183
2593 644
2472 990
2489 1160
2902 1373
4098 1774
5640 2473
6061 2603
718
337
208
190
182
182
219
344
5119
4014
3445
3652
3831
4457
6091
8457
Quelle: Strafvollzugsstatistik 1962–2007
psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, darunter überwiegend bei Schuldunfähigen. Wegen dieser Delikte erfolgte bei 8,2% eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Die Unterschiede zwischen §§ 63, 64 StGB zeigen sich vor allem bei Delikten mit einer höheren Beteiligung suchtkranker Täter. Bei 0,6% der wegen Straftaten gegen das BtMG Abgeurteilten wurde 2006 eine Anordnung gemäß § 64 StGB ausgesprochen, aber nur bei 0,007% eine Anordnung gemäß § 63 StGB. Die Deliktverteilung innerhalb der jeweiligen Gruppe ist eine Funktion von Unterbringungswahrscheinlichkeit und Delikthäufigkeit. Dies führt zu ausgeprägten Unterschieden der Deliktverteilung bei den im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten im Vergleich zu den nach § 64 StGB Untergebrachten. Fast zwei Drittel (61,1%) aller Unterbringungsanordnungen gemäß § 63 StGB waren 2006 dem Bereich der Sexual-, der vorsätz-
111
z
1 Kriminologische Grundlagen 70000 60000 50000
Anzahl
112
40000 30000 Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) psychiatrisches Krankenhaus (§ 63 StGB) Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) Strafgefangene (früheres Bundesgebiet)
20000 10000 0
1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
Abb. 1.1.53. Gefangene, Verwahrte und im Maßregelvollzug aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte (Stichtagszählung, Bestandszahlen jeweils 31.3. eines jeden Jahres). Früheres Bundesgebiet mit Westberlin mit Berlin-West, 1992 (Gefangene und Verwahrte) bzw. 1996 (Maßregelvollzug) einschl. Berlin-Ost Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.53 Unterge1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2006 brachte, jeweils 31. 3. Psychiatrie Entziehungsanstalt §§ 63, 64 insgesamt Sicherungsverwahrte Gefangene Gefangene/ Verwahrte/ Untergebrachte Anteil §§ 63, 64, 66 StGB an insgesamt
4413 281
4222 179
3494 183
2593 644
2472 990
2489 1160
2902 1373
4098 1774
5640 2473
5917 2619
4694
4401
3677
3237
3462
3649
4275
5872
8113
8536
902
718
337
208
190
182
182
219
344
368
48 143 35 209 34 271 42 027 48 212 38 996 41 249 50 811 52 158 53 159 53 739 40 328 38 285 45 472 51 864 42 827 45 706 56 902 60 615 62 063
10,4
12,7
10,5
7,6
7,0
8,9
9,8
10,7
14,0
14,4
Quelle: Strafvollzugsstatistik 1965–2006
lichen Tötungs- sowie der vorsätzlichen Körperverletzungsdelikte zuzurechnen, bei einer Anordnung gemäß § 64 StGB entfiel hierauf nur ein Viertel (24,2%). Eigentumsdelikte hingegen waren zu 37,2% Anlassdelikt für § 64 StGB, dagegen nur zu 15,3% für § 63 StGB (vgl. Abb. 1.1.56). Entsprechend der gesetzlichen Regelung wird bei abgeurteilten Schuldunfähigen überwiegend eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Dies war 2006 bei vier von fünf Abgeurteilten (81,6%) der Fall. Deutlich höher ist der An-
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
Straftaten insgesamt 0,9 gegen sexuelle Selbstbestimmung 10,6 (§§ 174 – 184 b) vorsätzliche Tötungsdelikte (§§ 211 – 213) vorsätzliche Körperverletzung 3,0 (§§ 223 – 227) Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242 – 248 c StGB) 0,2 Raub und Erpressung, Angriff auf Kraftfahrer
126,7
5,9
Betrug und Untreue (§§ 263 – 266 b) 0,1 gemeingefährliche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 306 – 323 c) Straftaten im Straßenverkehr 0,1 (nach StGB und StVG)
18,6
darunter: Verkehrsdelikte in Trunkenheit 0 BtMG 0,1
0
50
100
150
Anzahl
Abb. 1.1.54. Anordnung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach ausgewählten Deliktgruppen 2006. Anteile pro 1000 Abgeurteilte. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.54 2006
z Straftaten insgesamt z gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174–184 b StGB) z vorsätzliche Straftaten gegen das Leben (o. V.) (§§ 211–213 StGB) z vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (o. V.) (§§ 223–227 StGB) z Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242–248 c StGB) z Raub und Erpressung, Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–255, 316 a StGB) z Betrug und Untreue (§§ 263–266 b StGB) z gemeingefährliche Straftaten (o. V.) (§§ 306–323 c StGB) z Straftaten im Straßenverkehr (nach StGB und StVG) z Verkehrsdelikte in Trunkenheit z Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz
Abgeurteilte insgesamt
Unterbringungsanordnung in psychiatrischem Krankenhaus
N
N
932 352
796
0,85
9328
99
10,61
734
93
126,70
99 449
294
2,96
166 969
37
0,22
12 448
73
5,86
179 942 5001
12 93
0,07 18,60
200 349
15
0,07
98 245 58 892
– 4
0,00 0,07
Pro 1000 Abgeurteilte
113
114
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006
Anteile, bezogen auf Unterbringungsanordnungen gemäß § 63 StGB z Summe Sexual-, vorsätzliche Tötungs-, und vorsätzliche Körperverletzungsdelikte z Eigentumskriminalität (Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub u. Erpressung)
Abgeurteilte insgesamt
Unterbringungsanordnung in psychiatrischem Krankenhaus
N
N
Pro 1000 Abgeurteilte
109 511
486
4,44
359 359
122
0,34
o. V. ohne Verkehrsdelikte Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2006 Abb. 1.1.54 (Fortsetzung)
Straftaten insgesamt
1,7
gegen sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 – 184 b) vorsätzliche Tötungsdelikte (§§ 211 – 213) vorsätzliche Körperverletzung (§§ 223 – 227) Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242 – 248 c StGB) Raub und Erpressung, Angriff auf Kraftfahrer
6,1 81,7 2,7 1,5 24,5
Betrug und Untreue (§§ 263 – 266 b) 0,2 gemeingefährliche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 306 – 323 c) Straftaten im Straßenverkehr 0,4 (nach StGB und StVG)
21,0
darunter: Verkehrsdelikte in Trunkenheit 0,8 BtMG
5,7
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Anzahl
Abb. 1.1.55. Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach ausgewählten Deliktgruppen 2006. Anteile pro 1000 Abgeurteilte. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.55 2006
Straftaten insgesamt gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174–184 b StGB) vorsätzliche Straftaten gegen das Leben (o. V.) (§§ 211–213 StGB) vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (o.V.) (§§ 223–227 StGB) Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242–248 c StGB) Raub und Erpressung, Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–255, 316a StGB) Betrug und Untreue (§§ 263–266 b StGB) gemeingefährliche Straftaten (o. V.) (§§ 306–323 c StGB) Straftaten im Straßenverkehr (nach StGB und StVG) Verkehrsdelikte in Trunkenheit Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz
Abgeurteilte Unterbringungsanordnung insgesamt in Entziehungsanstalt N
N
Pro 1000 Abgeurteilte
932 352 9328
1602 57
1,72 6,11
734
60
81,74
99 449
271
2,73
166 969
249
1,49
12 448
305
24,50
179 942 5001
42 105
0,23 21,00
200 349
86
0,43
98 245 58 892
79 337
0,80 5,72
Anteile, bezogen auf Unterbringungsanordnungen gemäß § 64 StGB Summe Sexual-, vorsätzliche Tötungs-, 109 511 388 und vorsätzliche Körperverletzungsdelikte Eigentumskriminalität (Diebstahl, Unter359 359 596 schlagung, Betrug, Raub und Erpressung)
3,54 1,66
o. V. ohne Verkehrsdelikte Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2006
teil der abgeurteilten Schuldunfähigen, bei denen eine Unterbringung angeordnet wurde, wenn ein Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung, ein vorsätzliches Tötungs- oder ein vorsätzliches Körperverletzungsdelikt, Raub oder räuberische Erpressung vorlag (vgl. Abb. 1.1.57). Im Unterschied zur Schuldunfähigkeit führt die Feststellung verminderter Schuldfähigkeit zwar regelmäßig zu einer Strafmilderung, nicht aber zu einer Unterbringung, und zwar selbst bei schweren Straftaten nicht (vgl. Abb. 1.1.58).
115
z
1 Kriminologische Grundlagen 100 90
Deliktsverteilung (%)
116
80 70
ander Straftaten Eigentumsdelikte Sexualdelikte vorsätzliche Tötung vorsätzliche Körperverletzung
60 50 40 30 20 10 0
N=
Abgeurteilte
932 352
UnterPsychiatrie Entziehungsbringungs anstalt anordnungen (§§63, 64) 2398
796
1602
Abb. 1.1.56. Anordnung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach ausgewählten Deliktgruppen, Anteile, bezogen auf die Gesamtzahl der jeweils angeordneten Maßregel. Früheres Bundesgebiet einschließlich Gesamtberlin 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.56 2006
z Straftaten insgesamt
Abgeurteilte insgesamt
Unterbringungsanordnung §§ 63, 64 StGB
Unterbringungsanordnung § 63 StGB
Unterbringungsanordnung § 64 StGB
N
% der N Abgeurteilten insgesamt
% von N §§ 63, 64 StGB insgesamt
% von N § 63 StGB insgesamt
% von § 64 StGB insgesamt
932 352
100
100
100
100
z Sexualdelikte, 109 511 vorsätzliche Tötung, vorsätzliche Körperverletzung z Eigentums- 359 359 kriminalität (Diebstahl, Unterschlagung, Betrug, Raub und Erpressung) z Andere 463 482 Straftaten
2398
796
1602
11,7
874
36,4
486
61,1
388
24,2
38,5
718
29,9
122
15,3
596
37,2
49,7
806
33,6
188
23,6
618
38,6
Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2006
z
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
Straftaten insgesamt gegen sexuelle Selbstbestimmung vorsätzliche Tötungsdelikte vorsätzliche Körperverletzung Diebstahl und Unterschlagung Raub, Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer Betrug und Untreue gemeingefährliche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) Verkehrsdelikte in Trunkenheit BtMG-Straftaten
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Anteil (%) § 63 StGB
§ 64 StGB
ohne Unterbringung
Abb. 1.1.57. Abgeurteilte Schuldunfähige mit Anordnung der Unterbringung gem. § 63 und § 64 StGB nach Deliktgruppen, 2006. Anteile, bezogen auf die Schuldunfähigen der jeweiligen Deliktgruppe. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.57 Schuld- Darunter: mit Unterbringungsanordnung unfähige § 63 StGB § 64 StGB Abgeur- §§ 63, 64 StGB insgesamt insgesamt teilte insgeinsin % insin % insin % samt gesamt schuld- gesamt schuld- gesamt schuldunfähige unfähige unfähige AbgeurAbgeurAbgeurteilte teilte teilte Straftaten insgesamt
770
628
81,6
579
75,2
49
6,4
Straftaten 33 gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174–184 b StGB) vorsätzliche 82 Tötungsdelikte (§§ 211–213 StGB)
33
100,0
33
100,0
0
0,0
80
97,6
79
96,3
1
1,2
117
118
z
1 Kriminologische Grundlagen
Schuld- Darunter: mit Unterbringungsanordnung unfähige § 63 StGB § 64 StGB Abgeur- §§ 63, 64 StGB insgesamt insgesamt teilte insgeinsin % insin % insin % samt gesamt schuld- gesamt schuld- gesamt schuldunfähige unfähige unfähige AbgeurAbgeurAbgeurteilte teilte teilte 273 vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 223–227 StGB) 30 Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242–248 c StGB) Raub, Erpres- 50 sung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–255, 316 a StGB) Betrug und 11 Untreue (§§ 263–266 b StGB) gemeinge169 fährliche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 306–323 c [ohne 316 a] StGB) Verkehrsdelikte 21 in Trunkenheit 5 Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz
263
247
90,5
16
5,9
25
83,3
20
66,7
5
16,7
49
98,0
47
94,0
2
4,0
7
63,6
7
63,6
0
0,0
86
50,9
68
40,2
18
10,7
3
14,3
0
0,0
3
14,3
4
80,0
2
40,0
2
40,0
Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2006 Abb. 1.1.57 (Fortsetzung)
96,3
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
Straftaten insgesamt gegen sexuelle Selbstbestimmung vorsätzliche Tötungsdelikte vorsätzliche Körperverletzung Diebstahl und Unterschlagung Raub, Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer Betrug und Untreue gemeingefährliche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) Verkehrsdelikte in Trunkenheit BtMG-Straftaten
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Anteil (%) § 63 StGB
§ 64 StGB
ohne Unterbringung
Abb. 1.1.58. Verurteilte mit verminderter Schuldfähigkeit 2006. Anordnung der Unterbringung gemäß § 63 und § 64 StGB nach Deliktgruppen Anteile, bezogen auf die vermindert Schuldfähigen der jeweiligen Deliktgruppe. Früheres Bundesgebiet mit Gesamtberlin Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.58 2006
VerminDarunter: mit Unterbringungsanordnung dert § 63 StGB § 64 StGB Schuldun- (§§ 63, 64 StGB) insgesamt insgesamt fähige insgeinsgesamt in % insgesamt in % insgesamt Vermindert samt Vermindert SchuldVermindert SchuldSchuldunfähige unfähige unfähige
Straftaten insgesamt
18 493
909
4,9
218
1,2
691
3,7
459
96
20,9
66
14,4
30
6,5
158
52
32,9
14
8,9
38
24,1
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174–184 b StGB) Vorsätzliche Tötungsdelikte (§§ 211–213 StGB)
119
120
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006
VerminDarunter: mit Unterbringungsanordnung dert § 63 StGB § 64 StGB Schuldun- (§§ 63, 64 StGB) insgesamt insgesamt fähige insgeinsgesamt in % insgesamt in % insgesamt Vermindert samt Vermindert Vermindert SchuldSchuldSchuldunfähige unfähige unfähige
5105 Vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 223–227 StGB) Diebstahl und 4672 Unterschlagung (§§ 242–248 c StGB) Raub, Erpres- 967 sung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§§ 249–255, 316 a StGB) Betrug 644 und Untreue (§§ 263–266 b StGB) Gemeingefähr- 278 liche Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) (§§ 306–323 c [ohne 316 a] StGB) Verkehrsdelikte 2188 in Trunkenheit Straftaten nach 682 dem Betäubungsmittelgesetz
170
3,3
47
0,9
123
2,4
145
3,1
17
0,4
128
2,7
173
17,9
26
2,7
147
15,2
16
2,5
5
0,8
11
1,7
74
26,6
26
9,4
48
17,3
22
1,0
0
0,0
22
1,0
112
16,4
2
0,3
110
16,1
Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2006 Abb. 1.1.58 (Fortsetzung)
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 2,5
vermindert Schuldfähige Schuldunfähige
2,0
Antei (pro 100 000)
z
1,5 1,0 0,5 0
N=
HB BE BY HH NI HE SL 14 69 194 27 99 72 12
RP BW NW SN MV SH BB TH 44 104 145 36 12 17 15 11
AL 4NL1 BRD1 796 75 14
1 ) ohne Sachsen-Anhalt HB Bremen; BE Berlin; BY Bayern; HH Hamburg; NI Niedersachsen; HE Hessen; SL Saarland; RP Rheinland-Pfalz; BW Baden-Württemberg; NW Nordrhein-Westfalen; SN Sachsen; MV Mecklenburg-Vorpommern; SH Schleswig-Holstein; BB Brandenburg; TH Thüringen; AL alte Länder, NL neue Länder
Abb. 1.1.59. Anordnung der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) nach Ländern, nach Schuldunfähigkeit und verminderter Schuldfähigkeit. Anteile pro 100 000 der strafmündigen Wohnbevölkerung (1. 1. 2006) in Deutschland (ohne Sachsen-Anhalt) 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.59 2006
Abge- Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB urteilte Vermin- schuldinsge- insge- vermin- schuld- insgesamt samt dert unfähig dert unfähig samt schuldschuldfähig fähig Bezug auf 100 000 Abgeur- strafmündige teilte Wohnbevölkerung
Baden143 388 104 Württemberg Bayern 172 655 194 Berlin 59 255 68 Brandenburg 38 763 16 Bremen 12 784 14 Hamburg 33 172 27 Hessen 67 472 72 Mecklenburg- 23 883 12 Vorpommern Nieder110 345 99 sachsen Nordrhein- 246 179 145 Westfalen
33
71
72,5
1,1
0,4
0,8
45 8 8 3 4 9 8
149 61 7 11 23 63 4
112,4 114,8 41,3 109,5 81,4 106,7 50,2
1,8 2,3 0,7 2,4 1,8 1,4 0,8
0,4 0,3 0,3 0,5 0,3 0,2 0,5
1,4 2,0 0,3 1,9 1,5 1,2 0,3
36
63
89,7
1,4
0,5
0,9
51
94
58,9
0,9
0,3
0,6
121
122
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006
Abge- Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB urteilte Vermin- schuldinsge- insge- vermin- schuld- insgesamt samt dert unfähig dert unfähig samt schuldschuldfähig fähig Bezug auf 100 000 Abgeur- strafmündige teilte Wohnbevölkerung
Rheinland47 228 Pfalz Saarland 13 121 Sachsen 61 198 Schleswig26 753 Holstein Thüringen 30 412 Früheres 932 352 Bundesgebiet neue Länder 154 256 (ohne ST) a BRD (ohne 1 086 608 SachsenAnhalt)
44
18
26
93,2
1,3
0,5
0,7
12 36 17
4 5 7
8 31 10
91,5 58,8 63,5
1,3 0,9 0,7
0,4 0,1 0,3
0,9 0,8 0,4
11 796
3 218
8 579
36,2 85,4
0,5 1,3
0,1 0,4
0,4 1,0
75
24
50
48,6
0,8
0,2
0,5
871
242
629
80,2
1,3
0,3
0,9
a
Sachsen-Anhalt: keine Daten Quelle: Strafverfolgungsstatistiken der Länder (Maschinentabellen R2, R4, R8) 2006 Abb. 1.1.59 (Fortsetzung)
Es gibt – dies lässt sich trotz teilweise kleiner absoluter Zahlen der jährlichen Unterbringungsanordnungen in den Ländern feststellen – erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern sowohl hinsichtlich der Unterbringungsanordnungen (vgl. Abb. 1.1.59 und 1.1.60) als auch der Bestandzahlen (vgl. Heinz 2007 b). Die erhebliche Spannweite der Anteile von Unterbringungsanordnungen sowie der fehlende statistische Zusammenhang zwischen Anordnungs- und Bestandszahlen deuten darauf hin, dass die Unterschiede sich in dem beobachteten Ausmaß weder vollständig noch überwiegend auf Unterschiede in den Tat- oder Tätermerkmalen zurückführen lassen. z Ambulante Maßregeln der Besserung und Sicherung Unter den nichtfreiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Führungsaufsicht, Berufsverbot, Entziehung der Fahrerlaubnis) dominiert die Fahrerlaubnisentziehung. Im früheren Bundesgebiet (einschließlich Berlin) wurde 2006 insgesamt 50,9% der wegen Straftaten im Straßenverkehr
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland 7
voll schuldfähig vermindert schuldfähig schuldunfähig
6
Antei (pro 100 000)
z
5 4 3 2 1 0
N=
BY NI RP HB SN HH TH NW HE BW MV SL 674 200 101 16 92 34 39 267 89 152 25 12
BE 36
BB SH 25 21
AL 4NL1 BRD1 1602 181 1783
1
) ohne Sachsen-Anhalt BY Bayern; NI Niedersachsen; RP Rheinland-Pfalz; HB Bremen; SN Sachsen; HH Hamburg; TH Thüringen; NW Nordrhein-Westfalen; HE Hessen; BW Baden-Württemberg; MV Mecklenburg-Vorpommern; SL Saarland; BE Berlin; BB Brandenburg; SH Schleswig-Holstein; AL alte Länder, NL neue Länder
Abb. 1.1.60. Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach Ländern, nach schuldfähigen, vermindert schuldfähigen sowie schuldunfähigen Personen. Anteile pro 100 000 der strafmündigen Wohnbevölkerung (1. 1. 2006) in Deutschland (ohne Sachsen-Anhalt) 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.60 2006
Abgeurteilte insgesamt
Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB insgesamt
voll schuldfähig
vermindert schuldunfähig
schuldunfähig
Insgesamt
voll schuldfähig
Bezug auf 100 000
Baden143 388 Württemberg Bayern 172 655 Berlin 59 255 Brandenburg 38 763 Bremen 12 784 Hamburg 33 172 Hessen 67 472 Mecklenburg- 23 883 Vorpommern Nieder110 345 sachsen Nordrhein- 246 179 Westfalen
Abgeurteilte
strafmündige Wohnbevölkerung
152
83
66
3
106,0
1,7
0,9
674 36 25 16 34 89 25
415 11 12 2 20 38 19
244 24 11 14 13 46 6
15 1 2 0 1 5 0
390,4 60,8 64,5 125,2 102,5 131,9 104,7
6,3 1,2 1,1 2,7 2,2 1,7 1,6
3,9 0,4 0,5 0,3 1,3 0,7 1,2
200
90
98
12
181,2
2,9
1,3
267
125
135
7
108,5
1,7
0,8
123
124
z
1 Kriminologische Grundlagen
2006
Abgeurteilte insgesamt
Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB insgesamt
voll schuldfähig
vermindert schuldunfähig
schuldunfähig
Insgesamt
voll schuldfähig
Bezug auf 100 000
Rheinland47 228 Pfalz Saarland 13 121 Sachsen 61 198 Schleswig26 753 Holstein Thüringen 30 412 Früheres 932 352 Bundesgebiet neue Länder 154 256 (ohne ST) a BRD (ohne 1 086 608 SachsenAnhalt)
Abgeurteilte
strafmündige Wohnbevölkerung
101
60
37
4
213,9
2,9
1,7
12 92 21
9 43 9
3 47 11
0 2 1
91,5 150,3 78,5
1,3 2,4 0,9
1,0 1,1 0,4
39 1602
13 862
25 691
1 49
128,2 171,8
1,8 2,7
0,6 1,4
181
87
89
5
117,3
1,8
0,9
1783
949
780
54
164,1
2,6
1,4
a
Sachsen-Anhalt: keine Daten Quelle: Strafverfolgungsstatistiken der Länder (R2, R4, R8) 2006 Abb. 1.1.60 (Fortsetzung)
Abgeurteilten die Fahrerlaubnis entzogen und 14,3% der wegen dieser Straftaten Verurteilten ein Fahrverbot erteilt. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde von diesen Reaktionsmöglichkeiten zunehmend Gebrauch gemacht. Seit Mitte der 1970er Jahre stieg der Anteil der mit einer Fahrerlaubnisentziehung oder einem Fahrverbot belegten Abgeurteilten von 52% (1976) auf 63,4% (2006) an. Mit einem Anteil zwischen 80% und 89% an allen Fahrerlaubnisentziehungen/Fahrverboten dominiert die Fahrerlaubnisentziehung, wenngleich der Anteil des Fahrverbots relativ zunimmt.
1.1.5.3 Strafgefangene Trotz des zunehmenden Gebrauchs informeller und ambulanter Sanktionen nimmt die Bundesrepublik im europäischen pönologischen Vergleich keinen besonders günstigen Platz ein. Dem am häufigsten verwendeten Indikator zufolge, der Gefangenenrate, d. h. der Zahl der Vollzugsinsassen pro 100.000 der jeweiligen Wohnbevölkerung, weist die Bundesrepublik Deutschland eine re-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland Island
40
Italien
65
Norwegen
68
Dänemark
69
Finnland
71
Schweden
79
Schweiz
79
Griechenland
91
Frankreich
92
Belgien
96
Deutschland
96
Österreich
105
Portugal
119
Niederlande
125
England u. Wales
145
Spanien
146
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90 100 110 120 130 140 150
Gefangenenrate (pro 100000)
Abb. 1.1.61 Gefangene in westeuropäischen Staaten 2006 Auszüge aus dem Datenblatt zu Abb. 1.1.61
Island Norwegen Finnland Dänemark Schweden Schweiz Griechenland Belgien Frankreich Deutschland Italien Österreich Portugal Niederlande Spanien England und Wales
z
Zahl der Gefangenen
Gefangenenrate (pro 100 000 Einwohner)
119 3097 3823 4132 7054 6111 9589 9371 57 582 78 992 59 649 8767 12 889 21 826 61 269 76 190
40,5 67,2 73 76,4 78,3 82,4 86,6 89,7 91,8 95,7 102 106,8 122,4 133,9 142,4 142,7
Quelle: SPACE I (Annual Penal Statistics of the Council of Europe) – 2006, S. 18
125
126
z
1 Kriminologische Grundlagen
lativ hohe Gefangenenrate auf (vgl. Abb. 1.1.61). Dies ist vor allem eine Folge des Gebrauchs von mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen. Im europäischen Vergleich zählt Deutschland zu jenen Ländern, die eher von Strafen mit vergleichsweise langer Dauer Gebrauch machen.
1.1.6
Zusammenfassung
z In den amtlichen Kriminalstatistiken wird nur ein Ausschnitt der Kriminalitätswirklichkeit erfasst, dessen Größe, Struktur und Entwicklung weitestgehend vom Anzeigeverhalten abhängt. Die Anzeigebereitschaft ist nach Deliktart und -schwere, nach Täter- und Opfermerkmalen unterschiedlich hoch. Demzufolge geben die verfügbaren Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken vermutlich weder den Umfang noch die Struktur noch die differenzielle Betroffenheit unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (nach Alter, Geschlecht, Region, ethnischer Herkunft etc.) wirklich genau wieder. Für eine seriöse Einschätzung und Bewertung von Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität ist es deshalb erforderlich, die amtlichen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken durch bundesweit repräsentative, regelmäßig wiederholte statistikbegleitende Dunkelfeldforschung (Täter- und Opferbefragungen) zu ergänzen. Da es nicht „das“ Messinstrument für Kriminalität gibt, sondern die verschiedenen Statistiken ihre je eigene Realität widerspiegeln, müssen die Daten dieser Messinstrumente aufeinander bezogen und untereinander verglichen werden. Schließlich sollte die Beurteilung der Kriminalitätsentwicklung nicht alleine auf kurzfristige Veränderungen, sondern vor allem auf langfristige Trends gestützt werden. z Veränderungen der registrierten Kriminalität können Folge sein von Änderungen sowohl der Kriminalitätswirklichkeit als auch des Anzeigeverhaltens. „Die Annahme, die ,Kriminalitätswirklichkeit‘, habe sich ebenso oder zumindest ähnlich wie die ,registrierte‘ Kriminalität entwickelt, ist eine Schlussfolgerung, die auf der (stillschweigenden, aber zumeist unzutreffenden) Annahme beruht, sämtliche neben der Kriminalitätsentwicklung maßgebenden Einflussgrößen auf ,registrierte‘ Kriminalität seien im Vergleichszeitraum konstant geblieben“ (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 1, 12). Wie amerikanische Befunde zeigen, ist es sogar möglich, dass die Kriminalstatistiken einen drastischen Anstieg ausweisen, obwohl im Dunkelfeld die Kriminalität stagniert oder sogar zurückgeht. Im Unterschied zu einer Reihe westlicher Staaten gibt es in Deutschland derzeit noch keine bundesweit repräsentative, regelmäßig wiederholte statistikbegleitende Dunkelfeldforschung. Aussagen über die Kriminalitätsentwicklung im Dunkelfeld sind deshalb für die Situation in Deutschland empirisch nicht hinreichend abgesichert. Regional begrenzte Wiederholungsuntersuchungen stützen freilich die Annahme, dass insbesondere bei Gewaltdelikten die Anzeigebereitschaft zugenommen hat, weshalb ein – möglicherweise er-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
z
z
z
z
heblicher – Teil des Anstiegs registrierter Gewaltkriminalität auf einer bloßen Veränderung der Anzeigebereitschaft beruhen dürfte. Die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken messen nicht „das“ Hellfeld der Kriminalität, sondern sie messen jeweils die Ergebnisse der Tätigkeit und der Sachverhaltsbewertung von Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht. Sie geben als Tätigkeitsnachweise in erster Linie Aufschluss über die in den einzelnen Abschnitten des Strafverfahrens stattfindenden Registrierungs-, Definitions- und Ausfilterungsprozesse. Erst in zweiter Linie sind sie (allerdings nur sehr grobe) Indikatoren der Kriminalitätswirklichkeit. Im Ergebnis wird – im Schnitt – nur jeder zweite Fall aufgeklärt; nur jede dritte als tatverdächtig registrierte und in der PKS gezählte Person auch verurteilt; nur bei etwas mehr als drei von hundert polizeilich ermittelten Tatverdächtigen wird schließlich eine freiheitsentziehende Sanktion verhängt. Das Strafverfahren ist aber nicht nur ein Prozess der Ausfilterung, sondern auch ein Prozess der Bewertungsänderung im weiteren Gang des justiziellen Verfahrens. Insbesondere bei schweren Delikten findet häufig eine Umdefinition im weiteren Verfahrensgang statt, und zwar regelmäßig ein „Herunterdefinieren“, da als – im weiteren Verfahrensgang erst noch zu überprüfender – Anfangsverdacht in der Regel die schwerste in Betracht kommende Deliktform registriert und in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesen wird. Drei von vier polizeilich registrierten Straftaten sind Eigentums- oder Vermögensdelikte. Schwere, die körperliche Integrität des einzelnen Bürgers beeinträchtigende Straftaten sind – quantitativ betrachtet – seltene Ereignisse. Auf Raub/räuberische Erpressung entfielen 2006 0,9% aller polizeilich registrierten Straftaten, auf Vergewaltigung/sexuelle Nötigung 0,1%, auf Mord/Totschlag 0,04%. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Opfergefährdung durch Mord/Totschlag nicht zugenommen; dies gilt auch für Sexualmorde an Kindern; seit 1989 sind auch die Fälle von Raub und räuberischer Erpressung rückläufig. Die im langfristigen Trend zu beobachtende Zunahme polizeilich registrierter Kriminalität beruht weitgehend auf der Entwicklung bei Eigentums- und Vermögensdelikten, überwiegend im Diebstahlsbereich. Zugenommen hat freilich auch registrierte Gewaltkriminalität, deren Anteil an den insgesamt registrierten Fällen von 2,7% (1963) auf 3,4% (2006) stieg. Diese Zunahme beruht auf gefährlicher/schwerer Körperverletzung sowie Raub/räuberische Erpressung. Relativiert wird Gewaltkriminalität durch den überproportional hohen Versuchsanteil, insbesondere bei Mord/Totschlag. Relativiert wird diese weiter durch Befunde aus Aktenanalysen, wonach in den letzten Jahren vermehrt „minder schwere“ Fälle angezeigt und registriert worden ist. Opfer von Gewaltdelikten sind überwiegend Gleichaltrige. Insgesamt gesehen gehen die Täter-Opfer-Konstellationen eher zu Lasten von jungen Menschen. Opfer von Gewalt Erwachsener sind häufig junge Menschen, Opfer von Gewalt junger Menschen sind in der Regel Gleichaltrige. Un-
127
128
z
1 Kriminologische Grundlagen
ter Berücksichtigung auch der familiären Gewalt sind junge Menschen sogar weitaus häufiger Gewaltopfer als Gewalttäter. z Überrepräsentiert als Tatverdächtige wie als Verurteilte sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, junge Menschen, insbesondere junge Männer. Relativiert wird die Überrepräsentation junger Menschen unter den Tatverdächtigen wie unter den Verurteilten, wenn Art und Schwere der verübten Delikte betrachtet werden. Der Anteil der leichten Delikte ist bei Kindern und bei Jugendlichen am höchsten. Polizeilich registrierte Jugendkriminalität von Deutschen hat insbesondere seit Anfang der 1990er Jahre deutlich zugenommen. Diese Entwicklung wird indes durch die Daten der Strafverfolgungsstatistiken nur teilweise bestätigt, denn die Schere zwischen Tatverdächtigenbelastungszahl und Verurteiltenbelastungszahl wurde größer. Relativiert wird dieser Anstieg registrierter Jugendkriminalität durch den Befund, dass justizielle Auffälligkeit wegen jugendtypischer Verfehlungen – im Regelfall – im Lebenslängsschnitt ein nicht häufig (Episode) oder allenfalls ein in einem zeitlich begrenzten Lebensabschnitt gehäuft auftretendes Ereignis ist (passageres Phänomen) und im Regelfall nicht in eine kriminelle Karriere mündet. „Die Altersabhängigkeit der Straffälligkeit Jugendlicher und ein häufiger Spontanabbruch krimineller Aktivitäten selbst nach wiederholter offizieller Auffälligkeit stehen . . . außer Frage“ (Lösel 1995, S. 38). z Frauen sind mit registrierter Kriminalität deutlich geringer belastet als ihre männlichen Altersgenossen. Es gibt kein Merkmal, das so stark hinsichtlich offiziell registrierter und bestrafter Kriminalität unterscheidet wie das Merkmal Geschlecht. Frauen werden aber nicht nur seltener als ihre männlichen Altersgenossen registriert, sondern sie werden, wenn sie registriert werden, vor allem wegen Delikten registriert, die im Schnitt deutlich weniger schwer sind als die der Männer. Die Tatverdächtigenbelastungszahlen für Frauen sind in deutlich geringerem Maße gestiegen als die ihrer jeweiligen männlichen Altersgenossen. Auf jeder Stufe des Strafverfahrens wird der Anteil von Frauen geringer. Dies ist freilich keine Folge eines „Frauenbonus“ der Justiz. Denn bei Kontrolle von Deliktart, Deliktschwere und Vorstrafenbelastung verschwinden die Unterschiede oder werden nahezu bedeutungslos. Selbst dort, wo Unterschiede noch feststellbar sind, sind diese nicht so groß, um das Ausmaß der Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung zu erklären. z Ausweislich der PKS ist von einer höheren Belastung als auch von einem, insbesondere in den 1990er Jahren erfolgten überproportionalen Anstieg polizeilich registrierter Kriminalität von Nichtdeutschen im Vergleich zu den ansässigen Deutschen auszugehen. Das statistische Bild der Belastung der Nichtdeutschen wird freilich durch zahlreiche Verzerrungsfaktoren zu Ungunsten der Nichtdeutschen beeinflusst; hierzu zählen insbesondere ausländerspezifische Straftaten, Unterschiede in der Bevölkerungs- und Sozialstruktur sowie eine systematische Überschätzung der Belastungszahlen aufgrund einer Untererfassung von Ausländern in der Wohnbevölkerung. Aber selbst bei einer Kontrolle der statis-
1.1 Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland
z
tischen Verzerrungsfaktoren, durch die diese Höherbelastung bereits deutlich reduziert wird, werden noch keine völlig vergleichbaren Gruppen gebildet. Bislang wurden in keiner Untersuchung sämtliche Verzerrungsfaktoren, insbesondere hinsichtlich der sozialen Lage und der sozialen Kontrolle, methodisch einwandfrei berücksichtigt, weshalb eine eindeutige empirische Klärung der Kriminalitätsbelastung von Zuwanderern im Vergleich zu Einheimischen noch aussteht. Die Staatsangehörigkeit ist jedoch weder ein kriminogener noch ein kriminoresistenter Faktor. Deshalb wird in der neueren Forschung zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden. Die ersten, von einzelnen Landeskriminalämtern vorgenommenen Sonderauswertungen sind nicht sehr belastbar, weil keine einheitliche Definition verwendet wird und sie deshalb auch nicht zu Zahlen von Personen mit Migrationshintergrund in der Wohnbevölkerung in Beziehung gesetzt werden können. Schülerbefragungen der neunten Jahrgangsstufe zeigen, dass bei Bagatelldelikten und leichterer Eigentumskriminalität kein Unterschied besteht. Uneinheitlich sind die Ergebnisse hinsichtlich Gewaltkriminalität. In den meisten Studien gaben vor allem türkischstämmige Jugendliche und Befragte aus dem ehemaligen Jugoslawien zum Teil bis zu zweimal häufiger als die einheimischen Schüler an, ein Gewaltdelikt begangen zu haben; sie wiesen zudem höhere Mehrfachtäteranteile auf. In der Duisburger Schülerbefragung hingegen war zwischen türkischstämmigen und einheimischen Jugendlichen kaum ein Unterschied feststellbar; auch unter den Mehrfachtätern waren sie nicht überrepräsentiert. Hinsichtlich der Aussiedler zeigt eine neuere, auf Baden-Württemberg begrenzte Studie, dass es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einen deutlichen Anstieg der Prävalenzraten gab, der überwiegend auf die seit 1991 zugezogenen jungen Spätaussiedler zurückging. z Die Staatsanwaltschaft ist in empirischer Betrachtung eine Einstellungsbehörde. Von den Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatverdächtige wird derzeit, bleiben die verfahrenstechnischen Einstellungen unberücksichtigt, ein Drittel eingestellt, weil – entgegen der Auffassung der Polizei – aus Sicht der Staatsanwaltschaft kein hinreichender Tatverdacht bestand. Ein weiteres Drittel wird aus Opportunitätsgründen eingestellt, lediglich das restliche Drittel wird durch Anklage im weiteren Sinne oder durch Antrag auf Erlass eines Strafbefehls erledigt. Die auf steigenden Tatverdächtigenzahlen beruhende Zunahme des Geschäftsanfalls führte bei den Staatsanwaltschaften zu einer verfahrensökonomisch bedingten Änderung der Erledigungsstruktur. Aufgefangen wurde der Anstieg des Geschäftsanfalls fast ausschließlich durch vermehrte Opportunitätseinstellungen, insbesondere durch Einstellungen ohne Auflagen/Weisungen. Die aus der Sicht der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik bedrohlich „steigende Kriminalität“ wurde durch Einstellung „erledigt“, und zwar ganz überwiegend als Bagatelle. Innerhalb der durch Anklage oder Strafbefehlsantrag erledigten Verfahren ging der Anteil der Anklagen zu Gunsten des verfahrensökonomischen,
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weil schriftlichen Strafbefehlsverfahrens zurück. Die mündliche Hauptverhandlung ist inzwischen die Ausnahme. z Neben dem vermehrten Gebrauch von Einstellungen aus Opportunitätsgründen ist die Sanktionierungspraxis sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch im Jugendstrafrecht durch den zunehmenden Gebrauch ambulanter formeller Sanktionen gekennzeichnet. Von sämtlichen nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht Verurteilten wurden 2006 69,3% zu einer Geldstrafe verurteilt. Weitere 12,9% wurden zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt, 9,1% nach Jugendstrafrecht zu ambulanten Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln. Das volle Ausmaß der Zurückdrängung stationärer (2006: 8,7% an allen Verurteilten) zu Gunsten ambulanter Sanktionen zeigt sich indes erst, wenn auch die Einstellungen gemäß §§ 153, 153 a, 153 b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt werden. Denn dann dürften gegenwärtig (Stand: 2006) lediglich noch 3,6% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein. z Von den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung macht die Praxis insgesamt immer noch sehr zurückhaltend Gebrauch, aber mit deutlich steigender Tendenz. Noch nie in der Geschichte der (alten Länder der) Bundesrepublik Deutschland wurde bei so vielen Personen strafgerichtlich eine Unterbringung gemäß §§ 63, 64 StGB angeordnet und noch nie befanden sich zum Stichtag so viele Personen im Vollzug dieser freiheitsentziehenden Maßregeln. Unter den nichtfreiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung dominiert die Fahrerlaubnisentziehung.
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Delinquenz im Lebensverlauf K. Boers
Die krimologische Längsschnittforschung stellt nicht nur eines der ältesten und umfangreichsten Forschungsgebiete der Kriminologie dar, sie ist aus nahe liegenden Gründen auch eines der bedeutendsten kriminologischen Forschungsfelder: Es geht um nicht weniger als die Entwicklungsformen und Entstehungsbedingungen der Kriminalität sowie die Auswirkungen sozialer Kontrollinterventionen im Lebensverlauf derselben Personen. Die Anfänge der kriminologischen Längsschnittforschung liegen in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit wiederholt durchgeführten Untersuchungen von Kontrastgruppen delinquenter und nichtdelinquenter Jugendlicher in St. Louis (Robins 1966), Cambridge, Massachusetts (McCord et al. 1959) und insbesondere mit der Crime and Causation Study des Ehepaares Glueck (Glueck u. Glueck 1950), die ebenfalls in Massachusetts durchgeführt wurde. Auch die erste deutsche kriminologische Längsschnittstudie, die Mitte der 60er Jahre begonnene Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung, folgte einem solchen Forschungsdesign mit Jungerwachsenen (Göppinger 1983). Das Forschungsprogramm dieser Studien war bekanntlich nicht explizit theoriegeleitet, sondern multifaktoriell konzipiert, was in aller Regel eine Hauptorientierung an der Persönlichkeitsanlage bedeutete. Erkenntnistheoretisch folgten diese Studien einem „naiven Induktivismus“ (Chalmers 2001, S. 48), der Zwillingsschwester des Multifaktorialismus: Aus den Zusammenhängen der Vielzahl erhobener Faktoren mit der Delinquenz glaubte man die Gesetzmäßigkeiten der Kriminalitätsentstehung ableiten zu können. Geprägt war dieses Forschungsprogramm von einem positivistischkausalen Wissenschaftsoptimismus. Anhand der aufgedeckten Ursachen delinquenten Verhaltens wollte man dieses vorhersagen und (im Sinne von Repression, Prävention und/oder Behandlung) kontrollieren können. Wie vermeintlich in den Naturwissenschaften die „Natur“, so sollte auch die in der psychischen oder sozialen „Natur“ vorgegebene Kriminalität 1 erforscht werden. Kein Zweifel, dass ein interdisziplinäres und noch junges Fach mit einem am naturwissenschaftlichen Positivismus orientierten Erkenntnisprogramm auch seine Eigenständigkeit und Wissenschaftlichkeit sowohl gegenüber den so genannten Bezugswissenschaften als auch gegenüber kritischen Effizienzerkundigungen aus der Politik und der Praxis zu dokumentieren trachtete. Angesichts der Komplexität menschlichen Verhaltens und des Sozialen konnten solche durch die Erkenntnistrias des Erklärens, Vorhersagens und Kontrollierens hochgesteckten Erwartungen jedoch bislang nicht erfüllt werden.
1
Dieses „Vorgegebensein“ ist mit „positivistisch“ gemeint.
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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Die Hoffnung, zu einem frühen Zeitpunkt und für einen längeren Lebensabschnitt verlässliche und damit praxistaugliche Verfahren der individuellen Prognose entwickeln zu können, läuft letztlich (zumal auf der Grundlage eines positivistischen Kausalmodells) auf eine wissenschaftliche Überforderung hinaus. Möglich erscheint indessen, dass die immer nur für bestimmte Gruppen zu erlangenden statistischen Befunde (Aggregate) zur Verlaufsklassifizierung und deren inhaltliche Zusammenhänge einen Wahrscheinlichkeitsrahmen zu erwartender und (im Sinne eines negativen Ausschlusses) vor allem auch nicht zu erwartender Entwicklungen abstecken, der die Strukturierung eines kontinuierlichen Risikokalküls individueller Verläufe systematisch unterstützen kann.2 Die wie in kaum einem anderen kriminologischen Forschungsbereich bestehende Verbindung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung ist gewiss ein Grund dafür, dass die sehr aufwändigen Längsschnittstudien bis heute in großem Umfang fortgeführt werden. Die Untersuchungen haben mittlerweile zu zahlreichen bedeutsamen Erkenntnissen geführt, die in erster Linie auf dem entscheidenden Vorteil dieser Untersuchungsmethode beruhen: Längsschnittstudien sind per definitionem dynamisch orientiert. Es ist damit grundsätzlich möglich, sowohl die Veränderungen menschlicher Einstellungen und menschlichen Verhaltens als auch den Wandel des gesellschaftlichen Kontextes und der sozialen Kontrollstrukturen zu analysieren. Längsschnittstudien mit denselben Probanden (so genannte Panel) ermöglichen die Analyse sowohl interindividueller Gruppenvergleiche als insbesondere auch intraindividueller Entwicklungen. Demgegenüber gehen statische Ansätze davon aus, dass delinquentes Verhalten auf einer stabilen anlage- beziehungsweise sozialbedingten kriminellen Neigung beruht (s. einerseits Wilson u. Herrnstein 1985 sowie andererseits Gottfredson u. Hirschi 1990); konsequenterweise könnte dies bereits in einmaligen Querschnittserhebungen festgestellt werden.3 Die neuere kriminologische Längsschnittforschung begann Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre mit den Philadelphia-Geburtskohortenstudien, die anhand von Hellfelddaten erstmalig delinquente Verläufe systematisch statistisch beschrieben haben (Wolfgang et al. 1972) und ganz wesentlich zur Entwicklung deskriptiver Karriereparameter durch das „Panel on Criminal Careers“ beitrugen (Blumstein et al. 1986). Die folgenden Studien konzentrierten sich in der Regel auf zwei Analysebereiche: zum einen ebenfalls auf die Deskription und Klassifikation des delinquenten Verlaufs, zum anderen aber auch ganz wesentlich auf dessen inhaltliche Erklärung. 2
3
Freilich bleiben auch damit die Probleme mit der hohen Rate falscher Positiver bei niedrigen Basisraten (s. unten 1.2.1) sowie mit einem forensisch in der Regel schlechter als in wissenschaftlichen Untersuchungen aufzuklärenden Prognosesachverhalt bestehen. Die Frage „Querschnitt- oder Längsschnitterhebungen?“ war ein zentraler methodologischer Streitpunkt in der Ende der 80er Jahre im Wesentlichen zwischen den Vertretern des Karriereparadigmas (Blumstein, Farrington u. a.) auf der einen sowie Hirschi und Gottfredson auf der anderen Seite heftig geführten Age-crime-Debatte (zusammenfassend Mischkowitz 1993, S. 31, mwN).
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Legt man Letzteres zu Grunde, dann kann man mit persönlichkeitsorientierten sowie soziologischen Studien zwei Hauptrichtungen konzeptionell unterscheiden. In den persönlichkeitsorientierten Untersuchungen lebt der Multifaktorialismus der klassischen Untersuchungen (als Risikofaktorenforschung) fort, allerdings auf methodisch erheblich elaborierterem Niveau. Die soziologischen Studien unterscheiden sich von den persönlichkeitsorientierten dadurch, dass sie ausdrücklich theoriegeleitet sind; man kann Letztere des Weiteren in ätiologische, allein delinquentes Verhalten erklärende sowie konstruktivistische, formelle Kontrollinterventionen ausdrücklich berücksichtigende Analysen differenzieren. Beide Richtungen unterscheiden sich auch in den Verlaufsannahmen für Intensivtäter: Während persönlichkeitsorientierte Studien bei dieser Tätergruppe stärker von einer bis weit ins Erwachsenenalter reichenden oder gar lebenslangen Kontinuität der Delinquenz ausgehen, nehmen soziologische Studien mit dem beginnenden Erwachsenenalter auch erhebliche Änderungen, insbesondere Abbrüche einer delinquenten Karriere an. Gleichwohl wurde mittlerweile in der „developmental“ oder „life-course criminology“ ein gemeinsamer konzeptioneller Bezugspunkt gefunden. Gemeinsam ist beiden Richtungen des Weiteren der inzwischen hohe (und sehr arbeitsaufwändige) methodische Standard. Sie beruhen auf prospektiven, die Entwicklung der Probanden in regelmäßigen Erhebungswellen zeitgleich beobachtenden Panelanalysen, denen in aller Regel eine repräsentative Stichprobe zu Grunde liegt und die sowohl die Dunkelfeld- als auch die Hellfelddelinquenz erheben.4 Im Folgenden werden zunächst die deskriptiven Karrierestudien (1.2.1) sowie die Karriereparameter (1.2.2) kurz dargestellt und wird sodann anhand ausgewählter Untersuchungen auf die neueren Entwicklungen in der persönlichkeitsorientierten Längsschnittforschung (1.2.3) sowie, nach einer Erläuterung der „developmental criminology“ (1.2.4), auf die kriminalsoziologischen Längsschnittstudien (1.2.5) eingegangen.
1.2.1 Deskriptive Karrierestudien Die deskriptiven Karrierestudien konzentrierten sich in erster Linie auf eine mathematisch exakte Beschreibung des Kriminalitäts- und vor allem des Karriereverlaufs anhand zumeist offizieller, teilweise auch selbstberichteter Delinquenzdaten. Den Ausgangspunkt dieser Generation von Längsschnittstudien bildete die Ende der 60er Jahre begonnene Geburtskohortenstudie des gesamten Jahrgangs 1945, später auch 1958, aus Philadelphia (vgl. Wolfgang 4
Ausführliche Darstellungen bei Boers 1997 und Boers 2009. Eine Zusammenstellung nahezu aller kriminologischen Längsschnittstudien (mit Ausnahme der deutschen Untersuchungen) findet sich bei Loeber et al. 1998, S. 12 ff., s. auch Piquero et al. 2003, S. 364 f. Für einen ausgewählten inhaltlichen Überblick s. Benson 2002, S. 20 ff. sowie Thornberry u. Krohn 2003 a und Schneider 2000. Eine Bestandsaufnahme von sieben bedeutenden anglo-amerikanischen Untersuchungen enthält der Sammelband von Thornberry u. Krohn 2003 a, b.
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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et al. 1972; Tracy et al. 1990). Die Resultate der Philadelphia-Studien waren in mancherlei Hinsicht unerwartet und stützten in der Folgezeit divergente kriminalpolitische Strategien sowohl punitiver als auch nichtreaktiver oder restitutiver Art (vgl. Bettmer et al. 1998; Weitekamp et al. 1996, S. 17 ff.). Zum einen deuteten die Ergebnisse auf Phänomene der Ubiquität und Spontanbewährung selbst im Hellfeld hin: 35% aller Probanden waren der Polizei bis zum 18. Lebensjahr mindestens einmal aufgefallen. Davon hatte die Hälfte einen zweiten, davon wiederum zwei Drittel einen dritten Polizeikontakt; bis zur sechsten Auffälligkeit lag die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei mehr als 70% und danach mit Abweichungen bis zum 15. Kontakt bei rund 80% (Wolfgang et al. 1972, S. 163). Matrizen der Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den einzelnen Delikten und Deliktarten ergaben einen Zufallsprozess (Markov-Prozess 1. Ordnung), aufgrund dessen Annahmen über Wiederholungskontinuitäten oder Deliktspezialisierungen im Verlauf einer kriminellen Karriere insgesamt nicht bestätigt werden konnten (ebd., S. 175 ff.). Des Weiteren ergab eine Analyse der Sanktionseffekte, dass Probanden, deren Verfahren nach einer ersten oder auch späteren Festnahme formlos erledigt worden waren (Einstellung oder Ermahnung), einen geringeren Anteil weiterer Festnahmen aufwiesen als Probanden, bei denen das Verfahren formell erledigt worden war (von ambulanten Maßnahmen anderer Behörden bis hin zu Geld- oder Freiheitsstrafe; ebd, S. 226 ff.). Solche Befunde spielten eine nicht unerhebliche Rolle in der (deutschen) Diskussion über die Einführung der Diversion (vgl. Kerner 1986, S. 204 ff.; 1993). Zum anderen wurde ein weiteres Ergebnis dieser Studien als empirisches Argument für die repressive Strafpolitik der „selective incapacitation“ betrachtet: dass nämlich die mit steigenden Polizeikontakten geringer werdende Anzahl von so genannten Persistenten den größten Teil der Registrierungen aufwies. Probanden mit fünf und mehr Festnahmen wurden als „chronic offenders“ bezeichnet (N = 627). Sie umfassten 6% der Kohorte beziehungsweise 18% der 3475 Delinquenten, waren aber mit 52% aller polizeilich registrierten sowie 63% der so genannten „indexoffenses“ bis zum Alter von 18 Jahren auffällig geworden (Wolfgang et al. 1972, S. 88; Tracy et al. 1990, S. 90). Über die Jahre betrachtet erwies sich in den Vereinigten Staaten von allen Befunden der Philadelphia-Studien der „chronic offender“ als die kriminologisch und kriminalpolitisch bedeutendste „Entdeckung“ („the most important and enduring finding“, Tracy et al. 1990, S. 15); in Deutschland waren es eher die Bestätigungen der Ubiquität und Spontanbewährung sowie die relative Austauschbarkeit der Sanktionen im Hinblick auf die weitere Delinquenzentwicklung. Dabei erscheint die Konstruktion des „chronic offender“ als recht willkürlich. Es wurde nie theoretisch erläutert, warum gerade fünf polizeiliche Registrierungen und zudem ohne Ansehung der Deliktart den konstitutiven Schnittpunkt bildeten; ein Proband konnte also mit nur mindestens fünf Diebstahldelikten, aber eben auch mit mindestens fünf Gewaltdelikten als „chronic“ aufgefallen sein. Das Konzept des „chronischen“ oder „gewohnheitsmäßigen“ Täters impliziert die Begehung schwerer
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Delinquenz, entweder von vornherein oder – was wahrscheinlicher ist – im Rahmen eines Eskalationsprozesses im Karriereverlauf. In beiden Kohortenstudien konnten solche Eskalationseffekte anhand der von einer polizeilichen Festnahme zur nächsten zunehmenden Deliktschwere jedoch nur der Tendenz nach beobachtet werden und scheinen mit dem Alter abzunehmen (s. auch Cohen 1986, S. 402 ff.). Diese Eskalationstendenzen wurden vor allem durch eine Schwerezunahme bei den Gewaltdelikten bestimmt und waren in der zweiten Studie (auch wegen des höheren Anteils an Gewaltdelikten) ausgeprägter als in der ersten. Gleichwohl folgten die Eskalationsprozesse, insbesondere dann, wenn spezifische Delikte untersucht wurden, keinem eindeutig feststellbaren Muster, sondern waren durch unregelmäßige Schwankungen gekennzeichnet (Wolfgang et al. 1972, S. 165 ff.; Tracy et al. 1990, S. 92 ff., 159 ff., 163 ff.): „We can only conclude that offense escalation was evident in both cohorts . . . , but we were unable to identify possible causes“ (Tracy et al. 1990, S. 174). Schon angesichts dieser Befunde erschien ein kriminologisches und kriminalpolitisches Konzept des „chronic offender“ äußerst fraglich (kritisch zur „Chronics“-Klassifizierung aufgrund von Reanalysen der Philadelphia-Studien: Weitekamp et al. 1996; Schubert 1997). Gleichwohl avancierte in den letzten zwanzig Jahren die Beschreibung und Suche nach dem „chronic offender“ zu einem zentralen Anliegen und, zumindest den eingesetzten Ressourcen nach, zu einem Hauptforschungsfeld der amerikanischen Längsschnittforschung. Die zentralen Befunde dieser Forschungsrichtung wurden in den 80er Jahren im vom National Research Council eingesetzten „Panel on Research on Criminal Careers“, dem die bekanntesten amerikanischen und britischen Längsschnittforscher angehörten, rekapituliert und konzeptionell zusammengefasst (Blumstein et al. 1986). Neben der verdienstvollen Herausarbeitung der Karriereparameter konzentrierte sich das Panel vor allem auf die Frage, inwieweit durch die negativ-spezialpräventive Inhaftierung der „chronic offender“ („incapacitation through incarceration“) eine Reduzierung der Kriminalitätsraten erreicht werden kann (ebd., S. 12 ff.). Aufgrund seiner Untersuchungen kam das Panel indessen zu dem Ergebnis, dass keine der zahlreichen Incapacitationstrategien eine „dramatische Reduzierung“ der Kriminalitätsraten herbeiführen könne. Immerhin sei aber mit einer „selective incapacitation“ der kleinen „High-risk“-Populationen eine Reduktion von 5% bis 10% der Raubdelikte bei einer Erhöhung des entsprechenden Insassenanteils um 10 bis 20% zu erreichen (ebd., S. 142 f.). Die dem zu Grunde gelegte Policyannahme beruhte auf einer Verdoppelung der Strafzeit für so klassifizierte „high-risk-offender“ (z. B. von vier auf acht Jahre), während die „Low-risk“-Klassifizierten nur maximal ein Jahr erhalten sollten (ebd., S. 128 ff.). Schon zuvor hatte die RAND-Corporation anhand von Insassenstudien in Kalifornien und Texas dem amerikanischen Justizministerium ähnliche Reduktionsquoten der schweren Kriminalität, zum Teil auch, bei erfolgreicher Selektion der Chronics, der Insassenpopulation vorhergesagt (Greenwood u. Abrahamsee 1982, S. 78 ff.), musste aber aufgrund einer späteren Nach-
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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untersuchung feststellen, dass dies wegen einer nicht gelungenen Prognose der „high-rate-offender“ „overly optimistic“ war (Greenwood u. Turner 1987, S. 49). In der Tat liegen das methodische und eines der rechtsstaatlichen Probleme der „selective incapacitation“ in einer hinlänglich exakten individuellen Prognose der „high-risk-offender“. Sie ist letztlich wegen der hohen Anzahl „falscher Positiver“ (delinquent prognostiziert, aber konform verhalten), die aus verteilungslogischen Gründen bei deren geringen Basisraten zu erwarten sind, wohl nicht zu leisten, sodass das Konzept der „selective incapacitation“ wissenschaftlich schon seit einiger Zeit als gescheitert gilt (s. Farrington u. Tarling 1985, S. 6; Kühl u. Schumann 1989; Haapanen 1990, S. 142; Hermann u. Jansen 1990; Schumann 1995; zur Kriminalprognose s. Dahle 2006, S. 1–67). Medien, Politik und öffentliche Meinung haben sich davon in 26 amerikanischen Bundesstaaten freilich nicht mehr beeindrucken lassen und so gipfelte die „selective incapacitation of chronic offenders“ im Zeitgeist einer neuen Punitivität (Garland 2001; Sack 2004) unter anderem in den „three-strike policies“ 5 (Zimring et al. 2001) mit der unter anderem verheerenden Folge einer seit 1980 mehr als vierfachen Steigerung der U. S.amerikanischen Gefangenenpopulation auf 1 421 911 erwachsene Insassen mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr im Jahr 2004 (Bureau of Justice Statistics 2005, S. 2).6
1.2.2 Karriereparameter Das „Panel on Criminal Careers“ hat zur Beschreibung delinquenter Verläufe vier Grundphänomene mit insgesamt sechs quantitativen Parametern herausgearbeitet (grundlegend: Blumstein et al. 1986, S. 17 ff., 31 ff.; Cohen 1986): die Verbreitung der Delinquenz (Prävalenz), die Intensität der Deliktbegehungen (Täterinzidenz), die Dauer (Beginn und Abbruch) sowie die Schwere (Spezialisierung und Eskalation) der Delinquenzentwicklung.
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Zum Beispiel müssen nach kalifornischem Strafrecht seit 1994 bereits zweimal wegen eines schweren Delikts (z. B. Wohnungseinbruch) oder einer Gewalttat Verurteilte bei einer dritten (leichteren) Tat (sog. „felony“, z. B. einfacher Diebstahl) zu 25 Jahren oder lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden, wovon mindestens 20 Jahre zu vollstrecken sind. Erfolgt die leichtere Tat als zweite Tat, dann ist hierfür die Strafe zu verdoppeln. Als Folge dieser Gesetzgebung ergingen in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Vorschriften mehr 25-jährige oder lebenslange Verurteilungen wegen Marihuanabesitzes als zusammengenommen wegen Mordes, Vergewaltigung oder Geiselnahme (Zimring et al. 2001, S. 7 ff.). Nimmt man die „local jail-inmates“ (Freiheitsstrafen unter einem Jahr und Untersuchungshaft) hinzu, dann betrug die Gefangenenzahl am Jahresende von 2004 2 135 901, was einer Gefangenenrate von 724 auf 100 000 Einwohner entspricht (ebd.); berücksichtigt man des Weiteren die 102 338 Jugendstrafgefangenen sowie die Gefangenen der „territorial prisons“, Einwanderungsbehörde, Armee, „indian countries“ und des Zolls, so beträgt die Gefangenenzahl: 2 267 787 (ebd., S. 1). In Deutschland betrug die Gefangenenrate am 31. März 2005 (ähnlich wie für Frankreich, Belgien und Italien): 97 bei insgesamt 80 143 Straf-, U-Haft- und Jugendstrafgefangenen (www.prisonstudies.org).
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Der derzeitige Erkenntnisstand lässt sich im Überblick wie folgt zusammenfassen (s. vor allem Mischkowitz 1993, S. 60 ff.; Piquero et al. 2003, S. 377 ff.; Boers 2009; auf weitere Befunde wird auch in den folgenden Abschnitten eingegangen): z Prävalenz (vom Karrierepanel „participation“ genannt) bezeichnet die Verbreitung von delinquenten Personen als deren relativer Anteil in einer Population.7 Im immer wieder festgestellten glockenförmigen Altersverlauf der Prävalenzraten (steiler Anstieg und Rückgang im Verlauf des Jugend- und Heranwachsendenalters) spiegeln sich die Phänomene der Ubiquität und Spontanbewährung der Jugenddelinquenz wider. z Täterinzidenz (vom Karrierepanel „individual frequency rate“ genannt) gibt die Anzahl der Taten, Festnahmen oder Verurteilungen eines aktiven (also vor allem nicht inhaftierten) Täters in einem bestimmten Zeitraum an (in der Regel innerhalb eines Jahres).8 Hiermit kann die individuelle Intensität der Deliktbegehung, polizeilichen Registrierung oder Verurteilung und ausdrücklich nicht die Belastung der Bevölkerung mit Straftaten, Registrierungen oder Verurteilungen erfasst werden; für Letztere ist in Anlehnung an die Epidemiologie der Begriff der Inzidenz gebräuchlich.9 Der Vorteil dieser Neudefinition ist mithin, dass anhand der Täterinzidenzrate die für Karriereanalysen bedeutsame Unterscheidung zwischen einmaligen Tätern und unterschiedlichen Graden der Mehrfachtäterschaft getroffen werden kann. Eine einheitliche Klassifikation des Mehrfach- oder insbesondere des Intensivtäters leitet sich hieraus nicht automatisch ab. Sie kann, wie bislang üblich, deterministisch als Mindestanzahl begangener Delikte (z. B. mehr als fünf selbstberichtete Gewaltdelikte im letzten Jahr) oder, wie neuerdings, probabilistisch, anhand latenter Klassenanalysen erfolgen, die inzwischen zu einem Standard für die Analyse von Delinquenztrajektorien geworden sind (Nagin 2005; Reinecke 2006, 2007). 10 Die unterschiedlichen Annahmen zum Altersverlauf dieser Rate haben intensiv geführte Kontroversen ausgelöst. Vom
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In der polizeilichen Kriminalstatistik handelt es sich z. B. um die Tatverdächtigenbelastungsziffer: Tatverdächtige bezogen auf 100 000 Einwohner. Für die Täterinzidenz der Dunkelfeldkriminalität hat das Karrierepanel den Kennwert k und für die Hellfeldkriminalität (polizeiliche Registrierungen, Festnahmen, Verurteilungen) den Kennwert l eingeführt. Ein bekanntes Beispiel für eine Inzidenzrate ist demnach die Kriminalitätshäufigkeitsziffer der polizeilichen Kriminalstatistik: Anzahl der jährlich registrierten Taten bezogen auf 100 000 Einwohner. – Die Täterinzidenzrate lässt sich durch Division der Inzidenzdurch die Prävalenzrate bestimmen, allerdings nur näherungsweise, da wegen der unbekannten Haftzeiten die Raten nicht für aktive Täter angepasst werden können (Blumstein et al. 1986, S. 57). Da Jugendliche seltener inhaftiert werden, dürfte sich bei ihnen der Mangel einer solchen Korrektur nicht gravierend auswirken. Zur Definition und Klassifikation des Mehrfach- beziehungsweise Intensivtäters sowie dessen persistenten Verlauf („Kriminelle Karriere“), s. Boers 2008.
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Karrierepanel sowie innerhalb der persönlichkeitsorientierten Kriminologie wurden für Intensivtäter über einen längeren Zeitraum gleich bleibend hohe Täterinzidenzraten (Persistenz) angenommen und damit der bis dahin als universell gültig erachtete glockenförmige Altersverlauf der Kriminalität (für Intensivtäter) in Frage gestellt. Die Gegenposition vertraten Ende der 80er Jahre Gottfredson und Hirschi in der so genannten Age-crime-debate (für alle Raten und alle Gesellschaften dasselbe, letztlich biologisch bedingte glockenförmige Verlaufsmuster) 11; sie wird aktuell in der soziologischen Längsschnittforschung vor allem von Sampson und Laub sowie von Thornberry formuliert (ein Abbruch der Karriere ist spätestens ab Mitte Zwanzig selbst bei chronischen Tätern wesentlich wahrscheinlicher als deren Fortsetzung, s. 1.2.3.1). z Vor allem der frühe Beginn delinquenter Auffälligkeiten soll nach bisherigem Verständnis einer der bedeutendsten Prädiktoren für eine längere kriminelle Karriere sein. Neuere Befunde stellen eine solch herausragende Bedeutung des „early onset“ jedoch in Frage und gehen allenfalls von einer moderaten Bedeutung aus (s. 1.2.3.1). z Einen Abbruch nahm das Karrierepanel aus einem statischen Verständnis heraus erst bei einer endgültigen Beendigung der Karriere („termination“) an. Der Karriereabbruch wurde bis Mitte der 90er Jahre kaum untersucht; zum einen weil die Forschung auf die Ursachen des Beginns und der Fortdauer von kriminellen Karrieren konzentriert war, zum anderen, weil bis dahin kaum Längsschnittdaten für die dritte und vierte Lebensdekade vorlagen. In jüngster Zeit ist die theoretische und empirische Erforschung des Abbruchs jedoch sehr in Bewegung geraten. Nach neuerem Verständnis wird der Abbruch als Prozess einer allmählichen Verringerung delinquenten Verhaltens begriffen, der – in je nach Standpunkt unterschiedlicher Gewichtung – sowohl von strukturellen Änderungen der sozialen Einbindung (z. B. durch stabile neue Partnerbeziehungen oder Arbeitsverhältnisse) als auch durch eine bewusste Reformulierung des persönlichen Selbstkonzeptes ausgelöst und getragen werden soll (s. Mischkowitz 1993; Weitekamp et al. 2000; Laub u. Sampson 2001; Maruna u. Farrall 2004; Mulvey et al. 2004, mwN und 1.2.3.1, 1.2.5.1). z Unter Spezialisierung wird die Tendenz zur wiederholten Begehung desselben Delikts oder von Delikten derselben Deliktgruppe verstanden, wobei bei Letzteren eine Spezialisierung wegen der größeren Wiederholungschance eher zu erwarten ist. Spezialisierungsprozesse wurden bislang vornehmlich anhand der in einer Übergangsmatrix enthaltenen Übergangswahrscheinlichkeiten von einem zum nächsten Delikt analysiert. Solche Analysen konnten praktisch bisher nur mit Hellfelddaten durchgeführt werden, da nur diese mit dem jeweiligen Tatzeitpunkt eine genaue zeitliche Anordnung der einzelnen Ereignisse erlauben; sie lassen
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s. Fußnote 3.
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hinsichtlich der eigentlich interessanten Spezialisierung des Täterverhaltens im Dunkelfeld allenfalls Vermutungen zu.12 Folgt man dem Karrierepanel, dann soll mit einer wiederholten Deliktbegehung auch eine Deliktspezialisierung eintreten und Spezialisierung im Jugendalter ein bedeutender Prädiktor für bis ins Erwachsenenalter hinein persistentes delinquentes Verhalten sein. Die empirischen Befunde der vor allem in den 70er und 80er Jahren durchgeführten Untersuchungen sprechen jedoch insgesamt nicht für solche Annahmen. Wenn überhaupt, dann konnten nur geringe Spezialisierungstendenzen festgestellt werden. Sie sind bei jugendlichen Tätern geringer als bei Erwachsenen sowie bei Gewaltdelikten seltener als bei Eigentums- oder Drogendelikten; selbst Intensivtäter unterschieden sich insofern kaum von anderen Tätern. Delinquente Entwicklungen sind demnach eher durch Versatilität als durch Spezialisierung geprägt (Wolfgang et al. 1972, S. 175 ff., insbes. 188 f.; Klein 1984; Blumstein et al. 1986, S. 81 ff.; Cohen 1986, S. 390 ff.; Farrington et al. 1988; Tracy et al. 1990, S. 113 ff., 282 ff.; Piquero et al. 2003, S. 453 ff.). z Unter Eskalation wird die Tendenz zur Begehung schwererer Delikte im Verlauf wiederholter Tatbegehungen verstanden. Aus Sicht eines Karriereparadigmas sollte sich insbesondere in diesem Kennwert die Entwicklung einer kriminellen Karriere manifestieren (Blumstein et al. 1986, S. 84). Nicht ganz einzusehen ist, warum als Eskalation nur der Übergang zu einem anderen schwereren Delikt, nicht aber auch eine (deutlich) häufigere Begehung desselben Delikts (bzw. von Delikten derselben Art), also eine deliktspezifische Zunahme der Täterinzidenz, aufgefasst werden kann. Wie der Karriereabbruch oder die Spezialisierung ist auch die Delikteskalation sinnvollerweise nur bei wiederholt auffälligen Delinquenten zu erwarten. Eskalationsprozesse wurden bislang vornehmlich, wie bei der Spezialisierung, mit Hellfelddaten anhand von Übergangsmatrizen analysiert. Danach sind, als genereller Befund, bei Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen eher deeskalierende Trends oder auch Schwankungen in der Deliktschwere zu erwarten; allenfalls bei Gewaltdelikten konnte im Jugendalter, nicht indessen bei Erwachsenen, eine Tendenz zur Schwereeskalation beobachtet werden (s. 1.2.1; Cohen 1986, S. 402 ff.; Farrington et al. 1988, S. S. 481 f.; auch mit Schwereindizes, Tracy et al. 1990, S. 124; 159 ff.). Etwas höhere Wahrscheinlichkeiten zur Eskalation unter Gewaltdelikten (nicht indessen bei Eigentumsdelikten) zeigten sich in Verlaufspfadanalysen der Dunkelfelddelinquenz von jugendlichen Mehrfachtätern. Solche Analysen untersuchen nicht den Übergang von einem zum nächsten Delikt, sondern ob im Verlauf der Deliktbegehung überhaupt eine höhere Stufe eines hie12
Die Erstellung einer exakten zeitlichen Abfolge der Deliktbegehungen wäre im Rahmen von Dunkelfelderhebungen nur anhand einer kalendarischen Abfrage möglich, was jedoch sowohl vom Befragungsaufwand her als auch hinsichtlich der zeitlichen Erinnerungsprobleme praktisch kaum zu erreichen ist. Insbesondere für Dunkelfelddaten wäre es deshalb auch denkbar (wenn auch weniger präzise), den eindeutigen Deliktartschwerpunkt der innerhalb eines Jahres berichteten Delikte als Kriterium der Spezialisierung zu betrachten.
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rarchisch geordneten Pfades erreicht wurde (Le Blanc u. Fréchette 1989, S. 113 ff.; Elliott 1994, S. 10 ff.; Loeber et al. 1999; s. auch 1.2.3.1). Ob diese von den Hellfelddaten in gewissem Maße divergierenden Befunde auf der Verwendung von Dunkelfelddaten beziehungsweise der verwendeten Methode der Verlaufspfadanalyse beruhen, wird weiter zu untersuchen sein (zur Sanktionseskalation s. 1.2.5.2 a. E.).
1.2.3 Persönlichkeitsorientierte Mehrfaktoren- und Karriereuntersuchungen Die persönlichkeitsorientierten Längsschnittstudien verbinden die dem Karriereparadigma entsprechende Entwicklungsdynamik „krimineller“ Verläufe, insbesondere die Identifikation „chronischer Täter“, mit dem multifaktoriellen Kausalmodell der klassischen Studien: Auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen einer kriminellen Karriere werden jeweils unterschiedliche Gruppen von erklärenden Risikofaktoren angesiedelt. Dabei wurde die Untersuchung von Kriminalitätsverläufen zunehmend in das Konstrukt eines dissozialen Verhaltens- und Persönlichkeitssyndroms eingebettet. Es handelt sich deshalb im Wesentlichen um persönlichkeitsorientierte ätiologische Analysen, von denen die neueren die persönlichkeitsorientierte „developmental criminology“ begründeten. Die Bedeutung dieser Studien beruht vor allem auf ihrer bereits einleitend hervorgehobenen methodischen Güte (prospektive Panel mit Hell- und Dunkelfelddaten); sie haben den methodischen Standard moderner kriminologischer Längsschnitterhebungen mitbegründet. Die Hellfelddaten werden indessen nicht als Tätigkeit der Instanzen sozialer Kontrolle betrachtet, sondern als zusätzliche Operationalisierung individuellen Verhaltens verwendet. Paradigmatisch für diese Forschungslinie war und ist die Anfang der 60er Jahre mit 411 acht- und neunjährigen Jungen aus einem Londoner Arbeiterviertel von West begonnene Cambridge Study in Delinquent Development (Farrington 2003 a; ausführlich zu den verschiedenen Auswertungsphasen: Boers 2009). Unter den neueren Untersuchungen stellt die seit 1972 laufende und zum 26. Lebensjahr mit noch 980 Frauen und Männern (Ausgangskohorte: N = 1037) durchgeführte neuseeländische Dunedin Multidisciplinary Study die erste prospektive, auch das Dunkelfeld erfassende Geburtskohortenuntersuchung dar (Moffitt et al. 2001, 2002). Eine der aktuellen Untersuchungen ist die 1987 mit je 500 sieben-, zehn- und dreizehnjährigen Jungen begonnene Pittsburgh Youth Study (Loeber et al. 2003). In der Tradition multifaktorieller Ansätze stehen für die persönlichkeitsorientierten Längsschnittstudien vor allem drei Ziele im Mittelpunkt: 1) die möglichst frühe Klassifikation und Prädiktion von (über lange Lebensphasen hinweg) persistenten Täterentwicklungen bei schweren Delikten anhand von 2) Risikofaktoren beziehungsweise -prädiktoren, um aufgrund dessen 3) Anleitungen für eine möglichst frühzeitige präventive Intervention in die individuellen Lebensbedingungen geben zu können.
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Neben Risikofaktoren im familiären, sozialen und Bildungsbereich werden zahlreiche Persönlichkeitseigenschaften (von denen auch angenommen wird, dass sie anlagebedingt seien) als besonders erklärungsfähig angesehen (vor allem Intelligenzquotient, Aggressivität, Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Persönlichkeitsstörungen, neurokognitive Defizite; Loeber et al. 1998, S. 109 ff.; Moffitt et al. 2001, S. 101 f., 214 f.; Farrington 2002, S. 664 ff.). Diese Studien als „persönlichkeitsorientiert“ zu bezeichnen, begründet sich mithin zum einen aus der (sonst so nicht vorkommenden) Betonung von persönlichen Risikofaktoren und zum anderen daraus, dass die persistente Begehung schwerer Delikte selbst als abnorme Persönlichkeitseigenschaft angesehen wird. Dabei geht es hier mit Blick auf die zu erklärenden Variablen schon seit einiger Zeit nicht mehr allein um die Delinquenz (also um das kriminologische Kernobjekt strafrechtlich definierten abweichenden Verhaltens). Vielmehr wird darüber hinaus das dissoziale Verhalten als Erklärungsvariable verwendet, dessen Operationalisierung in der Regel den psychiatrischen Schlüsseln zur Diagnose einer dissozialen Persönlichkeit (DSM-IV: Saß et al. 2003, S. 767; ICD-10: Dilling et al. 2005, S. 229) entnommen wird (ebd.; s. auch die „antisocial personality scale“ von Farrington 1991, 2003 a, S. 157). Die empirischen Befunde dieser methodisch elaborierten Panelstudien konnten bislang jedoch weder die Existenz distinkter, persistent delinquenter Entwicklungen noch eine herausragende Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren für die Entstehung und das Fortbestehen von Delinquenz statistisch überzeugend bestätigen. Dabei ist zu bedenken, dass vor allem die Studie aus Pittsburgh, aber auch die Cambridge-Studie hinsichtlich problematischer Kinder und Jugendlicher sowie hinsichtlich des Geschlechts (es wurden nur Jungen untersucht) stratifiziert wurde, hier also eher die erwarteten Effekte hätten auftreten sollen.
1.2.3.1 Klassifizierung und Verlaufspfade (Trajektorien) Die Klassifizierung von Tätergruppen, insbesondere mit Blick auf persistente Täter schwerer und gewaltsamer Delikte hat sich in den letzten zehn Jahren von einer alleinigen Kategorisierung anhand von Täterinzidenzraten oder der Anteile begangener Delikte (z. B. die 6% „chronic offenders“ seit Wolfgang et al. 1972) zur Feststellung eines delinquenten Entwicklungspfades (sog. Trajektorie) weiterentwickelt, mit dem über den Lebensverlauf hinweg persistente Täterkarrieren beschrieben werden sollen. Damit wird auf die allgemeine Lebensverlaufsforschung Rekurs genommen und eine (persönlichkeitsorientierte) „developmental criminology“ begründet (s. 1.2.4). Der prominenteste Entwurf dieser Richtung stammt von Terry Moffitt, die aus Anlass der Auswertung des Dunedin-Panels die beiden Entwicklungspfade des „life-course-persistent“ (LCP) und des „adolescence-limited (AL) antisocial behavior“ vorgeschlagen hat (Moffitt 1993; s. zur Rezeption und Diskussion zuletzt Moffitt 2003 sowie Sampson u. Laub 2003 a,
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S. 558 f., mwN). Moffitt nimmt an, dass bei Letzterem, den größten Teil auffälliger Jugendlicher umfassenden Pfad, das dissoziale Verhalten infolge asynchron verlaufender persönlicher und sozialer Entwicklungen („Reifungslücke“) frühestens in der Jugendzeit beginne und mit deren Ende aufgrund gelingender Sozialisationsprozesse abgebrochen werde; psychische Auffälligkeiten kämen hier nicht vor. Hingegen soll bei der zahlenmäßig kleinen LCP-Trajektorie die psychopathologische Qualität besitzende dissoziale Entwicklung bereits im frühesten Kindesalter beginnen und über den Lebensverlauf in unterschiedlichen Erscheinungsformen fortdauern; sie beruhe auf ererbten oder erworbenen neurokognitiven Persönlichkeitsdefiziten (geringe verbale Intelligenz, schwieriges Temperament, Hyperaktivität, geringe Selbstkontrolle), die sich unter ungünstigen Umweltbedingungen (inadäquate Erziehung, gestörte familiäre Bindungen, Armut) negativ entfalteten (Moffitt 1993, S. 680 ff., 685 ff.; Moffitt et al. 2001, S. 207 ff.). Eine deterministische Klassifizierung anhand von Extremgruppen kindlichen dissozialen Verhaltens (im Alter von 5, 7, 9 und 11 Jahren) sowie juveniler selbstberichteter Delinquenz (mit 15 und 18 Jahren) ergab eine in beiden Zeitabschnitten hochbelastete LCP-Gruppe für zirka 6% der 902 Probanden der Dunedin-Studie – 10% (N = 47) der männlichen und 1% (N = 6) der weiblichen; 26% (N = 122) der männlichen und 18% (N = 78) der weiblichen Probanden konnten einem (ab dem Jugendalter in gleichem Maße delinquenten) AL-Pfad zugeordnet werden (Moffitt et al. 2001, S. 212 ff.). Die weiteren Analysen dieser Klassifizierung konfrontieren die Annahme einer persistenten dissozialen Persönlichkeit allerdings mit drei Problemen. Zum einen zeigte sich zwar, dass die LCP-Probanden im Vergleich mit den AL-Probanden vor allem die erwartete höhere neurokognitive Belastung aufwiesen (ebd., S. 214 ff.). Solche Analysen können angesichts der geringen Anzahl von persistenten Probanden jedoch nur bivariat (bei Moffitt et al. anhand von Mittelwertunterschieden) durchgeführt, aber nicht multivariat gegen Scheinkorrelationen gesichert werden. Da fast alle Längsschnittstudien, die angesichts der Anzahl exogener Erklärungsvariablen umfassendere Zusammenhangs- oder Kausalanalysen erlauben, selbst bei einer Problemstratifizierung über zu geringe Ausgangsstichproben verfügen 13, handelt es sich um ein allgemeines Problem der kriminologischen Längsschnittforschung: Analysen persistenter Intensivtäter sind bislang im Wesentlichen qualitativer Natur und können statistisch nicht hinreichend untermauert werden. Zum anderen erwies sich die Persistenzannahme bei frühkindlicher Auffälligkeit als nicht stabil. Bereits aufgrund einer weiteren mit 477 männlichen Probanden der Dunedin-Studie durchgeführten, nun bis zum 26. Lebensjahr reichenden deterministischen Klassifikation ergaben sich zunächst neben der LCP-Gruppe (10%) und der AL-Gruppe (26%) drei zusätzliche Entwicklungsgruppen: (1) 5% nicht auffällig gewordene „abstainers“, 13
Zum Beispiel wurden in der Cambridge-Studie bis zum 32. Lebensjahr 24 (6%) „chronic offenders“ festgestellt, Probanden, die bis dahin die Hälfte aller Verurteilungen erhalten hatten (Farrington 2003 a, S. 144).
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(2) 51% lediglich durchschnittlich belastete „unclassified boys“ sowie (3) 8% „recoveries“. Dies war insofern zu erwarten, als eine simple binäre Taxonomie – im Kern stellt Moffitts in der Rezeption bei weitem überschätzte Klassifizierung nicht mehr dar – die Komplexität delinquenten Verhaltens nicht widerspiegeln kann. Unter den zusätzlichen Gruppen war des Weiteren vor allem die Entwicklung der „recoveries“ für die in Moffitts Überlegungen zentralen prognostischen Annahmen hinsichtlich der „LCPoffenders“ problematisch. Denn während sich im Kindesalter die LCPs und die „recoveries“ in ihrer dissozialen Auffälligkeit nicht unterschieden, brachen Letztere das dissoziale Verhalten mit dem Jugendalter weitgehend ab und wichen insbesondere hinsichtlich der Delinquenz kaum vom Durchschnitt ab (Moffitt et al. 2002, S. 183 ff.; auch schon 1996, S. 408 ff.). Noch deutlicher zeigt sich diese erfreuliche Besserung bei einem großen Teil der im Kindesalter Hochbelasteten in der ersten mit den 526 männlichen Probanden des Dunedin-Panels durchgeführten latenten Klassenanalyse. Diese Analyse bezog sich auf die individuelle Inzidenz einer Skala von Verhaltensproblemen 14 zwischen dem siebten und 26. Lebensjahr und ergab vier Klassen (LCP, „childhood limited“, „adolescent onset“, „low“). Im Kindesalter bei Weitem am stärksten (und nahezu gleich) belastet waren nicht nur die LCP-Klasse (10,5% der Probanden), sondern auch die mit 24,3% mehr als doppelt so große Childhood-limited-Klasse. Im weiteren Verlauf reduzierten sich die Inzidenzen beider Klassen kontinuierlich bis zum 26. Lebensjahr, allerdings – wie schon zuvor bei den „recoveries“ – sehr disparat, nämlich um zirka ein Viertel bei den LCPs, aber um mehr als zwei Drittel bei den „childhood limited“, wobei Letztere bereits zwischen 15 und 18 Jahren das Niveau der „low-class“ (45,6 %) erreichte (Odgers et al. 2007, S. 479). Käme mithin die Vorhersage von erwachsenen LCP-Tätern aufgrund kindlicher Auffälligkeiten nach der deterministischen Klassifikation nahezu dem Werfen einer Münze gleich, so könnte nach den Befunden der latenten Klassenanalyse gerade mal noch ein Drittel vorhergesagt werden. Damit dürfte die Persistenzthese, einschließlich der darauf beruhenden Annahme einer Prognostizierbarkeit späterer Delinquenz aufgrund kindlicher Auffälligkeiten, mit diesem Datensatz nicht zu halten sein. Schließlich erwies sich in den bis zum 26. Lebensjahr analysierten Daten der AL-Pfad nicht als „adolescence limited“ („were still in trouble“, Moffitt et al. 2002, S. 199): Aufgrund der deterministischen Klassifikation wiesen die betreffenden Probanden bis zum 26. Lebensjahr bei nahezu allen Delikten die nach den LCP-Probanden zweitgrößten und gegenüber den drei anderen Gruppen deutlich erhöhte Raten der selbstberichteten Delinquenz sowie der Verurteilungen auf; im Vergleich mit dem LCP-Pfad ergaben sich bei der selbstberichteten Delinquenz – mit Ausnahme der Gewaltdelikte – kaum, bei 14
Die Skala „conduct problems“ bestand aus sechs Symptomen: „Physical fighting, bullying others, destroying property, telling lies, truancy and stealing“ (Ogders et al. 2007, S. 477). Hiermit sollte insbesondere die Klassifizierung des „life-course persistent“ und „adolescent limited antisocial behavior“ erfolgen.
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den Verurteilungen allerdings etwas häufiger signifikante Unterschiede (ebd., S. 184 ff., 199). Es ist angesichts dessen nicht verwunderlich, dass in den latenten Klassenanalysen ein Adolescence-Limited-Pfad nicht mehr ausgemacht werden konnte. Statt dessen wurde nun mit 19,6% ein Adolescenceonset-Pfad festgestellt, dessen im Kindesalter noch geringe Conduct-Problem-Rate bis zum 26. Lebensjahr stetig auf das Niveau des LCP-Pfades stieg (Odgers et al. 2007, S. 479). Demnach lässt sich auch die Taxonomie der „lifecourse persistent“ versus „adolescent limited“ nicht mehr halten.15 Ein ähnliches Bild der Verlaufspfade selbstberichteter Delinquenz ergaben auch die im Rahmen der „Rochester Youth Development Study“ durchgeführten latenten Klassenanalysen mit 647 männlichen Befragten einer hinsichtlich sozial benachteiligter Nachbarschaften stratifizierten Stichprobe (s. 1.2.5.1). Zwischen dem 13. und 23. Lebensjahr (letztes Erhebungsalter) stellten sich unter Berücksichtigung aller Delikte acht Verlaufspfade heraus (Thornberry 2005, 163 ff.).16 Bei den als einzige Gruppe im Alter von 13,5 Jahren mit 70 Delikten pro Jahr hoch belasteten „persistent high-level offenders“ (6,9% aller Probanden) verringerten sich die Täterinzidenzraten innerhalb von zehn Jahren (linear) um die Hälfte. Zwei Gruppen – „late bloomers“ (9,4%) und „gradual-uptake offenders“ (12,4%) – wiesen einen exponentialen beziehungsweise linearen Verlauf der Täterinzidenzraten mit den im Alter von 23 Jahren höchsten Werten auf; bemerkenswerterweise waren sie wie alle anderen Gruppen, außer den „persistent offenders“, mit 13,5 Jahren kaum belastet. Insbesondere die Trajektorien dieser drei Gruppen widersprechen Moffitts Verlaufsannahmen. Weder erwiesen sich die früh beginnenden „persistent high-level offenders“ im Alter von 23 Jahren als persistent noch die beiden spät beginnenden Gruppen als „adolescence-limited offenders“. Daneben folgten drei Gruppen (zusammen 30,7%) dem typischen Muster eines im Jugendalter einsetzenden und spätestens mit dem beginnenden Erwachsenenalter abbrechenden Delinquenzverlaufs; auch eine weitere Gruppe brach im Jugendalter ab, zeigte aber ab dem 22. Lebensjahr wieder 15
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Moffitt und Kollegen haben die Bedeutung der Recovery- bzw. Childhood-limited-Gruppe für die Persistenzthese bislang nicht so recht diskutiert. Hinsichtlich der „recoveries“ wurde lediglich das Fortbestehen einiger psychischer Probleme (Depressionen, Angstzustände, soziale Isolierung), aber eben nicht delinquenter Auffälligkeiten mitgeteilt. Mit Blick auf die unerwartet fortbestehende Delinquenz der AL-Probanden wird allerdings eine Falsifikation der Moffitt-Taxonomie für möglich gehalten, sollte es in den folgenden Lebensjahren nicht zu einem signifikanten Delinquenzabbruch in der AL-Trajektorie kommen: „Whether Dunedin AL men are in trouble at 26 years because their cohort’s maturity gap is prolonged (and the theory is right), or because adult adjustment is not influenced by childhood experience (and the theory is wrong), waits further follow-up.“ (Moffitt et al. 2002, S. 201). Die fortgesetzte Delinquenz der AL-Gruppe wird mit einer Postadoleszenzthese erklärt: Insbesondere die große neuseeländische Arbeitslosigkeit habe dazu geführt, dass sich die für moderne Sozialisationsprozesse typische Reifungslücke („maturity gap“) ausweite, also immer weniger Jungerwachsene eine traditionelle Erwachsenenrolle mit stabilem Berufsstatus, Ehe oder Elternschaft einnehmen könnten (Moffitt et al. 1996, S. 419; 2002, S. 196 f., 200). Zu einer auch die Probandinnen der Rochester-Studie berücksichtigenden Trajektorienanalyse s. Bushway et al. 2003, S. 141 ff.
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einen Anstieg der Täterinzidenz („intermittent offenders“: 10,8%). Die achte Gruppe der „low-level offenders“ (29,7%) verblieb durchweg auf einem geringen Inzidenzniveau und war deshalb hinsichtlich einer Persistenz oder eines Abbruchs nicht relevant.17 Die Verringerung der Täterinzidenz unter den im Kindesalter Hochbelasteten und die beobachtete gleichzeitige Zunahme der Täterinzidenz in der Gruppe der „late starter“ (oder „adolescent onset“) gibt zu der Vermutung Anlass, dass der aufgrund von deterministischen Klassifikationen berichtete, zumindest im Jugendalter recht konstante Anteil von 5% bis 6% Intensivtätern nicht, wie bislang angenommen, aus denselben Personen, also einer homogenen Gruppe besteht, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil auf einem Austausch zwischen beiden Gruppen beruhen kann. Abbruch statt Persistenz als typisches kriminologisches Lebensverlaufsmuster war vor allem der zentrale Befund der Analyse von Hellfeldkarrieren, die Laub und Sampson mit 475 der ehemals 500 inhaftierten GluecksProbanden durchführen konnten. Es handelt sich um die erste Studie, die eine Beobachtung der nahezu gesamten registrierungsrelevanten Lebensphase erlaubt, nämlich vom 7. bis zum 70. Lebensjahr (Laub u. Sampson 2003; s. auch Sampson u. Laub 2003, 2005; und 1.2.5.1). Da nur die in ihrer Jugendzeit inhaftierten Probanden analysiert wurden, waren in einer solchen, auf einer (hoch) stratifizierten Stichprobe und auf Hellfelddaten beruhenden Studie eigentlich am ehesten delinquente Persistenzen zu erwarten gewesen. Obwohl nach Deliktgruppen, kindlichen und familiären Risikogruppen, selbstberichteter Delinquenzbelastung im Kindes- und Jugendalter sowie nach Inhaftierungszeiten differenziert wurde und man schließlich mit einer latenten Klassensanalyse bis zu sechs Trajektorien registrierter Delinquenz herausfand („classic“ und „moderate-rate desister“, „high-“, „low-“ und „moderate-rate chronic“, „late-onset offender“), zeigte sich indessen immer dasselbe Verlaufsmuster zwischen Kriminalität und Alter: In allen Untergruppen setzte mit einer gewissen zeitlichen Varianz früher oder später ein rapider Kriminalitätsrückgang ein. Meistens erfolgte dies ab Mitte Zwanzig, bei den „high-rate chronics“ (für die Gesamt- bzw. Gewaltkriminalität 3,2% bzw. 2,4% der Probanden) erst ab Mitte Dreißig (Laub u. Sampson 2003, S. 103 ff.; Sampson u. Laub 2003, S. 569 ff.). Die Autoren meinen zu Recht, dass es schwierig sei, diese Befunde mit der Idee des „life-course-persister“ („in need of overhaul“) zu versöhnen und schlagen als Alternative ein Konzept des „life-course desister“ vor (ebd.,
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Auch die latenten Klassenanalysen mit den ersten vier, vom 13. bis zum 16. Lebensjahr reichenden Wellen der Duisburger Panelstudie deuten auf eine solche Befundlage hin. Die (anhand summierter Einzelprävalenzen erhobene) Delinquenzbelastung der Hochbelasteten entwickelte sich – nachdem sie im 14. Lebensjahr deutlich zugenommen hatte – bereits im 16. Lebensjahr wieder auf das Niveau des 13. Lebensjahres zurück, während gleichzeitig eine Gruppe später Starter (erst) im 16. Lebensjahr an deren Niveau heranreichte (Reinecke 2008).
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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S. 588; s. auch Sampson u. Laub 2005, S. 19 ff., 30 f. für leichte Delinquenz).18 Vergleicht man die Befunde der latenten Klassenanalysen für Dunkelund Hellfelddaten, dann scheinen Erstere ein deutlich größeres Maß an Variabilität der Delinquenztrajektorien hervorzubringen als Letztere, bei denen alle Gruppen mehr oder weniger den für Prävalenzraten typischen glockenförmigen Altersverlauf aufweisen. Die „crisscross patterns“ (Thornberry 2005, S. 165) des Dunkelfeldes kann man einstweilen als Hinweis darauf deuten, dass sich Delinquenzverläufe weniger ontogenetisch nach demselben Muster entwickeln (so Gottfredson u. Hirschi 1990, S. 124 ff.), sondern eher einem von Vielfältigkeit geprägten soziogenetischen Muster folgen (Thornberry 2005, S. 165; Sampson u. Laub 2005 a, S. 14). Ein gegenüber Moffitts Taxonomie differenzierteres, drei Trajektorien umfassendes Verlaufsmodell persönlichkeitsorientierter Art haben schließlich Loeber und Kollegen vorgeschlagen. Danach ist innerhalb einer jeden Trajektorie („developmental pathway“) von drei nach Schwere und Häufigkeit eskalierenden Entwicklungsstufen, also von einem hierarchisch geordneten Verlauf auszugehen: „overt pathway“ mit der Stufenfolge „minor aggression“, „physical fighting“ und „violence“ (Vergewaltigung, Raub); „covert pathway“ von Ladendiebstahl über Sachbeschädigungen zu schweren Eigentumsdelikten; „authority conflict pathway“ von „stubborn behavior“ über „disobedience“ zu „authority avoidance“ (Schule schwänzen, Weglaufen, langes Ausbleiben; zuletzt Loeber et al. 2003, S. 105 ff.). Logischerweise können solche Pfade nur von mehrmals Auffälligen durchschritten werden. Eine Überprüfung von Teilen des Modells mit maximal 19-Jährigen in Pittsburgh, Rochester und Denver ergab, dass selbst von den vorselektierten „Persistenten“ (in mindestens zwei Stufen ein Delikt) allenfalls 30% bis 52% dem postulierten Overtpfad über zwei Stufen folgten; die Verfolgung des Covert Pfades konnte hier letztlich nicht nachgewiesen werden (Loeber et al. 1999, S. 256 ff.).19 Im Hinblick auf die insbesondere auch prognostisch relevante Annahme eines nach einer bestimmten Ordnung eskalierenden Delinquenzverlaufs sind dies indessen ebenfalls keine sonderlich überzeugenden Befunde. 18
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Auch in der Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung (Nachuntersuchung) ist die Verurteiltenprävalenz der Insassenpopulation für Eigentums- und Gewaltdelikte von 25% bzw. 14% mit Mitte Zwanzig auf 10% bzw. 5% Anfang Dreißig und schließlich Ende Dreißig auf 2% gesunken. Von 27 Heranwachsenden mit mehr als zwei Gewaltverurteilungen waren zwischen dem 29. und 38. Lebensjahr noch sechs und zwischen dem 34. und 38. Lebensjahr noch zwei Probanden so verurteilt worden (Boers 2008). In Duisburger und Münsteraner Panelanalysen (bislang 13. bis 16. Lebensjahr) nahm der Anteil der deterministisch definierten Intensivtäter (fünf und mehr Gewaltdelikte) ab dem 16. Lebensjahr wieder ab, Boers et al. 2006, S. 74. Loeber et al. (1999, S. 256) berichten indessen, dass 97% bis 99% der Persistenten den Overtpfad durchlaufen seien („quite high fit“). Allerdings wurden dabei auch diejenigen als „Fitters“ berücksichtigt, die nur auf der Stufe 2 aufgefallen waren, also eben keiner Trajektorie gefolgt waren; ohne diese ergeben sich nach eigener Berechnung die berichteten 30% bis 52%; s. auch Loeber et al. (1997, S. 339) für das gesamte Modell mit bis zu 16-Jährigen aus Pittsburgh. – Zu ähnlichen Analysen mit einem Ein-Pfad-Modell s. Le Blanc u. Fréchette 1989, S. 113 ff.
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1.2.3.2 Risikofaktoren Mit Blick auf die Risikofaktoren delinquenten oder dissozialen Verhaltens überwiegen, wie schon in den klassischen multifaktoriellen Studien 20, die sozialen und familiären Faktoren oder stehen den Persönlichkeitsfaktoren zumindest nicht nach (Farrington 1986; 2003 a, S. 151 ff.; Farrington u. Hawkins 1991; Moffitt et al. 2001, S. 101 ff.; Walter u. Remschmidt 2004). 21 In einer im Alter von 8, 13, 18 und 25 Jahren mit 321 Probanden in Mannheim durchgeführten Längsschnittstudie zum Verlauf psychischer Störungen im Jugendalter stellte sich zudem und entgegen Moffitts Annahme heraus, dass psychische und familiäre Risikofaktoren des späten Kindesalters einen stärkeren Einfluss auf die fortgesetzte Delinquenz hatten als solche des frühen Kindesalters (und dies, obwohl die Stichprobe hinsichtlich kindheitsspezifischer Symptome stratifiziert worden war; Lay et al. 2001, S. 125 ff., 130).22
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Das Überwiegen sozialer, vor allem familiärer Faktoren in den klassischen Studien wurde insbesondere sowohl in der bekannten Prognosetafel von Glueck u. Glueck (1950, S. 261) als auch darin sichtbar, dass in Tübingen das Konzept des „Täters in seinen sozialen Bezügen“ entwickelt wurde (Göppinger 1983). Die Veröffentlichung aus der Dunedin-Studie von Moffitt et al. 2001 erfolgte ohne multivariate Kontrolle. Eine frühere multivariate Analyse dieser Daten ergab, dass die Häufigkeit von Polizeikontakten im Alter von 15 Jahren mit seit dem vierten Lebensjahr beobachteten erzieherischen und familiären Defiziten stärker zusammenhing als mit vorhergegangenen Verhaltensauffälligkeiten; dies traf ebenso für die Vorhersage von dissozialen, psychopathologische Formen einschließenden Verhaltensweisen zu, die mit zwölf Jahren erhoben wurden. Insgesamt konnten diese Regressionsmodelle nicht mehr als 15% bis 20% der Varianz erklären, der Anteil der psychopathologischen Prädiktoren lag lediglich zwischen 2% und 5% (Henry et al. 1993, S. 109 ff.). – In der regionalen Verlaufsstudie von Walter u. Remschmidt (2004) mit 256 Probanden aus dem LG-Bezirk Marburg wurden nach dem 14. Lebensjahr ein- bzw. mehrmals polizeilich Registrierte mit einer Kontrollgruppe von Nichtregistrierten verglichen. Die Untersuchungsgruppe wurde aus bereits im Kindesalter polizeilich Registrierten, also nicht anhand einer repräsentativen Stichprobe von Kindern oder Jugendlichen gebildet. Selbst in dieser stärker belasteten Hellfeldpopulation spielten in den logistischen Regressionen, bei denen allerdings nicht nach Deliktgruppen unterschieden wurde, soziale und familiäre Faktoren des Kindes- sowie des Jugendalters neben den Persönlichkeitsfaktoren (sie wurden zum größten Teil in einem Index „psychosoziale Risikofaktoren“ zusammengefasst) eine zumindest gleich große Rolle (ebd., S. 340 ff.). Bei dieser zwischen 1977 und 1996 durchgeführten Untersuchung handelt es sich um eine der wenigen deutschen prospektiven Längsschnittstudien. Sie ist allerdings mit einigen methodischen Erhebungs- und Auswertungsproblemen behaftet, sodass die Befunde (wie im Übrigen die der Marburger Untersuchung) vornehmlich von heuristischer Bedeutung sind. Die neben der Hellfelduntersuchung (Verurteilungen) durchgeführte Dunkelfelderhebung beruht auf zu langen fünf- bzw. siebenjährigen Referenzperioden (Alter 13 bis 18 bzw. 18 bis 25 Jahre) und enthält kaum eines der üblichen Items zur Gewalt- oder Eigentumsdelinquenz; mit 25 Jahren (t4) wurden zudem vier zusätzliche Delikte erfragt. Damit mag zusammenhängen, dass die Prävalenzraten mit 25 (unerwarteterweise) deutlich höher lagen als mit 18 Jahren (t3; Schmidt et al. 2001, S. 27 ff.). In den Auswertungen blieben die selbstberichteten Bagatelldelikte zwar unberücksichtigt, Eigentums- und Gewaltdelikte konnten jedoch nicht unterschieden werden. Des Weiteren ist nicht plausibel, warum in den multivariaten Analysen die Risikofaktoren des 13. bis 18. Lebensjahres, die auch zahlreiche soziale und ökonomische Belastungen enthielten, „aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zum Vorhersagekriterium“ nicht berücksichtigt wurden, denn proximale Faktoren hatten ansonsten ja einen stärkeren Effekt (Lay et al. 2001, S. 125 ff., Fn. 2). Kriminologisch wäre bedeutsam, ob diese Faktoren bei ihrer Berücksichtigung einen noch deutlicheren Einfluss gewonnen hätten.
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Etwas deutlicher ausgeprägt erscheint der Effekt von Persönlichkeitsfaktoren (vor allem des HIA-Syndroms: „hyperativty-impulsivity-attention-deficit“) in ersten multivariaten Analysen der Pittsburgh-Studie hinsichtlich „physical aggression“ und „multiple problem boys“ (Loeber et al. 1998, S. 192 ff., 243 ff.), nicht jedoch für die Gesamtdelinquenz (S. 114 ff.). Diese Analysen wurden allerdings nur im Kindesalter (alle drei Kohorten: 7, 11 und 14 Jahre) als Querschnittanalyse des ersten so genannten „follow-up“ durchgeführt. Sie konnten also die inhaltlich entscheidende weitere Entwicklung solcher Zusammenhänge, insbesondere mit Blick auf deren Stabilität oder Wandel (bei Letzterem vor allem den Abbruch im Rahmen des sog. „maturing-out“), nicht untersuchen. Das HIA-Syndrom erklärte allerdings auch hier lediglich zwischen 2% und 5% der Varianz dieser multifaktoriellen Modelle, die insgesamt bis zu 23% („physical aggression“) beziehungsweise 29% („multiple problem boys“) aufklären konnten (ebd.); 23 die Analyse der „multiple problem boys“ ist zudem teilweise tautologisch erfolgt, da in die Konstruktion dieser abhängigen Variablen neben anderen Problemen auch ein ADHD-Score („attention-deficit-hyperactivity-disorder“) eingegangen ist (ebd., S. 241 f.). Bemerkenswerterweise entfiel jeweils die Hälfte der erklärten Varianz auf nur eine Variable: lack of guilt (ebd., S. 115, 193, 245 f.). Deren Validität ist indessen zweifelhaft. Denn entgegen der sonstigen Übung dieser Studie beruht diese Variable nicht auf einem mit zahlreichen Items erhobenen Index, sondern lediglich auf dieser einen, nur von den Eltern oder Lehrern beantworteten Frage (ebd., S. 60). Man kann angesichts dessen nicht ausschließen, dass die Befragten den „Mangel an Schuldgefühl“ aus dem ihnen bekannten delinquenten Verhalten geschlossen haben, Ersteres also lediglich eine Näherungsvariable für Letzteres wäre. Zudem interpretieren Loeber et al. „lack of guilt“ als (anlagebedingte) Persönlichkeitseigenschaft. Man wird darin indessen eine im Rahmen des Sozialisationsprozesses erworbene normative Einstellung zu erblicken haben. Dass solche, zumal personalen Risikofaktoren für den delinquenten Lebensverlauf weniger relevant sind als dies bisweilen vermutet wird, zeigte sich auch in der Fortuntersuchung der Gluecks-Probanden durch Sampson und Laub (2003, S. 582 f.; Laub u. Sampson 2003, S. 107 ff.). Die bereits zuvor beschriebenen lebenslangen Delinquenztrajektorien konnten nämlich anhand von kindlichen und jugendlichen Risikofaktoren individueller oder familiärer Art (unter anderem Intelligenz, Egozentrismus, Aggressivität, Erziehungsschwierigkeiten, Kriminalität oder Alkoholabusus der Eltern) nicht signifikant unterschieden (prognostiziert) werden, auch nicht anhand des frühen Beginns delinquenten Verhaltens („early onset“). Allein bei der Hell- oder Dunkelfeldkriminalität im Jugendalter zeigten sich (geringe) signifikante Un23
Bei der Gesamtdelinquenz betrug die erklärte Varianz zwischen 11% und 22% (Loeber et al. 1998, S. 115). – Loeber und Kollegen berichten als multivariate Koeffizienten ihrer hierarchischen Regressionsanalysen die jeweils erreichte multiple Korrelation („multiple R“). Um das Maß der jeweiligen erklärten Varianz (Determinationskoeffizient R2) zu erhalten, muss man diese quadrieren (Kühnel u. Krebs 2001, S. 534).
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terschiede. Die Autoren folgern hieraus, „that life-course-persistent offenders are difficult, if not impossible, to identify prospectively using a wide variety of childhood and adolescent risk factors“ (ebd., S. 110). Freilich kann, da hier lediglich eine ursprüngliche Insassenstichprobe untersucht wurde, keine allzu große Varianz in den Risikofaktoren erwartet werden. Gleichwohl hätten sich, den persönlichkeitsorientierten Annahmen folgend, zwischen den Extremtrajektorien der „chronics“ (zusammen N = 103) und den frühen „desisters“ (N = 102) signifikante Unterschiede zeigen sollen. Zumindest mit Blick auf den frühen Beginn delinquenten Verhaltens („early onset“) stehen Sampson und Laub mit ihren Beobachtungen allerdings nicht alleine da. Dieser Faktor galt bislang als „one of the best predictors (or even the best predictor . . . ) of the future course of the criminal career“ (Farrington et al. 1990, S. 283). Er hat sich indessen auch in einigen anderen Studien als weniger aussagekräftig erwiesen, wobei man bislang den Eindruck gewinnen kann, dass der frühe Beginn vor allem bei den (der Praxis in aller Regel allein zu Verfügung stehenden) Hellfelddaten prognostisch unbedeutender zu sein scheint. So konnten Paternoster et al. (1997, S. 256) in einer methodisch elaborierten Analyse mit 838 Entlassenen aus einer „Youth Services Training School“ keinen Effekt des „early onset“ beobachten. In letzter Zeit haben insbesondere Krohn et al. (2001, S. 81 ff.) mit den Daten der Studien aus Pittsburgh, Rochester und Montreal vierzig nach späteren Prävalenz- und Täterinzidenzraten, Deliktart, Hell- und Dunkelfeldkriminalität differenzierte Verlaufsmuster untersucht, von denen jedoch nur 13 im Hinblick auf den „early onset“ die erwartete statistisch signifikante Beziehung aufwiesen – die meisten in der Dunkelfeldbefragung Rochesters, die wenigsten wiederum in der Vorbestraftenbefragung Montreals, allerdings ebenso wenig in der Dunkelfelderhebung Pittsburghs. Auch in der Seattle-Panelstudie zeigte sich der erwartete Effekt des „early onset“ nur in den Hellfeld-, nicht jedoch in den Dunkelfelddaten (Farrington et al. 2003, S. 948 f.). Schließlich kann Thornberry (2005, S. 165) aufgrund der latenten Klassifikationsanalysen der Rochesterstudie lediglich „the modesty of the correlation between age of onset and persistence“ feststellen. Die bisherigen Befunde der persönlichkeitsorientierten Längsschnittforschung zu delinquenten Entwicklungspfaden sowie die festgestellten Anteile erklärter Varianzen der Risikofaktoren sind vor allem unter heuristischen Gesichtspunkten bedeutsam. Sie geben Anlass, multivariat signifikante Faktoren sowie die Frage nach Verlaufstrajektorien weiteren Analysen zu unterziehen. Sie können indessen noch keine verlässliche empirische Grundlage für Programme der individuellen, zumal klinisch-psychologischen oder psychiatrischen Intervention im Kindes- und frühen Jugendalter liefern, wie sie allerdings in den letzten Jahren verstärkt vorgeschlagen wurden (s. vor allem die Beiträge in Loeber u. Farrington 1998 und 2001; kritisch insoweit auch Sampson u. Laub 2003, S. 559, mwN). Man kann diese Forschungsrichtung im Übrigen nicht mehr als im klassischen Sinne „multifaktoriell“ bezeichnen, also als theorieresistent und induktivistisch. Auch wenn sie mit dem Risk-factor-Ansatz tief in dieser Tra-
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dition wurzelt, so geht die neuerliche Erforschung von Trajektorien des delinquenten Verlaufs immerhin mit einem gewissen Bemühen um theoretische Begründungen einher. So greift Moffitt (1993, S. 680 ff.) schon für die Konzeption des LCP-Pfades (neurokognitive Defizite könnten sich nur in Interaktion mit einer negativ verstärkenden Umwelt zu einer persistenten Trajektorie entwickeln), vor allem aber für die des AL-Pfades (im Hinblick auf die im Jugendalter entstehende und sich im Heranwachsendenalter schließende Reifungslücke) auf sozialpsychologische Theoreme zurück. Farrington (2003 a, S. 135; 2003 b) hat in den letzten Jahren verstärkt versucht, unterschiedliche delinquente Entwicklungsstufen insbesondere auch mit kriminalsoziologischen Theorien (vor allem Kontroll-, Anomie-, Gelegenheits-, Rational-choice-Theorie) – zunächst als „the Farrington theory“ (1996, S. 108 ff.; 2003 a, S. 165 ff.), zuletzt nun als „the integrated cognitive antisocial potential theory“ (2003 b, 2005 a) – zu erklären.
1.2.4 Lebensverlaufsforschung und „developmental criminology“ Die Analyse von Trajektorien des Lebensverlaufs geht auf die allgemeine Lebensverlaufsforschung zurück (Elder 1985, 1997). Diese hat nicht nur problematische, sondern alle distinkten Entwicklungstrajektorien (vor allem familiäre Entwicklung, Bildung, Beruf, Partner- oder Elternschaft) sowie deren intraindividuelle Änderungen und Übergänge (Transition) durch bestimmte Lebensereignisse (z. B. Schulabschluss, -versagen; Berufsaufstieg oder Arbeitslosigkeit; Ehe, Scheidung, Geburt von Kindern) im Blick. Mit der Rezeption der Life-course-Forschung hat sich die kriminologische Längsschnittforschung zur „developmental criminology“ weiterentwickelt. Mit Hilfe der Trajektorien lässt sich im Gegensatz zu den statischen Modellen der klassischen Kriminologie die Dynamik normkonformer und delinquenter Verläufe, vor allem deren Kontinuität und Wandel anhand bestimmter delinquenzrelevanter Übergangsereignisse (Entdeckung, Sanktionierung, Inhaftierung, Entlassung) sowie anhand solcher aus den parallel verlaufenden sozialen und persönlichen Trajektorien (z. B. familiäre Misshandlung, Bildungs- und Berufserfolg, stabile Partnerschaft) angemessener beschreiben und erklären. Mit dieser Grundorientierung ist „developmental criminology“ in den letzten zehn Jahren zu einem (kleinsten) gemeinsamen Nenner der kriminologischen Längsschnittforschung geworden, der persönlichkeitsorientierten wie der soziologisch orientierten (Loeber u. LeBlanc 1990; Sampson u. Laub 1997; 2005 b; Thornberry 1997; LeBlanc u. Loeber 1998; Kaiser 1999; Benson 2002; Farrington 2002, 2005 b; Krohn u. Thornberry 2003; Schumann 2003). Gleichwohl bleiben die grundlegenden Unterschiede in den Verlaufsannahmen bestehen. So verstehen Sampson und Laub (2003, S. 33 ff.; 2005 a, S. 14) unter „developmental criminology“ vornehmlich die persönlichkeitsorientierte Sichtweise, wonach der Delinquenzverlauf eher als unvermeidliche Entfaltung eines stabilen, von frühkindlichen Risikofaktoren determinierten Entwicklungsmusters verstanden wird; als „life-course criminology“ wird hingegen
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die Annahme der Veränderlichkeit und der daraus folgenden geringeren Vorhersehbarkeit des Delinquenzverlaufs im Rahmen von Prozessen sozialer Reproduktion bezeichnet.
1.2.5 Soziologische Längsschnittforschung In der soziologisch orientierten Längsschnittforschung werden delinquente Lebensverläufe im Hinblick auf theoretisch explizierte Bedingungen der Sozialstruktur untersucht. Sie ist eo ipso theoriegeleitet und befasst sich deshalb in der Regel nicht mit einer Erforschung von theoretisch unzusammenhängenden Risikofaktoren unterschiedlichster Art. Die Analysemodelle sind mithin komplexer. Sie beziehen (in neuerer Zeit auch mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen; zur Methode: Reinecke 2005) indirekte Effekte von Hintergrundvariablen ein oder konzentrieren sich auf reziproke Verstärkungseffekte im Zeitverlauf, in der Regel aufgrund von prospektiven Paneldaten. Innerhalb der soziologischen Längsschnittforschung kann man eine ätiologische und eine konstruktivistische Richtung unterscheiden. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Erstere formelle Kontrollinterventionen und deren Effekte konzeptionell nicht als eigenständigen Analysebereich berücksichtigt. Die zwischen persönlichkeitsorientierter und soziologischer Längsschnittforschung bestehenden Unterschiede in den Verlaufsannahmen wurden bereits oben (1.2.3.1) erörtert.
1.2.5.1 Soziologisch-ätiologische Längsschnittstudien Die soziologisch-ätiologischen Längsschnittstudien können aufgrund ihrer im Kern positivistisch-kausalen Konzeption zu den ätiologischen Untersuchungen gerechnet werden. Sie zeichnen sich gegenüber den persönlichkeitsorientierten Untersuchungen freilich durch eine Abkehr vom multifaktoriell- induktivistischen Forschungsdesign zu Gunsten einer deduktiven, auf klassische kriminalsoziologische Ansätze zurückgreifenden Modellbildung aus. Die Theorie der differenziellen Assoziation (Sutherland 1968 [1939]) sowie die Kontrolltheorie (Hirschi 1969) oder die Anomietheorie (Merton 1968 [1938]) werden entweder integrativ in einer kausalen Folge (Elliott et al. 1979; Elliott 1985; vgl. zur Theorieintegration insgesamt Messner et al. 1989) oder interaktiv in einer zeitlich reziproken Beziehung (Thornberry 1987) miteinander verbunden. Es handelt sich vor allem um den „National Youth Survey“, die „Rochester Youth Development Study“, um Reanalysen der Gluecks-Daten sowie der Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung oder um die Bielefelder Panelstudie im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 227. Der amerikanische „National Youth Survey“ war die erste und paradigmatische Studie dieser Art, eine vom 11. bis zum 33. Lebensjahr in den 70er und 80er Jahren mit ursprünglich 1.725 Probanden und sieben Geburtskohorten in neun Wellen durchgeführte national repräsentative Paneluntersuchung (Elliott et al. 1989, S. 2 ff.).
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Die Analyse folgte einem aus Elementen der Kontroll-, Lern- und Anomietheorie gebildeten integrativen Modell (Elliott et al. 1979; 1989, S. 135 ff.). Dessen multivariate Überprüfung ergab, dass lediglich bei einer Variablen ein direkter und stärkerer Zusammenhang (b = 0,33 bis b = 0,52) mit der (allgemeinen oder schweren) selbstberichteten Delinquenz bestand: mit „delinquent peer group bonding“ (DPGB), einer Operationalisierung des lerntheoretischen Elements. Nur hierüber erlangten die eigentlich im Zentrum des theoretischen Modells stehenden kontrolltheoretischen Variablen (interne und externe „conventional bonds“) einen zumindest indirekten Einfluss – stärker als „normative belief“ (b = –0,32), nur noch schwach indessen als „school“ oder „family involvement“ oder „school normlessness“ (b > 0,15). Anomietheoretisch verstandene Faktoren („school strain“, sozialer Status) erlangten erst über diese Bondingvariablen, also über eine zweite Vermittlungsebene, eine moderate bis stärkere Bedeutung (bis b = –0,32; Elliott et al. 1989, S. 146 ff.). Ähnliche Zusammenhänge werden auch für den Beginn schweren Gewaltverhaltens berichtet. Dabei ergab sich allerdings auch für „normative belief“ („attitudes towards deviance“) ein stärkerer direkter Effekt (Elliott 1994, S. 15 ff.). Solche soziologischen Modelle konnten immerhin bis zu 32% der Varianz erklären. Dass Elliott et al. das Gesamtergebnis allenfalls als „moderately well“ (1989, S. 156) betrachten, liegt sicherlich an dem dominanten Effekt delinquenter Peergruppen. Denn dies deutet weniger auf die Relevanz externer kausaler Bedingungen, als eher auf die Bedeutung selbstverstärkender Effekte innerhalb eines delinquenzorientierten Kommunikationssystems hin.24 Gleichwohl deutet sich in diesen Befunden etwas an, was für solche sozialstrukturellen Analysen typisch zu sein scheint und anhand einer Unterscheidung zwischen distalen und proximalen Faktoren sichtbar wird: Generelle, nicht unmittelbar delinquenzbezogene soziale Strukturmerkmale wie Ungleichheit, Bildungserfolg, familiärer Zusammenhalt etc. (distal) erlangen erst über die Vermittlungsebene delinquenzbezogener Gruppenbildungen oder Wertorientierungen (proximal, z. B.: Akzeptanz strafrechtlicher Normen) eine größere kriminologische Bedeutung.25 24
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Hirschi (1979; 1986, S. 111) beurteilt solche Zusammenhänge als – im Sinne des Hypothesenprüfens – negativ anzusehende Tautologien und meint, dass Versuche der Theorieintegration letztendlich nur moderne Varianten des Multifaktorialismus darstellen. Denn es würden lediglich Einzelelemente der ausgewählten Theorien im positivistischen Sinne miteinander verknüpft, wodurch die konstitutiven Ausgangsfragestellungen der verwendeten Theorien (z. B. das für die Kontrolltheorie charakteristische Interesse an der Erklärung konformen Verhaltens) aber außer Acht blieben. Ebenso Akers (1998, S. 322) mit Social-learning-Variablen als proximalen Faktoren. – Hermann (2003, S. 153 ff.; s. auch Hermann und Dölling 2001, S. 28 ff.) hat die Normakzeptanz im Kontext einer kriminologischen Analyse von generellen, soziale Milieus ausdifferenzierenden Wertorientierungen ausführlich theoretisch untersucht und konnte seine Hypothesen, allerdings nur anhand von Querschnittdaten, bestätigen. Erste Analysen Münsteraner und Duisburger Paneldaten mit Einstellungen zur Sanktionsbedeutung und -wirkung sowie mit Operationalisierungen zur „theory of planned behavior“ (die sich allerdings auf den Ladendiebstahl beschränken mussten) deuten in dieselbe Richtung (Boers et al. 2002, S. 144; Wittenberg u. Reinecke 2003, S. 218 ff.; Wittenberg 2007, zur Studie s. unten 5.2).
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Solche Beobachtungen werden in Thornberrys „interactional theory“ insbesondere im Hinblick auf reziproke delinquente Verstärkungsprozesse weiterentwickelt. Diese Theorie bildet den konzeptionellen Mittelpunkt der „Rochester Youth Development Study“. Diese theoretisch und methodisch wohl entwickeltste der soziologisch-ätiologischen Untersuchungen wurde 1988 mit einer hinsichtlich des Geschlechts (75% Jungen) und sozial benachteiligter Nachbarschaften stratifizierten Stichprobe von 1000 dreizehnjährigen Schülern begonnen, die bis zum Alter von 22 bis 23 Jahren insgesamt zwölfmal (achtmal im halb- und viermal im jährlichen Abstand) befragt wurden (Thornberry et al. 2003, S. 16). Den Ausgangspunkt der „interactional theory“ bilden abermals klassische anomie- und vor allem kontrolltheoretische Annahmen: „basic cause“ der Delinquenz sei, dass sozialstrukturelle Benachteiligungen der Familie oder des Wohnviertels die Herausbildung konventioneller Bindungen an die Familie, Schule oder konforme Freundesgruppe schwächten (t1). Sodann stehen als dynamisch-interaktionaler Aspekt die Wechselwirkungen zwischen delinquentem Verhalten und den verschiedenen „social bonds“ im Zentrum der Überlegungen. Delinquentes Verhalten könne die Bindungen zur Familie und konformen Freunden sowie einen erfolgreichen Schulverlauf weiter schwächen und umgekehrt die Beziehungen zu delinquenten Peers sowie delinquente Normorientierungen, also delinquente Kommunikationsbeziehungen (t2) mit der Folge weiterer Delinquenz (t3) stärken 26 (Thornberry 1987; Thornberry u. Krohn 1997, 2001; Thornberry et al. 2003, S. 12 ff.). Empirisch ist dieses Modell bislang noch nicht für die ganze Jugendund Jungerwachsenenphase überprüft worden. Für das Gesamtmodell liegen bislang lediglich Analysen für die ersten eineinhalb Jahre (drei Wellen) mit ausgesuchten Variablen vor. Danach erwiesen sich nur rund die Hälfte der theoretisch besonders bedeutsamen reziproken Effekte („cross-lagged effects“) zwischen den berücksichtigten Variablen („delinquent peers“, „delinquent beliefs“, „peer reactions“, „delinquent behavior“) als signifikant und waren zudem nur sehr schwach ausgeprägt (b ≤ 0,13). Starke Beziehungen ergaben sich indessen zwischen denselben zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhobenen Variablen (b = 0,38 bis b = 0,55) sowie auch unter allen Variablen zu demselben, vor allem ersten Befragungszeitpunkt (Thornberry et al. 1994, S. 66 ff.). Diese Befunde mögen mit dem kurzen Analysezeitraum zusammenhängen, weisen aber gleichwohl darauf hin, dass eigendynamische, sich selbst verstärkende Prozesse eine größere Bedeutung haben können als kausale Effekte zwischen verschiedenen Variablen. Demnach wären Delinquenz, Delinquent Peers, „beliefs“ oder „peer reactions“ vornehmlich aus sich heraus und weniger durch exogene Verstärkung über die Zeit stabil. Konzeptionell noch nicht überzeugend sind im Übrigen die Ver26
„Interaktional“ ist hier also nicht im Sinne des „labeling approach“ als Beziehung zwischen delinquent Handelndem und (formeller) Kontrollintervention zu verstehen, sondern bezeichnet lediglich die (ätiologisch verstandene) Beziehung: soziale Umwelt – delinquent Handelnder – soziale Umwelt usw.
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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laufsannahmen. Die Reziprozitätsannahmen laufen allein auf zunehmende Persistenz hinaus. Da die „interactional theory“ sich aber als „developmental criminology“ versteht, soll sie neben Kontinuität auch Änderung erklären. Insoweit geben Thornberry und Kollegen (2003, S. 14; s. auch Thornberry u. Krohn 2001, S. 296 ff.) einstweilen jedoch nur allgemein Hinweise auf episodale und Late-onset-Verläufe, ohne diese bekannten Phänomene konkret und operationalisierbar in ihre theoretische Konzeption einzuarbeiten. Insgesamt wird man also die Befunde weiterer, das vollständige Panel in den Blick nehmender Untersuchungen abwarten müssen.27 Es mag sein, dass die meist schwach ausfallende empirische Bewährung klassischer anomietheoretischer Annahmen mit dem darin enthaltenen und möglicherweise so nie zutreffend gewesenen Bild vertikaler sozialer Ungleichheitsstrukturen zusammenhängt (vgl. Boers 1999, S. 64 ff. mwN; Boers u. Pöge, 2003, S. 249 ff.). Anhand einer an den Lebens- und Konsumbedingungen moderner Wohlfahrts- und Wettbewerbsgesellschaften orientierten Reformulierung anomietheoretischer Überlegungen stellte ein Teilprojekt des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 227 „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ jedenfalls fest, dass Versagungs- und Frustrationserfahrungen im Hinblick auf das Erreichen von (insbesondere elterlichen) Leistungs- und Erfolgszielen beziehungsweise der Nichterwerb von jugendkulturell geprägten Konsum- und Statuspositionen am stärksten mit der selbstberichteten Delinquenz korrelierten. Ab 1986 waren 1717 Schülerinnen und Schüler der siebten und neunten Klassen aus repräsentativ ausgewählten Regionen Nordrhein-Westfalens bis zu viermal in jährlichem Abstand befragt worden (Engel u. Hurrelmann 1994). Viel beachtet wurde schließlich die erste Reanalyse der Gluecks-Daten bis zum 32. beziehungsweise 45. Lebensjahr durch Sampson und Laub (1993). Theoretisch am konsistentesten stellten die Autoren Kontinuität und Änderungen delinquenter Verläufe in den Mittelpunkt ihrer sozialstrukturellen („sociogenic“, ebd., S. 246 f.) „theory of age-graded informal social control“, die vor allem den Zusammenhang zwischen dem Abbruch delinquenter Verläufe und im Erwachsenenalter entstandenen sozialen Bindungen in die Diskussion einbrachte; die Studie wurde nun aufgrund einer Rekonstruktion der Hellfelddaten und neu geführter qualitativer Interviews bis zum siebzigsten Lebensjahr ausgedehnt (Laub u. Sampson 2003). Sampson und Laub entwickeln ihre Theorie im Sinne der Lebensverlaufsforschung mit drei Thesen für die Lebensabschnitte Kindheit-Jugend, Übergang Jugend ins Erwachsenenalter und Erwachsenenalter. (1) Zunächst werden – strikt kontrolltheoretisch – als Ursachen der Kriminalität im Kindes- und Jugendalter vor allem geschwächte „social 27
Nach diesen ersten Analysen des Gesamtmodells konzentrierten sich die Auswertungen zunehmend auf auch durch aktuelle Diskussionen angeregte Einzelaspekte, z. B. zu Peers und Gangs, gewaltsamen Erziehungsstil, Schul-, Drogen- und Gewaltproblemen (Thornberry et al. 2003, S. 19 ff., mwN). Zu einer Analyse der Effekte formeller Kontrollinterventionen durch Bernburg und Krohn (2003) s. den folgenden Abschnitt.
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bonds“ zur Familie und Schule sowie stärkere Bindungen an delinquente Peers angesehen (geringe informelle Sozialkontrolle); Persönlichkeitsmerkmale oder sozialstrukturelle Faktoren (wie Schichtzugehörigkeit, Familienstruktur, Migrationshintergrund, Arbeitssituation der Eltern) hätten demgegenüber allenfalls einen geringen oder nur indirekten Einfluss über die „social bonds“. (2) Sodann wird davon ausgegangen, dass sich deviante und delinquente Verhaltensweisen des Kindesalters zu einem beachtlichen Teil in das Erwachsenenalter fortsetzen und dann auch die Stabilität der „social bonds“ im Erwachsenenalter schwächen könnten (Kontinuität). (3) Gleichwohl würden sich unabhängig davon im Erwachsenenalter aufgrund von besonderen Lebensereignissen oder späten Sozialisationsprozessen eigene und neue „adult social bonds“ herausbilden. Sie ermöglichten unabhängig von der vorherigen Delinquenzbelastung einen Abbruch der kriminellen Entwicklung oder umgekehrt, bei ihrem Fehlen, auch einen späten Kriminalitätsbeginn (Sampson u. Laub 1993, S. 7, 243 ff). In der dritten These liegt die eigentliche Neuerung. Sie folgt konsequent den dynamischen Annahmen der Lebensverlaufsforschung, dass sich Trajektorien während des gesamten Lebens aufgrund von bestimmten Ereignissen und alterstypischen sozialen wie persönlichen Entwicklungen ändern können (ebd., S. 8 f.). Die Thesen zu den Ursachen der Jugendkriminalität sowie hinsichtlich des Abbruchs krimineller Entwicklungen im Erwachsenenalter können nach den multivariaten Analysen mit dem rekonstruierten Glueck-Datensatz als (gut) bewährt angesehen werden, während die Kontinuitätsannahme kaum Bestätigung fand. (1) Die „social bonds“ zur Familie 28, Schule und zu den Peergroups hatten mit moderaten bis stärkeren Zusammenhängen (bis b = 0,30 bei selbstberichteter Delinquenz) die mit Abstand stärkste Bedeutung für die Entstehung der frühen Kriminalität. Des Weiteren erwies sich hier abermals, dass zum einen sozialstrukturelle Faktoren vornehmlich Hintergrundfaktoren 29 sind, die einen kriminologisch relevanten Effekt vor allem über die Vermittlung delinquenznäherer Variablen (in diesem Fall: „social bonds“) erlangen; zum anderen entfalteten auch die Persönlichkeitsmerkmale des Kindes- und Jugendalters kaum einen Einfluss 30 (ebd., S. 77 ff., 109 ff., 119 f.). 28 29
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Vor allem Fürsorge und Aufsicht durch die Eltern, daneben auch ein nicht erratischer sowie nonviolenter Erziehungsstil. Als direkter Effekt blieben nur Familiengröße, beengte Wohnverhältnisse und Wohnortwechsel zwar statistisch signifikant, der Einfluss war indessen mit b < 0,10 nahezu unbedeutend. Als statistisch signifikante direkte Effekte blieben allein „difficult child“, Wutanfälle („tantrums“) und „early onset“ (b = 0,05 bis b = 0,10); IQ, Extraversion, Selbstkontrolle oder mesomorpher Körpertyp waren nicht signifikant.
1.2 Delinquenz im Lebensverlauf
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(2) Hinsichtlich der Kontinuität bestand ein lediglich schwacher Zusammenhang zwischen im 14. Lebensjahr vom Probanden, seinen Eltern und Lehrern berichteten Verhaltensauffälligkeiten 31 mit bis zum 25., 32. oder 45. Lebensjahr registrierter Delinquenz („arrests“). Wie schon oben in der Untersuchung der lebenslangen Trajektorien dieser Probanden zu beobachten war, spielten darüber hinaus für die Entwicklung der registrierten Delinquenz keinerlei Sozial-, Persönlichkeits- oder Bondingfaktoren eine Rolle (ebd., S. 134 f.). Freilich wird eine Kontinuität (Persistenz) früher Auffälligkeiten nur für die kleine Gruppe der Hochauffälligen angenommen. Gleichwohl würde man zumindest bei den vorbestraften Probanden, die ursprünglich in einer Erziehungsanstalt untergebracht waren, eine stärkere Persistenz erwarten können. Auch dies war indessen nicht der Fall. Die Zusammenhänge zwischen der bis zum Ende der Jugendzeit und der im frühen Erwachsenenalter (17. bis 25. Lebensjahr) festgestellten Hellfeldkriminalität waren etwas stärker ausgeprägt, schwächten sich jedoch mit weiter auseinander liegenden Registrierungszeitpunkten (bis 32. oder 45. Lebensjahr) auch wieder ab (ebd., S. 155, 157 f., 161). Dass (jedenfalls) im Dunkelfeld selbst bei schweren und gewaltsamen Tätern intermittierende Delinquenzverläufe nicht seltener auftreten als kontinuierliche – ein bislang nur selten untersuchtes Phänomen –, haben kürzlich Huizinga et al. (2003, S. 55) in Analysen ihrer „Denver Youth Study“ 32 festgestellt. Danach wiesen die Hälfte solcher Probanden, deren Gewaltkarriere mehr als drei Jahre dauerte, intermittierende Verläufe auf, also Jahresphasen ohne gewaltsame und schwere Delinquenz; bei einer Karrieredauer von fünf Jahren zeigte sich sogar bei drei Viertel der Probanden ein intermittierendes Verlaufsmuster.33 Möglicherweise wegen der selbstverstärkenden Effekte formeller Kontrollinterventionen wäre demnach mit (allerdings begrenzter) Kontinuität am ehesten im Hellfeld zu rechnen. (3) Schließlich fand die dritte These die stärkste empirische Unterstützung. Zwischen dem 17. und 32. Lebensjahr erworbene „adult social bonds“ 31
32
33
Diese von den Autoren etwas irreführend als „unofficial delinquency“ (ebd., S. 134) bezeichneten Verhaltensweisen reichen vom Rauchen, Alkohol trinken, Ungehorsam, Lügen über Herumtreiben, Schule schwänzen, leichtere Diebstahldelikte bis zu Sachbeschädigungen, Feuer legen, Prügeln und schwereren Eigentumsdelikten. Sie wurde offensichtlich nicht gänzlich systematisch und standardisiert und wohl auch ohne Häufigkeitsangaben (Inzidenz) erhoben. Gleichwohl sind hierin solche Verhaltensweisen enthalten, die in der persönlichkeitsorientierten Kriminologie als „antisocial behavior“ des Kindesalters ein Hauptgrund für spätere Delinquenz und Straffälligkeit sein sollen (s. oben). Die „Denver Youth Study“ ist neben der Rochester und Pittsburgh Studie eine der drei neueren vom Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention (OJJDP) im Rahmen des „program on the causes and correlates of delinquency“ geförderten Panelstudien. Da sie im Unterschied zu den beiden anderen Studien konzeptionell keiner bestimmten Forschungsrichtung folgt, wird sie hier nicht gesondert vorgestellt. Interessante Einzelbefunde werden an den betreffenden Stellen berichtet. Zu den empirisch und konzeptionell noch ungeklärten Fragen intermittierender Verläufe s. Piquero (2004).
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standen deutlich mit geringeren Registrierungsraten („frequency of arrest“) bis zum 25., 32. oder 45. Lebensjahr im Zusammenhang (bis b = 0,36), und zwar unabhängig vom zuvor erwähnten Effekt der im Jugendalter registrierten Kriminalität (je nach Beobachtungszeitraum zwischen b = 0,24 und nicht signifikant).34 Von den „adult social bonds“ waren kriminologisch allein eine Partnerschaft und die Arbeitssituation bedeutsam, wobei es auf deren Qualität – eben „good marriage“ und „job stability“ – ankam (ebd., S. 153 ff., 181 ff.).35 War die Herausbildung von Adult Bonds von vorherigen sozialen und persönlichen Entwicklungen weitgehend unabhängig, so fanden die Autoren einen „deleterious“ (ebd., S. 167) Effekt von (längeren) Inhaftierungszeiten im Jugend-, vor allem aber im frühen Erwachsenenalter (17 bis 25 Jahre) auf die spätere „job stability“. Obgleich sich die Haftdauer im Glueck-Sample erstaunlicherweise nicht direkt auf das Ausmaß der späteren Kriminalität auswirkte, hatte sie einen starken indirekten Effekt, indem infolge der Inhaftierung die Chancen, eine stabile, den Karriereabbruch fördernde Berufskarriere aufzubauen, verringert wurden (ebd., S. 162 ff.). Da dieser Inhaftierungseffekt im Hinblick auf vorhergehende Neigungen zur sozialen Auffälligkeit sowie Delinquenz und Alkoholabusus kontrolliert wurde, wird davon ausgegangen, dass er nicht scheinkorrelativ ist, also nicht lediglich auf einer justiziellen Bestätigung der ohnehin sozial oder persönlich Schwerauffälligen beruhe (ebd. sowie im Rückblick Sampson u. Laub 1997, S. 149). Diese Befunde werden zunächst nur am Rande im Sinne eines strukturellen, die Möglichkeiten einer konformen Lebensbewältigung begrenzenden Labeling diskutiert, veranlassen Sampson und Laub (1997, S. 141) etwas später allerdings dazu, ihre „theory of age-graded informal social control“ explizit mit strukturalen Aspekten des „labeling approach“ zu einer „life course theory of cumulative disadvantage“ zu integrieren. Damit erweiterten sie ihre ätiologische um eine konstruktivistische Perspektive in der kriminologischen Längsschnittforschung. Konzeptionell an Sampson und Laubs ätiologischen Überlegungen orientiert, wurde im Rahmen der Nachuntersuchung der Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung der Karriereabbruch für die 240 Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre erneut befragten Probanden (bis zum 46. Lebensjahr) quantitativ und qualitativ analysiert (Stelly u. Thomas 34
35
Das heißt: Die hierdurch nicht erklärte spätere Kriminalität wird (weit stärker) durch (das Fehlen der) „adult social bonds“ erklärt. – In einem hinsichtlich signifikanter Effekte stark reduzierten Reggressionsmodell betrug der Effekt der zusammengefassten „social bonds“ sogar bis b = 0,63 verglichen mit b = 0,12 für Registrierungen im Jugendalter; die erklärte Varianz betrug hier 54% (ebd., S. 202). Auch Mischkowitz (1993, S. 295 ff.) sowie Stelly und Thomas (2001, S. 215 ff.) fanden unter Rückgriff auf die qualitativen Erhebungen der Tübinger Nachuntersuchung heraus, dass das Fortwirken früher aufgebauter Ressourcen in den Bereichen Familie und Bildung im Sinne einer später wieder möglichen sozialen Einbindung einen Hauptfaktor für den Übergang von einer Institutionenkarriere zu einem strafrechtlich konformen Lebensverlauf bildet.
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2001, S. 115 ff.). Auch hier stellte sich heraus, dass das Fortwirken früher aufgebauter Ressourcen in den Bereichen Familie und Bildung im Sinne einer später wieder möglichen sozialen Einbindung einen Hauptfaktor für den Übergang von einer Institutionenkarriere zu einem strafrechtlich konformen Lebensverlauf bildete (ebd., S. 215 ff.; s. auch Mischkowitz 1993, S. 295 ff.).
1.2.5.2 Soziologisch-konstruktivistische Studien Soziologisch-konstruktivistische Studien zeichnen sich dadurch aus, dass sie, im Sinne des „labeling approach“, die Auswirkungen vor allem formeller sozialer Kontrollinterventionen auf den weiteren Delinquenzverlauf und damit die Unterscheidung zwischen Kriminalität und Kriminalisierung konzeptionell berücksichtigen. Die meisten dieser Untersuchungen stammen aus der jüngsten Zeit. Die in ihrer ersten Reanalyse der Gluecks-Daten beobachteten negativen Effekte formeller Sanktionierungen auf die Herausbildung sozialer Bindungen im Erwachsenenalter haben Sampson und Laub (1997) etwas später im Rahmen von Überlegungen über sich im Lebensverlauf anhäufende Benachteiligungen („life course theory of cumulative disadvantage“) vertiefend reflektiert. „Cumulative Disadvantage“ wird nun zum zentralen Aspekt ihrer Theorie des delinquenten Lebensverlaufs und bezeichnet die Akkumulation von Misserfolgen und Belastungen hinsichtlich der „social bonds“ Familie, Schule und Peers „most explicitly by the negative structural consequences of criminal offending and official sanctions for life chances. The theory specifically suggests a ,snowball‘ effect – that adolescent delinquency and its negative consequences (e.g., arrest, official labeling, incarceration) increasingly mortgage one’s future, especially later life chances molded by schooling and employment“ (ebd., S. 147, Hervorhebung durch Verf.). Bei „cumulative disadvantage“ geht es um dreierlei: (1) um die Berücksichtigung der negativen Folgen des sowohl (primären) delinquenten Verhaltens (mit den Zurückweisungsreaktionen des sozialen Umfeldes) 36 als auch der Sanktionierung (Einschränkung konformer Lebensbewältigungschancen mit der Folge sekundärer Delinquenz, strukturelles Labeling); (2) um die im Lebensverlauf erfolgende Aufrechterhaltung und Verstärkung der Kriminalität durch die Kriminalität selbst (Selbstverstärkung) und damit (3) um die Betonung, dass die Stabilität (Kontinuität) krimineller Verläufe weniger – wie es die persönlichkeitsorientierte Längsschnittforschung sowie Gottfredson und Hirschi annehmen – auf einer persönlichen Anlage oder Neigung beruhe, sondern in informellen wie vor allem formellen sozialen Interaktionen herausgebildet werde, aber auch vermieden und geändert werden könne (soziale Reaktion): „Indeed, the stabi36
Ausdrücklich in Anlehnung an Thornberrys interaktionale Theorie (ebd., S. 146).
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lity of behavior may reflect more the stability of social response than the time-invariance of an individual trait“ (ebd., S. 154 f.). Nachdem der Labelingansatz insbesondere in den 80er Jahren als wenig ertragreich galt und insbesondere in der kriminologischen Längsschnittforschung kaum Beachtung fand (im Überblick: Paternoster u. Iovanni 1989) 37, stehen Sampson und Laub mit dieser Perspektivenerweiterung inzwischen nicht allein da. Selbst Loeber und LeBlanc (1990, S. 421) entdeckten Anfang der 90er Jahre den „labeling approach“ als einzige der klassischen Kriminalitätstheorien, die man als „developmental in nature“ bezeichnen kann. Vor allem die differenzierte Bewertung des theoretischen und empirischen Gehalts des „labeling approach“ durch Paternoster (einem der methodisch versiertesten Längsschnittforscher) und Iovanni dürfte zu einer stärkeren Rezeption in der kriminologischen Längsschnittforschung beigetragen haben. Paternoster und Iovanni führten Ende der 80er Jahre die mangelnde Akzeptanz des „labeling approach“ zum einen auf dessen simplifizierende Rezeption im Sinne eines Definitionsdeterminismus (allein schon das formelle Label löse eine kriminelle Karriere aus) zurück. Indessen würde ein erfolgreicher Labelingprozess – auch nach den Vorstellungen der Begründer des Labelingansatzes, insbesondere, wenn man Lemerts (1967) Prozessmodell der sekundären Devianz folge – weit differenzierter erfolgen (Paternoster u. Iovanni 1989, S. 359 ff., 386; „contingent nature“, S. 378). Ob und wie sich eine Etikettierung zu einer delinquenten persönlichen Identität, zu einer „self-fulfilling prophecy“ verdichte, hänge demnach von zahlreichen weiteren Vermittlungs- und Interaktionsprozessen, also vornehmlich indirekten Zusammenhängen ab, die man als strukturelles Labeling bezeichnen kann: Vor allem die Öffentlichkeit des Labels, die ablehnende oder unterstützende Reaktion der sozialen Umgebung sowie die Beschränkung von Gelegenheiten zur konformen Lebensbewältigung sollen danach eine Rolle spielen (ebd., S. 375 ff.). Zum anderen habe die bestenfalls inkonsistente empirische Befundlage die Akzeptanz des „labeling approach“ verringert. Nach Paternoster und Iovanni beziehen sich die empirischen Studien vor allem auf die beiden Kernthesen des „labeling approach“: neben der soeben erwähnten sekundären Devianz infolge strukturellen Labelings die sozial ungleiche Verteilung des Kontrollrisikos („status characteristic“ oder „structural location“ bei Sampson und Laub 1997, S. 152). Die meisten dieser Untersuchungen werden jedoch als methodisch unzureichend angesehen, da sie entweder allein auf Kontrollstichproben von zudem häufig Verurteilten und Rückfälligen beruhten, die einen Vergleich mit Nicht- oder Frühetikettierten nicht erlauben, oder auf Querschnittdaten oder zeitlich zu kurzen Längsschnitt37
Eine Ausnahme bildete in den 70er Jahren bemerkenswerterweise Farrington (1977). Auch in seinen neuesten Theorieentwurf schließt er Labelingelemente ein (Farrington 2003 b, S. 231 f.).
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studien beruhten, mit denen der indirekte und komplexe strukturelle Vermittlungsprozess zur sekundären Devianz nicht untersucht werden könne (Paternoster u. Iovanni 1989, S. 369 ff., 383 ff.; Sampson u. Laub 1997, S. 139 f.). In letzter Zeit wurden zwei Untersuchungen veröffentlicht (Rochester u. Bremen), in denen sich diese Kernthesen in methodisch zuverlässigerer Weise bewährt haben. In multivariaten Analysen mit den Paneldaten der „Rochester-Study“ konnten Bernburg und Krohn (2003, S. 1299 ff.) zunächst strukturelle Labelingeffekte feststellen: Zum einen hatten während des Jugendalters (13,5 bis 16,5 Jahre, Welle 1 bis 7) erfolgte polizeiliche wie justizielle Kontrollinterventionen einen signifikanten, allerdings nur eher schwachen Einfluss auf den Schulerfolg und die Schulpräsenz im 17. Lebensjahr sowie auf den Berufserfolg (Arbeitslosigkeit) 38 im 19. bis 22. Lebensjahr und hierüber auf die Täterinzidenzen der selbstberichteten Delinquenz 39; zum anderen ergaben die Interaktionseffekte, dass die Auswirkungen von Kontrollinterventionen auf die Erwachsenenkriminalität unter ärmeren Probanden und vor allem „African-Americans“ 40 größer waren. Des Weiteren bestanden im Sinne des Definitionsaspektes direkte Effekte der polizeilichen und justiziellen Intervention für die Täterinzidenzen der selbstberichteten schweren Delinquenz und des Drogenhandels. Schließlich sind diese Befunde auch deshalb von Bedeutung, weil in allen Analysen der Einfluss der selbstberichteten Delinquenz im Jugendalter berücksichtigt wurde, das (netto) festgestellte erhöhte Kontrollrisiko also (zumindest insoweit) nicht auf einer höheren Delinquenzneigung beruhte. Auch Prein und Schumann (2003) stellten in ihrer im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186 durchgeführten quantitativen und qualitativen Bremer-Panelstudie zur kriminologischen Relevanz des Übergangs von der Schule ins Berufsleben vor allem direkte Sanktionierungseffekte für die weitere Berufs- sowie Delinquenzentwicklung fest. Ihre Analysemodelle folgten den theoretischen Überlegungen von Paternoster und Iovanni sowie Sampson und Laubs „theory of cumulative disadvantage“. Die Studie war 1989 im quantitativen Panel mit 732 Abgängern aus (vorwiegend) neunten und zehnten Haupt- und Sonderschulklassen (Alter: 16 bis 17 Jahre) begonnen worden und wurde bis zum Jahre 2000 in fünf Erhebungswellen in zwei- bis dreijährigem Abstand mit schließlich N = 333 Probanden der quantitativen und N = 52 Probanden der qualitativen Studie 41 (im Alter von 38
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Die Regressionskoeffizienten für die Arbeitslosigkeit waren allesamt schwach, die formelle Kontrollintervention gehörte mit b = 0,10 bis b = 0,15 zu den stärksten Prädiktoren (ebd., S. 1303). Selbstberichtete schwere Delinquenz (19. bis 20. Lebensjahr) sowie Drogenhandel und Gesamtkriminalität im 21. und 22. Lebensjahr. Bei „African Americans“ waren diese Interaktionseffekte am deutlichsten ausgeprägt, statistisch signifikant allerdings nur mit justiziellen Interventionen. Der gegenüber der ersten Welle große Ausfall beruht vor allem auf der Verweigerung von Identifikationsmerkmalen zur weiteren Befragungsteilnahme nach der ersten Befragung (Böttger et al. 2003, S. 38 f.).
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bis zu 27 Jahren) abgeschlossen (Böttger et al. 2003). Sie erlaubt mithin zwar keine Kontrolle von Belastungen des gesamten Jugendalters, aber dafür eine Analyse des Lebensverlaufs einer kriminologisch überdurchschnittlich belasteten Population über die Mitte der dritten Lebensdekade hinaus. Als formelle Kontrollinterventionen waren nur solche der Justiz aus dem Erziehungs- und Bundeszentralregister erhoben worden: Verurteilungen sowie Einstellungen durch den Jugendstaatsanwalt (§ 45 JGG) oder den Jugendrichter (§ 47 JGG).42 Zunächst wirkten sich in den multivariaten Analysen – ähnlich wie bei Sampson und Laub oder Bernburg und Krohn – vorhergehende richterliche Sanktionierungen (Verurteilung oder in Verbindung mit einer Einstellung) negativ auf die weitere Entwicklung beruflicher Bindungen aus (Ausbildungsabbruch, unqualifizierte Arbeit, Arbeitslosigkeit), allerdings neben der selbstberichteten Gewaltdelinquenz, sodass unabhängig voneinander sowohl das delinquente Potenzial als auch die Sanktionierung einen solchen Effekt hatten (Prein u. Schumann 2003, S. 202). In den weiteren Analysen zeigten sich indessen keine durchgehenden Zusammenhänge zwischen der (erfolglosen) Berufsentwicklung und der späteren selbstberichteten Delinquenz; allenfalls bei Eigentums- sowie auch Drogendelinquenz wurden negative Auswirkungen sichtbar. Im Unterschied zu den Befunden von Sampson und Laub (1993), aber auch von Bernburg und Krohn, waren also die indirekten Sanktionierungseffekte weniger deutlich ausgeprägt; allerdings waren schulische oder familiäre Bindungen nicht untersucht worden. Hingegen waren in Bremen die direkten Effekte von größerer Bedeutung als in den amerikanischen Untersuchungen. Neben der Cliquenzugehörigkeit sowie der (vorherigen) selbstberichteten Delinquenz bewahrten die richterlichen Sanktionierungen nach multivariater Kontrolle den stärksten unabhängigen Einfluss auf die spätere Zunahme der Eigentums-, Drogen- und vor allem Gewaltdelinquenz.43 Bemerkenswert ist, dass die (offensichtlich) nicht von formellen Sanktionen begleiteten staatsanwaltlichen Einstellungen nach § 45 JGG, also die Diversion im engeren 42
43
Demnach sind allerdings die Einstellungen mit formellen Sanktionen, die durch den Jugendstaatsanwalt beim Jugendrichter angeregt (§ 45 III JGG) oder vom Jugendrichter (§ 47 I Nr. 3 JGG) direkt angeordnet werden können (formell intervenierende Diversion) nicht gesondert erhoben worden. Die mit Blick auf § 47-Erhebungen gewählte Formulierung „Verfahrenseinstellungen mit weiteren Maßnahmen“ (ebd., S. 207) weist jedoch darauf hin, dass hierunter (vornehmlich) Einstellungen mit formellen Sanktionierungen erfasst worden sind. Da nur unstandardisierte Regressionskoeffizienten berichtet wurden (Prein u. Schumann 2003, S. 204 f.), bezieht sich dieser Vergleich auf das höhere (p < 0.01) Signifikanzniveau der drei Variablen(bereiche) Sanktionierung, Cliquenzugehörigkeit sowie vorherige selbstberichtete Delinquenz. – Auch in den Analysen der Denver-Studie fanden Huizinga et al. (2003, S. 81), dass polizeiliche Vernehmungen (Arrest) kaum abschreckend, sondern vornehmlich verstärkend auf weiteres delinquentes Verhalten wirkten. Drei Viertel der Probanden, die erstmals polizeilich vernommen worden waren, unterschieden sich nicht oder berichteten nachfolgend mehr delinquentes Verhalten als eine ansonsten gleich strukturierte Kontrollgruppe.
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Sinne, keinen signifikanten Einfluss auf die weitere selbstberichtete Delinquenz hatten (ebd., S. 203 ff.) und damit die in Deutschland vorherrschende Auffassung unterstützt wird, dass sich (informelle) Diversionsentscheidungen zumindest nicht negativer auf einen delinquenten Karriereverlauf auswirken als formelle Sanktionierungen (Heinz 1998, 1999, mit Blick auf den Rückfall auch 2004, S. 43 ff.; Brunner u. Dölling 2002, § 45 Rn. 4 ff.; Ostendorf 2007, Grdl. z. §§ 45 u. 47 Rn 4 ff., mwN). Angesichts dieser Befunde deutet sich allmählich ein differenzierteres Zusammenhangsbild an. In Rochester und Bremen sowie – mit Einschränkungen hinsichtlich der direkten Effekte – in der Reanalyse der Gluecks-Daten zeigte sich, dass neben sich wechselseitig verstärkenden sozialstrukturell begründeten Nachteilen (schulischer und beruflicher Misserfolg, Cliquenzugehörigkeit) einerseits und der Fortsetzung vorhergehender Delinquenz andererseits, formelle Sanktionen die weitere Delinquenzentwicklung eigenständig und bedeutsam verstärken können. Freilich sind damit die zuletzt von Paternoster und Iovanni theoretisch modellierten komplexen Zusammenhänge zwischen Primärverhalten, Labelingprozessen und Sekundärverhalten vor dem Hintergrund einer in sozialen Interaktionen reproduzierten Sozialstruktur nur erst in Ansätzen empirisch analysiert worden. Es fehlen beispielsweise Untersuchungen darüber, wie öffentliche formelle Etikettierungen sozial vermittelt werden, also wie sie in signifikanten Bezugsgruppen (Familie, Freunde, Schulklasse) je nach deren sozialer und/oder ökonomischer Kompetenz moderiert, d. h. im Hinblick auf die Vermeidung einer kriminellen Entwicklung abgeschwächt oder verstärkt werden können. Darüber hinaus ist nicht bekannt, welche Bedeutung der subjektiven Bewertung eines Labels durch den Adressaten zukommt. So nimmt Sherman (1993, S. 463) an, dass erst Sanktionierungen, die als ungerecht empfunden werden, delinquenzfördernde (sekundäre Devianz) Abwehr- oder Trotzreaktionen („defiance“) hervorrufen (ebenso Prein u. Schumann 2003, S. 185, 215 f.). Neben solchen sozialpsychologischen Prozessen bleiben Effekte systemischer Eigendynamik freilich bestehen. Indem sich formelle Kontrollsysteme wiederholt auf ihre (im institutionalisierten Ermittlungs- und Sanktionierungsgedächtnis archivierten) vorherigen Entscheidungen beziehen, erhöht sich das Entdeckungs- und Sanktionierungsrisiko unabhängig von anderen persönlichen oder sozialen Faktoren. Hermann und Kerner (1988; s. auch Kerner u. Janssen 1996) kommen aufgrund von Analysen über den Verlauf der Rückfälligkeit von 500 Gefangenen, die 1960 aus zwei nordrhein-westfälischen Jugendstrafanstalten entlassen worden waren, zu dem Ergebnis, dass die Eigendynamik der Verurteilungen (also die „Justizkarriere“) für die Rückfallhäufigkeit wesentlich bedeutsamer ist als Sozialisations- oder Persönlichkeitsdefizite. Auch in einer an systemtheoretischen Überlegungen (z. B. zur Selbstreferenz, Luhmann 1984, S. 57 ff.; s. Boers 1997, S. 567 ff.) orientierten explorativen Analyse der Erst- und Nachuntersuchungsdaten der Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung konnte zum einen – bei einer generellen Abbruchtendenz gegen Ende der dritten Lebensdekade – eine
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Eigendynamik des Verurteilungs- und vor allem Inhaftierungsverlaufs beobachtet werden; zum anderen hatten familiäre und soziale Defizite kaum einen Einfluss auf folgende Verurteilungen (Boers 2009). Schließlich zeigen (vornehmlich in Deutschland) durchgeführte Studien des Sanktionierungsverlaufs, dass die Entwicklung der Sanktionshärte einen deutlichen Trend zur Sanktionseskalation aufweist. Diese verläuft zwar nicht kontinuierlich und scheint zu Beginn eher auf der Schwere und Anzahl der aktuellen Delikte zu beruhen, ist letztlich aber – wie insbesondere die Analysen der Freiburger Kohortenstudie mit den Daten des Bundeszentralregisters ergaben – von einer durch die Vorstrafenbelastung bedingten und von der der Deliktschwere unabhängigen „Eigendynamik im Sanktionshärteverlauf“ geprägt (Höfer 2003, S. 131 ff., 135, 143; Heinz 1990, S. 38 ff.; Hering 1993, S. 269 ff; teilw. anders Gerken u. Berlitz 1988, S. 21 ff.). Konnte eine Eskalation der Deliktsschwere, also im individuellen Verhalten, bislang kaum festgestellt werden (s. 1.2.2, a. E.), so scheint eine Sanktionseskalation, also in den institutionellen Entscheidungen, besser belegt zu sein. Dass dabei die mittlere Sanktionshärte im Jugendstrafverfahren im Vergleich mit dem allgemeinen Strafverfahren sowohl höher lag als auch schneller stieg (Höfer 2003, S. 143 f.), bestätigt zudem die bekannte Beobachtung, dass Jugendliche bei vergleichbaren Fällen der leichten und mittleren Kriminalität härter als Erwachsene sanktioniert werden (Heinz 1990, S. 41 ff.; Albrecht 2000, S. 74 f., mwN). Vor dem Hintergrund solcher Befundlagen folgt eine in Münster und Duisburg laufende Panelstudie „Kriminalität in der modernen Stadt“ einem strukturdynamischen Analysemodell, das die Wechselwirkungen formeller Kontrollinterventionen mit der Delinquenzentwicklung und der strukturellen Einbindung in soziale Milieus in den Mittelpunkt stellt (Boers et al. 2002; Boers u. Pöge 2003; Boers et al. 2006; Boers u. Reinecke 2007, Pöge 2007 a, b).44
1.2.6 Zusammenfassung und Ausblick Die Unterschiede zwischen der persönlichkeitsorientierten und der soziologischen Längsschnittforschung sollten nicht im Sinne eines Entweder-Oder verstanden werden. Für einen „Alleinvertretungsanspruch“ ist der Gegenstand ohnehin zu komplex und sind auch die jeweiligen Befunde in sich noch nicht überzeugend genug. Hinzu kommt, dass beide Richtungen unter dem Dach der Lebensverlaufsforschung als „developmental criminology“ in 44
Die jährlich wiederholten Befragungen wurden mit rund 60 bis 70% der Siebtklässler aller Schulformen begonnen (durchschnittliches Alter: 13 Jahre; Münster: N = 1949, Duisburg N = 3411). In Münster wurden vier Wellen (bis 16. Lebensjahr) erhoben, in Duisburg wird die Studie (zunächst) bis zur achten Welle (20. Lebensjahr) fortgesetzt. – Zur kriminologischen Analyse von generellen, soziale Milieus horizontal ausdifferenzierenden und delinquenzbezogenen Wertorientierungen s. auch Hermann 2003, S. 152 ff.
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der zentralen Frage der Verlaufsdynamik inzwischen einen gemeinsamen Bezugspunkt gefunden haben. Freilich, die aus der multifaktoriellen Tradition der persönlichkeitsorientierten Ansätze heraus betriebene Aneinanderreihung von Risikofaktoren ist trotz größerer Bemühungen und Fortschritte in der Stichprobenbildung, Panelgestaltung und statistischen Methodik nicht unbedingt erklärungsfähiger geworden. Die Probleme liegen nach wie vor in der mangelnden Theorieorientierung, sodass eine in unterschiedlich bedeutsame Zusammenhangsbereiche differenzierende Analyse der psychischen Regulierung solcher Risiken – z. B. im Rahmen einer Copingtheorie (s. Boers u. Reinecke 2007; Pollich 2007; Boers 2009 in Anlehnung an Lazarus u. Folkman 1984) – nicht vorgenommen wird. Insofern scheint die in soziologischen Studien anzutreffende Unterscheidung zwischen indirekt wirkenden (distalen) sozialstrukturellen Hintergrundvariablen einerseits und direkt wirkenden delinquenznahen (proximalen) Vermittlungsvariablen andererseits schon von der Analysekonzeption her (also unabhängig von der natürlich inhaltlich anderen Grundorientierung) aussagefähiger zu sein. Als delinquenznahe Vermittlungsvariablen sind bislang vor allem die „delinquent peers“ sowie delinquenzbezogene Normorientierungen (Akzeptanz strafrechtlicher Normen) hervorgetreten. Einen beachtlichen Erkenntnisgewinn verspricht zurzeit die in beiden Forschungsrichtungen im Zentrum stehende Analyse von Verlaufspfaden anhand latenter Klassenanalysen. Hier konnten bereits einige Erfahrungen gesammelt werden, die Anlass zur konzeptionellen Differenzierung vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kontinuität und Veränderungen geben. Demnach werden delinquente Kontinuitäten früher und umfassender beendet sowie häufiger unterbrochen und gehen dissoziale Auffälligkeiten im Kindesalter oder ein „early onset“ delinquentem Verhalten im Jugend- und Erwachsenenalter weniger bestimmend voraus als dies nach strikten Persistenzannahmen zu erwarten wäre. Des Weiteren wurden seit der Reanalyse der Gluecks-Daten durch Sampson und Laub (1993) auch in einigen neueren Studien unabhängige differenzielle Effekte formeller Kontrollinterventionen auf den Delinquenz- und Verurteilungsverlauf beobachtet, also sowohl indirekt – im Sinne eines strukturellen Labeling – hinsichtlich der Destabilisierung sozialer Bindungen als auch direkt im Hinblick auf eine Verstärkung der Hell- und Dunkelfelddelinquenz. Diese Effekte scheinen zumindest ebenso bedeutsam zu sein wie der Einfluss sozialer oder persönlicher Faktoren. Darüber hinaus behielt aber auch vorhergehendes delinquentes Verhalten einen bedeutenden unabhängigen Einfluss auf die weitere Dunkelfelddelinquenz. Solche selbstbezüglichen Effekte bedeuten, dass sich delinquentes Verhalten zu einem gewissen Teil am vorherigen Verhalten orientiert und dass Interventionen formeller Kontrollsysteme in bedeutsamem Maße auf eigene vorherige Entscheidungen referieren. Delinquenz und soziale Kontrolle verfügten mithin über eine erhebliche Eigendynamik, wären Phänomene eigener
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Art, die sich sowohl unabhängig voneinander als auch unabhängig von sozialen oder persönlichen Kausalfaktoren selbst reproduzieren mit der Besonderheit, dass die Eigendynamik der Delinquenz einen früher oder später generell einsetzenden Abbruchverlauf beinhaltet. Und da ohne Delinquenz keine Kontrolle erfolgt, gilt der Abbruchverlauf auch für Kontrollinterventionen. Bei allem ist zu berücksichtigen, dass diese Forschungen alles andere als abgeschlossen sind und sich in Deutschland allenfalls in der Anfangsphase befinden. Keine Studie ist bislang konzeptionell oder vom Datenumfang her in der Lage, ein Analysedesign zu verwirklichen, das vom Kindesalter bis in die vierte Lebensdekade hinein sowohl indirekte als auch direkte Zusammenhänge von Persönlichkeitsmerkmalen und sozialstrukturellen Variablen mit unterschiedlichen Verlaufspfaden der Delinquenz analysiert, das die direkten und indirekten Effekte von Kontrollinterventionen, deren wechselseitige Beziehungen zur Dunkelfelddelinquenz, zu Struktur- wie Persönlichkeitsvariablen im Lebensverlauf sowie in diesem strukturellen Kontext die selbstreferenzielle Eigendynamik von Delinquenz- und Kontrollprozessen in den Blick nehmen kann.
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1.3 Delinquenz und Geschlecht
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Delinquenz und Geschlecht D. Hermann
1.3.1 Einleitung Männer sind insbesondere bei schweren Delikten krimineller als Frauen. So zeigt beispielsweise die Metaanalyse mehrerer Dunkelfeldstudien von Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi (1990, S. 146), dass die mittlere Geschlechterrelation für Raub und Sachbeschädigung ungefähr bei eins zu drei liegt und für Körperverletzung etwa bei eins zu vier; bei leichten Delikten und bei sonstigem abweichenden Verhalten hingegen kann man keine Geschlechterunterschiede erkennen. Auch unter Tatverdächtigen, Verurteilten sowie Inhaftierten findet man das gleiche Bild: Die Anzahl der Frauen, die angezeigt, verurteilt oder inhaftiert werden, ist erheblich geringer als die der Männer. Nach den polizeilichen Kriminalstatistiken und Justizstatistiken Europas beträgt beispielsweise die durchschnittliche Geschlechterverteilung der Tatverdächtigen bei Körperverletzungsdelikten eins zu dreizehn. Unter den Verurteilten liegt sie bei eins zu vierzehn, und im Strafvollzug sind 33-mal so viel Männer wie Frauen wegen einer Körperverletzung inhaftiert (Council of Europe 2003, S. 65, 139 und 211). Insgesamt betrachtet gibt es im Hell- und Dunkelfeld deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede (Bruhns u. Wittmann 2003, S. 41–63; Eisner u. Ribeaud 2003, S. 182–206; Franke 2000, S. 17–29; Schmölzer 2003, S. 58–64; Steffensmeier u. Allan 1996, S. 459–487). Der Frauenanteil sinkt mit zunehmender Deliktschwere. Dies zeigen die oben genannten Zahlen zu Körperverletzungsdelikten, denn die Selektion durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafjustiz wird in erster Linie von der Deliktschwere beeinflusst, sodass die durchschnittliche Deliktschwere für ein und denselben Straftatbestand in der Gruppe der Tatverdächtigen geringer ist als in der Gruppe der Verurteilten. Aber auch der in Tabelle 1.3.1 zusammengestellte Vergleich von Frauenanteilen für Delikte unterschiedlicher Art und Schwere zeigt, dass weibliche Tatverdächtige sowie Straftäterinnen vor allem bei Gewaltkriminalität und bei schwerer Kriminalität deutlich unterrepräsentiert sind. Die deliktspezifischen Frauenanteile sind beispielsweise bei Drogen- und Diebstahldelinquenz niedriger als bei Körperverletzung, Raub und Tötungsdelinquenz. Frauen und Männer unterscheiden sich auch in den Verläufen krimineller Karrieren. D’Unger, Land und McCall (2002) haben mit den Daten der zweiten Philadelphia Kohorten-Studie 1 die Beziehung zwischen Alter und Kriminalität geschlechtsspezifisch untersucht. Ihr Ergebnis war, dass der Kurvenverlauf zwar ähnlich ist, aber auf unterschiedlichen Niveaus erfolgt. Sowohl 1
Die zweite Philadelphia Kohortenstudie umfasste alle Personen, die im Jahr 1958 in Philadelphia lebten und zu diesem Zeitpunkt zwischen 10 und 18 Jahre alt waren – insgesamt über 27 000 Personen. Zur Erfassung der Delinquenzbelastung wurde auf Daten der Polizei zurückgegriffen (Tracy, Wolfgang u. Figlio 1990).
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1 Kriminologische Grundlagen
Tabelle 1.3.1. Deliktspezifische Frauenanteile in europäischen Polizei- und Justizstatistiken (in %)
Drogendelinquenz Diebstahl Körperverletzung Raub Tötungsdelikte, einschl. Versuch vollendete Tötungsdelikte Gesamtkriminalität
Tatverdächtige
Alle Verurteilte
Verurteilte zu einer Freiheitsstrafe
12 12 8 6 10 7 12
12 14 7 5 9 8 13
7 3 3 2 4 3 4
Council of Europe 2003, S. 64 f., 138 f. und 210 f.
Frauen als auch Männer steigern bis zum Ende der Adoleszenz das Ausmaß krimineller Aktivitäten; danach flacht die Kurve ab und die Kriminalität pro Jahr wird geringer. Allerdings ist der Kurvenverlauf bei Männern erheblich steiler und verläuft zudem in allen Altersphasen auf höherem Niveau als bei Frauen. Im „Ersten Periodischen Sicherheitsbericht“ (Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz 2001, S. 552) wird als Bilanz zu der Thematik festgehalten: „Männliche Jugendliche sind häufiger delinquent als weibliche. Dies ist bei Gewaltdelikten besonders ausgeprägt.“
1.3.2 Erklärungsversuche zu Geschlechterunterschieden hinsichtlich Kriminalität In über 100 Jahren Forschung zu der Frage nach Geschlechterdifferenzen bei delinquenten Aktivitäten wurden zahlreiche Erklärungsmodelle entwickelt. Insbesondere in älteren biologisch orientierten Arbeiten wurde versucht, die besondere psychophysische Ausstattung des weiblichen Geschlechts zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede heranzuziehen. Die Hypothesen von Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero (1894), dass erstens Frauen zwar evolutionsmäßig unterentwickelt seien, aber die daraus zu erwartende höhere Kriminalitätsbelastung von Frauen durch Prostitution kompensiert werde, und zweitens die Beweglichkeit der männlichen Samenzelle im Vergleich zur Unbeweglichkeit der weiblichen Eizelle zu Unterschieden im Grad der Passivität und Kriminalität führen müsse, sind heute nur noch von historischem Interesse. In neueren Arbeiten wird angenommen, dass Unterschiede in der Chromosomenstruktur, in der hormonellen Ausstattung oder im angeborenen Aggressionspotenzial geschlechtsspezifische Differenzen hinsichtlich krimineller Aktivitäten erklären (Franke 2000, S. 31–54). Die ätiologischen kriminalsoziologischen und kriminalpsychologischen Ansätze für die Erklärung der geringeren Kriminalitätsbelastung von Frau-
1.3 Delinquenz und Geschlecht
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en können meist auf ein Modell der geschlechtsspezifischen Sozialisation zurückgeführt werden. Demnach – so wird postuliert – hätten Frauen und Männer sozialisationsbedingt unterschiedliche Rollen und würden bei der Lösung von Konflikten auf unterschiedliche Lösungsmuster zurückgreifen. Die Sozialisationsziele für Frauen würden in engem Zusammenhang mit gesellschaftlich normierten Verhaltenserwartungen stehen. Dies führe zu einer geschlechtsspezifischen Übernahme typisierter Rollen- und Verhaltensmuster, zu Unterschieden in der sozialen Kontrolle und damit verbunden auch zu Unterschieden in der Gelegenheitsstruktur für die Ausführung delinquenter Handlungen (Hagan et al. 1979; Funken 1989; Schmölzer 1995; Oxford 2000; Schmitt 2001). Zu den sozialisationstheoretischen Ansätzen gehört auch die These von der moralischen Andersartigkeit der Frau. Es wird postuliert, dass Frauen und Männer unterschiedliche Moralvorstellungen besäßen; bei Frauen würde Fürsorge und Hilfsbereitschaft im Vordergrund stehen, bei Männern hingegen Gerechtigkeit. Die Frau sei, weil sie einer Ethik der Fürsorge und Liebe statt einer Ethik der Gerechtigkeit folge, unfähig zum Bösen und zur Gewalt. Gewalt und Verbrechen durch Frauen werden zwar nicht bestritten, aber sie werden als Anpassung an die männliche (Un-)Moral erklärt und somit nicht der moralischen Verantwortlichkeit der Frau zugerechnet (Gilligan 1984; kritisch: Nunner-Winkler u. Nikele 2001 und Lind et al. 1986). In einem kultursoziologischen Ansatz wird angenommen, dass sich Frauen und Männer in der Präferenz von solchen Wertorientierungen unterscheiden, die das Allgemeinwohl zum Gegenstand haben, und die Geschlechter deshalb in unterschiedlichem Ausmaß gewalttätig sind (Hermann 2004 a und 2004 b). Ein zweiter großer Diskussionsstrang innerhalb der ätiologischen Ansätze zur Frauenkriminalität postuliert einen kausalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlich unterschiedlichen Rollen und Positionen von Mann und Frau einerseits und Kriminalität andererseits. Die Rollen und Positionen der Geschlechter würden gesellschaftlich ungleich bewertet werden und würden somit zu geschlechtsspezifischen Differenzen im Grad anomischer Belastungen und in der Folge zu entsprechenden Diskrepanzen bei kriminellen Aktivitäten führen. Zudem würde die Konzentration des primären Lebensfeldes der Frau auf die Versorgung und Pflege der Kinder sowie des Mannes und des Haushaltes eine „geschütztere“ soziale Lage sowie verhältnismäßig seltenere Möglichkeiten der Begehung krimineller Handlungen bedingen. Solche Hypothesen werden meist im Zusammenhang mit der kriminologischen Emanzipationsdiskussion vertreten. Durch eine stärkere Beteiligung der Frau am öffentlichen Leben und durch eine Anpassung an die Lebenssituation des Mannes werden sich, so wird vermutet, auch die Unterschiede zwischen der weiblichen und männlichen Kriminalität nivellieren (Box u. Hale 1984; Leder 1988, S. 117–128; kritisch zur Emanzipationstheorie: Hermann u. Dittmann 1999). In der Sichtweise des definitorischen Ansatzes wird die geringere Häufigkeit und Schwere weiblicher Kriminalität als Ergebnis einer geschlechtsspezifisch unterschiedlichen und Frauen begünstigenden Kriminalisierung
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gedeutet. Dabei wird auf zwei zentrale Argumente zurückgegriffen: auf die Gleichverteilungsthese und auf die Ritterlichkeitsthese. Es wird darauf verwiesen, dass Straftaten von Frauen seltener entdeckt und angezeigt würden; zudem wird angenommen, dass Frauen seltener angeklagt und verurteilt sowie mit einem geringeren Strafmaß belegt würden. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Delinquenzbereich wären demnach das Ergebnis eines geschlechtsspezifischen Selektionsprozesses, der von der Registrierung einer Straftat durch die Bevölkerung und die Polizei bis zur gerichtlichen Verurteilung reicht. Für die meisten Delikte wird ein Frauenbonus angenommen, bei einigen Delikten jedoch auch ein Frauenmalus (Pollack 1950; Geißler u. Marißen 1988; Oberlies 1990). In der feministischen Kriminologie werden die oben genannten Positionen als Produkte androzentristischen Denkens kritisiert. So bleibe häufig die Unterscheidung zwischen dem biologischen und sozialen Geschlecht unberücksichtigt – mit der Folge, dass die Fragen nach den gesellschaftlichen Mechanismen für die kulturelle Konstruktion der Geschlechterdifferenz und nach den Bedingungen der Unterdrückung der Frau durch patriarchale Strukturen sowie die Folgen von Unterdrückung in Bezug auf Kriminalität und Kriminalisierung nicht thematisiert würden. In patriarchalen Gesellschaften würden sich, so wird postuliert, spezifische Kontrollmuster gegenüber Frauen entwickeln, die zu geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Gelegenheiten für kriminelle Handlungen, zu geschlechtsspezifischen Rollen- und Reaktionsmustern in Konfliktlagen und folglich auch zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Kriminalität führen würden (Brökling 1980; Messerschmidt 1988; Dietzen 1993; Mischau 1997, 1999; kritisch: Schmölzer 2003).2 Insgesamt gesehen gibt es zwar zahlreiche Hypothesen über Geschlechterunterschiede in delinquenten Aktivitäten, letztlich ist jedoch weitgehend unklar, warum Männer krimineller als Frauen sind, denn fundierte empirische Überprüfungen sind selten. Gabriele Schmölzer (2003, S. 63) resümiert: „Die Frage nach Unterschieden zwischen der Kriminalität von Männern und der von Frauen ist bislang weitgehend ungeklärt.“
1.3.3 Empirische Studien Die Hypothese, dass Frauen in größerem Ausmaß sozialer Kontrolle unterliegen als Männer und Frauen deshalb rechtskonformer sind, wurde von LaGrange und Silverman (1999) mit Hilfe einer Befragung von etwa 2.000 kanadischen Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 18 Jahren untersucht. Das Ergebnis ihrer Studie war, dass das Geschlecht den Grad der elterlichen Kontrolle bestimmt und diese das Ausmaß krimineller Aktivitäten beeinflusst. Diese Kausalkette erklärt die Beziehung zwischen Ge2
Eine differenzierte Übersicht feministischer Kriminalitätstheorien enthält in diesem Band der Beitrag von Hermann: „Erklärungsmodelle von Delinquenz“ unter 1.7.
1.3 Delinquenz und Geschlecht
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schlecht und Kriminalität jedoch nur partiell, denn in einer multivariaten Analyse kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass Kriminalität von der Geschlechtszugehörigkeit abhängig ist, wenn der Grad der elterlichen Kontrolle statistisch konstant gehalten wird. Anders ausgedrückt: Frauen und Männer, die im Ausmaß elterlicher Kontrolle nicht differieren, unterscheiden sich immer noch signifikant in der Delinquenzbelastung. Somit ist dieser Ansatz nur partiell geeignet, die kausale Beziehung zwischen Geschlecht und Kriminalität zu klären. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Autoren bei einer Anwendung der allgemeinen Kriminalitätstheorie von Gottfredson und Hirschi (1990). Das Ausmaß der Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist einerseits geschlechterabhängig und andererseits Bedingung für Kriminalität, aber die Geschlechtzugehörigkeit beeinflusst Kriminalität auch, wenn sich die Geschlechter nicht in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle unterscheiden. Beide Ansätze haben demnach nur ein partielles Erklärungspotenzial. Eine ähnliche Fragestellung haben Elizabeth Piper Deschenes und FinnAage Esbensen (1999) verfolgt. Sie haben sich in ihrer Untersuchung auf die Erklärung von Gewaltkriminalität beschränkt und dazu die Daten einer Schülerbefragung aus dem Jahr 1998 verwendet, die im Rahmen einer „Gang-Studie“ durchgeführt wurde. Insgesamt wurden 5.935 Schülerinnen und Schüler der achten Klasse aus 42 Schulen schriftlich zu Gewaltaktivitäten befragt; dazu zählen die Autorinnen verschiedene Formen der Körperverletzung und Nötigung, aber auch das Mitführen einer Waffe zu Verteidigungszwecken. Die Geschlechterunterschiede bei allen genannten Delinquenzformen sind signifikant, und auch in einer multivariaten Analyse, in der das Ausmaß sozialer Bindungen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die Einstellung zu Gewalt, die Mitgliedschaft in einer Bande, die Gewalt in der Schule und Viktimisierungserfahrungen als unabhängige Variablen berücksichtigt wurden, ist der Einfluss von Geschlecht auf Gewaltkriminalität signifikant. Das bedeutet, dass die zu Grunde liegenden Theorien – Bindungstheorie, die Theorie der Selbstkontrolle und die soziale Lerntheorie – die Beziehung zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität nicht vollständig erklären können. Die Analyseergebnisse deuten vielmehr darauf hin, dass es zwischen den Erklärungsmodellen für Gewalt von Mädchen und Gewalt von Jungen zwar große Ähnlichkeiten gibt, aber auch graduelle Unterschiede. So scheint sich die Kontrolle seitens der Eltern zwar bei Schülern auf Gewaltkriminalität auszuwirken, bei Schülerinnen hingegen nicht, und die soziale Integration in die Schule hat nur bei Schülerinnen einen Gewalt reduzierenden Effekt, nicht aber bei Schülern. Carter Hay (2003) hat die Frage nach der kausalen Vermittlung zwischen Geschlecht und Kriminalität auf der Grundlage der „strain-theory“ von Robert Agnew (1992) untersucht. Dieser Ansatz geht davon aus, dass ungünstige Sozialkontakte und negative Lebenserfahrungen die Wahrscheinlichkeit kriminellen Handelns erhöhen. Solche Bedingungen sind beispielsweise ein harter oder sprunghafter Erziehungsstil seitens der Eltern, der Missbrauch von Vertrauen durch den Freundeskreis sowie selbst erfahrene Viktimisie-
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rungen. Solche Erlebnisse würden zu Zorn führen und schließlich zur Motivation, die negativen Erfahrungen durch korrigierende Aktionen zu kompensieren – und dies können, so Agnew, kriminelle Handlungen sein. Hay (2003) überprüfte mit den Daten einer Befragung von 87 Schülern und 95 Schülerinnen einer Highschool folgende Hypothesen: Die beiden Geschlechter unterscheiden sich im Umfang, in dem sie negativen Belastungen ausgesetzt waren; die Art der Belastungen ist für Schülerinnen und Schüler verschieden; die Reaktion auf negative Belastungen erfolgt geschlechtsspezifisch. Die Operationalisierung der negativen Belastungen wurde auf den familiäre Bereich beschränkt, insbesondere auf körperliche Züchtigungen, emotionale Zurückweisungen und ungerechte Behandlungen seitens der Eltern, Bevormundung durch die Eltern sowie strukturelle Defizite des Elternhauses. Die Reaktion auf negative Belastungen, also die abhängige Variable, wurde als Bereitschaft zu kriminellen Handeln erfasst. Auch in der Studie von Hay (2003) korrelieren Geschlecht und Delinquenzbereitschaft signifikant (r = 0,23). Zudem unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler in der Art der Belastungen: Jungen werden häufiger als Mädchen von ihren Eltern geschlagen, und das Ausmaß dieser Belastung hat einen Einfluss auf die Delinquenzbereitschaft. Der Autor untersucht jedoch nicht, ob die Geschlechtzugehörigkeit die Delinquenzbereitschaft beeinflusst, wenn der elterliche Erziehungsstil in Gestalt der Anwendung der Prügelstrafe statistisch kontrolliert wird. Allerdings kann eine entsprechende Analyse aufgrund der publizierten Angaben über Korrelationen, Mittelwerte und Standardabweichungen durchgeführt werden (Hay 2003, S. 127). Demnach hat das Geschlecht auch bei einer statistischen Kontrolle des elterlichen Züchtigungsverhaltens einen signifikanten Einfluss auf die Delinquenzbereitschaft. Auch wenn zusätzlich die Bereitschaft zu zornigen Reaktionen als weitere intervenierende Variable berücksichtigt wird, ändert sich das Ergebnis nur unwesentlich. Folglich gibt es zwar Zusammenhänge zwischen Geschlecht und negativen Belastungen sowie zwischen negativen Belastungen und Delinquenzbereitschaft, aber die Geschlechterunterschiede in der Delinquenzbereitschaft können damit nur partiell erklärt werden. Die Hypothese, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf negative Belastungen reagieren, wird nicht falsifiziert. Bei Schülern ist ein signifikanter Einfluss des Belastungsumfangs auf die Delinquenzbereitschaft nachweisbar, bei Schülerinnen hingegen ist dieser Effekt nicht signifikant. Dies würde bedeuten, dass die Kausalmechanismen, die Belastungen und Kriminalität verbinden, für Frauen und Männer verschieden sind. Allerdings sind die Ergebnisse der Studie nach Ansicht des Autors unter Vorbehalten zu interpretieren, zumal es sich bei den Daten um eine nicht zufällige Stichprobe von Schülerinnen und Schülern einer einzigen Schule handelt (Hay 2003, S. 124). Ronet Bachman und Robert Peralta (2002) haben mit den Daten von „monitoring the future“ aus dem Jahr 1994 die Frage untersucht, ob Geschlechterunterschiede in der Gewaltdelinquenz an unterschiedlichen Alkohol- und
1.3 Delinquenz und Geschlecht
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Drogenkonsummustern liegen.3 Dazu wurden über 2600 zufällig ausgewählte Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen von 139 Highschools berücksichtigt; die Befragten waren etwa 18 Jahre alt. 17% der Schülerinnen und 32% der Schüler gaben an, in den letzten zwölf Monaten mindesten einmal Gewalt im Sinne einer Körperverletzung, Bedrohung mit einer Waffe oder Brandstiftung verübt zu haben. Der Anteil von gewalttätigen Personen ist bei Personen mit erheblichem Alkoholkonsum und bei Personen, die mehrere Drogenarten konsumierten, überdurchschnittlich groß. Die Geschlechtzugehörigkeit hat einen signifikanten Einfluss auf Gewaltdelinquenz, wenn der Alkohol- und Drogenkonsum statistisch kontrolliert wurden. Demnach können Alkohol- und Drogenkonsum geschlechtsspezifische Unterschiede in Gewaltkriminalität nur bedingt erklären. In einer weiteren Analyse untersuchten die beiden Verfasser die Frage, ob sich die Modelle zur Erklärung von Gewaltkriminalität geschlechtsspezifisch unterscheiden. Das Ergebnis ist, dass dies partiell der Fall ist; es gibt zwar große Ähnlichkeiten, aber auch kleinere Unterschiede. Der Alkohol- und Drogenkonsum hat zwar sowohl bei Schülerinnen als auch bei Schülern einen Einfluss auf Gewaltdelinquenz, aber eine strukturell unvollständige Familie beispielsweise hatte nur bei Schülerinnen und die Hautfarbe nur bei Schülern einen signifikanten Effekt auf Gewalt. Allerdings wurde nicht geprüft, ob die Unterschiede zwischen den Geschlechtergruppen auch signifikant sind. In der Studie von Dieter Hermann (2004 a, b) wurde untersucht, ob durch die Berücksichtigung von Wertorientierungen und der Akzeptanz von Rechtsnormen die Mechanismen der kausalen Verknüpfung zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität geklärt werden können. Zur Beantwortung der Frage wurde überprüft, ob sich erstens Frauen und Männer in ihren kriminellen Aktivitäten und in ihren Wertorientierungen unterscheiden, zweitens ob Werte einen Einfluss auf Gewaltkriminalität haben und drittens, ob die Beziehung zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität durch Wertorientierungen und Normakzeptanz vermittelt wird – also keine direkte Beziehung zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität vorliegt, wenn Wertorientierungen und die Akzeptanz von Rechtsnormen als intervenierende Variablen in dem Modell berücksichtigt werden. Die Hypothesen wurden mit den Daten einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zufällig ausgewählter Personen aus Heidelberg und Freiburg überprüft. Die Umfrage wurde 1998 durchgeführt und umfasste etwa 3000 Personen zwischen 14 und 70 Jahren. Gewaltkriminalität wurde durch Fragen nach der Begehungshäufigkeit vorgegebener Handlungen gemessen: Sachbeschädigung, Einbruch und Körperverletzung. Zudem wurde noch die Bereitschaft zu Gewaltkriminalität erhoben und bei der Konstruktion 3
Mit „monitoring the future“ werden Umfragen bezeichnet, die seit 1975 jährlich in den USA unter Highschoolabsolventen durchgeführt werden. Die weitgehend repräsentativen Stichproben umfassten in jedem Jahr mehr als 15 000 Personen. Allerdings wurden bisher nicht allen Befragten auch alle Fragen des gesamten Fragebogens gestellt, sodass einige Fragenkomplexe nur von etwa 2600 Personen beantwortet wurden.
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eines Kriminalitätsindexes berücksichtigt. Die Messung von Wertorientierungen erfolgte mit Hilfe einer Itemliste, die erstrebenswerte Dinge und Lebenseinstellungen für das Individuum aufzählt. Dabei können drei Wertedimensionen unterschieden werden: traditionelle Werte, moderne idealistische Werte und moderne materialistische Werte. Eine differenzierte Beschreibung aller Wertedimensionen ist bei Hermann (2003, S. 192 f.) zu finden. In den Fragen zur Normakzeptanz wurde erhoben, wie schlimm verschiedene Verhaltensweisen eingeschätzt werden, insbesondere Handtaschenraub und Körperverletzung. Die Analyse zeigte, dass sich Frauen und Männer sowohl in den Prävalenzals auch in den Inzidenzraten von Gewaltkriminalität erheblich unterscheiden. Im Durchschnitt haben 100 Frauen 30 Sachbeschädigungen verübt, die gleiche Anzahl von Männern hingegen 155. Bei Körperverletzungen beträgt die Geschlechterrelation etwa eins zu zwei und bei Einbrüchen eins zu fünf. Auch hinsichtlich Wertorientierungen konnten Differenzen zwischen den Geschlechtern nachgewiesen werden. Den größten Unterschied zwischen Männern und Frauen findet man bei modernen idealistischen Werten; darunter fallen soziale, altruistische, sozialintegrative und ökologisch-alternative Wertorientierungen sowie politische Toleranz. Die Orientierung von Frauen an diesen Werten ist erheblich ausgeprägter als die von Männern, und die Unterschiede sind in nahezu allen Altersgruppen gravierend und signifikant. Die individuelle Relevanz moderner idealistischer Werte korreliert negativ mit Gewaltkriminalität, und diese Korrelation ist unabhängig vom Geschlecht des Befragten. Dies bestätigte eine Pfadanalyse, mit der die postulierten kausalen Beziehungen zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität abgebildet wurden, wobei letztlich nur die relevanten, für die Erklärung von Gewaltkriminalität bedeutsamen Variablen berücksichtigt wurden, sofern sie mit dem Geschlecht in Verbindung stehen; geschlechtsunabhängige Merkmale, die einen Einfluss auf Gewaltkriminalität haben, sind nicht berücksichtigt worden.4 Nach diesem Modell beeinflusst das Geschlecht über die Variablen „moderne idealistische Wertorientierungen“ und „Normakzeptanz“ die Begehungshäufigkeit von Gewaltkriminalität. Die Schätzungen der Modellparameter bestätigten diese Modellstruktur. Die Effekte zwischen Geschlecht und modernen idealistischen Wertorientierungen (0,20), zwischen modernen idealistischen Wertorientierungen und Normakzeptanz (0,23) und zwischen Normakzeptanz und Gewaltkriminalität (–0,43) sind signifikant und relevant; die Zahlen in Klammern sind standardisierte Pfadkoeffizienten. In dem beschriebenen Modell gibt es keinen relevanten direkten Effekt zwischen Geschlecht und Gewaltkriminalität. Dies bedeutet, dass die Beziehung zwischen diesen Merkmalen durch Wertorientierungen und Normakzeptanz vermittelt wird. Somit beschreibt dieses Modell einen Kausalprozess, der geschlechts4
Effekte, die betragsmäßig kleiner sind als das Maximum der Differenz zwischen empirischer und erwarteter Korrelation, wurden als nicht „relevant“ angesehen. Gibt es in einem Pfadmodell Effekte, die dieses Kriterium nicht erfüllen, ist dies ein Hinweis auf Spezifikationsfehler (Hermann 1984, S. 83–85).
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spezifische Unterschiede hinsichtlich Gewaltkriminalität durch kultursoziologische intervenierende Variablen erklärt. Das Ergebnis der Analyse kann folgendermaßen interpretiert werden: Die Orientierung von Frauen an modernen idealistischen Werten ist ausgeprägter als die von Männern; je bedeutsamer diese Werte sind, desto größer ist die Akzeptanz von Gewalt verbietenden Rechtsnormen, und je größer diese Normakzeptanz einer Person ist, desto seltener verübt sie Gewaltdelikte.
1.3.4 Fazit Alle Kriminalitätstheorien können genutzt werden, um Erklärungen für Geschlechterunterschiede in delinquenten Aktivitäten abzuleiten. Folglich gibt es eine Vielzahl von Erklärungsversuchen, jedoch nur wenige fundierte empirische Analysen, und zum Teil ist deren Aussagekraft durch die Beschränkung auf Schülerinnen und Schüler und durch geringe Fallzahlen eingeschränkt. Die Studien von Deschenes und Esbensen (1999), Hay (2003) und Bachman und Peralta (2002) kommen zu dem Ergebnis, dass geschlechtsspezifische Kriminalitätsunterschiede durch geschlechtsspezifische Kausalmodelle erklärt werden können. Ein solches Ergebnis beantwortet die ursprüngliche Frage nur bedingt, denn die Frage, warum soziale Abläufe für Frauen und Männer nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten verlaufen, bleibt offen. Zudem fehlt in den genannten Studien ein Vergleich der Erklärungspotenziale der verwendeten Modelle. Zum einen werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung durch eine oder mehrere Ursachen prognostiziert, zum anderen wird ein Vergleich von Kausalmodellen durchgeführt, die für Frauen und Männer getrennt bestimmt wurden. Für die erstgenanten Analysen werden erklärte Varianzen angegeben, für die zweiten hingegen nicht. Folglich ist unklar, welches Modell besser ist.5 Das Argument für die Verwendung geschlechtsspezifischer Kausalmodelle hat meist folgende Form: In einem Modell, das nur Frauen berücksichtigt, hat das Merkmal X einen signifikanten Einfluss auf Kriminalität, in einem Modell hingegen, das nur Männer einbezieht, hat X keinen signifikanten Effekt. Dieses Argument ist jedoch nur bedingt tragfähig, denn 5
Für die Erklärung geschlechtsspezifischer Kriminalitätsunterschiede durch geschlechtsspezifische Kausalmodelle werden in den genannten Studien für weibliche und männliche Untersuchte getrennte Regressionen gerechnet und (signifikante) Unterschiede in den Regressionskoeffizienten als Bestätigung der Ausgangshypothese interpretiert. Bei dieser Vorgehensweise ist eine insgesamt erklärte Varianz nicht bestimmbar. Formal-statistisch gesehen kann die Erklärung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Kriminalitätsbelastung durch geschlechtsspezifische Kausalbeziehungen als lineares multiplikatives Modell abgebildet werden: Kriminalität wird durch die multiplikative Verknüpfung eines Ursachenmerkmals mit der Variable „Geschlecht“ erklärt. Somit ist es möglich, für einen solchen Ansatz eine einzige statistische Kenngröße zu bestimmen, die das Erklärungspotenzial widerspiegelt.
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es könnte sein, dass die Unterschiede der Effekte von X in beiden Modellen nicht signifikant sind. Die verwendete statistische Methode ist für die Fragestellung nur bedingt geeignet. In vielen Ansätzen zur Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in Kriminalitätshäufigkeit und -schwere wird versucht, die Beziehung zwischen den Merkmalen Geschlecht und Kriminalität durch intervenierende Variablen zu differenzieren. Das Geschlecht einer Person wird beispielsweise als Ursache und Bedingung für den Umfang sozialer Kontrolle in der Kindheits- und Jugendphase gesehen, und dieses Merkmal, so wird angenommen, ist für Umfang und Schwere krimineller Handlungen von Bedeutung. Die intervenierenden Variablen können mit einer „black box“ verglichen werden, die in einer Kausalkette zwischen Geschlecht und Kriminalität steht. Nach den beschriebenen Untersuchungen kann diese „black box“ mit Merkmalen wie dem elterlichen Erziehungsstil, dem Ausmaß und der Art der elterlichen Kontrolle, der Fähigkeit zur Selbstkontrolle, der Art der Sozialkontakte, dem Alkohol- und Drogenkonsum sowie mit individuellen Wertorientierungen und der Akzeptanz von Normen ausgefüllt werden, wobei diese Variablen – mit Ausnahme der zuletzt genannten – die Beziehung zwischen Geschlecht und Kriminalität nicht vollständig erklären können. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass diese Merkmale nicht unabhängig voneinander sind. Es kann angenommen werden, dass eine geschlechtsspezifische Sozialisation durch die Eltern (Hagemann-White 1984) mit Unterschieden in Art und Umfang sozialer Kontrolle verknüpft ist und die Ausbildung unterschiedlicher Werte fördert. Diese haben Einflüsse auf die Akzeptanz von Normen, die Art der Sozialkontakte, das Ausmaß von Alkoholund Drogenkonsum und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, insbesondere auf die Risikobereitschaft und auf den Grad der Selbstüberschätzung. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung könnten schließlich durch Geschlechterdifferenzen in diesen Merkmalen erklärt werden. Somit ist es möglich, die Untersuchungsergebnisse in ein Gesamtmodell zu integrieren, dieses Modell bedarf jedoch der empirischen Überprüfung.
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1.3 Delinquenz und Geschlecht
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1 Kriminologische Grundlagen
Messerschmidt J (1988) Überlegungen zu einer sozialistisch-feministischen Kriminologie. In: Janssen HR, Kaulitzky R, Michalowsky R (Hrsg) Radikale Kriminologie. Themen und theoretische Positionen der amerikanischen Radical Criminology. AJZ Verlag, Bielefeld, S 83–101 Mischau A (1997) Frauenforschung und feministische Ansätze in der Kriminologie. Dargestellt am Beispiel kriminologischer Theorien zu Kriminalität und Kriminalisierung von Frauen. Centaurus, Pfaffenweiler Mischau A (1999) Frauenforschung und feministische Wissenschaftskritik in der Kriminologie. Kriminologisches Journal (7. Beiheft):141–158 Nunner-Winkler G, Nikele M (2001) Moralische Differenz oder geteilte Werte? Empirische Befunde zur Gleichheits-/Differenz-Debatte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53 (Sonderheft 41):108–135 Oberlies D (1990) Geschlechtsspezifische Kriminalität und Kriminalisierung, oder: Wie sich Frauenkriminalität errechnen läßt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42:129–143 Oxford ML (2000) Gender differences in delinquency: an examination of social control and routine activities. Dissertation, University of Washington Pollak O (1950) The criminality of women. University of Pennsylvania Press, Philadelphia Schmitt S (2001) Geschlecht und Kriminalität. Eine empirische Analyse der Power-Control Theory. In: Eifler S et al. (Hrsg) Gelegenheitsstrukturen und Kriminalität, Reihe „Soziale Probleme, Gesundheit und Sozialpolitik. Materialien und Forschungsberichte“, Bd 2, Universität Bielefeld, S 84–104; http://www.uni-bielefeld.de/sozprob/Soziale%20Probleme% 20Nr%202.pdf (Stand 1/2006) Schmölzer G (1995) Aktuelle Diskussion zum Thema „Frauenkriminalität“ – ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erklärungsversuchen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 78:219–235 Schmölzer G (2003) Geschlecht und Kriminalität. Der Bürger im Staat 53:58–64 Steffensmeier D, Allan E (1996) Gender and crime: toward a gendered theory of female offending. Annual Review of Sociology 22:459–487 Tracy PE, Wolfgang ME, Figlio RM (1990) Delinquency in two birth cohorts. Plenum, New York
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Delinquenz und Zuwanderer A. Hartmann
1.4.1 Einleitung Migration, das Verlassen des bisherigen sozialen und geografischen Lebensraumes, um andernorts bessere Lebensbedingungen zu suchen, ist ein Phänomen, das sich durch die Menschheitsgeschichte zieht. Dabei sind Faktoren, die das Herkunftsland unattraktiv machen (sog. Pushfaktoren: schlechte ökonomische Bedingungen, ethnische Spannungen, politische Verfolgung, Umweltschäden und Katastrophen, Krieg und Bürgerkrieg) und Faktoren, die die Zielländer als attraktiv erscheinen lassen (sog. Pullfaktoren: günstige ökonomische Bedingungen, Absicherung durch ein soziales Netz, Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung, Unterstützung durch bereits im Zielland lebende Verwandte oder Landsleute, günstige Einreise- und Aufenthaltsregelungen) die entscheidenden Triebkräfte (Wöhlke 2001). Deutschland war in verschiedenen historischen Phasen in
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Messerschmidt J (1988) Überlegungen zu einer sozialistisch-feministischen Kriminologie. In: Janssen HR, Kaulitzky R, Michalowsky R (Hrsg) Radikale Kriminologie. Themen und theoretische Positionen der amerikanischen Radical Criminology. AJZ Verlag, Bielefeld, S 83–101 Mischau A (1997) Frauenforschung und feministische Ansätze in der Kriminologie. Dargestellt am Beispiel kriminologischer Theorien zu Kriminalität und Kriminalisierung von Frauen. Centaurus, Pfaffenweiler Mischau A (1999) Frauenforschung und feministische Wissenschaftskritik in der Kriminologie. Kriminologisches Journal (7. Beiheft):141–158 Nunner-Winkler G, Nikele M (2001) Moralische Differenz oder geteilte Werte? Empirische Befunde zur Gleichheits-/Differenz-Debatte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53 (Sonderheft 41):108–135 Oberlies D (1990) Geschlechtsspezifische Kriminalität und Kriminalisierung, oder: Wie sich Frauenkriminalität errechnen läßt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42:129–143 Oxford ML (2000) Gender differences in delinquency: an examination of social control and routine activities. Dissertation, University of Washington Pollak O (1950) The criminality of women. University of Pennsylvania Press, Philadelphia Schmitt S (2001) Geschlecht und Kriminalität. Eine empirische Analyse der Power-Control Theory. In: Eifler S et al. (Hrsg) Gelegenheitsstrukturen und Kriminalität, Reihe „Soziale Probleme, Gesundheit und Sozialpolitik. Materialien und Forschungsberichte“, Bd 2, Universität Bielefeld, S 84–104; http://www.uni-bielefeld.de/sozprob/Soziale%20Probleme% 20Nr%202.pdf (Stand 1/2006) Schmölzer G (1995) Aktuelle Diskussion zum Thema „Frauenkriminalität“ – ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erklärungsversuchen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 78:219–235 Schmölzer G (2003) Geschlecht und Kriminalität. Der Bürger im Staat 53:58–64 Steffensmeier D, Allan E (1996) Gender and crime: toward a gendered theory of female offending. Annual Review of Sociology 22:459–487 Tracy PE, Wolfgang ME, Figlio RM (1990) Delinquency in two birth cohorts. Plenum, New York
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Delinquenz und Zuwanderer A. Hartmann
1.4.1 Einleitung Migration, das Verlassen des bisherigen sozialen und geografischen Lebensraumes, um andernorts bessere Lebensbedingungen zu suchen, ist ein Phänomen, das sich durch die Menschheitsgeschichte zieht. Dabei sind Faktoren, die das Herkunftsland unattraktiv machen (sog. Pushfaktoren: schlechte ökonomische Bedingungen, ethnische Spannungen, politische Verfolgung, Umweltschäden und Katastrophen, Krieg und Bürgerkrieg) und Faktoren, die die Zielländer als attraktiv erscheinen lassen (sog. Pullfaktoren: günstige ökonomische Bedingungen, Absicherung durch ein soziales Netz, Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung, Unterstützung durch bereits im Zielland lebende Verwandte oder Landsleute, günstige Einreise- und Aufenthaltsregelungen) die entscheidenden Triebkräfte (Wöhlke 2001). Deutschland war in verschiedenen historischen Phasen in
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unterschiedlicher Weise davon betroffen. Man denke etwa an die großen Auswanderungswellen in die USA im 19. Jahrhundert oder nach Russland im 18. Jahrhundert. Letztere liegt der in die Diskussion geratenen Zuwanderung/Rückwanderung von Aussiedlern aus den Ländern der früheren Sowjetunion zu Grunde (Brandes 1994; Dietz 2003). Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges erfuhr die Bundesrepublik Deutschland in mehreren Wellen erhebliche Zuwanderung sehr unterschiedlicher Art. Bis 1950 wurden insgesamt zirka 15 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und während des Krieges von Deutschland besetzten Staaten vertrieben. Davon gelangten etwa 8,1 Millionen Heimatvertriebene in die Bundesrepublik und etwa vier Millionen in die damalige DDR (www.wikipedia.de, Stichwort „Heimatvertriebene“). Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung setzte ab den 1960er Jahren die Anwerbung und Zuwanderung von „Gastarbeitern“ ein, denen mit der Erleichterung des Familiennachzuges in erheblichem Umfang auch deren Angehörige folgten. Beginnend mit den 1980er Jahren nahmen die Asylsuchenden erheblich zu: In der Spitze 1992 und 1993 waren es 438 000 bzw. 322 000, 2005 noch 28 914 Personen (Statistisches Bundesamt 2006 a; Schwind 2008, S. 509). Es folgte mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa eine starke Zunahme der Ausreise dort lebender Angehöriger deutscher Volksgruppen (Aussiedler; in der Spitze 1989 und 1990 377 000 bzw. 398 000, derzeit ca. 90 000 Personen), insbesondere aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, und schließlich Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Derzeit sind erhebliche Zu- und Auswanderungsbewegungen sowohl bei Deutschen wie bei Ausländern zu verzeichnen. Im Jahr 2005 zogen 128 051 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft zu und 144 815 aus Deutschland fort, sodass sich ein negativer Wanderungssaldo von 16 764 Personen ergibt. Von Personen ohne deutschen Pass wanderten 579 301 Personen zu und 483 584 Personen ab, sodass sich ein positiver Wanderungssaldo von 95 717 Personen ergibt. Die Wanderungssalden unterliegen erheblichen jährlichen Schwankungen, ohne dass derzeit klare Tendenzen festzustellen sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2006 b). Nicht erfasst sind Personen, die keiner Meldepflicht unterliegen, wie etwa Touristen, Besucher und Geschäftsreisende, die illegal zuwandernden Personen und abwandernden Personen, die sich nicht abmelden. Dadurch können zwischen den von der Statistik dargestellten Verhältnissen und der realen Situation erhebliche Diskrepanzen bestehen. Problematisch ist unter anderem, dass sich unter der abwandernden deutschen Bevölkerung zu einem großen Teil gut ausgebildete bis hochqualifizierte Fachkräfte befinden, während in der zuwandernden Bevölkerung dieser Anteil deutlich geringer ist (zum Ganzen Schwind 2008, S. 493 ff.).
1.4.2 Rechtliche Aspekte Probleme auf dem Arbeitsmarkt und eine kritische Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber der Zuwanderung führten bereits 1973 zu einem Anwerbestopp für Gastarbeiter und nach einer erheblichen Zunahme der
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1 Kriminologische Grundlagen
Asylsuchenden im Jahr 1993 zu einer Einschränkung des Asylrechts und einer strengeren gesetzlichen Regelung und Kontingentierung der Aufnahme von (Spät-)Aussiedlern. Dem gegenüber stehen verschiedene gesetzliche Änderungen, die den Status von Zuwanderern zum Teil deutlich verbessert haben: 1978 wurde der Familiennachzug erleichtert, mit den Verträgen von Maastricht (1992, in Kraft seit 1993) und Amsterdam (1997, in Kraft seit 1999), wurden die Freizügigkeit der Unionsbürger innerhalb der Gemeinschaft und zugleich eine einheitliche Visa- und Asylpolitik eingeführt. Die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten haben dadurch einen gesicherten Aufenthaltsstatus und einen weitgehend gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Für später hinzugekommene Mitgliedsstaaten wurden allerdings Übergangsfristen vereinbart. Das nationale Ausländerrecht wurde mit dem neuen Staatsangehörigkeits- (1999) und dem Zuwanderungsgesetz (2004) tiefgreifend umgestaltet. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wurde erleichtert. Seit dem Inkrafttreten der Staatsangehörigkeitsreform am 1. 1. 2000 haben bis Ende des Jahres 2005 zirka 900 000 Personen von ihrem Recht auf Einbürgerung Gebrauch gemacht (vgl. Statistisches Bundesamt 2006 d und http://www.zuwanderung.de/2_Staatsangehoerigkeit.html v. 1. 9. 2006). In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil seit mindestens acht Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und über einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel verfügt. Bis zum 18. Lebensjahr wird eine doppelte Staatsbürgerschaft des Kindes hingenommen, bei Eintritt der Volljährigkeit muss die oder der Betreffende für oder gegen die deutsche Staatsbürgerschaft optieren. Bis zum Ende des Jahres 2004 haben auf diese Weise zirka 191 000 Kinder ausländischer Eltern neben der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten (http://www. zuwanderung.de/2_Staatsangehoerigkeit.html v. 1. 9. 2006). Zugleich wurden Integrationsbemühungen (Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen) gesetzlich verankert. Die Staatsangehörigen der Türkei, die die weitaus größte Gruppe ausländischer Mitbürger in Deutschland stellen, besitzen aufgrund des Assoziierungsabkommens mit der Türkei einen rechtlich verfestigten Aufenthaltsstatus, soweit sie oder einer ihrer Familienangehörigen als Arbeitnehmer in Deutschland tätig sind, wobei der Arbeitgeber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen muss. Der Europäische Gerichtshof (EuGH), dem die Auslegung der Regelungen des Assoziationsabkommens obliegt, hat auf der Grundlage der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 (Assoziationsratsbeschluss, ARB) mehrfach entschieden, dass auf türkische Arbeitnehmer, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, soweit wie möglich die im Rahmen der Art. 39 f. EGV geltenden Grundsätze übertragen werden. Er betrachtet den ARB 1/80 als „integralen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts“ (Art. 310 iVm Art. 300 EGV) mit unmittelbarer Wirkung in den Mitgliedsstaaten, der damit den Bestimmungen des nationalen Rechts vorgeht (EuGH, DVBl 1991, 529; 1993, 307; 2004, 876; BVerwG DVBl 2005, 119,
1.4 Delinquenz und Zuwanderer
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121). Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere von Interesse, dass auch eine Untersuchungshaft (EuGH DVBl NVwZ 2000: 1029) oder die Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe ein bestehendes Aufenthaltsrecht nicht entfallen lässt, solange eine spätere Teilnahme am Arbeitsmarkt dadurch nicht endgültig ausgeschlossen ist, weil sich die Haft z. B. bis zum Erreichen des Rentenalters erstreckt (EuGH DVBl 2005: 1258 ff.). Nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts haben die Familienangehörigen Anspruch auf ungehinderten Zugang zum Arbeitsmarkt, müssen aber nach der Rechtsprechung des EuGH keine Beschäftigung aufnehmen, um ihr Aufenthaltsrecht zu erhalten (DVBl 2005, 1258 ff.).
1.4.3 Definition und Deskription von Zuwanderergruppen Der Begriff „Migration“ erfasst alle Wanderungsbewegungen der Bevölkerung (Aus- und Einwanderung von Deutschen und Nichtdeutschen), die auf einige Dauer angelegt sind, d. h. nicht Touristen, Geschäfts- und Privatbesuche, Durchreisen etc. Grundsätzlich kann zwischen der mit dem Motiv endgültiger Verlegung des Lebensmittelpunktes erfolgten Ein- und Auswanderung und der gegebenenfalls nur für einige Dauer oder einen bestimmten Lebensabschnitt (z. B. Erwerbsleben) erfolgenden Zu- und Abwanderung unterschieden werden (vgl. Schwind 2008, S. 475 f.). Allerdings kann in Statistiken die Frage der endgültigen Verlegung des Lebensmittelpunktes nicht erfasst werden, zumal sie sich im Laufe der Zeit ändern kann. Deshalb werden im Folgenden diese Sachverhalte nicht unterschieden und bevorzugt die Begriffe Zu- und Abwanderung verwendet. Unter Zuwanderern werden entsprechend der Terminologie des Ersten Periodischen Sicherheitsberichts der Bundesregierung (1. PSB) Personen verstanden, die nach Deutschland nicht nur vorübergehend eingereist sind, sowie deren hier lebende Nachfahren (BMI/BMJ 2001, S. 308). Insofern kann von einer zweiten und dritten Generation von Zuwanderern gesprochen werden, obwohl diese zumeist in Deutschland geboren wurden. Die Einbeziehung der Nachfahren der eigentlichen Zuwanderer ist unter kriminologischen Aspekten sinnvoll, da die Nachfahren in vielen Aspekten eine durch die Zuwanderung geprägte Lebenssituation vorfinden, ihr Selbstbild entsprechend geprägt ist und sie von der einheimischen deutschen Bevölkerung als Zuwanderer wahrgenommen werden. Dabei soll nicht verkannt werden, dass die Integration und Assimilation in die ortsansässige Bevölkerung mit der Dauer der Anwesenheit sehr unterschiedliche Graduierungen annehmen kann, und die Zuwanderer gerade der zweiten und dritten Generation keine homogene Gruppe darstellen. Der Begriff „Ausländer“ und synonym „Nichtdeutscher“ wird zur Kennzeichnung des rechtlichen Status verwendet und umfasst alle Personen, die nicht Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG sind. Unter beide Begriffe werden hier auch Personen ohne Staatsangehörigkeit oder mit unbekannter Staatsangehörigkeit („Staatenlose“) subsumiert, da auch die vorhandenen Statistiken und Untersuchungen
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vielfach nicht zwischen Ausländern und Staatenlosen unterscheiden. Im Jahr 2005 betrug die in Deutschland registrierte Wohnbevölkerung 82,4 Millionen Personen, davon waren 7,3 Millionen Ausländer (8,84%). Der Anteil stieg in den letzten Jahren bei erheblichen Zu- und Wegzügen im Vergleich zu den 1990er Jahren nur noch leicht an; im Jahr 2005 per Saldo um 95 717 Personen (s. oben) oder 0,12%. Von der in Deutschland gemeldeten ausländischen Wohnbevölkerung kamen 32% aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 12% stammten aus Asien, 4% aus Afrika und 3% aus Amerika. Die wichtigsten Herkunftsländer sind die Türkei mit 26%, gefolgt von Italien mit 8%, Griechenland und Polen mit jeweils 5% und Serbien/ Montenegro mit 4%. Etwa zwei Drittel der Ausländer halten sich seit mindestens acht Jahren in Deutschland auf und haben damit die notwendige Aufenthaltsdauer für eine Einbürgerung erreicht. 21% aller Personen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft wurden in Deutschland geboren, bei Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft beträgt dieser Anteil 34%, mit italienischer 30% (Statistisches Bundesamt 2006 c). Der Begriff „Aussiedler“ kennzeichnet Personen deutscher Volkszugehörigkeit, die vormals in mittel- und osteuropäischen Ländern oder den Ländern der früheren Sowjetunion, Albanien und China lebten und nach Abschluss der Vertreibungsmaßnahmen in Folge des zweiten Weltkriegs freiwillig nach Deutschland emigrierten (vgl. § 1 BundesvertriebenenG). Aussiedler, die nach dem 31. 12. 1992 auf der Grundlage des kontingentierten und überprüften Aufnahmeverfahrens nach Deutschland gekommen sind, werden als Spätaussiedler bezeichnet (vgl. § 4 BundesvertriebenenG). Personen, denen der Aussiedler- beziehungsweise Spätaussiedlerstatus zuerkannt wird, erlangen gemäß Art. 116 Abs. 1 die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. Luff 2000).
1.4.4 Befunde zur Viktimisierung von Zuwanderern Über die Viktimisierung der Zuwanderer ist relativ wenig bekannt. Zum einen enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS, Jahrgang 2007; Bundeskriminalamt 2008) noch keine spezifischen Auswertungen für Zuwanderer, zum anderen existieren nur wenige Dunkelfeldstudien, die sich speziell mit dieser Fragestellung befassen (Bundesministerium des Inneren u. Bundesministerium der Justiz 1999, S. 311; Villmow 1999). Eine Sonderauswertung der PKS für Bayern ergab ein leicht erhöhtes Viktimisierungsrisiko im Hellfeld, wobei Zuwanderer etwas häufiger als Deutsche Opfer von Gewaltdelikten und etwas seltener von Diebstahldelikten werden (Luff u. Gerum 1995; anders dagegen bei Dunkelfeldstudien mit Schülern; BMI/BMJ 2006, S. 414). Soweit Täter ermittelt werden konnten, sind diese bei den Diebstahldelikten überwiegend keine Deutschen, bei den Gewaltdelikten sogar zu zwei Dritteln selbst Zuwanderer (ebd. 1995; Bundesministerium des Inneren u. Bundesministerium der Justiz 1999, S. 311). Opfer fremdenfeindlicher Gewaltdelikte sind – im Kontrast zu sonstigen Gewaltdelikten – häu-
1.4 Delinquenz und Zuwanderer
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figer ältere Menschen und Frauen (BMI/BMJ 2006, S. 414). Zahlreiche Gründe sprechen dafür, insgesamt von erhöhten Viktimisierungsraten auszugehen mit teilweise erheblichen sozialen Folgen (Strobl 1998). Die Anzeigebereitschaft unter Zuwanderern dürfte geringer und damit das Dunkelfeld höher sein als bei der deutschen Bevölkerung. Als Gründe können unter anderem ein durch die Herkunftsländer geprägtes Misstrauen gegenüber der Polizei, Zugangsbarrieren zur Polizei in Deutschland und soziale Nachteile innerhalb der eigenen Zuwanderergruppe bei Anzeigen gegen Gruppenangehörige genannt werden. Zuwanderer sind zudem dem Risiko ausgesetzt, Opfer rassistisch motivierter Gewalt zu werden. Zugleich deuten Ergebnisse darauf hin, dass auch die innerfamiliäre Gewalt in verschiedenen Zuwanderergruppen zum Teil deutlich häufiger und massiver sein dürfte (BMI/BMJ 2006, S. 414; BMI/BMJ 2001, S. 311, 491, 498 ff.; Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen Schülerbefragungen 1998, 2000 und 2005, siehe Wetzels et al. 1999, 2000; Baier et al. 2006). Die bislang vorliegenden empirischen Befunde sind allerdings widersprüchlich und haben z. T. ein höheres, z. T. aber auch ein geringers Viktimisierungsrisiko von Migrantem bzw. Ausländern erhoben (BMI/BMJ 2006, S. 414).
1.4.5
Kriminalität Nichtdeutscher
1.4.5.1 Kriminalität im Hellfeld Zunächst gilt es festzuhalten, dass weder ein deutscher Pass noch eine ethnische Volkszugehörigkeit nach kriminologischen Befunden eine besondere Neigung zu oder eine besondere Zurückhaltung bei kriminellem Verhalten bewirken (Bundesministerium des Inneren u. Bundesministerium der Justiz, 2001, S. 308; Steffen 2000). Die Lebenslage von Zuwanderern kann sich aber in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht in vielfältiger Weise von der bereits ortsansässigen Bevölkerung unterscheiden, was zu einer erhöhten, durchaus aber auch zu einer niedrigeren Kriminalitätsbelastung führen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gruppe der Zuwanderer sehr heterogen ist. Dies gilt für die Herkunftsländer, Kultur, Religion oder Ethnie ebenso wie für den Grund der Migration, Ausbildung, Einkommen, Sprachkenntnisse, Aufenthaltsstatus oder Staatsangehörigkeit. Insbesondere ist zu unterscheiden zwischen Zuwanderern, die sofort die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können (insb. Aussiedler deutscher Volkszugehörigkeit aus den Ländern Osteuropas und der früheren Sowjetunion), und solchen, die erst unter den Voraussetzungen des Zuwanderungsrechtes nach längerem Aufenthalt (derzeit mindestens 8 Jahre) dazu berechtigt sind. Im Jahr 2007 besaßen 21,4% der von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft (Bundeskriminalamt 2007, S. 105), wobei der Anteil in den alten Ländern unter Einschluss Berlins deut-
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1 Kriminologische Grundlagen
lich höher ist als in den neuen Ländern (Bundeskriminalamt 2007, S. 107). Die anteilmäßige Verteilung der Zuwanderergruppen spiegelt sich mit leichten Verschiebungen auch in der Kriminalitätsverteilung wider. Die wichtigsten Herkunftsländer sind die Türkei mit rund 26% Anteil an der gemeldeten nichtdeutschen Bevölkerung und einem Anteil von 22% an allen Straftaten von Ausländern (26%/22%), gefolgt von Italien (8%/5,0%), Polen (5%/7%) Griechenland (7%/6%) und Serbien/Montenegro (7%/6%) (Daten nach BMI/ BAMF 2008, S. 158 und Bundeskriminalamt 2008, S. 112). Die Anteile unterliegen ständigen leichten Verschiebungen, wobei derzeit kein klarer Trend auszumachen ist. Hervorzuheben ist, dass der Gesamtumfang der Kriminalität von Deutschen wie von Nichtdeutschen derzeit sinkt (vgl. auch Steffen 2000 für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende). Bei einem gesamten Bevölkerungsanteil von knapp 9% scheint die ausländische Bevölkerungsteil weit überproportional als Straftäter in Erscheinung zu treten. Ein solcher, schlichter Vergleich würde jedoch Verzerrungsfaktoren der PKS und der Bevölkerungsstruktur unberücksichtigt lassen und deshalb zu einer unzutreffenden Bewertung führen.
1.4.5.2 Verzerrungsfaktoren der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) Als Verzerrungsfaktoren sind insbesondere zu berücksichtigen (BMI/BMJ 2001, S. 313; BMI/BMJ 2006, S. 413; Villmow 1999; Steffen 2000; Schwind 2008, S. 479 f.): z Die Bevölkerungsstatistik erfasst verschiede Gruppen von Ausländern nicht, da sie nicht meldepflichtig sind (Touristen/Durchreisende/Geschäftsreisende/Besucher, Stationierungsstreitkräfte). Bei einem schlichten Vergleich des Quotienten Kriminalitätsbelastung/Bevölkerungsanteil würden Straftaten der nicht meldepflichtigen oder illegal eingereisten ausländischen Täter der gemeldeten ausländischen Bevölkerung angelastet. Auch der Umfang der meldepflichtigen ausländischen Bevölkerung enthält Unschärfen, da die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung sowohl im Fall eines Zuzugs als auch im Fall eines Wegzugs unterbleiben kann (Bundeskriminalamt 2008, S. 105). z Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht werden überwiegend von Ausländern begangen. Zwar können auch Deutsche grundsätzlich als Täter beziehungsweise Teilnehmer (Anstifter, Gehilfen) diese Delikte begehen, jedoch handelt es sich insgesamt um Sonderformen der Kriminalität, die sich von der sonstigen Kriminalität deutlich abheben und nicht in einen generellen Vergleich einbezogen werden sollten. Mit diesen Delikten in Zusammenhang steht vielfach auch eine höhere Belastung mit Urkunden- und z. B. Ausweisfälschungsdelikten. Der Ausländeranteil bei Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- und das Freizügigkeitsgesetz/EU beträgt zur Zeit 95%. Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht haben an der Kriminalität aller nichtdeutschen Tatverdächtigen einen Anteil von 16% (Bundeskriminalamt 2008, S. 111).
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z Zwischen Deutschen und Nichtdeutschen bestehen strukturelle Unterschiede, wobei Ausländer hinsichtlich der Kriminalitätsrisiken zu größeren Anteilen den Risikogruppen angehören. So gibt es unter den in Deutschland lebenden Ausländern mehr junge Menschen und erheblich mehr Großstädter. Etwa 49% der ausländischen Bevölkerung sind Frauen, gegenüber 51% bei der deutschen Bevölkerung; allerdings unterscheidet sich die Geschlechterrelation unter den verschiedenen Ausländern und Migrantengruppen erheblich (BMI/BAMF 2008, S. 161). Nach sozialstrukturellen Merkmalen ist ein überproportionaler Anteil der ausländischen Bevölkerung den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen, die Arbeitslosenquote und die Zahl der Sozialhilfeempfänger sind höher als in der deutschen Bevölkerung. Nahezu die Hälfte der jungen Männer ohne deutschen Pass im Alter zwischen 20 und 30 Jahren hat keine abgeschlossene Berufsaubildung (zum Ganzen s. BMI/BMJ 2001, S. 310 f.; BMI/BMJ 2006, S. 413 ff.; Bundeskriminalamt 2007, S. 105; Steffen 2000). z Zu erwarten sind Unterschiede im Anzeigeverhalten und bei der Verfolgungsintensität, wobei es schwierig ist, eine mögliche erhöhte Anzeigebereitschaft und Verfolgungsintensität der deutschen Bevölkerung und Polizei zu Lasten von Zuwanderern mit einer geringeren Anzeigeneigung und zum Teil wohl auch geringeren Verfolgungsintensität in überwiegend von Zuwanderern bewohnten Stadtteilen zu saldieren (Schwind 2008, S. 486 ff. mwN). z Die Auswertungen der PKS beziehen sich ganz überwiegend auf Tatverdächtige, bei denen nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis aufgrund zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte der Verdacht besteht, dass er oder sie eine rechtswidrige (Straf-)Tat begangen hat. Endgültig wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit erst in einem Gerichtsurteil festgestellt. In die Verdachtschöpfung können auch Vorurteile zu Lasten von Ausländern beziehungsweise Zuwanderern einfließen. Frühere Studien ergaben bei Ausländern eine stärkere Reduktion der Fallzahlen und Tatvorwürfe von der polizeilichen Bewertung über die Staatsanwaltschaft bis zur gerichtlichen Entscheidung und werteten dies als Indiz dafür, dass Ausländer häufiger wegen Bagatellen angezeigt beziehungsweise von der Polizei verfolgt würden und sonstige Tatvorwürfe übertrieben eingestuft würden. Seit 1994 betragen diese Differenzen allerdings zumeist weniger als einen Prozentpunkt (Steffen 1998; Rebmann 1998; BMI/BMJ 2001, S. 315; BMI/BMJ 2006, S. 411, 419), was grundsätzlich dafür spricht, dass die Polizei diesbezüglich relativ objektiv arbeitet (Robbers et al. 2004, S. 84 f.; Steffen 2000). Die Angleichung könnte freilich auch aus einer Verschärfung der Sanktionsstile von Staatsanwaltschaften und Gerichten gegenüber Ausländern resultieren (Ludwig-Mayerhofer u. Niemann 1997; Hartmann 1995; BMI/BMJ 2001, S. 315). z Tatverdächtige, für die im Berichtzeitraum mehrere Fälle der gleichen Straftat festgestellt wurden, werden in demselben Bundesland nur einmal gezählt. Tatverdächtige, die im Berichtszeitraum unterschiedliche Straftaten begangen haben, werden für jede dieser Straftaten registriert. Gehören
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diese Straftaten zu einer gemeinsamen Obergruppe (z. B. Gewaltdelikte) wird der Tatverdächtige in dieser Obergruppe nur einmal gezählt (sog. „echte“ Tatverdächtigenzählung; Bundeskriminalamt 2008, S. III). Insofern enthält die PKS nur Prävalenzraten, jedoch keine Angaben zu Inzidenzen. Dem Problem von Mehrfach-, Vielfach- beziehungsweise Intensivtätern kann nur durch Sonderauswertungen nachgegangen werden. z Der Vergleich von Deutschen und Ausländern wie er aufgrund der Datenerhebung für die Polizeiliche Kriminalstatistik vorgegeben ist, wird unter anderem wegen des veränderten Einbürgerungsrechts zunehmend problematischer. Im Rahmen einer Schülerbefragung in Duisburg besaß von den befragten Jugendlichen türkischer Herkunft rund ein Drittel (zumindest auch) die deutsche Staatsbürgerschaft (Boers et al. 2006). Durch die Möglichkeit der Einbürgerung und durch die Zuwanderung von Aussiedlern mit deutscher Staatsangehörigkeit hat sich auch die zum Vergleich herangezogene deutsche Bevölkerung nachhaltig gewandelt. Mit der Dauer des Aufenthalts differenziert sich schließlich die Gruppe der Zuwanderer, deren (Groß-)Eltern nach Deutschland eingewandert sind. Längsschnittvergleiche zur Feststellung von Trends der Kriminalitätsentwicklung laufen Gefahr, insbesondere bei den nur wenige Jahre umfassenden Altersgruppen der Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen ganz unterschiedliche Populationen zu vergleichen, die etwa zu Beginn der 1990er Jahre noch durch eine erhebliche Zuwanderung von Asylbewerbern und Aussiedlern gekennzeichnet waren (vgl. zur Problematik Boers et al. 2006; Fuchs et al. 2005; Pfeiffer et al. 2005; Walter u. Trautmann 2003). Anstelle der in den Statistiken abgebildeten Staatsangehörigkeit werden in Zukunft wie schon jetzt bei den Aussiedlern für die Aussagekraft zusätzliche Analysekriterien erforderlich sein, die etwa Daten zur sozialen Lage, zum Migrationshintergrund oder zum Rechtsstatus zumindest in ausgewählten Regionen näher erfassen. Ein aussagekräftiger Vergleich der Kriminalitätsbelastung von ursprünglich deutscher Bevölkerung mit Zuwanderern erfordert demnach differenzierte Analysen, die nur aufgrund der von den Polizeien der Bundesländer und der Bundespolizei erfassten Rohdatensätze möglich sind, jedoch auf Bundesebene nicht zur Verfügung stehen. Das Meldeverfahren für die Polizeiliche Kriminalstatistik auf Bundesebene beschränkt sich auf bereits aggregierte Daten. Dementsprechend werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundes keine Kriminalitätsbelastungsziffern angegeben. Im Bundesland Bayern mit einem relativ hohen Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger im Ländervergleich (Bundeskriminalamt 2008, S. 106 f.), werden seit mehreren Jahren in Fortschreibung entsprechende Sonderauswertungen durchgeführt (Steffen 1992), die unter anderem die Zahl der Tatverdächtigen pro Hunderttausend Personen der jeweiligen Bevölkerungsgruppe ausweisen (Tatverdächtigenbelastungsziffer, TVBZ). Diese Auswertungen ergaben
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knapp zusammengefasst für das Jahr 2005 folgende Befunde (Bayrisches Landeskriminalamt 2006 a, S. 19 ff.; 2006 b, S. 19, 29): z Bei einem schlichten Vergleich aller registrierten deutschen und ausländischen Tatverdächtigen (im Alter ab acht Jahren) ist die Kriminalitätsbelastung der Nichtdeutschen etwa dreimal so hoch wie die der Deutschen (2223 zu 7510). 1999 war die Belastung der Nichtdeutschen noch fünfmal so hoch wie die der Deutschen (BMI/BMJ 2001, S. 313). z Werden nur die melderechtlich erfassten Tatverdächtigen berücksichtigt und zur (gemeldeten) Wohnbevölkerung in Beziehung gesetzt, reduziert sich die Überhöhung der Nichtdeutschen auf das 2,5 fache (2223 zu 5502), z Die Überhöhung reduziert sich auf das 2,3 fache, wenn Verstöße gegen das Aufenthalts- und das Asylverfahrensgesetz ausgeklammert werden. z In der Altersgruppe der Kinder im Alter von acht bis unter 14 Jahren beträgt die Überhöhung für die Jungen das 2,4fache, für die Mädchen das 2,2fache, bei den Jugendlichen für die Jungen das 2,1fache, für die Mädchen das 1,7fache, bei den Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahren) insgesamt das 1,6fache und bei den Erwachsenen (21 Jahre und älter) insgesamt das 2,5fache. z Zu berücksichtigen ist ferner, dass Ausländern zu einem weitaus größeren Teil in Städten, insbesondere in Großstädten leben. Eine Sonderauswertung für München ergab allerdings, dass die Kriminalitätsbelastung der melderechtlich erfassten ausländischen Jugendlichen verglichen mit ihren deutschen großstädtischen Altersgenossen im Jahr 1999 nahezu doppelt so hoch war (TVBZ von 11 290 zu 6 575; alle Delikte außer Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht). Die höhere Belastung ergab sich für nahezu alle Einzeldelikte, wobei sie bei den Gewaltdelikten besonders deutlich ausfiel (Steffen 2000). z Wie oben dargestellt werden in der PKS für gleiche Delikte beziehungsweise Deliktgruppen aufgrund der echten Täterzählung nur Prävalenzraten erfasst. Die Sonderauswertung zu München ergab, dass die ausländischen Jugendlichen im Vergleich zu ihren deutschen Altersgenossen deutlich häufiger mehrfach, über einen längeren Zeitraum und auch mit schwereren Delikten registriert werden (Steffen 2000; Elsner et al. 1998, S. 105 ff.; Robbers u. Rudolph 2004, S. 61, 87 ff., 93 für Bremen). z Mansel und Albrecht errechneten unter Eliminierung der Verzerrung durch Verstöße gegen das Ausländerrecht und durch die Straftaten von Touristen, illegal aufhältigen Personen und Stationierungsstreitkräften für das Jahr 1999 im Bundesland Nordrhein-Westfalen eine Tatverdächtigenbelastungszahl von 6965 für Ausländer und von 3123 für Deutsche, mithin eine Relation von etwa 2 : 1 (Mansel u. Albrecht 2003, S. 369). Dies legt es nahe, auch unter Annahme erhöhter Anzeigerisiken und intensiver Kontrolldichte von einer höheren Deliktbelastung zumindest einiger Gruppen von Nichtdeutschen auszugehen (BMI/BMJ 2006, S. 420).
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1.4.5.3 Struktur der Kriminalität im Hellfeld Delikte mit einem überproportional hohen Ausländeranteil sind neben Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht (95% aller polizeilich ermittelten Tatverdächtigen sind Ausländer) die Urkundenfälschung (38%), die Deliktgruppe Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei und Geldwäsche (30%), Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (30%), Raubdelikte (28%), illegaler Handel mit und Schmuggel von Rauschgiften (20%), insbesondere Kokain (47%), Mord und Todschlag (28%), Taschendiebstahl (52%), Delikte in Zusammenhang mit illegaler Beschäftigung (59%) und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (50%). Delikte mit geringen Anteilen ausländischer Tatverdächtiger sind Wettbewerbs-, Korruptions- und Amtsdelikte (7%), Abrechnungsbetrug (7%), illegaler Anbau von Betäubungsmitteln (7%), fahrlässige Tötung außerhalb des Straßenverkehrs (6%), Untreue (6%), Verbreitung pornographischer Schriften (6%) und Volksverhetzung (4%) (alle Prozentangaben nach Bundeskriminalamt 2007, S. 110 f.). Differenziert man die Zuwanderer nach Alters- und Statuskriterien (s. zum Folgenden ebd., S. 116 ff., 119), so entspricht die Kriminalität der Arbeitnehmer, Schüler und Studenten im Wesentlichen derjenigen, die auch für die entsprechenden Alters- und Statusgruppen deutscher Staatsangehöriger typisch ist. Erhöht sind im Hellfeld jedoch die Gewaltdelikte (ebd., S. 199; BMI/BMJ 2001, S. 321). Die Kriminalität der Asylbewerber setzt sich im Wesentlichen zusammen aus Diebstahls- (31%), Betrugs- (24%), Körperverletzungs- (19%) und Rauschgiftdelikten (8%) sowie Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht (25%). Zu den Betrugsdelikten zählen unter anderem der Warenbetrug auch via Internet und das Erschleichen von Leistungen/ „Schwarzfahren“ (Bundeskriminalamt 2008, S. 22). Touristen werden ganz überwiegend wegen Diebstahls- und Betrugs- sowie Drogendelikten registriert. Illegal eingereiste Personen fallen fast ausschließlich wegen ihres Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht und damit in Zusammenhang stehenden Fälschungsdelikten auf (Anteil an ihrer Gesamtkriminalität 97%) und im geringen Umfang wegen Diebstahls- und Betrugsdelikten (zusammen 8%). Der Anteil der Asylbewerber und illegal eingereisten Personen an allen nichtdeutschen Tatverdächtigen ist seit der Reform des Asylrechts und der Harmonisierung der EU-Visa und -Einreiseregelungen deutlich gesunken (BMI/BMJ 2001, S. 321). Angehörige der zweiten und dritten Generation aus Zuwandererfamilien weisen hinsichtlich der registrierten Kriminalität eine zum Teil deutlich erhöhte Tendenz zu Gewalthandlungen auf (Bundesministerium des Inneren u. Bundesministerium der Justiz 1999, S. 320; Steffen 2000). Sie sind überwiegend in Deutschland geboren, und man kann davon ausgehen, dass sie aufgrund der oben genannten Rahmenbedingungen großenteils über einen rechtlich gesicherten Aufenthaltstitel verfügen. Auf der Grundlage der bayerischen Studie betrug die Mehrbelastung der jugendlichen Nichtdeutschen beim Raub das 4,4fache und bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung das 3,3fache, bei den Heranwachsenden für die gefährliche und schwere
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Körperverletzung das 1,4fache und für den Raub das 1,9fache. Die Belastung mit Gewaltkriminalität erreichte bei den nichtdeutschen Jugendlichen ihren bisherigen Höchststand im Jahr 2003 mit einer TVBZ von 2407 und sank bis 2005 auf ein TVBZ von 2267, bei den Heranwachsenden wurde der bisherige Höchststand im Jahr 2004 mit einer TVBZ von 2120 erreicht (Daten für 2005 liegen derzeit nicht vor), bei den Jungerwachsenen (21 bis 24 Jahre alt) wird der bisherige Höchststand im Jahr 2005 mit einer TVBZ von 1264 erreicht. Die Belastung mit Gewaltkriminalität erreichte bei den deutschen Jugendlichen im Jahr 2004 eine TVBZ von 641 und im Jahr 2005 den bisherigen Höchststand mit einer TVBZ von 684; diejenige der deutschen Heranwachsenden erreichte bei der Gewaltkriminalität für das Jahr 2004 eine TVBZ von 772 und für das Jahr 2005 ebenfalls den bisherigen Höchststand mit einer TVBZ von 838. Gleiches gilt für die Jungerwachsenen für das Jahr 2005 mit einer TVBZ von 488 (Bayrisches Landeskriminalamt 2006 b, S. 20 ff.). Insgesamt ist derzeit in der Tendenz auf einen Rückgang der Kriminalitätsbelastung in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen hinzuweisen, der unter anderem die leichte und schwere Eigentumskriminalität betrifft. Auch der Anteil junger Nichtdeutscher an allen im Jugendstrafvollzug Inhaftierten ist zwischen 1994 und 2003 von 32% auf 17,6% gesunken und zum 31. 3. 2005 leicht auf 18,4% angestiegen (vgl. Boers et. al 2006; Statistisches Bundesamt 2006 e); er liegt damit allerdings immer noch deutlich über dem Bevölkerungsanteil (vgl. Kleimann u. Pfeiffer 2004, S. 383). Die oben dargestellte Belastung junger Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft mit Gewaltkriminalität sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten und als Indikator für Problemlagen, insbesondere für erhebliche Integrationsdefizite ernst genommen werden (Steffen 2000), zumal auch einschlägige Befunde aus Dunkelfeldstudien vorliegen (dazu 1.4.5.4). Die jungen Ausländer finden sich in Deutschland nach Berufstätigkeit der Eltern und eigenem Bildungsniveau überwiegend sozial in die Unterschicht eingeordnet (Rebmann 1998, S. 268; BMI/BMJ 2001, S. 322). Mangelnde Bildung, Ausbildung und zum Teil auch Sprachkenntnisse behindern einen sozialen Aufstieg und soziale Anerkennung. Reale Lebenschancen und Aspiration fallen deutlich auseinander (Anomie). Aggression als Folge solcher Frustrationen ist einerseits nachvollziehbar (ebd., S. 322; Luff 1996, S. 465), sollte aber andererseits zu verstärkten Integrationsbemühungen herausfordern. Nach den Schülerbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen sind Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien insbesondere türkischer Herkunft erheblich stärker mit Gewalt in der Familie konfrontiert als deutsche Kinder und Jugendliche (Wetzels et al. 1999 a, 1999 b). Es besteht die Gefahr, dass anstelle einer Integration in die Gesellschaft des Gastlandes das Zusammengehörigkeitsgefühl der eigenen Ethnie in Familie und „peer groups“ an Bedeutung gewinnt (BMI/BMJ 2001, S. 323; Albrecht 1998, S. 14; Gebauer 1998, S. 587). Schließlich bleibt auch unter Berücksichtigung und Kontrolle der vielfältigen Aspekte der sozialen Lage eine höhere Belastung mit Gewaltkriminalität, die wohl auf unterschiedlichen Männlichkeitsmodelle und damit verbundene Kulturkonflikte zurückzuführen ist
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(BMI/BMJ 2006, S. 425); differenziert zum Einfluss sog. „gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen“ auf selbstberichtete Gewaltkriminalität siehe Baier et al. 2006, S. 240 ff. Hinzuweisen ist weiter auf die professionelle und organisierte Kriminalität, die häufig durch international verflochtene Täterbeziehungen gekennzeichnet ist und die bei im Vergleich zur Massenkriminalität niedrigen Tatverdächtigenzahlen hohe bis sehr hohe Schäden aufweist (BMI/BMJ 2001, S. 319; vgl. auch in dem Abschnitt „Delinquenz in der Gruppe“ das Kapitel 1.5.5 über „organisierte Kriminalität“). Hierzu gehören illegale Glücksspiele, Einfuhr von Betäubungsmitteln, Schmuggel von unversteuerten Produkten (bes. Zigaretten), Diebstahl von Kraftfahrzeugen und Geldwäsche (ebd., S. 322). So beträgt der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei der Fälschung von Zahlungskarten, Schecks und Wechseln 65%, bei der illegalen Einfuhr von Kokain in nicht geringen Mengen 64%, beim Taschendiebstahl 52%, beim Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung 50% und beim illegalen Glücksspiel 51% (Bundeskriminalamt 2008, S. 110). Derartige Delikte werden wegen der Tatorteignung zum Teil gezielt in Deutschland begangen, die Täter reisen zum Teil kurzfristig nach Deutschland ein, um sich nach der Tat zur Vermeidung von Strafverfolgung schnell wieder ins Ausland abzusetzen. Andererseits können professionelle Täter auf der Basis innerethnischer Solidarität zugewanderte Landsleute als Gehilfen bei der Tat oder nach der Tat zur Unterstützung bei der Vermeidung von Strafverfolgung und bei der Beuteverwertung gewinnen. Insbesondere ausländische Geschäftleute wie z. B. Gastronomen können auch selbst Opfer innerethnischer Erpressungen werden. Junge Männer ohne Ausbildung und Perspektiven auf dem legalen Arbeitsmarkt sind in Gefahr, ein Rekrutierungsreservoir für die organisierte und professionelle Kriminalität zu bilden, insbesondere wenn bereits eine Affinität zur Gewaltkriminalität besteht. Schließlich haben in Teilen der zugewanderten Bevölkerung extremistische religiöse und politische Organisationen Fuß gefasst. Derzeit stehen besonders islamistisch geprägte Organisationen in Zentrum der Aufmerksamkeit. Vom Verfassungsschutz werden 24 einschlägig aktive Organisationen beobachtet, denen sich im Jahr 2004 rund 31 800 Personen angeschlossen hatten. Als besonders erwähnenswert gilt in diesem Zusammenhang die mit rund 26 500 Mitgliedern zahlenmäßig stärkste türkische islamistische Organisation „Islamische Gemeinschaft Milî Görüs e. V. (Bundesministerium des Inneren 2005, S. 190). In den muslimischen Verbänden insgesamt sind ca. 15% der in Deutschland lebenden Moslems organisiert (Schwind 2008, S. 508). Problematisch ist insbesondere, dass diese Organisationen unter schlecht integrierten und perspektivlosen jungen Zuwanderern Sympathisanten und neue Anhänger rekrutieren können, ohne dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft darauf Einfluss nehmen kann. Dies gilt besonders bei jungen Menschen, die in Stadtvierteln mit einer überwiegend ausländischen Bevölkerung weitgehend isoliert von der deutschen Mehrheitsgesellschaft leben (vgl. Schwind 2008, S. 493 ff., 506 ff.).
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1.4.5.4 Befunde von Dunkelfeldstudien Feststellungen zur Kriminalität im Dunkelfeld sind in Deutschland nur eingeschränkt möglich, da es hierzulande bislang keine jährlichen und national repräsentativen Dunkelfeldbefragungen wie etwa in England oder den USA gibt; dies gilt sowohl für Täter- wie für Opferbefragungen (vgl. Boers et al. 2006). Regional begrenzte Einzelstudien liegen insbesondere zum Dunkelfeld der Jugendkriminalität vor. Die Befunde sind zum Teil widersprüchlich (zu Methodenfragen s. Naplava u. Oberwittler 2002). Aussagen zur Kriminalitätsentwicklung sind aufgrund des regionalen Charakters der Studien und ihrer nicht kontinuierlichen Wiederholung schwer zu treffen. Zusammengefasst zeigt sich bei Jugendlichen eine Tendenz zum Rückgang der Kriminalitätsbelastung unter Einschluss der Gewaltkriminalität (Boers et al. 2006). Die oben dargestellten Hellfeldbefunde sind mit den Ergebnissen von Schülerbefragungen, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen 1998 in verschiedenen Städten Deutschlands durchführte, in wesentlichen Aspekten konsistent. Die selbstberichtete Beteiligung an Gewalttaten wies für die Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen Prävalenzraten bei Deutschen in Höhe von 19%, bei türkischen Jugendlichen von 34% und Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien von 29% auf. Gewalttaten werden ganz überwiegend von Männern begangen und finden vorrangig in und aus Gleichaltrigengruppen statt. Die Gewalttäterrate steigt, wenn die Zuwanderung länger zurückliegt. Geringes Bildungsniveau und niedrige sozioökonomische Lage der Familien stehen in Zusammenhang mit erhöhtem Kriminalitätsrisiko. Hinzu kommt vor allem hinsichtlich türkischer Kinder und Jugendlicher ein hohes Ausmaß innerfamiliärer Gewalterfahrungen (Wetzels et al. 1999 a und 1999 b; Enzmann u. Wetzels 2000; BMI/BMJ 2001, S. 322). Auch weitere neuere Untersuchungen stimmen in dem Befund einer überdurchschnittlich hohen Täterrate unter Jugendlichen türkischer und (ehemals) jugoslawischer Herkunft im Bereich der Gewaltdelinquenz überein (vgl. den Überblick bei Naplava 2003; Enzmann et al. 2004, S. 264; BMI/BMJ 2006, S. 417). Abgesehen von den Unterschieden in der Gewaltkriminalität ergaben sich in den Untersuchungen keine gravierenden Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Dem gegenüber steht die Auswertung einer Schülerkohortenbefragungen in Duisburg (Boers et al. 2006), in der beginnend mit dem Jahr 2002 in der siebten Jahrgangsstufe eine Befragung aller Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgangsstufe unter Einbeziehung aller Schultypen durchführt wurde (angestrebte Vollerhebung; N = 3411 verwertbare Interviews). Die Befragung wurde in den Folgejahren fortgeführt. In Duisburg wurden zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auch im Bereich der selbstberichteten Gewaltdelinquenz keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Dies gilt auch für die nach anderen Studien hoch belasteten männlichen türkischstämmigen Jugendlichen. Auch Mehrfachgewalttäter (fünf und mehr
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Taten in einem Jahr) traten bei den türkischstämmigen Jugendlichen nicht häufiger in Erscheinung als bei den einheimischen. Türkische Mädchen berichteten sogar signifikant weniger Straftaten als einheimische. Als Erklärung für diesen divergierenden Befund wird die hohe Segregation der türkischen Bevölkerung in Duisburg in Erwägung gezogen. Innerhalb dieser ethnisch nahezu geschlossenen Wohnbezirke erlange die türkische Minderheit einen Mehrheitsstatus mit entsprechend hoher sozialer Integration und Kontrolle. Allerdings sollte man sich hüten, die in Duisburg entstandene Situation als Modellfall der Kriminalitätsprävention zu bewerten. Davor wären unter anderem nähere Untersuchungen zur Situation der Mädchen und Frauen in den betreffenden Wohnvierteln erforderlich. Erinnert sei an den „Ehrenmord“ an Türel Yaman am 17. 6. 2003 in Duisburg-Dinslaken (vgl. Schwind 2008, S. 501 f.; BMI/BMJ 2006, S. 424 ff.). Hinzu kommt, dass nach neueren Auswertungen der KFN-Schülerbefragungen nur bei etwa einem Drittel aller selbstberichteten gewalttätigen Vorfälle Täter und Opfer derselben Ethnie angehörten, während in zwei Drittel der Vorfälle interethnische Konflikte ausgetragen wurden. Als häufigster Konflikttypus mit einem Anteil von nahezu 40% der Vorfälle wurde der zwischen deutschen Jugendlichen als Opfer und Migranten als Täter identifiziert (Baier et al. 2006, S. 251). Das weitgehende Fehlen dieses Konflikttypus in Duisburg kann demnach tatsächlich als Erklärungshintergrund für die dort erhobenen Befunde herangezogen werden. Allerdings kamen die Schülerbefragungen des KFN auch insoweit zu einem von Duisburg abweichenden Befund, als sie besonders hohe Gewaltbelastungen von Kindern feststellten, die in Klassen mit besonders hohen Migrantenanteilen unterrichtet wurden (Baier et al. 2006, S. 262 f.).
1.4.6 Zur Kriminalität der (Spät-)Aussiedler Etwa seit dem Beginn der 1990er Jahre werden Aussiedler in der deutschen Öffentlichkeit als Problem wahrgenommen. Neben der mit dem Niedergang des Kommunismus erheblich angestiegenen Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion mag dazu auch beigetragen haben, dass Deutschland sich durch die Wiedervereinigung selbst vor große Probleme gestellt sah und gleichzeitig auch der Zustrom von Asylbewerbern seinen Höhepunkt erreichte. Seither besteht das Bild von gewalttätigen, schlecht integrierten und dem Alkohol übermäßig zusprechenden (Spät-)Aussiedlern, die nach Sprache und Kultur nicht als deutsche, sondern als „Russen“ wahrgenommen werden und objektive Ausgrenzungsprozesse durch die einheimische Bevölkerung auslösen (Reich et al. 1999). Wissenschaftlichen Untersuchungen befassen sich seit 1996 mit dieser Problematik. Die Auswertung von Hellfelddaten ist allerdings dadurch erschwert, dass das Merkmal „Aussiedler“ in der PKS, abgesehen von den besonderen Projekten in Niedersachsen, Bayern und im Jahr 2004 auch in Nordrhein-Westfalen, nicht erfasst wird. Dementsprechend konnte die erste Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen die Krimi-
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nalitätsbelastung der Aussiedler nicht direkt erfassen, sondern nur Landkreise mit hoher beziehungsweise niedriger Zuwanderung von Aussiedlern vergleichen. Die Ergebnisse deuteten auf eine höhere Kriminalitätsbelastung der Aussiedler hin (Pfeiffer et. al. 1998). Die folgenden Dunkelfeldstudien ergaben jedoch den Befund, dass sich die Kriminalitätsbelastung von Aussiedlern und einheimischen Deutschen nicht wesentlich unterscheidet (Willmers et al. 2002; Strobl u. Kühnel 2000). In neueren Untersuchungen ergeben sich für die Kriminalitätsbelastung von Aussiedlern im Hellfeld regionale Unterschiede. Kronbügel (2002) kann in Schleswig-Holstein den Hellfelddaten keine Besorgnis erregende Entwicklung entnehmen. Gleiches gilt für Untersuchungen in Niedersachsen (Kleinmann u. Pfeiffer 2004; Gluba u. Schaser 2003; Gluba 2006). Auf der Grundlage einer Aktenanalyse wurde in Niedersachsen die Tatschwere von Delikten von Aussiedlern und einheimischen deutschen Tatverdächtigen verglichen. Dabei konnten keine wesentlichen Unterschiede in der Tatschwere festgestellt werden. Festgestellt wurde aber, dass Aussiedler bei vergleichbarer Tatschwere härter bestraft wurden (Gluba 2005). Die Sonderauswertung in NRW für das Jahr 2004 ergab eine insgesamt unterproportionale Kriminalitätsbelastung von Aussiedlern. Es zeigt sich aber ein Trend, dass überpropotional junge Aussiedler mit Gewaltdelikten auffielen (Bals u. Bannenberg 2007, S. 182 f.). Auch Auswertungen der Polizeilichen Kriminalstatistik für Bayern erbrachten insgesamt zwar ebenfalls geringe Unterschiede zwischen einheimischen Deutschen und Aussiedlern, wiesen aber auf eine Höherbelastung von jungen Aussiedlern bei Gewaltdelikten hin (Luff 2000, 2001; vgl. auch Grundies 2000). Zugleich wurden erhebliche Steigerungsraten festgestellt. Erstmals für das Berichtjahr 2004 ergab sich eine insgesamt rückläufige Kriminalität der Aussiedler, wobei aber Körperverletzungs- und Rohheitsdelikte besonders bei jugendlichen Tatverdächtigen weiterhin zunahmen (Luff 2004). Für 2005 ergab sich für die jugendlichen Aussiedler wieder ein insgesamt rückläufiger Kriminalitätsumfang und bei den Gewaltdelikten nur eine marginale Steigerung. Bei den heranwachsenden Aussiedlern nahmen dagegen Gewalt- und Rauschgiftdelikte weiter zu (Bayrisches Landeskriminalamt 2006 b, S. 25 f., 36). Die KFN-Schülerbefragung des Jahres 2005 ergab eine gegenüber deutschen Schülern erhöhte selbstberichtete Kriminalität insbesondere für Körperverletzungsdelikte (Baier et al. 2006, S. 246). Auffallend ist dabei, dass die Belastung mit Körperverletzungsdelikten ansteigt, wenn die Spätaussiedler sich länger als zwei bzw. länger als 5 Jahre in Deutschland aufhielten (Wilmers et al. 2002, S. 98). Es erscheint plausibel, dies als Folge enttäuschter Erwartungen über die Lebenschancen in Deutschland und als Reaktion über erfahrene Ausgrenzung zu interpretieren (Bals u. Bannenberg 2007, S. 184 ff.). Weiteren Aufschluss über den Hintergrund des Auseinanderfallens der Befunde empirischer Untersuchungen und der öffentlichen Wahrnehmung gibt eine Untersuchung von Bals und Bannenberg (2007), die in vier Kommunen bzw. Stadtteilen in Ostwestfalen-Lippe jeweils in sozialen Brenn-
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punktgebieten durchgeführt wurde. Diese Gebiete sind durch einen sehr hohen Migrantenanteil (50–80 Prozent Aussiedler, zuzüglich hoher Anteile türkisch- oder kurdischstämmiger Bevölkerung), eine hohe Arbeitslosigkeit, eine sehr ungünstige städtebauliche Situation und durch eine Kumulation sozialer Problemlagen gekennzeichnet. Die Untersuchung konnte bei den jungen Aussiedlern, die unter derart schwierigen und kiminogenen sozialen Verhältnissen aufwachsen, eben die Befunde feststellen, die das Bild der Öffentlichkeit von Aussiedlern prägen: schlechte Deutschkenntnisse, geringe Schulbildung, erheblicher Alkohol- und sonstiger Drogenmissbrauch und hohe Gewaltbereitschaft (Bals u. Bannenberg 2006, S. 184 ff.). Schließlich zeigt auch die Erkenntnis, dass junge Aussiedler sich im Strafvollzug stark abschotten und organisierte kriminelle Strukturen ausbilden (Walter 2003), dass es unter den Spätaussiedlern Gruppen junger Menschen mit erheblichen Kriminalitäts- und Integrationsproblemen gibt.
1.4.7 Erklärungsansätze Zur Erklärung der Kriminalität von Zuwanderern können nahezu alle kriminologischen Theorien herangezogen werden, weil diese großenteils in Auseinandersetzung mit der Kriminalität von Zuwanderern in den USA entwickelt wurden. Besondere Prominenz kommt in Deutschland den Theorien, die auf sozialstrukturelle Benachteiligung abstellen, der Labelingtheorie und den Kulturkonflikttheorien zu.
1.4.7.1 Theorien der sozialstrukturellen Benachteiligung Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass nicht nur bei Zuwanderern in Deutschland, sondern über Länder, Kulturen und Epochen hinweg die zur Unterschicht gehörenden Personen stärker mit Kriminalität in Erscheinung getreten sind, da sie über weniger legale Mittel verfügen, persönliche oder kulturell vorgegebene Ziele zu erreichen (Merton 1938, „Anomie“), anderseits leichteren Zugang zu illegalen Mitteln (Cloward u. Ohlin 1960) und schon aufgrund der Wohnsituation eher Kontakt mit delinquenten Personen und Gruppen haben und von diesen Techniken, Motive, Einstellungen und Rationalisierungen erlernen können, die für delinquentes Verhalten förderlich sind (Sutherland 1939). Hinsichtlich der Zuwanderer nach Deutschland wird darauf hingewiesen, dass sich bei ihnen Benachteiligungen wie ghettoähnliche Wohnsituation, Schulprobleme, mangelnde Berufsausbildung und schließlich Arbeitslosigkeit potenzieren und kriminelles Verhalten damit wahrscheinlich beziehungsweise erwartbar wird (BMI/BMJ 2001, S. 318; Eisenberg 2005, S. 719; Rebmann 1998, S. 175 ff.; Villmow 1995). Diese Überlegungen sind grundsätzlich plausibel und sie geben Ansatzpunkte zur Prävention. Allerdings hat Schüler-Springorum nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass aufgrund dieser Überlegungen der größere Teil der Zuwanderer kriminell werden müsste, während trotz einer höheren Kriminalitätsbelastung
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auch in der zweiten und dritten Generation der Zuwanderer nur eine Minderheit als Straftäter in Erscheinung tritt (Schüler-Springorum 1983, S. 534 ff.). Dies gilt besonders für die schwereren Kriminalitätsformen, die auch im Dunkelfeld nicht ubiquitär verteilt sind (Boers et al. 2006).
1.4.7.2 Etikettierungstheorie Naheliegend ist auch, die Etikettierungs- beziehungsweise Labelingtheorie zur Erklärung der Kriminalität der Zuwanderer heranzuziehen. Zuwanderer sind im privaten Leben wie in der öffentlichen Diskussion überproportional häufig Adressaten negativer Zuschreibungen. Sie gelten nicht zuletzt als kriminell. Derartige Fremdzuschreibungen können sich nach dem Etikettierungsansatz insbesondere unter zwei Bedingungen zu einem devianten Selbstbild verfestigen, und zwar wenn der Betroffene über geringes Selbstbewusstsein und geringe eigene Ressourcen verfügt, um die negativen Zuschreibungen von sich abzuwehren, oder wenn die Zuschreibung durch die Instanzen der Sozialkontrolle erfolgt, sodass der Betroffene gezwungen ist, sie hinzunehmen. Durch die Übernahmen des devianten Fremdbildes in das Selbstbild werde ein Prozess in Gang gesetzt, in dem der Betroffene beginne, sein Verhalten an dem nunmehr devianten Selbstbild auszurichten. In Art einer „self-fulfilling-prophecy“ nehme daraufhin deviantes Verhalten zu, es komme zum Einstieg in eine kriminelle Karriere (vgl. Eisenberg 2005, S. 74; Schwind 2006, S. 145 ff.). Neben diesem sozialpsychologischen Entwurf der Theorie geht es in einer soziologischen Fassung darum aufzuzeigen, dass einerseits schon im Gesetzgebungsprozess typische Verhaltensweisen der Unterschicht beziehungsweise der Zuwanderer eher kriminalisiert werden als sozialschädliche Verhaltensweisen der Mittel- und Oberschicht. Von Bedeutung ist weiter, dass im Selektionsprozess der Sozialkontrolle von der Anzeige bis zum Urteil das Risiko, als Straftäter etikettiert zu werden, für Unterschichtangehörige, Zuwanderer und Angehörige von Randgruppen deutlich höher sei. Freilich gilt auch hier wie bereits oben bei den sozialstrukturellen Ansätzen, dass nach den Prämissen der Theorie Zuwanderer erheblich krimineller sein müssten als sie es tatsächlich sind. Insofern stellt sich die Frage nach den Faktoren, die die Mehrheit vor einem Abgleiten in kriminelle Karrieren schützen, beziehungsweise die Frage, ob der Einfluss von Etikettierungen auf die Entstehung krimineller Karrieren überschätzt wird. Hinsichtlich des Anzeigeverhaltens gibt es Befunde, die aufzeigen, dass bei innerethnischen Konflikten die Anzeigequote niedriger ist als bei Straftaten, die Angehörige unterschiedlicher Ethnien betreffen (BMI/BMJ 2001, S. 491; Mansel u. Albrecht 2003; Wilmers et al. 2002, S. 34 ff.; Oberwittler et al. 2001, S. 32 ff.; Baier et al. 2006, S. 251; anders jedoch Schwind et al 2001, S. 200 ff., 367 ff.). Ob sich dies tatsächlich zu Lasten der Zuwanderer auswirkt, hängt von vielfältigen weiteren Umständen ab (s. oben) und es muss wohl als ungewiss bewertet werden, ob solche Verzerrungen einen relevan-
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ten Umfang zu Lasten der Zuwanderer haben (Villmow 1995, S. 158; Schwind 2008, S. 486, 490).
1.4.7.3 Kulturkonflikttheorie Bereits Sellin (1938) erklärte die erhöhte Kriminalitätsbelastung der Einwanderer in den USA nicht in erster Linie mit sozialstrukturellen Benachteiligungen, sondern damit, dass die Normen des Heimatlandes und des Gastlandes nicht übereinstimmen. Im Sinne eines äußeren Kulturkonfliktes werden von Zuwanderern Gesetze oder Regeln übertreten, die in ihren Herkunftsländern nicht oder nicht in gleicher Form existieren. Im Sinne eines inneren Kulturkonflikts können widersprüchliche Werte und Normen bei den Betroffenen zu einer Orientierungslosigkeit führen. Kriminalität erscheint demnach als ein Problem mangelnder Anpassungsfähigkeit oder Anpassungsbereitschaft. Orientierungslosigkeit sei insbesondere ein Problem der zweiten Einwanderergeneration, der in den Familien traditionelle Normen und Werte der Kultur des Herkunftslandes mit entsprechenden Verhaltenserwartungen vermittelt würden, während in der Schule, in den Medien und der alltäglichen Lebenswelt des Gastlandes die Normen, Werte und Verhaltenserwartungen der Mehrheitsgesellschaft des Gastlandes vermittelt würden. Dies betrifft in Deutschland besonders die zweite und dritte Generation der Zuwanderer aus der Türkei. Die Eltern stammen häufig aus den ländlichen, eher rückständigen Gebieten der Türkei, sie leben in Deutschland aber überwiegend in den städtischen Ballungsräumen. Den Zuwanderern der ersten Generation blieb in dieser Situation die Kultur des Gastlandes vielfach fremd und sie haben sich umso stärker an die traditionellen Werte und Muster der früheren Heimat gebunden (Familienehre, patriarchalische Autorität des Vaters, strenge Beachtung religiöser Regeln). Dadurch kann es zu Generationenkonflikten innerhalb der Familie kommen, wenn die Kinder nicht bereit sind, die traditionelle Lebensweise zu akzeptieren. Derartige Konflikte sind besonders bei Mädchen nahe liegend, da die ihnen zugedachten Rollen in der Herkunftsfamilie und in der Kultur des Gastlandes besonders deutlich auseinander fallen (Traulsen 1990, S. 256 ff.). Der Konflikt kann verstärkt werden, wenn die Autorität der Eltern, insbesondere des Vaters durch das offenbare Unvermögen, sich im Gastland zu behaupten, untergraben wird. Dies gilt etwa für Arbeitslosigkeit, mangelhafte Sprachkenntnisse, geringe Kompetenz im Umgang mit Behörden, Schule etc. (Ehringfeld 1997; Schwind 2008, S. 483 f.). Auch innerfamiliäre Gewalt kann zu einer Entfremdung der Generationen beitragen (vgl. zu relativ hohen Raten in türkischen Zuwandererfamilien Wetzels et al. 2001, S. 219; Wilmers et al. 2002, S. 171 ff.). Kriminelles Verhalten wird begünstigt, wenn die nachwachsende Generation aufgrund der Werteund Normenkonflikte, denen sie ausgesetzt ist, Halt und Orientierung verliert, sich dem Einfluss der Eltern entzieht und sich gegebenenfalls delinquenten Gleichaltrigengruppen anschließt (Schneider 1987, S. 306; Baier et al. 2006, S. 256). Insofern kann die Kulturkonflikttheorie mit Konzepten
1.4 Delinquenz und Zuwanderer
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der Halt- beziehungsweise Social-bonding-Theorien (Reckles 1961; Hirschi 1969) verknüpft werden. Die oben dargestellten Befunde von Boers für Duisburg sprechen indirekt für diesen Erklärungsansatz, wenn man davon ausgeht, dass Zuwanderer, die in großen, ethnisch weitgehend homogenen und von der Mehrheitsgesellschaft isolierten Stadtvierteln leben und aufwachsen, derartigen Kulturkonflikten in relativ geringem Maße ausgesetzt sein dürften. Ein anderer Erklärungsansatz geht davon aus, dass sich die zweite und dritte Zuwanderergeneration aufgrund der empfundenen Zurückweisung durch die Mehrheitsgesellschaft und die geringen Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, selbst in die als letzten Hort empfundene Familie und in Gruppierungen zurückzieht, die der Herkunftskultur verbunden sind. Dies geht einher mit der Übernahme traditioneller Rollenmuster, Werte und Normen und könnte den Befund erklären, dass besonders unter türkischstämmigen Jugendlichen die Zustimmung zu so genannten Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen weiter verbreitet ist als unter einheimischen Jugendlichen (vgl. Wetzels et al. 2001, S. 219; Wilmers et al. 2002, S. 171 ff.; Baier et al. 2006, S. 257 ff.). Gleichzeitig könnte darin die Ursache für die im Hell- und Dunkelfeld beobachtete hohe Belastung mit Gewaltkriminalität liegen (s. oben). Eine Befragung von Schülern an mehreren Bremer Schulen mit hohem Migrantenanteil in den Sekundarstufen 1 und 2 (N = 374) zur Thematik „Ehre“ ergab, dass auf die Frage „Für meine Familie hat die ,Ehre‘ eine hohe beziehungsweise spezielle Bedeutung“ von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund 30% voll und 21% eher zustimmten. Bei den deutschen Jugendlichen betrugen die entsprechenden Anteile 4 und 8% (Aksoy u. Öztorun 2006, S. 129). Nicht in Einklang damit steht der Befund von Boers, dass in den weitgehend geschlossenen und damit vermutlich besonders traditionell geprägten Zuwanderermilieus in Duisburg die Belastung auch der türkischen Zuwanderer mit Gewaltkriminalität nicht höher war als die der Jugendlichen aus einheimischen deutschen Familien (s. oben). Ein letzter Erklärungsansatz betrachtet nicht die Übernahme traditioneller Werte als Ursache Gewalt legitimierender Einstellungen unter jungen Zuwanderern, sondern geht davon aus, dass unabhängig von ethnischen Gruppen und traditionellen Werten bei Jugendlichen aus der Unterschicht eine „Kultur der Ehre“ zu beobachten sei. Diese würden das Selbstbild und Rollenkonzept „hegemonialer Männlichkeit“ (Connell 1987) als Copingstrategie gegen Deprivationserfahrungen und Marginalisierungsprozesse entwickeln (vgl. hierzu Boers et al. 2006; Enzmann et al. 2004, S. 283 ff.; Fuchs et al. 2005, S. 42 f.; Garhammer 2003, S. 194 ff.; Halm 2000; Kersten 2003; in diesem Sinn bereits Cohen 1955: Theorie der delinquenten Subkultur). Eine solche „Kultur der Ehre“ ist freilich nicht auf Jugendliche aus der Unterschicht begrenzt, sondern wird und wurde immer dort relevant, wo die gewaltsame Austragung von Konflikten durch ein staatliches Gewaltmonopol nicht verhindert werden kann oder soll und eine Fehdeordnung Platz greift; so die Ehre der Massai, der Samurai, die Ritterehre, die „Ganoven-
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ehre“, die Ehrenmänner/uommini d’onore (vgl. Frevert 1991; Vogt 1997). Insofern wäre eine Ausdehnung der „Kultur der Ehre“ ein Rückschritt. Abschließend ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Klärung der Kriminalität von Zuwanderern keineswegs abgeschlossen ist, obwohl bei der Analyse der Phänomene im Hell- wie im Dunkelfeld durchaus Fortschritte erzielt wurden. Hinzuweisen ist nach derzeitigem Forschungsstand insbesondere auf eine multivariate Auswertung der KFN-Schülerbefragungen, die die komplexen Zusammenhänge zwischen den hier vorgestellten Theoriekonzepten erhellt (Baier et al. 2006, S. 261 ff.).
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1.4 Delinquenz und Zuwanderer
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Delinquenz in der Gruppe A. Hartmann
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Historische Bedeutung des Themas
1.5.1.1 „Räuberbanden“ und „landschädliche Leute“ Der Einfluss von Straftaten, die aus Gruppen heraus begangen werden, auf die Entwicklung des modernen Strafrechts und der Kriminologie ist von erheblicher Bedeutung. Noch in der frühen Neuzeit machten Räuberbanden und eine vielköpfige nichtsesshafte (vagierende), verarmte Unterschicht, die sich ihren Lebensunterhalt auch durch Straftaten erwerben musste, das Land unsicher (Küther 1984). Der Wille des Zentralstaates, sein Territorium zu beherrschen und zu befrieden, gab den Anstoß zur Entwicklung des modernen Strafrechts und der modernen Sicherheitsbehörden.
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Historische Bedeutung des Themas
1.5.1.1 „Räuberbanden“ und „landschädliche Leute“ Der Einfluss von Straftaten, die aus Gruppen heraus begangen werden, auf die Entwicklung des modernen Strafrechts und der Kriminologie ist von erheblicher Bedeutung. Noch in der frühen Neuzeit machten Räuberbanden und eine vielköpfige nichtsesshafte (vagierende), verarmte Unterschicht, die sich ihren Lebensunterhalt auch durch Straftaten erwerben musste, das Land unsicher (Küther 1984). Der Wille des Zentralstaates, sein Territorium zu beherrschen und zu befrieden, gab den Anstoß zur Entwicklung des modernen Strafrechts und der modernen Sicherheitsbehörden.
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1.5.1.2 Erste Ansätze einer empirischen Kriminologie Die empirisch forschende Kriminologie wandte sich zunächst dem einzelnen Täter, insbesondere den biologischen und psychologischen Grundlagen seines Verhaltens zu (Lombroso 1887; Garland 2002, S. 25 ff.), während Praktiker zu dieser Zeit den Blick für die Verflechtung von Straftätern und die sozialen Ursachen der Kriminalität bewahrten und subkulturelle Verhaltensmuster wie etwa die Gaunersprache untersuchten, die nicht allein der Abschottung, sondern auch dem inneren Zusammenhalt dienten (Zimmermann 1847; Avé-Lallemant 1858, 1862; XR 1886 a, b; XR 1885 a, b, S. 427). Erst in den 1920er Jahren übernehmen führende Praktiker die individualistische Konzeption der frühen Kriminologie (Heindl 1926).
1.5.1.3 Chicago-Schule der Kriminologie Unter dem Eindruck der Kriminalitätsentwicklung in den dramatisch wachsenden Einwandererstädten der USA werden an der Universität Chicago bahnbrechende soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen durchgeführt und neue theoretische Ansätze entwickelt, die die sozialen und kulturellen Verflechtungen von Straftätern fokussieren. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Thrasher (1960), „The Gang“ (1927), Landesco (1968), „Organized Crime in Chicago“ (1929) und die in Boston durchgeführte Untersuchung von Whyte (1955), „Street Corner Society“ (1943). Obwohl es in keiner der genannten Arbeiten ausschließlich um Jugendkriminalität ging, finden heute insbesondere diese Teile der Arbeiten Beachtung. Die intensive Auseinandersetzung mit der großstädtischen Jugendkriminalität und den markant hervortretenden kriminellen Jugendund Heranwachsendengruppen war für die Theorieentwicklung der Kriminologie in jüngerer Zeit von größter Bedeutung. Die ökologischen, raumbezogenen Ansätze, die Subkultur-, Kulturkonflikt- und Anomietheorie (nach Merton), die Theorie der differenziellen Assoziation und deren Verlängerung in lerntheoretische und kontrolltheoretische Ansätze schöpfen aus dieser Quelle (Rock 2002, S. 61 f.; Sack 1993, S. 275 ff.).
1.5.2 Allgemeine Beschreibung und Bewertung von Straftätergruppierungen Was unter Tätergruppen, Tätergemeinschaften (Eisenberg 2005, S. 913) etc. zu verstehen ist, ist nicht allgemein definiert, insbesondere ist der soziologische Gruppenbegriff (Schäfers 1999) nur teilweise brauchbar. Straftätergruppierungen werden insbesondere anhand der Eigenschaften der Mitglieder, der Funktionen der Gruppierungen für die Mitglieder und für die sie umgebende Gesellschaft, der Strukturen und Eigenschaften der Gruppierungen und der Art und Bedeutung der verübten Kriminalität beschrieben und unterschieden.
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Eigenschaften der Mitglieder sind zunächst deren sozialstatistische Merkmale wie Geschlecht, Alter und sozialer Status. Nach bisherigen Untersuchungen war die registrierte gemeinschaftliche Tatbegehung bei weiblichen Personen seltener als bei männlichen (Eisenberg 2005, S. 916). Dies gilt speziell für Gewaltdelikte, was unter anderem damit erklärt wird, dass in der Sozialisation nach wie vor die Erwartung von nach außen gerichteter, offener Entfaltung körperlicher Kraft im Konflikt geschlechtsunterschiedlich orientiert ist (Eisenberg 2005, S. 916). Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, wie homogen die Gruppierungen in Bezug auf die genannten Merkmale sind und weiter, ob bei der Aufnahme neuer Mitglieder eine bewusste Selektion vorgenommen wird. Der letzte Gesichtspunkt gewinnt besondere Bedeutung bei weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmalen wie der ethnischen und familiären Herkunft der Mitglieder, ihrer Religion und Weltanschauung und ihrer kriminellen Karriere vor der Aufnahme in die Gruppe. Die Funktionen, die die Mitgliedschaft in einer Gruppierung für die einzelnen Mitglieder erfüllt, lassen sich grob einteilen in z die Stiftung von Lebenssinn, Identität und Selbstwertgefühl, z die Gewährleistung von Schutz, Geborgenheit, Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl, z die Stillung von Erlebnishunger und Aktionsbedürfnis (Thornberry 1998). Die genannten Funktionen stehen besonders bei Gruppierungen von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden im Vordergrund. Bei (professionellen) erwachsenen Straftätern treten hinzu z die Vorsorge für den Fall einer Inhaftierung, z die Information über Tatgelegenheiten, neuartige Techniken (modus operandi), Polizeitaktik etc. und z die Ermöglichung einer arbeitsteiligen Tatbegehung und Beuteverwertung. Darüber hinaus können auch kriminelle Gruppen nachgefragte und gegebenenfalls sogar begrüßte Funktionen für die sie umgebende Gesellschaft ausüben. Dabei kann es sich z. B. um latente Ressentiments der Mehrheitsgruppe gegen Minderheiten handeln, die die Gruppierungen in gewalttätige Aktionen umsetzen und sich dabei einer mehr oder weniger heimlichen Zustimmung erfreuen (vgl. Schwind 2008, S. 598 zu Rostock-Lichtenhagen); gleichermaßen können ethnisch oder weltanschaulich geschlossene kriminelle Banden in ihrem jeweiligen Milieu Unterstützung und Anerkennung finden, solange sich ihre Taten gegen die als feindlich erlebte größere Gesellschaft richten (vgl. den „Robin-Hood-Mythos“, der viele klassische Räubergestalten umgibt; Hobsbawn 1972, S. 123). Haben sich gewalttätige Gruppierungen in einer Gesellschaft etabliert, kann auch der Schutz vor Übergriffen fremder Banden zu einer Funktion der lokalen Gruppierungen werden (Eisenberg 2005, S. 922). Selbst in modernen Gesellschaften können Regionen wie z. B. Viertel in Großstädten existieren, in denen das staatliche
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Gewaltmonopol faktisch außer Kraft gesetzt ist und eine Fehdeordnung Platz greift. In ökonomischer Hinsicht kann die Funktion krimineller Gruppierungen z. B. in der Ausschaltung oder Behinderung von Konkurrenz, der Sanktionierung im Falle eines Bruches von Kartellabreden oder der Unterdrückung von Streiks liegen (Gambetta 1994, S. 18, 322 ff.; Landesco 1968, S. 149 ff.). Eine besonders prominente Funktion illegaler Gruppierungen ist die Versorgung der Bevölkerung oder einzelner Subkulturen mit illegalen Gütern. Im Vordergrund stehen der Drogenhandel und die Ausbeutung der Prostitution, eine erhebliche Rolle spielen auch das illegale Glücksspiel (Sieber u. Bögel 1993, S. 281 ff.) und die Hehlerei (Eisenberg 2005, S. 691 f.; Weschke u. Heine-Heiß 1990, S. 78 ff.). Schließlich können Gruppierungen nach ihren „eigenen“, erst auf der Aggregatebene in Erscheinung tretenden Eigenschaften unterschieden werden. Hierzu zählen zunächst gewissermaßen sozialstatistische Merkmale der Gruppierung selbst wie Name, Alter, Zahl der Mitglieder, eigene Rechtspersönlichkeit und Vermögen, Satzung, Kennzeichen und Verbreitungsgebiet beziehungsweise Territorium, wenn die Gruppe bestimmte „Vorrechte“ wie etwa den „Schutz“ von Gaststätten gegen Entgelt in einem bestimmten Gebiet monopolisiert. Weitere wesentliche Eigenschaften von Gruppen sind Art, Umfang und die Verbindlichkeit gruppenspezifischer Normen und Zielsetzungen, ihre Entstehung und Reproduktion, insbesondere die Art der Rekrutierung neuer Mitglieder, ihre Binnenstruktur sowie die besonderen Aktivitäten der Gruppenmitglieder im Rahmen des Gruppenverbandes, insbesondere die Häufigkeit, Intensität und Schwere der Straftaten. Schließlich spielen auch die Einbettung in gruppenübergreifende Strukturen, die Bekanntheit, das Ansehen und die Legitimität der Gruppierung in der sie umgebenden Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Das Spektrum von Straftätergemeinschaften reicht sehr weit. So können Gruppierungen speziell zur Begehung bestimmter Straftaten gegründet worden sein, es kann sich aber auch um spontane Verbindungen mehrerer Personen handeln, die sich ebenso spontan zu einer Straftat entschließen. Letzteres wird für einen großen Teil der im Gruppenverband begangenen Jugendkriminalität angenommen (Eisenberg 2005, S. 915 f.). Zu den Straftätergemeinschaften zählen aber einerseits auch kriminelle und terroristische Organisationen mit mehrstufigem hierarchischem Aufbau, ausdifferenzierter Rollenstruktur und arbeitsteilig durchgeführten Aktivitäten, die bewusst durch eine legale Fassade in Form eines legalen Wirtschaftsunternehmens oder Vereins getarnt werden, und andererseits Massenphänomene wie Krawalle, gewalttätige Demonstrationen oder Pogrome, bei denen eine Vielzahl von Menschen spontan zur Gewalt greift und deren Verlauf nicht durch eine zentrale Führung gesteuert werden kann, selbst wenn sie von einer kleinen Gruppe bewusst in Gang gesetzt wurden (Eisenberg 2005, S. 920). In der Kriminologie wird die Vielfalt unterschiedlicher Tätergemeinschaften einerseits hinsichtlich ihrer Struktur in situativ bestimmte Tätergemeinschaften, kriminelle Netzwerke, Bandenkriminalität und kriminelle
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Organisationen, andererseits hinsichtlich der Art und Zielsetzung der verübten Kriminalität in erlebnisorientierte, wirtschaftlich orientierte sowie weltanschaulich, religiös und politisch motivierte Tätergemeinschaften eingeteilt. Schließlich werden Tätergemeinschaften von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden von denen erwachsener Straftäter abgegrenzt.
1.5.3
Situative Tätergemeinschaften
1.5.3.1 Jugendkriminalität Situative Tätergemeinschaften treten besonders häufig im Jugendalter auf. Empirische Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen 40% (Kaiser 1996, S. 589 f.; Pfeiffer u. Wetzels 1997, S. 352) bis 80% (Beulke 1974, S. 120) der Straftaten Jugendlicher aus einer Gruppe heraus begangen werden, wobei sich die weit streuenden Ergebnisse aus Unterschieden in den Zielgruppen der einzelnen Untersuchungen ergeben. Typisch für Jugendliche sind Gleichaltrigengruppen/Peergroups (Wetzels u. Enzmann 1999, S. 116 ff.), aber auch Straßeneckencliquen/„street-cornersocieties“, die sich über den Treffpunkt konstituieren und Mitglieder unterschiedlicher Altersgruppen zusammenführen (Whyte 1955). Darüber hinaus schließen sich Jugendliche vielfach interessengeleiteten Gruppen wie z. B. Vereinen, Clubs und Verbänden an, die im Hinblick auf die Kriminalität überwiegend als prohibitiv gelten (Liska u. Reed 1985; Übersicht bei Schwind 2008, S. 277). Peergroups und „street-corner-societies“ entstehen normalerweise ungeplant, sie verfügen nicht über eine feste Rollenverteilung und eine genau definierte Mitgliedschaft. Sie gewinnen in der Jugendphase erheblichen Einfluss auf die Sozialisation und sind von wesentlicher Bedeutung im Rahmen des Ablösungsprozesses von den Eltern (Fuchs et al. 1996; Tillmann et al. 1999; Thornberry 1987; Kaiser 1996, S. 514 ff. mwN). Da die Begehung einzelner Straftaten im Jugendalter ubiquitär verbreitet ist (Kaiser 1996, S. 515 ff.), ist es nicht von vornherein problematisch, wenn aus Gruppen heraus Straftaten begangen werden. Entscheidend sind Häufigkeit, Intensität und Schwere. Die vorliegenden Befunde aus Querschnittstudien (Glueck u. Glueck 1950; Johnson 1979, West u. Farrington 1973; Göppinger 1983; Agnew 1991; Wetzels u. Enzmann 1999) und Längsschnittuntersuchungen (Thornberry et al. 1994; Warr u. Stafford 1991; Patterson u. Dishion 1985) zeigen konsistent, dass die Einbindung in deviante Gruppen mit einer Steigerung krimineller Verhaltensweisen und einer Festigung delinquenzbefürwortender Einstellungen (Matuseda 1982; Thornberry et al. 1994; Wetzels u. Enzmann 1999) verbunden ist. Allerdings darf dieser Zusammenhang weder als schlichte Kausalität in dem Sinn gedeutet werden, dass erst die Mitgliedschaft in einer kriminellen Tätergemeinschaft zur Entwicklung krimineller Verhaltensweisen führt, noch handelt es sich um einen rein selektiven Effekt dahingehend, dass Jugendliche, die eine intensive Neigung zur Kriminalität aufweisen, sich entspre-
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chenden Gruppierungen anschließen, sondern neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass anlagebedingte, familiäre und gesellschaftliche Vorprägungen und Belastungen einerseits und der Einfluss der Gruppen andererseits bei der Festigung krimineller Verhaltensweisen zusammenwirken (Lösel u. Bender 1997; Sampson u. Laub 1997; Wetzels u. Enzmann 1999). Für die Gewaltkriminalität ergibt sich ein Wirkungskreislauf, demzufolge Kinder aus Familien, in denen sie mit Gewalt konfrontiert werden beziehungsweise selbst Gewalt erleiden, zunächst eine verstärkte Neigung zu aggressivem Verhalten entwickeln, während sie Defizite in der Kompetenz, eigene Affekte zu kontrollieren und Konflikte friedlich beizulegen, aufweisen und ihre soziale Umwelt tendenziell als ihnen feindlich gesonnen wahrnehmen (Farrington 1992; Lösel et al. 1997; Pfeiffer et al. 1998; zu aktuellen neurobiologischen Befunden vgl. Roth 2005; Wendler 2006 unter Bezug auf Roth). Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder in ihrem sozialen Umfeld, insbesondere in der Schule, als gewalttätig auffallen und etikettiert werden (Liska u. Reed 1985; Olweus 1983). In der Phase der Ablösung vom Elternhaus und dem Anschluss an Peergroups werden diese Jugendlichen von nichtaggressiven Gleichaltrigen gemieden und in deren Cliquen zurückgewiesen (Cairns u. Cairns 1992), gleichzeitig bevorzugen sie einen Freundeskreis, der ihre Werthaltungen und Verhaltensdispositionen teilt und damit eine entsprechende Sozialisation weiter verstärkt und verfestigt (Hagan u. McCarthy 1998; Wetzels u. Enzmann 1999). Auf diese Weise wirkt das in der Familie entwickelte Werte- und Verhaltensmuster auch in der Zeit fort, in der sich die Jugendlichen von ihrer Familie ablösen. Die selektiven Aspekte dieses Prozesses können die hohe Persistenz aggressiver Verhaltensdispositionen (Olweus 1979) auch gegenüber professionellen Bemühungen seitens staatlicher Jugendhilfe- und Strafverfolgungsbehörden erklären, wobei zu beachten ist, dass die Datenanalyse nicht zu einer vollständigen Varianzaufklärung führte, sodass der aufgezeigte Circulus vitiosus nicht deterministisch verstanden werden darf, sondern Raum für anderweitig wirksame Schutz- und Resilienz-, aber auch Risikofaktoren lässt (Wetzels u. Enzmann 1999, S. 129). Diese Zusammenhänge, die für die Gewaltkriminalität nachgewiesen wurden, dürften auch für andere Kriminalitätsformen wie z. B. den Drogenmissbrauch gelten. Auch hier ist eine Disposition durch den Rauschmittelkonsum der Eltern nachgewiesen (Kreuzer 1978, S. 27), und der Einfluss von Peergroups steht außer Zweifel (Kaiser 1996, S. 619 mwN).
1.5.3.2 Einzelne bekannte Gruppierungen Einzelne Gruppierungen oder Gruppierungsformen erlangen in bestimmten Zeitabschnitten besondere Bekanntheit und gelten mitunter als typisch oder prägend für ihre Zeit. Das gilt für die „Wilden Cliquen“ der 1920er Jahre, die Rowdies in den 1950er Jahren, die Rocker in den 1960er Jahren und bis in die heutige Zeit für die gewalttätigen Fußballfans, Hooligans,
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Punks, Autonomen und Skinheads. Es wäre demnach falsch, Gewalteskalationen junger Menschen als eine besondere Erscheinungsform der Gegenwart zu betrachten (Kaiser 1996, S. 592). Weitgehend in Vergessenheit geraten ist heute z. B., dass im 19. Jahrhundert im Zuge des Eisenbahnbaus auch in Europa ganze Landstriche von den dadurch konzentrierten vielfach alkoholabhängigen und gewalttätigen jungen Arbeitern terrorisiert wurden (Chesney 1970, S. 34 ff.). Freilich bestehen zwischen den genannten Gruppierungen vielfältige Unterschiede. Jede Zeit muss von Neuem Lösungen für die jeweils spezifische Problematik finden.
1.5.3.2.1 Autonome Die so genannten Autonomen kennzeichnet der Wunsch nach einem selbstbestimmten, staatsfernen, „autonomen“ Leben. Sie verstehen sich als Radikalopposition zur bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft. Die Autonomie beinhaltet nach ihrer Auffassung die Freiheit und Berechtigung zur „Aktion“, wobei strafrechtliche Grenzen nicht als verbindlich anerkannt werden (Eisenberg 2005, S. 917 f.; Schwind 2008, S. 591 f.). Sie treten strafrechtlich insbesondere als Demonstrationsgewalttäter in Erscheinung. Die Gruppen bestehen aus Personen beiderlei Geschlechts und aller sozialen Schichten, größtenteils im Alter zwischen 16 und 25 Jahren und zählen in Deutschland etwa 5000 Personen. Feste, insbesondere hierarchische Strukturen werden abgelehnt. Die Mitgliedschaft ist vielfach mehr oder weniger episodenhaft. Über die einzelne Gruppe hinausgehende feste Strukturen bestehen nicht, allerdings sind die Mitglieder gruppenübergreifend miteinander vernetzt, sodass bei politischen Großereignissen koordiniertes Handeln und erhebliche Massierungseffekte möglich sind (Kerner et al. 1990, S. 415 ff.; Rolinski 1990, S. 34). Als Minimalkonsens verbindet die Gruppen eine Gegnerschaft zu Polizei und Staatsgewalt. Hinsichtlich der Weltanschauungen (Hausbesetzer, Atomkraftgegner, Ökoaktivisten, Globalisierungsgegner), der Einstellung zur Gewalt (gezielt nur gegen Sachen oder auch gegen Personen) und der Modellierung des äußeren Erscheinungsbildes (Vermummung, „Hasskappen“) zeigt sich ein heterogenes Bild. In aktuellen politischen Auseinandersetzungen verstehen sich „Autonome“ als die Avantgarde der jeweiligen Protestbewegung, die bereit ist, Gewalt einzusetzen, um dem politischen Anliegen Gehör zu verschaffen und breite Resonanz in den Medien zu erzeugen (Eisenberg 2005, S. 918). Die polizeiliche Selbstschutzausrüstung bei gewaltgefährdeten Demonstrationen einerseits, und auf Seiten der Demonstranten ein insgesamt aggressiv wirkender Kleidungsstil, einschließlich der so genannten Vermummung, andererseits begünstigen eine Entpersönlichung der jeweiligen Kontrahenten und die Eskalation von Gewalt bei Großereignissen (Eisenberg 2005, S. 919 f.; Schwind 2008, S. 592). Eine zum Teil bestehende Vernetzung mit konspirativen linksextremistischen Gruppierungen kann eine erhebliche logistische Leistungsfähigkeit und die Möglichkeit bewirken, den Einsatz von Gewalttätern strategisch zu
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steuern, Rückzugsmöglichkeiten zu organisieren, Ermittlungen zu erschweren und Strafprozesse zu „politischen Prozessen“ zu stilisieren (Kaiser 1996, S. 751). Solche Vernetzungen lassen sich nur schwer aufdecken und spielen in Strafprozessen regelmäßig keine wesentliche Rolle (Eisenberg 2005, S. 918; Kaiser 1996, S. 751). Linksextremistische Straftaten sind in der öffentlichen Diskussion durch den Ausbruch rechtsextremistischer Gewalt und den islamischen Terrorismus in den Hintergrund getreten; sie sind aber z. B. im Rahmen von Gegendemonstrationen gegen rechtsextremistische Aufmärsche und bei Großereignissen wie den Weltwirtschaftsgipfeln auch heute noch von Bedeutung.
1.5.3.2.2 Punker Die Punker oder Punks haben ihren Ursprung in England und treten in der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre auf. Sie wollen durch ein bewusst hässliches Aussehen auffallen. Stilbildend waren die Musikgruppen „Sex Pistols“ und „Clash“. Die Punks lehnen Hierarchie und feste Gruppenstrukturen, aber auch traditionelle Werte der bürgerlichen Gesellschaft wie Leistung, Disziplin und Fleiß ab und propagieren eine Verweigerungs- und Rückzugsstrategie, die als „Null-Bock-“ und „No-Future-“Haltung sprichwörtlich geworden ist. Aus dieser Wertorientierung ergibt sich eine Nähe zu den „Autonomen“ mit vielfältigen personellen Überschneidungen und Vernetzungen, wobei Punks im Unterschied zu „Autonomen“ typischerweise politisch desinteressiert sind. Ihre Gewalthandlungen dienen weniger politischen Zielen als dem Ausagieren von Frustrationen und der Suche nach Abenteuer, Erlebnis und Nervenkitzel („Kick“), regelmäßig verbunden mit erheblichem Alkoholkonsum. Hinzu kommen Eigentums- und Vermögensdelikte, die neben dem Betteln zum Lebensunterhalt beitragen. In der Öffentlichkeit sind die Punks besonders durch die schweren Ausschreitungen bei den Chaostagen in Hannover (1995) und bei Krawallen anlässlich des 1. Mai bekannt geworden. Die Wirkung der Punks als „Bürgerschreck“ hat zahlreiche Jugendliche veranlasst, das äußere Erscheinungsbild zu übernehmen, ohne Wertorientierung und Lebensstil zu teilen – „Modepunks“ (vgl. zum Ganzen Ebert u. Throniker 1981; Kaiser 1996, S. 593; Schwind 2008, S. 594 f.; Stock u. Mühlberg 1990).
1.5.3.2.3 Hooligans Gewalttätige Fußballfans werden von den Polizeibehörden in C-Fans („zur Gewalt entschlossene Fans“), B-Fans („gelegentliche Schläger“) und A-Fans (friedliche, „farbentragende“ Fans, „Kutten“-Träger) eingeteilt. Registriert sind in der Zentralen Informationsstelle für Sporteinsätze (ZIS beim LKA Düsseldorf) etwa 9000 Hooligans (Schwind 2008, S. 601). Unter den Fußballfans treten die „Hooligans“ beziehungsweise „Hools“ dadurch hervor, dass die Fußballspiele für sie nur Anlass für gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Hooligans des gegnerischen Vereins sind. Es handelt sich fast aus-
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schließlich um junge Männer, die der Mittelschicht angehören und im Übrigen ein bürgerliches Leben führen (Schwind 2008, S. 602; anders Lösel u. Bliesener 2006). Leitmotiv ist, aus dem Alltagstrott der bürgerlichen Welt für begrenzte Zeit auszubrechen, Frustrationen abzureagieren und durch die gewalttätige Auseinandersetzung Abenteuer, Nervenkitzel („Kick“) und die eigenen Grenzen zu erleben. Berichte in den Massenmedien vermitteln den Beteiligten zusätzlich das Gefühl, an einem besonderen, aus dem Alltag herausgehobenen Geschehen beteiligt zu sein. Unbeteiligte Dritte werden nicht bewusst angegriffen, die Polizei vor allem dann, wenn sie gegen die Fans einschreitet. Die Gruppen sind in erster Linie über die Gewaltbereitschaft konstituiert und verfügen zumeist nur über lose Binnenstrukturen (Schwind 2008, S. 601 ff.; Farin u. Seidel-Pielen 1993; Böttger 1998; Smolinsky 1991). Einzelne Hooligangruppen haben festere Strukturen entwickelt (Böttger 1998) und ihre Gewalttätigkeiten auf die „linke Szene“ ausgeweitet (Eisenberg 2005, S. 917; Smolinsky 1991, S. 87). Als weitere Fußballfangruppe haben sich bei vielen Vereinen so genannte „Ultras“ etabliert, die sich als besonders tatkräftige Unterstützer ihres jeweiligen Vereins verstehen. Obwohl sie sich selbst als unpolitisch verstehen, tritt latenter Rassismus bei Schmährufen gegen Spieler der gegenerischen Mannschaft mitunter offen zutage. Bei Auseinandersetzungen mit Fans gegnerischer Mannschaften sind Gewaltätigkeiten nicht ausgeschlossen. „Ultras“ verstehen sich vielfach als Rebellen gegen etablierte Gesellschaftsschichten und deren Normen. Insofern können sie als latentes Rekrutierungsreservoir für extemistische politische Richtungen, aber auch für die organisierte Kriminalität in Betracht kommen (vgl. Pilz 2007). Weitere, politisch eher rechtsorientierte Gruppierungen wie etwa die Skinheads werden im Abschnitt „Bandenkriminalität“ behandelt.
1.5.4
Banden
1.5.4.1 Historische Banden Beim Begriff „Bande“ sind eine historisch-soziologische, eine strafrechtliche und eine kriminologische Perspektive zu unterscheiden. Unter einem historsich-soziologischen Zugriff sind Banden typische Erscheinungsformen vorindustrieller Gesellschaften, in denen es der staatlichen Gewalt nie vollständig gelang, das gesamte Territorium zu beherrschen und zu befrieden, so dass stets Rückzugsgebiete für Aufständische, Räuberbanden etc. bestanden, deren Anwachsen zwar durch militärische Operationen eingedämmt werden konnte, deren Entstehung aber nicht verhindert und deren Operationen in gewissem Umfang geduldet und ertragen werden mussten. Es kam häufig zu kollusiven Abreden zwischen Bandenchefs und Amtsträgern, die beiden Seiten einen Modus Vivendi ermöglichten (Hobsbawn 1972; Küther 1984).
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1.5.4.2 Strafrechtlicher Bandenbegriff In der Strafrechtswissenschaft steht der Begriff „Bande“ für ein Mindestmaß an organisiertem und dauerhaftem Zusammenwirken von Straftätern insbesondere im Bereich der Eigentums-, Vermögens- und Drogenkriminalität. Eine Bande setzte nach alter Rechtsprechung lediglich zwei (BGHSt 23, 239; BGH NStZ 1998, 256), seit der Entscheidung des Großen Senats (BGHSt 46, 321) mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten der jeweils im Gesetz genannten Art zu begehen. Die Tatbegehung im Bandenzusammenhang ist kein eigener Straftatbestand, sondern bewirkt einerseits bei verschiedenen Tatbeständen eine Schärfung der Strafe (vgl. etwa §§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 244 a Bandendiebstahl, § 250 Abs. 1 Nr. 2 Bandenraub, §§ 260 Abs. 1 Nr. 2, 260 a Bandenhehlerei, § 263 Abs. 3 Nr. 1 Bandenbetrug, § 30 BtMG bandenmäßiger Handel mit Betäubungsmitteln), andererseits eine Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse (§§ 100 a Abs. 2 Nr. 1 j, 100 c Abs. 2 Nr. 1 h , § 110 a Abs. 1 Nr. 4 StPO). Sofern eine Begehung im Bandenzusammenhang und eine gewerbsmäßige Tatbegehung zusammentreffen, wird die Tat bei einer Reihe von Tatbeständen von einem Vergehen zu einem Verbrechen qualifiziert (vgl. etwa § 244 a StGB „schwerer Bandendiebstahl“, § 260 a StGB „gewerbsmäßige Bandenhehlerei“). Kann eine intensivere Verfestigung der Organisationsstrukturen nachgewiesen werden, so ist die Bildung oder Beteiligung an einer kriminellen (§ 129 StGB) beziehungsweise terroristischen (§ 129 a StGB) Vereinigung selbstständig, d. h. ohne Nachweis einer weiteren Straftat wie etwa Raub, Körperverletzung oder gar Mord strafbar. Der Bandenbegriff des Strafrechts spielt demgemäß vor allem im Erwachsenenstrafrecht eine wichtige Rolle, für das Jugendstrafrecht haben die Strafrahmen des StGB keine Bedeutung.
1.5.4.3 Kriminologischer Bandenbegriff In der Kriminologie werden Banden dagegen fast ausschließlich im Kontext der Jugendkriminalität diskutiert und untersucht, Verbindungen erwachsener Straftäter zum Teil sogar per Definition aus dem Bandenbegriff ausgeschlossen (v. Trotha 1993, S. 54). Trotz einer Forschungstradition, die vor allem in den USA bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht, ist der Begriff der Bande in der Kriminologie relativ unbestimmt geblieben, was nicht zuletzt mit der Variabilität und Kurzlebigkeit von Zusammenschlüssen Jugendlicher und Heranwachsender zu tun hat. Die folgenden Kriterien dürften in der Literatur aber weitgehenden Konsens finden (vgl. v. Trotha 1993, S. 54–56; Eisenberg 2000, S. 893 ff.; Kaiser 1996, S. 519 ff.; Schwind 2008, S. 585 ff.): z Die Bande ist eine soziale Gruppe von Jugendlichen und Heranwachsenden, wobei unter einer sozialen Gruppe eine Einheit von Personen verstanden wird, die nach außen hin in gewissem Umfang abgeschlossen ist, deren Mitglieder sich durch Interaktionen von Angesicht zu Ange-
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sicht kennen, in die aufgenommen zu werden von bestimmten Merkmalen (wie z. B. Alter, Geschlecht, Verwandtschaft) und/oder bestimmten Leistungen abhängt und deren Mitglieder ein mehr oder minder ausgeprägtes Gefühl der Gemeinsamkeit verbindet. z Banden sind häufig Peergroups, das Alter der Mitglieder kann aber auch innerhalb der Gruppe variieren. Die Mitgliederzahl liegt bei mindestens drei Jugendlichen beziehungsweise Heranwachsenden und ist nach oben relativ offen (nach Thrasher 1960, S. 319 ff. bestand die typische „Gang“ in Chicago aus 6 bis 20 Personen). z Die Bandenmitglieder begehen gemeinsam, in kleinen Cliquen oder allein wiederholt und mit einiger Regelmäßigkeit Gesetzesverletzungen. Diese Gesetzesverletzungen beruhen auf der Kooperation und/oder moralischen Unterstützung der anderen Bandenmitglieder. Die Gesetzesverletzungen sind zwar fester Bestandteil des Verhaltensmusters der Bandenmitglieder, sie bilden aber im Allgemeinen nicht den alleinigen oder wichtigsten Gegenstand der Aktivitäten der Bande (vgl. Eisenberg 2005, S. 922; Staub 1965, S. 189). z Die Jugendbande ist damit zumeist keine soziale Einheit, deren Normen, Bräuche und Werte unmittelbar und direkt gesetzesverletzendes Verhalten beinhalten oder gar fordern (Jankowski 1991, S. 140). Auch sind die Banden zwar Teil, sie sind aber nicht identisch mit einer bestimmten schichtspezifischen oder ethnischen Kultur oder Subkultur. Dieser Typus der Jugendbande ist zwar in erster Linie eine Erscheinung der Großstädte, Jugendbanden gibt es aber auch in Kleinstädten und auf dem Land. Sie treten in allen sozialen Schichten auf, allerdings ist ihre Verbreitung in den Unterschichten am größten. Dementsprechend sind wie schon zuvor in den USA in den letzten Jahren auch in deutschen Großstädten ethnisch geprägte Jugendbanden in Erscheinung getreten (Eisenberg 2005, S. 922 f.; Kaiser 1996, S. 590; Schwind 2008, S. 604 f.; Thrasher 1960, S. 291 ff.). Diesen stehen Banden deutscher Jugendlicher gegenüber, die Zuwanderung ablehnen (Eckert u. Willems 1994, S. 179 ff.; s. auch Abschn. 1.5.4.4 zu Skinheads). Banden sind vor allem ein Phänomen der männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden, auch wenn Mädchenbanden bisweilen erhebliches Aufsehen erregen (Eisenberg 2005, S. 923; Schwind 2008, S. 588 f., 606). Zu ihrer Entwicklung tragen mittlerweile weltweit verbreitete Medienerzeugnisse bei, die die Nachfrage nach emotional hoch bewerteten Erlebnissen („Action“, „Kick“) und kulturellen Mustern („Kämpfer“, „Krieger“) bedienen und auf diese Weise einen zentralen Aspekt der Identitätsfindung von Jugendlichen bilden (Eckert u. Willems 1994, S. 179 ff., 188). Organisationsgrad, Führungsstrukturen, Geltung abweichender Normen, Zusammenhalt beziehungsweise Fluktuation der Gruppen variieren erheblich, will man die Jugendbande allerdings von allgemeinen Peergroups, „street corner societies“ und von situativen Tätergemeinschaften abgrenzen, wird man eine minimale Führungsstruktur per Definition voraussetzen müssen, die zumeist in den Rollenmustern des Bandenchefs,
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den Trägern bestimmter Spezialistenrollen und den allgemeinen Mitgliedern beziehungsweise Mitläufen gesehen wird (Eisenberg 2005, S. 922; Kaiser 1996, S. 519; Thrasher 1960, S. 45 ff.; Yablonsky 1962, S. 124 f.; kritisch v. Trotha 1993, S. 56). Jugendbanden entwickeln sich aber häufig aus ursprünglich lockeren oder spontanen Gruppen, sodass die Übergänge fließend sind (vgl. Thrasher 1960, S. 45 ff.; Yablonsky 1962, S. 124 f.). Ausmaß, Arten und Bedeutung gesetzesverletzender Verhaltensmuster finden sich in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Generell werden primär vermögenskriminelle (z. B. diebstahlorientierte) und eher konflikt- beziehungsweise gewaltorientierte Banden unterschieden (Eisenberg 2005, S. 921; Schwind 2008, S. 590). Dieser klassifikatorisch/typologische Zugang stößt allerdings auf Kritik, da deliktspezifische Spezialisierungen nicht zu den vorherrschenden Merkmalen von Jugendbanden gehören (v. Trotha 1993, S. 56 f.). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass auch vermögenskriminelle Jugendbanden keine Ressourcen anhäufen, sondern die Delikte in erster Linie zur Beschaffung von Mitteln für Freizeitvergnügungen oder unmittelbar als spezielle Form des Abenteuers begehen (Eisenberg 2005, S. 920; Schwind 2008, S. 591). Auch vermögenskriminelle Jugendbanden können in gewalttätige „Bandenkriege“ verwickelt werden (Eisenberg 2005, S. 921 f.). Eigentumsdelikte spielen wiederum bei gewaltorientierten Banden in Form von Raub- und Erpressungsdelikten eine wichtige Rolle. Besonders der Raub begehrter Kleidungsstücke oder Gegenstände (Handies) ist in jüngerer Zeit als „Abziehen“ bekannt geworden (Schwind 2008, S. 232, 591; speziell zu „streetgangs“ Schwind 2008, S. 605 f.). Bei der Deliktbegehung wirkt sich die Bande als Verstärker aus, da unter Gruppendruck die Risikobereitschaft steigt und individuelle moralische Bedenken zerstreut werden (Schumann et al. 1999, S. 306). Als Risikofaktor für eine kriminelle Karriere ist die Bandenzugehörigkeit umstritten (Eisenberg 2005, S. 921). Einerseits gilt sie als einer der wichtigsten Risikofaktoren für schwerwiegende Deliktbegehung (vgl. etwa Hawkins et al. 1998, S. 106 ff.; Thornberry 1998, S. 147 ff.; Shaw u. McKay 1972), andererseits wird darauf hingewiesen, dass die Kontrolle durch die Strafverfolgungsbehörden und damit das Entdeckungsrisiko bei der Bandenkriminalität besonders groß sind (Eisenberg 2005, S. 921). Nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine Bandenzugehörigkeit, die in Zusammenhang mit einer emotionalen Entfremdung von der Herkunftsfamilie steht und mit einer Ausweitung des Freizeit- gegenüber dem Leistungsbereich verbunden ist, jedenfalls als Symptom krimineller Gefährdung zu betrachten ist (Eisenberg 2005, S. 920 f.; Kaiser 1996, S. 833; Schwind 2008, S. 275 f.). Soweit bisheriges delinquentes Verhalten im Sinne von Ähnlichkeiten des Lebensstils zum Anschluss an die Bande führt („Konfluenzhypothese“), wird darin ein prognostisch besonders ungünstiger Umstand gesehen (Eisenberg 2005, S. 921; Hawkins et al. 1998, S. 106 ff.).
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1.5.4.4 Skinheads und rechtsradikale Szene Skinheads entstanden in den späten 1960er Jahren in England als Jugendbewegung, die sich dem traditionellen Arbeitermilieu verbunden fühlte und die seinerzeit verbreitete, eher intellektuell ausgerichtete Hippiebewegung ablehnte (Newburn 2002, S. 534). In Abgrenzung zu diesen stilisieren die Skinheads ihr äußeres Erscheinungsbild durch einen kahl geschorenen Glatzkopf (skin head) und militärische Kleidungselemente wie Doc-Martenbeziehungsweise Springerstiefel (Newburn 2002, S. 535 ff.). Aufgrund ihres militärischen Duktus lehnen Skinheads eine hierarchische Gruppenstruktur nicht prinzipiell ab und neigen deshalb eher zu Bandenstrukturen. Allerdings sind Skinheadgruppen nur zu einem geringen Teil überregional organisiert und haben sich von rechtsradikalen Parteien nicht vereinnahmen lassen (Niedersächsisches Innenministerium 1994, S. 50) In der Auseinandersetzung traditioneller (Arbeiter-)Milieus mit Zuwanderern betrachten sich die Skinheads als diejenigen, die latente Ressentiments der Bevölkerung offen zum Ausdruck bringen und in Aktionen umsetzen. Aufgrund dieses Umstandes fanden und finden sie Rückhalt und Unterstützung in Teilen der ansässigen Bevölkerung (Bundesministerium für Familie 1995, S. 197). In Ost- und Westdeutschland traten die ersten Skinheads Anfang der 1980er Jahre auf und verbreiteten sich nach der Wiedervereinigung rapide (Niedersächsisches Innenministerium 1994, S. 49). Ihrer sozialen Herkunft nach rekrutieren sich die Skinheads auch in Deutschland großteils aus sozial randständigen jungen Männern mit geringer Schulbildung, mangelnder Berufsperspektive und Statusproblemen, die durch die Gruppenzugehörigkeit und Gewalttätigkeit kompensiert werden (ebd. S. 49). Hohe Bedeutung für die Skinheadszene besitzen einschlägige Musikgruppen, die mit ihren Liedertexten Ausländerfeindlichkeit und Gewalttaten propagieren (Flad 2001). Mitglieder der Musikgruppe „Landser“ wurden deshalb wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt (BGH 3 StR 233/04 v. 22. 04. 2003). Traurige Berühmtheit erlangten die Skinheads durch die Eskalation fremdenfeindlicher Gewalttaten in den 1990er Jahren. Schwere Anschläge wie in Hoyerswerda (1991), Rostock (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993) lösten jeweils eine Vielzahl weiterer gewalttätiger Übergriffe aus (Bundesministerium für Familie 1995, S. 193 f.). Diese zunächst dramatische Entwicklung konnte eingedämmt werden. Über einen breiten Rückhalt unter den Jugendlichen in Ost und West verfügten und verfügen Skinheads und andere rechtsorientierte Gewalttäter nicht (ebd. S. 198). Die Skinheadszene hat sich differenziert. Ein zahlenmäßig eher kleiner Teil gehört den Redskins (linksorientierte Skins) und den Sharpskins (Skinheads against racial prejudice) an. Eine zahlenmäßig große Gruppe bilden die so genannten Oi-Skins, die zwar mit nationalistischem Gedankengut sympathisieren, aber eine unpolitische, an „Action“ und Spaß orientierte Haltung einnehmen. Der Name geht vermutlich auf die englische Übersetzung der NSFreizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (strength through joy) zurück. (Niedersächsisches Innenministerium 1994, S. 49). Vorherrschend sind die
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„Fascho-“ beziehungsweise „White-power-Skins“ mit einer rassistischen und rechtsradikalen Einstellung. Sie unterhalten auf lokaler Ebene häufig Kontakt zu rechtsextremistischen Organisationen (ebd. S. 50). Diese Befunde dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben den Skinheads weitere rechtsradikale Szenen bestehen. Im Zuge ihrer Wahlerfolge und der damit verbundenen Wahlkampfkostenerstattungen hat die NPD Schulungszentren für ihre Kader aufgebaut und ist dabei, sich zu professionalisieren. „Nicht mehr dumpfe Stiefelträger bestimmen das Bild, es treten alerte, kluge Herren auf, denen man den Rechtsextremismus nicht sofort ansieht“ (Ramelsberger 2005, S. 4). Weil der NPD der Einzug in den Bundestag nicht gelingt, versucht sie durch bürgernahe Aktivitäten wie Kinderfeste das Klima in Städten und Gemeinden, insbesondere in Ostdeutschland zu bestimmen. Skinheadlook und verbotene Symbole sind dabei unerwünscht (ebd. S. 4). Das gescheiterte Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG 2 BVB 1/01 v. 18. 03. 2003) begünstigt diese Entwicklung. Einerseits sind die NPD und andere rechtsradikale Parteien auch in Ostdeutschland bisher über den Status von Protestparteien nicht hinausgekommen (Jesse 2005, S. 38), andererseits verbreiten sich rechtsradikale Einstellungen infolge der mit der Globalisierung und der technischen Entwicklung verbundenen wirtschaftlichen Verunsicherung in West- und Ostdeutschland gleichermaßen auch in der Mittelschicht und weiten das Wählerpotenzial aus. Bildung scheint im Fall einer Statusbedrohung nicht zu immunisieren (Decker u. Brähler 2005, S. 16; Lenk 2005, S. 22). In der Jugendkultur sind neben den klassischen Skinbands weitere Stilrichtungen mit rechtsradikalen Tendenzen entstanden. Anhänger des „Dark Wave“ haben ein elitäres Selbstverständnis, das ideologische Elemente wie „Heidentum“, nordische Esoterik, Okkultismus und faschistische Schriftsteller der 20er und 30er Jahre umfasst. Die westliche Gegenwartsgesellschaft wird als dekadent, oberflächlich und materialistisch abgelehnt. Auch in anderen Musikrichtungen wie etwa „Heavy Metal“ entstehen Subgruppen mit rechtsradikalem Gedankengut („NS-Black-Metal“). Insgesamt verbreitert sich die Basis für rechtsradikales Gedankengut in den Jugendkulturen (Bericht des Weser Kurier v. 28. 01. 2005, S. 4 anlässlich des Versuchs der Musikgruppe „Allerseelen“, im „Himmelssaal“ des Hauses „Atlantis“ in Bremen ein als Privatveranstaltung ausgewiesenes Konzert zu geben). Im Zuge der aktuellen Finanzkrise und der Globalisierungskritik verbreiten sich unter Jugendlichen insbesondere in ohnehin kapitalismuskritischen Milieus Ostdeutschlands neben national-konservativem Gedankengut vor allem sozialistisch-nationalistische Ideologiefragmente. Damit im Zusammenhang steht die Übernahme ästhetischer Ausdrucksmittel und Stilelementen in Kleidung, Musik und Agitationsformen (Korgel 2007; Pfahl-Traughber 2007).
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1.5.4.5 Rocker Die Rocker sind in den USA entstanden und seit den 1960er Jahren in Deutschland in Erscheinung getreten (Kreuzer 1970, S. 337 ff. und 1972, S. 148 ff.). Sie gelten grundsätzlich als unpolitisch, wenn auch als eher rechts orientiert. Ihr Lebensideal wird geprägt von harten, männlichen, Motorrad fahrenden Draufgängern, wie sie in den Filmen „The Wild One“ und „Easy Rider“ stilisiert wurden. Die Mitglieder sind junge Männer im Alter von 18 bis etwa 25 Jahren. Frauen werden nur als Randfiguren akzeptiert. Die Gruppen sind hierarchisch strukturiert und verfügen häufig über die formalisierten Ränge: „Präsident“, „Vizepräsident“, „Cashier“ (Finanzchef) und „Secretary“ für organisatorische Aufgaben (Simon 1989, S. 142). Die Rocker traten bis in die 1980er Jahre hinein durch gewalttätige Ausschreitungen nach Musikveranstaltungen und Überfälle auf Angehörige von Minderheiten wie etwa Homosexuelle in Erscheinung (Schwind 2008, S. 592 f.). Neue Aufmerksamkeit haben Nachrichten über Zusammenschlüsse von Rockergroßgruppen („Hell’s Angels“ mit den „Bones“ am 7. 11. 1999) und blutigen Konkurrenzkämpfen in Skandinavien zwischen „Hell’s Angels“ und „Bandidos“ erregt, die bereits auf Norddeutschland übergegriffen haben (Kröger 2008). Dabei geht es um Marktanteile in den Kriminalitätsbereichen Drogenhandel, Ausbeutung der Prostitution, Waffenhandel und Schutzgelderpressung (ebd. S. 571; Ulrich 2000). Verschiedene Rockerbanden mit überregionalen Strukturen haben sich offenbar der professionellen, organisierten Kriminalität zugewandt, ihre Anführer suchen Verbindungen zur etablierten Geschäftswelt (Schwind 2008, S. 593; Ulrich 2000).
1.5.5 Organisierte Kriminalität Eine verstärkte Diskussion um die organisierte Kriminalität setzte in Deutschland mit der ersten Jahrestagung des Bundeskriminalamtes zu diesem Thema im Jahr 1974 ein. Die Veranstaltung war von Versuchen geprägt, das angeblich neue Phänomen zu beschreiben und zu definieren (Bundeskriminalamt 1975). Nach zahlreichen Definitionsversuchen hat sich nunmehr eine von der AG-Kripo vorgeschlagene Definition durchgesetzt, die auch für die Arbeit der Staatsanwaltschaft verbindlich ist (Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren [RiStBV] Anl. E Nr. 2). Demnach ist organisierte Kriminalität die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig z unter Verwendung gewerblicher oder geschäftlicher Strukturen, z unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder z unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.
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Die Definition lässt nicht nur durch die verwendeten Begriffe, sondern auch durch ihre zahlreichen „oder“ – Verknüpfungen erhebliche Interpretationsspielräume. Der deutsche Gesetzgeber hat nicht zu Unrecht weitgehend davon abgesehen, den Begriff „organisierte Kriminalität“ im Gesetz zu verwenden. Die Diskussion in Deutschland wird dadurch erschwert, dass mit organisierter Kriminalität einerseits eine organisatorisch feste und mehrstufig aufgebaute so genannte Syndikatsstruktur assoziiert wird, die die Verwendung der verbreiteten Schreibweise „Organisierte Kriminalität“ rechtfertigen könnte, andererseits unter diesen Begriff auch netzwerkartige Verbindungen von Straftätern als typisch deutsche Form der „Organisierten Kriminalität“ gefasst werden, während Bandenstrukturen nicht der „Organisierten Kriminalität“ zugerechnet werden sollen. Diese insbesondere von der Polizei propagierte Konzeption (Kollmar 1974, S. 4; Boettcher in: Bundeskriminalamt 1975, S. 186; Herold in: Bundeskriminalamt 1975, S. 5; Falk in: Bundeskriminalamt 1997, S. 133 f.) konnte empirischen Befunden nicht Stand halten (Weschke u. Heine-Heiß 1990; Weigand u. Büchler 2002, S. 29; Kinzig 2004). Diese zeigen, dass organisierte Kriminalität aus zahlreichen Kleingruppen, einer Reihe von so genannten Kerngruppen mit Umfeld und wenigen Großgruppen besteht, die untereinander und darüber hinaus mit zahlreichen einzelnen Spezialisten, Gehilfen und sonstigen Personen im Milieu vernetzt sind (Weschke u. Heine-Heiß 1990). Kleingruppen bestehen aus zwei bis fünf Mitgliedern und entwickeln zumeist keine ausgeprägte Hierarchie. Kerngruppen umfassen etwa fünf bis zehn Mitglieder und arbeiten mit einem Umfeld von Personen enger zusammen, die je nach Bedarf hinzugezogen werden. Großgruppen sind zumeist hierarchisch aufgebaut und umfassen 20 bis 50 Mitglieder, wobei sich die höheren von den unteren Hierarchieebenen abschotten, sodass die Übergänge zwischen Kerngruppen mit Umfeld und Großgruppen fließend sind. Diese Struktur eines netzwerkartig verknüpften kriminellen Milieus, in das kleinere und größere Gruppierungen beziehungsweise Banden eingebettet sind, wurde in ähnlicher Weise bereits in den Jahren 1884 bis 1886 in einer Aufsatzreihe der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft detailliert und offenbar kenntnisreich unter dem Pseudonym XR beschrieben und ihre Leistungsfähigkeit für Funktionen wie Abschottung gegen die Ermittlungsbehörden, arbeitsteilige Verbrechensplanung und -durchführung, Sozialkontrolle im kriminellen Milieu etc. dargestellt. In der internationalen Literatur haben sich zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen insbesondere mit der italienischen und US-amerikanischen Mafia beschäftigt. Es würde hier zu weit führen, die zahlreichen unterschiedlichen Konzeptionen darzustellen. Betrachtet man die strukturelle Seite, so reichen die Auffassung von einer Konzeption, die die Mafia als nahezu militärisch aufgebaute, arbeitsteilige, quasi bürokratische Großorganisation beschreibt (Cressey 1969) bis hin zu Konzeptionen, die jegliche Struktur, die über dyadische, klientelistische Strukturen hinausgehen, ablehnen (Hess 1970) oder die strukturierenden Kräfte, die mafiose Organisa-
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tionen schaffen können, nicht auf der Ebene der Straftäter aus dem kriminellen Milieu angesiedelt sehen, sondern bei hohen Beamten, Politikern und Geschäftsleuten, die sich der Kriminellen bedienen (Chambliss 1978 a, b) oder schließlich die Mafia als Großfamilien betrachten, deren Mitglieder neben legalen auch illegalen Geschäften nachgehen (Ianni u. Reuss-Ianni 1972). Hinsichtlich der Funktion der organisierten Kriminalität besteht ebenfalls eine große Spannweite an Auffassungen. Beschrieben wird die Mafia teilweise als Parallelgesellschaft mit dem Ziel und der Fähigkeit, den Staat soweit auszuhöhlen, dass ihre Führer faktisch den Staatsapparat lenken können (Cressey 1969, „Theft of the Nation“). Andere Konzeptionen betrachten die organisierte Kriminalität als Geschäftsfeld von Kaufleuten, die mit illegalen Gütern handeln, und lediglich eine Nachfrage in der Bevölkerung decken (Smith 1975, 1994). Fasst man die Forschungsergebnisse zusammen, so scheint auch die organisierte Kriminalität in den USA und in Italien einschließlich der Mafia strukturell aus kleineren und größeren Gruppierungen zu bestehen, die mit einem weiten Netzwerk krimineller Akteure verbunden sind (vgl. Lupo 2002; Reuter 1983; zusammenfassend Levi 2002, S. 890 f.; anders Paoli 2006; kritisch hierzu von Lampe 2006). Entsprechende Befunde liegen – aus der Nähe betrachtet – auch zu chinesischen Triaden vor (Fung 1996, S. 26; Craig 1997, S. 63; Chin 1990, 1996). Treffen diese Befunde zu, ergeben sich in struktureller Hinsicht keine gravierenden Unterschiede zur Situation in Deutschland. Den wesentlichen Unterschied dürften das Ausmaß der Verstrickung des Staatsapparates und der legalen Geschäftswelt in illegale Netzwerke ausmachen sowie das Tremendum, das von den „Markenzeichen“ „Mafia“ und „Triaden“ ausgeht (vgl. Gambetta 1994). Hinsichtlich der Funktionen der organisierten Kriminalität vermag der ökonomische Ansatz die Märkte für illegale Drogen, illegales Glücksspiel und Prostitution gut zu beschreiben. Allerdings steht zumeist die Nachfrageseite im Vordergrund der Analysen, während die Frage, ob die Angebotseite eine Nachfrage nach illegalen Gütern aktiv zu wecken vermag, weniger in Betracht gezogen wird. Historischer Bezugspunkt ist ausgesprochen oder unausgesprochen die Alkoholprohibition in den USA als Beispiel für die Auswirkungen eines Verbots ehemals legaler Genussmittel, während die Folgen der erzwungenen Einführung des Freihandels mit Opium in China nach dem Opiumkrieg (1840–42) kaum analysiert werden (vgl. Booth 1996, S. 139 ff.). Am stärksten versperrt sich einem nachfrageorientierten Konzept die in manchen Regionen weit verbreitete Erpressung von Schutzgeldern in der Geschäftswelt und von Lösegeldern im Rahmen von Entführungen (vgl. aber Gambetta 1994).
1.5.6 Terrorismus Der Terrorismus ist durch die Zerstörung des World Trade Centers am 11. September 2001 wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltpolitik getreten. Gleichwohl ist die Verbreitung von Terror als Mittel der Politik
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eine sehr alte, vielfach dokumentierte Erscheinung (vgl. Middendorff 1981, S. 402 ff.; und die Beiträge in Hirschmann u. Gerhard 2000). Der Begriff ist vom lateinischen Wort „terror“ (Furcht, Schrecken) hergeleitet, wurde in seiner modernen Bedeutung aber vermutlich erstmals in der französischen Revolution verwendet, als Robbespiere in den Jahren 1793/1794 durch das „régime de la terreur“ versuchte, alle Konterrevolutionäre einzuschüchtern und zu beseitigen (Dombrowsky 2004, S. 35; Atran 2003, S. 1534). Das Strafgesetz verwendet den Begriff „Terror“ in § 129 a StGB, der die Bildung oder Beteiligung an einer „terroristischen Vereinigung“ mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bedroht. Nach Abs. 1 gelten alle Vereinigungen als terroristisch, deren Zweck oder deren Tätigkeit darauf gerichtet ist, Mord, Totschlag, Geiselnahme, erpresserischen Menschenraub, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu begehen. Die Motive und Ziele der Taten sind insoweit ohne Bedeutung. Ebenso wird nach § 129 a Abs. 2 StGB bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an ihr als Mitglied beteiligt, die den Zweck hat oder deren Tätigkeit darauf gerichtet ist, bestimmte schwere Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, die Umwelt, das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz sowie bestimmte gemeingefährliche Straftaten nach Abs. 2 Nr. 2 zu begehen, wenn die Taten dazu bestimmt sind, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder internationale Organisation zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und wenn die Taten durch die Art ihrer Begehung oder ihrer Auswirkungen geeignet sind, einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich zu schädigen (vgl. Fischer 2008, § 129 a Rn. 13 sowie Rn. 1, 11 ff.; Hartmann § 129 a Rn. 4 ff. sowie Rn. 1 zu dem für die Novellierung des § 129 a maßgebenden EU-Rahmenbeschluss; s. ABl. EG 2002 Nr. L 164; hierzu kritisch Nolte 2002; Hetzer 2005; vgl. auch die rechtstatsächlichen Auswertungen bei Blath u. Hobe 1982). Sozialwissenschaftliche Definitionen und Erklärungsversuche des „Terrorismus“ werden durch die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Erscheinungsformen erschwert. Unter Terrorismus wird im weitesten Sinn die psychische Beeinflussung der Bevölkerung oder einzelner bedeutsamer Personen durch Verbreitung von Furcht und Schrecken zur Durchsetzung politischer Ziele verstanden. Das Ziel psychischer Beeinflussung bildet ein Abgrenzungsmerkmal zu reinen Racheakten und Hassverbrechen und zur Kriegsführung sowie Guerillakriegsführung, soweit diese unmittelbar auf das Erringen der Gebietsherrschaft zielen (Eisenberg 2005, S. 927; Schneider 1987, S. 873; Schwind 2008, S. 645; Backes 2007; S. 15 ff., 24 ff. mit einer Kombination technischer und moralischer Kriterien). Unter diesen Voraussetzungen lassen sich weiter unterscheiden der revoltierende Terrorismus, der eine etablierte Ordnung angreift, und der Terrorismus, der zur Verteidigung einer etablierten Ordnung dient. Terrorismus kann sowohl von den staatlichen Apparaten selbst als auch von halbstaatlichen und privaten Gruppen ausgeübt werden (Schwind 2008, S. 645). Beides kann ineinander
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übergehen, wenn ein Land terroristische Aktivitäten in einem anderen Land unterstützt, um letzteres zu destabilisieren oder wenn sich die staatliche Ordnung bereits in Auflösung befindet. Geht man von den aktuellen Erscheinungsformen aus, stehen der ethnisch-nationale Terrorismus (z. B. die baskische ETA) und der religiös, insbesondere der islamisch motivierte Terrorismus (z. B. Al-Quaida), im Vordergrund (zum Lebensweg des Gründers Osama Bin Laden und zur Ideologie des Islamismus und Djihadismus vgl. Bigalke u. Abou-Taam 2007; Schwind 2008, S. 655 ff.), wobei bemerkenswerterweise mit der AUM-Sekte in Japan auch eine terroristische Gruppierung mit buddhistischem Hintergrund hervor getreten ist (Thamm 2002, S. 169 ff.). Auch in dieser Hinsicht gibt es vielfache Überschneidungen etwa von religiösen und nationalen Motiven bei palästinensischen Terroristen, aber auch bei der IRA. Eine Symbiose kann zwischen terroristischen Gruppierungen und Gruppierungen der organisierten Kriminalität im illegalen Drogen- und Waffenhandel beobachtet werden (ebd., S. 247 ff.). In der Geschichte der Bundesrepublik trat zunächst der Linksterrorismus in das Blickfeld der Öffentlichkeit (vgl. aus der reichen Literatur Peters 1991; Schwind 2008, S. 646 ff. jeweils mwN). Der Terrorismus mit rechtsradikalem Hintergrund darf aber nicht unterschätzt werden (hierzu Eisenberg 2005, S. 931 f.; Schwind 2008, S. 33: der bisherige Höchststand rechtsextremistischer Gewalttaten wurde 1992 mit 2639 Fällen erreicht; zum rechtsextremistischen Wählerpotential und den begrenzten, sowie stark schwankenden Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien vgl. Decker u. Miliopoulos 2007). Schließlich ist die Bundesrepublik Rückzugs-, Rekrutierungsund Zielgebiet für Anschläge ausländischer terroristischer Gruppierungen wie z. B. der kurdischen PKK und der muslimischen Terrorgruppen wie etwa der Al-Quaida (hierzu Thamm 2002; Schwind 2008, S. 659 ff.). Der infolge des Irak-Kriegs wieder verstärkt in Erscheinung tretende Antiamerikanismus, verbunden mit offenem oder latentem Antisemitismus, ist bei moslemischen, links- und rechtsterroristischen Gruppierungen verbreitet und könnte eine Basis für gemeinsame Aktionen bilden (Bergmann 2005, S. 28). Strukturell besteht bei terroristischen Gruppierungen eine interessante Übereinstimmung mit dem zuvor beschriebenen Modell der Kerngruppe mit Umfeld im Bereich der organisierten Kriminalität. Terroristische Gruppierungen können auf Dauer nur erfolgreich operieren, wenn sie von einer ausreichend breiten Sympathisantenszene unterstützt werden, aus der heraus Hilfsdienste geleistet, Rückzugsräume bereitgestellt und die Rekrutierung neuer Mitglieder ermöglicht werden (Büttner 2001, S. 1; Claessens u. de Ahna 1982, S. 132, 172). Andererseits müssen sich Gruppen, die Anschläge vorbereiten und durchführen, gegen Infiltration der Ermittlungsbehörden und Verrat abschotten. In der Berichterstattung wird bei aktuellen islamischen Terrorgruppen der Netzwerkcharakter betont, während bei älteren Gruppierungen wie etwa der RAF oder der ETA der abgeschottete, hierarchische Kern pars pro toto in der Vordergrund gerückt wurde (vgl.
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Waldmann 2005, S. 35 ff., 41 ff.). Letztlich konnte die RAF dem intensiven staatlichen Fahndungsdruck nicht standhalten, weil die zur Unterstützung bereite Sympathisantenszene zu klein wurde, nicht weil es an innerer Geschlossenheit und Entschlossenheit gemangelt hätte (vgl. Neidhardt 1982, S. 342 ff.). Die islamischen Terrorgruppen sind diesbezüglich in einer offensichtlich günstigeren Lage. Bei den Ursachen des Terrorismus ist zunächst in ökonomisch-soziologische und in individuell-persönliche Ursachen zu differenzieren. Hinsichtlich ersterer konnte in empirischen Studien ein einfacher linearer Zusammenhang zwischen der Ausbreitung terroristischer Gruppierungen und Armut sowie geringen Bildungschancen nicht bestätigt werden (Barro 2002; Piazza 2006; islamische Selbstmordattentäter entstammen zumeist der Mittelschicht, vgl. Spohrer 2007, S. 403), hinsichtlich des Linksterrorismus in Deutschland bot sich diese Erklärung ohnehin nicht an. Es bestehen aber Hinweise, dass in Phasen ökonomischer Rezession terroristische Anschläge häufiger werden (Blomberg et al 2004, S. 463). Diese Befunde stimmen mit der Erkenntnis überein, dass sich rechtsradikale Einstellungsmuster – selbst bei gebildeten Bevölkerungsgruppen – als Reaktion auf gesellschaftliche oder ökonomische Degradierungsängste entwickeln (Decker u. Brähler 2005, S. 8, 16; Falter 2000, S. 7 ff.). Verallgemeinernd deuten diese Befunde darauf hin, dass nicht Armut und Degradierung als solche, sondern die Sorge vor sowie das Gewahrwerden von kultureller, gesellschaftlicher oder ökonomischer Degradierung beziehungsweise Unterlegenheit die Entwicklung des Terrorismus fördern (vgl. auch Schmidtchen 1983, S. 183, 188, 260; Spohrer 2007, S. 403 f. identifiziert eine persönliche und kulturelle narzistische Kränkung bei islamistischen Terroristen). Trifft dies zu, wären Rezessionen einerseits, andererseits aber auch das Einsetzen einer wirtschaftlichen Entwicklung, verbunden mit der Ausbreitung von Bildung und politischem und kulturellem Selbstbewusstsein, Phasen, die für die Ausbildung des Terrorismus besonders anfällig sind. Als gleichermaßen schwierig und vielschichtig wie die Erhellung der ökonomisch-soziologischen Ursachen erweist sich die Suche nach den Faktoren, die den einzelnen Menschen dazu führen, terroristische Gewalttaten selbst zu begehen oder zu unterstützen. Anerkannte psychische Erkrankungen scheiden als Erklärung weitgehend aus, wenn auch nicht von der Hand zu weisen ist, dass Personen mit abnormen Persönlichkeitszügen von bestehenden terroristischen Gruppierungen angezogen werden (De Boor 1978, S. 122 ff.; Büttner 2001, S. 2; Eisenberg 2005, S. 931; Schneider 1987, S. 872; zum „sozialistischen Patientenkollektiv“ – SPK in Heidelberg vgl. v. BaeyerKatte 1982; hinsichtlich der Beteiligten an nationalsozialistischen Terrorakten Welzer 2005; aA Turk 1982). Die individuelle Entwicklung zum Terroristen dürfte am besten mit einem „Karrieremodell“ erfasst werden, wobei in den Lebensphasen Pubertät und Adoleszenz die entscheidenden Weichen gestellt werden (Kaiser 1996, S. 660; Schmidtchen 1983; Schneider 1987, S. 878; Schwind 1978, S. 45 ff.; Schwind 2008, S. 663 ff.; Spohrer 2007, S. 403 ff.). Generell ist in dieser Phase mit der Ablösung von den Eltern die
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Hinwendung zu neuen Gruppen und die Suche nach eigenen Werten und Idealen verbunden. Dabei kann es zu einer Radikalisierung des Denkens und einer Abschottung der Mitgliedschaftsgruppe nach Außen kommen, die sich zu einem verschwörerischen Zusammenhalt, einer Spaltung der Welt in „Gut“ und „Böse“ und einer Immunisierung gegenüber der Außenwelt steigern kann (Büttner 2001, S. 5; Kaiser 1996, S. 660; Lenk 2005, S. 21; Schwind 2008, S. 663). Freilich folgt aus einer solchen Entwicklung nicht zwangsläufig eine terroristische Aktion. Psychologisch Angebote, den letzten Schritt in den Terrorismus zu begründen, sind etwa die „narzisstische Wunde“, die eine Integration „guter“ und „böser“ Anteile im eigenen Selbst nicht zulässt und damit eine Kontrolle der „bösen“ Anteile verhindert (Post 1998, S. 27; Spohrer 2007, S. 403 ff.), eine geringe Resistenz gegen Gruppendruck und autoritäre Führer, die verhindert, dass sich der Aktivist gegen die Instrumentalisierung durch eine Führungspersönlichkeit zur Wehr setzt (Büttner 2001, S. 3 ff. unter Bezug auf Milgram 1970), der Antrieb, sich einer „Minderheitenelite“ anzuschließen, die zur Aktion bereit ist (Schneider 1987, S. 879) oder eine Häufung von Belastungen im Sozialisationsprozess und der Biografie (Kaiser 1996, S. 659; Schmidtchen 1983, S. 217, 255, 262; Schneider 1987, S. 872; Schwind 1978, S. 45 ff.). Möglicherweise ergeben sich aus aktuellen neurobiologischen Forschungen insbesondere zum limbischen System im Bereich des Stirnhirns, dessen Verletzung zu einer Beeinträchtigung der Kontrolle von Emotionen und der Empathiefähigkeit führen kann, neue Erkenntnisse, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten (Roth 2005; Wendler 2006, S. 33 unter Bezug auf Roth). Weitere wesentliche Elemente der Entwicklung zur terroristischen Aktion sind die Legitimation der Gewalt und die Abwertung beziehungsweise Entpersönlichung der Opfer. Zur Legitimation der terroristischen Gewalt dient stets die Herbeiführung eines wie auch immer gearteten religiösen oder säkularen „Paradieses“ und zwar sowohl als individueller Lohn des Terroristen für seine mitunter selbstzerstörerische Tat als auch für die eigene Großgruppe oder die Welt insgesamt (Büttner 2001, S. 1, 4; Lenk 2005, S. 20; Neidhardt 1982, S. 352 ff.; Schneider 1987, S. 872). Demgegenüber wird die gegenwärtige Situation als unerträglich wahrgenommen (Kaiser 1996, S. 657) und werden die Opfer entweder als Vertreter des „Bösen“ ausgewählt beziehungsweise dazu stilisiert oder als unvermeidbare „Kollateralschäden“ auf dem Weg zum „Paradies“ in Kauf genommen (Eisenberg 2005, S. 927; Schneider 1987, S. 880; Schwind 2008, S. 657 ff.). Voraussetzung für diese Prozesse ist im Allgemeinen eine Sympathisantenszene, die entsprechende Wertorientierungen und Haltungen teilt und fördert und die Abschließung der Gruppe nach Außen erleichtert (Eisenberg 2005, S. 928 und unter Verweis auf damit verbundene Etikettierungsprozesse S. 929; Schmidtchen 1983, S. 261 insbesondere zur Bedeutung der alternativen Presse). Durch Überwachung solcher Milieus – soweit dies möglich ist – ist einerseits eine starke Beschneidung der Aktionsmöglichkeiten und der motivierenden Unterstützung von Terroristen zu erzielen, andererseits kann die damit verbundene Isolation ihre Entschlossenheit
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zum Kampf gegen die vermeintlich böse Umwelt ins Grenzenlose steigern und zur Legitimation weiterer Gewalttaten dienen (Hilgers 2001; Post 1998, S. 40; Matz 1983, S. 50 u. Neidhardt 1982, S. 342 ff. zur RAF; Spohrer 2007, S. 405 f. zum islamistischen Terrorismus). Dies spricht für eine rechtsstaatliche, die Legitimität der staatlichen Mittel und Maßnahmen reflektierende und begrenzende Vorgehensweise auch gegenüber dem Terrorismus.
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1 Kriminologische Grundlagen
Viktimologie T. Görgen
1.6.1 Zentrale Begrifflichkeiten z Viktimologie. Der Begriff Viktimologie (von lat. victima = Opfer) bezeichnet eine meist als Teilgebiet der Kriminologie verstandene wissenschaftliche Disziplin, in deren Zentrum Opfer von Straftaten stehen. Zwar sind zuweilen breiter gefasste Konzepte anzutreffen (vgl. Garkawe 2004), denen zufolge das Betroffensein durch vielfältige Arten schädigender Widerfahrnisse (Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen etc.) Gegenstand der Viktimologie sei, doch hat sich die Engführung auf Opfer von Straftaten weitgehend durchgesetzt. Eine „allgemeine Opferlehre“ wäre – so Jung (1993, S. 582) – „im Gefolge der Unschärfe des Opferbegriffs zu wenig konturiert“. Die Viktimologie ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, an dem insbesondere Rechtswissenschaftler, Soziologen und Psychologen beteiligt sind. z Opfer. Erst seit dem 19. Jahrhundert wird der Begriff „Opfer“ im Sinne von Personen gebraucht, die einen Schaden oder eine Verletzung erlitten haben (Spalek 2006; Furedi 1997); ursprünglich hatte er Wesen bezeichnet, die bei rituellen Praktiken getötet werden. Heute kann das „Betroffensein von einem strafrechtlich relevanten Konflikt“ als „definitorischer Näherungswert für den Opferbegriff“ gelten (Jung 1993, S. 583). Zugleich ist „Opfersein“ ein in seiner konkreten Ausprägung in hohem Maße subjektives Merkmal (Wetzels 1995) und ein in Kommunikations- und Interaktionsprozessen behaupteter, wahrgenommener und ausgehandelter Status (Strobl 2004). Als Elemente eines sozialwissenschaftlichen Opferbegriffs arbeiten Greve et al. (1994) die Merkmale der Individuierbarkeit (konkretes Ereignis mit persönlicher Opfererfahrung), der negativen Bewertung beziehungsweise Schädigung, des Widerfahrnischarakters (Person hat Ereignis nicht selbst herbeigeführt, konnte sein Eintreten nicht vollständig kontrollieren), der Zurechenbarkeit (an einen personalen oder sozialen Täter) sowie der Verletzung normativer Erwartungen (im Sinne intersubjektiv geteilter Normen, nicht etwa einer reinen Privatnorm) heraus. In der Regel wird der Status des Opfers konkreten (natürlichen) Personen zugeschrieben, doch können von Straftaten auch Kollektive oder Institutionen betroffen sein. Im Umfeld des Opferkonzepts wird zwischen primärer und sekundärer Viktimisierung unterschieden. Während primäre Viktimisierung die unmittelbaren physischen, psychischen und materiellen Folgen einer Tat meint, bezieht sich „sekundäre Viktimisierung“ auf eine inadäquate Behandlung (traumatisierende Erfahrungen, Stigmatisierungen und Benachteiligungen) nach der Tat durch Strafverfolgungsbehörden, andere Institutionen, die Medien oder das soziale Umfeld. Differenziert wird ferner zwischen primären, sekundären und tertiären Opfern. Primäre Opfer sind die durch die
1.6 Viktimologie
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Tat unmittelbar Geschädigten. Sekundäre Opfer sind indirekt durch die Tat in bedeutsamem Maße betroffen, z. B. Angehörige von Mordopfern. Als tertiäre Opfer werden bisweilen Personen bezeichnet, die in einer noch indirekteren Weise mit dem primären Opfer verknüpft sind, z. B. als Rettungskräfte bei terroristischen Anschlägen. Strobl (1998) orientiert seine Typologie von Opfererfahrungen an den Fragen, ob die Person durch die Tat selbst unmittelbar geschädigt wurde (direkte vs. indirekte Viktimisierung), das Tatmotiv sich gegen die viktimisierte Person richtete und – im Falle indirekter Viktimisierung – die Person durch weitere Tatfolgen geschädigt wurde. Daraus ergeben sich sieben Muster von Opfererfahrungen, die von „direkter/unmittelbarer Viktimisierung“ bis zu einer lediglich „anteilnehmenden Viktimisierung“ reichen.
1.6.2 Forschungsfelder der Viktimologie Zu den zentralen Forschungsgegenständen der Viktimologie zählen zunächst Fragen nach Verbreitung und Häufigkeit von Viktimisierungen in Hell- und Dunkelfeld sowie nach der Phänomenologie von Viktimisierungsereignissen und -prozessen. Ferner gehört dazu die Beschreibung und Analyse von Viktimisierungssettings, -kontexten und -situationen, von Opfermerkmalen und Täter-Opfer-Beziehungen sowie der Auswirkungen von Straftaten auf die direkt und indirekt Betroffenen und der Bewältigung von Opfererfahrungen (inkl. des Anzeigeverhaltens). Die opferbezogene Forschung untersucht Risiko- und Schutzfaktoren und analysiert den Umgang staatlicher und gesellschaftlicher Instanzen mit Kriminalitätsopfern. Studien widmen sich Fragen der Viktimisierungsprävention und der Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen. Es werden Fragen nach Kriminalitätsfurcht und Sicherheitsgefühl sowohl von Opfern als auch in der Bevölkerung allgemein gestellt, ferner wird die Darstellung von Opfern und Opferwerdung in den Medien thematisiert. In Bezug auf das deliktische Geschehen überwiegen – entgegen dem von Eigentums- und Vermögensdelikten dominierten Lagebild der Kriminalität – Studien zu Opfern von Gewalt- und Sexualdelikten. Insbesondere im Hinblick auf Gewalt im sozialen Nahraum sowie sexuelle Viktimisierungen ist in den beiden zurückliegenden Dekaden ein beträchtlicher Zuwachs der Forschungsaktivitäten erkennbar (Carlson 2005). Die Viktimologie bezieht auch „neue“ beziehungsweise „neu entdeckte“ Kriminalitätsformen mit ein, z. B. Stalking (vgl. die Metaanalyse von Spitzberg 2002) oder die Thematik des so genannten „hate crime“ (vgl. u. a. Rayburn et al. 2003).
1.6.3 Entstehung und Entwicklung der Viktimologie Die Viktimologie ist eine noch junge Wissenschaft. Obwohl Opfer am unmittelbarsten von Straftaten betroffen sind, wurden sie lange Zeit sowohl
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1 Kriminologische Grundlagen
von der Wissenschaft als auch vom System der Strafrechtspflege weitgehend ignoriert. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts sind Ansätze opferbezogener Forschung und Theoriebildung erkennbar. Hans von Hentig gilt mit seinem Werk „The criminal and his victim“ (1948) als Pionier der Viktimologie. Von Hentig eröffnete eine interaktionistische Perspektive, die Vorstellungen vom Kriminalitätsopfer als einer bloß passiv von der Straftat betroffenen Person in Frage stellte. Er beschrieb so genannte allgemeine Opfertypen, zu denen er unter anderem junge Menschen (Jugend als gefahrvollster Lebensabschnitt), Frauen, ältere Menschen, geistig Behinderte, psychisch Kranke und Suchtkranke, Migranten und ethnische Minoritäten zählte. Ferner skizzierte er „psychologische Opfertypen“. Dazu gehören Menschen, die durch Merkmale wie Depressivität, Hab- und Besitzgier, Leichtsinn und Leichtlebigkeit, Einsamkeit und zwischenmenschliche Enttäuschung gekennzeichnet sind, als Peiniger ihrer sozialen Umwelt in Erscheinung treten, in ausweglose Situationen und Konflikte verstrickt sind oder aus einer leidenden Position heraus selbst zu Tätern werden. In Deutschland kann die Monografie „Das Opfer und sein Täter: Partner im Verbrechen“ von Hans Joachim Schneider (1979) als eines der ersten viktimologischen Werke betrachtet werden. Verstärkt seit den 70er Jahren ist international ein Abrücken von der traditionell einseitigen Täterorientierung der Kriminologie zu verzeichnen; seither haben sich die Kriminalitätsopfer, wie Geis (1998) es ausdrückte, „from the wings to center stage“ bewegt. Über die Wissenschaft hinaus war ebenfalls eine gesellschaftliche Sensibilisierung für Opferbelange zu verzeichnen, insbesondere durch Aktivitäten der Frauenbewegung, zum Teil auch von Bürgerrechtsbewegungen. Zahlreiche Opfer- und Opferhilfeorganisationen entstanden, Opferbelange gewannen an Bedeutung für die Gesetzgebung. Für die Gegenwart beschreiben Hassemer und Reemtsma (2002, S. 13) eine „Wende“, die sich darin äußere, dass nun „das Verbrechensopfer die Kriminalpolitik“ antreibe; das Opfer sei „aus dem Schatten herausgetreten, in dem ein auf den Täter konzentriertes Strafrecht es über . . . Jahrhunderte festgehalten hatte“. Der Aufschwung der Viktimologie wurde begünstigt durch die Weiterentwicklung der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung allgemein und der Dunkelfeldforschung im Besonderen, durch soziale Bewegungen, welche eine erhöhte Sensibilität für die Belange gewaltbetroffener Personen mit sich brachten, auch durch kriminalpolitische Tendenzen, die – teilweise als Gegenbewegung zu einer „optimistischen“, Behandlung und Resozialisierung von Tätern in den Mittelpunkt rückenden Politik – den Blick auf die Leiden der unmittelbar Betroffenen lenkten. Auf Seiten der Polizei wurde zunehmend die Bedeutung der Geschädigten für die polizeiliche Arbeit und den Ermittlungserfolg erkannt; Shapland und Vagg (1988) haben hierfür die Formulierung „policing by the public“ gefunden. Auch der Berichterstattung über Kriminalitätsopfer in den Medien wird ein Anteil an der „erhöhten Sichtbarkeit“ von Opfern zugeschrieben (Dignan 2005).
1.6 Viktimologie
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In den 80er und 90er Jahren war die Viktimologie – so Fattah (2000 b) – durch Konsolidierung als akademische Disziplin und eine intensive Phase der Datenerhebung und Theoriebildung gekennzeichnet. Dieser Konsolidierungs- und Institutionalisierungsprozess fand unter anderem in den seit 1973 im Dreijahresturnus veranstalteten International Symposia on Victimology seinen Ausdruck, zuerst in Jerusalem, mit Folgeveranstaltungen in Boston (1976), Münster (1979), Tokyo/Kyoto (1982), Zagreb (1985), Jerusalem (1988), Rio de Janeiro (1991), Adelaide (1994), Amsterdam (1997), Montreal (2000), Stellenbosch (2003) und Orlando (2006). 1979 wurde die World Society of Victimology gegründet. Neben dieser Organisation mit beratendem Status bei den Vereinten Nationen (Schneider 2001 a) entstand bislang ein rundes Dutzend nationaler viktimologischer Gesellschaften. Fachzeitschriften wie „Violence and Victims“, „Trauma, Violence and Abuse“ und „International Review of Victimology“ bildeten sich heraus. Parallel zu den wissenschaftlichen Vereinigungen entstanden Organisationen der Opferhilfe und -selbsthilfe; in Deutschland ist insbesondere die Gründung des „Weißen Rings“ im Jahr 1977 zu erwähnen. Schneider (2001 a) beschreibt ein Spannungsverhältnis zwischen viktimologisch orientierten Wissenschaftlern und diesen Organisationen und Bewegungen „due to their partly one-sided, offender-hostile views on crime policy“ (S. 450). Institutionalisierungen opferbezogenen Denkens und Handelns sind auch auf der Ebene von Politik und Gesetzgebung zu verzeichnen. Neben zahlreichen nationalen Gesetzen, die Opferansprüche auf Entschädigung und Wiedergutmachung regeln und die Stellung des Opfers im Strafverfahren stärken beziehungsweise klären, können die „Europäische Konvention über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten“ (1983) und die von der UN-Vollversammlung verabschiedete „Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power“ (United Nations General Assembly 1985) als Meilensteine betrachtet werden. Letztere nimmt vor allem Bezug auf den Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren, die Wiedergutmachung des Schadens sowie Opferhilfemaßnahmen. Seit 1999 existiert ein umfangreiches Handbuch zu ihrer Umsetzung (United Nations Office for Drug Control and Crime Prevention 1999).
1.6.4 Grundlegende Perspektiven („Strömungen“) in der Viktimologie Darstellungen der Viktimologie unterscheiden in der Regel mehrere grundlegende Perspektiven oder „Strömungen“. Diese waren traditionell eher in der angelsächsischen als in der deutschsprachigen Viktimologie als solche erkennbar, haben aber auch die hiesige Forschung geprägt. z „Positivistische Viktimologie“. Als „positivistische Viktimologie“ wird vielfach die von Pionieren wie von Hentig (1948), Mendelsohn (1956), Wolfgang (1958) und Amir (1971) repräsentierte Wissenschaftstradition bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen die Suche nach Faktoren, welche die nicht
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zufällige Verteilung von Viktimisierungsrisiken beeinflussen, ferner eine besondere Gewichtung des Beitrags des Opfers am Zustandekommen der Tat (Miers 1989). Der Schwerpunkt der frühen, primär auf behördlich produzierte Daten gestützten Studien lag auf „visible victims“ von interpersonaler Gewalt im öffentlichen Raum und von „Straßenkriminalität“ (Davies et al. 2003). Der Fokus auf „victim precipitation“, d. h. auf den Anteil des Opfers am Zustandekommen der Tat, hat der positivistischen Viktimologie Kritik eingetragen. Bereits von Hentig (1948) hatte konstatiert, dass das Opfer eines der verursachenden Elemente von Straftaten sei, indem es z. B. stillschweigend einwillige, kooperiere oder die Tat provoziere. Mendelsohn (1956) ging so weit, Grade der auch schuldhaften Beteiligung des Opfers an der Tat zu benennen. Wolfgang (1958) kam in einer Analyse von Polizeiakten von 588 Tötungsdelikten in Philadelphia zu dem Ergebnis, dass in 26% der Fälle der Tat eine Gewaltanwendung durch das Opfer vorausgegangen war. Amir (1971) untersuchte in ähnlicher Weise 646 Vergewaltigungen in Philadelphia und sah in 19% der Fälle den Ausgangspunkt der Tat beim Opfer. Die Grundvorstellung vom Opfer als einer tatbeteiligten Person hat auch in der deutschsprachigen Viktimologie ihren Niederschlag gefunden, so bei Göppinger (1980, S. 598), der formulierte, „ein wie auch immer gearteter Tatbeitrag des Opfers“ vermöge „wesentlich die Entstehung und den Ablauf einer Tat zu gestalten“. Schwind (2006, S. 379) wählt als Kapitelüberschrift die Formulierung „Das Opfer im Mitverursachungsprozess der Straftat“. Insbesondere von feministisch orientierten Forscherinnen wurden derartige Sichtweisen als Schuldzuweisung an das Opfer kritisiert (Mawby u. Walklate 1994). Der positive Gehalt des Konzepts liegt in der Erkenntnis, dass Straftaten Interaktionen zwischen Täter und Opfer sind, und in der dynamisch-situationalen Perspektive, die hierdurch eröffnet wird (Fattah 1989). Insbesondere im Hinblick auf multiple Viktimisierungen stellen sich Fragen nach viktimogenen Opfermerkmalen. Dabei muss zwischen der Analyse von Ursachen und Entstehungsbedingungen und der Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld unterschieden werden, wenngleich – wie Spalek (2006, S. 35) hervorhebt – nur eine „thin line between blame and account“ besteht. Die unten dargestellten Lebensstil- und Routine-activities-Ansätze können als moderne Fortentwicklungen der positivistischen Tradition begriffen werden; ihr Betrachtungsschwerpunkt liegt auf dem raum-zeitlichen Zusammentreffen von Tätern und Opfern und den Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit dieses Zusammentreffens beeinflussen. z „Radikale Viktimologie“. Die so genannte radikale Viktimologie entstand im angelsächsischen Raum (Schwendinger u. Schwendinger 1975; Quinney 1980) als Reaktion auf wahrgenommene Unzulänglichkeiten der positivistischen Viktimologie und im Zuge der Politisierung der Sozialwissenschaften in den 70er Jahren (Davies et al. 2003). Viktimisierung wird hier nicht als individuelles Phänomen begriffen, sondern als Ereignis, das nur vor dem Hintergrund einer Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse verstanden
1.6 Viktimologie
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werden kann (Spalek 2006). Kriminelles Handeln und Viktimisierung werden als Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte und Ungleichheiten interpretiert. Staat und Justiz erscheinen als Akteure, welche Viktimisierungen hervorbringen (vgl. z. B. Kauzlarich et al. 2001). Eine „Human-rights-Perspektive“ erweitert das Konzept von Opferwerdung über seine an strafrechtliche Normen gebundene Bedeutung hinaus. Zugleich wird strafrechtliche Viktimisierung lediglich als eine Erscheinungsform „sozialer Viktimisierung“ (Phipps 1988, S. 181) betrachtet, die in Armut und Benachteiligung zum Ausdruck kommt und dazu führt, dass die derart Viktimisierten ihrerseits fremd- und selbstschädigendes Verhalten zeigen. z „Left realism“. Diese primär britische, vor allem von Young (1986) vertretene Strömung geht auf die radikale Viktimologie zurück. Zentraler Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Kriminalität sich zum großen Teil innerhalb bestimmter sozialer Schichten, Ethnien und Wohngebiete konzentriert (Spalek 2006, S. 41). Aus dieser Perspektive heraus wurden vor allem lokale Kriminalitätsstudien in hoch kriminalitätsbelasteten Umgebungen durchgeführt. z „Kritische“ und feministische Viktimologie. Die Perspektive einer so genannten kritischen Viktimologie ist vor allem mit dem Namen Sandra Walklate verknüpft (Walklate 1989, 2003; Mawby u. Walklate 1994). Sie verlangt, dass Prozesse der Viktimisierung in ihrer sozioökonomischen und kulturellen Einbettung betrachtet werden. Die Begriffe „agency“ und „structure“ sind von zentraler Bedeutung im Sinne einer Konstruktion und Rekonstruktion individueller Handlungen im Kontext materieller Lebensbedingungen. Die kritische Viktimologie greift Positionen einer feministisch verstandenen Viktimologie (z. B. Cain 1990) auf, in deren Zentrum die Analyse der Gewalterfahrungen von Frauen in einer als patriarchal betrachteten Gesellschaft steht.
1.6.5 Theorien der Opferwerdung Viktimisierungstheorien wollen erklären, warum bestimmte Personen, Haushalte oder Institutionen von Straftaten betroffen sind beziehungsweise warum sich Straftaten in bestimmten Settings häufen. Sie erheben – darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu vielen täterorientierten kriminologischen Perspektiven – meist keinen Anspruch, Tätermotivation zu erklären, setzen diese vielmehr in der Regel voraus. Die folgende kurze Darstellung muss im vorliegenden Rahmen in hohem Maße auswahlhaft bleiben. z Sozialstrukturelle und institutionelle Perspektiven. Sozialstrukturelle Perspektiven betrachten Viktimisierungen vor dem Hintergrund von ökonomischen Strukturen, Machtverhältnissen und kulturellen Traditionen. Gesellschaftlicher Druck, der auf sozial Benachteiligten laste, führe zu sozialer
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Desorganisation, zum Verlust sozialer Unterstützung (Miethe u. McDowall 1993). Es gibt Viktimisierungen (z. B. „hate crimes“ gegen Homosexuelle), die auf sozialen Traditionen, Werten, Normen und Ideologien beruhen; soziale Diskriminierung macht manche Delikte (etwa „Mitgiftmorde“ oder selektive Tötungen weiblicher Föten bzw. weiblicher Neugeborener in Indien) erst möglich. Viktimisierungen finden durch gesellschaftliche Institutionen (etwa eine die Bürgerrechte missachtende Polizei), aber auch innerhalb von Institutionen statt (Haftanstalten, Militär, Schulen, stationäre Altenpflegeeinrichtungen etc.). Besonders ausgeprägt sind die Viktimisierungsrisiken dort, wo die Institution sich in ihrem Erscheinungsbild einer „totalen Institution“ annähert (Goffman 1961); insbesondere werden der bürokratische Charakter von Institutionen und ihre Isolation von der Umwelt als Risikofaktoren betrachtet. z Lifestyle- und Routine-activities-Ansätze. Lebensstilansätze (repräsentiert vor allem durch die Arbeit von Hindelang et al. 1978) erklären die unterschiedliche Verteilung von Risiken in verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit Merkmalen des Lebensstils im Sinne der individuellen Verwendung von Zeitressourcen für private wie berufliche Aktivitäten (Garofalo 1986). Viktimisierungsrisiken sind aus dieser Perspektive wesentlich abhängig von der Zeit, welche die Person außerhalb des Hauses verbringt, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit (vgl. Killias 1989). Soziale Interaktionen finden primär zwischen Personen mit ähnlichem Lebensstil statt, und Ähnlichkeiten in demografischen Merkmalen mit Straftätern erhöhen das Viktimisierungsrisiko einer Person. Aus der Perspektive des routine-activities-Ansatzes von Cohen u. Felson (1979) erwachsen Straftaten aus dem zeitlichräumlichen Zusammentreffen dreier Faktoren: Es bedarf motivierter Täter, als Opfer geeigneter Zielpersonen und des Fehlens eines wirksamen Schutzes durch geeignete Personen, Institutionen oder Vorrichtungen („guardians“). Ob es zu einem Zusammentreffen dieser drei Faktoren kommt, hängt wesentlich von den „routine activities“ der beteiligten Personen ab. z Kriminalökologische Ansätze. Kriminalökologische Ansätze machen Viktimisierungsrisiken an Merkmalen ökologischer Settings fest. Hierzu gehören unter anderem die „deviant place theory“ von Stark (1987) und das Konzept der „hot spots of crime“ (Sherman et al. 1989; Sherman 1995). Bei Stark spielen soziodemografische und räumlich-physische Merkmale wie Armut, Bevölkerungsdichte, kollektive und individuelle, dauerhafte und vorübergehende Raumnutzung sowie der Grad der Verwahrlosung öffentlicher wie privater Räume eine zentrale Rolle. Sherman identifizierte aufgrund einer Analyse von mehr als 300.000 Polizeianrufen in Minneapolis starke lokale Konzentrationen von Straftaten. Bei den „hot spots“ handelte es sich vornehmlich um Orte, an denen die Begegnungswahrscheinlichkeit potenzieller Täter und Opfer hoch und die formelle wie informelle Kontrolle gering waren. Auf derartigen Befunden aufbauendes „hot spots policing“ hat Einfluss auf Polizeitaktik gewonnen (Braga 2001).
1.6 Viktimologie
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1.6.6 Empirische Opferforschung Im Bereich der empirischen viktimologischen Forschung lassen sich heute drei wesentliche Zugänge und Datenquellen unterscheiden: z Analysen kriminalstatistischer Daten; zentrales Problem ist hier die hohe Selektivität der Daten durch Beschränkung auf das Hellfeld; z Viktimisierungssurveys (Opferwerdungsbefragungen): Befragungen repräsentativer Bevölkerungsstichproben im Hinblick darauf, ob sie innerhalb einer einheitlichen Referenzperiode Opfer eines bestimmten Kanons von Straftaten wurden; z „echte“ Opferbefragungen: Befragung von Personen, deren Viktimisierung zuvor den Strafverfolgungsbehörden oder anderen Instanzen bekannt geworden war; auf diese Gruppe entfallen vor allem qualitative Interviewstudien sowie klinische Studien (meist mit Opfern schwerster Gewalt- und Sexualdelikte). Die genannten Zugänge sind als einander ergänzend zu betrachten. So lassen sich Opferprävalenzen in einem über das polizeiliche Hellfeld hinausgehenden Sinne nur über Surveys an hinsichtlich ihres Opferstatus unausgelesenen Bevölkerungsstichproben bestimmen; zugleich erfassen derartige Surveys vor allem Delikte am unteren Ende des Schwerespektrums und erreichen bestimmte, möglicherweise hochgefährdete Bevölkerungsgruppen (Wohnsitzlose, illegale Zuwanderer, Demenzkranke etc.) nicht hinreichend.
1.6.6.1 Viktimisierungsrisiken im Spiegel behördlicher Kriminalstatistiken „The benefits of police data are sometimes forgotten by victimologists“ – so hat Gardner (1996, S. 149) die Skepsis der Forschung gegenüber der Nutzung behördlicher Statistiken zusammengefasst. Kriminalstatistiken sind stets im Verhältnis zur Gesamtzahl der verübten oder erlittenen Delikte hochselektiv und müssen in erster Linie als Tätigkeitsnachweise der die Statistik produzierenden Behörde betrachtet werden. Zudem sind behördliche Datensammlungen täterorientiert ausgerichtet (Höfer 2000); die Konzentration auf Täter beziehungsweise Tatverdächtige wird umso stärker, je weiter die behördliche Fallbearbeitung zum Zeitpunkt der Datenerhebung fortgeschritten ist. Von den in Deutschland verfügbaren Statistiken stellt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS; zuletzt Bundeskriminalamt 2008) im Hinblick auf opferbezogene Daten die relativ beste Quelle dar. Unter den übrigen Kriminal- und Justizstatistiken weist lediglich die Strafverfolgungsstatistik bei einigen Delikten an Kindern die Zahl der Opfer aus (vgl. Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 34 f.). Auch die PKS erfasst bislang Opferdaten nur für Straftaten gegen das Leben, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Rohheitsdelikte sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit und enthält Angaben zum Geschlecht der Opfer so-
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wie – dies allerdings in teils groben Kategorien – zum Alter. Es fehlen entsprechende Daten für Eigentums- und Vermögensdelikte. In den Abb. 1.6.1 und 1.6.2 sind – nach Geschlechtern getrennt – für die in der PKS unter der Bezeichnung „Gewaltkriminalität“ zusammengefassten Straftaten die Risiken (Opfer pro 100 000 Einwohner der jeweiligen Gruppe) in Bezug auf vollendete Delikte für verschiedene Altersgruppen dargestellt. Die PKS-Daten machen deutlich, dass im Bereich der registrierten Gewaltkriminalität Männer wesentlich stärker gefährdet sind als Frauen, dass bei beiden Geschlechtern vor allem Jugendliche und Heranwachsende be1800
Opfer je 100000 Einwohner
1600 1400 1200 ≥60 Jahre 21–59 Jahre 18–20 Jahre 14–17 Jahre ≤13 Jahre
1000 800 600 400 200 0 1994
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2003
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Abb. 1.6.1. Polizeilich registrierte vollendete Gewaltdelikte: Männliche Opfer je 100 000 der Altersgruppe, 1994 bis 2005, Bundesrepublik Deutschland (Originaldaten aus der PKS des BKA 1994 bis 2005) 500 450
Opfer je 100000 Einwohner
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400 350
≥60 Jahre 21–59 Jahre 18–20 Jahre 14–17 Jahre ≤13 Jahre
300 250 200 150 100 50 0 1994
1995
1996
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2001
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2003
2004
2005
Abb. 1.6.2. Polizeilich registrierte vollendete Gewaltdelikte: Weibliche Opfer je 100 000 der Altersgruppe, 1994 bis 2005, Bundesrepublik Deutschland (Originaldaten aus der PKS des BKA 1994 bis 2005)
1.6 Viktimologie
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troffen sind, dass es ferner – mit Ausnahme der Gruppe der 60-Jährigen und Älteren – in dem dargestellten Zeitraum einen Anstieg der Zahl der registrierten Gewaltopfer gegeben hat. Dieser lässt sich – darin wird die zentrale Schwäche behördlicher Daten deutlich – jedoch nicht eindeutig als realer Gefährdungszuwachs interpretieren. Vielmehr ist auch im Zeitverlauf sich veränderndes Anzeigeverhalten (etwa in Bezug auf Gewaltvorkommnisse an Schulen oder in Partnerschaften) in Betracht zu ziehen; empirische Belege für eine wachsende Anzeigebereitschaft gibt es etwa im Bereich der Jugendgewalt (Wilmers et al. 2002).
1.6.6.2 Viktimisierungsbefragungen Befragungen an repräsentativen Stichproben der (erwachsenen) Wohnbevölkerung stellen heute die wesentliche Erkenntnisquelle für Viktimisierungsprävalenz und -inzidenz dar. Gegenstände dieser Befragungen sind Art, Häufigkeit und Umstände von Opferwerdungen, ihre physischen, psychischen und materiellen Konsequenzen und deren Bewältigung durch die Betroffenen, das Anzeigeverhalten und die eventuelle strafjustizielle Bearbeitung des Falles sowie insgesamt die Erfahrungen des Opfers mit Polizei und Justiz. Fragen zu Kriminalitätsfurcht sowie zu kriminalitäts- und viktimisierungsbezogenen Einstellungen sind Teil der meisten Studien. Neben demographischen und Lebensstilmerkmalen wird zum Teil auch eigene Delinquenz erhoben. Die Befragungen werden meist telefonisch, zum Teil auch „face-to-face“ durchgeführt. 1 In einer Reihe von Ländern finden Opferwerdungsbefragungen in regelmäßigen Abständen statt; wichtigste Beispiele sind der „National Crime Victimization Survey“ (USA) und der „British Crime Survey“. Viktimisierungssurveys lassen sich nach der geografischen Erstreckung der Datenerhebung (international, national, lokal/ regional) unterscheiden; neben hinsichtlich der Art der Delikte breit gefassten Surveys gibt es solche, die sich auf bestimmte Formen (etwa häusliche Gewalt oder sexuelle Gewalterfahrungen) spezialisieren (Schneider 2001a). z Nationale Viktimisierungssurveys. Aus der ersten Welle (1972) eines „USNational Crime Survey“ entwickelte sich der unter Leitung des Bureau of Justice Statistics durchgeführte „National Crime Victimization Survey“ (NCVS) mit einer nun mehr als 30-jährigen Tradition regelmäßig wiederholter Befragungen. 2005 wurden rund 77 000 Haushalte und 134 000 Personen erreicht (Catalano 2006). Der NCVS arbeitet mit einem „rotierenden Panel“, bei dem Haushalte über drei Jahre hinweg zweimal pro Jahr befragt werden und dann aus dem Sample herausfallen. In der Regel handelt es sich um telefonische Befragungen; die Erstbefragung erfolgt immer „faceto-face“. Gefragt wird, inwieweit die befragte Person oder Haushaltsmitglieder ab zwölf Jahren innerhalb des letzten halben Jahres Opfer von Strafta1
Neuerdings werden auch internetbasierte Formen der Opferbefragung diskutiert (vgl. Treibel u. Funke 2004).
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ten waren. Es werden jeweils Ereignisse seit dem letzten Interview erfasst („bounded recall“); das Erstinterview setzt lediglich ein Referenzdatum für das Folgeinterview. Die erste große europäische Opferwerdungsbefragung fand 1970 in Finnland statt (vgl. Mayhew 2000, S. 92). Nach einer auf den Raum London begrenzten Befragung durch Sparks et al. (1977) erfolgte 1981/82 die erste Welle des „British Crime Survey“ (BCS; Hough u. Mayhew 1983). Der BCS ist eine regelmäßig durch das Home Office durchgeführte repräsentative Befragung von in Privathaushalten lebenden Personen ab 16 Jahren in England und Wales. Seit 1992 wurde der BCS als Kombination von Face-to-face-Interview und schriftlicher Befragung, seit 1994 computerunterstützt durchgeführt. Erfasst werden Viktimisierungen in den zwölf Monaten vor der Befragung. Der BCS wurde zunächst in Zwei- beziehungsweise Vierjahresabständen durchgeführt, seit 2001/2002 jährlich bei einem Stichprobenumfang von zirka 40 000 Personen. Regelmäßige beziehungsweise wiederholte Viktimisierungsbefragungen finden unter anderem auch in der Schweiz, Kanada, Schottland, Australien und den Niederlanden statt; in Deutschland wird seit einigen Jahren auch auf politischer Ebene die Institutionalisierung einer wiederholten Opferbefragung erörtert. z Opferwerdungsbefragungen in Deutschland. In Deutschland wurde seit Ende der 1980er Jahre eine Reihe von Viktimisierungsbefragungen realisiert (zum Überblick Obergfell-Fuchs et al. 2003), beginnend mit einer als Teil des „International Crime Victim Survey“ (ICVS; s. unten) durchgeführten, auf die alte Bundesrepublik begrenzten telefonischen Befragung von 5000 Personen (Kury 1991). 1990 folgte eine in Kooperation von Bundeskriminalamt und Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht durchgeführte Face-to-face-Befragung (Kury et al. 1992), 1992 eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (Wetzels et al. 1995). Diese Befragung kombinierte eine persönlich-mündliche allgemeine Viktimisierungsbefragung (ca. 15 800 Befragte) mit einer schriftlichen Befragung (ca. 5700 Befragte) zur Thematik innerfamiliärer Gewalt; 2005 wurde dieser Survey mit einem überarbeiteten Instrument und einer kleineren Stichprobe (3030 Befragte; vgl. Görgen et al. 2006) wiederholt. Ferner liegen zwei Datensätze des „Konstanzer Victim Survey“ (KVS) vor (Heinz u. Spieß 2001; vgl. auch Dittmann 2005; Schnell u. Kreuter 2000). Die Jahresprävalenzrate für strafrechtlich relevante Viktimisierungen insgesamt liegt bei den meisten deutschen Opferwerdungsbefragungen in einer Größenordnung um 15%. Dabei dominieren Diebstahldelikte und Sachbeschädigungen an Fahrzeugen; schwerwiegende Gewalt- und Sexualdelikte werden relativ selten berichtet. Der Erste Periodische Sicherheitsbericht (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 69) nennt als Befunde der Dunkelfeldforschung zur Gewaltkriminalität in Deutschland unter anderem: Das Viktimisierungsrisiko ist in Großstädten höher als auf dem Land; die Stadt-Land-Unterschiede fallen allerdings geringer aus als in der PKS, was auf eine größere Anzeigebereit-
1.6 Viktimologie
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schaft in Städten hinweist. Die Anzeigequote ist gegenüber fremden Tätern höher als gegenüber Bekannten und bei Raubstraftaten größer als bei Körperverletzungsdelikten. Frauen sind häufiger von innerfamiliärer Gewalt betroffen als von Gewalt im öffentlichen Raum. Das Risiko der Gewalt im häuslichen Bereich ist in wirtschaftlich und sozial belasteten Haushalten erhöht, ebenso bei Migrantenfamilien. Als charakteristisch für deutsche Befunde kann auch ein Nord-Süd-Gefälle bei den Viktimisierungsraten gelten (Kury et al. 1996, 2000), dem ähnliche Relationen bei der Verteilung anderer Probleme (Arbeitslosigkeit, Verkehrsunfälle, Suizid- und Scheidungsraten) entsprechen und das mit günstigeren sozioökonomischen Bedingungen und einem stärker gemeinschaftlich orientierten Lebensstil im Süden Deutschlands in Verbindung gebracht wird. z „International Crime Victim Survey“ (ICVS). Der 1989 zum ersten Mal und danach in zwei weiteren Wellen (1992, 1996) durchgeführte ICVS (vgl. u.a. Neapolitan 2003; van Dijk u. Mayhew 1992; Zvekic 1996) macht Viktimisierungsraten in unterschiedlichen Ländern durch ein einheitliches Instrument vergleichbar. Die telefonischen Befragungen erreichten insgesamt zirka 134 000 Personen; erfragt wurden elf Gewalt-, Sexual- und Eigentumsdelikte. Die Länderzusammensetzung variierte über die Wellen hinweg stark. Kosten wie logistische Herausforderungen des ICVS werden als beträchtlich beurteilt (Spalek 2006). Schneider (2001 a) nennt als zentrale Befunde unter anderem, dass die Fünfjahresprävalenz berichteter Viktimisierungen in Lateinamerika und Afrika am höchsten ist (um 75%), sich in Ost- wie Westeuropa sowie in Nordamerika, Australien und Neuseeland zwischen 60 und 65% bewegt und in Asien am niedrigsten ausfällt (um 50%). Frauen haben insbesondere dort ein hohes Viktimisierungsrisiko, wo ihr Status niedrig und der Grad wirtschaftlicher Entwicklung gering ist. Die Anzeigequote ist in Nordamerika/Australien sowie in Westeuropa am höchsten (> 50%), hingegen vor allem in Asien und Lateinamerika gering (allenfalls 30%). In der Anzeigequote spiegeln sich unter anderem Haltungen gegenüber der Polizei und gegenüber sozial angemessenen Modi der Konfliktlösung wider. Eigentumsdelikte werden relativ häufig zur Anzeige gebracht; groß ist das Dunkelfeld vor allem bei Nahraumgewalttaten gegenüber Frauen. z Potenziale und Grenzen von Viktimisierungsbefragungen. Viktimisierungsbefragungen bilden die Kriminalitätswirklichkeit insofern besser ab als Kriminalstatistiken, als sie auch Auskunft über den Strafverfolgungsinstanzen nicht bekannte Taten geben. Wege vom Dunkel- ins Hellfeld können über eine Exploration von Anzeigeverhalten und -motiven untersucht werden. Mittel- und langfristige Folgen von Viktimisierungserfahrungen sowie Bewältigungsprozesse können erfasst werden. In Bezug auf Individuen wie Haushalte sind längsschnittliche Zugänge grundsätzlich möglich.
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Dem steht zugleich eine Vielfalt von Begrenzungen gegenüber: z Viktimisierungsbefragungen erfassen niemals eine objektive „Kriminalitätswirklichkeit“, sondern stets subjektive Sichtweisen der Befragten. Wertungen von Ereignissen variieren – gerade bei Vorkommnissen im sozialen Nahraum – zwischen Personen, Milieus und Kulturen. Die Verlässlichkeit der Angaben wird durch Erinnerungsfehler (insbesondere bei langen Bezugszeiträumen und wenig schwerwiegenden Ereignissen), Auskunftsverweigerung, natürlich auch durch mehr oder weniger intentional falsche Angaben eingeschränkt. Es existiert ein „doppeltes Dunkelfeld“ im Sinne von Delikten, die weder der Polizei bekannt noch in Befragungen berichtet werden (Zedner 1997). z Viktimisierungsbefragungen sind für schwere (und in der Regel seltene) Deliktformen nur bedingt geeignet. Tötungsdelikte sind allenfalls als Versuche zugänglich, Aussagen über sogenannte opferlose Delikte (wie Drogenhandel) kaum möglich. Bislang ist eine Konzentration auf „conventional types of crime“ (Spalek 2006, S. 52) zu verzeichnen; Kriminalität der Mächtigen findet kaum, Straftaten im sozialen Nahbereich des Opfers erst langsam Beachtung. z Es gibt kaum befragbare (z. B. Kleinkinder, Demenzkranke, geistig Behinderte) und schwer erreichbare (z. B. Wohnsitzlose, Migranten, die keine Landessprache beherrschen) Opfergruppen, die möglicherweise Viktimisierungsrisiken spezifischer Art und Intensität ausgesetzt sind. Die Ausrichtung vieler Befragungen auf „Haushalte“ führt dazu, dass neben Wohnsitzlosen auch Personen, die in institutionellen Settings leben, nicht einbezogen werden. z Die Ergebnisse von Viktimisierungssurveys sind bislang aufgrund unterschiedlicher Instrumente, Befragungsformen und Verfahren der Stichprobenbildung vielfach kaum aufeinander beziehbar (vgl. die Analysen von Bachman 2000, zu Befunden des NCVS und des „National Violence Against Women Survey“ zu Gewalt in Partnerschaften). z Fattah (2000 a) spricht im Hinblick auf wiederholte große Opferbefragungen angesichts der hohen Kosten derartiger Studien von „abnehmendem Grenznutzen“. Insbesondere bei kurzen Befragungsintervallen wiege der zusätzliche Erkenntnisgewinn die Kosten kaum auf; Fattah sieht die Zukunft viktimologischer Forschung eher in kleineren qualitativen Studien.
1.6.6.3 „Echte“ Opferbefragungen Von den Opferwerdungsbefragungen sind „echte“ Opferbefragungen zu unterscheiden, bei denen zum Zeitpunkt der Befragung bereits Wissen über die Opferwerdung der jeweiligen Person vorliegt. Derartige Studien, die sich oftmals qualitativer Methoden bedienen und deren Stichproben deutlich kleiner sind als die von Viktimisierungssurveys, werden sowohl im Hinblick auf unterschiedliche Bereiche allgemeiner Kriminalität (vgl. etwa Baurmann u. Schädler 1991; Hagemann 1993; Wemmers u. Cyr 2005) als
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auch auf Nahraumgewalt (vgl. etwa Zink et al. 2006) durchgeführt; zum Teil handelt es sich auch um Evaluationen an Opfer gerichteter Maßnahmen (z. B. Voss 2001). Zu den zentralen Gegenständen derartiger Befragungen gehören das Erleben und die Auswirkungen der Tat, die Bewältigung der Viktimisierung, Anzeigeerstattung und Hilfeinanspruchnahme sowie Erfahrungen mit Strafverfolgungsbehörden und Einrichtungen der Opferhilfe.
1.6.7 Ausgewählte Befunde der Viktimisierungsforschung Zwar wird nahezu jeder Mensch im Laufe seines Lebens mindestens einmal Opfer einer Straftat, doch sind Viktimisierungsrisiken in ihrer Quantität wie Qualität bezüglich grundlegender soziodemografischer Merkmale (individueller wie sozialstruktureller Art) ungleich verteilt (vgl. u. a. Schneider 2001 a, b). Dabei folgt die Verteilung von Opferrisiken – Kriminalstatistiken wie den Ergebnissen von Viktimisierungssurveys zufolge – allenfalls begrenzt jenen Merkmalen, die Christie (1986) als solche prototypischer oder „idealer“ Opfer beschrieben hat (verletzlich, ohne Vorbeziehung zum Täter, sich nicht selbst in Gefahr bringend etc.) z Opferwerdung und Lebensalter. Opferwerdungsbefragungen wie Daten aus behördlichen Kriminalstatistiken sprechen insgesamt für einen deutlichen Höhepunkt der Kriminalitätsgefährdung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter und einen anschließenden kontinuierlichen Rückgang. So lag in den USA die durchschnittliche jährliche Rate im NCVS berichteter gewaltförmiger Viktimisierungen 2004/2005 in den Altersgruppen zwischen zwölf und 24 Jahren in der Größenordnung von 45 pro 1000 Personen, war bereits bei den 25- bis 34-Jährigen auf 24 gesunken und fiel stetig (35 bis 49 Jahre: 18; 50 bis 64 Jahre: 11) bis auf 2,3 Ereignisse in der Altersgruppe ab 65 Jahren (Catalano 2006). Dieses Bild muss mindestens im Hinblick auf Kleinkinder sowie sehr alte und pflegebedürftige Menschen – die in Viktimisierungssurveys nicht oder nur in geringem Maße erreicht werden – in Frage gestellt werden. So haben neben Jugendlichen ab dem 15. Lebensjahr auch Kinder unter zwei Jahren ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt, auch von Tötungsdelikten zu werden (vgl. u. a. Finkelhor 1995; Garbarino u. Bradshaw 2002; Lord et al. 2002). Bei Kleinkindern treten vor allem die Eltern als Gewalttäter in Erscheinung, bei Jugendlichen Peers. Die in den letzten zwei Jahrzehnten entstandene „Elder-abuse-Forschung“ (beginnend mit der Bostoner-Studie von Pillemer u. Finkelhor 1988; zur Übersicht vgl. Görgen u. Greve 2006) hat spezifische Viktimisierungsrisiken sehr alter, gesundheitlich und in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkter, vielfach in Abhängigkeitsverhältnissen lebender Menschen aufgezeigt. Wo, wie in den USA auf der Basis der „Supplementary Homicide Reports“ des FBI, stark altersdifferenzierte Hellfelddaten zu Tötungsdelikten vorliegen, weisen
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sie darauf hin, dass das höchste Risiko für 20- bis 25-Jährige besteht, die Gefährdung dann kontinuierlich bis zirka zum 75. Lebensjahr sinkt, jedoch im hohen Alter wieder deutlich ansteigt (Abrahamse 1999). z Opferwerdung und Geschlecht. Kriminalität stellt sich nicht nur hinsichtlich der Täter, sondern auch in Bezug auf die Opfer als ein primär männlicher Lebensbereich dar. Im NVCS lag die jährliche Rate gewaltförmiger Viktimisierungen 2004/2005 bei 25,2 pro 1000 Männer und 17,6 pro 1000 Frauen (Catalano 2006); auch die PKS weist – mit Ausnahme der Sexualdelikte – durchweg höhere Opferraten für Männer auf. Zugleich zeigen Befragungen eine in starkem Maße geschlechtsbezogene Struktur von Viktimisierungsrisiken. Befunden des BCS zufolge sind 83% der Opfer von körperlichen Übergriffen durch Fremde männlich, während Gewalt durch Personen aus dem unmittelbaren sozialen Nahraum zu 73% Frauen trifft (Simmons u. Dodd 2003). Studien, welche der Gewalt in Beziehungen und im häuslichen Bereich Bedeutung beimessen, finden hohe Prävalenzraten von Gewalt gegen Frauen (so der „National Violence Against Women Survey“ in den USA, vgl. Tjaden u. Thoennes 1998, oder die deutsche Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“; vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005). Stalkingerfahrungen sind bei Frauen mehr als doppelt so weit verbreitet wie bei Männern (Spitzberg 2002). z Opferwerdung und soziale Statusmerkmale/ökonomische Ressourcen. Viktimisierungen konzentrieren sich – den Befunden zahlreicher Untersuchungen zufolge – in ökonomisch benachteiligten Segmenten der Gesellschaft. Thacher (2004) berichtet auf der Grundlage von NCVS-Daten der Jahre 1974 bis 2000 nicht nur eine an ökonomischen Variablen orientierte Verteilung von Risiken, sondern auch eine zunehmende Konzentration von Viktimisierungen in der Unterschicht, die darauf beruht, dass diese Gruppe vom allgemeinen Kriminalitätsrückgang im Untersuchungszeitraum kaum profitierte. Ähnlich fanden Nilsson u. Estrada (2003, 2006) in einer schwedischen Studie, dass insbesondere Gewaltrisiken, aber etwa auch das Risiko von Einbruchdiebstählen, bei ökonomisch Schwächeren höher sind als bei Wohlhabenden und dass sich in dem untersuchten Zeitraum (1984 bis 2001) die Risiken in Abhängigkeit von den materiellen Ressourcen weiter auseinander entwickelt haben. z Opferwerdung und räumliche Faktoren. Viktimisierungen verteilen sich nicht gleichmäßig über Regionen und Wohngebiete (vgl. die Bochumer Befragungen, Schwind et al. 1978, 1989, 2001). Grundsätzlich sind – nach Hell- wie Dunkelfelddaten – Menschen in großstädtisch geprägten Räumen stärker betroffen. BCS-Daten zeigen eine extreme räumliche Ungleichverteilung sowohl bei Delikten gegen die Person als auch bei Vermögensstraftaten (Evans u. Fraser 2003): Betroffen sind vor allem städtische Regionen mit geringer Wohnqualität und einer überdurchschnittlichen Konzentration
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von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie von Haushalten mit lediglich einer erwachsenen Person. Eine Analyse von mehr als 70 000 Einbruchdiebstählen in Großbritannien (Bowers et al. 2005) zeigte, dass auch bauliche Merkmale eine Rolle spielen (ob es sich z. B. um eine Wohnung in einem größeren Gebäude oder um ein frei stehendes Haus handelt), dass aber etwa das Einbruchrisiko für frei stehende Gebäude in armen Wohngegenden siebenmal so hoch war wie in den wohlhabendsten Vierteln. Auch multiple („chronische“) Opfer finden sich konzentriert in benachteiligten Wohnbezirken (Hough 1986). Offenbar wirken räumliche Faktoren im engeren Sinne und sozialstrukturelle/sozioökonomische Bedingungen zusammen. z Opferrisiken im Zeitverlauf. In deutschen wie internationalen Befragungen zeigen sich im Verlauf der letzten zehn bis 15 Jahre insgesamt sinkende Viktimisierungsraten. Darauf weist etwa ein Vergleich der beiden 1992 und 2005 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführten Opfersurveys hin (Görgen et al. 2006). NCVS-Daten zufolge ist zwischen 1993 und 2005 die Rate des Betroffenseins durch Gewaltdelikte in der US-Bevölkerung um 58% gesunken; ähnlich starke Rückgänge waren im Hinblick auf das Betroffensein von Haushalten durch Wohnungseinbruch (–49%) oder Diebstahl (–52%) zu verzeichnen (Catalano 2006). ICVS-Daten zufolge geht in industrialisierten Ländern die Quote der Eigentumsdelikte – wohl aufgrund verbesserter Sicherungsmaßnahmen (etwa an Kraftfahrzeugen) – zurück, während sie in ökonomisch weniger entwickelten Ländern steigt (Schneider 2001 a). Positive Trends sind auch im Bereich der häuslichen Gewalt erkennbar; Farmer und Tiefenthaler (2003) analysieren NVCS-Daten unter dieser Perspektive und bringen die sinkende Gewaltprävalenz mit einer Intensivierung der Hilfen für Opfer häuslicher Gewalt, einem insgesamt verbesserten ökonomischen Status von Frauen und dem Altern der Bevölkerung in Verbindung. z „Victim-perpetrator overlap“. Während im Alltagsverständnis Opfer und Täter als zwei separate Klassen von Personen erscheinen, wurde schon in den ersten britischen Surveys (Sparks et al. 1977; Gottfredson 1984) sichtbar, dass Opfer von Straftaten häufiger als Nichtopfer auch eigene Delinquenz berichten und dass die demografischen Profile von Tätern und Opfern einander ähnlich sind. Dieser inzwischen vielfach bestätigte Befund zeigt sich besonders bei Gewaltdelikten, hat aber auch für Eigentumskriminalität Gültigkeit (Deadman u. MacDonald 2004). Opfer wie Täter sind überproportional männlich, jung, alleinstehend, haben einen niedrigen sozioökonomischen Status und leben in städtischen Regionen (Fattah 1989; Spalek 2006). Erklärt wird diese Überschneidung und Ähnlichkeit der beiden Gruppen zum einen damit, dass es bei Gewaltdelikten oftmals eher zufällig sei, wer am Ende als Opfer dastehe („some people who start fights lose them, ending up as ,victims‘ “; Hough 1986, S. 126), zum anderen mit Lebensstilmerkmalen
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(etwa: häufiger Besuch von Gaststätten), die sowohl Tatgelegenheiten als auch Opferrisiken mit sich bringen. Fattah (2000 b, S. 62) formuliert, dass Gefährlichkeit und Vulnerabilität oft zwei Seiten einer Medaille seien. z „Repeat victimization“/Häufung von Viktimisierungsrisiken. Während innerhalb begrenzter Zeiträume die meisten Personen und Haushalte nicht von (schwerwiegenden) Straftaten betroffen sind, haben Viktimisierte zugleich das höchste Risiko einer Reviktimisierung. Eine vorangegangene Viktimisierung ist – sei es nun bei häuslicher Gewalt, Einbruch oder Kfz-bezogenen Delikten – der beste einzelne Prädiktor künftiger Opferwerdung (Farrell u. Pease 1993). Farrell und Bouloukos (2001) haben auf der Grundlage von ICVS-Daten Reviktimisierungsraten (von Personen bzw. Haushalten) innerhalb eines Jahres untersucht. In allen drei ICVS-Wellen erreichte die Reviktimisierungsrate bei Sexualdelikten 40 bis 50%, bei Körperverletzung und Raub 30 bis 40%, bei Einbruchdiebstählen mindestens 15%. Es wird davon ausgegangen (Genn 1988), dass Viktimisierungsbefragungen tendenziell das Ausmaß wiederholter Opferwerdung unterschätzen. Studien zeigen zudem übereinstimmend, dass Reviktimisierungen vor allem in kurzem Zeitabstand zur Initialviktimisierung stattfinden und das Risiko sich danach wieder dem eines Nichtopfers annähert. So wurden bei häuslicher Gewalt 15% aller Reviktimisierungen innerhalb von 24 Stunden verzeichnet (Lloyd et al. 1994), bei Wohnungseinbruch 25% innerhalb einer Woche (Robinson 1998) und bei Bankraub 33% innerhalb von drei Monaten (Mathews et al. 2001). Zwei Erklärungen werden ins Feld geführt. So genannte „boost“-Ansätze postulieren, dass eine Initialviktimisierung das Risiko künftiger Opferwerdung erhöht, indem sich die Täter die bei der ersten Tat vorgefundenen Tatgelegenheiten erneut zunutze machen, während „flag“Ansätze davon ausgehen, dass bereits die Verteilung der Initialviktimisierungen eine – auf differenzieller Vulnerabilität beziehungsweise Attraktivität der Opfer beruhende – heterogene Struktur zeitlich überdauernder Risiken anzeigt. Tseloni und Pease (2003) kommen in einer Analyse von NCVS-Daten zu dem Schluss, dass beide Faktoren wirksam sind. z Biografische Kontinuität von Gewalterfahrungen/„cycle of violence“. Insbesondere im Hinblick auf sexuelle Viktimisierungen liegen Befunde zur langfristigen biografischen Kontinuität von Gewalterfahrungen vor. Demnach werden zirka zwei Drittel der Opfer sexueller Gewalt einschlägig reviktimisiert (Classen et al. 2005). Das Risiko sexueller Gewalt als Erwachsener ist erhöht, wenn die Person als Kind sexuell missbraucht wurde, insbesondere, wenn es sich um schwerwiegenden Missbrauch handelt, der in Kombination mit physischer Misshandlung auftritt. Dysfunktionale familiale Bedingungen (elterliche Konflikte und Gewalt, Substanzmissbrauch, desorganisiertes und wenig kohäsives Familienleben, Wechsel von Erziehungspersonen) stellen einen Risikofaktor für die biografische Kontinuität sexueller Gewalterfahrungen dar; es gibt Hinweise auf Unterschiede zwischen Ethnien (mit – in den USA – einer Höhergefährdung bei Personen afro-
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amerikanischer und indianischer Abstammung; vgl. ebd.). Sexuelle Viktimisierungen in der Kindheit stellen auch einen Risikofaktor für Gewalt gegenüber der nächsten Generation dar (Noll 2005). Irwin (1999) fand an einer Stichprobe australischer Frauen, dass physische und emotionale Traumatisierungen in der Kindheit das Viktimisierungsrisiko im weiteren Lebensverlauf erhöhen. Er führt diesen Zusammenhang vor allem auf Effekte früher Viktimisierungen auf das Selbstkonzept der Betroffenen zurück (Passivität, Bereitschaft zu Compliance), welche die Person für potenzielle Täter attraktiv machen. z Auswirkungen von Straftaten. Hier ist zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren Effekten einer Straftat und den mittel- und langfristigen Auswirkungen auf das Opfer. Zudem wirken Viktimisierungen auf unterschiedlichen Ebenen. Neben gesundheitlichen Schädigungen (Verletzungen, Erkrankungen, Behinderungen) gibt es psychische (Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, erhöhte Furchtsamkeit, reduziertes Selbstwertgefühl, Depressivität etc.) und verhaltensbezogene Effekte. Zu letzteren gehören insbesondere sozialer Rückzug und andere Auswirkungen auf soziale Beziehungen (Familie, Freunde, Arbeitskollegen), selbstschädigendes Verhalten (Substanzmissbrauch, Suizidalität), eigenes antisoziales und delinquentes Verhalten. Janoff-Bulman (1985) beschreibt die mit gravierenden Opfererfahrungen einhergehende Erschütterung von Überzeugungen hinsichtlich der eigenen Unverwundbarkeit und der Welt als eines sinnvoll geordneten Universums. Hinzu kommen ökonomische Schädigungen (nicht nur als unmittelbare Verluste durch die Tat, sondern z. B. auch als Einkommenseinbußen in Folge gesundheitlicher Beeinträchtigungen, bis hin zur Erwerbsunfähigkeit). Reaktionen auf Viktimisierungen sind in ihrer inhaltlichen Ausprägung wie ihrer Stärke deliktspezifisch (mit gravierenden Viktimisierungsfolgen bei Gewalt- und Sexualdelikten, aber im psychischen Bereich auch bei Wohnungseinbrüchen); zugleich ist ein gewisses Ausmaß psychischer Belastung nahezu für alle Kriminalitätsopfer charakteristisch. Psychische Effekte können langfristig sein; in der Studie von Shapland et al. (1985) waren sie bei zirka 75% der Opfer von Körperverletzung, Raub und sexueller Gewalt 2,5 Jahre nach der Tat noch erkennbar. Zink und Putnam (2005) weisen auf gravierende, in einschlägigen Studien meist unterschätzte Gesundheitskosten hin, die durch Gewalt in Partnerschaft und Familie entstehen. Die interindividuelle Variabilität des Umgangs mit Viktimisierungen ist, wie bei krisenhaften Erfahrungen aller Art, groß (Goldney 1998). Insbesondere schwere Gewalttaten können Auslöser eines psychischen Traumas im Sinne eines „vitalen Diskrepanzerlebnisses zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ sein, welches „mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer u. Riedesser 1998, S. 79). Bard und Sangrey (1986) beschreiben als typische Abfolge nach einer Straftat
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1. eine durch Schock, Misstrauen und Gefühllosigkeit gekennzeichnete Wirkungsphase, 2. eine Rückzugsphase, in der Furcht, Trauer und Zorn dominieren und 3. eine Phase der Reorganisation, welche durch die Verarbeitung der schmerzvollen Erfahrung und die Aufnahme neuer Aktivitäten charakterisiert ist. Misslingt die Reorganisation, können sich Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD; vgl. Green et al. 1985) entwickeln (Wiedererleben des Traumas, Meiden von Hinweisen auf das Trauma, Affektund Interesseneinschränkung, dauerhaft erhöhtes Arousal). Scarpa et al. (2006) berichten, dass bei von Gewalt betroffenen jungen Frauen und Männern eine erhöhte PTSD-Symptomatik mit vermeidenden Copingstilen und mit geringer informeller sozialer Unterstützung einherging; die protektive Wirkung der Unterstützung durch Freunde reduzierte sich bei hoher Gewaltintensität des Viktimisierungsereignisses. z Opferbedürfnisse. Im Hinblick auf die Bedürfnisse von Kriminalitätsopfern besteht in der Forschung weitgehende Einigkeit, dass Opfer Anteilnahme, Verständnis und Solidarität suchen, vor künftigen Viktimisierungen besser geschützt werden möchten, vielfach medizinische und psychologische Hilfe und juristische Beratung benötigen, nach Wiedergutmachung des Schadens streben, dabei den Täter zur Verantwortung gezogen sehen wollen, zugleich aber in der Regel keine übermäßig harte Bestrafung des Täters wünschen (Baurmann u. Schädler 1991; Hassemer und Reemtsma 2002; Kilchling 2002; Pfeiffer 1993). Opfer streben nach Verfahrens- wie Ergebnisgerechtigkeit und erleben insbesondere die Trennung in ein strafund ein zivilrechtliches Verfahren als lebensfremd (Kilchling 2002). Kriminalitätsopfer erwarten vom Staat – so Hassemer u. Reemtsma (2002, S. 103) – in erster Linie eine „normative Klarstellung der Fronten zwischen Täter und Opfer“ sowie Wiedergutmachung des Schadens. Diese Interessenlage sei von der straforientierten Justiz „traditionell vernachlässigt“ worden. Es gibt empirische Hinweise darauf, dass Rache- und Strafbedürfnisse bei Gewaltopfern mit PTSD-Symptomen einhergehen und mit wachsendem Zeitabstand vom Viktimisierungsereignis als maladaptive Form emotionalen Copings betrachtet werden können (Orth et al. 2003). z Kriminalitätsfurcht und Sicherheitsgefühl. Kriminalitätsfurcht beeinflusst das Wohlbefinden, das Alltagsverhalten von Personen (z. B. indem bestimmte öffentliche Räume gemieden werden) und kriminalpolitische Einstellungen bis hin zu Wahlentscheidungen. Sie speist sich unter anderem aus unmittelbaren Opfererfahrungen (Hermann u. Dölling 2003), der Wahrnehmung von Merkmalen des Wohnumfeldes und anderer Räume (Sampson u. Raudenbush 2004) sowie aus der Rezeption medialer Kriminalitätsdarstellungen (Boers 1991). Im internationalen Vergleich erreicht die Kriminalitätsfurcht in Deutschland heute ein mittleres Niveau und ist ins-
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besondere in den neuen Bundesländern in der vergangenen Dekade deutlich zurückgegangen (Dittmann 2005; Oberwittler 2003). Kriminalitätsfurcht wurde lange Zeit vor allem mittels einer so genannten Standardfrage („Wie sicher fühlen Sie sich oder würden Sie sich fühlen, wenn Sie hier in der Gegend nachts draußen alleine sind? “; vgl. Kury et al. 1992) erfasst. Die Operationalisierung eines komplexen Merkmals durch diese Frage führte zu Ergebnissen, die als „Viktimisierungsfurcht-Paradoxon“ bekannt wurden, dem Befund, dass Männer und jüngere Menschen ein statistisch höheres Viktimisierungsrisiko tragen, die Furcht jedoch bei Frauen und älteren Menschen stärker ausgeprägt ist. Wird Kriminalitätsfurcht als ein komplexes und mehrdimensionales Konstrukt aufgefasst, welches kognitive, emotionale und behaviorale Aspekte einschließt (vgl. u. a. Greve u. Gabriel 2003; Kury et al. 2004), wird z. B. deutlich, dass ältere Menschen sich nicht stärker vor Kriminalität fürchten, auch ihr individuelles Risiko nicht höher einschätzen als Jüngere, sich aber deutlich vorsichtiger verhalten und durch dieses Vorsichts- und Vermeideverhalten ihre tatsächliche Viktimisierungsrate senken.
1.6.8 Opferrechte und Opferhilfe Ohne Mitwirkung des Opfers würden viele Strafverfahren kaum stattfinden können; Opfer erstatten Anzeige, unterstützen die Ermittlungen durch zeugenschaftliche Angaben gegenüber der Polizei und vor Gericht, helfen bei der Identifikation des Täters. Dennoch war die Position des Opfers im Prozess der strafrechtlichen Sozialkontrolle lange eindeutig eine marginale (vgl. u. a. Schöch 2003; Schünemann u. Dubber 2000). Studien zeigen, dass Opfer vielfach über den Verfahrensfortgang und die ihm zugrunde liegenden Regeln allenfalls diffuse Kenntnisse haben (Baurmann u. Schädler 1991). Erfahrungen von Opfern mit dem System der Strafrechtspflege werden in besonderem Maße durch die Arbeit der Polizei geprägt; zu den in hohem Maße sensiblen Bereichen gehört der Umgang mit Opfern von Sexualdelikten und häuslicher Gewalt. In vielen Justizsystemen hat das Opfer bis heute primär den Status einer Informationsquelle, der kaum eigene Interessen zugestanden werden. In Deutschland haben in den letzten drei Dekaden zahlreiche gesetzliche Neuerungen das Ziel verfolgt, die rechtliche Position des Opfers im Strafverfahren zu verbessern, seinen Interessen stärkeres Gewicht zu geben und für einen Ausgleich des durch die Tat entstandenen Schadens zu sorgen. Leitgedanke des 1976 in Kraft getretenen Opferentschädigungsgesetzes ist die Verantwortung des Staates (als Träger des Gewaltmonopols), die Bürger vor Schädigungen durch Gewaltdelikte zu schützen. Das Gesetz soll Opfern zur Seite stehen, die im Rahmen der entsprechenden BGB-Regelungen keinen hinreichenden Schadenersatz oder kein ausreichendes Schmerzensgeld erhalten (vgl. Freytag 2003). Das Opferschutzgesetz aus dem Jahr 1986 stärkt die Informations- und Mitwirkungsrechte des Opfers im Verfahren.
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Auf Grundlage des Verbrechensbekämpfungsgesetzes (1994) kann die Strafe im Falle eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) oder einer Schadenwiedergutmachung gemildert werden. Der TOA wurde 1999 auch in der Strafprozessordnung verankert (Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs). Das Zeugenschutzgesetz aus dem Jahr 1998 lässt unter anderem die Verwendung von Videoaufzeichnungen als Beweismittel zu und macht die Schutzbedürftigkeit von Zeugen insbesondere an ihrem Alter fest. Das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz hat Instrumente zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt geschaffen; Gewalttäter können nun aus der gemeinsamen Wohnung verwiesen, Annäherungs- und Kontaktverbote ausgesprochen werden (vgl. Steffen 2005). Das Opferrechtsreformgesetz aus dem Jahr 2004 verbessert unter anderem die Betreuung und Begleitung von Opfern und Zeugen. Zu den Einwänden, die gegen eine stärkere Stellung des Opfers im Strafverfahren vorgebracht werden, gehören Befürchtungen hinsichtlich einer Begrenzung der richterlichen Unabhängigkeit und Objektivität sowie größerer Punitivität der richterlichen Strafzumessung (Zedner 1997). Inzwischen dominiert die Ansicht, dass zwar ein Spannungsverhältnis zwischen Opferrechten und Rechten des Beschuldigten existiert, beide aber nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zueinander stehen (Kilchling 2002) und dass aus einem „modernen Verständnis des Opferschutzes“ heraus das „Genugtuungsinteresse der Verletzten nicht mit besonders rigiden Straferwartungen gleichgesetzt“ werden kann (Schöch 2003, S. 36). Vielmehr könne „die Öffnung des Strafprozesses für Wiedergutmachung in Verbindung mit weiteren Opfer- und Zeugenschutzmaßnahmen . . . dazu beitragen, dass Bürger wieder besser erkennen, dass es im Strafrecht auch um den Ausgleich ihrer persönlichen Rechtsverletzung geht und nicht nur um die Erfüllung abstrakter staatlicher Strafzwecke“ (ebd., S. 36). Hinsichtlich der seit den 70er Jahren in vielen Ländern etablierten Programme staatlicher Opferentschädigung nennt Fattah (2000 a) eine Vielzahl von Begrenzungen und Problemen: Entschädigungsansprüche seien meist begrenzt auf Opfer von Gewaltdelikten, setzten in der Regel Anzeigeerstattung und Kooperation mit der Strafjustiz voraus, seien zum Teil an Bedürftigkeit der Opfer gekoppelt; Gewalt unter Familienmitgliedern und Fälle, bei denen das Opfer in irgendeiner Weise zum Zustandekommen der Tat beigetragen hat, seien oft ausgeschlossen, Entschädigungen für psychisches Leid allenfalls bei Sexualdelikten vorgesehen. Es handele sich meist um langwierige bürokratische Verfahren, zudem seien die Opfer über ihre Ansprüche schlecht informiert. Der zunächst im Jugendstrafrecht verankerte Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) als Verfahren der Konfliktschlichtung und Wiedergutmachung nach einer Straftat zwischen Täter und Opfer im Beisein eines unparteiischen Dritten (Vermittler, Konfliktberater) hat sich in Deutschland inzwischen etabliert (vgl. Dölling u. Hartmann 2000). Er findet in der Regel nach Abschluss polizeilicher Ermittlungen und möglichst vor einer gerichtlichen Hauptverhandlung statt. Mit seinen Zielen des Schadenausgleichs, der Kon-
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fliktbeilegung und der Versöhnung zwischen Täter und Opfer ist er eine zentrale Form von „restorative justice“ (als einem alternativen Paradigma des Umgangs mit Straftaten und Konflikten, welches Verantwortlichkeit an die unmittelbar beteiligten Personen zurückgibt; vgl. Zehr 1990). Dem TOA werden positive Effekte im Hinblick auf die Bewältigung der Tat durch das Opfer zugeschrieben; das Opfer könne in dem geschützten Rahmen Ängste und andere Gefühle zulassen und seine eigenen Interessen einbringen (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 390). Die praktische Bedeutung des TOA in der deutschen Justizpraxis wird zum Teil noch skeptisch eingeschätzt (Puderbach 2003). Vergleichbare Programme sind in zahlreichen Justizsystemen implementiert. Ihnen wird das Potenzial zugeschrieben, die Verbindung zwischen traditioneller Strafrechtspflege und moderner Sozialpolitik zu schaffen (Boutellier 1996). Latimer et al. (2005) kommen in einer Metaanalyse zu dem Schluss, dass TOAProgramme traditionellen Reaktionen auf kriminelles Handeln im Hinblick auf Kriterien wie Zufriedenheit des Opfers und Rückfälligkeit des Täter überlegen sind; allerdings sei die Aussagekraft einschlägiger Studien durch eine starke Selbstselektionsbasis eingeschränkt (da die Teilnahme an TOA die Bereitschaft von Tätern wie Opfern voraussetzt und diese nicht zufällig verteilt ist). Institutionen der Opferhilfe, von Fattah (2000 a) als „Wachstumsindustrie der 90er Jahre“ bezeichnet, vermitteln Opfer an spezifische Hilfsdienste und Experten, leisten Information und Beratung (auch in Bezug auf Opferrechte) und Krisenintervention, geben alltagspraktische Hilfen und stellen – insbesondere für von Partnergewalt betroffene Frauen – Schutzräume bereit. In Deutschland wie in anderen Ländern existieren staatliche (etwa in Form staatlicher Opferfonds in Niedersachsen, Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz, vgl. Schwind 2006, S. 383) und nichtstaatliche Formen der Opferhilfe (wie der Weiße Ring oder der Verein Opferhilfe) nebeneinander. Von einigen Autoren werden insbesondere den staatlichen beziehungsweise staatlich geförderten Ansätzen Motive des Ausbaus sozialer Kontrolle, der Effizienzsteigerung der Strafverfolgung durch Erzeugen von Kooperationsbereitschaft auf Seiten der Opfer und der Stützung punitiver kriminalpolitischer Tendenzen zugeschrieben (vgl. u. a. Elias 1986; Fattah 1997). Gerade im Bereich von Hilfen für Opfer von Partnergewalt und sexueller Nahraumgewalt weisen Evaluationsstudien darauf hin, dass institutionenübergreifende und multidisziplinäre Ansätze geeignet sind, Opfer nach einer Tat zu unterstützen und durch auf systematischen Informationaustausch gestütztes Risikoassessment vor Reviktimisierungen zu schützen (vgl. Koss et al. 2004; Robinson 2006). Eine Kosten-Nutzen-Analyse der nach dem „Violence Against Women Act“ aus dem Jahr 1994 in den USA implementierten Maßnahmen kommt zu dem Ergebnis, dass die dadurch vermiedenen sozialen Kosten (Gesundheitskosten, Eigentums- und Produktivitätverluste, aber auch „weichere“ Kriterien wie Einbußen im Bereich der Lebensqualität) die öffentlichen Ausgaben um rund das Achtfache übersteigen (Clark et al. 2002).
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In einer vorläufigen Bilanz zur Situation des Opfers im Strafverfahren und zu seinen Chancen auf adäquate Hilfe und Entschädigung kann festgehalten werden, dass im Bereich der Opferhilfe – und hier insbesondere in Bezug auf Opfer häuslicher Gewalt – große Fortschritte erzielt wurden, dass sich ferner in vielen Justizsystemen die Sensibilität gegenüber Opferbelangen deutlich erhöht hat, während die faktische Stärkung des Opfers im Strafverfahren relativ hierzu etwas zurückgeblieben ist. Als Indiz hierfür mögen unter anderem die von Kilchling (2002) berichteten 150 000 jährlichen Fälle des Verweisens auf den Privatklageweg gelten, in denen der Wunsch des Opfers nach öffentlicher Strafverfolgung von der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen wird. International dominiert nach wie vor als Modus gesellschaftlichen Umgangs mit Straftaten die staatliche Strafverfolgung beziehungsweise die Verfahrenseinstellung (bei der das Opfer nicht beteiligt ist); Konfliktregelungen durch TOA und andere Formen von „restorative justice“ sind noch die Ausnahme (Maguire u. Shapland 1997).
1.6.9 Perspektiven der Viktimologie Fattah (2000 a) prognostiziert für die künftige Viktimologie eine Entwicklung weg von Idealismus und Parteinahme, hin zu Realismus und Forschungsorientierung und sieht besondere Potenziale im Bereich qualitativer Forschung. Die Zukunftsperspektiven der Viktimologie hingen auch davon ab, inwieweit sie sich eine „restorative justice-Sichtweise“ zu Eigen mache – im Sinne einer rationalen Kriminalpolitik, der es nicht um die Bekämpfung des „Bösen“ gehe, sondern um Risiko- und Schadensvermeidung und die daher wesentlich durch Täter-Opfer-Ausgleich, Mediation und Schadenswiedergutmachung geprägt ist. Thematisch ist davon auszugehen, dass Viktimisierungen durch staatliche Institutionen und gesellschaftlich mächtige Akteure künftig einen größeren Stellenwert einnehmen werden, ebenso transnationale Kriminalität (z. B. Menschenhandel) und Terrorismus, ferner Opferwerdungen bislang – auch aus Gründen der empirischen Zugänglichkeit – wenig beachteter Gruppen (z. B. Menschen mit Behinderungen, sehr alte Menschen, Wohnsitzlose, sexuelle Minderheiten, Strafgefangene). In den letzten Jahren gewinnen sowohl die Bewältigung von Opfererfahrungen als auch die Evaluation von Maßnahmen der Opferhilfe als Forschungsgegenstände an Bedeutung. Unter methodischen Gesichtspunkten ist ein Aufschwung qualitativviktimologischer Forschung im Gange (vgl. etwa Pain et al. 2002). Multimethodale Designs und multiperspektivische Ansätze werden entwickelt (vgl. etwa die Studie von Campbell 2005, in der nicht nur Vergewaltigungsopfer, sondern auch mit den Fällen befasste Ärzte und Polizisten interviewt wurden). Methodische Entwicklungspotenziale bestehen im Bereich der systematischen Evaluation von Maßnahmen der Opferhilfe und des Erarbeitens empirisch gestützter „Best-practice-Standards“, besonders auch im
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Bereich häuslicher Gewalt (Carlson 2005). Zu den Desideraten künftiger viktimologischer Forschung gehört ein größerer Stellenwert längsschnittlicher Elemente. Einige große Longitudinalstudien (wie die „Rochester Youth Development Study“, vgl. Thornberry et al. 2003, und die „Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study“, vgl. Moffitt u. Caspi 1999) erheben auch Daten zu Viktimisierungserfahrungen, doch handelt es sich hierbei nicht um genuin viktimologische Untersuchungen, der Betrachtungsschwerpunkt liegt vielmehr auf dem delinquentem Verhalten der Befragten.
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1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
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Zink T, Putnam P (2005) Intimate partner violence research in the health care setting: what are appropriate and feasible methodological standards? Journal of Interpersonal Violence 20:365–372 Zink T, Jacobson CJ, Regan S, Fisher B, Pabst S (2006) Older women’s descriptions and understandings of their abusers. Violence Against Women 12:851–865 Zvekic U (1996) The International Crime (Victim) Survey: issues of comparative advantages and disadvantages. International Criminal Justice Review 6:1–21
1.7
Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern M. Dudeck, H. J. Freyberger
1.7.1 Einleitung Versorgungsepidemiologische Studien mit vergleichsweise repräsentativen Stichproben, die sich in Quer- oder Längsschnittansätzen mit unmittelbar auftretenden psychischen Folgen bei Delinquenzopfern auseinandersetzen, sind eher selten geblieben. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, wurden die Transmissionseffekte von Gewalterfahrungen bei späteren Tätern in der Literatur sehr viel besser untersucht. Die breitesten empirischen Ergebnisse sind im Kontext von sexuellen, gewalttätigen oder komplexen Traumatisierungen und dem Konstrukt der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) erarbeitet worden. Als eine Traumatisierung im diagnostischen Sinne der ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2001) wird dabei ein kurz oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß aufgefasst, das nahezu bei jedem Betroffenen eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Das abzuleitende Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung sieht eine Reihe definierter Symptome vor und wurde vor dem Hintergrund von vorwiegend qualitativen Forschungsergebnissen aus der Holocaust- und Vietnamveteranenforschung um eine chronifizierte Form der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ergänzt. Wie zahlreiche empirische Untersuchungen zeigen, ist eine wie auch immer geartete Traumatisierung oder ein mit einer delinquenten Tat assoziiertes Ereignis nicht spezifisch mit der Ausbildung einer PTSD verknüpft, sodass ein derartiges Ereignis auch als auslösende und/oder aufrechterhaltende Bedingung für eine Reihe anderer psychischer Störungen zu diskutieren ist. Diagnostische Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 (F43.1) sind: A Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde
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1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
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Zink T, Putnam P (2005) Intimate partner violence research in the health care setting: what are appropriate and feasible methodological standards? Journal of Interpersonal Violence 20:365–372 Zink T, Jacobson CJ, Regan S, Fisher B, Pabst S (2006) Older women’s descriptions and understandings of their abusers. Violence Against Women 12:851–865 Zvekic U (1996) The International Crime (Victim) Survey: issues of comparative advantages and disadvantages. International Criminal Justice Review 6:1–21
1.7
Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern M. Dudeck, H. J. Freyberger
1.7.1 Einleitung Versorgungsepidemiologische Studien mit vergleichsweise repräsentativen Stichproben, die sich in Quer- oder Längsschnittansätzen mit unmittelbar auftretenden psychischen Folgen bei Delinquenzopfern auseinandersetzen, sind eher selten geblieben. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, wurden die Transmissionseffekte von Gewalterfahrungen bei späteren Tätern in der Literatur sehr viel besser untersucht. Die breitesten empirischen Ergebnisse sind im Kontext von sexuellen, gewalttätigen oder komplexen Traumatisierungen und dem Konstrukt der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) erarbeitet worden. Als eine Traumatisierung im diagnostischen Sinne der ICD-10 (Dilling u. Freyberger 2001) wird dabei ein kurz oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß aufgefasst, das nahezu bei jedem Betroffenen eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Das abzuleitende Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung sieht eine Reihe definierter Symptome vor und wurde vor dem Hintergrund von vorwiegend qualitativen Forschungsergebnissen aus der Holocaust- und Vietnamveteranenforschung um eine chronifizierte Form der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ergänzt. Wie zahlreiche empirische Untersuchungen zeigen, ist eine wie auch immer geartete Traumatisierung oder ein mit einer delinquenten Tat assoziiertes Ereignis nicht spezifisch mit der Ausbildung einer PTSD verknüpft, sodass ein derartiges Ereignis auch als auslösende und/oder aufrechterhaltende Bedingung für eine Reihe anderer psychischer Störungen zu diskutieren ist. Diagnostische Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 (F43.1) sind: A Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde
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1 Kriminologische Grundlagen
B Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen („flash-backs“), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen C Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Ereignis D Entweder 1. oder 2. 1. teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern 2. anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale a Ein- und Durchschlafstörungen b Reizbarkeit oder Wutausbrüche c Konzentrationsschwierigkeiten d Hypervigilanz e erhöhte Schreckhaftigkeit E Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von 6 Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf (in einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden). Diagnostische Kriterien der anhaltenden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nach ICD-10 (F62.0) A Eindeutige und anhaltende Änderung in der Wahrnehmung, in der Beziehung und im Denken der Betroffenen in Bezug auf ihre Umgebung und sich selbst, nach einer Extrembelastung. B Ausgeprägte Persönlichkeitsänderung mit unflexiblem und unangepasstem Verhalten mit mindestens zwei der folgenden Symptome: 1. andauernde feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt; 2. sozialer Rückzug (Vermeidung von Kontakten mit Menschen außer einigen wenigen Verwandten, mit denen die Betroffenen zusammenleben); 3. andauerndes Gefühl von Leere und/oder Hoffnungslosigkeit. Dies kann mit einer gesteigerten Abhängigkeit von anderen, einer Unfähigkeit, negative oder aggressive Gefühle zu äußern, und einer anhaltenden depressiven Stimmung verbunden sein; 4. andauerndes Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung ohne äußere Ursache, das sich in einer gesteigerten Wachsamkeit und Reizbarkeit zeigt. Dieser Zustand einer chronischen inneren Anspannung und einem Gefühl von Bedrohtsein kann mit der Neigung zu exzessivem Konsum psychotroper Substanzen verbunden sein;
1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
C D
E
F
z
5. andauerndes Gefühl, verändert oder anders als die anderen zu sein (Entfremdung). Dies kann mit dem Eindruck einer emotionalen Betäubung verbunden sein. Entweder eine deutliche Störung der sozialen Funktionsfähigkeit oder subjektives Leiden für die Betroffenen und negative Auswirkungen auf ihre Umgebung. Die Persönlichkeitsänderung sollte nach Extrembelastung aufgetreten sein. Aus der Anamnese sind keine Persönlichkeitsstörungen oder akzentuierte Persönlichkeitseigenschaften des Erwachsenenalters und keine Persönlichkeits- oder Entwicklungsstörung des Kindes- oder Jugendalters bekannt, die die augenblicklichen Persönlichkeitseigenschaften erklären könnten. Die Persönlichkeitsänderung muss seit mindestens zwei Jahren bestehen. Sie steht nicht in Beziehung zu Episoden anderer psychischer Störungen (außer mit der posttraumatischen Persönlichkeitsstörung) und kann nicht durch eine Gehirnschädigung oder Krankheit erklärt werden. Diese Persönlichkeitsänderung kann den chronischen Verlauf einer posttraumatischen Persönlichkeitsstörung darstellen, wobei sich die Symptome dieser Störungen überlappen können. Eine anhaltende Persönlichkeitsänderung sollte dennoch nur angenommen werden, wenn nach einer mindestens zweijährigen posttraumatischen Belastungsstörung ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren mit den oben genannten Kriterien besteht.
Die Ergebnisse vorliegender Kurz- und Langzeitstudien zeigen allerdings, dass das Risiko, eine spätere posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere psychische Störung auszubilden, in erheblichem Umfang variiert und dass bestimmte Störungen mit zum Teil sehr hohen Übergangswahrscheinlichkeiten in andere psychische Störungen auftreten, sodass der mittel- und langfristige Verlauf nur bedingt vorhersagbar erscheint. Dies hat dazu geführt, relativ komplexe Erkrankungsmodelle zu entwickeln. Maes (2000) schlägt vor, prä-, peri- und postexpositionelle Faktoren in einem derartigen Modell zu integrieren, das sich mit einiger Evidenz auch auf andere Belastungsereignisse übertragen lässt. Andere Autoren favorisieren Risiko-, Ereignis- und Schutzfaktorenmodelle. Darüber hinaus hat in den vergangenen Jahren eine intensive Diskussion um so genannte subsyndromale Störungen stattgefunden. Dies bedeutet, dass die Betroffenen durchaus psychosozial relevante beziehungsweise schwerwiegende Symptome aufweisen, die aber nicht die diagnostische Schwelle für eine kategoriale Erkrankungsdiagnose nach ICD-10 oder DSM-IV erreichen.
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1.7.2 Störungsmodelle Die mittlere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung (oder einer anderen psychischen Störung) nach Traumatisierung wird in der Literatur übereinstimmend mit etwa 30% angegeben, wobei die Hälfte der Betroffenen vollständig remittieren und die andere Hälfte langfristige Verläufe mit einem hohem Chronifizierungsrisiko und einer Störungsgeneralisierung mit sich einstellender psychiatrischer Komorbidität aufweisen. Die langfristigen Remissionswahrscheinlichkeiten sind durch langsam sinkende Prävalenzraten gekennzeichnet. So zeigen zwei Studien von Vergewaltigungsopfern nach 15 Jahren noch PTSD-Prävalenzraten von 12,5 beziehungsweise 16,5% (Frommberger et al. 2002). Das Risiko, neben der primären PTSD noch weitere psychische Störungen im Verlauf komorbide auszubilden, ist als hoch einzuschätzen, wobei hier sekundäre Angststörungen, affektive Störungen, dissoziative Störungen und Störungen durch psychotrope Substanzen den wesentlichen Anteil ausmachen. Gegenüber der Normalbevölkerung ist das Risiko komorbider Störungen zumindest um das 2,5 bis 3,5 fache erhöht. In theoretischen wie empirischen Untersuchungsansätzen wurde versucht, ein an der Syndromstärke orientiertes Stufenmodell zu entwickeln, das mit den folgenden Typisierungen arbeitet. So wird im DSM-IV als eine Art „Sofortreaktion“ eine akute Belastungsstörung konzeptualisiert, deren Symptome innerhalb von vier Wochen auftreten und innerhalb weiterer vier Wochen abklingen. Dissoziativen Symptomen, wie Depersonalisation, Derealisation, dissoziativer Amnesie und dissoziativer Absorption beziehungsweise Taubheit kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Unter dem Begriff der Dissoziation wird dabei ein Syndrom verstanden, dass durch psychische Spaltungs- und Desintegrationsprozesse gekennzeichnet ist, die es dem Betroffenen ermöglichen, die unmittelbare traumatische Erfahrung emotional und kognitiv nicht als fortgesetzt überschwemmend zu erleben und die Reizüberflutung durch das Trauma zu begrenzen (Freyberger et al. 1998, 1999). Viele Betroffene berichten unter anderem, dass sich im Zuge einer interpersonellen Traumatisierung dabei ihre Körperwahrnehmung abschaltet, sie schmerz- und beruhigungsunempfindlich werden beziehungsweise Aspekte ihrer Körperwahrnehmung oder der Wahrnehmung der Außenwelt verändern. Im Gegensatz zu dieser peritraumatischen Dissoziation ist die posttraumatische Dissoziation durch das Vergessen, Verdrängen oder Verleugnen bestimmter kognitiver, affektiver oder sensomotorischer Erinnerungsaspekte gekennzeichnet (sog. dissoziative Amnesie). In den meisten der vorliegenden Verlaufsstudien konnte gezeigt werden, dass die Akuität dieser initialen Reaktion und insbesondere das Ausmaß der damit verbundenen dissoziativen Symptomatik die spätere Ausbildung einer PTSD prädiziert (Solomon 1999). Neben der kategorialen Diagnose wurden von verschiedenen Autoren Modelle für subsyndromale oder partielle PTSD-Syndrome vorgeschlagen,
1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
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die als mögliche Reaktionsformen zusätzlich in bis zu 20% der Stichproben vorkommen sollen. Herman (1995) hat darüber hinaus das Konzept der komplexen PTSD vorgestellt, das ein Symptommuster bei besonders intensiv beziehungsweise sequenziell traumatisierten Personen beschreibt. Hier stehen entweder durchaus borderlinenahe expansive Symptommuster oder die Merkmale der bereits oben genannten andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit kardinalen Störungen der Affektregulation, mit Bewusstseinsveränderungen und Störungen der Selbstwahrnehmung im Vordergrund. Wie neuere Studien zeigen können, zeichnen sich posttraumatische Belastungssyndrome auch durch lange Zeit in der Forschung vernachlässigte und unterschätzte impulsive und aggressive Verhaltensaspekte aus, die eine enge Beziehung zu dem Hyperarousalsyndromcluster zeigen (Amdur u. Liberzon 2001). Expansiv-aggressives Verhalten als PTSD-Subtyp findet sich vor allem gehäuft in Kriegsveteranenstichproben, während passiv-aggressives Verhalten mit autoaggressiven Symptomkomponenten eher für Opferstichproben krimineller Delikte charakteristisch zu sein scheint (Silva et al. 2001).
1.7.2.1 Riskofaktoren Als wesentliche präexpositionelle Risikofaktoren für das Aufreten einer späteren PTSD oder einer anderen psychischen Störung sind in der Literatur weitgehend gesichert worden (vgl. Abb. 1.7.1): z weibliches Geschlecht (Breslau et al. 1997), z Persönlichkeitsfaktoren wie Neurotizismus, Introversion und eher passives Bewältigungsverhalten (nicht aber Persönlichkeitsstörungen; Maes et al. 2000), z Vorgeschichte mit psychischen Störungen (z. B. depressive und Angsterkrankungen; Mc Farlane 1988), z Vorgeschichte mit bereits stattgehabten Traumatisierungen (z. B. Dahl et al. 1998), wobei hier das Risiko bei sequenziellen Ereignissen nahezu linear anzusteigen scheint, z ein bestimmtes Risikolebensalter (Jugendliche und ältere Erwachsene, nicht aber hohes Lebensalter), z ein niedriger Bildungsstand, z eine unzureichende soziale Vernetzung mit anderen Personen, zu denen enge emotionale Bindungen bestehen, und z ein prinzipiell eher passives Bewältigungsverhalten auch gegenüber anderen Belastungen.
1.7.2.2 Ereignis- und Schutzfaktoren Darüber hinaus sind bestimmte Charakteristika der Traumatisierung selbst als so genannte Ereignisfaktoren zu gewichten, die das spätere Risiko einer
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Ereignisfaktoren • • • •
Unerwartetheit Dauer, Schweregrad Kontrollierbarkeit interpersonelle Brutalität
Risikofaktoren • • • • • •
Alter bei Ereignis Geschlecht frühere Traumata frühere psychische Störungen peritraumatische Dissoziation psychosoziale Variablen
posttraumatische Belastungsstörung
Schutzfaktoren • Kohärenzsinn • soziale Unterstützung • Bewältigungsmechanismen
Abb. 1.7.1. Risiko-, Ereignis- und Schutzfaktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung traumatischer Belastungsstörungen beitragen
Erkrankung mit bedingen. Folgende Ereignisfaktoren sind von Bedeutung (vgl. Abb. 1.7.1): z Schweregrad der Traumatisierung (Intensität, Dauer, singuläre vs. sequenzielle Ereignisse in Kurzzeitstudien, wobei hier das Ausmaß der mit dem Ereignis verbundenen Todesdrohung und das Ausmaß der subjektiv erlebten Grausamkeit als Mediatorvariablen von Bedeutung sind; Maes et al. 2000). Hierdurch wird verständlich, dass auch der körperliche Verletzungsgrad beziehungsweise der Perversionsgrad entsprechender Handlungen und die daraus resultierenden psychosozialen Folgen als Prädiktor betrachtet werden. z Generell gilt, dass Traumatisierungen interpersoneller Art zu häufigeren und intensiveren Störungen führen als nichtinterpersonelle Traumatisierungen. Dem Charakter des Ereignisses selbst kommt also eine hohe Bedeutung zu. So lassen sich anhand einer Allgemeinbevölkerungsstudie einer Großstadtpopulation in den USA (Breslau et al. 1998) für bestimmte Ereignisse mittlere Expositionshäufigkeiten und prozentuale Risiken für das spätere Auftreten einer PTSD spezifizieren (vgl. Tabelle 1.7.1). Unterschiedlichen Delikttypen lassen sich dabei differierende Risiken zuordnen, wobei das PTSD-Risiko nach einer Vergewaltigung mit deutlich über 50% mit dem höchsten Störungspotenzial assoziiert ist. Die Mehrzahl der Autoren (vgl. zusammenfassend Begic u. Jokic-Begic 2002) gehen davon aus, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit verbunden mit Gewalterfahrungen den rele-
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Tabelle 1.7.1. Expositionshäufigkeit gegenüber potenziellen Traumaereignissen in der Allgemeinbevölkerung und Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer PTSD (nach Breslau et al. 1998)
z z z z z z z z z z z z
Vergewaltigung sexuelle Belästigung Krieg Waffengewaltandrohung körperliche Gewalt Unfälle Zeuge bei Unfall Naturkatastrophen Misshandlung in der Kindheit Vernachlässigung in der Kindheit andere lebensbedrohliche Situationen plötzlicher Tod einer nahe stehenden Person
Häufigkeit
PTSD
5,5 7,5 3,2 12,9 9,0 19,4 25,0 17,1 4,0 2,7 11,9 60,0
55,5 19,3 38,8 17,2 11,5 7,6 7,0 4,5 35,4 21,8 7,4 14,3
vantesten prädiktiven Ereignisfaktor darstellt, gefolgt von schweren Gewalterfahrungen, die unmittelbar am Wohnort erlebt werden. In verschiedenen Studien ließen sich auch so genannte Schutzfaktoren herausarbeiten, durch die sich remittierte von nichtremittierten Stichproben unterscheiden ließen (vgl. Abb. 1.7.1). Diese Schutzfaktoren beinhalten zum einen aktive Bewältigungsmechanismen, also die Frage, wie gut es dem Betroffenen gelingt, sich aus seiner passiven Opferrolle zu lösen und aktiv das Erlebnis zu bewältigen. Zum anderen scheint die Gesamtprognose abhängig von sozialer Unterstützung, d. h. von der Quantität und der Qualität der Beziehungspersonen im sozialem Netzwerk zu sein. Ein weiterer Schutzfaktor wird als so genannter Kohärenzsinn bezeichnet. Hierunter ist zu verstehen, wie gut es einem Betroffenen gelingt, im Rahmen des Bewältigungsprozesses das Trauma als einen kohärenten Vorgang zu erleben, den er selbst in einem angemessenen Sinnzusammenhang einbetten kann. Für Kinder und Jugendliche sind zudem als Schutzfaktor das Vorhandensein supportiver Bezugspersonen, soziale Kompetenz, gute kognitive Fähigkeiten und das Fehlen autoaggressiver Symptome prospektiv belegt (Mrazek u. Mrazek 1987; Zimrin 1986). Derartige Risiko-, Ereignis- und Schutzfaktorenmodelle erklären zumindest zum Teil die beträchtliche Variabilität der psychischen Reaktionen nach klinisch signifikanten oder vergleichsweise profanen äußeren Belastungssituationen. Auch auf individueller Ebene ist dabei abzuschätzen, in welchem Umfang z. B. vorbestehende Risikofaktoren zu einer besonderen Vulnerabilität beitragen beziehungsweise die Schwelle zur Auslösung einer posttraumatischen Belastungsstörung senken. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Reaktualisierungskonzept zu: So ist in verschiedenen Studien gezeigt worden, dass etwa in der Kindheit oder Jugend stattgefun-
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dene traumatisierende Ereignisse bei einem Teil der Betroffenen über Jahre bis Jahrzehnte gewissermaßen klinisch stumm bleiben können, um dann bei neu auftretenden, in ihrem Schweregrad durchaus variierenden Ereignissen reaktualisiert zu werden und die Syndromschwelle zu überschreiten (zusammenfassend Frommberger et al. 2002).
1.7.3
Psychische Verarbeitungsprozesse von Gewalterfahrungen
1.7.3.1 Transgenerationale Traumatransmission und Gewalttransmission Die so genannte transgenerationale Traumatransmission sowie die Transmission von Gewalt innerhalb von Familien sind in den letzten Jahren viel diskutiert worden. Unter dem Stichwort transgenerationale Traumatransmission werden dabei vor allem empirische Befunde aus dem Bereich der Holocaustforschung zusammengefasst, die von einem überzufällig häufigen Auftreten von verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen und dissozialen Tendenzen bei den Kindern von Holocaustüberlebenden berichten (Freyberger u. Freyberger 2007). Als intrafamiliäre Mediatoren sind in diesem Zusammenhang unter anderem ausgeprägt aggressionsvermeidende und die Heranwachsenden parentifizierende Erziehungsstile diskutiert worden, die vor allem adoleszenten Jugendlichen einen angemessenen Umgang mit adäquater interpersoneller Aggressivität verunmöglichen. Neuere Langzeitstudien weisen allerdings darauf hin, dass es sich bei diesen Phänomenen offensichtlich um temporäre und an die Anwesenheit in den Herkunftsfamilien gebundene Effekte handelt, die in ihrem Auftreten und ihrer Intensität durch die im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren immer bedeutsamer werdenden Peergrouperfahrungen und andere Autonomieprozesse deutlich abgeschwächt werden. Die Transmission von Gewalt im Sinne einer Veränderung einer früheren Opfer- in eine spätere Täterrolle ist ein in der Literatur in den vergangenen 20 Jahren breit diskutiertes Phänomen (Widom 1989 a, b), das vor allem für den Bereich sexueller Missbrauchshandlungen relativ gut untersucht ist. Starr et al. (1991) schätzen vor dem Hintergrund prospektiver Studien aus dem Kinder- und Jugendlichenbereich den Transgenerationseffekt für Misshandlung und Vernachlässigung auf nicht höher als etwa 25%. Engfer (1997) betont ebenfalls, dass etwa 30% ehemals gewalttätig misshandelter Eltern ihre Gewalterfahrung an die Kinder weitergeben. Widom (1989 b) gibt für die Transmission von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung in der Adoleszenz eine Schätzung von 26% ab. Goodwin et al. (1981) berichten über 24% Inzesterfahrungen (gegenüber 3% in der Kontrollgruppe) bei Müttern von sexuell missbrauchten Kindern. Schmidt (2000) weist darauf hin, dass sich Studien zu späteren strafrechtlich verfolgten sexuellen Missbrauchshandlungen nur auf ehemalige männliche Missbrauchsopfer beziehen. So fanden Groth und Burgess (1979) unter sexuell delinquenten Straftätern 31%, die in ihrer Vorgeschichte sexuelle Traumatisierungen an-
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gaben (Dudeck et al. 2007). Fondacaro et al. (1999) untersuchten 211 Inhaftierte, von denen 40% die Kriterien für sexuellen Missbrauch in der Kindheit erfüllten. Seghorn et al. (1987) fanden analoge Ergebnisse: Unter Tätern gegen Kinder und Jugendliche waren 57% mit eigener Missbrauchserfahrung, unter Vergewaltigern nur 23%. Becker (1988) gibt eine Rate von als Kinder missbrauchten Adoleszenten mit Sexualdelinquenz von nur 19% an. In allen Studien finden sich häufiger Nichtfamilienmitglieder als ursprüngliche Täter und häufiger Vorerfahrungen von sexueller Gewalt bei den späteren Tätern, die Kinder oder Jugendliche missbrauchten. Auch gewaltbezogene Opfererfahrungen in der Kindheit stellen ein erhebliches Risiko für den entwicklungspsychologischen Prozess dar (Lösel u. Bender 1997), wobei sich überzufällig häufig in den späteren Verläufen depressive Symptome oder eine erhöhte Aggressivität und Gewaltbereitschaft finden lassen (Malinowsky-Rummel u. Hansen 1993). In einer empirischen Untersuchung an 190 Kindern im Alter von fünf bis 14 Jahren konnte Diepold (1995) zeigen, dass komplexe Traumatisierungen in der frühen Kindheit zur Entwicklung einer Borderlinepersönlichkeitsstörung beitragen, deren wesentliches Merkmal eine erhöhte Impulsivität und Aggressionsbereitschaft darstellt, die sich in auto- oder heteroaggressiven Symptomäquivalenten äußert. Auch für eine spätere Kriminalisierung sind Misshandlung und Vernachlässigung wichtige Risikofaktoren, wie Widom (1989 a) in einer prospektiven Kontrollgruppenstudie in den USA gezeigt hat. Die Untersuchung von Cauffmann et al. (1998) erfasste eine Stichprobe von 96 jugendlichen, weiblichen Straftätern. Dabei waren 51% der Frauen Opfer von Gewalt und 17% Zeuge von Gewalttaten geworden. Brooke et al. untersuchten 1996 750 männliche Inhaftierte, wobei sich bei 35% der Befragten ein früheres Trauma im Sinne körperlicher Misshandlung diagnostizieren ließ. Spitzer et al. (2001) konnten anhand von 53 psychisch kranken Straftätern zeigen, dass 64% ein retrospektives Trauma aufwiesen; 25% aller Befragten gaben an, als Kind körperlich misshandelt worden zu sein, wobei andere Traumatisierungen wie sexueller Missbrauch und emotionale Vernachlässigung gleich häufig auftraten. Dimmek et al. (1997) gehen anhand von ihren Untersuchungsergebnissen an 48 forensischen Patienten davon aus, dass direkte und indirekte Opfererfahrungen differenziell zu betrachten sind. Hinsichtlich der eigenen frühkindlichen Opfererfahrung zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang mit deviantem Verhalten in der gleichen und der darauf folgenden Altersphase. Das Miterleben von Gewalttätigkeiten gegenüber anderen scheint demgegenüber geringer ausgeprägte Folgen zu haben. Wesentlich an diesen Ergebnissen ist, dass sexuelle, vernachlässigende und gewaltassoziierte Traumatisierungen ein bedeutsamen Risikofaktor für späteres gewalttätiges Verhalten darstellen, auf der anderen Seite aber nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen später zu Tätern werden. Schmidt (1997) nennt in diesem Zusammenhang von den Studien aus dem Erwachsenenalter zum Teil abweichende Schutz-
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faktoren, die nach Missbrauchserfahrungen kompensatorisch, d. h. protektiv gegenüber späteren Entwicklungsstörungen, psychischen Auffälligkeiten und Delinquenz wirken: z supportive Bezugspersonen (möglichst innerhalb der Familie), z gute Fähigkeiten, soziale Hilfsangebote zu rezipieren, z optimistische Einstellung mit internem Kontrollbewusstsein und positiver Selbsteinschätzung, z Fehlen autoaggressiver Symptome, z kognitive Fähigkeiten einschließlich hoffnungsvoller Phantasien, z Verantwortlichkeit für andere, z Auseinandersetzungsfähigkeit. Ihrem Selbstverständnis nach betrachten sich die Mehrzahl der sexuell missbrauchten Straftäter nicht als missbraucht, wie unter anderem die Studie von Fondacaro (1999) zeigt. Briggs und Hawkins (1996) vergleichen in diesem Zusammenhang inhaftierte versus nichtinhaftierte männliche Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Die Inhaftierten zeigten gegenüber den eigenen Traumatisierungen eine auffallende Verleugnungstendenz beziehungsweise bewerteten die Traumata als irrelevant für ihre spätere Entwicklung, sodass diese in ihrem Selbstverständnis einen allgemein verbreiteten, gewissermaßen unvermeidlichen und normalen Teil ihrer Kindheit und Jugend darstellten. Della et al. (1990) weisen in diesem Kontext auf die lückenhaften Erinnerungen an sexuellen Missbrauch bei Inhaftierten sowie deren Verleugnung hin. Weeks und Widom (1998) interpretieren dies im Sinne funktionaler Mechanismen, nach denen Straftäter wahrscheinlich insgesamt dazu tendieren, ihre Traumata zu verschweigen, da sie das Auftreten der eigenen Vulnerabilität in Gefängnissettings fürchten. Durch die unzureichenden Angaben und die entsprechenden amnestischen Effekte ist damit davon auszugehen, dass die Häufigkeit der Opferschaft in der Biografie von Tätern eher deutlich unterschätzt wird.
1.7.3.2 Psychodynamische und bindungstheoretische Erklärungsmodelle Die entscheidende Frage, die es zu beantworten gilt, ist, warum sich bei einem Teil der Betroffenen der Rollenwechsel vom Opfer zum Täter vollzieht und welche psychologischen Vorgänge dabei eine Rolle spielen. Nach dem traditionellen psychoanalytischen Verständnis besteht ein Mechanismus der Bewältigung traumatisierender Gewalt in einem komplexen Abwehrvorgang, der unter anderem mit dem Begriff „Identifikation mit dem Angreifer“ beschrieben worden ist (Freud 1936). Das mit einer äußeren Gefahr konfrontierte Subjekt identifiziert sich mit seinem Angreifer, indem es sich selbst für die Aggression verantwortlich macht, den Angreifer imitiert oder sich mit Machtsymbolen des Angreifers ausstattet. Es war Ferenczis (1933) Entdeckung, dass die durch eine überwältigende und unerträgliche Angst charakterisierte traumatische Einwirkung dadurch psychisch überlebbar gemacht werden kann, dass sie internalisiert, d. h. über den Abwehr-
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mechanismus der Introjektion intrapsychisch und nicht extrapsychisch repräsentiert wird. Sofern das damit verbundene aggressive Potenzial passiv im Opfer repräsentiert ist, kann dieses weiter Opfer bleiben; wenn das Opfer die Gewalt „aktiv“ gegen sich selbst richtet, kann es aber auch zum Täter werden, sobald die Gewalt sich entäußert (Hirsch 1998). Weitere Abwehr- oder Bewältigungsmechanismen sind im Zusammenhang mit Konzepten zur Somatisierung, Sexualisierung und Dissoziation untersucht worden, während das auch hier zu erwähnende Konzept der Alexithymie als „Traitmerkmal“ aufgefasst werden muss. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem selbstverletzenden Verhalten von betroffenen Opfern ist das Konzept der Somatisierung herangezogen worden, das verständlich werden lässt, warum Opfer bestimmte Körperregionen oder Körperzonen, die Gegenstand der ursprünglichen Traumatisierung waren, entweder als verändert, abgestorben oder tot erleben oder zum Gegenstand der eigenen fortgesetzten Misshandlung machen. Durch die somatische Repräsentanz wird dabei sowohl das „Böse“ des traumatischen Geschehens wiederholt als auch im Körper gebunden. Damit wird es beherrschend kontrolliert, sodass die zugehörigen kognitiven, affektiven und sensomotorischen Erinnerungsinhalte das Ich-Erleben nicht beeinträchtigen oder gefährden können. Der Körper wird als Teil des Selbst bestraft und die häufig subjektiv unerträglichen Schuldgefühle werden neutralisiert. Auch für globale Somatisierungstendenzen, d. h. die Umsetzung von intrapsychischen oder interpersonellen Konfliktinhalten in körperliche Symptome, konnte zumindest für den Bereich somatoformer Schmerzstörungen gezeigt werden, dass hier überzufällig häufige Zusammenhänge mit Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch bestehen (Egle u. Nickel 2002). Sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen Opfern von Traumatisierung sind immer wieder ausgeprägt sexualisierende Verhaltensweisen beschrieben worden. Damit ist Sexualisierung als Abwehr von traumatischer Gewalt zu verstehen. Von mehreren Autoren wird die Sexualisierung der traumatischen Gewalt mit einer heimlichen sexuellen Verführung durch den Täter in Verbindung gebracht. Bei Cournut (1988) ist es eine Überstimulierung bei defizitärer Fürsorge; bei Torok (1968) hingegen der Anstieg der Libido nach dem Verlust eines geliebten Objekts. Zepf et al. (1986) sprechen von einer sexuellen Verführung und gleichzeitigem Sexualverbot. Khan (1988) sieht hinter der Kommunikation sexuellen Begehrens des Hysterikers das Bedürfnis nach einer entbehrten frühen emotionalen, eben nicht sexuellen Fürsorge, die einmal real so defizitär war, dass die triebhafte Sexualität sich frühreif in dieses Vakuum hineinentwickelt hat. Andererseits berichten empirische Untersuchungen zu Langzeitfolgen sexueller Traumatisierung im Kindesalter neben einer niedrigeren Zufriedenheit in intimen Beziehungen im Vergleich zu Kontrollpersonen mit großer Übereinstimmung spätere Schwierigkeiten im Bereich der Sexualität, wie Angst vor Sexualität, Schuldgefühle über Lusterleben oder sexuelle Funktionsstörungen (Finkelhor et al. 1989).
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Das Konzept der Dissoziation beziehungsweise Spaltung ist bereits oben im Zusammenhang mit den Risikofaktoren diskutiert worden (Abschn. 1.7.2.1) und stellt einen wesentlichen Aspekt traumabezogener Abwehrund Bewältigungsprozesse dar. Van der Kolk (1996, 1999) hat die vorliegenden Studien im Hinblick auf ihren prädiktiven Wert für die spätere Entwicklung von Gewalt und Kriminalität wie folgt zusammengefasst: Je jünger die betroffene Person zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist und je länger das Trauma dauert, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass neben dissoziativen und anderen psychopathologischen Merkmalen auch Störungen der Affektregulation entstehen, die für die spätere Ausbildung dissozialer Merkmale von hoher Bedeutung sind. In zahlreichen Studien mit Patienten, die in ihrer Kindheit traumatisiert wurden und die unter Störungen der Affektregulation litten, konnte ein hoher Zusammenhang mit dissoziativen Erlebnisweisen bestätigt werden (z. B. Lewis 1992; van der Kolk 1996; Terr 1991). Zlotnick (1997) bestätigte diese Annahmen für weibliche Straftäter nach erlebtem Missbrauch. Die Mehrzahl der von Hornstein (1996) untersuchten Kinder mit dissoziativer Störung zeigten zudem Merkmale wie Irritierbarkeit, Affektlabilität, Depression, Hoffnungslosigkeit, niedriger Selbstwert wie auch eine außergewöhnliche Sensitivität gegenüber Kränkungen, Frustration und Ablehnung, die im Sinne von Vorboten einer dissozialen Persönlichkeitsstörung interpretiert werden können. Van der Kolk (1996) konnte einen fast linearen Zusammenhang zwischen dissoziativen Merkmalen und einer verminderten Fähigkeit zur Modulation von Erregung bei traumatisierten Personen aufzeigen. Putnam (1997) stellte die Hypothese auf, dass dissoziative Erlebnisweisen eine zentrale Voraussetzung für pathologische Entwicklungsprozesse im Affekt- und Impulsbereich darstellen und damit das spätere Delinquenzrisiko erhöhen. Abbildung 1.7.2 skizziert nachfolgend drei kritische Traumaphasen im Entwicklungsprozess vom traumatisierten Opfer zum traumatisierenden Täter unter Einbeziehung des zentralen Wirkmechanismus Dissoziation. Alexithymie, d. h. die Unfähigkeit innere emotionale Prozesse zu identifizieren und zu symbolisieren, steht mit Dissoziation (Zlotnick et al. 1996) sowie darüber hinaus mit Aggression und Sexual- und Gewaltdelinquenz in einem partiell kausalem Zusammenhang. Krystal (1978) beschrieb die Affektentdifferenzierung und die daraus folgende Unfähigkeit, Emotionen als Leit- und Orientierungshilfe für angemessene Handlungen zu benutzen. Zudem geht diese Unfähigkeit zur symbolischen Darstellung auch mit der Entwicklung von Aggressionen einher. Nicht zu wissen, wie und was man fühlt, kann zu beeinträchtigter Impulskontrolle beitragen, die bei missbrauchten Kindern beobachtet wurde (van der Kolk 1996). Lough et al. (1998) bestimmten die Komorbidität von Dissozialität und Alexithymie bei weiblichen Inhaftierten. Als dissozial identifiziert wurden 30%, 32% als alexithym, 8% waren sowohl als dissozial als auch als alexithym zu klassifizieren. Kocsis und Irwin (1998) sahen die Alexithymieneigung bei Serienstraftätern als Folge ihrer dissoziativen Tendenzen.
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Frühere kumulativeTraumatisierung: Mißbrauch, Vernachlässigung etc.
Vortraumaphase: familiäre Instabilität, Gewalt, Kriminalität, Substanzmissbrauch, emotionale Isolation
Defizitäre/negative Ich-, Charakter- und Kognitionsentwicklung; pathologische Abwehrformen
Prädisposition des traumatisierten Kindes für Ärger und Groll, Rachegefühle, -phantasien, Identifikation mit Gruppenaggression, Substanzgebrauch
D E
Mehrere Abwehrebenen beginnen mit Dissoziation; dies führt zu Änderungen physiologischer Zustände: Abstumpfung, Angst, akzelerierte Affekte. Ausbildung externalisierender Muster aggressiven „acting-outs”, internalisierender Muster (Vermeidung, Rückzug)
Traumaphase
Nachtraumaphase
Dissoziation bewirkt eine Blockierung auf • sensorischer Ebene, z.B. Bedürfnis der Überwindung von Abstumpfung via extremer Erregungszustände (Drogen, „Sensationseeking”) • Wahrnehmungsebene, z.B. Bedürfnis nach minimaler zwischenmenschlicher Reaktion gepaart mit Vorliebe für deviante Stimuli • kognitiver Ebene, z.B. Verzeihen sexueller Gewalt, Negation sozialer Werte
Dissoziation führt zur Versiegelung traumatischer Erfahrungen und Trennung der psychischen und sensorischen Erfahrungen. Unverarbeitete traumatische Erfahrungen werden agiert via Verhaltensreinszenierungen: Aggression, Delinquenz
L I N Q U E N Z
Verleugnung von Verletzlichkeit/Hilflosigkeit als kindliches Opfer verstärkt Identifikation mit Aggression = erzeugt die Verbindung vom Missbrauchten zum Missbräuchler
Abb. 1.7.2. Entwicklungsmodell Trauma ? Dissoziation ? Aggression/Delinquenz (zit. bei Liß 2002)
Das in Abb. 1.7.3 dargestellte Entwicklungsmodell Trauma – Dissoziation – Delinquenz spezifiziert und konkretisiert dabei die während des kriminellen Aktes auftretende Dissoziation. Für die Erklärung der Transmission von Gewalt sind weitere Studien relevant, die auf Bowlbys (1975) „Attachmenttheorie“ basieren. Eine Prämisse
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Beeinträchtigte Kapazität zur Bindungsformung und tiefen Objektinternalisierung erzeugt Erfahrungen von Dissoziation/Getrenntheit vom Selbst und Realität. Dissoziative Zustände steigern normale Gefühle von Bindung/Rückzug von aktuellen Objekten sowie die Neigung, sich von der externen Realität loszulösen. Frühere Traumaerfahrungen mit pathologischer Ich-Entwicklung und verselbstständigten dissoziativen Bewältigungsmechanismen
Aktuelles Trauma, z.B. interpersonelle Dilemmata („entweder/oder“, „wenn/dann“); Zurückweisung/Ablehnung
Gegebenenfalls Fantasietätigkeit, Absorption in gewalttätige Tagträumereien
Untermodulierte und/oder intensive Affekte und Änderungen in Wahrnehmung, Denken und Verhalten charakterisieren dissoziative Selbstzustände, die mit Gewaltreaktionen verknüpft sein können.
Konflikt zwischen Ich und Über-Ich führt zu veränderten Bewusstseinszuständen oder dissoziativen Reaktionen
Gewalttätiges Verhalten, bei dem Übererregung in Form von Angst und Rage nicht bewusst erfahren, sondern dissoziiert wird
Deliktphase
Dissoziation hinsichtlich der Opferwahrnehmung als zweidimensionales, wahrnehmungsmäßig flaches, stereotypes Objekt
Dissoziative Erfahrungen zur Vermeidung von Verantwortung für die eigenen Aktionen oder zur Verleugnung bestimmter Ereignisse aufgrund ihrer traumartigen, unrealen Qualität Postdeliktische Phase Dissoziation zur Distanzierung des Täters vom Trauma, das man dem Opfer angetan hat, oder von emotionalen Zuständen oder der drohenden Inhaftierung
Abb. 1.7.3. Entwicklungsmodell Trauma – Dissoziation/Delinquenz (zit. bei Liß 2002)
der bindungstheoretischen Perspektive lautet, dass ein Kind die unterschiedlichen Beziehungserfahrungen, die es mit seinen Bindungspersonen macht, bereits im ersten Lebensjahr tief emotional verankert, wenn keine korrigierenden Erfahrungen gemacht werden. Aufgrund neuerer Analysen lassen sich insgesamt vier verschiedene Bindungsmuster unterscheiden (Main und Solomon 1990): z sicher, z unsicher-vermeidend, z unsicher-ambivalent, z desorganisiert.
1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
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Ein sicheres Bindungsmuster vermitteln erwachsene Bezugspersonen, die sich auf die kindlichen Bedürfnisse einstellen und Kindern auch bei emotionalen Belastungen Geborgenheit und Nähe vermitteln können. Unsichervermeidende Bindungserfahrungen gehen mit einem Verhalten einher, das als vernachlässigend, Furcht einflößend und/oder unempathisch charakterisiert werden kann. Oft umfasst es auch die offene Zurückweisung der Kinder bis hin zu psychischen und physischen Misshandlungen. Ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster ist für unabgegrenzte Beziehungserfahrungen typisch. Das emotionale Überengagement seitens der wichtigen Bezugspersonen manifestiert sich in einengenden Kontrollversuchen oder in der Verweigerung von Autonomie. Kinder mit desorganisierten Bindungserfahrungen zeigen abwechselnd Strategien der Kontaktaufnahme und der Kontaktvermeidung. Die Bezugspersonen geben dem Kind einerseits Sicherheit und Nähe, sie erzeugen andererseits aber auch Furcht. Das ergibt sich aus einer Sequenz von zunächst konsistent mütterlichem Verhalten, das plötzlich und unvorhersehbar durch inadäquates Verhalten abgelöst wird. Diese widersprüchlichen Beziehungsmuster finden sich bei Eltern mit traumatischen Erfahrungen. Die Verunsicherung liegt für das Kind darin, dass seine auf die Mutter abgestimmten Erwartungen sich angesichts des veränderten Verhaltens nun als irreführend erweisen. Daher können die Kinder kein funktionsfähiges inneres Arbeitsmodell entwickeln, was das Übersehen von schädigenden Effekten von Misshandlung und Missbrauch zur Folge hat. Physischer und psychischer Missbrauch sowie Vernachlässigung führen häufig zu diesem Bindungsmuster. Von Main und Solomon (1990) konnten 80% von zwölf Monate alten Kindern aus Familien, in denen regelmäßig Misshandlungen stattfanden, diesem desorganisiertem Bindungstyp zugeordnet werden. Vor allem misshandelte Jungen neigen zur Ausbildung dieses Musters insbesondere dann, wenn der Vater fehlt (Carlson et al. 1989). Fonagy belegt, dass sicher gebundene Kinder hingegen leichter eine „theory of mind“ mit einem moralischen Bewusstsein entwickeln und damit besser vor gewaltsamem Handeln geschützt sind (1997).
1.7.4 Psychische Folgeerkrankungen am Beispiel von Angststörungen, depressiven und dissoziativen Störungen Die Folgen krimineller Viktimisierung lassen sich nicht nur in psychiatrisch relevanten Krankheitsbildern beschreiben, da nur ein Teil der Betroffenen tatsächlich die diagnostischen Kriterien für eine spezifische psychische Störung erfüllt. Leider existieren nur wenige empirische Studien, die systematisch späteren psychosozialen Funktionseinschränkungen in verschiedensten Lebensbereichen nachgehen. In einer Studie von Richter (1997) wurden 342 Opfer krimineller Gewalt nach negativen Folgen der entsprechenden Delikte auf verschiedenste Bereiche des Lebens befragt. Besonders negativ beeinflusst fanden sich die Opfer in den Bereichen körper-
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liches und seelisches Befinden, gefolgt von körperlicher Leistungsfähigkeit, Stimmung und sexueller Aktivität. Andererseits gibt es eine Reihe von Studien, die zeigen, dass Angst und Angstäquivalente zu den Folgen von Missbrauchserleben gehören; sie sind jedoch keine spezifischen Folgen von Missbrauchserlebnissen (zusammenfassend Arnold u. Joraschky 2000). Angstsymptome finden sich bei Frauen, die sexuell missbraucht worden sind, signifikant häufiger als in Kontrollgruppen (Murphy et al. 1988). Epidemiologische Untersuchungen von Burnam et al. (1988) und Saunders et al. (1992) zeigen unabhängig voneinander, dass kindliche sexuelle Missbrauchssituationen die spätere Manifestation von Agoraphobie und sozialer Phobie vorhersagen ließen. Auch Brown et al. (1993) stellen in einer Studie an Frauen einer Stadtbevölkerung dar, dass körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch eine Disposition für die Entwicklung von Angsterkrankungen im Erwachsenenalter schaffen. Klinische Untersuchungen an Patienten einer Angstambulanz bestätigen retrospektiv die gegenüber Kontrollgruppen signifikante Häufung von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch bei Angstpatienten (David et al. 1995; Fierman et al. 1993). Mancini et al. (1995) berichten bei 23,4% der Angstpatienten kindlichen sexuellen Missbrauch und bei 44,9% Gewalterfahrungen in der Kindheit. Gewalterfahrungen und sexuelle Missbrauchserfahrungen wirkten sich insbesondere auf die Ausprägung der Angststörung und das Vorkommen der Komorbidität von depressiven Störungen aus. Weiterhin zeigten traumatisierte Patienten ein deutlich gestörtes soziales Funktionsniveau. Die empirischen Untersuchungsergebnisse zeigen in der Regel, dass Angststörungen eine der Folgen von Missbrauch sein können. Hinweise darauf, wie der Zusammenhang zwischen Missbrauch und Angst sich inhaltlich darstellt, sind hingegen rar. Die Polytraumatisierung mit multiplen Missbrauchserfahrungen hinterlässt je nach Alter, in dem diese sich manifestiert, ein Bedrohtheitsgefühl und eine Hypervigilanz des eigenen Körpers. Hintergründe für die Aktivierbarkeit des Erwartungsangstniveaus können dabei bis in den neurobiologischen Bereich reichen, wo Untersuchungen an Primaten zeigen, dass Traumatisierungen, vor allem Trennungserfahrungen, zu neurobiologisch-morphologischen Veränderungen führen können. Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch sind traumatische Faktoren, die in der Regel im Wechselspiel mit Schutzfaktoren der Persönlichkeit zu einer Depression führen können. Betrachtet man die neun Kriterien des depressiven Syndroms, so findet man bei traumatisierten Patienten auf der intrapsychischen Ebene extreme Ausprägungen der Selbstentwertung, des Grübelns über Schuld und Versagen sowie ein globales Unwerterleben im Selbstgefühl, Selbstbild und Körperbild (zusammenfassend Joraschky u. Egle 2000). Der Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungsfaktoren in der Kindheit und späterer psychischer Erkrankung ist bei depressiven Störungen mit am besten an Populationen in der Allgemeinbevölkerung und in Allgemeinpraxen sowie an ambulanten beziehungsweise stationären psychi-
1.7 Psychische Folgeschäden bei Delinquenzopfern
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atrischen Patientenpopulationen untersucht. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Frauen beziehungsweise Patientinnen. In den letzten Jahren wurden zwei Studien an großen Stichproben von Allgemeinpraxen durchgeführt (McCauley et al. 1997; Cheasty et al. 1998). Patientinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen wiesen im Vergleich zu solchen ohne signifikant höhere Werte in der Depressionsskala des SCL-90 auf. In der zweiten Studie gaben 37% der als depressiv diagnostizierten Frauen sexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit an, während diese Rate in der nicht depressiven Vergleichsgruppe nur bei 23% lag. Weiterhin erwähnenswert sind vier Untersuchungen, die an Patientinnen psychiatrischer Kliniken durchgeführt wurden (Gorcey et al. 1986; Bryer et al. 1987; Pribor u. Dinwiddie 1992; Vize u. Cooper 1995) und die ausnahmslos eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine depressive Erkrankung im Erwachsenenalter bei vorausgegangenen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit bestätigten. So gut auch der Zusammenhang für Frauen als gesichert gelten kann, so schlecht ist er bisher bei Männern untersucht. Lediglich in drei Studien (Carmen et al. 1984; Stein et al. 1988; Roesler u. McKenzie 1994) wurden Männer überhaupt in die Untersuchungen miteinbezogen. Danach muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt festgestellt werden, dass der Zusammenhang zwischen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und depressiver Erkrankung im Erwachsenenalter bei Männern zumindest geringgradiger, möglicherweise überhaupt nicht besteht. Bei Frauen hingegen ist die Studienlage weitestgehend übereinstimmend: Je schwerer der sexuelle Missbrauch war, je häufiger er stattfand und je länger er dauerte, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter eine Depression zu entwickeln (Joraschky u. Egle 2000). Ungeklärt ist bisher die Bedeutung des Alters, in dem der sexuelle Missbrauch stattfand, sowie der Art der Beziehung zwischen Täter und Opfer. Eine wesentliche Rolle bei psychischen Folgen von Delinquenzopfern nehmen die dissoziativen Störungen ein. Es gibt einige wenige empirische Untersuchungen, die eine Verbindung zwischen der Entwicklung dissoziativer Störungen und schweren traumatischen Erlebnissen nachweisen. Van der Kolk et al. (1991) fanden bei 74 Patienten signifikant erhöhte Dissoziationsscores im Falle von sexuellem und körperlichem Missbrauch sowie Vernachlässigung in der Vorgeschichte. Lipschitz et al. (1996) untersuchten 114 ambulante psychiatrische Patienten und fanden eine signifikante positive Korrelation zwischen dem Ausmaß der dissoziativen Symptomatik und multiplen und kombinierten Misshandlungen in der Kindheit und im Erwachsenenalter. In einer neueren Studie an einer randomisierten selektierten Population von 1028 Normalpersonen fanden Mulder et al. (1998) bei 6,3% drei oder mehr häufig auftretende dissoziative Symptome. Die Rate des sexuellen Missbrauchs war bei diesen Personen zweieinhalbmal so hoch und die Rate des körperlichen Missbrauchs fünfmal so hoch wie bei den asymptomatischen Personen. Insgesamt ergab sich eine direkte positive Korrelation zwischen Ausmaß der Dissoziation und körperlicher Misshandlung und akuter psychiatrischer Erkrankung. Spitzer et al. (2001, 2003)
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konnten zeigen, dass 64% von 53 befragten forensisch-psychiatrischen Patienten ein Erlebnis als traumatisch angaben und ein deutlich erhöhtes Maß an dissoziativer Psychopathologie aufwiesen. Zusammenfassend konnte auch hier gezeigt werden, dass die Disssoziationsscores und die dissoziativen Symptome umso höher beziehungsweise ausgeprägter waren je schwerer der Missbrauch und je jünger die Patienten waren, als der Missbrauch begann.
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Erklärungsmodelle von Delinquenz D. Hermann
1.8.1 Einleitung Der Begriff „Kriminalitätstheorie“ wird zwar häufig verwendet, trotzdem ist in einigen Fällen unklar, was darunter zu verstehen ist. Dies liegt unter anderem an der Mehrdeutigkeit des Theoriebegriffs. So können empirisch nicht überprüfte Behauptungen, Klassifikationssysteme, ein Bündel von Definitionen, Axiomen und deduktiv abgeleiteten Aussagen sowie ein Komplex von Hypothesen über Ursachen oder Wirkungen eines Sachverhalts als „Theorie“ bezeichnet werden. Diesem Beitrag liegt der letztgenannte Theoriebegriff zu Grunde. Ein zweiter Faktor, der zur Mehrdeutigkeit des Begriffs „Kriminalitätstheorie“ beiträgt, ist die Unbestimmtheit des Gegenstandsbereiches. Unstrittig ist, dass Kriminalitätstheorien in der Lage sein sollten, kriminelles Verhalten zu erklären, also die Ursachen von Kriminalität zu benennen. Aber auch Theorien, die sich mit dem Prozess der Zuschreibung des Etiketts „kriminell“ befassen, werden als Kriminalitätstheorien bezeichnet. Hier sollen darüber hinaus auch solche Theorien unter den Begriff subsumiert werden, die den Verlauf krimineller Karrieren, die Erklärung von Unterschieden in Kriminalitätsraten von Gemeinden oder Ländern sowie die Veränderung von Kriminalitätsraten zum Gegenstand haben. Kriminalitätstheorien befassen sich somit mit Kriminalität auf der Mikro- und der Makroebene, mit kriminellem Verhalten sowie der Zuschreibung von Kriminalität und berücksichtigen zudem statische und dynamische Aspekte.
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1 Kriminologische Grundlagen
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Erklärungsmodelle von Delinquenz D. Hermann
1.8.1 Einleitung Der Begriff „Kriminalitätstheorie“ wird zwar häufig verwendet, trotzdem ist in einigen Fällen unklar, was darunter zu verstehen ist. Dies liegt unter anderem an der Mehrdeutigkeit des Theoriebegriffs. So können empirisch nicht überprüfte Behauptungen, Klassifikationssysteme, ein Bündel von Definitionen, Axiomen und deduktiv abgeleiteten Aussagen sowie ein Komplex von Hypothesen über Ursachen oder Wirkungen eines Sachverhalts als „Theorie“ bezeichnet werden. Diesem Beitrag liegt der letztgenannte Theoriebegriff zu Grunde. Ein zweiter Faktor, der zur Mehrdeutigkeit des Begriffs „Kriminalitätstheorie“ beiträgt, ist die Unbestimmtheit des Gegenstandsbereiches. Unstrittig ist, dass Kriminalitätstheorien in der Lage sein sollten, kriminelles Verhalten zu erklären, also die Ursachen von Kriminalität zu benennen. Aber auch Theorien, die sich mit dem Prozess der Zuschreibung des Etiketts „kriminell“ befassen, werden als Kriminalitätstheorien bezeichnet. Hier sollen darüber hinaus auch solche Theorien unter den Begriff subsumiert werden, die den Verlauf krimineller Karrieren, die Erklärung von Unterschieden in Kriminalitätsraten von Gemeinden oder Ländern sowie die Veränderung von Kriminalitätsraten zum Gegenstand haben. Kriminalitätstheorien befassen sich somit mit Kriminalität auf der Mikro- und der Makroebene, mit kriminellem Verhalten sowie der Zuschreibung von Kriminalität und berücksichtigen zudem statische und dynamische Aspekte.
1.8 Erklärungsmodelle von Delinquenz
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Historisch gesehen sind Kriminalitätstheorien keine unveränderlichen Konstrukte, sondern Gedankengebäude, die modifiziert wurden und an Komplexität zugenommen haben. In diesem Beitrag bleiben diese Differenzierungsprozesse aus Platzgründen weitgehend unbehandelt; die Kriminalitätstheorien werden in erster Linie idealtypisch und somit auch relativ kompakt beschrieben, zumal differenziertere Übersichten bereits vorliegen, beispielsweise in den Arbeiten von Lamnek (1979, 1994), Camus und Elting (1982), Amelang (1986) und Burke (2001).
1.8.2 Die paradigmatische Verortung von Kriminalitätstheorien Nach Wilson (1971, 1980) kann man zwischen dem normativen und dem interpretativen Paradigma unterscheiden. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden liegt in ihrem Verständnis von zwischenmenschlicher Interaktion. Nach dem normativen Paradigma werden Interaktionen in einem von den Handelnden geteilten System von Symbolen und Bedeutungen vollzogen, d. h., zwischen den Interaktionspartnern gibt es einen kognitiven Konsens über die Bedeutung von Worten, Gesten und Handlungen. Die Bedeutung der Symbole beim interpretativen Paradigma hingegen wird erst während des Interaktionsprozesses geschaffen. Das erstgenannte Paradigma geht von einer objektiven Wirklichkeit aus, beim letztgenannten hingegen ist die Wirklichkeit subjektiv konstituiert (Wilson 1980, S. 56–61, 66 f.). Zwischen den beiden Paradigmen gibt es neben diesem fundamentalen Unterschied hinsichtlich des Wirklichkeitsverständnisses noch eine weitere Diskrepanz bezüglich des Theorieverständnisses. Während im normativen Paradigma Theorien in erster Linie mit dem Ziel entwickelt werden, deduktive Erklärungen zu erbringen, werden Theorien im interpretativen Paradigma vorwiegend dazu verwendet, den Forschern ein interpretatives Schema zur Verfügung zu stellen, das für die Analyse ihres Forschungsproblems nützlich ist (ebd., S. 72). Beide Paradigmen unterscheiden sich demnach grundsätzlich. Die Kompatibilität von Theorien aus verschiedenen Paradigmen ist somit ohne wesentliche Änderungen in den zu verknüpfenden Theorien nicht gegeben. Der Strukturfunktionalismus, die Systemtheorie, die Konflikttheorie, der utilitaristische Ansatz, die Verhaltens- und die Lerntheorie sind soziologische Theorien, die dem normativen Paradigma zugeordnet werden können, während der symbolische Interaktionismus und der phänomenologische Ansatz zum interpretativen Paradigma gehören (Camus u. Elting 1982, S. 53–55, 60 f.; Opp 1986, S. 1). Diese Differenzierung in zwei Paradigmen kann auch auf Kriminalitätstheorien angewendet werden. Die ätiologischen Ansätze wie beispielsweise die Anomietheorie, die Subkulturtheorie, die Lerntheorie, die Kontrolltheorie und die Sozialisationstheorie können dem normativen Paradigma zugeordnet werden, die Labelingtheorie und der ethnomethodologische Ansatz dem interpretativen Paradigma (Camus u. Elting 1982, S. 71).
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1.8.3
Kriminalitätstheorien
1.8.3.1
Die Klassiker
1.8.3.1.1 Utilitaristische Kriminalitätstheorien Die Kriminologie ist als eigenständige Wissenschaft im 18. Jahrhundert entstanden. Am Beginn steht die „klassische Schule“ mit den Hauptvertretern Cesare Beccaria und Jeremy Bentham. Diese Schule nimmt an, dass Personen kriminelle Handlungen nach Abwägung der Vor- und Nachteile aufgrund eines freien Willensentschlusses begehen (vgl. Dölling u. Hermann 2003). Beccaria (1988) und Bentham (1823) gehen von einem utilitaristischen Menschenbild aus: Menschliches Handeln sei bestimmt vom Streben nach Lust und vom Vermeiden von Schmerz. Der Schwerpunkt ihrer Ausführungen liegt allerdings nicht in der Konzeption einer individuellen Kriminalitätstheorie, sondern in Implikationen des beschriebenen Menschenbildes für die Gesellschaft und ihr Strafsystem. Das Ziel müsse sein, durch staatliche Bemühungen das größtmögliche Glück für möglichst viele Gesellschaftsmitglieder zu erreichen. Deshalb sei es gerechtfertigt, Straftaten durch eine Sanktionierung des Täters zu ahnden, denn durch die abschreckende Wirkung der Strafe würden Straftaten verhindert. Gesetze und Strafen tragen somit zu einer Maximierung des kollektiven Wohls bei. Diese Sichtweise unterstellt, dass kriminelle Handlungen insbesondere auf utilitaristischen Abwägungen beruhen. Auch in der von Becker (1993) begründeten ökonomischen Theorie der Kriminalität wird Strafe legitimiert, weil ihre Existenz und Wirksamkeit das Gemeinwohl erhöhe. Dies funktioniere, wenn der Mensch rational handelt, d. h. eine Straftat wird verübt, wenn der Nutzen daraus größer ist als der Nutzen aus alternativen Handlungen. Nach der utilitaristischen Kriminalitätstheorie ist kriminelles Handeln das Ergebnis einer rationalen Entscheidung, bei der Nutzen und Kosten von Handlungsalternativen abgewogen werden. Das Ziel des Handelnden liegt nach diesem Ansatz in der Minimierung der Kosten und der Maximierung des Nutzens. Bei der Auswahl einer Handlungsalternative wird diejenige mit der günstigsten Kosten-Nutzen-Relation gewählt, wobei die Wahrscheinlichkeiten für die Realisierung des erwarteten Gewinns und der erwarteten Kosten berücksichtigt werden. Das Modell, das den Erwartungsnutzen einer Handlung als Differenz zwischen erwartetem Nutzen und erwarteten Kosten bestimmt, die jeweils mit den subjektiven Eintrittwahrscheinlichkeiten gewichtet werden, wird als SEU-Modell („subjective expected utility“) bezeichnet (Lee 1977). Das Modell fragt allerdings nicht nach den Ursachen unterschiedlicher Bewertungen von Kosten und Nutzen (McKenzie u. Tullock 1984). In der neueren ökonomischen Literatur zum Thema sind Verbreiterungen des Ansatzes erkennbar. Es wird postuliert, dass neben utilitaristischen Abwägungen sozial verankerte Entscheidungsebenen relevant sind, insbesondere die möglichen (langfristigen) Konsequenzen einer Straftat für das
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persönliche Sozialkapital (Akerlof 1997; Imai u. Krishna 2001). Erweitert man aber den Ansatz so, dass unter Kosten und Nutzen nicht nur objektive ökonomische Merkmale, sondern auch subjektive Faktoren sozialer oder psychologischer Natur verstanden werden, wird der utilitaristische Ansatz der Verhaltenstheorie sehr ähnlich: Die ökonomische Theorie basiert auf der Vorstellung vom nutzenmaximierenden und kostenminimierenden Individuum, während nach der Verhaltenstheorie jeder Akteur versucht, den Lustgewinn zu maximieren und das Leid zu minimieren (Jeffery 1979, S. 107). Die Erweiterungen beeinträchtigen somit die Originalität dieses Ansatzes und die Trennschärfe von anderen Kriminalitätstheorien.
1.8.3.1.2 Biologische Kriminalitätstheorien Cesare Lombroso (1876) war ein zentraler Vertreter kriminalbiologischer Kriminalitätstheorien. Er war Anhänger der Evolutionstheorie von Darwin und postulierte, dass ein Mensch kriminell wird, wenn er entwicklungsgeschichtlich gesehen nur ein relativ niedriges Niveau erreicht hat. In einem solchen Menschen sei die Neigung zu kriminellem Verhalten biologisch oder seelisch verankert. Nach Lombrosos Ansicht ist bei Kriminellen ein Atavismus, also ein Rückfall in ein frühes Entwicklungsstadium der Menschheit, körperlich erkennbar, beispielsweise durch Henkelohren oder blasse Haut. Lombroso vermutete sogar eine Beziehung zwischen Anomalien bei einzelnen Körpermerkmalen und der Wahrscheinlichkeit, bestimmte Delikte zu verüben. Diebe hätten bewegliche Gesichtszüge und Hände sowie kleine Augen. Sexualtäter seien grazil gebaut, sie hätten ein feines Gesicht und schwülstige Lippen. Brandstifter hätten eine niedrigere Schädelkapazität und seien groß gewachsen, während Vergewaltiger und Fälscher eher kleinwüchsig seien. Ein großer Teil von Lombrosos Studien ist auf die Suche nach Zusammenhängen zwischen biologischem Phänotyp und Kriminalität konzentriert. Problematisch dabei ist die positivistische Vorgehensweise, die persönliche Merkmale mit sanktionierter Kriminalität in Verbindung bringt, ohne die kausale Verbindung zwischen diesen Bereichen zu thematisieren. Zudem besteht die Grundlage seiner Aussagen meist aus Beobachtungen an Inhaftierten und so genannten „Ehrlichen“, wobei Auswahlkriterien und Messproblematik undiskutiert bleiben und Einzelbeobachtungen verallgemeinert werden. Der Ansatz von Lombroso wurde von Ferri (1896) weitergeführt; von ihm stammt der Begriff des „geborenen Verbrechers“. In späteren Veröffentlichungen hat Lombroso seine Theorie freilich dahingehend eingeschränkt, dass nur etwa ein Drittel aller Täter zum Typus des geborenen Verbrechers gehörten (vgl. Gibson 2002). Die Suche nach biologischen Ursachen für Kriminalität wurde in der Zwillings- und Adoptionsforschung fortgesetzt – allerdings nicht auf theoretischer Ebene, sondern empirisch-positivistisch. Dazu wurden bei eineiigen, also erbgleichen, und zweieiigen, also Zwillingen mit partiell unterschiedlichem Erbgut, die Konkordanz- und Diskordanzquoten verglichen. Unter Konkordanz wurde die Straffälligkeit beider Zwillinge, unter Diskor-
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danz die Strafbarkeit von einem Zwilling verstanden. Die Untersuchungen von Lange (1925), Stumpfl (1935) und Kranz (1936) ergaben, wenn man alle Einzelergebnisse zusammenfasst, bei 62 eineiigen Zwillingspaaren eine Konkordanzquote von 66% und bei 79 zweieiigen Zwillingspaaren eine Konkordanzquote von 41%. Hieraus wurde gefolgert, dass die biologische Konstitution eine zentrale Rolle unter den Verbrechensursachen spielt. Eine groß angelegte Studie aus Dänemark, die etwa 6000 zwischen 1881 und 1910 geborene männliche Zwillingspaare berücksichtigte, ergab, dass bei 36% der eineiigen Paare und nur bei 12% der zweieiigen Paare beide Brüder jemals im Strafregister verzeichnet waren (Christiansen 1977). Eine größere Verhaltensübereinstimmung bei genetisch identischen Zwillingen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen fanden auch Gottesman et al. (1983) bei einer Metaanalyse von 14 Studien. Mednick et al. (1987) haben Verhaltenskonkordanzen zwischen adoptierten Söhnen und ihren leiblichen sowie sozialen Vätern verglichen. Die Studie basiert auf nahezu 7000 zwischen 1924 und 1947 in Dänemark durchgeführten Adoptionen; zur Erfassung der Kriminalität der Untersuchten wurden Strafregisterauszüge verwendet. Die Untersuchung erbrachte folgende Ergebnisse: Waren weder leibliche Eltern noch Adoptiveltern kriminell, wurden 14% der Adoptivkinder verurteilt; waren nur die Adoptiveltern, nicht aber die leiblichen Eltern kriminell, lag die entsprechende Rate bei 15%. In der umgekehrten Konstellation – die leiblichen Eltern waren bestraft, die Adoptiveltern nicht – wurden 20% der Adoptivkinder verurteilt. Waren beide Eltern bestraft, lag die Kriminalitätsrate bei den Adoptivkindern bei 25%. Die Ergebnisse würden für einen (schwachen) Zusammenhang zwischen Erbanlagen und registrierter Kriminalität sprechen, wenn die methodischen Probleme der Zwillings- und Adoptionsstudien ausgeräumt werden könnten. Gegen die Zwillingsforschung wurde eingewendet, dass eineiige Zwillinge wegen ihrer Ähnlichkeit oft ähnlich behandelt würden, sodass eine methodische Isolierung genetischer Faktoren nicht möglich sei, und bei Adoptionsstudien kann ein erzieherischer Einfluss der leiblichen Eltern nicht ausgeschlossen werden, zumal die Adoption oft nicht unmittelbar nach der Geburt erfolgte. Studien, die auf unverzerrte Stichproben zurückgreifen können, in denen Vererbungs- und Umweltmerkmale eindeutig getrennt sind und in denen die entsprechenden Merkmale zuverlässig gemessen werden, sind schwer durchzuführen. Zudem gibt es erst Ansätze zu einer biologischen Handlungstheorie, in der die Beziehung zwischen Genom und Verhalten erklärt wird (Dölling u. Hermann 2001). Die biochemische Forschung befasst sich mit dem Einfluss chemischer Substanzen auf Kriminalität. Dabei wurden insbesondere die Wirkungen von Sexualhormonen – hauptsächlich Testosteron – und von Neurotransmittern auf Aggressivität untersucht. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die im Gehirn Signale von einem Neuron zum andern senden und damit Stimmungen und Emotionen beeinflussen. Testosteron führt zumindest in Tierversuchen zu aggressivem Verhalten; Untersuchungen an Gewalttätern haben jedoch keine eindeutigen Ergebnisse erbracht: Zum Teil wurde ein
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schwacher, zum Teil auch gar kein Zusammenhang festgestellt. Ähnlich unsicher sind die Ergebnisse bezüglich der Neurotransmitter. Am sichersten nachgewiesen ist der Einfluss von Serotonin. Personen, die unter einem niedrigen Serotoninspiegel leiden, neigen zu Impulsivität und sind weniger als andere in der Lage, mögliche Folgen ihres Handelns zu reflektieren. Desgleichen sollen sich der Blutzuckerspiegel, der übermäßige Konsum an Nahrungsmittelphosphaten, ein Mangel an Vitamin B3 und der Konsum bestimmter Drogen auf Aggressivität auswirken (s. Burke 2001, S. 67–71). Bei allen diesen Studien wird jedoch lediglich ein Einfluss auf Aggressivität, nicht auf Kriminalität untersucht, sodass sie als Grundlage biologischer Kriminalitätstheorien nur bedingt geeignet sind. Eine biopsychologische Erklärung von Delinquenz liefert die Arbeit von Eysenck (Eysenck 1973, Eysenck u. Gudjonnson 1990). Kriminelles Verhalten ist nach diesem Ansatz bedingt durch die Interaktion zwischen angeborenen Merkmalen und individueller Sozialisation. Nach dieser Theorie ist Kriminalität abhängig von Persönlichkeitsmerkmalen, die ihrerseits eine Folge von Anlage- und Umweltfaktoren sind. Die relevanten Persönlichkeitsmerkmale sind Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus. Der Grad an Extravertiertheit ist nach dem Ansatz von Eysenk abhängig vom Kortex einer Person, Neurotizismus vom limbisch-thalamischen System und Psychotizismus vom Hormonhaushalt.
1.8.3.1.3 Anomietheorien Die bekannteste soziologische Kriminalitätstheorie des normativen Paradigmas ist die Anomietheorie. Allerdings ist sie keine einheitliche Theorie, sondern ein Konglomerat verschiedener Theorien zur Erklärung delinquenten und abweichenden Verhaltens. Diese verwenden zwar alle den Anomiebegriff, jedoch mit unterschiedlichen Inhalten. Die älteste Version der Anomietheorie wurde von Durkheim (1973) im Jahr 1895 veröffentlicht. Er erklärt Unterschiede in Selbstmordraten unter anderem durch anomische Zustände in der Gesellschaft. Darunter versteht Durkheim eine Situation der Regellosigkeit, der gestörten Ordnung und der Normlosigkeit. Als Kriminalitätstheorie ist die Anomietheorie bei Durkheim selbst nur rudimentär entwickelt (Gephart 1990, S. 64–101); er deutet in einer Fußnote an, dass Kriminalität ähnliche Ursachen hat wie der Selbstmord (Durkheim 1973, S. 355; Gephart 1990, S. 91). Ein anomischer Zustand in einer Gesellschaft entsteht durch schnellen sozialen Wandel, insbesondere durch die Bildung neuer Organe und Institutionen mit fehlender kooperativer und normativer gesellschaftlicher Einbindung, und durch eine Zunahme der Arbeitsteilung, wenn dadurch zwischen gesellschaftlichen Gruppen eine Kluft in der Akzeptanz gesellschaftlicher Normen entsteht. Ein solcher Zustand kann zu höheren Selbstmordraten, aber auch zu einem Anstieg der Mord- und Gewaltraten führen (Durkheim 1973, S. 329). Die Anomietheorie von Merton (1957, 1995 a) baut weitgehend auf der von Durkheim auf. Merton verwendet jedoch einen anderen Anomiebegriff.
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Er versteht darunter einen Zusammenbruch der kulturellen Struktur; diese besteht nach seiner Definition aus zwei Komponenten: den gesellschaftlich vorgegebenen Zielen und den legalen Möglichkeiten, diese Ziele zu erreichen. Anomie entsteht insbesondere dann, wenn die tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel, also die soziale Struktur, nicht ausreichen, die gesellschaftlichen Ziele auf legalem Weg zu erreichen. Anomie ist somit Folge eines Ziel-Mittel-Konflikts und wird als Ursache erhöhter Kriminalitätsraten gesehen. Werden die gesellschaftlichen Ziele akzeptiert und sind die legalen Mittel zur Zielerreichung nicht ausreichend, werden bei mangelnder Akzeptanz von Normen illegale Mittel verwendet, um das Ziel zu erreichen. Mangelnde Normakzeptanz ist somit nach Merton mitverantwortlich für hohe Kriminalitätsraten. Bei Merton besteht der Anomiebegriff folglich aus den Komponenten einer fehlenden Normgeltung, der Akzeptanz gesellschaftlicher Ziele und der Unzulänglichkeit legaler Mittel zur Zielerreichung. Durch diese Definition wird der Anomiebegriff von Durkheim um die beiden letztgenannten Aspekte erweitert. In einer späteren Arbeit hat Merton (1967) den von Srole (1956) eingeführten Begriff der „Anomia“ in seinen theoretischen Ansatz integriert und die ursprünglich oft unklare Zuordnung der zu erklärenden Ebene präzisiert. Während sich der Anomiebegriff auf die Makroebene bezieht, bezeichnet Anomia einen individuellen Zustand (Merton 1967, S. 226 f.). Die Erklärungsmodelle für beide Ebenen sind allerdings weitgehend identisch. Das strukturelle Auseinandertreten von gesellschaftlichen Zielen und legalen Mitteln bedingt eine soziale Spannung, die auf gesellschaftlicher Ebene zur Anomie und auf individueller Ebene zu Anomia führt (Albrecht 1981, S. 340) und dadurch erhöhte Kriminalitätsraten und Kriminalitätswahrscheinlichkeiten bedingt. In der Interpretation der Anomietheorie durch Opp (1974) wird delinquentes Verhalten nicht durch eine einzige Ursache, sondern durch einen Ursachenkomplex erklärt, nämlich durch Ziele, Mittel und Normen. In dem Ansatz von Merton sind das die verschiedenen Komponenten des Anomiebegriffes. Ein weiterer Unterschied zu den älteren Versionen der Anomietheorie ist der klare Bezug zur Individualebene. Während das DurkheimModell durch das Ziel, Raten abweichenden Verhaltens zu erklären, auf der gesellschaftlichen Ebene verortet ist und der Ansatz von Merton zusätzlich die individuelle Ebene umfasst, zielt das Erklärungsmodell von Opp ausschließlich auf die Erklärung individuellen abweichenden Verhaltens. Als Determinanten für abweichendes Verhalten nennt Opp (1974, S. 132 f.) die Intensität illegitimer Ziele und Normen, die Intensität legitimer Normen und die Möglichkeiten, die Ziele mit legitimen und mit illegitimen Mitteln zu erreichen. Der individuelle Grad der Geltung legitimer und illegitimer Normen und ihre Umsetzungsmöglichkeiten bei der Erreichung von Zielen sind somit die zentralen Merkmale für die Erklärung abweichenden Verhaltens.
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1.8.3.1.4 Subkulturtheorien Neben den Anomietheorien können die Subkulturtheorien den sozialstrukturellen Kriminalitätstheorien zugeordnet werden. Die ersten Arbeiten sind in der Tradition der Chicago-Schule zu sehen, einer einflussreichen, sozialökologisch und empirisch orientierten Richtung in der amerikanischen Soziologie. Diese Theorien sind vor dem Hintergrund einer besonderen gesellschaftlichen Situation in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Durch mehrere Immigrationswellen und soziale Spannungen waren in größeren Städten ethnische Gruppen und Jugendbanden mit ihren spezifischen Werten und Normen in verschiedenen Stadtteilen verortet und somit räumlich getrennt. In dieser segmentierten Gesellschaft kam es relativ häufig zu Konflikten, sowohl zu manifesten Konfrontationen zwischen den einzelnen Gruppen, Banden und der Polizei als auch zu Kulturkonflikten. In den Theorien wird hinsichtlich der dominanten Kultur ein gesellschaftlicher Konsens unterstellt, während die hierarchisch untergeordneten Teilkulturen nur innerhalb sozial und geografisch lokalisierbarer Bevölkerungsteile von Bedeutung sind. Angesichts der zunehmenden Individualisierung in westlichen Gesellschaften (Beck 1983, 1986; Esser 1991; Hradil 1993) ist heute eine Subkulturtheorie, die eine solche Gesellschaftsstruktur unterstellt und mit dem Anspruch auftritt, Kriminalität zu erklären, in erster Linie von historischem Interesse; zumindest Baacke und Ferchhoff (1995), Buchmann (1989) und Vaskovics (1989, 1995) sehen dies so. Subkulturtheorien haben jedoch in erster Linie deskriptiven Charakter. Die Klassiker wie Thrasher (1966), Cohen (1961, 1962) und Miller (1979) haben vor allem die Frage behandelt, wie delinquente Subkulturen charakterisiert werden können und wie ihre Normen und Werte an neue Mitglieder weitergegeben werden. Die Frage nach dem Ursprung dieser Kulturmuster hingegen blieb unbehandelt (Merton 1995 b, S. 171). Ausgangspunkt der Subkulturtheorien ist eine Diskrepanz zwischen den dominierenden Normen und gesellschaftlichen Zielen der Mittelschicht und den untergeordneten Normen und Zielen der Unterschicht. Vor allem die sozial Benachteiligten in einer Gesellschaft können aufgrund ihrer schichtspezifischen Sozialisation und strukturell eingeschränkten Möglichkeiten die gesellschaftlichen Ziele nicht auf legalem Weg erreichen. Dieses Anpassungsproblem trifft insbesondere Unterschichtjugendliche. Sie können jedoch Statusdefizite durch die Partizipation an Subkulturen kompensieren. Dort werden Normen und Werte vertreten, die in der Unterschicht verbreitet sind, beispielsweise wird die Auseinandersetzung mit der Polizei und dem Gesetz positiv bewertet und Härte, Männlichkeit, Gerissenheit und personale Ungebundenheit werden als erstrebenswerte Eigenschaften und Ziele gesehen (Miller 1979, S. 341–351). Durch die Übernahme dieser Normen und Werte und aufgrund der daraus resultierenden Verhaltensweisen – Cohen (1961) und Kitsuse und Dietrick (1959) beschreiben sie als nichtutilitaristisch, bösartig und die Mittelschichtnormen negierend – ist ein Statuserwerb möglich (Cohen 1961, S. 91). Nimmt man an, dass die
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Aneignung subkultureller Normen und Werte die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns verändert, können diese Subkulturtheorien auch zur Erklärung von Kriminalität verwendet werden. Auf dieses Erklärungsmuster greifen auch Kulturkonflikttheorien zurück; auch sie erklären, ebenso wie Subkulturtheorien, Delinquenz durch die Diskrepanz von Normen und Werten zwischen Gruppierungen. Migranten sind immer mit zwei Kulturkreisen konfrontiert, der Kultur des Heimatlandes und der Kultur des Gastlandes. Sobald sich die Normensysteme der beiden Kulturen widersprechen, entsteht ein Konflikt, der die Wahrscheinlichkeit eines Normbruchs erhöht. Der Ansatz ist wie der Subkulturansatz in der Vorkriegszeit in den USA vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit großen Einwanderungswellen entwickelt worden und ist heute im Rahmen der Diskussion um Ausländerkriminalität von Bedeutung (Kubink 1993).
1.8.3.1.5 Lerntheorien Lerntheorien gehen davon aus, dass abweichendes Verhalten genauso erlernt wird wie konformes Verhalten. Lernen ist dabei umfassend im Sinne des sozialen Lernens zu verstehen, nicht in einer eingeschränkt kognitiven Bedeutung wie im Schullernen. Eine klassische Lerntheorie zur Erklärung kriminellen Handelns ist der Ansatz von Sutherland (1979). Nach dieser Theorie ist Kriminalität die Folge einer entsprechenden Einstellung. Diese und die zur Ausführung delinquenten Handelns notwendige Technik wird aufgrund von Kontakten mit Kriminellen meist in intimen persönlichen Gruppen erlernt – dabei ist das Kennenlernen krimineller Verhaltensmuster besonders wichtig (ebd., S. 396 f.). Durch welche Mechanismen normabweichende Verhaltensmuster übernommen werden, wird in der Theorie von Burgess und Akers (1966) ausgeführt. Dieser zufolge wird kriminelles Verhalten entsprechend den Prinzipien operanter Konditionierung gelernt. Nach diesen Grundsätzen ist die Auftretenswahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens umso größer, je stärker dieses Verhalten in der Vergangenheit belohnt und je weniger es bestraft wurde (Wiswede 1979, S. 196; Amelang 1986, S. 171; Lamnek 1979, S. 195–203). „Lohn“ und „Strafe“ können beispielsweise die Erhöhung des Selbstwertgefühls, Anerkennung durch Freunde, Reichtum beziehungsweise Angst, Kritik, Ablehnung oder eine Freiheitsstrafe sein – ausschlaggebend ist jeweils die subjektive Bewertung des Handelnden. Durch positive Verstärker werden kriminelle Verhaltensmuster erlernt, durch negative Verstärker wird Kriminalität gehemmt. Skinner (1953) geht davon aus, dass insbesondere bei Tieren und Kindern Handlungen nach dem Prinzip von „trial and error“ ausgewählt werden. Die Reaktionen auf eine solche Handlung, also die operante Konditionierung, entscheiden dann, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit es zu einer Wiederholung kommt. Wird ein Kind beispielsweise nach einem Diebstahl nicht sanktioniert, wird es diese Handlung wiederholen. Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie von Bandura (1979 a, b) werden illegale Verhaltensweisen in erster Linie durch Beobachtung erlernt. Bei
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diesem „Lernen am Modell“ spielen Bezugspersonen wie Eltern, Idole, Identifikationsfiguren in Peergroups und Medienvorbilder eine wichtige Rolle. Der Lernprozess ist nach diesem Ansatz aber keine reine Imitation der Handlungen nahe stehender Personen, sondern beinhaltet neben der sozialen auch eine kognitive Komponente, indem eine Bewertung von positiven oder negativen Konsequenzen vorgenommen wird. Folglich ist der Lernprozess nach diesem Ansatz nicht ausschließlich reaktiv geprägt, sondern wird durch Mechanismen der Selbststeuerung beeinflusst, denn der Lernende gestaltet den Lernprozess durch eigene Wertorientierungen und rationale Abwägungen mit; die Handlungen des „Modells“ werden im Hinblick auf eigene Werte und antizipierte Folgen bewertet.
1.8.3.1.6 Sozialisationstheorien Sozialisationstheorien unterscheiden sich von Lerntheorien erstens durch die Berücksichtigung dynamischer Aspekte und zweitens durch die Einbeziehung des Einflusses von Gesellschaft und Kultur auf Individuen. Der Anspruch dieser Theorien ist, sowohl die Integration des Individuums durch die Internalisierung externer Normen und Werte als auch die Aufrechterhaltung von Kulturen und Institutionen zu erklären (Parsons u. Shils 1951). Sozialisation ist nach Parsons die Herausbildung von Autonomie hinsichtlich partikularistischer Normen. Das sozialisationstheoretische Erklärungsmodell für delinquentes Verhalten berücksichtigt auf der mikrosoziologischen Ebene die Bedeutung von Sozialisationsstörungen sowie Sozialisationsdefiziten und auf der makrosoziologischen Ebene den Einfluss von soziökonomischen und kulturellen Merkmalen auf den Sozialisationsverlauf. Die wichtigsten Vertreter einer soziologischen Sozialisationstheorie sind Parsons und Bales (1964). Diese haben durch die Integration von Freuds Entwicklungsmodell der Persönlichkeit in die struktur-funktionale Handlungs- und Gesellschaftstheorie die Grundlage für eine sozialisationstheoretisch orientierte Kriminalitätstheorie geschaffen (Parsons 1968, 1979). Der Schwerpunkt ihres Ansatzes liegt allerdings in der Erklärung konformen Verhaltens. Konformität in einer Gesellschaft setzt ein zumindest partiell gemeinsames Normen- und Wertesystem der Akteure voraus (Parsons 1979, S. 11). Verbindliche Normen und Werte werden durch den Sozialisationsprozess vermittelt, wobei die Strukturen, in denen die Sozialisationsagenten eingebunden sind, berücksichtigt werden müssen (Parsons u. Bales 1964, S. 35). Die Sozialisation kann somit als Mittel zur Durchsetzung kulturell etablierter Erziehungsziele verstanden werden. Delinquentes Verhalten ist nach Ansicht von Parsons – wie jedes soziale Verhalten – normativ orientiert. Es wird im Wesentlichen durch ein Ungleichgewicht zwischen positiven und negativen Sanktionen erklärt (ebd., S. 243). Eine Sozialisation, die zu einem normkonformen Verhaltensrepertoire führen soll, muss demnach auf ein Gleichgewicht zwischen Belohnung, Liebe und Zuwendung einerseits und Reglementierung, Bestrafung und Kontrolle andererseits bedacht sein.
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Der dynamische Aspekt der Sozialisationstheorie wird in dem Ansatz von Kohlberg deutlich, der ein Stufenmodell der Moralentwicklung konzipiert hat (Kohlberg 1958). Durch die Weiterentwicklung des 1932 erstmals veröffentlichten entwicklungspsychologischen Ansatzes von Piaget (1986), der bei Kindern zwei Moralstufen unterschied – eine Zwangsmoral mit einer Handlungsregulierung durch äußere Zwänge und Belohnungen sowie eine kooperative Moral mit dem Kontrollmechanismus der inneren Zustimmung – hat Kohlberg, ein Schüler Piagets, diesen Ansatz differenziert. Kohlberg unterscheidet zwischen drei Stufen mit je zwei Unterstufen (Kohlberg u. Althof 1996, S. 51–53, 128–132). z Bei einer Person auf der Stufe 1 bestimmen die materiellen Folgen einer Handlung, ob sie als gut oder schlecht angesehen wird. Mögliche Folgen für andere Menschen werden in Entscheidungsprozessen nicht berücksichtigt, die Perspektive ist egozentrisch. z Auf der Stufe 2 steht ebenfalls die instrumentelle Befriedigung eigener Bedürfnisse im Vordergrund, wobei auch der Nutzen für andere berücksichtigt wird. Menschliche Beziehungen werden als Handelsgeschäfte angesehen, wobei die Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse im Vordergrund steht, aber Interessenkonflikte durchaus erkannt werden. z Die Berücksichtigung von Interessen und Positionen anderer ist bei Personen, die sich auf der dritten Moralstufe befinden, stärker ausgeprägt als in niedrigeren Stufen, wobei sich diese Perspektive auf Menschen aus dem persönlichen Nahraum beschränkt. Das Ziel ist, diesen Personen zu gefallen und ihre Zustimmung zu finden, also ein „guter Junge“ oder ein „nettes Mädchen“ zu sein. z Für Personen auf Stufe 4 ist die Erfüllung von Pflichten, die von Autoritäten oder von der Gesellschaft verfügt wurden, besonders wichtig, wobei Autoritäten, Regeln und soziale Ordnungen nicht hinterfragt werden. Der Standpunkt des Systems, das Rollen und Regeln festlegt, wird übernommen. z Auf Stufe 5 basiert das Urteil, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist, auf allgemeinen gesellschaftlichen Kernaussagen wie freiheitlich-demokratische Grundordnung, Verfassung oder Sozialvertrag. Das Ziel ist, einen maximalen Nutzen für möglichst viele Gesellschaftsmitglieder zu erzielen. z Personen auf der höchsten Moralstufe treffen ihre Moralurteile aufgrund frei gewählter Grundsätze. Sie orientieren sich an universellen moralischen und ethischen Prinzipien der Gerechtigkeit, insbesondere an den Menschenrechten, am kategorischen Imperativ und an der Achtung vor der Würde des Menschen. Die Moralentwicklung ist nach der Theorie Kohlbergs (Kohlberg 1958; Kohlberg u. Candee 1984; Kohlberg et al. 1983) ein universal auftretender und irreversibler Prozess mit dem Anfangspunkt der präkonventionellen und dem Endpunkt der postkonventionellen Ebene, wobei der Endpunkt aber nicht in allen Fällen erreicht wird. Die erstgenannte Phase ist durch
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eine Orientierung an einzelnen Personen definiert, insbesondere an den Eltern, wobei Gehorsam und Strafe wesentliche Elemente dieser Beziehung sind, während die letztgenannte Stufe eine Orientierung an universellen Normen und Prinzipien voraussetzt. Insgesamt gesehen beschreibt Kohlberg eine individuelle Entwicklung des Gerechtigkeitsdenkens, die Sozialisation von einer partikularistischen zu einer universalistischen Normorientierung. Die Frage nach der Handlungsrelevanz der moralischen Entwicklung konzentriert Kohlberg auf „moralisches Handeln“ (Kohlberg u. Althof 1996, S. 222, 373–493). Dieses ist gleichbedeutend mit dem Widerstand gegen Versuchungen, die aus dem Konflikt zwischen Bedürfnissen und gewissensbedingten Schuldgefühlen resultieren (ebd., S. 377). Moralisches Handeln ist demnach ein Handeln in Situationen, die durch Normen- und Wertekonflikte charakterisiert sind. Im Gegensatz zum Alltagsverständnis bezieht Kohlberg den Moralbegriff immer auf Dilemmasituationen. Nach Kohlberg wird die Überzeugung, dass Menschen für die Folgen ihrer Taten einzustehen haben, mit zunehmender Moralentwicklung evidenter (ebd., S. 419–426). Folglich ist zu erwarten, dass bei Personen auf einer hohen Moralstufe Handlungen, die negative Folgen für andere haben können, nicht realisiert werden. Demnach müsste die Wahrscheinlichkeit kriminellen Handelns – mit der Ausnahme opferloser Delikte – von der Moralentwicklung abhängig sein: Je höher die erreichte Moralstufe einer Person ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns. In vielen sozialisationstheoretischen Arbeiten zur Erklärung kriminellen Handelns wird allerdings ein weniger differenziertes Modell verwendet. Meist wird angenommen, dass die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen von Sozialisationsdefiziten abhängig ist (Camus u. Elting 1982, S. 126 f.). Ein Großteil der Untersuchungen zu diesem Bereich beschäftigt sich mit der Bedeutung struktureller und funktionaler Defizite der Familie und anderer Sozialisationsinstanzen: Je ausgeprägter solche Defizite sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für normabweichendes Verhalten (Wiswede 1979, S. 93–97; Lösel u. Linz 1975; Feger 1969). Nach anderen Sozialisationstheorien sind Sozialisationsstörungen in der Gesellschaft ungleich verteilt, wobei vorwiegend die Unterschicht kriminogene Sozialisationsbelastungen aufweisen soll (Moser 1987, S. 283–313).
1.8.3.1.7 Labelingtheorien und ethnomethodologischer Ansatz Die Theorien des interpretativen Paradigmas können die Definition von Kriminalität nicht vorgeben, denn die Subsumtion einer Handlung in die Kategorie krimineller Handlungen ist Resultat von Interaktionsprozessen und variiert folglich. Die zentrale Fragestellung der Labelingtheorien ist, wie und weshalb innerhalb bestimmter Interaktionsverläufe das Etikett „kriminell“ vergeben wird. Die Klassifikation als kriminelles Verhalten wird als Ergebnis eines gesellschaftlichen Definitions- und Zuschreibungs-
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prozesses gesehen, wobei diese Zuschreibung selektiv vorgenommen wird. Maßgebend für eine Kriminalisierung sind die Stigmata des Betroffenen. Kriminalität ist somit nicht das Ergebnis einer Handlung, sondern Resultat eines Etikettierungsprozesses. Infolgedessen liegt der thematische Schwerpunkt der Theorien des interpretativen Paradigmas in der Beschreibung und Erklärung der Zuschreibung von Kriminalität und nicht der kriminellen Handlung. Kriminalität wird nicht mehr als statische Größe betrachtet, sondern als ein sich fortlaufend bildendes Ergebnis dynamischer Prozesse der sozialen Interaktion (Schur 1974, S. 17). Die Theorien des interpretativen Paradigmas können erstens hinsichtlich der theoretischen Grundlage, zweitens hinsichtlich der Einbeziehung krimineller Handlungen in die Theorie und drittens hinsichtlich der Erklärungsmuster für die Zuschreibung des Etiketts „kriminell“ unterschieden und klassifiziert werden. Die Vertreter der Labelingtheorie, beispielsweise Tannenbaum (1951), Becker (1981) und Lemert (1951, 1974), stehen in der Tradition von Mead und seinem symbolischen Interaktionismus, während die Vertreter des ethnomethodologischen Ansatzes, insbesondere Cicourel (1978, 1995), auf den Arbeiten von Schütz und Husserl aufbauen. Der wesentliche Unterschied zwischen Labelingtheorie und ethnomethodologischem Ansatz liegt in den unterschiedlichen Theorietraditionen. Zudem ist eine Diskrepanz in der Bedeutung ätiologischer Aspekte vorhanden: In der Ethnomethodologie wird die Frage nach den Ursachen delinquenten Verhaltens vollständig ausgeklammert, während sie in der Labelingtheorie eine marginale Rolle spielen kann. Neben Garfinkel (1967, 1978), der sich vor allem mit grundlagentheoretischen Fragen befasst, gilt Cicourel als einer der Hauptvertreter des ethnomethodologischen Ansatzes (Patzelt 1984, S. 124; Camus u. Elting 1982, S. 188). Eine besonders wichtige Arbeit ist die 1968 publizierte empirische Studie über Jugendgerichte, Jugendgerichtshilfe und Bewährungshilfe. Darin versucht Cicourel gemäß dem ethnomethodologischen Forschungskonzept, die Basisregeln der Mitglieder der Kontrollinstanzen aufzuzeigen, die in Interaktionen zu der Etikettierung einer Person als „kriminell“ führen. Die Basisregeln versorgen den Handelnden mit einem „Gefühl“ für die Situation, das ihn befähigt, einer Umwelt von Objekten Bedeutung oder Wichtigkeit zuzumessen (Cicourel 1978, S. 172). Diese Regeln bestehen in dieser Studie vor allem aus Alltagstheorien über den Einfluss von Sozialfaktoren auf delinquentes Verhalten. Die Ermittlung der Sozialisationsbedingungen und Sozialisationsverläufe ermöglicht somit den Kontrollinstanzen eine Typisierung von Personen (Cicourel 1995, S. 241). Ergänzt werden diese Alltagstheorien durch Vorstellungen über Gut und Böse, über Moral und Unmoral, über Unterschicht und Oberschicht (ebd., S. 66, 198). Diese Alltagstheorien der Vertreter der Justiz bestimmen ihre Interpretation von Interaktionen mit Probanden und ermöglichen es, den Bösen und den Unmoralischen auch ohne Kenntnis von Handlungen der bewerteten Person zu erkennen. Die Reaktionen der Kontrollorgane erfolgen, so Cicourel,
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nicht aufgrund von Rechtsbrüchen, sondern aufgrund der durch die Alltagstheorien bedingten selektiven interpretativen Wahrnehmung von Wirklichkeit und aufgrund der Interpretation der zu beurteilenden Handlung und Handlungssituation (Camus u. Elting 1982, S. 195). Im Gegensatz zum ethnomethodologischen Ansatz berücksichtigen die gemäßigten Vertreter der Labelingtheorie, dass es eine Beziehung zwischen kriminellem Handeln einerseits und der Kriminalisierung durch Justiz und Bevölkerung andererseits geben kann. Besonders deutlich wird dies in der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz durch Lemert (1951, 1974). Die beiden Begriffe kennzeichnen verschiedene Stadien bei kriminellen Karrieren. Die primäre Devianz umfasst die ursprünglichen, zu Beginn der Karriere verübten Rechtsverletzungen. Die möglichen strukturellen und individuellen Ursachen für diese Handlungen diskutiert Lemert jedoch nur am Rande (Lemert 1974, S. 433). Werden diese Normübertretungen in den Alltag integriert und als „normale“ Handlung angesehen, hat dies keine negativen Konsequenzen für die Betroffenen (ebd., S 50–53). Erst wenn dieser Prozess der Normalisierung misslingt und soziale Kontrollinstanzen das abweichende Individuum entsprechend etikettieren und dadurch stigmatisieren, beginnt ein Prozess der Übernahme der abweichenden Rolle – das ursprüngliche Selbstbild wird durch das Fremdbild ersetzt. Dies führt zu Verhaltensänderungen, zu sekundärer Devianz (Lemert 1951, S. 77). Demnach ist kriminelles Handeln nicht nur die Folge ätiologischer Faktoren, sondern insbesondere das Ergebnis von Stigmatisierungen und Kriminalisierungen. Eine vergleichbare Position wie Lemert nimmt Becker (1981) ein. Er konstruiert an den Beispielen des Marihuanabenutzers und Tanzmusikers ein Modell für die Entwicklung delinquenten Verhaltens, wobei Delinquenz und Stigmatisierungen in einer Wechselbeziehung stehen. Man braucht nur eine einzige kriminelle Handlung zu begehen, um als Krimineller bezeichnet zu werden und alle damit verbundenen Stigmatisierungen zu erfahren. Durch die justizielle Reaktion auf normverletzendes Verhalten erhält das Individuum einen neuen Status: Es wird als Rauschgiftsüchtiger, Krimineller oder Geistesgestörter abgestempelt und entsprechend behandelt. Dieser Prozess beinhaltet, so Becker (ebd., S. 29 f.), die Zuschreibung von Merkmalen, die als charakteristisch für einen Kriminellen gelten – dazu zählt auch die Wiederholung der Straftat. Eine solche Erwartungshaltung verändert das Verhalten der Personen, die mit dem Stigmatisierten Kontakt haben, und letztlich auch sein Verhalten. Kriminalität ist demnach eine auf das Verhalten von Personen übertragene Eigenschaft und nicht den Personen immanent (Erikson 1966, S. 6). So sind es letztlich die Instanzen sozialer Kontrolle, die durch Zuschreibungsprozesse entscheidend zu kriminellen Karrieren beitragen, indem das von ihnen geschaffene Fremdbild von den Betroffenen allmählich übernommen wird. Eine kriminelle Karriere wird durch den Zuschreibungsprozess zum Akt der „self-fulfilling-prophecy“ (Becker 1981, S. 30–35). Nach Quensel (1970) ist die fehlgeschlagene integrierende Interaktion zwischen Delinquenten und Sanktionsinstanzen verantwortlich für die Entstehung krimineller Karrieren.
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Während viele Labelingtheoretiker und Vertreter des ethnomethodologischen Ansatzes die Mechanismen der Kriminalisierung ausschließlich auf der Individualebene beschreiben, bezieht insbesondere Sack (1972, 1979) die gesellschaftliche Ebene in seine Arbeiten zu Kriminalitätstheorien mit ein. Ausgangspunkt seines Ansatzes ist die Annahme einer ubiquitären Verteilung von Kriminalität. Nahezu alle Menschen sind kriminell, aber nur ein ganz kleiner Prozentsatz der kriminellen Handlungen wird sanktioniert (Sack 1979, S. 463 f.). Die Selektion basiert nicht auf einem Zufallsprozess, sondern auf unterschiedlichen Interpretationen von Handlungen. Eine Handlung liefert ihre eigene Interpretation nicht mit, diese erfolgt extern (ebd., S. 465). Insbesondere die Handlungsabsicht, die für eine justizielle Beurteilung besonders wichtig ist, ist nicht unmittelbar aus der Handlung selbst ableitbar. Das Ergebnis der Interpretation einer Handlung seitens der Strafjustiz ist die Zuschreibung der Etikette „kriminell“ oder „rechtskonform“. Damit kann das Gericht ein neues Merkmal für den Angeklagten erzeugen und ihn in einen Status versetzen, den er vorher nicht hatte (ebd., S. 469). Die Selektion der Sanktionierten und die Aufteilung der Gesellschaft in gesetzestreue und normverletzende Bürger findet zwar auf der Individualebene statt, aber die Mechanismen zur Errichtung dieser Ordnungsprinzipien sind auf der gesellschaftlichen Ebene zu finden. In Anlehnung an einen materialistischen Ansatz versteht Sack Kriminalität als negatives Gut, als genaues Gegenstück zum Privileg, einem positiven Gut (Sack 1972, S. 4; Camus u. Elting 1982, S. 212 f.). Die Verteilung der positiven und negativen Güter in der Gesellschaft geschieht jeweils nach dem gleichen Mechanismus, sie ist das Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und abhängig von Macht (Sack 1979, S. 469 f.). Die gesellschaftlich ungleiche Verteilung negativer Güter führt zu einem erhöhten Sanktionsrisiko der unteren Schichten und von Personen mit strukturellen und funktionalen Defiziten im Elternhaus. Solche Individuen müssen damit rechnen, dass ihr Verhalten von den Trägern der öffentlichen sozialen Kontrolle mit größerer Wahrscheinlichkeit als kriminell definiert wird als das von jemandem, der sich in gleicher Weise verhält, aber einer anderen sozialen Schicht angehört oder aus einem intakten Elternhaus kommt (ebd., S. 472 f.).
1.8.3.1.8 Ökologische Kriminalitätstheorien Ökologische Theorien enthalten Aussagen über Teilbereiche der Gesellschaft, meist über geografisch definierte Einheiten. Dies können Bundesländer, Stadt- oder Landkreise, Gemeinden oder Stadtteile sein; der Schwerpunkt der kriminologisch-ökologischen Forschungen hat Stadtteile zum Gegenstand. Folglich unterscheiden sich ökologische von individualistischen Theorien durch die Untersuchungsebene, also durch den Bezug auf makro- beziehungsweise mikrosoziologische Fragestellungen. Die kriminalsoziologische Richtung der „Chicago School“ befasste sich schon früh mit stadtsoziologischen Fragen wie der Entstehung städtischer Siedlungssysteme, dem Wachstum von Städten und der räumlichen Vertei-
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lung „sozialpathologischer“ Erscheinungen wie Kriminalität und Prostitution (Hamm 1986, S. 278 f.). Der Schwerpunkt der meist empirischen Forschungen war auf Chicago konzentriert, und ein Großteil der Forscher war an der Universität Chicago tätig, daher der Name der Schule. Chicago war bereits in den 1920er Jahren eine Großstadt mit schnellen gesellschaftlichen Veränderungen, einer aufstrebenden Urbanisierung, zahlreichen sozialen Problemen und einer geografisch lokalisierbaren ethnischen Segmentierung. Die Gemeinde war typisch für die großen Städte in den USA und damit ein ideales Forschungsobjekt. Die Forscher der Chicago School betrachteten Gemeinden als Mikrokosmos, in dem individuelles Handeln insbesondere von strukturellen und kulturellen Bedingungen der Umgebung abhängt. Shaw et al. entdeckten schon 1929, dass sich Delinquenz und Kriminalität auf bestimmte geografische Gebiete Chicagos konzentrierten. Sie beschrieben diese Stadtteile als geprägt von baulichem Verfall, Armut und sozialer Desorganisation. Durch Shaw und McKay (1972) wurden die Charakteristika dieser Stadtteile weiter differenziert: weit verbreitete Armut, Vermischung von Wohn-, Industrie- und Gewerbegebieten, hoher Migrantenanteil, hohe Fluktuation der Bewohnerinnen und Bewohner und unzureichende soziale Kontakte (Burgess u. Bogue 1964, S. 595). Allerdings waren für die Autoren nicht die baulichen Zustände der beschriebenen Stadtteile die eigentliche Determinante für Kriminalität, sondern die Zusammensetzung der darin lebenden Bevölkerung. Bauliche Mängel und städtischer Verfall waren nur Merkmale, die einen Einfluss auf die Struktur der Wohnbevölkerung hatten, aber nicht direkt das Handeln dieser Personen bestimmten. Der strukturell-ökologische Aspekt eines Stadtteils wurde als Kriterium für die individuelle Präferenz gesehen, in diesem Stadtteil zu wohnen, wobei angenommen wurde, dass diese Präferenzwahl von Wertorientierungen, dem Verständnis von Familie, der Bedeutung von Freunden und den Beziehungen zu anderen sozialen Gruppen abhängig war. Die Kriminalitätstheorie dieses Ansatzes kann demnach so zusammengefasst werden, dass regional-ökologische Bedingungen einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung haben. Die soziale und kulturelle Verortung einer Person bedingt die Wahrscheinlichkeit, kriminell zu handeln. Stadtteile unterscheiden sich im Anteil sozial und kulturell integrierter Einwohner; folglich unterscheiden sich Stadtteile auch in der Kriminalitätsbelastung. Empirisch gesehen muss somit ein Zusammenhang zwischen der Struktur von Stadtteilen und ihrer Kriminalitätsrate vorliegen. Eine weitere Differenzierung dieses Ansatzes stammt von Stark (1987). Dieser nennt in seiner Theorie der „deviant places“ fünf Aspekte, die Stadtgebiete mit besonders hoher Kriminalitätsbelastung kennzeichnen: eine hohe Bevölkerungsdichte, Armut, gemischte Nutzung als Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete, hohe Fluktuation und bauliche Zerstörung. Die Bewohner solcher Gebiete haben, so der Autor, eine relativ negative Vorstellung von der Moral der anderen und eine erhöhte Motivation für so-
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zial abweichendes Verhalten. Durch eine verminderte soziale Kontrolle in solchen Gebieten gibt es zudem mehr Gelegenheiten für die Ausübung von Kriminalität. In einem Stadtteil, der solche Merkmale aufweist, wird sich langfristig die Bevölkerungsstruktur verändern – und dies führt zu einem Anstieg der Kriminalität in diesem Viertel. Sowohl in den Arbeiten der Chicago School als auch in der Theorie von Stark findet man Parallelen zur „Broken-windows-Theorie“ von Wilson und Kelling (1982); nur wird beim Broken-windows-Ansatz die Kriminalitätsfurcht als zusätzliche intervenierende Variable berücksichtigt. Man kann die Arbeiten der Autoren vordergründig als kriminalpolitisches Plädoyer für eine veränderte Polizeitaktik interpretieren, die als „community policing“ im weitesten Sinne bezeichnet werden kann. Genau betrachtet ist der Ansatz aber eine eigenständige Kriminalitätstheorie (Skogan 1990; Hermann u. Laue 2003). Die zerbrochene Fensterscheibe signalisiert – ähnlich wie verlassene und verfallende Häuser, unentsorgter Müll oder Graffiti – Unordnung in einem Stadtteil („incivilities“ oder „disorder“). Diese perzipierte „Unordnung“ verursacht Furcht unter der Bevölkerung, denn die Zerstörung einer Fensterscheibe zieht die Zerstörung weiterer Scheiben des Gebäudes nach sich; sie signalisiert, dass in einem solchen Stadtteil Rechtsnormen verletzt werden können, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt. Für die Autoren ist die Fensterscheibe nur ein (harmloses) Symbol für die eigentlichen Quellen der Furcht – das sind insbesondere Menschen mit „schlechtem“ Ruf, aufdringlichem oder unberechenbarem Verhalten. Diese Anzeichen von Unordnung verunsichern die Bevölkerung; die Menschen ziehen sich als Reaktion auf das Gefühl der Unsicherheit zurück, und letztlich entsteht Kriminalitätsfurcht. Eine Reaktion auf Unsicherheit und Kriminalitätsfurcht ist der Wegzug aus dem Stadtteil, insbesondere unter den gesellschaftlich integrierten Personen. Zudem wird das Wohngebiet für wenig integrierte Personen interessant. Dadurch verringert sich das Ausmaß an sozialer Kontrolle, und dies führt zu einem weiteren Anstieg von „incivilities“. Die von Wilson und Kelling beschriebene Entwicklung ist somit ein Aufschaukelungsprozess mit den Stufen: „incivilities/disorder“ – Kriminalitätsfurcht – Strukturwandel – Abbau sozialer Kontrolle – Kriminalität – „incivilities/ disorder“. Hermann und Laue (2003) fassen die genannten Arbeiten in folgenden Hypothesen zu einer ökologischen Kriminalitätstheorie zusammen: z Die Strukturbedingungen in einem Stadtteil beeinflussen das Kontrollpotenzial dieses Stadtteils. Je problematischer die Situation in einem Stadtteil ist, beispielsweise die Heterogenität und der Individualisierungsgrad der Bewohner sowie die Wohndichte, desto schwieriger ist dort die Ausübung sozialer Kontrolle. z Je geringer der Grad sozialer Kontrolle in einem Stadtteil ist, desto größer ist die Delinquenzbelastung dieses Stadtteils. z Je höher die Problembelastung und die Kriminalitätsbelastung eines Stadtteils sind, desto ausgeprägter ist das Niveau der Kriminalitätsfurcht
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in diesem Stadtteil und desto schlechter ist die Bewertung der Lebensqualität seitens der Bewohner. z Je höher die Kriminalitätsbelastung sowie die Kriminalitätsfurcht in einem Stadtteil sind und je schlechter die perzipierte Lebensqualität ist, desto größer ist der Anteil der Personen, die diesen Stadtteil verlassen. Unter ihnen sind Personen, die lokal eine soziale Kontrolle ausüben, überrepräsentiert. Dies führt zu einer Reduzierung der Bevölkerungsdichte und zu einer Änderung der Bevölkerungsstruktur. z Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur verändert die Strukturbedingungen und das Kontrollpotenzial in einem Stadtteil. Demnach sind Strukturbedingungen Ursachen für Kriminalitätsbelastung, Kriminalitätsfurcht und Lebensqualität. Diese Merkmale eines Stadtteils bedingen eine Änderung der Bevölkerungsstruktur, und dies führt in einem Rückkopplungsprozess zu einer Veränderung von Strukturbedingungen.
1.8.3.2
Neuere Ansätze
1.8.3.2.1 Kontrolltheorien Die Kontrolltheorie wurde vor allem durch die Arbeit von Hirschi aus dem Jahr 1969 begründet, aber es gab Vorläufer. So postulierte bereits Reiss (1951), dass persönliche Kontrolle in der Kindheit einen größeren Einfluss auf spätere Kriminalität hat als institutionelle Kontrolle. Nye (1958) differenzierte zudem zwischen direkter und indirekter sowie zwischen interner und externer Kontrolle. In allen diesen Ansätzen wird Delinquenz durch fehlende Kontrolle erklärt. Durch Sozialisationsprozesse muss der Mensch lernen, seine Freiheit einzuschränken, auch die Freiheit, nach seinen Wunschvorstellungen zu handeln und Straftaten zu begehen. Nach Hirschi (1969) ist der Erfolg dieses Prozesses von vier Faktoren abhängig, die verschiedene Bindungsformen und die damit verbundenen Kontrollarten repräsentieren: „attachment, commitment, involvement“ und „belief“. „Attachment“ beinhaltet die Bindungen durch emotionale persönliche Beziehungen. Das Objekt der Bindungen ist eine Person oder eine Institution, beispielsweise Eltern, Freunde oder Schule. Unter „commitment“ werden Bindungen an soziale Rollen verstanden, insbesondere alle sozialen Investitionen wie beispielsweise das Erreichen eines beruflichen oder privaten Status, die verloren gehen könnten, wenn Normverstöße bekannt werden. „Involvement“ ist die organisatorische Einbindung in Institutionen und konventionelle Aktivitäten, die erstens mit zeitlichen Restriktionen verbunden sind und dadurch die Möglichkeiten zu delinquenten Handlungen einschränken und zweitens mit kognitiven Restriktionen korrespondieren, sodass die Möglichkeit illegaler Problemlösungen nur in beschränktem Umfang berücksichtigt wird. „Belief“ ist der Glaube an die Verbindlichkeit konventioneller Moralvorstellungen und Glaubensüberzeugungen. Je stärker alle vier Elemente ausgeprägt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, kriminelle Handlungen zu verüben.
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In dem Buch von Gottfredson und Hirschi von 1990 wurde dieser Ansatz zu einer Theorie der Selbstkontrolle erweitert. Ihr Anspruch ist, damit eine allgemeine Kriminalitätstheorie formuliert zu haben, mit der alle Formen von Kriminalität und alle kriminellen Handlungen zu jedem Zeitpunkt des Lebens eines Menschen erklärt werden können (Gottfredson u. Hirschi 1990, S. 117; Lamnek 1994, S. 120). Ausgangspunkt ihres Ansatzes ist die Frage nach dem Wesen und der Natur der Kriminalität, um daraus die Ursachen der Kriminalität abzuleiten (Gottfredson u. Hirschi 1990, S. XV). Die Merkmale krimineller Handlungen werden von ihnen durch die Aufarbeitung von klassischen und von positivistischen Kriminalitätstheorien bestimmt (ebd., S. 47–84). Kriminelle Handlungen können demnach mit geringen kognitiven und manuellen Fähigkeiten durchgeführt werden und versprechen eine sofortige und leicht zu erlangende Belohnung, während das Bestrafungsrisiko tendenziell in „ferner“ Zukunft liegt. Insgesamt gesehen ist also der kurzfristig erzielbare Nutzen durch kriminelle Handlungen relativ hoch, langfristig gesehen haben sie allerdings einen relativ geringen Nutzen oder sogar eine negative Nutzenbilanz (ebd., S. 89–101). Aus dieser Phänomenologie der Kriminalität können ihre Ursachen abgeleitet werden. Ein rational handelnder Mensch wird Kosten und Nutzen von Handlungen abwägen und deshalb in der Regel nicht kriminell handeln. Werden allerdings von einer Person die kurzfristig zu erreichenden Vorteile überbetont und die langfristig anfallenden Kosten kaum berücksichtigt, sind delinquentes Handeln und auch andere Formen abweichenden Verhaltens wahrscheinlicher als bei einer Person mit realistischer Nutzeneinschätzung für delinquentes Handeln (ebd., S. 91–94). Die Fähigkeit, auch langfristige Kostenaspekte in Überlegungen einzubeziehen, wird als „Selbstkontrolle“ bezeichnet. Eine Person mit ausgeprägter Selbstkontrolle ist demnach in der Lage, auf unmittelbare aufwandlose Befriedigung verzichten zu können, wenn sie mit einer gewissen Verzögerung auch negative Effekte mit sich bringt (Lamnek 1994, S. 142). Die Ausbildung der Selbstkontrolle geschieht weitgehend in der Familie und ist auf die ersten sechs bis acht Lebensjahre konzentriert (Gottfredson u. Hirschi 1990, S. 272); danach ist diese Eigenschaft weitgehend invariant. Die Autoren nennen drei Faktoren, die zu einer geringen Fähigkeit der Selbstkontrolle führen: die unzureichende Beaufsichtigung der Kinder, das Nichterkennen von deviantem Verhalten und eine fehlende Bestrafung (ebd., S. 94–100). Von weiterer Bedeutung ist die Vorbildfunktion der Eltern. Demnach gibt es eine Verbindung zwischen der Kontrolle durch Eltern und der Selbstkontrolle ihrer Kinder (ebd., S. 100–102). Insgesamt gesehen ist der Ansatz von Gottfredson und Hirschi eine Verknüpfung der „Rational-choice-Theorie“ mit der Sozialisationstheorie und erklärt kriminelles Handeln vor allem durch die fehlende soziale Kontrolle in der Kindheit, die zu einem Defizit bei der Ausbildung der Selbstkontrolle und damit zu Einschränkungen bei rationalen Entscheidungsfindungen führt. Die Konsequenzen fehlender Selbstkontrolle sind aber nicht auf kri-
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minelles Handeln beschränkt; sie betreffen alle Handlungen mit hohem kurzfristigen Nutzen und hohen langfristigen Kosten. Dazu zählen auch viele gesundheitsschädigende Handlungen wie Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum. Folglich ist diese Theorie nicht nur eine Kriminalitätstheorie, sondern auch eine Theorie zur Erklärung von Handlungen mit einer spezifischen Kosten-Nutzen-Relation. Gottfredson und Hirschi gehen von der Austauschbarkeit dieser Handlungen aus – dies führt zu einer Unschärfe der Theorie, die streng genommen eine empirische Überprüfung erheblich erschwert. Die Hypothese „Je geringer die Selbstkontrolle einer Person ausgeprägt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei einer Handlungsentscheidung nur den kurzfristigen Nutzen, aber nicht langfristige Kostenaspekte berücksichtigt“, ist aufgrund der Unbestimmtheit der Handlungsarten nur an Beispielen zu prüfen – und diese Offenheit in der zu erklärenden Variablen macht eine Falsifikation der Hypothese nur bedingt möglich. Le Blanc (1993, 1997) hat die Kontrolltheorie, die in ihrer ursprünglichen Form von Gottfredson und Hirschi individuelles Verhalten erklärt, zu einem dynamischen Mehrebenenmodell weiterentwickelt, das neben individueller Kriminalität auch Kriminalität auf der gesellschaftlichen Ebene berücksichtigt. Le Blanc (1997, S. 220 f.) unterscheidet dabei die Ebene der kriminellen Handlung an sich, die Ebene krimineller Karrieren als Sequenz von individuellen, einen bestimmten Zeitraum berücksichtigenden Handlungen und die Ebene der Kriminalität als Charakteristika für geografische und soziale Einheiten. Kriminelle Karriereverläufe sind seiner Ansicht nach von Bindungen an Personen, insbesondere an die Eltern, von Bindungen an Institutionen wie Schule, Religion und Arbeitsstelle sowie von Bindungen an die Gesellschaft abhängig. Eine zweite Einflussgröße ist der Sozialisationserfolg, insbesondere die Ausbildung einer allozentrischen Grundhaltung, also der Abbau egozentristischer Orientierungen. Der dritte Faktor umfasst externe und interne Zwänge wie Kontrollstrukturen einerseits sowie Werte und Glaubensüberzeugungen andererseits. Zudem sind kriminelle Karrieren von prosozialen Einflussfaktoren wie der Peergroup abhängig. Zwischen diesen vier Merkmalsbereichen postuliert Le Blanc wechselseitige, zeitlich versetzte Abhängigkeiten, wobei die Bindungen, der Sozialisationserfolg und die Wahl der Peergroup von sozialen und biologischen Ressourcen abhängig sind (Le Blanc 1997, S. 228–238). Unterschiedliche Kriminalitätsraten zwischen Gesellschaften und die Veränderung von Kriminalitätsraten in einer Gesellschaft erklärt Le Blanc (ebd., S. 238–246) durch Variationen in Gelegenheitsstrukturen für delinquente Aktivitäten in den Gesellschaften. Dazu gehört beispielsweise die Existenz von Schwarzmärkten. Ein weiterer erklärender Faktor ist das Ausmaß der direkten Kontrolle in einer Gesellschaft durch die Polizei, aber auch durch soziale Einrichtungen und Schulen. Die soziale und die kulturelle Situation in einer Gesellschaft, insbesondere der Grad sozialer Integration, die gesellschaftliche Differenzierung in Subkulturen, Kulturkonflikte
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und Anomie im Sinne Mertons sind weitere Determinanten der Delinquenz auf gesellschaftlicher Ebene. Zwischen diesen Determinanten gesellschaftlicher Kriminalität werden interdependente Beziehungen unterstellt, wobei alle Determinanten, bis auf das Ausmaß der direkten Kontrolle in der Gesellschaft, von sozialstrukturellen und demografischen Rahmenbedingungen abhängig sind. Darunter versteht Le Blanc insbesondere die sozioökonomische Lage einer Gesellschaft, aber auch den Urbanisierungsgrad, die Bevölkerungsstruktur, die Bevölkerungsdichte und das Bevölkerungswachstum. Kriminelle Handlungen an sich erklärt Le Blanc (ebd., S. 246–252) durch das Ausmaß an vorhandenen Gelegenheiten zu delinquenten Handlungen, durch den Lebensstil des Handelnden, durch die Ausprägung seiner Fähigkeit zur Selbstkontrolle und durch den Grad der situativen Fremdkontrolle. Diese vier Faktoren beeinflussen sich nach Ansicht von Le Blanc wechselseitig und sind zudem vom Grad der persönlichen und institutionellen Kontrolle des Handelnden abhängig. Auch wenn die Abgrenzung der Merkmalbereiche in den Erklärungsmodellen nicht immer eindeutig erscheint, kann dieser Theorieentwurf so interpretiert werden, dass auf allen Ebenen strukturelle Bedingungen über Kulturmerkmale als intervenierende Variablen delinquentes Handeln beeinflussen, wobei für die Determinanten von Delinquenz sowohl innerhalb als auch zwischen den Ebenen Interdependenzen angenommen werden. Eine weitere Differenzierung der allgemeinen Kriminalitätstheorie von Gottfredson und Hirschi stammt von Sampson, Laub und Nagin (Sampson u. Laub 1990, 1993, 1997; Laub et al. 1998). Diese postulieren ein Kausalmodell, nach dem der strukturelle Hintergrund einer Person – insbesondere die soziale Schicht und die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe – den Umfang der sozialen Kontrolle und somit der Bindungen an Personen und Instanzen bedingen. Dabei ist die Relevanz von sozialen Kontrollpersonen und -instanzen – Eltern, Schule, Freundeskreis, Beruf, Polizei und Justiz – von den Phasen des Sozialisationsprozesses abhängig. Für kriminelles Handeln sind Kontrolle und Bindung in Kindheit und Jugend entscheidend. Eine schwache Bindung und eine geringe Kontrolle seitens der Eltern und gesellschaftlicher Einrichtungen korrespondieren mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns, ebenso eine starke Bindung an delinquente Peers. Nach Sampson et al. ist der Verlauf krimineller Karrieren aber nicht durch die Kindheit unabänderlich festgelegt. In ihrer „developmental theory“ gehen sie davon aus, dass wichtige Lebensereignisse die Entwicklungslinien des Lebenslaufs beeinflussen können. Mögliche Wendepunkte im Karriereverlauf und Übergänge im Lebensverlauf sind beispielsweise die Gründung einer eigenen Familie, der Eintritt in die berufliche Phase, Scheidung oder Verlust der Arbeitsstelle. Während Gottfredson und Hirschi die Art und Intensität der sozialen Bindungen in Kindheit und Jugend für die Ausbildung krimineller Karrieren betonen, berücksichtigen Sampson, Laub und Nagin auch aktuelle soziale Bindungen. Zudem grenzen sie sich
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durch die Einbeziehung situativer Elemente für die Erklärung des Karriereverlaufs vom klassischen kontrolltheoretischen Ansatz ab. Kontrolle und soziale Bindungen verändern sich nach diesem Karrieremodell in Abhängigkeit vom Alter und beeinflussen auf diese Art und Weise den Lebensverlauf, zudem können deutliche Veränderungen der Situation den Lebensverlauf verändern. Ein weiteres Theorieelement, das Sampson et al. verwenden, ist die Annahme einer zunehmenden Sanktionsschwere seitens der Justiz bei wiederholten Rechtsverletzungen. Ein solcher Eskalationsprozess bei wiederholten Normverstößen ist auch im Bereich der Familie, des Freundeskreises und anderer sozialer Gruppen zu beobachten und führt letztlich zu kumulativer Benachteiligung und zu einer Verlagerung von sozialen Bindungen. Thornberrys interaktionales Modell (1987, 1996) ist ebenfalls eine Weiterentwicklung der Kontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990). Es wird als „interactional theory“ bezeichnet und berücksichtigt zusätzlich lerntheoretische Postulate. Eine Grundannahme des Modells ist, dass menschliches Verhalten, also auch kriminelles Verhalten, in sozialen Interaktionen geschieht, wobei die Interaktionspartner des Handelnden nicht nur Einzelpersonen sein können, sondern auch Zusammenschlüsse von Personen. Die für die Entstehung kriminellen Handelns wichtigsten Interaktionspartner sind Eltern, Schule und Peergroups, in bestimmten Altersgruppen auch die eigene Familie, die Arbeitsstelle und gesellschaftliche Institutionen. Die Bindungen an diese Interaktionspartner sind entscheidend für die Wertorientierungen des Handelnden, und umgekehrt ist die Bindung an andere von den Werten des Handelnden abhängig. Werte und Bindungen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, kriminell zu handeln, und die Ausübung krimineller Handlungen verändert Werte und Bindungen. Thornberry postuliert nicht nur eine zeitliche Veränderung von Modellvariablen, sondern auch eine Veränderung von Kausalstrukturen. Er verwendet insgesamt drei verschiedene Kausalmodelle für die unterschiedlichen Phasen der Adoleszenz. Die Veränderung von Lebensumständen in diesen zeitlichen Abschnitten bedingt, dass jeweils andere Merkmale für die Erklärung kriminellen Handelns relevant werden. Zu Beginn der Adoleszenz ist insbesondere das Risiko, in einer defekten Familie aufzuwachsen, eine entscheidende Weichenstellung für spätere Delinquenz. Dieses Risiko ist von der sozialen Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, dem Geschlecht und der Wohngegend abhängig. In späteren Phasen sind andere Faktoren von Bedeutung, insbesondere schlechte Schulleistungen, Integration in delinquente Peergroups und die Entwicklung schwacher Bindungen an die Gesellschaft.
1.8.3.2.2 Konstruktivistische Kriminalitätstheorie von Hess und Scheerer Hess und Scheerer (1997, 2003) verstehen ihre Arbeit als Entwurf einer allgemeinen, als Konzeption einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, die sowohl die Mikro- als auch die Makroebene der Kriminalität berück-
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sichtigt. Auf der Makroebene werden die Mechanismen der Normgenese, die Organisation von Kontrollinstanzen und die Darstellung formell definierter Kriminalität durch Kriminalstatistiken thematisiert. Die Hypothesen zur Mikroebene beziehen sich auf kriminelles Handeln und Interaktionen mit Kontrollinstanzen. Für die Erklärung der Entstehung von Normen in einer Gesellschaft verwenden die Autoren einen herrschaftstheoretischen Ansatz. Widersprüche in der sozialen Ordnung und Konflikte zwischen Herrschenden und Beherrschten führen zu Interessengegensätzen und zu Gefährdungen der sozialen Ordnung. Diesen Problemen wird mit Kontrollmaßnahmen, insbesondere dem Strafrecht, begegnet. Soziale Kontrolle hat die Funktionen, die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten und die partikularen Interessen von Herrschenden zu schützen (Hess u. Scheerer 1997, S. 96–102). Für die Erklärung krimineller Handlungen und Interaktionen mit Kontrollorganen greifen die Autoren auf ein Karrieremodell zurück, in das psychologische Motivationstheorien, die Anomietheorie, lerntheoretische und kontrolltheoretische Ansätze, utilitaristische Kriminalitätstheorien und Labelingtheorien einfließen. In diesem Ansatz ist Kriminalität somit kein Konstrukt wie in radikalen labelingtheoretischen Ansätzen, sondern etwas real Existierendes, das Ursachen in der Person und der Umgebung hat. Eine Person, so wird postuliert, hat Handlungsmotive und setzt diese aufgrund der Einschätzung von subjektiven und objektiven Möglichkeiten in die Tat um. Sie handelt kriminell, wenn erstens entsprechende Motive vorliegen, zweitens die Einschätzung einer Realisierung günstig ausfällt und drittens soziale Kontrollmaßnahmen neutralisiert werden können. Nach einer Entdeckung durch Kontrollaktionen folgt eine Etikettierung als Krimineller – mit entsprechenden Konsequenzen für die Entwicklung krimineller Karrieren (ebd., S. 95 u. 106–122). Mikro- und Makroebene stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Die Makroebene, also die soziale Ordnung einer Gesellschaft und ihr Normenkatalog, hat einen Einfluss auf die Situationsdefinition des Individuums und somit auf die Mikroebene. Zudem tangiert die Mikroebene die Makroebene: Erstens führen Kriminalität und Interaktionen mit Kontrollinstanzen zu spezifischen Organisationsformen der Kontrollorgane, zweitens erzeugt die Darstellung der formell registrierten Kriminalität in Statistiken und Medien Alltagsvorstellungen über Kriminalität, die zur Stabilisierung der sozialen Ordnung beitragen. Insgesamt gesehen ist dieser Ansatz ein Versuch, die Beschränkungen vieler Kriminalitätstheorien zu überwinden. Insbesondere durch die Berücksichtigung von Mikro- und Makroebene sowie statischer und dynamischer Aspekte hebt sich dieser Ansatz von vielen Kriminalitätstheorien ab.
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1.8.3.2.3 Feministische Kriminalitätstheorien Ein großer Teil der feministischen Kriminalitätstheorien ist als Weiterentwicklung labelingtheoretischer, kritisch-marxistischer, rollentheoretischer und sozialisationstheoretischer Ansätze entstanden. Eine eindeutige Zuordnung für alle feministischen Kriminalitätstheorien zu einem einzigen Paradigma ist demnach nicht möglich. In den Untersuchungen und Theorien wird insbesondere eine Antwort auf die Frage gesucht, wie die qualitativen und quantitativen geschlechtsspezifischen Unterschiede in Kriminalität und im Kriminalisierungsumfang zu erklären sind. Wissenschaftshistorisch gesehen waren die Untersuchungen bis Ende der 80er Jahre als kritische Auseinandersetzungen mit ätiologischen und labelingtheoretischen Ansätzen konzipiert. In den 90er Jahren wurde versucht, feministische Ansätze mit der kritischen Kriminologie zu verknüpfen (Mischau 1997, S. 179 f.). Die Kritik der meisten feministisch-kriminologischen Ansätze war auf die Nichtberücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede oder auf die Reduzierung des Geschlechts auf ein rein biologisches Merkmal für die Erklärung kriminellen Handelns konzentriert. Die feministisch-ätiologischen Ansätze für die Erklärung der geringeren Kriminalitätsbelastung von Frauen im Hell- und Dunkelfeld können meist auf ein Modell der geschlechtsspezifischen Sozialisation zurückgeführt werden. Demnach haben Frauen und Männer unterschiedliche Rollen und greifen bei der Lösung von Konflikten auf unterschiedliche Lösungsmuster zurück. Die Sozialisationsziele für Frauen stehen in engem Zusammenhang mit gesellschaftlich normierten Verhaltenserwartungen, die der Rolle der Frau inhärent sind. Dies führt, so diese Ansätze, zu einer geschlechtsspezifischen Übernahme typisierter Rollen- und Verhaltensmuster, zu Unterschieden in der sozialen Kontrolle und damit verbunden auch zu Unterschieden in der Gelegenheitsstruktur für die Ausführung delinquenter Handlungen (Hagan et al. 1979; Schmölzer 1995; Funken 1989). Nach einer Untersuchung von Hermann (2003 b) fördert eine geschlechtsspezifische Sozialisation die Ausbildung unterschiedlicher Werte, sodass Frauen im Vergleich zu Männern ausgeprägtere moderne idealistische Werte haben – dazu zählen ökologische, altruistische und sozialintegrative Orientierungen. Je bedeutsamer diese Wertorientierung ist, desto größer ist die Akzeptanz von Rechtsnormen, die Gewalt ablehnen, und je größer die Normakzeptanz einer Person ist, desto seltener verübt sie Gewaltdelikte. Nach diesem Ansatz sind somit Wertorientierungen das Bindeglied zwischen dem biologischen Merkmal „Geschlecht“ und kriminellem Handeln. Die labelingtheoretischen Ansätze und ihre Vorläufer, die eine Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der gesellschaftlichen Reaktion auf Kriminalität anbieten, postulieren einen Einfluss des Geschlechts des Täters auf das Anzeigeverhalten der Bevölkerung und auf die Behandlung durch Polizei und Justiz. Hinsichtlich der Strafzumessung wurde in Abhängigkeit von den betrachteten Delikten sowohl ein Frauenbonus als auch ein -malus
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postuliert und empirisch belegt (Pollack 1950; Geißler u. Marißen 1988; Oberlies 1990). In den Ansätzen, die auf der kritischen Kriminologie basieren, wurde im Vergleich zu den oben beschriebenen Arbeiten die Fragestellung modifiziert. Nicht mehr die Ursachen der geschlechtsspezifischen Unterschiede in Kriminalität und Kriminalisierung, sondern die Untersuchungen über das scheinbar naturwüchsige Geschlechterverhältnis und über die Geschlechterhierarchie als fundamentales Ordnungsprinzip der Gesellschaft stehen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Das Ziel ist, den Konstruktionscharakter des Geschlechterverhältnisses zu „entlarven“ und den Einfluss patriarchaler und ökonomischer Strukturen auf die kulturelle Konstruktion des Geschlechterverhältnisses aufzuzeigen (Althoff u. Kappel 1995, S. 3 f.; Kappel 1995, S. 66–72). Zudem enthalten diese Ansätze insbesondere durch den Versuch, die fehlende Objektivität und die Interessengebundenheit empirisch-analytischer Forschungen nachzuweisen, gesellschafts- und ideologiekritische Aspekte (Smaus 1990, 1993; Gransee u. Stammermann 1991, 1992; Althoff u. Leppelt 1991; Chesney-Lind 1989). Die gesellschaftliche Konstruktion des Geschlechterverhältnisses wird von den genannten Autorinnen unterschiedlich erklärt. Smaus (1990, 1993) interpretiert in ihren Arbeiten die „Arbeitsteilung“ zwischen formeller und informeller sozialer Kontrolle als funktional für die Erhaltung der patriarchalen Herrschaft und Aufrechterhaltung des Status quo der Geschlechterverhältnisse. Gransee und Stammermann (1991, 1992) hingegen betonen vor allem die Rolle der Strafjustiz bei der Konstruktion allgemeiner Vorstellungen von geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich Normalität und Abweichung. Die Darstellungen von Kriminalität in den Medien sind ihrer Ansicht nach ein weiterer Faktor, der Vorstellungen über Normalität und Abweichung von Frauen und Männern und somit Bilder von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ beeinflusst – Bilder und Vorstellungen, die zu einer Stabilisierung und Rechtfertigung des hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnisses beitragen. Kriminalität und Kriminalitätskontrolle werden als Ausdruck patriarchalischer Herrschaft gesehen. In allen genannten Studien wurde versucht, ätiologische, labelingtheoretische und kritisch-kriminologische Ansätze systemimmanent weiterzuentwickeln oder sie für feministische Fragestellungen zu verwerten. Einen anderen Ansatz hat Mischau (1997, 1999) gewählt; sie hat versucht, eine feministische Kriminalitätstheorie auf der Grundlage allgemeiner feministischer Theorien zu konzipieren. Die analytische Grundlage wird durch die zentralen Elemente feministischer Theorien gebildet, den Begriff des „Patriarchats“ und der „sozialen Konstruktion von Geschlecht“. Die zentrale Frage betrifft die Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede in Kriminalität und Kriminalisierung. Das Patriarchat wird als Phänomen auf gesellschaftlicher Ebene gesehen, das, ebenso wie kapitalistische und rassistische Strukturen, soziale Ungleichheit erzeugt. Das soziale Geschlecht, also das kulturell hergestellte Geschlechterverhältnis, ist ein Ergebnis patriarchaler Strukturen in der Gesellschaft. Das soziale Geschlecht bildet nicht nur die
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Grundlage von Identitätsbildungsprozessen, sondern ist auch die Basis von individuellem sozialen Handeln. Dies gilt sowohl für das kriminelle und kriminalisierte Verhalten von Personen als auch für das kriminalisierende Handeln von Kontrollinstanzen. Damit handelt eine Person in Abhängigkeit von ihrer Zugehörigkeit zu einem sozialen Geschlecht, und zudem ist die Bewertung ihrer Handlungen als konform oder abweichend von der Zuordnung des Handelnden durch Dritte zu einer Geschlechtskategorie abhängig. Der Prozess der Konstruktion einer Kriminalitätswirklichkeit wird somit überlagert von dem Prozess der Herstellung einer zweigeschlechtlichen Wirklichkeit. Zwischen den betrachteten Ebenen werden Rückkopplungsprozesse angenommen: Einerseits sind patriarchale Strukturen in der Gesellschaft verantwortlich für die Ausbildung des sozialen Geschlechts als kulturelles Merkmal der Gesellschaft, wobei durch die Zugehörigkeit einer Person zu einem sozialen Geschlecht deren delinquentes Handeln sowie die Klassifizierung ihres Handelns als kriminell oder nichtkriminell beeinflusst wird. Andererseits werden die patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft und ihren Institutionen durch geschlechtsspezifische Unterschiede in Kriminalität und Kriminalisierung sowie durch geschlechterabhängige Kontrollmechanismen stabilisiert. Insgesamt gesehen können die zentralen Begriffe dieses Ansatzes drei verschiedenen Merkmalebenen zugeordnet werden: erstens der strukturellen Ebene, der patriarchale Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft zugeordnet sind, zweitens einer Ebene gesellschaftlicher Rollenvorstellungen mit dem Merkmal soziales Geschlecht und drittens einer Ebene mit Verhaltens- und Zuschreibungsmerkmalen. Die erste Ebene beeinflusst über die zweite Ebene den dritten Merkmalbereich, wobei ein Rückkopplungseffekt zu Ebene eins angenommen wird. Die Autorin betrachtet dieses Modell als einen ersten Schritt zu einer noch zu entwickelnden feministischen Kriminalitätstheorie.
1.8.3.2.4 Haferkamps handlungstheoretischer Ansatz Hans Haferkamp hat in seinem handlungstheoretischen Ansatz das Ziel, eine Theorie kriminellen Handelns, eine Theorie zur Erklärung des Kriminalitätswandels, eine Theorie der gesellschaftlichen Kontrolle von Kriminalität und eine Theorie der Normgenese zu entwerfen (Haferkamp 1974, 1975, 1977, 1980, 1987; Heiland u. Boy 1989). Ein zentraler Begriff in seinem Ansatz zur Erklärung krimineller Handlungen ist die „Mängellage“ (Sack 1977, S. 256). Jede soziale Handlung resultiert nach der Ansicht von Haferkamp in erster Linie aus der Verarbeitung von Mangelsituationen (Haferkamp 1974, S. 53; Heiland u. Boy 1989, S. 2). Das Ziel des Handelnden ist zuallererst seine Existenzsicherung und erst danach wird der Ausgleich relativer Mangelsituationen angestrebt (Haferkamp 1977, S. 265 f.; Heiland u. Boy 1989, S. 4 f.). Psychische, soziale und ökonomische Mängellagen können aber die Realisierung dieser Ziele behindern (Haferkamp
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1975, S. 41–49), denn dadurch werden die dem Handelnden potenziell zugänglichen Mittel und somit seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die konkrete Handlungswahl wird mit Hilfe einer „Selektionsregel“ getroffen, das sind insbesondere die Werte des Handelnden (Haferkamp 1987, S. 419, 422). Die handlungsrelevanten Faktoren für die kriminelle Handlung sind demnach vor allem die Ziele, Mittel, Werte und Mängellagen des Handelnden. Der Ausgangspunkt Haferkamps ist die Annahme eines prinzipiellen Voluntarismus der Handelnden (Lamnek 1994, S. 81), wobei die Handlungsmöglichkeiten durch strukturelle Zwänge eingeengt werden. Nach Haferkamp ist die soziale Mängellage der Akteure oder von deren Eltern auch der Ausgangspunkt für kriminelle Karrieren, wobei sich diese Benachteiligung auf mehrere Ebenen wie Politik, Ökonomie, Kultur und Sozialisation erstrecken kann. Eine ausgeprägte Mängellage bedingt erste abweichende Handlungen, die aber erst durch stigmatisierende Reaktionen von Dritten zu einer Verfestigung abweichender Verhaltensmuster führen. Haferkamp verknüpft somit in seinem Ansatz handlungs- und labelingtheoretische Aspekte. Für die Konstruktion einer Theorie der Entstehung von Normen verwendet Haferkamp zusätzlich herrschaftssoziologische Theorieelemente. Ausgangspunkt des Normsetzungsprozesses sind Mängellagen auf gesellschaftlicher Ebene, die aus der Sicht von Interessengruppen überwunden werden sollen. Macht und Herrschaft der bei der Normsetzung beteiligten Gruppen entscheiden in einem Aushandlungsprozess über das Ergebnis der Normsetzung und über die Kontrolle der Normeinhaltung (Lamnek 1994, S. 103 f.).
1.8.3.2.5 Voluntaristische Kriminalitätstheorie Die meisten Kriminalitätstheorien wurden speziell für die Erklärung eines bestimmten Phänomens entwickelt, das zur Zeit der Theorieentwicklung evident war. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die gesellschaftliche Situation in den Vereinigten Staaten von deutlichen Schichtunterschieden und ethnischen Konflikten geprägt (Adler et. al. 1991, S. 135 f.). Folglich stand die Erklärung schichtspezifischer Unterschiede in der Delinquenzbelastung im Zentrum vieler Kriminalitätstheorien, so in der Anomietheorie von Merton, in den subkulturtheoretischen und sozialökologischen Ansätzen der Chicago-Schule und in Sozialisationstheorien; auch in labelingtheoretischen Ansätzen wurde versucht, eine höhere Kriminalisierungswahrscheinlichkeit unterer Schichten zu belegen (Merton 1995 a; Miller 1979; s. auch Sack 1979, 1977). Heute findet man in westlichen Gesellschaften kaum noch einen nennenswerten Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und kriminellem Handeln und bei bestimmten Delikten sogar eine Überrepräsentation höherer Schichten (Tittle et al. 1978; Albrecht u. Howe 1992; Kerschke-Risch 1993, S. 108) – zumindest bei solchen Delikten, die üblicherweise in Dunkelfeldstudien berücksichtigt werden. Folglich basieren
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einige Kriminalitätstheorien auf nicht mehr aktuellen empirischen Beziehungen. Zudem sind die meisten Ansätze in ihrer Fragestellung begrenzt; relevante Fragen wie die Erklärungen von individuellen kriminellen Karrieren, Kriminalitätsraten und die Veränderung von Kriminalitätsraten werden oft nicht berücksichtigt. Die voluntaristische Kriminalitätstheorie ist ein Ansatz, der Mikro- und Makroebene, statische und dynamische Aspekte von Kriminalität sowie Handlungs- und Zuschreibungsebene berücksichtigen will (Hermann 2003 a). Dieser umfassende Anspruch kann nur erfüllt werden, wenn der Ansatz auf einer breiten theoretischen Basis steht. Für die voluntaristische Kriminalitätstheorie wurden dazu die Handlungs- und Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons sowie verwandte Ansätze verwendet (Parsons 1967, 1972). Nach handlungstheoretischen Annahmen wird der Mensch in Anlehnung an Hurrelmann (1983) als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt gesehen, das in eine komplexe Umwelt eingebunden ist. Zur Reduzierung der Komplexität, zur Verarbeitung der Informationen und zur Auswahl von subjektiv Wichtigem werden Stereotype sowie Normen und Werte verwendet – das sind Faktoren, die von der strukturellen Verortung des Handelnden abhängig sind. Diese „Filter“ beeinflussen nicht nur das Ergebnis der Informationsverarbeitung, sondern sind auch Selektionsfaktoren für die Auswahl von Handlungszielen und von Mitteln zur Zielerreichung. Aus der Vielfalt wahrgenommener Ziele und Mittel muss vor jeder Handlung eine Auswahl getroffen werden. Durch Werte können wichtige von unwichtigen Handlungszielen unterschieden und durch Normen können akzeptierte von nichtakzeptierten Handlungsmitteln abgegrenzt werden. Jede Handlung ist das Ergebnis sowohl der Wahrnehmung der Situation als auch der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln (Hermann 2003 a, 2004). In dem Ansatz wird die Gesellschaft als Menge von Systemen und Subsystemen verstanden, die sich gegenseitig beeinflussen. Dies bedeutet, dass die Normen, Werte und Glaubensüberzeugungen von Individuen und von Umgebungssystemen wie Gesellschaft, Institutionen, Subkulturen und Peergroups in einem Interdependenzverhältnis stehen (Hermann 2003, S. 52). Eine Anwendung dieser allgemeinen Postulate auf Kriminalität und eine empirische Überprüfung führen zu der voluntaristischen Kriminalitätstheorie, die hier nur in ihren Kernaussagen dargestellt werden kann (ausführlich s. Hermann 2003 a). Für die Erklärung kriminellen Handelns sind Wertorientierungen von zentraler Bedeutung. Sie sind von Strukturmerkmalen wie Alter und Bildung abhängig und beeinflussen über die Normakzeptanz des Individuums seine Kriminalität. Dabei sind insbesondere zwei Wertedimensionen von Bedeutung: die Dimension der traditionellen Werte – das ist die Orientierung an einer normenbezogenen Leistungsethik, der christlichen Religion und einem konservativen Konformismus – und die Dimension der modernen materialistischen Werte – das ist die Orientierung an subkulturellen materialistischen sowie hedonistischen Zielen. Im Einzelnen gilt:
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z Je ausgeprägter die Akzeptanz von Rechtsnormen ist, desto geringer sind die Delinquenzbelastung einer Person und die Bereitschaft, delinquent zu handeln. z Je ausgeprägter die Orientierung an traditionellen Werten ist, desto höher ist die Normakzeptanz. z Je ausgeprägter die Orientierung an modernen materialistischen Werten ist, desto geringer ist die Normakzeptanz. z Je älter eine Person ist, desto ausgeprägter ist die Orientierung an traditionellen Werten. z Je älter eine Person ist, desto geringer ist die Orientierung an modernen materialistischen Werten. z Je höher der erreichte Bildungsstatus einer Person ist, desto geringer ist die Orientierung an traditionellen Werten. Die mikrosoziologisch formulierten Hypothesen können auch auf die Makroebene übertragen werden, und bisherige empirische Analysen führten auf beiden Ebenen zu keiner Falsifikation. Nach der voluntaristischen Kriminalitätstheorie ist die Kriminalitätsrate einer Gesellschaft vom Niveau der Normgeltung abhängig, und dieses wird sowohl von traditionellen als auch von modern-materialistischen gesellschaftlichen Werten beeinflusst. Gesellschaftliche Werte sind von Strukturmerkmalen, insbesondere vom Grad der Anomie, der sozialen Desorganisation, dem Urbanisierungsgrad und dem Ausmaß ethnischer Inhomogenität abhängig. Sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene sind Normen und Werte die zentralen intervenierenden Variablen. Sie stellen zudem eine Verbindung zwischen den genannten Ebenen her, denn die Normen und Werte eines Individuums stehen nach diesem Ansatz in einem Interdependenzverhältnis zu den Normen und Werten von nahe stehenden Personen und Gruppen, von relevanten Organisationen und Institutionen sowie zu gesellschaftlichen Normen und Werten. Die Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene erfolgt in diesem Ansatz somit in erster Linie im Bereich Normen und Werte. Die Hypothesen zur Erklärung krimineller Karrieren postulieren einen Einfluss von Norm- und Werteänderungen auf den Karriereverlauf. Normen und Werte wandeln sich erstens durch den Prozess des Älterwerdens; die Beziehung zwischen dem Alter und der Orientierung an traditionellen Werten ist durch eine U-förmige Funktion beschreibbar. Bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen verliert diese Wertorientierung mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Bei älteren Personen hingegen gilt: Je älter eine Person ist, desto ausgeprägter ist die Orientierung an traditionellen Werten. Zudem erfährt die Orientierung an modernen materialistischen Werten mit zunehmendem Alter einen Bedeutungsverlust. Die zweite Einflussgröße sind Sanktionen. Insbesondere durch den Strafvollzug können sich Normakzeptanz und Wertorientierungen verändern. Je schwerer die Sanktionen für eine Person sind, desto stärker wird die Akzeptanz von Rechtsnormen und gesellschaftlichen Normen verringert und desto bedeutsamer ist der Abbau
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traditioneller Werte und der Ausbau moderner materialistischer Werte. Schließlich können sich Normen und Werte einer Person ändern, wenn sich die Normen und Werte seines sozialen Umfelds wandeln, beispielsweise durch den Wechsel des Freundeskreises oder durch eine Heirat. Auch die mikrosoziologisch formulierten Hypothesen zur Dynamik von Kriminalität können auf die Makroebene übertragen werden. Demnach ändert sich die Kriminalitätsrate einer Gesellschaft, wenn sich das Niveau der Normgeltung und die Bedeutung modern-materialistischer gesellschaftlicher Werte ändert. Zudem wird wie von Inglehart (1995, 1998) und Klages (1992) angenommen, dass ein Wertewandel in der Gesellschaft von strukturellen Änderungen und von Änderungen in der Sanktionspraxis abhängig ist. Die aufgeführten Hypothesen beschreiben die voluntaristische Kriminalitätstheorie nicht vollständig, aber wichtige Kernbereiche der Theorie sind abgedeckt. Insbesondere die Hypothesen zum Kriminalisierungsprozess sowie zur Integration von Straftheorien wurden nicht berücksichtigt; sie sind bei Hermann (2003 a) dargestellt.
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1.9 Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz
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Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz H.-L. Kröber
Die forensische Psychiatrie beruht auf der Unterstellung, dass es zwischen der bei manchen Rechtsbrechern feststellbaren psychischen Störung und ihrer Delinquenz einen ursächlichen Zusammenhang gibt. Diese Annahme ist geradezu vorurteilshaft verwurzelt, sodass es im Einzelfall mehr argumentativer Mühe bedarf, einen solchen Zusammenhang zu verneinen, als ihn zu unterstellen und entsprechend für Strafmaß und sonstige Rechtsfolgen wie eine Maßregel zu berücksichtigen. Grundsätzlich sind zumindest vier mögliche Beziehungen zwischen psychischer Störung und Delinquenz vorstellbar und nicht a priori unrealistisch: 1. Die psychische Störung verursacht oder verstärkt die Neigung zur Begehung rechtswidriger Taten; 2. die psychische Störung vermindert oder beseitigt die Neigung zur Begehung rechtswidriger Taten; 3. psychische Störung und rechtswidrige Taten stehen in keinem Wirkungszusammenhang; 4. die psychische Störung vermindert bei manchen, verstärkt bei anderen – je nach deren Verfassung – die Neigung zu rechtswidrigen Taten. Als „psychische Störung“ werden hier alle relevanten psychischen Beeinträchtigungen verstanden, also die psychiatrischen Erkrankungen im engeren Sinne (hirnorganische Störungen, Schizophrenien, depressive und bipolare affektive Erkrankungen), Suchtkrankheiten (Alkoholismus und Drogenabhängigkeit), Persönlichkeitsstörungen, sexuelle Perversionen sowie geistige Behinderungen. Welcher dieser möglichen Zusammenhänge vorliegt, ist Gegenstand der empirischen Forschung, bei der zunächst statistische Assoziationen und Korrelationen erfasst werden; wie wir sehen werden, unterliegt solche Forschung einer Vielzahl von methodischen Problemen, welche die Aussagekraft der Ergebnisse begrenzen. Wenn eine solche Korrelation festgestellt wird, z. B. im Sinne eines erhöhten Risikos von Gewaltdelinquenz, insbesondere Tötungsdelinquenz bei Schizophrenen, stellt sich die Frage, welche Faktoren es sind, die hier wirksam werden. Wie also sieht dann im Einzelfall die Kausalbeziehung, oder zumindest die Wirkungskette, zwischen einem psychiatrischen Krankheitsbild und einem juristischen Tatbestand aus? Diese Fragen können in diesem Kapitel nicht für jedes Störungsbild und nicht abschließend beantwortet werden; vielmehr soll verdeutlicht werden, welche Probleme in den Zusammenhangsvermutungen lauern und wie komplex die Vermittlungsprozesse zu denken sind. Auch in Band 2 dieses Handbuchs werden bei den einzelnen Störungsbildern Daten zur kriminologischen Relevanz mitgeteilt, und es werden Hypothesen dazu vorgestellt, wie diese psychischen Beeinträchtigungen schließlich zu erhöh-
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1 Kriminologische Grundlagen
ter – oder manchmal auch erniedrigter – Straffälligkeit führen. Das vorliegende Kapitel versteht sich als Fortsetzung des vorangehenden Kapitels zu allgemeinen Kriminaltheorien, hier nun eingeengt auf den Einflussfaktor psychische Störung, exemplarisch diskutiert an der psychotischen Störung.
1.9.1 Methodische Probleme der empirischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen psychischer Störung und Delinquenz Ob tatsächlich, zumindest makrosoziologisch, ein relevanter Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und Delinquenz vorliegt, war und ist keineswegs unumstritten (Prins 1990; Peay 2007); gern wurde auch die Frage aufgeworfen, ob jemand, der wahnhaft gegen einen Verfolger aggressiv wird, nicht genauso zu behandeln sei wie jemand, der gegen einen tatsächlichen Verfolger aggressiv wird. Gleichwohl zeigten empirische Studien frühzeitig, dass gerade akute psychotische Zustände (Wessely u. Taylor 1991) ein erhöhtes Gewaltrisiko bedingen, wenn auch generell (auch bei psychisch Kranken) männliches Geschlecht, Jugend, niedriger Sozialstatus, Alkohol- oder Drogenabusus gewichtiger bleiben als eine psychische Krankheit (Swanson et al. 1990; Link et al. 1993). In Deutschland war die Studie von Böker und Häfner (1973) sehr einflussreich mit ihrer oft zitierten Feststellung, psychisch Kranke würden nicht häufiger straffällig als Gesunde, mit der einer Stigmatisierung psychisch Kranker begegnet werden sollte. Tatsächlich ist die Feststellung nur einigermaßen richtig, wenn man alle psychisch Kranken nimmt, nämlich solche mit verminderter Kriminalität (wie jene mit affektiven Erkrankungen, aber auch institutionell versorgte geistig Behinderte) und solche mit erhöhter Gewaltkriminalität, nämlich männliche wie weibliche Schizophrene. Dass deren Tendenz zu Gewalt und nicht zuletzt Tötungsdelikten deutlich überdurchschnittlich ist, geht aus den Daten von Böker und Häfner unmittelbar hervor. Es gibt seither, vor allem in Nordeuropa, Großbritannien und Nordamerika, eine große Anzahl von aufwendigen Studien, und kaum ein möglicher Ursachenfaktor von Kriminalität, speziell Gewaltdelinquenz, erscheint besser erforscht als „psychische Störung“; gleichwohl gibt es eine nicht geringe Anzahl methodischer Schwierigkeiten. Die methodischen Probleme beginnen mit der Frage, wo, auf welcher empirischen Ebene man psychische Störung einerseits, Delinquenz andererseits festmachen will. Letztere wird definiert als strafrechtliche Verurteilung, Eintrag ins Strafregister, manchmal eingeengt auf Haftstrafen und freiheitsentziehende Maßnahmen, manchmal ausgeweitet auf selbstberichtete Dunkelfelddelinquenz. Psychische Störung kann erfasst werden auf der Ebene einer einmaligen psychiatrischen Diagnose (von wem wann gestellt?), einer Längsschnittsdiagnose anhand längerer Krankheitsverläufe, aber auch auf der Ebene von (z. B. testpsychologisch) erfassten Symptomen, Syndromen oder auf einer biologischen Ebene anhand von hirnstrukturellen oder hirnphysiologischen Befunden oder sogar anhand von genetischen
1.9 Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz
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Befunden. Eine dritte entscheidende Größe ist dann das Medium, mit dem man diese beiden Sachverhalte in Verbindung bringt. In Zeitungen, aber auch bei wissenschaftlichen Diskussionen hat beispielsweise eine Studie von Raine et al. (1994) viel Aufmerksamkeit erzielt, der (a: Medium) mit einem bildgebenden Verfahren, einer Positronenemissionstomografie, (b: mögliche psychische Störung) den Glukosestoffwechsel des Präfrontalhirns von (c: Untersuchungsgruppe) 22 „Mördern“ (des Mordes Angeklagte) untersucht und mit jener von (d: Vergleichsgruppe) 22 „Nichtmördern“ verglichen hat. Zu prüfen ist jeweils die Angemessenheit und Schlüssigkeit von a, b, c und d; dabei zu berücksichtigen ist natürlich auch, wie weit der Abstand zwischen b und c ist und welche fast unermessliche Anzahl von intervenierenden Variablen daran beteiligt ist, den Weg von der momentanen Stoffwechselaktivität einer grob erfassten Hirnstruktur in einer Untersuchungssituation einer selektierten, kooperationsbereiten Untersuchungsgruppe bis zum rechtskräftigen Urteil „Mörder“ zurückzulegen. Je länger und komplexer dieser Weg ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass zwar Korrelationen gemessen werden können, dass man aber über die wirklich wichtigen Einflussfaktoren hinterher nicht mehr weiß als zuvor: In den USA sind männliches Geschlecht, schwarze Hautfarbe und das Wohnen in bestimmten Stadtteilen ungleich gewichtiger für das Risiko, als Mörder verurteilt zu werden, als jede beliebige Dicke des Frontalhirns. Gleichwohl ist es natürlich völlig legitim, die Relevanz von Frontalhirnvarianten oder Hirntraumen in diesem Bereich für Straffälligkeit zu beforschen. Die Problematik hirnorganischer Befunde in der forensischen Psychiatrie wird vom Verfasser in Band 1 dieses Handbuchs erörtert (Kröber 2006 a, 2006 b). Die Betrachtung biologischer und psychiatrischer Sachverhalte ist auch Teil der kriminalprognostischen Diskussion der Bedeutsamkeit biologischer, psychologischer und sozialer Risikofaktoren, wie sie in Band 3 dargestellt wird (Dahle 2006; Kröber 2006 a). Für die Hypothesenbildung hinsichtlich der Wirkzusammenhänge sind wir aber natürlich stärker auf die wahrnehmbare Ebene klinischer Symptome verwiesen. In einer sehr materialreichen und sorgfältigen Übersichtsarbeit hat Schanda (2006) die methodischen Probleme des Zusammenhangs zwischen Psychose und Kriminalität sowie Gewalttätigkeit dargestellt. Er benannte neun Gruppen von methodischen Problemen: 1. Definitorische Probleme. Wie wird Kriminalität, Gewalttätigkeit, Delinquenz, Aggressivität, Tötungsdelinquenz erfasst? Unterschiedliche Studien benutzen unterschiedliche Definitionen dieses Zielkriteriums, z. B. Eigenbericht, Verurteilung, Arrest, Unterbringung. Dies ist vor allem ein Problem beim Abgleich der Ergebnisse unterschiedlicher Studien. 2. Quellenprobleme. Die Erfassung rechtswidriger Taten ist unterschiedlich verlässlich. Durch wen wird das Zielkriterium erfasst – Eigenangaben, Therapeut, Polizei, rechtskräftiges Urteil, Zentralregister? Wie komplett und zuverlässig sind solche Datenbestände, wird das Hellfeld oder auch das Dunkelfeld erfasst? Wie zuverlässig und von wem werden die psychiatrischen Diagnosen gestellt? In welchem Umfang werden kleine diag-
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1 Kriminologische Grundlagen
nostische Gruppen in eine Sammelkategorie zusammengeworfen oder einer Großdiagnose zugeschlagen? Wie geht man mit Mehrfachdiagnosen um? Koinzidenz statt Kausalität. Mit welchen Methoden berechnet man statistische Zusammenhänge zwischen Krankheit und Kriminalität? In den meisten Untersuchungen werden „odds ratios“ (OR) beziehungsweise relative Risiken (RR) verwendet, um das Ausmaß des Zusammenhangs zu beschreiben: also die Vergrößerung oder Verkleinerung der Wahrscheinlichkeit (des Risikos) von Kriminalität, wenn der Faktor Psy gegeben ist oder nicht. Wenn durchschnittlich einer von 1000 Männern die Straftat A begeht, bei Vorliegen von Alkoholismus aber zehn von 1000 Männern, so beträgt die „odds ratio“ zehn zu eins, also zehn. Trotzdem scheint Alkoholismus nur bei jedem hundertsten Mann (bei 10 von 1000) diese Wirkung zu haben, ist also kein besonders wirkmächtiger Faktor; forscht man weiter, findet man den Alkoholeinfluss eventuell nur, wenn die Männer auch arbeitslos sind, dann aber natürlich mit einer höheren OR. Aus solchen erhöhten Koinzidenzen lassen sich allemal noch keine Kausalbeziehungen ableiten. Fallrekrutierung, Fallzahl. Die meisten Studien, so die Übersicht von Schanda (2006), sind retrospektiv. Ihre Teilnehmer waren aber mehrfach Teil einer epidemiologischen Kohorte, ansonsten Gruppen, die entweder durch psychische Krankheit (Krankenhausaufenthalte) oder durch Straffälligkeit ins Visier der Forscher gerieten. Großzahlige Kollektive epidemiologischer Kohorten leben von der Zuverlässigkeit der Gesundheitsund Strafregister, weswegen fast nur europäische Studien das Bild bestimmen. Angesichts der großen Zahlen von über 5000 bis hin zu über 300 000 Probanden (Hodgins et al. 1996; Tiihonen et al. 1997; Räsänen et al. 1998; Brennan et al. 2000) ist allerdings der Aufwand, der bei diesen Untersuchungen betrieben wurde, sehr eindrucksvoll. Kontrollgruppen. Bei der Untersuchung von Gefängnis- oder Hospitalpopulationen sind (hinsichtlich Alter, Intelligenz, sozioökonomischer Lage) angemessene Kontrollgruppen schwer zu gewinnen. Sie sind bei epidemiologischen Studien nicht erforderlich, allerdings sind diese in der Regel auf die Erfassung weniger, sehr markanter, harter Daten eingeschränkt. Interferierende Variablen versucht man durch z. B. Alterskorrekturen und logistische Regressionsanalysen zu berücksichtigen. Der Wissenschaftsbetrieb beruht ja wesentlich auf der Methodik des Zweigruppenvergleichs zur Widerlegung einer Nullhypothese; man muss sich dabei bewusst bleiben, dass dabei auch sehr randständige, kausal bedeutungslose Merkmale signifikant unterschiedlich verteilt sein können. Der Zweigruppenvergleich (z. B. psychisch Kranke/Gesunde oder Mörder/ Nichtmörder) von Mittelwerten bestimmter Merkmale erlaubt also noch keineswegs eine Kausalaussage, oft nicht einmal eine Relevanzeinschätzung (Velden 2005). Untersuchungszeiträume. Schwere Straftaten sind auch bei Rechtsbrechern zumeist seltene Ereignisse, die oft in größeren Abständen began-
1.9 Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz
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gen werden, nicht zuletzt, wenn dazwischen Zeiten der Freiheitsentziehung liegen. Entsprechend bedeutsam sind nicht nur bei der Verlaufsforschung, sondern auch bei der Erfassung von Prävalenzen lange Erfassungszeiträume. Dies ist auch insofern wichtig, als bei psychisch kranken Rechtsbrechern der Gipfelpunkt der Delikthäufigkeit nicht wie bei Gesunden in der Adoleszenz liegen muss, da zumindest schwere Delikte oft erst nach längerem Krankheitsverlauf begangen werden (Wessely u. Taylor 1991). 7. Interferierende Variablen. Neben Geschlecht, Alter und Sozialstatus gibt es eine Reihe weiterer gewichtiger Faktoren, die Einfluss auf die Studienergebnisse haben können. Sie gehören teilweise zum Sozialstatus: Wohngebiet, soziales Umfeld, Zugehörigkeit zu einer Migrantengruppe, Sprachkompetenz hinsichtlich der Mehrheitsgesellschaft. Intelligenz (Kröber et al. 1993 a) ist ein gewichtiger personaler und sozialer Faktor, der oft vernachlässigt wird, weil man ihn (insbesondere für die Vergleichsgruppe) schlecht kontrolliert halten kann. In kriminellen und psychiatrischen Populationen (aber eventuell auch in „normalen“ Vergleichsgruppen) finden sich vermehrt Suchtprobleme sowie Persönlichkeitsstörungen, deren Effekte auf die Zielvariablen zu berücksichtigen sind. Schanda (2006) weist darauf hin, dass ein kaum lösbares Problem die erhöhte Mortalität („excess mortality“) bei Gewalttätern (Paanila et al. 1999) und speziell bei psychotisch Kranken ( Brown 1997; Harris u. Barraclough 1998; Ösby et al. 2000) darstelle; diese erhöhte Mortalität (durch Unfall, Krankheit, Sucht, Suizid und Verbrechen) fand sich auch bei der gemischten Haftpopulation (überwiegend Eigentumsdelinquente) der Berliner CRIME-Studie (Dahle 2005). Dadurch wird die Zahl der Personen „at risk“ reduziert. Insbesondere bei Tötungsdelikten kann die Zahl der Selbstmorde nach erfolgter Tat das Bild verzerren; dies soll in den USA bei 5% (Cohen et al. 1998), in Dänemark bei 10% aller Tötungsdelikte (Gottlieb et al. 1987) der Fall sein. Wenn psychisch gestörte Täter sich häufiger suizidieren als ungestörte, führt dies zu einer Unterschätzung des Risikos für psychotische Probanden. 8. Mathematisch-statistische Probleme. Schanda (2006) verweist darauf, dass geringe Fallzahlen oder zu kurze Untersuchungszeiträume zu Ergebnissen in Form einer „odds ratio“ (OR) oder eines „relative risk“ (RR) führen können, die allenfalls als grober Anhaltspunkt betrachtet werden können. Wesentlich sei die zusätzliche Betrachtung der Konfidenzintervalle (CI), die oft eine massive Streuung der Werte oder eben zu kleine Stichprobengrößen verdeutlichen. Wichtig für die Interpretation und die Berechnung von Risiken sei auch, welche allgemein unterstellten Vergleichsdaten herangezogen werden, ob z. B. Punkt- oder Lebenszeitprävalenzen für Schizophrenie in der Gesamtbevölkerung, und auf welchen diagnostischen Konventionen diese wiederum beruhen. So kann das Risiko der von Tötungsdelikten bei Schizophrenie, das Eronen et al. (1996 a, b) anhand einer Einmonatsprävalenz mit einer OR von 9,67 berechneten (95%-CI: 7,33–12,07), auf eine OR von 4,47 absinken
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(95%-CI: 3,58–5,58), wenn man auf Basis der Lebenszeitprävalenz schizophrener Störungen rechnet (Schanda 2006, S. 89). 9. Übertragbarkeit der Resultate. Die Befunde sind nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragbar, insbesondere nicht zwischen Europa und Amerika, da die Konstellation und Relevanz psychischer und sozialer Einflussfaktoren in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich sein kann, auch in Abhängigkeit von polizeilichen Aufklärungsquoten, Verurteilungsraten, Enge und Wirkungsgrad des psychiatrischen Versorgungsnetzes. Die Aufzählung von Schanda ist noch um wenige weitere Probleme zu ergänzen: 10. Widersprüchliche soziale Auswirkungen psychischer Krankheit. Wie eingangs im Modell der vier möglichen Beziehungen zwischen psychischer Krankheit und Delinquenz vermerkt, kann es sein, dass ein und dieselbe psychische Störung bei einer Personengruppe das Delinquenzrisiko erhöht, bei einer anderen senkt. „Schwachsinn“, geistige Behinderung, war lange Zeit ein gewichtiger Risikofaktor für Delinquenz, wenn solche Menschen sich selbst überlassen blieben, kaum für sich sorgen konnten, obdachlos wurden, stahlen und sich prügelten. Seitdem sich die Zahl geistig Behinderter durch medizinische Präventionsmaßnahmen, Antibiotika etc. drastisch vermindert hat und fast alle geistig Behinderten von Kindheit an in die Obhut sozialmedizinischer und sonderpädagogischer Versorgungssysteme gerieten, sind sie an der Kriminalität nur noch unterdurchschnittlich beteiligt. Alkoholismus kann für Gewalttäter das Straftatrisiko fördern, während die Sucht für Wirtschaftskriminelle und Anlagebetrüger, wie jede schwere Krankheit, eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer (kriminellen) Leistungsfähigkeit bewirken kann. 11. Therapieeffekte. Ebenso können therapeutische Interventionen, vor allem wenn sie sozusagen flächendeckend durchgeführt werden (psychiatrischer Maßregelvollzug), zu einer deutlichen Veränderung der Risikozahlen führen. Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug, in dem sie sich oft viele Jahre befinden, werden dort selten straffällig. Wir wissen, dass auch Patienten, die aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug entlassen werden, recht selten und wesentlich seltener als entlassene Strafgefangene wieder rückfällig werden; insbesondere sind schwerwiegende Gewaltdelikte entlassener Maßregelpatienten inzwischen sehr selten geworden (Leygraf 1998; Jockusch u. Keller 2001; Kutscher et al. 2006; Seifert 2007). Ähnliche Effekte sollte natürlich auch ein funktionierendes allgemeinpsychiatrisches Versorgungssystem haben. 12. Unterschiedlicher Umgang mit Tatverdächtigen. Immer wieder wurde diskutiert, dass psychisch auffällige oder kranke Menschen vielleicht schneller einer Straftat beschuldigt werden, weil sie schneller in den Aufmerksamkeitsfokus kommen, und dass bei ihnen das Dunkelfeld kleiner sei, weil sie ihre Tat weniger gut verheimlichen können (Hiday
1.9 Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz
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1995). Andererseits werden bei Personen, die bereits als psychisch gestört deklariert, eventuell bereits als schuldunfähig begutachtet wurden, wesentlich mehr Verfahren eingestellt, teils schon auf Polizeiebene nicht weiter verfolgt, was die erfasste Kriminalität wiederum vermindert. Es könnte auch eher eine Tendenz bestehen, erkennbar psychisch Kranke relativ lange gewähren zu lassen, also einen Bogen um sie zu machen, ehe man interveniert. Schwere Gewaltdelikte betrifft dies aber wohl nicht. 13. Normabweichende Einzelmerkmale. Diffizil wird es, wenn nicht markante, diagnostisch einigermaßen trennscharfe psychische Krankheiten erfasst werden, sondern psychopathologische, persönlichkeitspsychologische, psychophysiologische oder genetische Einzelmerkmale, zumindest dann, wenn hier eine Zugehörigkeit zum Bereich „psychische Störung“ unterstellt wird. Die Hypofrontalität der Chow Chows im Vergleich mit Schäferhunden (Eibl-Eibesfeld 1967) ist aber ebenso wenig eine psychische Störung wie die Hypofrontalität unter manchen psychopathischen Tätern; gemessen werden auf dieser Ebene nicht „Störungen“, sondern offenkundig „Varianten“. Auch eine melatoninreiche Haut ist keine „Störung“, sondern eine ethnische Variante. Gerade bei solchen Messungen von Einzelmerkmalen kommt der Auswahl einer angemessenen Vergleichsgruppe besondere Bedeutung zu; nicht für jede Bevölkerungsgruppe sind Psychologiestudenten der angemessene Vergleichsmaßstab (so gab es z. B. keine Unterschiede im „sensation seeking“ von Gewalttätern und Psychologiestudenten, Kröber et al. 1993 b). Die Liste der methodischen Probleme in der empirischen Erfassung der Lebenslage und Handlungsmuster psychisch gestörter Menschen sowie in der Interpretation der Befunde hinsichtlich des Kriminalitätsrisikos ließe sich zwanglos fortsetzen; gleichwohl besteht kein Zweifel, dass diese Forschung wichtige Ergebnisse zutage befördert hat (zu den einzelnen diagnostischen Gruppen s. Bd. 2 dieses Handbuchs), die auch gesundheits- und kriminalpolitische Relevanz haben, so vor allem im Ausbau der Versorgungssysteme für psychisch Kranke und in der Schaffung von psychiatrischen und psychotherapeutischen Ambulanzen für psychisch gestörte Rechtsbrecher, die aus der Freiheitsentziehung entlassen werden. Ungeachtet dieser Probleme ist es ein stabiler Befund, dass psychisch Kranke ein erhöhtes Risiko hinsichtlich nichtgewaltsamer Kriminalität haben und insbesondere hinsichtlich Gewalttaten. Nur eine kleine Minderheit Schizophrener begeht Tötungsdelikte, statistisch jedoch haben Menschen mit dieser Erkrankung ein gegenüber Gesunden stark erhöhtes Risiko, Tötungsdelikte zu begehen (Hodgins 2006). Bei der Untersuchung einer dänischen Geburtskohorte (über 350 000 Personen) war das relative Risiko für Menschen mit affektiver Psychose (phasischen typischen Depressionen oder bipolarer Störung) verdoppelt, bei Schizophrenie um den Faktor 4,6, bei Männern mit organischen Psychosen sogar um den Faktor 8,8 erhöht.
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Bei Frauen, deren Anteil an der Gewaltkriminalität unter 10% liegt, ist die Risikosteigerung durch psychische Störung noch ausgeprägter: Das relative Risiko stieg bei affektiven Psychosen um den Faktor 3,9, bei organischen Psychosen um den Faktor 16,6, und bei Schizophrenie um den Faktor 23,3 (Brennan et al. 2000). Dies bedeutet andererseits, dass gesunde Frauen weniger als 0,2% der Gewalttäter der Kohorte stellten, schizophrene Frauen hingegen 2,8%. Durchaus bedeutend aber für das allgemeine Gewaltrisiko werden die Daten bei den Männern mit psychischer Krankheit; dies gilt insbesondere bei den Tötungsdelikten, an denen sie in verschiedenen europäischen Studien einen Anteil von 8 bis 10% haben (Erb et al. 2001).
1.9.2 Klinische Vorstellungen zu den Kausalbeziehungen zwischen psychischer Störung und Delinquenz Psychiater gehen in der Praxis regelhaft nicht von bestimmten Kriminalitätstheorien aus, denen sie dann jedes Störungsbild unterordnen, sondern tendieren eher zu fall- und diagnoseabhängigen Erklärungsansätzen. Diese wiederum könnten verdeutlichen, dass die verschiedenen, im vorangehenden Kapitel von Hermann beschriebenen Kriminalitätstheorien sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern für unterschiedliche empirisch vorfindliche Konstellationen unterschiedlich passend erscheinen. Eine gewisse Ordnung ergibt sich, wenn man psychische Krankheit im engeren Sinne abgrenzt von sonstigen psychischen Störungen, und hier wiederum unterscheidet zwischen kurz dauernden, passageren Störungen wie einem schweren Alkoholrausch und länger dauernden Krankheiten wie einer Schizophrenie oder einer Alzheimer-Erkrankung. In Band 1 dieses Handbuchs hatten wir Krankheit wie folgt definiert (Kröber 2007): „Krankheit ist eine schicksalhaft hereinbrechende, leiblich vermittelte Zustandsveränderung, die die betroffene Person nicht willentlich negieren kann, die sie tatsächlich unfrei macht. Unfrei wird sie durch die weitgehende oder völlige Aufhebung wichtiger Funktionen.“ Verwiesen wurde auf eine Formulierung von Mitscherlich, wonach Bezugspunkt der Schuldunfähigkeit „eine in ihren Ursachen für den Täter nicht erkennbare, vom Bewusstsein willentlich nicht zu beeinflussende, körperlich oder seelisch bedingte krankhafte Störung“ sein solle (Mitscherlich 1971). Als Kern eines allgemeinen Krankheitsbegriffes hatte Häfner (1981) „das Nichtkönnen wegen eines Funktionsdefizits des psychophysischen Organismus als Grund für die Nichterfüllung gesellschaftlicher Aufgaben“, und später (1997) „die unwillkürliche und erhebliche Beeinträchtigung vitaler Funktionen – meist mit Verlust des Wohlbefindens“ – herausgestellt. In diesem Sinne schafft psychische Krankheit eine anomische Situation, eine abrupte Zerstörung selbst entwickelter, selbst verantworteter, bis dahin handlungsleitender Normbezüge. Gerade wenn eine psychotische Krankheit in ein bis dahin durchaus einigermaßen geordnetes System von Welt- und Wertbezügen einbricht, indem sie wahnhaft eine existenzielle Verfolgung konsti-
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tuiert, die sich auch in quälenden Leibmissempfindungen manifestiert (die z. B. auf „Strahlen“ zurückgeführt wird) und heftige Angstzustände und ein Gedankenchaos verursachen kann, dann ist die Entwicklung rechtswidriger Ideen zur Rettung der eigenen Existenz plausibel eben dieser Überwältigung durch Krankheit geschuldet und exkulpierbar (Kröber u. Lau 2000, 2008). Es sind dies, angelsächsisch gesprochen, TCO-Situationen. Link et al. (1998, 1999) hatten das Konzept entwickelt, dem zufolge besonders ein bestimmtes Symptombündel an Taten heranbringt, nämlich „threat – control – override“ (TCO), d. h. dass das unmittelbare subjektive Erleben von Bedrohung (Bestrahlung, Körperhalluzinationen etc.), Kontrolliertsein von äußeren Mächten (Gedankenentzug, Gedankenbeeinflussung etc.) mit Ausgeliefertsein und beginnender Überwältigung (Ich-Verlust, Untergang) an die Tat heranführt. Allerdings entziehen sich die TCO-Symptome der Überprüfung in großen Kollektiven, da sie spontan kaum berichtet werden, sondern gezielt exploriert werden müssen. Recht unstreitig haben wir aber, mehrfach repliziert seit der Monografie von Böker u. Häfner (1973), einen Typus schizophrener Täter, der aus der akuten psychotischen Überwältigung heraus handelt, teilweise impulsiv und eher reaktiv in wahnhafter Verkennung der Situation, teilweise kurzfristig vorbereitet als gezielte „Gegenwehr“ oder Versuch, die Menschheit auf den ablaufenden Skandal aufmerksam zu machen. Unstreitig gibt es einen weiteren, relativ häufigen Typ des chronisch schizophrenen, aber besonnen und lange vorbereitet handelnden Täters, der beispielsweise aus dem Wahn heraus, er selbst und die Welt müssten aufwendig vor einem fulminanten Virenangriff bewahrt werden, zur Finanzbeschaffung einen Bankraub begeht. Hier unterscheidet sich der Proband zunächst nur durch die Motive von anderen Bankräubern; ähnlich aber wie der Schizophrene, der aufgrund seiner Irritierbarkeit mit anderen nicht zusammenleben kann, sozial verwahrlost ist und für den Lebensunterhalt Einbruchdiebstähle begeht, ergibt sich die Erhöhung des Delinquenzrisikos (und die erhebliche Verminderung und ggf. Aufhebung der Schuldfähigkeit) aus der Intensität und Vielfalt, mit der die Krankheit ihn aus den alltäglichen sozialen Bezugnahmen, Bindungen und Normorientierungen herausgelöst hat. Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass bei vielen später Schizophrenen bereits die frühkindlichen sozialen Lernprozesse gestört sind und defizitär bleiben; dies hat Auswirkungen im Hinblick auf die vier Schlüsselkategorien „attachment, commitment, involvement and belief“ (Hirschi 1969, s. den Beitrag von Hermann im vorangehenden Kapitel). Insbesondere das „attachment“, die emotionalen Bindungen an andere, nahe Personen, ist bei Schizophrenen oft schon im Vorfeld gestört und in der Erkrankung ausgesprochen schwierig und konfliktreich; das „commitment“, die Bindung an soziale Rollen und der Erwerb eines beruflichen und privaten Status, bleibt oft schon prämorbid schwach und geht in der Krankheit oft gänzlich verloren. Das gleiche gilt für das „involvement“, die organisatorische Einbindung in Institutionen und kon-
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ventionelle Aktivitäten. Spätestens durch die Erkrankung tritt sehr oft eine drastische Veränderung in den „beliefs“ ein, der Glaube an die Verbindlichkeit konventioneller Moralvorstellungen und Glaubensüberzeugungen wird abgelöst durch die krankheitsbedingte abgründige Erfahrung und Überzeugung, dass nichts so ist, wie es scheint, dass man umgeben ist von fragwürdigen und unechten Phänomenen, und dass hinter all dem ein ganz anderes Spiel gespielt wird. Dies suspendiert viele subjektiv von ihrer Verpflichtetheit gegenüber den Normen ihrer Kindheit, sie sehen sich einer anomischen Welt gegenüber, in der sie als Einzelkämpfer sehen müssen, wie sie moralisch autonom werden und allein nach eigenen Vorgaben und ethischen Erwägungen handeln. Für diese Kranken gilt in der Regel, dass sie auch die Folgen ihres Handelns für kaum kalkulierbar halten, jedenfalls auch ganz wahnhafte oder unrealistische Vorstellungen haben können, was sich aus ihren Handlungen an Folgen ergeben wird. Diese Probanden sind also nicht mehr imstande, „Kostenaspekte“ ihres Handelns in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Wenn diese wahnhafte Weltsicht sehr ausgeprägt ist und einen Bezug auf Common-sense-Normen und -Regelungen schier unmöglich macht, die jedem anderen gar nicht diskussionsbedürftig erscheinen, dann ist auch für den Einbruchdiebstahl, allemal für den Bankraub zur Rettung der Welt vor den Killerviren, die Zuschreibung von Schuldunfähigkeit trotz „normalen“ Motivs vorstellbar. Wo die Bezugnahme auf eine Common-sense-Interpretation der Situation vor der Tat unmöglich ist, hat der Täter keine Möglichkeit, eine normkonforme Entscheidung zu treffen, weil sie als Option nicht mehr zugänglich ist. Im Sinne der Formulierung von Schreiber (1981) ist bei diesen Zuständen festzustellen, dass die Rechtsnorm keine „Möglichkeit hatte, im Motivationsprozess des Täters wirksam zu werden“. Sicherlich können bei Schizophrenen auch weitere Probleme hinzutreten, insbesondere bei solchen mit einer ausgeprägten Intentionalitätsstörung. Bei diesen finden wir oft einschießende Gedanken, die der aktuellen Situation jeweils eine neue Deutung und möglichen Rechtsbrüchen eine neue Interpretation und rationalisierende Rechtfertigung verleihen, wobei solche plötzliche Kursänderungen aber auch von der Delinquenz wegführen können. So holte ein chronisch Kranker, der ansonsten viel dichtete, ein 13-jähriges Mädchen von der Straße in seine Wohnung, wo er ihm über der Kleidung an die Brüste fasste; eine sexuelle Intention war unverkennbar. Plötzlich aber begann er, dem Mädchen Gedichte vorzulesen, und das Mädchen konnte bald darauf weglaufen. Eine besondere Rolle spielt, gerade bei psychischen Krankheiten, die so genannte Desaktualisierungsschwäche (Janzarik 1991 a, 1995), also die Unfähigkeit, bestimmte sich aufdrängende Themen und Emotionen aus dem psychischen Feld zu verbannen. Janzarik (1991 b, 2000) hat immer wieder betont, dass Handlungssteuerung weniger im aktiven Auswählen und Ansteuern von Zielen besteht als in der Unterdrückung von Intentionen und Bedürfnissen, die uns gegenwärtig vom angesagten Ziel abbringen würden. Handlung, auch die kriminelle Handlung, ist dann kein allein aktives,
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positiv auswählendes Geschehen inmitten einer Tabula rasa, sondern die Durchsetzung einer bestimmten Aktion gegen konkurrierende Strebungen insbesondere durch kollaterale Hemmung (Kröber 2007). Genau dieses Konzept kann durch psychische Krankheiten, nämlich hirnorganische Beeinträchtigungen und Demenz, in exemplarischer Weise aber auch durch bestimmte Formen der Schizophrenie verunmöglicht sein. Dies wird dann manchmal recht metaphorisch als „Auflockerung des Persönlichkeitsgefüges“ und „kognitive Einbußen“ benannt, lässt sich aber psychopathologisch auch recht exakt fassen. Desaktualisierungsschwäche gibt es aber auch als normalpsychologisches Phänomen in biografischen Krisenzeiten, z. B. in partnerschaftlichen Trennungssituationen, in denen es nicht gelingt, zu Gunsten z. B. der anstehenden beruflichen Arbeiten die Eifersucht und den Kummer aus dem aktuellen Bewusstseinsfeld zu verdrängen, sodass trotz Gegenwehr die Gedanken ständig um die Frage kreisen, ob man nicht aufstehen und etwas unternehmen müsste, um diesen quälenden Zustand zu beenden. Es ist also bei der Prüfung des Zusammenhangs von psychischer Störung und Kriminalität zu betrachten, ob und in welchem Umfang ein traditioneller Normenbezug prämorbid erworben wurde; es gibt einen relativ häufigen prämorbiden Typus von Schizophrenen, der bereits vor dem Auftreten psychotischer Symptome durch Dissozialität, Reizoffenheit, Unbeständigkeit der Handlungsmuster (Intentionalitätsschwäche) auffällt, häufig zudem einen Missbrauch von Alkohol, Cannabis (Arseneault et al. 2004) und anderer Drogen entwickelt und später ein besonders schwer zu behandelnder Maßregelpatient wird (Hodgins et al. 2003; Hodgins u. MüllerIsberner 2004). Hier haben wir dann eine besonders brisante Kombination aus dissozialer Entwicklung (häufig mit einem Mangel an Anleitung, Zuwendung und Kontrolle), insuffizient angelegten Möglichkeiten, erodierenden Einwirkungen (wie Alkohol und Cannabis) und schließlich manifester psychotischer Krankheit: eine denkbar ungünstige Ausgangsituation für die Erwartung konstant normgetreuen Verhaltens. Wesentlich anders ist die Situation, wenn keine überdauernde psychische Krankheit vorliegt, sondern eine kurzdauernde Intoxikation, eine Hirnvergiftung, sei es durch die ungewollte Inhalation eines Holzschutzmittels beim Streichen des Inneren der großen Hundehütte, sei es bedingt durch das Trinken von sehr viel Wodka oder den Konsum von LSD. All dies führt keineswegs gesetzmäßig, aber beim Zusammentreffen ungünstiger Faktoren zur Begehung rechtswidriger Handlungen, und zwar primär durch die vergiftungsbedingte kognitive Beeinträchtigung. Es kann zum Auftreten akustischer und optischer Sensationen kommen, die dann Fehlhandlungen bedingen, es kann zur krassen Verkennung sozialer Situationen kommen, insbesondere zu vermeintlichen Notwehrreaktionen. Das Ganze trägt zumeist den Charakter eines Unfalls, nicht eines in dieser Weise beabsichtigten, gar vorbedachten Handelns. Ob es zu solchen Unfällen kommt, hängt von der Ausgangssituation und vom Zufall ab: Wer still zu Hause vor sich hin trinkt, schläft hernach seinen Rausch aus. Wer in der Diskothek Yeni Bo-
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drum zu randalieren beginnt, mag sich plötzlich mit einer erstaunlichen Anzahl von Springmessern konfrontiert sehen. Etwas anderes ist es mit der tatfördernden, aus unbekannten Gründen gern schuldmindernd berücksichtigten mittelgradigen oder leichten Alkoholisierung, die eine leichte Enthemmung bewirkt, insofern sie Skrupel und die Angst vor den Folgen mindert und die Selbstgewissheit erhöht; das Gewissen, so meint man, sei in Maßen alkohollöslich. Ob die Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens durch mäßigen Alkoholkonsum wirklich so groß ist wie die Bereitschaft, sich auf diese exogene Beeinflussung zu berufen, ist fraglich. Viel bedeutsamer ist die allmähliche Zerstörung des Selbstwertgefühls, der eigenen Würde durch den chronischen Alkoholismus oder die Drogenabhängigkeit, also der Sachverhalt der Substanzabhängigkeit (die aber bei vielen Alkoholdelikten nicht vorliegt). Die selbst erlebte weitgehende Unfähigkeit, vom Suchtmittel loszukommen, das immer erneute Scheitern bei Abstinenzversuchen, der dann zunehmende Verlust von Partnerschaften, Arbeit, die soziale Isolation führen zu einem schrittweisen Wandel des Selbstkonzepts, in dem man sich nun als „Looser“ sieht, der besser gar nicht mehr versucht, doch noch eine Wende herbeizuführen, weil dies nur eine Enttäuschung mehr bedeutet. Eine solche zunehmende Selbstaufgabe, bisweilen verbunden mit suizidalen Gesten oder Versuchen, erhöht schließlich auch das Risiko gravierender Normverstöße, insbesondere auch fremdaggressiver Verhaltensweisen gegenüber Trinkkumpanen oder passageren Partnerinnen. Solche Täter sehen sich oft als zu schwach an, als dass sie den geltenden, von ihnen gar nicht bestrittenen Normen noch genügen könnten. Gerade auch als begleitende Gewohnheit bei sozialer Verwahrlosung oder bei psychischer Krankheit ist Alkoholabhängigkeit ein sehr starker Einflussfaktor für anhaltende Rückfälligkeit (Hodgins u. MüllerIsberner 2004; Seifert 2007). Wir nähern uns damit dem weiten Feld der Persönlichkeitsstörungen, die allesamt das Risiko rechtswidrigen Verhaltens tendenziell erhöhen, manche aber nur minimal, manche deutlich und stärker als psychische Krankheit. Auszunehmen ist dabei die dissoziale Persönlichkeitsstörung, bei der wiederholte Straffälligkeit eines der diagnostischen Kriterien ist, sodass hier die Berechnung z. B. einer OR zirkulär wäre (Habermeyer u. Herpertz 2006). Die Frage, warum Menschen mit dissozialer Entwicklung sich dissozial entwickeln, haben wir in diesem Handbuch an verschiedenen Orten diskutiert, so auch im vorangehenden Kapitel über Kriminalitätstheorien oder später im Kapitel über Diebe; zu verweisen ist aber vor allem auf die Kapitel über Persönlichkeitsstörungen in Band 2 dieses Handbuchs (bei der Diskussion über „schwere seelische Abartigkeit“). Die unterschiedlichen Varianten, in denen Persönlichkeitsstörungen die Verhaltens- und Entscheidungsmuster beeinflussen, werden dort verdeutlicht. Bleibt man bei dissozialen Mustern, so ist eine gewisse Zurückhaltung angebracht, hier überhaupt von „Persönlichkeitsstörung“ zu sprechen. Denn ein solches Verhalten kann in einem dissozialen Umfeld ganz angemessen und überlebenswichtig sein, wie z. B. Bürgerkriegssituationen oder
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andere anomische Situationen verdeutlichen. Wer alles, was es zu essen gibt, sogleich in sich hineinstopft, der hat vielleicht über längere Zeit die Erfahrung gemacht, dass sonst schnell nichts mehr da ist. Insofern ist auch der sehr wichtige Faktor „Fähigkeit zum Belohnungsaufschub und zur Frustrationstoleranz“ im Lernprozess davon abhängig, ob Belohnungsaufschub nicht regelmäßig zum Verlust der in Aussicht gestellten Belohnung geführt hat. Sicherlich gibt es hier auch anlagemäßige, biologische Faktoren bei Kindern; Frustrationen zu ertragen aber muss man lernen und kann dies am besten, wenn es eine stützende emotionale Begleitung solcher Etappen gibt. Diese liegt aber nicht vor, wenn sich beispielsweise die Elternpersonen (oder ältere Geschwister) als überlegene Konkurrenten im Streben nach dem begehrten Gut erweisen. Es lohnt sich also, die dissozialen Lernerfahrungen differenziert zu betrachten (Laucht 2001; Moffitt u. Caspi 2001). Um fehlende Erfahrung mit Belohnungsaufschub, stattdessen raschen Zugriff, um sich zu nehmen, was man haben will, geht es bei der oft sehr früh einsetzenden Eigentumsdelinquenz, aber nicht selten auch bei sexuellen Übergriffen. Die Entwicklung der kindlichen und jugendlichen Persönlichkeit ist jedoch ein komplexer und keineswegs nur passiv erfahrener Prozess (Matthys et al. 2003). Farrington (1996) rekurriert anhand des Langzeitverlaufs der Kriminalität von Jugendlichen auch auf die „developmental theory“ von Sampson u. Laub (1993), welche die eigenständige Gestaltung von Normzusammenhängen verdeutlicht und zugleich darauf verweist, dass es im Lebensverlauf eine Reihe von Scheidewegen gibt, an denen ein Ausstieg aus kriminellen Karrieren möglich oder erleichtert ist. Nach diesem Konzept haben auch Unterschichtangehörige durchaus eine Wahrnehmung der gültigen Normen, unterliegen aber nur geringer Kontrolle und geraten als Kinder und Jugendliche oft in die Versuchung, eine Regel zu übertreten und z. B. etwas zu stehlen. Wenn sich dies zur Gewohnheit entwickelt, müssen die Normen bezüglich des eigenen Handelns der Realität angepasst werden, d. h. man entwickelt Theorien, warum Stehlen beispielsweise in diversen Konstellationen (wenn z. B. die eigene Familie betroffen ist) abzulehnen, gegen Fremde oder eine andere soziale Gruppe oder anonyme Geschäfte aber akzeptabel sei. Wenn diese Theorien im sozialen Umfeld bestärkt werden, signifikante Bezugspersonen wie der Vater dies vorleben (selbst der phantasierte Vater, der im Gefängnis sitzt), kann sich dies zu einem recht stabilen dissozialen Normenkodex entwickeln, der dem gezeigten Verhalten entspricht. Wichtig, sicherlich auch für die Jugend- und Bandenkriminalität ist (s. vorstehendes Kapitel 1.5 von Hartmann), dass sich dieser Kodex keineswegs nur auf die Geltung oder Irrelevanz strafrechtlicher Normen bezieht, sondern dass die frühreifen Kinder und die Jugendlichen hartnäckig an einer Identitätsgewinnung arbeiten, für die sie ein Sammelsurium an zur Verfügung stehenden Rollen, Verhaltensmustern und Formen der Selbstdarstellung und des Auftretens heranziehen, teilweise nur passager ausprobieren. Dies reicht von den Haaren und der Frisur bis zu den Schuhen, der Art der Kleidung, des Schmucks,
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Tattoos, typischen Bewegungsmustern (wie der „pimp walk“), typischen Aufenthaltsorten, Zeitstrukturen, typischen Konsummitteln etc. Es ist bemerkenswert, wie viele unterschiedliche Muster Jugendliche innerhalb einer Großstadt wie Berlin zustande bringen; die Vorbilder dafür werden aus unterschiedlichsten Medien und von leibhaftigen Personen importiert. Zu dieser jugendlichen Identitätsgewinnung gehört auch die Frage, wie man mit rechtlichen Normen umgeht; bei manchen Jugendlichen gehört es verpflichtend zum Gruppenkonsens, Cannabis zu konsumieren; andere wollen jeden Tag eine gute Tat begehen; bei einer dritten Gruppe gehört das gemeinsame Stehlen zu den Grundübungen der Freizeitgestaltung, bei einer vierten am Wochenende die Schlägerei vor dem Fußballstadion, bei einer fünften das „Klatschen“ von Homosexuellen. Der Umgang mit strafrechtlichen Normen folgt also keineswegs einer Alles-oder-nichts-Regel, sondern dem Abgleich mit anderen Interessen. Vor allem aber geht es um die Frage, wer man sein will und wen man darstellen möchte. Der Student, der aus der Untersuchungshaft entlassen wird, mag sich stigmatisiert fühlen und Scham empfinden; der jugendliche Streetfighter aus Neukölln mag hingegen das Gefühl haben, seinen Peers gegenüber als Frontkämpfer dazustehen. Diese Selbstkonzepte, die sich in bestimmten sozialen Umgebungen herausbilden, aber eben keineswegs nur reaktiv sind, sondern auch selbst gestaltet werden, bereits von Kindern, beinhalten eine größere oder kleine Akzeptanz, ja teilweise Verpflichtung zu Normverstößen und Straftaten. All dies, und auch eine entsprechende „dissoziale Persönlichkeitsstörung“, bezeichnet ein sozial unterscheidbares Verhalten („abweichend“ wäre es nur außerhalb des speziellen Sozialraums), also keine „psychische Störung“, sondern eine soziale Variante. Persönlichkeitsstörungen nun sind Sachverhalte, bei denen eine deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten vorliegt, weil bei ihnen mehrere Funktionsbereiche wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken intrinsisch gestört sind. Dadurch sind auch zwangsläufig die Beziehungen zu anderen Menschen beeinträchtigt, insbesondere die Fähigkeit, solche Beziehungen nachhaltig konstruktiv zu gestalten und zu nutzen. Vielmehr sind Persönlichkeitsgestörte kaum imstande, angemessene soziale Beziehungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten, im beruflichen Bereich wie auch im privaten und familiären Umfeld. Das auffällige Verhaltensmuster ist andauernd und gleichförmig, tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend. Diese Störungen beginnen in der Kindheit und manifestieren sich durchgängig seit Beginn des Erwachsenenalters. Sie führen zu subjektivem Leiden oder doch zumindest zu einer deutlichen Einschränkung der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit. Es ist nahe liegend, dass solche Störungen, in welcher speziellen Ausgestaltung auch immer, das Risiko des Hineingeratens in eine Versuchungssituation erhöhen, die Reziprozität der Normerwartungen und damit die Hemmschwelle gegenüber der Begehung von Straftaten mindern. Dabei können dann noch spezielle Einzelfaktoren eine Rolle spielen, die wir als Varianten der Intelli-
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genz, des Temperaments, der Emotionalität, des kognitiven Stils kennengelernt haben: die Impulsivität vieler Jugendlicher, die mangelnde Erregbarkeit und ungewöhnliche Angstfreiheit mancher Männer, die emotionale Bedürftigkeit mancher Frauen und Männer. Dies alles sind Faktoren, die sich nicht zuletzt bei Gruppendelikten mit anderen Interessen zu der Erwartung verbinden können, durch eine Straftat komme man für heute besser über die Runden.
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Gewaltdelinquenz
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Juristische Grundlagen zur Gewaltdelinquenz D. Dölling, C. Laue
2.1.1.1 Der Gewaltbegriff Der Begriff der Gewaltkriminalität ist umstritten. Nach der Definition von Kürzinger (1993, S. 171) ist der Eingriff in die physische oder psychische Integrität eines Menschen der entscheidende Anknüpfungspunkt. Ausgenommen sind damit Erweiterungen des Begriffs durch Einschluss der Gewalt gegen Sachen (Sachbeschädigung, §§ 303 ff. StGB) oder der verbalen Gewalt (Beleidigung, Verleumdung u. a., §§ 185 ff. StGB). Insbesondere die Einbeziehung verbaler Gewalt führt leicht zu einer Ausuferung des Gewaltbegriffs, der dann konturenlos wird und kaum systematischen Erkenntnisgewinn bietet. Im Folgenden werden daher nur diejenigen Delikte beschrieben, deren Tatbestand solche Gewalt voraussetzt, die sich gegen eine Person richtet.
2.1.1.1.1 Der Gewaltbegriff des StGB Das StGB kennt keinen zusammenhängenden Abschnitt über Gewaltkriminalität. Bei den Straftaten gegen das Leben im 16. Abschnitt und gegen die körperliche Unversehrtheit im 17. Abschnitt des Besonderen Teils ist die Verhinderung von Gewalt in der oben genannten engen Definition der primäre Schutzzweck. Gewalt als Tatbestandsmerkmal ist aber auch bei Raub und Erpressung im 20. Abschnitt und darüber hinaus noch in einigen anderen Abschnitten zu finden, in denen Rechtsgüter wie etwa die öffentliche Ordnung (7. Abschnitt), die sexuelle Selbstbestimmung (13. Abschnitt) oder die persönliche Freiheit (18. Abschnitt) geschützt werden. Diese verschiedenen Zusammenhänge, in denen der Gewaltbegriff vom Gesetzgeber verwendet wird, machen eine einheitliche Definition der Gewalt schwierig. Darüber hinaus finden sich verschiedene Formulierungen, sodass davon ausgegangen werden muss, dass den Begriffen „Gewalt“ (wie in § 240 oder § 253 StGB), „Gewalt gegen eine Person“ (z. B. in § 249 StGB) und „Gewalt-
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tätigkeit“ (wie in § 125 StGB) jeweils eine andere Bedeutung zukommt. Schließlich hat der Gewaltbegriff im Laufe der letzten Jahrzehnte durch die Rechtsprechung einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren, der auf eine Ausdehnung und „Entmaterialisierung“ der strafrechtlichen Gewalt hinauslief. Diese Veränderungen fanden nicht immer im allgemeinen Konsens statt, sodass der Begriff der Gewalt „zu den umstrittensten Begriffen des Besonderen Teils“ gehört (Küper 2008, S. 172).
2.1.1.1.2 Die Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs Der Gewaltbegriff hat in seinem Ausdehnungsprozess im Wesentlichen drei Stufen durchlaufen. Auf der ersten Stufe und in seiner klassischen Ausprägung wurde Gewalt als Einwirkung auf einen anderen verstanden, die der Täter unter Anwendung körperlicher Kraft zur Beseitigung eines tatsächlich geleisteten oder erwarteten Widerstandes vornimmt (RGSt 56, 87, 88). Es stand also zunächst die Kraftentfaltung durch den Täter im Vordergrund. Die heimliche Beibringung eines Betäubungsmittels reichte nach dieser Auffassung zum Beispiel nicht aus (RG, ebd.). Bald veränderte sich die Perspektive: Auf der zweiten Stufe der Entwicklung des Gewaltbegriffs war nicht die Tätigkeit des Gewalt Ausübenden entscheidend, sondern die Wirkung auf das Opfer. Danach erfordert Gewalt „nicht die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Vergewaltigten, sei es durch Berührung oder eine andere die Sinne beeinflussende Tätlichkeit; es genügen vielmehr alle Handlungen, die von der Person, gegen welche sie unmittelbar oder auch nur mittelbar gerichtet sind, als ein nicht nur seelischer, sondern körperlich wirkender Zwang empfunden werden“ (RGSt 60, 157, 158). Der BGH reduzierte schon früh die Bedeutung der Kraftausübung durch den Täter: „Entscheidend . . . muss vielmehr sein, ob der Täter durch eine körperliche Handlung die Ursache dafür setzt, dass der wirkliche oder erwartete Widerstand des Angegriffenen durch ein unmittelbar auf dessen Körper einwirkendes Mittel gebrochen oder verhindert wird, gleichviel, ob der Täter dazu größere oder nur geringere Körperkraft braucht“ (BGHSt 1, 145, 147). Zwar hat der BGH an dem Kriterium der physischen Kraftentfaltung durch den Täter formal festgehalten, es aber materiell derart reduziert, dass es lediglich dazu diente, rein verbale Einwirkungen von der Gewaltausübung auszuschließen (BGH NStZ 1981, 218). Massive Geräuschentwicklung wie den Einsatz von Trillerpfeifen, um die Durchführung einer Vorlesung unmöglich zu machen, sah der BGH als Gewalt an (BGH NStZ 1982, 189). Entscheidend war auf dieser Stufe also die Zwangswirkung auf den Körper des Opfers. Auf der dritten Stufe wurden auch auf der Opferseite die Anforderungen an die Zwangswirkung weiter reduziert, bis in der Sitzblockaden-Entscheidung aus dem Jahre 1969 die Ausübung psychischen Zwangs ausreichte: „Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten ver-
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anlaßt“ (BGHSt 23, 46). Entscheidend ist danach, dass trotz geringen physischen Kraftaufwands – der lediglich im „körperlichen“ Hinsetzen besteht – zumindest bei Sitzblockaden „psychische Barrieren errichtet [werden], die eine vergleichbare Wirkung wie physisch unüberwindbare Hindernisse erreichen“ (BGHSt 37, 350, 353). Die Rechtsprechung stellte allein auf die gravierende Zwangswirkung beim Genötigten ab, so wenn sie Gewalt annahm beim dichten Auffahren auf der Überholspur einer Autobahn, das den Vordermann „nervös und unsicher machte“ (BGHSt 19, 163, 166), oder beim Vorhalten einer durchgeladenen Pistole mit dem Finger am Abzug: Dadurch übt der Nötigende nach der Rechtsprechung unmittelbaren körperlichen Zwang auf den Genötigten aus (BGHSt 23, 126, 127). Das BVerfG hat diese Rechtsprechung mit Stimmengleichheit zunächst nicht als verfassungswidrig beurteilt (BVerfGE 73, 206, 242 ff.). In der Literatur wurde diese Rechtsprechungsentwicklung zum Teil gebilligt, zum Teil aber auch wegen der „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs kritisiert. Das BVerfG ist dieser Kritik schließlich gefolgt und hat in einer weiteren Sitzblockaden-Entscheidung aus dem Jahre 1995 die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung als zu unbestimmt und damit wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG als verfassungswidrig angesehen (BVerfGE 92, 1, 16 ff.). Nach Ansicht des BVerfG reicht es nicht aus, dass „die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist“ (BVerfG, ebd., 18). Der BGH hat darauf mit seiner „Zweite-Reihe-Entscheidung“ reagiert und festgestellt: „Haben die Teilnehmer an einer Straßenblockade dadurch, dass sie sich auf die Fahrbahn begeben, Kraftfahrer an der Weiterfahrt gehindert und deren Fahrzeuge bewusst dazu benutzt, die Durchfahrt für weitere Kraftfahrer tatsächlich zu versperren, so kann diesen gegenüber im Herbeiführen eines solchen physischen Hindernisses“ Gewalt liegen (BGHSt 41, 182). Das körperlich wirkende Zwangsinstrument sind danach die Fahrzeuge, die in einem von einem Blockierer verursachten Verkehrsstau die Personen ab der zweiten Reihe an der Weiterfahrt hindern. Diese Auslegung wurde in der bislang letzten Sitzblockaden-Entscheidung des BVerfG (E 104, 92) akzeptiert (s. hierzu Wessels u. Hettinger 2008, S. 116 ff.; Küper 2008, S. 176 f.). Der BGH legt den Gewaltbegriff tatbestandsspezifisch unterschiedlich aus. Bei der sexuellen Nötigung nach § 177 StGB vertritt er einen restriktiven Gewaltbegriff. Gewalt ist hier zu verstehen als eine nicht ganz unerhebliche, gegen den Körper des Opfers gerichtete Einwirkung, die von diesem nicht nur als seelischer, sondern auch als körperlicher Zwang empfunden wird (BGH NStZ 1999, 506). Gewalt gegen eine Person, wie sie z. B. in § 249 StGB vorausgesetzt wird, ist die – nicht unbedingt mit besonderem Krafteinsatz verbundene – Ausübung eines erheblichen körperlichen Zwangs auf einen Menschen, der dazu bestimmt ist, Widerstand zu überwinden oder auszuschließen. Ein nur seelischer Zwang genügt nicht. Eine unmittelbare Einwirkung auf den Körper (z. B. Berührung) ist nicht erforderlich, die mittelbare physische
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Einwirkung, etwa durch Einsperren, reicht aus (s. BGH NStZ 2003, 89; Küper 2008, S. 179). Gewalttätigkeit im Sinne der §§ 124, 125 setzt die Anwendung physischer Kraft durch aggressives Handeln voraus (Dölling 2004, S. 508 f.).
2.1.1.2
Einzelne Deliktsgruppen im StGB
2.1.1.2.1 Straftaten gegen das Leben Der 16. Abschnitt des StGB enthält die Straftaten gegen das Leben. Die §§ 211, 212, 213, 216 StGB umschreiben die vorsätzlichen Tötungsdelikte, § 222 StGB die fahrlässige Tötung. § 221 StGB erfasst mit der Aussetzung ein Lebensgefährdungsdelikt. Während durch die bisher genannten Tatbestände das geborene menschliche Leben geschützt wird, schützen die §§ 218 bis 219 b StGB mit der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs das ungeborene Leben. Geschützt ist das ungeborene Leben ab der Einnistung des befruchteten Eies (Nidation, § 218 Abs. 1 S. 2 StGB). Als geboren gilt das Leben bereits mit dem Beginn der Geburt, d. h. entweder mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen oder bei operativer Entbindung mit dem Beginn des Eingriffs. Die Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch sind zwischen diesen beiden Zeiträumen anwendbar (Fischer 2008, § 218 Rn 2), mit dem Beginn der Geburt gelten die Tatbestände der vorsätzlichen und fahrlässigen Tötungsdelikte. Der strafrechtliche Lebensschutz endet mit dem Tod des Menschen. Dieser ist nach heute herrschender Meinung durch den „endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ definiert (Hirntod, s. § 3 Abs. 2 Nr. 2 Transplantationsgesetz). z Die vorsätzlichen Tötungsdelikte Die Systematik der vorsätzlichen Tötungsdelikte ist zwischen Rechtsprechung und Schrifttum umstritten. Während der BGH in ständiger Rechtsprechung bei den §§ 211 (Mord) und 212 (Totschlag) von zwei selbstständigen Tatbeständen mit arteigenem Unrechtsgehalt ausgeht (seit BGHSt 1, 368, 370), nimmt das Schrifttum ein systematisches Stufenverhältnis an, in dem § 212 den Grundtatbestand der Tötungsdelikte, § 211 eine Qualifikation und § 216 einen privilegierten Fall bilden (Gössel 2004, S. 14). Diese unterschiedlichen systematischen Beurteilungen führen nur bei Teilnahmestrafbarkeiten zu unterschiedlichen Ergebnissen. § 212 StGB (Totschlag) stellt die Tötung eines anderen Menschen unter Strafe. Töten ist die Verursachung des Todes, d. h. nach der Bedingungstheorie das Setzen einer Bedingung, ohne die der Tod in seiner konkreten Gestalt nicht eingetreten wäre. Der Lebensschutz des StGB ist absolut: Eine nur kurzfristige Lebensverkürzung auch bei einem durch Krankheit oder Verletzung Todgeweihten reicht aus (Rengier 2008, S. 10). Die Strafdrohung lautet auf Freiheitsstrafe von fünf bis 15 Jahren, in besonders schweren Fäl-
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len nach Abs. 2 auf lebenslängliche Freiheitsstrafe. § 213 StGB umschreibt minder schwere Fälle des Totschlags, bei denen die Strafdrohung auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren lautet. Ein minder schwerer Fall liegt immer dann vor, wenn der Täter durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Ein sonstiger minder schwerer Fall kann z. B. in der Konstellation des ehemaligen § 217 StGB gegeben sein, wenn eine Mutter ihr nichteheliches Kind im Zusammenhang mit der Geburt tötet (Fischer 2008, § 213 Rn 16). Der Tatbestand des § 212 StGB kann nach § 13 StGB auch durch Unterlassen erfüllt werden, wenn der Täter eine Garantenstellung hat, d. h. rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Todeserfolg nicht eintritt. Dies ist etwa bei Eltern gegenüber ihren Kindern gegeben: Unterlassen sie es, ihr kleines Kind zu füttern, und verhungert dieses, so ist der objektive Tatbestand des § 212 erfüllt. Weitere in diesem Zusammenhang wichtige Garantenstellungen treffen z. B. den Arzt gegenüber seinem Patienten oder den Unfallverursacher gegenüber dem Unfallopfer. Diese Personen sind jeweils dazu verpflichtet, durch ihr Handeln den drohenden Tod des Gefährdeten zu verhindern. Getötet werden muss ein anderer Mensch; die Selbsttötung ist nicht strafbar, somit auch nicht die Beihilfe oder Anstiftung hierzu. Hieraus ergibt sich für die Sterbehilfe: Setzt der Sterbende selbst die letzte Bedingung seines konkreten Todeseintritts und wird ihm dabei lediglich geholfen, so ist der Gehilfe nicht strafbar. Beherrscht dagegen ein anderer das Geschehen, d. h. setzt er die letzte Bedingung für den Tod in seiner konkreten Gestalt und zu seinem konkreten Eintrittszeitpunkt, etwa durch das Verabreichen einer Giftinjektion, erfüllt er den Tatbestand eines Tötungsdelikts, wobei bei einem ausdrücklichen und ernsthaften Verlangen des Getöteten nach dem Privilegierungstatbestand des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) die Strafe auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren lautet. § 211 StGB (Mord) umschreibt in drei Gruppen Qualifikationsmerkmale zum Totschlag. Die erste Gruppe betrifft die besondere Verwerflichkeit des Beweggrundes einer Tötung. Sie ist gegeben, wenn der Täter aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigem Beweggrund tötet. Den Oberbegriff bildet der niedrige Beweggrund. Ein Beweggrund ist niedrig, wenn er als Motiv einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert ist und auf tiefster Stufe steht (BGH NStZ 2006, 286, 287; s. dazu Fischer 2008, § 211 Rn 9 ff.). Die Beurteilung hat aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu erfolgen (BGH NStZ 2004, 34). Die zweite Gruppe der Mordmerkmale umschreibt die besondere Verwerflichkeit der Begehungsweise. Sie ist bei Heimtücke, Grausamkeit oder der Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln gegeben. In der forensischen Praxis am häufigsten ist die Heimtücke. Heimtückisch handelt der Täter, der die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausnutzt (Küper 2008, S. 191 ff.). Arg-
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los ist, wer einen Angriff auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit nicht erwartet. Wehrlos ist derjenige, der in seiner Verteidigungsfähigkeit oder -bereitschaft erheblich eingeschränkt ist. Das Erfordernis eines Handelns in feindlicher Willensrichtung soll Fälle ausschließen, in denen der Täter zum Besten des Opfers handelt, so z. B. bei einer Tötung eines schwer Kranken aus Mitleid. Die dritte Gruppe erfasst die besondere Verwerflichkeit des Handlungszwecks. Sie ist gegeben, wenn der Täter zur Ermöglichung oder zur Verdeckung einer Straftat tötet. Wenn eines dieser Merkmale vorliegt, ist nach dem Gesetz zwingend auf die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen. Insbesondere bei den Merkmalen der Heimtücke und der Verdeckungsabsicht sind Taten vorstellbar, die aus ernst zu nehmenden Konfliktsituationen des Täters hervorgehen – so etwa bei den „Haustyrannenfällen“, in denen das physisch und psychisch unterlegene Opfer sich in formal heimtückischer Weise eines oftmals über einen langen Zeitraum tätigen Peinigers entledigt (s. etwa BGHSt 48, 255). Das BVerfG hat daher bei diesen Merkmalen eine restriktive Auslegung eingefordert (BVerfGE 45, 187, 259 ff., 266 f.). Der BGH hat daraufhin eine „Rechtsfolgenlösung“ kreiert, wonach bei einem Schuldspruch wegen heimtückischen Mordes eine Strafmilderung zu erfolgen hat, wenn außergewöhnliche Umstände von schuldminderndem Gewicht vorliegen, die die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe im Einzelfall als unverhältnismäßig erscheinen lassen (BGHSt 30, 105, 114 ff.). Bei der Verdeckungsabsicht strebt der BGH durch verschiedene restriktive Einzeljudikate die geforderte Einschränkung des Tatbestands an (s. dazu Küper 2008, S. 347 ff.). z Fahrlässige Tötung § 222 StGB (fahrlässige Tötung) stellt die durch eine Sorgfaltswidrigkeit verursachte Tötung eines Menschen unter Strafe. Im Tod muss sich gerade die Gefahr realisieren, die durch die Sorgfaltswidrigkeit geschaffen oder gesteigert worden ist und die nach dem Schutzzweck der Norm vermieden werden soll (Wessels u. Hettinger 2008, S. 55). Die Ermöglichung einer eigenverantwortlichen, aus freien Stücken vollzogenen Selbstschädigung oder Selbstgefährdung ist nicht strafbar. Dies spielt z. B. beim Drogenkonsum eine Rolle: Die Überlassung von Drogen zu einer eigenverantwortlich vorgenommenen, tödlich wirkenden Selbstinjektion durch das Opfer ist nicht als Tötungsdelikt strafbar (BGHSt 32, 262; BGH NJW 2000, 2286). z Aussetzung § 221 StGB (Aussetzung) ist ein Lebens- und Gesundheitsgefährdungsdelikt. Tathandlung ist das Versetzen in eine hilflose Lage (Abs. 1 Nr. 1) oder das Im-Stich-Lassen in einer solchen Lage trotz Beistandspflicht (Abs. 1 Nr. 2). Eine hilflose Lage ist eine Situation, in der sich ein Mensch ohne fremde
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Hilfe nicht gegen Gefahren für Leben oder Gesundheit zu schützen vermag und solche Hilfe für ihn nicht verfügbar ist (Küper 2008, S. 210 f.). Das Opfer muss aufgrund der hilflosen Lage in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung geraten. Eine schwere Gesundheitsschädigung ist ein physischer oder psychischer Krankheitszustand, der die Gesundheit des Betroffenen einschneidend oder nachhaltig beeinträchtigt. Die Strafe ist Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Zu einem Verbrechen mit einer Strafdrohung von Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird die Tat gemäß Absatz 2, wenn sie gegen ein eigenes Kind oder eine Person gerichtet ist, die dem Täter zur Erziehung oder Betreuung anvertraut ist, oder wenn durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht wird. Verursacht der Täter den Tod des Opfers, ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (Abs. 3). z Straftaten gegen das ungeborene Leben Die §§ 218 bis 219 b StGB (Schwangerschaftsabbruch) schützen das ungeborene Leben. Die jetzige Regelung stellt sich als Fristenregelung mit Beratungspflicht dar, die durch Rechtfertigungsgründe beim Vorliegen einer medizinisch-sozialen und einer kriminologischen Indikation ergänzt wird.
2.1.1.2.2 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit Der 17. Abschnitt des StGB enthält die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Dem Grundtatbestand der vorsätzliche Körperverletzung in § 223 StGB folgen unterschiedliche Qualifikationstatbestände (§§ 224 bis 227 StGB), die zum Teil auch Sonderdelikte (§ 225 StGB: Quälen als Zufügung seelischen Leids) enthalten, sowie eine gesonderte Regelung der Einwilligung in § 228 StGB. § 229 StGB stellt die fahrlässige Körperverletzung unter Strafe. § 231 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) enthält ein abstraktes Gefährdungsdelikt. z Vorsätzliche Körperverletzung § 223 StGB (Körperverletzung) enthält den Grundtatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung. Geschütztes Rechtsgut ist die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit des Menschen unter Einschluss seines körperlichen und gesundheitlichen Wohlbefindens (Wessels u. Hettinger 2008, S. 71). Geschützt ist der körperliche Ist-Zustand des Opfers zum Zeitpunkt des Eingreifens durch den Täter, nicht ein gedachter „unversehrter“ Zustand (Fischer 2008, § 223 Rn 5). Eine körperliche Misshandlung ist eine üble, unangemessene Behandlung des Körpers mit der Folge, dass sie das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit – namentlich durch Substanzverletzung – nicht nur unerheblich beeinträchtigt (Dölling 2008, § 223 Rn 4). Eine Gesundheitsschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom normalen Zustand der körperlichen Funk-
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tionen nachteilig abweichenden (pathologischen) Zustandes, gleichgültig, auf welche Art und Weise er verursacht wird und ob das Opfer dabei Schmerzen empfindet (Lackner u. Kühl 2007, § 223 Rn 5). Die Tat ist gemäß § 230 StGB nur auf Antrag zu verfolgen, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Der Versuch ist strafbar. Nach der Rechtsprechung ist auch der ärztliche Heileingriff eine tatbestandliche Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB. Bei einer lege artis vorgenommenen Behandlung entfällt nach dieser Meinung die Rechtswidrigkeit bei einer wirksamen Einwilligung des Patienten, bei einer mutmaßlichen Einwilligung oder beim Vorliegen eines rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB (BGHSt 43, 306, 308; BGH NStZ 1996, 34). In jüngster Zeit lässt der BGH auch eine so genannte hypothetische Einwilligung genügen: Danach entfällt die Rechtswidrigkeit eines ohne ordnungsgemäße Aufklärung durchgeführten ärztlichen Eingriffs, wenn der Patient bei wahrheitsgemäßer Aufklärung in die Operation eingewilligt hätte (BGH NStZ-RR 2004, 16). § 228 StGB stellt eine Sonderregelung für die rechtfertigende Einwilligung dar. Danach ist auch eine mit Einwilligung des Verletzten verwirklichte Körperverletzung dann rechtswidrig, wenn die Tat, d. h. die Körperverletzung, gegen die guten Sitten verstößt. Die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung bestimmt sich nach der neueren Rechtsprechung des BGH nicht mehr so sehr nach den hinter der Tat stehenden Motiven, sondern vor allem nach der Gefährlichkeit der Tat. Somit ist eine Körperverletzung insbesondere dann sittenwidrig, wenn der Verletzte durch die Tat bei vorausschauender objektiver Betrachtung aller maßgeblichen Umstände in Todesgefahr gebracht wird (BGHSt 49, 166; 49, 34, 44). Ähnliches dürfte gelten, wenn durch die Körperverletzung erhebliche irreparable Schäden drohen. § 224 StGB (gefährliche Körperverletzung) enthält verschiedene Qualifikationstatbestände zur vorsätzlichen Körperverletzung. Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ist zu verhängen, wenn die Körperverletzung durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs, mittels eines hinterlistigen Überfalls, mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen wird. Praktisch bedeutsam ist neben der gemeinschaftlichen Tatbegehung die Tatvariante der Begehung mit einem gefährlichen Werkzeug. Darunter ist jeder bewegliche Gegenstand zu verstehen, der nach seiner Beschaffenheit und der konkreten Art der Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen (Küper 2008, S. 452). Nach § 226 StGB (schwere Körperverletzung) wird die Körperverletzung bei Verursachung bestimmter schwerer Folgen zum Verbrechen mit einer Strafdrohung von Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren; in minder schweren Fällen lautet die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Die besonderen Folgen sind der Verlust des Sehvermögens auf
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mindestens einem Auge, des Gehörs, des Sprechvermögens oder der Fortpflanzungsfähigkeit (Abs. 1 Nr. 1), der Verlust oder die dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Gliedes des Körpers (Nr. 2) und eine erhebliche dauernde Entstellung oder das Verfallen in Siechtum, Lähmung, geistige Krankheit oder Behinderung (Nr. 3). Die Strafe erhöht sich auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, wenn der Täter eine der genannten Folgen absichtlich oder wissentlich verursacht (Abs. 2). Gemäß § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) ist der Täter mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu bestrafen, wenn er durch eine vorsätzlich begangene Körperverletzung im Sinne der §§ 223 bis 226 StGB durch Fahrlässigkeit den Tod der verletzten Person verursacht. Aufgrund des großen Sprungs in der Strafbarkeit gegenüber dem Grunddelikt des § 223 StGB ist ein besonderer Zurechnungszusammenhang erforderlich: Im Todeserfolg muss sich die besondere Gefährlichkeit der Körperverletzungshandlung niederschlagen. Ein bloßer Kausalzusammenhang zwischen der Körperverletzung und der Todesfolge reicht nicht aus, darüber hinaus muss der Todeserfolg in einem tatbestandsspezifischen Gefahrverwirklichungszusammenhang stehen. Dabei lässt die Rechtsprechung es allerdings ausreichen, dass das Opfer einer versuchten Körperverletzung durch eigenes Verhalten auf der Flucht zu Tode kommt (BGHSt 48, 34). Kein Zurechnungszusammenhang liegt aber vor, wenn späteres Fehlverhalten Dritter, z. B. des das Opfer der Körperverletzung behandelnden Arztes, auf grober Fahrlässigkeit beruht oder ein Dritter die durch die ursprüngliche Verletzung geschaffene hilflose Lage des Opfers vorsätzlich zu dessen Tötung ausnützt (s. zum Ganzen Kühl 2008, S. 531 ff.). Nach § 225 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) sind bestimmte Personen unter besonderen strafrechtlichen Schutz gestellt. Dabei handelt es sich um Personen unter 18 Jahren oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Personen, die der Fürsorge oder Obhut des Täters unterstehen, seinem Haushalt angehören, vom Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen oder dem Täter im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet sind. Strafbar macht sich nach Abs. 1, wer diese Schutzbefohlenen quält oder roh misshandelt. Quälen ist die Zufügung länger andauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen körperlicher oder seelischer Art (Lackner u. Kühl 2007, § 225 Rn 4). Roh ist eine Misshandlung, wenn sie einer gefühllosen, gegenüber fremdem Leiden gleichgültigen Gesinnung entspringt (Küper 2008, S. 232). § 225 StGB stellt auch seelische Beeinträchtigungen unter Strafe und geht insoweit über den Regelungsgehalt des § 223 StGB hinaus (Fischer 2008, § 225 Rn 2). Strafbar macht sich auch derjenige, der durch böswillige Vernachlässigung der Pflicht, für die Schutzbefohlenen zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt. Die Strafe ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Bringt der Täter den Schutzbefohlenen durch die Tat in die Gefahr des Todes, einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung, ist die Strafe nach Ab-
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satz 3 Freiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr. In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 3 gelten nach Absatz 4 niedrigere Strafrahmen. z Fahrlässige Körperverletzung Nach § 229 StGB (fahrlässige Körperverletzung) ist auch die unvorsätzliche, aber sorgfaltswidrige Verletzung eines anderen strafbar. Die Problematik der Erfolgszurechnung ist ähnlich wie bei der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB (s. 2.1.1.2.1, Abschn. „Fahrlässige Tötung“). Die Einwilligungsregelung nach § 228 gilt auch für die fahrlässige Körperverletzung. z Beteiligung an einer Schlägerei Nach § 231 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) ist bereits die Beteiligung an einem tätlichen Streit von mindestens drei Personen mit gegenseitigen Körperverletzungen strafbar, wenn durch die Schlägerei – nicht unbedingt durch den Täter – der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung im Sinne des § 226 StGB verursacht wird. Diese besonderen Folgen müssen als objektive Bedingungen der Strafbarkeit nicht vom Vorsatz des Täters erfasst sein; es reicht nach der Rechtsprechung sogar aus, dass sie durch eine gerechtfertigte Notwehrhandlung verursacht worden sind (BGHSt 39, 305). Wie die Beteiligung an einer Schlägerei ist auch die Beteiligung an einem von mehreren verübten tätlichen Angriff strafbar. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
2.1.1.2.3 Straftaten gegen die persönliche Freiheit Im 18. Abschnitt des StGB sind die Straftaten gegen die persönliche Freiheit zusammengefasst. Bei diesen Tatbeständen wird die Freiheit der Person allein oder vorrangig geschützt. Bei anderen Tatbeständen ist ein Nötigungselement zwar vorhanden, so etwa beim Raub oder bei der sexuellen Nötigung, doch steht dabei der Schutz eines anderen Rechtsguts im Vordergrund, so beim Raub das Eigentum und bei der sexuellen Nötigung die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung. Der 18. Abschnitt enthält Tatbestände, in denen der Eingriff in die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung den Unrechtskern bildet (Wessels u. Hettinger 2008, S. 106). z Freiheitsdelikte § 240 StGB (Nötigung) stellt die Nötigung eines anderen durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung unter Strafe. Der Gewaltbegriff ist unter 2.1.1.1 erläutert; eine Drohung mit einem empfindlichen Übel ist die ausdrückliche oder schlüssige Ankündigung eines künftigen Übels, auf das der Drohende Einfluss hat oder zu haben vorgibt und das von einer solchen Erheblichkeit ist, dass seine Ankündigung geeignet erscheint, den Bedrohten als einen
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besonnenen Menschen in der konkreten Situation im Sinne des Täterverlangens zu motivieren (Küper 2008, S. 105). Die Tat ist nur dann rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Drohung zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Die Verwerflichkeit ist anzunehmen, wenn die Gesamtwürdigung des Verhältnisses von Mittel und Zweck im konkreten Fall zu dem Ergebnis führt, dass die Tat sozialethisch in hohem Maße missbilligenswert und deshalb sozial unerträglich ist (Otto 2005, S. 104). Der Versuch ist gemäß Absatz 3 strafbar. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, in besonders schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter eine andere Person zu einer sexuellen Handlung oder eine Schwangere zu einem Schwangerschaftsabbruch nötigt oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht (Abs. 4). § 239 StGB (Freiheitsberaubung) schützt die potenzielle persönliche Fortbewegungsfreiheit eines Menschen (BGHSt 14, S. 314, 316). Geschützt ist die Freiheit, den gegenwärtigen Aufenthaltsort verlassen zu können, nicht die Freiheit, einen Ort aufzusuchen (Küper 2008, S. 144). In das geschützte Rechtsgut wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht fortbewegen will. Entscheidend ist allein, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern (BGHSt 32, 183, 188). Auch Schlafende oder Bewusstlose können ihrer potenziellen, wenn auch tatsächlich während der Tatdauer nicht empfundenen Freiheit, den Aufenthalt bei Wiedererlangung des Bewusstseins zu verändern, beraubt werden (Gössel 2004, S. 251). Tathandlung nach Absatz 1 ist zunächst das Einsperren. Darunter versteht man die Verhinderung des Verlassens eines Raumes durch äußere Vorrichtungen (Küper 2008, S. 128). Oberbegriff der möglichen Tathandlungen ist die Freiheitsberaubung. Sie liegt vor, wenn dem Opfer die Möglichkeit genommen oder wesentlich erschwert wird, seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen (ebd., S. 143). Es reicht jedes Mittel aus, das geeignet ist, einem anderen die Fortbewegungsfreiheit zu nehmen, so z. B. Betäubung, Fesselung, Festhalten, Einkesseln, auch falsche Anzeigen oder Aussagen, die – in mittelbarer Täterschaft – einen gerechtfertigten behördlichen Freiheitsentzug bewirken (Rengier 2008, S. 145). Ein nur kurzfristiges Festhalten im Laufe einer körperlichen Auseinandersetzung genügt regelmäßig nicht (BGH NStZ 2003, 371). Auch List und Drohung kommen als Begehungsmittel in Frage. Eine Drohung genügt jedenfalls dann, wenn das angedrohte Übel den Grad einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erreicht (BGH NJW 1993, 1807). Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Zum Verbrechen mit einer Strafandrohung von Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird die Tat gemäß Absatz 3, wenn der Täter das Opfer länger als eine Woche der Freiheit beraubt oder beim Opfer durch die Tat oder während der Tat eine schwere Gesundheitsschädigung verursacht. Wenn der Täter durch die oder während der Tat den Tod des Opfers verursacht, be-
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trägt die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (Abs. 4). Für minder schwere Fälle der Absätze 3 und 4 enthält Absatz 5 niedrigere Strafrahmen. § 239 a StGB (erpresserischer Menschenraub) schützt die persönliche Freiheit und Unversehrtheit des Entführten oder eines in Sorge gebrachten Dritten (Fischer 2008, § 239 a Rn 2). Auch wenn mit der Erpressung ein Angriff auf das Vermögen geplant oder ausgeführt wird, handelt es sich im Schwerpunkt nicht um ein Vermögens-, sondern um ein Freiheitsdelikt (Wessels u. Hillenkamp 2008, S. 373). Absatz 1 enthält einen Entführungs- und einen Ausnutzungstatbestand. Tathandlung beim Entführungstatbestand ist das Entführen oder das Sichbemächtigen. Entführen ist die vom Täter vorgenommene oder veranlasste Änderung des Aufenthaltsortes einer Person mit der Wirkung, dass das Opfer der Herrschaftsgewalt des Täters ausgeliefert ist (Küper 2008, S. 130). Sichbemächtigen ist die Begründung physischer Herrschaft über den Körper eines anderen. Es genügt die Schaffung einer Herrschaftsbeziehung auch durch Täuschung oder Drohung, etwa durch das Vorhalten einer ungeladenen Schusswaffe, die eine Ortsveränderung des Opfers verhindert oder wesentlich erschwert (BGH NStZ 1999, 509; 2002, 31, 32). Hinzu kommen muss die Absicht, eine Erpressung (§ 253 StGB) zu begehen, und zwar unter Ausnutzung der Sorge des Opfers oder eines Dritten um das Wohl des Entführungs- beziehungsweise Bemächtigungsopfers. Zur Vollendung des erpresserischen Menschenraubes ist die Ausführung der Erpressung nicht erforderlich, es genügt die Tathandlung unter gleichzeitigem Vorliegen der bezeichneten Absicht. In der Ausnutzungsvariante verwirklicht der Täter die Tathandlung des Entführens oder Sichbemächtigens ohne Vorliegen einer Erpressungsabsicht, begeht aber in einer zweiten Stufe unter Ausnutzung der so geschaffenen Situation zumindest einen Erpressungsversuch (Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 367). Zunächst (bis 1989) war das Delikt – ebenso wie § 239 b StGB – auf Dreipersonenverhältnisse beschränkt. Der Täter entführte das Opfer, um mit der Sorge um den Entführten einen Dritten zu erpressen. Der Gesetzgeber hat diesen Tatbestand und § 239 b StGB dann auf Zweipersonenverhältnisse ausgeweitet und gleichzeitig die Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe auf fünf Jahre angehoben. Nun reicht es aus, wenn Entführungsopfer und Erpressungsopfer identisch sind. Danach könnte es häufig so liegen, dass der Täter eine (räuberische) Erpressung (§§ 253, 255 StGB) mit einer – bei § 253 StGB – Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe begeht und gleichzeitig einen erpresserischen Menschenraub mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren. Der die Tat prägende Schwerpunkt des kriminellen Unrechts liegt dabei in der Erpressung, die deutlich höhere Strafe leitet sich aber aus der Freiheitsbeschränkung ab, die nach § 239 a StGB unter Strafe gestellt ist. Darüber hinaus ist die Möglichkeit des strafbefreienden Rücktritts von der Erpressung regelmäßig noch dann gegeben, wenn § 239 a StGB bereits vollendet ist. Ein Täter tritt damit von der ursprünglich intendierten Tat zurück, ist aber nach § 239 a StGB mit seiner hohen Strafdro-
2.1 Gewaltdelinquenz
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hung bereits wegen Vollendung strafbar. Eine parallele Problematik ergibt sich für die Geiselnahme nach § 239 b StGB (Mindeststrafe: fünf Jahre Freiheitsstrafe) im Verhältnis etwa zur sexuellen Nötigung (§ 177 StGB, Mindeststrafe: ein Jahr Freiheitsstrafe). Der Große Senat des BGH hat auf dieses Problem mit einer restriktiven Anwendung der §§ 239 a, 239 b StGB reagiert. Danach sind diese Tatbestände im Zweipersonenverhältnis nur dann verwirklicht, wenn der Täter beabsichtigt, eine durch die Entführung oder das Sichbemächtigen geschaffene, eine gewisse Stabilität erfordernde Lage zur Erpressung auszunützen (beziehungsweise bei § 239 b StGB zu einer weiteren Nötigung). Erforderlich ist also eine stabile Zwischenlage, eine eigenständige Bedeutung der Bemächtigungssituation, an der es beim Sichbemächtigen eher fehlen wird als beim Entführen (BGHSt 40, 350, 355 ff.; zur Kritik an dieser Lösung s. Fischer 2008, § 239 a Rn 8). Die Vorschrift hat im Grundtatbestand eine Strafdrohung von Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, in minder schweren Fällen nicht unter einem Jahr. Nach Absatz 4 kann das Gericht die Strafe nach § 49 Absatz 1 StGB mildern, wenn der Täter das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in dessen Lebenskreis zurückgelangen lässt oder, falls dies ohne Zutun des Täters geschieht, er sich darum ernsthaft bemüht. Verursacht der Täter durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, lautet die Strafe auf Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe. § 239 b StGB (Geiselnahme) verlangt als Tathandlung wie § 239 a StGB ein Entführen oder Sichbemächtigen. In der ersten Alternative des Absatzes 1 ist die Tat vollendet, wenn der Täter diese Handlung mit der Absicht verwirklicht, mit dem Tod des Opfers, einer schweren Körperverletzung im Sinne des § 226 StGB oder einer Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu drohen und dadurch das Opfer oder einen Dritten zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. In der Ausnutzungsvariante begeht der Täter die Tathandlung ohne Drohungs- und Nötigungsabsicht, nutzt aber die von ihm geschaffene Entführungs- oder Bemächtigungslage in einer zweiten Stufe zur qualifizierten Nötigung aus. Die Strafdrohung ist identisch mit der in § 239 a StGB, auch die Qualifizierungs- und Strafmilderungsmöglichkeiten entsprechen denen in § 239 a StGB. § 234 StGB stellt den Menschenraub unter Strafe. Danach macht sich strafbar, wer sich einer anderen Person mit Gewalt, Drohung oder durch List bemächtigt, um sie in hilfloser Lage auszusetzen oder dem Dienst in einer militärischen Einrichtung im Ausland zuzuführen. Die Strafe lautet auf Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Nach § 234 a StGB (Verschleppung) macht sich strafbar, wer eine andere Person durch Gewalt, Drohung oder List außerhalb Deutschlands verbringt oder daran hindert, nach Deutschland zurückzukehren, und dadurch der Gefahr aussetzt, politisch verfolgt zu werden. § 235 StGB (Entziehung Minderjähriger) schützt das elterliche oder sonstige familienrechtliche Sorgerecht und die körperliche und seelische Inte-
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grität von Minderjährigen (Fischer 2008, § 235 Rn 2). Strafbar macht sich, wer eine Person unter 18 Jahren mit Gewalt, Drohung oder List oder wer ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein, seinen Eltern, dem Vormund oder Pfleger entzieht. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Das Delikt ist in seinen Grundtatbeständen nach Absatz 7 ein Antragsdelikt. Wird das Opfer durch die Entziehung einer qualifizierten Gefahr ausgesetzt oder handelt der Täter, um sich zu bereichern, wird die Tat nach Absatz 4 mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bedroht. Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (Abs. 5). Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 236 StGB (Kinderhandel) schützt die ungestörte körperliche und seelische Entwicklung der betroffenen Minderjährigen. Strafbar macht sich nach Absatz 1, wer sein minderjähriges Kind beziehungsweise sein Mündel oder seinen Pflegling unter grober Vernachlässigung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht einem anderen auf Dauer überlässt und dabei gegen Entgelt oder mit Bereicherungsabsicht handelt. Komplementär strafbar dazu ist derjenige, der einen solchen Minderjährigen bei sich auf Dauer aufnimmt und dafür ein Entgelt gewährt. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Nach Absatz 2 macht sich strafbar, wer unbefugt die Adoption eines Minderjährigen vermittelt und dabei gegen Entgelt oder mit Bereicherungsabsicht handelt. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Bewirkt der Täter eine grenzüberschreitende Vermittlungstätigkeit, lautet die Strafe auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Der Versuch ist strafbar. Nach Absatz 5 kann das Gericht bei Tätern oder Teilnehmern, die zum Wohle des Minderjährigen handeln, die Strafe unter bestimmten Umständen mildern oder ganz von Strafe absehen. Gemäß Absatz 4 erhöht sich die Strafe auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, wenn der Täter aus Gewinnsucht, gewerbsmäßig oder als Mitglied einer für die Begehung dieser Taten verbundenen Bande handelt oder wenn der vermittelte Minderjährige durch die Tat in die Gefahr einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit gebracht wird. Der § 238 StGB (Nachstellung) wurde 2007 zum Schutz vor „Stalking“ in das Strafgesetzbuch eingeführt. Geschütztes Rechtsgut ist die Freiheit der Person, aber auch die Gesundheit und die Wahrung des seelischen Wohlbefindens. Tathandlung ist das unbefugte, die Lebensgestaltung des Opfers schwerwiegend beeinträchtigende Nachstellen. Es ist beispielsweise erfüllt, wenn der Täter beharrlich die räumliche Nähe des Opfers aufsucht oder durch Kommunikationsmittel über Dritte Kontakt herzustellen sucht. Auch das Bestellen von Waren oder Dienstleistungen unter missbräuchlicher Verwendung der personenbezogenen Daten des Opfers, die Veranlassung Dritter, mit dem Opfer Kontakt aufzunehmen, oder die Bedrohung mit der Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrheit, Gesundheit oder Freiheit des Geschädigten oder einer ihm nahe stehenden Person stellen Ausprägungen der Nachstellung dar. Stets muss der Täter beharrlich handeln, das heißt es ist eine besondere Hartnäckigkeit verlangt, durch die der Täter
2.1 Gewaltdelinquenz
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seine Gleichgültigkeit oder Missachtung der Opferbelange offenbart und die eine zukünftige Belästigung als nahe liegend erscheinen lässt. Die Strafe ist Freitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter das Opfer oder eine ihm nahe stehende Person durch die Tat in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt. Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers oder einer ihm nahe stehende Person, ist die Tat mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bedroht. Nach § 241 StGB (Bedrohung) macht sich strafbar, wer einen anderen Menschen mit der Begehung eines gegen diesen oder eine diesem nahe stehende Person gerichteten Verbrechens bedroht. Ein Verbrechen ist jedes Delikt, das in der Mindeststrafe mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist (§ 12 Abs. 1). Ebenso wird bestraft, wer wider besseres Wissen einer Person vortäuscht, dass ein gegen sie oder eine nahe stehende Person gerichtetes Verbrechen bevorstehe. Die Strafdrohung ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. z Menschenhandel Mit den §§ 232 bis 233 a StGB soll der internationale Menschenhandel bekämpft werden. Die Neufassung wurde im Wesentlichen durch den Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 19. 7. 2002 veranlasst, der die Mitgliedsstaaten verpflichtet, bestimmte Formen der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft unter wirksame Strafe zu stellen. Geschütztes Rechtsgut ist die persönliche Freiheit (Lau 2008, § 232 Rn 1). Grundmerkmal des Menschenhandels ist das „Dazubringen“: Darunter ist jede tatsächliche Herbeiführung der entsprechenden Verhaltensweise zu verstehen (Schroeder 2005, S. 1395). Das Opfer muss nach § 232 StGB (Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung) gemäß Absatz 1 zur Aufnahme oder Fortsetzung von Prostitution oder zu sexuellen Handlungen, durch die es ausgebeutet wird, gebracht werden. Die Ausbeutung durch sexuelle Handlungen ist im Sinne einer wirtschaftlichen Ausbeutung zu verstehen; darunter fallen insbesondere sexuelle Handlungen zur Herstellung pornografischer Schriften, die Ausbeutung von Frauen in Peepshows oder beim so genannten Heiratshandel (BT-Drs. 15/4048, 12; BGH NStZ 1999, 349). Das Dazubringen muss unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, geschehen. Die auslandsspezifische Hilflosigkeit liegt vor, wenn das Opfer nach seiner konkreten Lage und seinen persönlichen Fähigkeiten aufgrund der spezifischen Schwierigkeiten des Auslandsaufenthalts nicht oder nur wesentlich eingeschränkt in der Lage ist, sich dem Verlangen nach sexueller Betätigung zu widersetzen (BGH NStZ-RR 2007, 46). Die Strafe ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Absatz 3 sieht Qualifikationstatbestände für die Fälle vor, dass das Opfer ein Kind ist, der Täter das Opfer in die Gefahr des Todes bringt oder körper-
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lich schwer misshandelt oder der Täter die Tat gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande begeht. Die Strafe ist dann Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren. Nach Absatz 4 wird genauso bestraft, wer eine andere Person durch Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List zur Aufnahme oder Fortsetzung der Prostitution oder zu den in Absatz 1 genannten sexuellen Handlungen bringt. § 233 StGB (Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft) stellt die ausbeuterische Ausnutzung der Arbeitskraft unter Strafe. Tathandlung nach Absatz 1 ist das Bringen in bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist.
2.1.1.2.4 Weitere Tatbestände Weitere Tatbestände, die gegen Gewalt im Sinne der unter 2.1.1.1 dargelegten Definition gerichtet sind, sind § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) und § 125 StGB (Landfriedensbruch). z Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) schützt neben der rechtmäßig betätigten Vollstreckungsgewalt des Staates auch die zu ihrer Ausübung berufenen Organe (Dölling 2004, S. 589). Der geschützte Personenkreis umfasst Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und Soldaten der Bundeswehr bei der Vollziehung von Vollstreckungshandlungen. Darunter ist jede Tätigkeit zu verstehen, durch die der in einem bestimmten Einzelfall bereits konkretisierte Staatswille gegenüber bestimmten Personen notfalls mit Zwang verwirklicht werden soll (BGHSt 25, 313, 314). Strafbar macht sich, wer bei Vollstreckung einer solchen Handlung einem Amtsträger oder Soldaten mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder den Vollstreckenden tätlich angreift. Gewalt in diesem Zusammenhang hat eine engere Bedeutung als der oben dargelegte Gewaltbegriff des § 240 StGB. Darunter ist hier eine durch tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden gerichtete Kraftäußerung mit körperlicher Zwangswirkung zu verstehen. Rein passiver Widerstand (bloßer Ungehorsam) reicht nicht (Lackner u. Kühl 2007, § 113 Rn 5). Widerstandleisten ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten, mit der die Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll (Dölling 2004, S. 591). Ein tätlicher Angriff ist jede in feindseliger Absicht unmittelbar auf den Körper des Betroffenen zielende Einwirkung. Zur Körperberührung muss es nicht kommen. Der Angriff muss nicht auf ein Widerstandleisten gegen die Vollstreckungshandlung abzielen (Wessels u. Hettinger 2008, S. 184). Nach Absatz 3 ist der Täter nur strafbar, wenn die Vollstreckungshandlung rechtmäßig ist. Nimmt der Täter irrig an, sie sei rechtmäßig, ist er nicht zu bestrafen. Nimmt er irrig an, die Vollstreckungshandlung sei
2.1 Gewaltdelinquenz
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rechtswidrig, kann das Gericht die Strafe nach Absatz 4 mildern oder ganz von Strafe absehen, wenn der Täter den Irrtum vermeiden konnte. Ebenso kann das Gericht verfahren, wenn der Irrtum unvermeidbar und dem Täter zuzumuten war, sich mit einem Rechtsbehelf gegen die Vollstreckung zu wehren. War ihm dies nicht zuzumuten, ist der Täter nicht strafbar. Die Tat ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe bedroht. In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter oder ein an der Tat Beteiligter eine Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, oder wenn der Täter das Opfer durch eine Gewalttätigkeit in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt. z Landfriedensbruch § 125 StGB (Landfriedensbruch) schützt die öffentliche Sicherheit als Zustand des unbedrohten Daseins im Staat und daneben auch die durch die jeweiligen Tathandlungen bedrohten Individualrechtsgüter wie Leben, Leib und Eigentum (Dölling 2004, S. 508). Der Tatbestand erfasst Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen sowie Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die jeweils aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden. Strafbar macht sich, wer sich an solchen Handlungen als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe und nach § 125 a StGB (besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs) Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter eine Schusswaffe bei sich führt, eine andere Waffe bei sich führt in der Absicht, diese zu verwenden, wenn er einen anderen durch eine Gewalttätigkeit in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt oder wenn er plündert oder bedeutenden Schaden an fremden Sachen anrichtet.
2.1.1.2.5 Delikte gegen Eigentum, Vermögen und gegen die sexuelle Selbstbestimmung Bei den Raubdelikten (§§ 249, 250, 251, 252 StGB), der (räuberischen) Erpressung (§§ 253, 255 StGB) sowie bei verschiedenen Sexualdelikten (§§ 176 ff., 177 ff., 179 StGB) handelt es sich ebenfalls um Delikte, die mit einem Eingriff in die physische oder psychische Integrität des Opfers verbunden sind. Doch steht bei diesen Tatbeständen der Schutz anderer Rechtsgüter im Vordergrund: bei Raub und Erpressung der Eigentums- und Vermögensschutz, bei Sexualdelikten der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, sodass die juristischen Grundlagen dieser Delikte in den jeweiligen Abschnitten dargelegt werden.
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Literatur Dölling D (2004) Straftaten gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit. In: Gössel KH, Dölling D: Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. Müller, Heidelberg, S 427–721 Dölling D (2008) Kommentierung der §§ 223 bis 231 StGB. In: Dölling D, Duttge G, Rössner D (Hrsg) Gesamtes Strafrecht StGB/StPO/Nebengesetze Handkommentar. Nomos, BadenBaden, S 1162–1182 Fischer T (2008) Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. Beck, München Gössel KH (2004) Straftaten gegen immaterielle Rechtsgüter des Individuums. In: Gössel KH, Dölling D: Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. Müller, Heidelberg, S 11–425 Kühl K (2008) Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. Vahlen, München Küper W (2008) Strafrecht Besonderer Teil. Definitionen und Erläuterungen, 7. Aufl. Müller, Heidelberg. Kürzinger J (1993) Gewaltkriminalität. In: Kaiser G, Kerner HJ, Sack F, Schellhoss H (Hrsg) Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Müller, Heidelberg, S 171–177 Lackner K, Kühl K (2007) Strafgesetzbuch. Kommentar, 26. Aufl. Beck, München Laue G (2008) Kommentierung der §§ 232 bis 233 a StGB. In: Dölling D, Duttge G, Rössner D (Hrsg) Gesamtes Strafrecht StGB/StPO/Nebengesetze Handkommentar. Nomos, BadenBaden, S 1183–1186 Otto H (2005) Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. De Gruyter, Berlin Rengier R (2008) Strafrecht Besonderer Teil II. Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit, 9. Aufl. Beck, München Schroeder FC (2005) Das 37. Strafrechtsänderungsgesetz: Neue Vorschriften zur Bekämpfung des „Menschenhandels“. Neue Juristische Wochenschrift 58:1393–1396 Wessels J, Hettinger M (2008) Strafrecht Besonderer Teil/1. Straftaten gegen Persönlichkeitsund Gemeinschaftswerte, 32. Aufl. Müller, Heidelberg Wessels J, Hillenkamp T (2008) Strafrecht Besonderer Teil/2. Straftaten gegen Vermögenswerte, 31. Aufl. Müller, Heidelberg
2.1.2
Kriminologische Grundlagen der Gewaltdelinquenz A. Dessecker
Ausmaß und Entwicklung der bekannt gewordenen Gewaltdelinquenz werden üblicherweise anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik bestimmt, die einer pragmatischen Abgrenzung mit Hilfe eines Katalogs von Delikten folgt (s. 2.1.2.1). Doch gelangt ein nicht unbeträchtlicher Teil gewaltsamer Ereignisse nicht zur Kenntnis der Polizei und bleibt im Dunkelfeld (s. 2.1.2.2). Eine besondere Rolle spielen schließlich Gewalthandlungen in psychiatrischen Einrichtungen (s. 2.1.2.3). Die ausgewählten Themenbereiche, die in diesem Artikel behandelt werden können, schöpfen das Spektrum kriminologischer Erkenntnisse über Gewaltdelinquenz bei weitem nicht aus; ausführlichere Darstellungen finden sich in Handbüchern und Nachschlagewerken der Kriminologie (Eisenberg 2005, S. 659 ff.; Kaiser 1996, S. 693 ff.; Kürzinger 1993; Levi et al. 2007), aber auch in den periodischen Sicherheitsberichten der Bundesregierung (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 59 ff.).
2.1 Gewaltdelinquenz
2.1.2.1
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Ausmaß und Entwicklung der Gewaltdelinquenz
2.1.2.1.1 Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik Offizielle Statistiken wie die deutsche Polizeiliche Kriminalstatistik beschäftigen sich nicht grundsätzlich mit Gewaltbegriffen; sie gehen eher pragmatisch vor und zählen einzelne Straftatbestände oder Deliktgruppen auf. Die polizeiliche Definition von Gewaltkriminalität umfasst folgende Delikte (Bundeskriminalamt 2008 b, S. 16): z Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, z Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, z Raub, räuberische Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, z gefährliche und schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge, z erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme, z Angriff auf den Luft- und Seeverkehr. Eine solche Aufzählung bringt es mit sich, dass jede einzelne der genannten Deliktgruppen abgrenzungsbedürftig ist. Einbezogen werden die vorsätzlichen Tötungsdelikte der §§ 211, 212 und 216 StGB, nicht aber die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) oder der vorsätzliche Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB). Die Diskussion in der kriminologischen Literatur, ob Gewaltkriminalität nicht noch weitere Tatbestände umfassen sollte, beginnt schon hier (Eisenberg 2005, S. 663 ff.; Kaiser 1996, S. 710). Vor allem bezieht sich die Darstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Gewaltkriminalität nur auf einen Teilbereich der Körperverletzungen, hauptsächlich den Qualifikationstatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 StGB), der etwa mit dem Einsatz einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs, aber auch durch gemeinschaftliches Handeln von mindestens zwei Tatbeteiligten erfüllt ist. Im Berichtjahr 2007 entfallen auf alle Delikte dieser Definition zusammen genommen rund 218 000 Fälle, das sind 3,5% der polizeilich registrierten Kriminalität in diesem Jahr. Zahlenmäßig betrachtet handelt es sich also um einen kleinen Ausschnitt der von der Polizei registrierten Delikte. Die Verteilung innerhalb dieser Deliktgruppe ist ungleichmäßig (Tabelle 2.1.1). Allein auf die qualifizierten Körperverletzungen entfallen mehr als zwei Drittel der Delikte, die von der Polizei der Gewaltkriminalität zugeordnet werden. Die Aufklärungsquote, also der Anteil der Fälle, für die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis eine mindestens namentlich bekannte oder auf frischer Tat ergriffene Person als tatverdächtig gilt (Kaiser 1996, S. 359), erreicht für die meisten Gewaltdelikte ein hohes Niveau. Bei den Tötungsdelikten liegt sie über 90%, während bei den Raubdelikten nur jeder zweite Fall aufgeklärt wird. Von der Polizei werden 44% der registrierten Gewaltkriminalität (ohne Tötungsdelikte) als Straßenkriminalität bezeichnet. Die registrierten Tatverdächtigen sind überwiegend männlichen Geschlechts, nur rund ein Achtel der Tatverdächtigen entfällt auf Frauen und Mädchen. Altersspezifisch liegt die höchste Tatverdächtigenbelastung, die
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Tabelle 2.1.1. Verteilung der Gewaltkriminalität nach Straftatengruppen (Bundeskriminalamt 2008 b, S. 227 u. Tabelle 01) z Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen z Vergewaltigung und sexuelle Nötigung z Raub, räuberische Erpressung, räuberischer Angriff auf Kraftfahrer z gefährliche und schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge z erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme z Angriff auf den Luft- und Seeverkehr z Gewaltkriminalität (PKS)
2347 7511 52 949
1,1% 3,4% 24,3%
154 973
71,1%
141 2
0,1% –
217 923
100%
PKS Polizeiliche Kriminalstatistik
in aussagekräftiger Weise allerdings nur für deutsche Staatsangehörige berechnet werden kann, bei den jungen Männern in den Altersgruppen zwischen 16 und 21 Jahren, bei den Mädchen bereits im Alter von 14 bis 16 Jahren. Junge Männer sind bei den Tatverdächtigen wie bei den mutmaßlichen Opfern von Gewaltkriminalität überrepräsentiert. Das lässt sich als Hinweis darauf interpretieren, dass ein großer Teil der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität Fälle von Jugendgewalt unter Gleichaltrigen betrifft (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 354 ff.). Gewaltkriminalität im Sinne der Polizeilichen Kriminalstatistik bezieht sich auf Verdachtsfälle, bei denen die Polizei davon ausgeht, dass einer der genannten Straftatbestände erfüllt ist. Staatsanwaltschaften oder Gerichte werden nicht in jedem Fall zu einem übereinstimmenden Ergebnis kommen. Wie die Forschung zeigt, spielen abweichende Subsumtionen vor allem bei den Tötungsdelikten eine Rolle, wobei die Strafverfolgungsbehörden tendenziell strengere Maßstäbe anlegen als die ermittelnden Polizeibeamten. Das kann dazu führen, dass ein Vorfall, der von der Polizei als vollendeter Totschlag registriert wurde, zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge führt (Sessar 1981, S. 103 f., 132 ff.; Verrel 1995, S. 73 ff.).
2.1.2.1.2 Entwicklung der Gewaltdelinquenz Abbildung 2.1.1 enthält eine Darstellung von Zeitreihen zum Gesamtbereich der von der Polizei mit dem – seit 1973 in der Definition unveränderten – Begriff „Gewaltkriminalität“ registrierten Delikte sowie zu den beiden bedeutsamsten Untergruppen der gefährlichen und schweren Körperverletzung und der Raubdelikte. Hinzu kommt die Kurve der einfachen Körperverletzungen (§ 223 StGB), die in den Veröffentlichungen zur Polizeilichen Kriminalstatistik nicht in den Summenschlüssel „Gewaltkriminalität“ eingeht.
2.1 Gewaltdelinquenz
z
350000 300000
erfasste Fälle
250000
einfache Körperverletzung „Gewaltkriminalität” qualifizierte Köperverletzung Raubdelikte
200000 150000 100000 50000 0 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991
1994 1996 1998 2000 2002 2004
Abb. 2.1.1. Zeitreihen zur polizeilich registrierten Gewaltdelinquenz 1973–2004 (Bundeskriminalamt 1987, S. 178 ff.; 2008 a, T01)
Alle Zeitreihen in Abb. 2.1.1 erwecken den Eindruck eines mehr oder weniger starken und stetigen Anstiegs der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität. Dabei wird die Summenkategorie „Gewaltkriminalität“ zunehmend von den qualifizierten Körperverletzungen dominiert. Die Betrachtung der auf die Wohnbevölkerung bezogenen Häufigkeitszahlen relativiert den ersten Eindruck kaum. Danach wächst die Summenkategorie von 112 Fällen pro 100 000 Personen in der Bevölkerung (1973) auf 256 Fälle (2004), und bei den qualifizierten Körperverletzungen bleibt ein noch etwas stärkerer Anstieg der Häufigkeitszahl von 66 (1973) auf 169 (2004). Allein bei den Raubdelikten registriert die Polizei seit Ende der 1990er Jahre einen gewissen Rückgang; die Häufigkeitszahl 29,5 (1973) hat sich auch hier in den letzten 30 Jahren auf 72 (2004) mehr als verdoppelt. Für die Fälle, die von den Staatsschutzdezernaten bearbeitet werden und nicht in die Polizeiliche Kriminalstatistik eingehen, hat die Polizei einen umfassenderen Begriff der Gewaltkriminalität entwickelt, der zusätzlich zu den bereits genannten noch die Straftatbestände einfache Körperverletzung, Brandstiftung, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, Landfriedensbruch, gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr, Freiheitsberaubung, einfache Erpressung und die Widerstandsdelikte umfasst. In der Polizeipraxis ist diese Liste von geringer Bedeutung, weil die Staatsschutzdezernate nur einen kleinen Ausschnitt von Kriminalität bearbeiten, der neuerdings unter der Überschrift „politisch motivierte Kriminalität“ zusammengefasst wird (Singer 2004). Man kann sich jedoch fragen, warum dieser umfassendere Begriff bei mutmaßlicher „Hasskriminalität“, also etwa Straftaten mit einem rassistischen Hintergrund, gelten soll, nicht aber jenseits dieses speziellen Bereichs. Quantitativ bei weitem am bedeutsamsten sind einfache Körperverletzungen; aus diesem Grund werden sie in Abb. 2.1.1 berücksichtigt. Dieser Tat-
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bestand erfasst alles, was strafrechtlich als Gesundheitsschädigung oder als körperliche Misshandlung betrachtet wird – von der heftigeren Ohrfeige bis hin zur ständigen Lärmbelästigung (Lackner u. Kühl 2007, § 223 Rn 4 ff.). Solche Delikte haben sich selbst nach den Häufigkeitszahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik in den letzten 30 Jahren vervierfacht (1973: 96; 2007: 448). Für die langfristige Zunahme der registrierten Gewaltdelinquenz in Deutschland werden verschiedene Erklärungen angeboten. Obwohl sich viele dieser Delikte unter männlichen Jugendlichen abspielen und nur ein kleiner Ausschnitt zur Kenntnis der Polizei gelangt, liegt deren Einschaltung für Jugendliche und ihre Eltern heute möglicherweise näher als früher (Walter 2005, S. 318 f.). Die Sensibilität gegenüber Gewalterfahrungen hat zugenommen (von Hofer 2004; Köllisch u. Oberwittler 2004). Die Forschung liefert weiter Hinweise, dass das Anzeigeverhalten auch von der Wahrnehmung des Gegenübers als Angehörigem einer „fremden“ Gruppe beeinflusst wird (Mansel u. Albrecht 2003; Wilmers et al. 2002, S. 34 ff.). Auch Gewalt in engen sozialen Beziehungen, die früher zu einer bloßen „Familienangelegenheit“ erklärt worden sein mag, dürfte heute eher angezeigt und von der Polizei als strafrechtlich relevant eingeordnet werden, was von neuen gesetzlichen Regelungen wie dem Gewaltschutzgesetz unterstützt wird (Steffen 2005).
2.1.2.2 Gewaltdelinquenz im Dunkelfeld In Deutschland gibt es bislang keine regelmäßigen Befragungen über Kriminalitätserfahrungen oder selbst begangene Gewaltdelinquenz, aber immerhin einige überregionale Opferbefragungen von Stichproben, die für die Wohnbevölkerung des ganzen Landes oder zumindest für mehrere Bundesländer repräsentativ sind (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 16 ff.).
2.1.2.2.1 Bevölkerungsbefragungen bis 1995 Danach lassen sich für den Zeitraum von 1990 bis 1995 insbesondere für die östlichen Bundesländer erhöhte Opfer- und Deliktraten bei fast allen Deliktformen feststellen, die Gegenstand der Befragungen waren. Nach den im Frühjahr 1991 in der ehemaligen DDR erhobenen Daten von Ewald et al. (1994, S. 102 ff.) gehören alle erfragten Gewaltdelikte – Angriff mit und ohne Waffen, Handtaschenraub, Raub und sexuelle Gewalt gegen Frauen – mit Opferraten unter 4% in den vergangenen fünf Jahren erwartungsgemäß zu den Delikten mit vergleichsweise geringen Viktimisierungsraten. Dies gilt auch noch für den Zeitraum nach der Grenzöffnung im November 1989. Eine deutliche Steigerung lässt sich jedoch für Angriffe mit Waffen, Handtaschenraub und mehrere nicht mit Gewaltanwendung verbundene Delikte feststellen. Bereits im Herbst 1990 wurde die Befragung von Kury et al. (1992, S. 107 ff., 138 ff.) in den östlichen und westlichen Ländern durchgeführt. Gegenstand waren elf Delikte und Deliktbereiche, darunter versuchter und vollendeter Raub sowie tätlicher Angriff und Bedrohung. Opfer eines Raub-
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delikts innerhalb von fünf Jahren vor der Befragung waren nach dieser Studie 0,7% der Befragten in Ostdeutschland, aber mit 1,7% mehr als doppelt so viele in Westdeutschland. Doch ereignete sich über die Hälfte der Viktimisierungen in Ostdeutschland in dem relativ kurzen Zeitraum nach der Grenzöffnung. Über tätliche Angriffe und Bedrohungen wurde von 3 bis 4% der Befragten berichtet, wobei sich keine deutlichen geografischen und zeitlichen Unterschiede zeigten. Die Datenerhebung von Wetzels et al. (1995, S. 52 ff.), die sich in erster Linie auf ältere Personen als Kriminalitätsopfer konzentrierte, aber auch Befragte im Alter zwischen 16 und 60 Jahren einbezog, fand im Frühjahr 1992 statt. Im Rahmen dieser Studie wurden – neben weiteren Delikten – Handtaschenraub, sonstiger Raub, Vergewaltigung/sexuelle Nötigung und Körperverletzung mit Waffen als „schwere Gewalt“ sowie einfache Körperverletzung ohne Waffen erfasst. Für den Zeitraum von fünf Jahren vor der Befragung, also die Jahre 1987 bis 1991, gaben über 5% der Befragten unter 60 Jahren an, Opfer einer einfachen Körperverletzung geworden zu sein. Bei den Raubdelikten und Körperverletzungen mit Waffen liegen die Opferraten um 2% und damit deutlich niedriger. Während diese Opferraten für den gesamten Zeitraum seit 1987 in den westlichen Bundesländern meist höher liegen als in der ehemaligen DDR, kehrt sich dieses Verhältnis für das Jahr 1991 weitgehend um: Außer bei den sexuellen Gewaltdelikten finden sich bei allen schwereren Gewalttaten in Ostdeutschland höhere Opferund Deliktraten als im Westen des Landes.
2.1.2.2.2 Bevölkerungsbefragungen seit 1995 Befragungsergebnisse aus der Zeit nach 1995 weisen dagegen auf einen Rückgang von Gewaltdelikten im Dunkelfeld hin. Dazu liegen Daten bundesweiter Mehrthemenumfragen vor, die sich auf den kürzeren Referenzzeitraum von einem Jahr beziehen (Tabelle 2.1.2). Bei allen in die Befragungen einbezogenen Gewaltdelikten liegen die Anteile der Befragten, die innerhalb der vergangenen zwölf Monate Opfer wurden, 1997 deutlich niedriger als bei derselben Fragestellung zwei Jahre zuvor. Fragenformulierungen und methodische Durchführung waren zu beiden Erhebungszeitpunkten identisch, sodass die ermittelten Opferraten direkt verglichen werden können. Nach einer weiteren Erhebung derselben Fragen im Rahmen des SozialwissenschaftenBus III/1997 ergeben sich durchgängig etwas höhere OpferTabelle 2.1.2. Opferraten für Gewaltdelikte 1995 und 1997 (Dölling et al. 1998, S. 70; Heinz u. Spieß 1998)
1995 1997
Drohung, tätlicher Angriff
Raub
sexuelle Gewalt
2,8% 1,5%
1,4% 0,8%
0,6% 0,2%
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362
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raten. Daraus ist zu folgern, dass ein stringenteres Stichprobendesign zu vollständigeren Daten führt. Ein Rückgang der Viktimisierungsraten bei Gewaltdelikten ist aber auch im Vergleich zu einer entsprechenden Befragung aus dem Jahr 1996 festzustellen (Heinz u. Spieß 1998).
2.1.2.2.3 Befragungen von Jugendlichen Ein Nachteil groß angelegter Bevölkerungsbefragungen besteht darin, dass Erfahrungen solcher Gruppen, die besonders gefährdet sind, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, kaum zur Geltung kommen, wenn sie bei der Stichprobenziehung nicht von vornherein überproportional berücksichtigt werden. Dieser Einwand gilt besonders für junge Menschen, die nach den polizeilichen Hellfelddaten große Anteile der Tatverdächtigen wie auch der mutmaßlichen Opfer von Gewaltdelikten stellen. In den letzten Jahren wurden umfangreiche Befragungen von Schülerinnen und Schülern über Häufigkeit der Formen von Jugendgewalt durchgeführt. Dazu gehören die Schülerbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), für die seit 1998 mehrfach in Großstädten, neuerdings verstärkt aber auch in ländlichen Regionen Daten erhoben wurden. Schriftlich befragt wurden Jugendliche der neunten Jahrgangsstufen während zweier Schulstunden im Klassenverband (Wetzels et al. 2001; Wilmers et al. 2002). Einen Überblick zu den Opferraten für die fünf erhobenen Gewaltdelikte im Jahr 1999 in vier Großstädten und einem niedersächsischen Landkreis enthält Tabelle 2.1.3. Die Opferraten in Tabelle 2.1.3 ergeben sich aufgrund einer Gewichtung unterschiedlicher Bildungsniveaus entsprechend der Grundgesamtheit, die unerwünschte Verzerrungen ausschalten soll. Alle so ermittelten Opferraten liegen deutlich über denjenigen, die in den Jahren zuvor für die Wohnbevölkerung insgesamt gemessen wurden. Selbst in ländlichen Verhältnissen gibt über ein Fünftel der befragten Schülerinnen und Schüler an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein. Trotz erheblicher Unterschiede in der Verteilung der einzelnen Delikte liegen die Gesamtopferraten in den Großstädten jedoch nicht dramatisch höher. Insgesamt werden nur 13% der Gewaltvorfälle bei der Polizei angezeigt. Für die Großstädte Hamburg, Hannover und Leipzig sind Vergleiche über mehrere Befragungszeitpunkte möglich (Tabelle 2.1.4). Innerhalb von zwei Jahren zeigen sich dabei wenige Unterschiede. Die Opferraten insgesamt nehmen in Hannover tendenziell ab, in Leipzig tendenziell zu. Signifikante Unterschiede ergeben sich nur für einzelne Deliktformen: Erpressungen nehmen in Hannover sehr deutlich ab, Körperverletzungen werden dagegen in Leipzig häufiger. Ein Vergleich mit einer Studie über die Universitätsstadt Greifswald zeigt andererseits, dass die Opferraten dort im Jahr 2001 durchweg auf einem niedrigeren Niveau liegen (Dünkel u. Geng 2003, S. 10). Die These, dass sich diese Gewalttaten weitgehend unter Jugendlichen abspielen, wird durch Angaben zur selbst berichteten Delinquenz der Befragten gestützt (Wilmers et al. 2002, S. 85 ff.): 14,8% der befragten Jugend-
2.1 Gewaltdelinquenz
z
Tabelle 2.1.3. Opferraten für Gewaltdelikte 1999 im regionalen Vergleich (gewichtete Daten; Wilmers et al. 2002, S. 31)
z z z z
Raub Erpressung sexuelle Gewalt Körperverletzung mit Waffe z Körperverletzung ohne Waffe z gesamt
Hamburg
Hannover Leipzig
München Friesland gesamt
11,1% 6,7% 3,3% 5,6%
9,9% 5,2% 2,1% 5,3%
8,5% 4,2% 2,4% 6,5%
7,3% 4,4% 2,8% 5,3%
6,5% 2,3% 1,7% 5,2%
9,2% 5,1% 2,7% 5,6%
14,8%
14,8%
16,1%
15,3%
15,6%
15,2%
28,2%
25,7%
25,3%
23,9%
22,5%
25,8%
Tabelle 2.1.4. Opferraten für Gewaltdelikte im regionalen und zeitlichen Vergleich (gewichtete Daten; Wilmers et al. 2002, S. 38) Hamburg
Hannover
Leipzig
1997
1999
1997
1999
1997
1999
Raub Erpressung sexuelle Gewalt Körperverletzung mit Waffe z Körperverletzung ohne Waffe
10,4% 6,6% 3,4% 5,7%
11,1% 6,7% 3,3% 5,6%
10,5% 8,0% *** 2,5% 6,8%
9,9% 5,2% *** 2,1% 5,3%
7,3% 3,8% 3,1% 4,8% **
8,5% 4,2% 2,4% 6,5% **
14,1%
14,8%
14,7%
14,8%
13,5% *
16,1% *
z gesamt
27,4%
28,2%
28,0%
25,7%
22,7%
25,3%
z z z z
* p < 0,05; ** p < 0,01; *** p < 0,001
lichen in den fünf Regionen haben 1999 eine Körperverletzung begangen, 2,9% einen Raub, 2,7% eine Drohung mit Waffe und 1,0% eine Erpressung. Davon weichen die Ergebnisse aus Greifswald kaum ab; die gemessenen Jahresprävalenzraten liegen dort teilweise sogar etwas höher als in den anderen Regionen (Dünkel u. Geng 2003, S. 22 f.).
2.1.2.3 Gewalthandlungen in psychiatrischen Einrichtungen Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen ist ein Thema, das in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit erregt. Personen, die in geschlossenen Institutionen aufgenommen werden, stellen jedoch eine Extremgruppe dar, die durch besonders deutliche psychische und strafrechtliche Auffälligkeiten gekennzeichnet ist (Steinert 2002) – und ihre Lage ist mit der Freiheit nicht ohne weiteres vergleichbar.
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Eine der wichtigsten deutschen Untersuchungen stammt von Steinert (1998). Sie bezieht sich auf schizophrene Patientinnen und Patienten aus dem Einzugsbereich der Allgemeinpsychiatrie des Psychiatrischen Zentrums Weissenau in Baden-Württemberg, die zwischen 1990 und 1993 zum ersten Mal dort aufgenommen wurden. Erhoben wurden verschiedene „Manifestationen fremdaggressiven Verhaltens“ (Steinert 1998, S. 91 ff.). Innerhalb der ersten zwei Jahre des Krankheitsverlaufs wurde bei 75% der Männer und 53% der Frauen ein fremdaggressives Verhalten festgestellt, wovon sich jedoch ein großer Teil auf verbale Drohungen beschränkte. Auf der anderen Seite handelten auch die Klinik und die Umgebung der Patienten nicht etwa zwanglos: In 42% der Fälle erfolgte eine nichtstrafrechtliche Zwangsunterbringung, in 37% kam es zu einem Polizeieinsatz und in 10% zu einer Strafanzeige; es kam aber in keinem dieser Fälle zu einer Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB. Die Interaktion von „Gewaltereignissen“ zeigte sich aus der Sicht der Patienten. Zwölf von 31 Personen, die mit einer Nachbefragung einverstanden waren, erklärten, innerhalb des vergangenen Jahres bedroht oder körperlich angegriffen worden zu sein; etwas niedriger lagen die Anteile derjenigen, die in diesem Zeitraum gezwungen wurden, Medikamente einzunehmen oder mit Polizei oder Gericht konfrontiert wurden. Auf der anderen Seite berichteten acht dieser Befragten über eigene Drohungen und sechs über eigene Tätlichkeiten. Alle Befragten wurden erneut wegen einer schizophrenen Erkrankung hospitalisiert (Steinert 1998, S. 79, 102). Die Ergebnisse lassen sich statistisch nicht verallgemeinern. Allerdings schließt das nicht aus, dass diese Antworten auch für andere Personen typisch sein können, die stationär in einer psychiatrischen Einrichtung aufgenommen werden. Eine breiter angelegte Untersuchung wurde von Richter (1999) in Westfalen durchgeführt. Einbezogen wurden sechs psychiatrische Kliniken des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, davon vier Einrichtungen der Erwachsenenpsychiatrie und zwei Einrichtungen des Maßregelvollzugs. Innerhalb von sechs Monaten im Jahr 1998 wurden alle Patientenübergriffe durch das Pflegepersonal standardisiert erfasst. Ein Patientenübergriff wurde definiert als jeder „offensichtlich aggressive Körperkontakt durch den Patienten“, womit rein verbale Angriffe ausgeklammert wurden. In diesem Untersuchungszeitraum wurden 155 Übergriffe durch Patientinnen und Patienten registriert, von denen 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen waren. Mehr als die Hälfte bestand in Schlägen, hinzu kamen andere Formen wie Treten, Würgen oder Würfe mit Gegenständen. Doch kam es in einem extremen Fall zu Messerstichen gegen einen Krankenpfleger, der dadurch beinahe zu Tode gekommen wäre (Richter 1999, S. 75 ff., 119). Die 90 an gewaltsamen Übergriffen beteiligten Patientinnen und Patienten waren – bezogen auf die einzelnen Übergriffe – zu zwei Dritteln männlich und weit überwiegend aufgrund nichtkriminalrechtlicher Vorschriften unfreiwillig untergebracht. Am häufigsten wurden die Diagnosen „geistige Behinderung“ und „Schizophrenie“ vergeben (ebd. 1999, S. 48 ff.). Der aus kriminologischer Sicht mit 31% hohe Frauenanteil ist auf die Geschlechter-
2.1 Gewaltdelinquenz
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verteilung in allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen zurückzuführen; andere Studien finden überhaupt keine Geschlechtsunterschiede (Grassi et al. 2001; Schanda u. Taylor 2001). Auch der hohe Anteil älterer Personen ab 25 Jahren dürfte mit der Patientenstruktur der Einrichtungen zusammenhängen; die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ausgeklammert. Kriminalrechtliche Vorschriften von § 126 a StPO bis § 63 StGB spielten bei den beteiligten Patientinnen und Patienten als Rechtsgrundlage des Aufenthalts praktisch keine Rolle (Richter 1999, S. 108). Wenn das Ergebnis verallgemeinerungsfähig ist, bedeutet dies, dass gewaltsame Übergriffe im Maßregelvollzug seltener vorkommen als in der Allgemeinpsychiatrie. Solche Übergriffe lassen sich vermutlich vor allem aus der Dynamik bestimmter Situationen erklären. Allein 11% der Übergriffe wurden am ersten Tag des Klinikaufenthalts registriert, weitere 18% in der folgenden Woche. Bei nichtkriminalrechtlichen Zwangsunterbringungen kann man damit rechnen, dass die Situation gerade in dieser Phase besonders belastet ist. Bei Straftaten ist das allenfalls mit der Situation bei einer vorläufigen Unterbringung im Strafverfahren vergleichbar, vor allem bei einstweiliger Unterbringung nach § 126 a StPO. Bis es zur rechtskräftigen Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel kommt, kann während des Verfahrens viel Zeit vergehen. Angesichts der verbreiteten kriminologischen Erkenntnis, dass eine kleine Personengruppe für eine Vielzahl von Normverstößen verantwortlich ist, wird teilweise versucht, Risikofaktoren für aggressives Verhalten in der Psychiatrie zu ermitteln. Dieser Forschungsansatz bestätigt bisher lediglich Erkenntnisse etwa über die Bedeutsamkeit von Zwangsunterbringungen, ohne dass diese Effekte besonders ausgeprägt wären (Rüesch et al. 2003, S. 262). Insgesamt ist der Forschungsstand ohnehin durch eine Vielzahl widersprüchlicher Ergebnisse aus methodisch meist wenig ausgefeilten Untersuchungen „anfallender“ Stichproben gekennzeichnet (Steinert 2002). Relevanter erscheinen Erkenntnisse über die Situationen, in denen es zu gewaltsamen Übergriffen kommt (Richter 1999, S. 52 ff.; Steinert 2002, S. 65). So lassen sich häufig Anzeichen für Aggressivität feststellen, etwa eine drohende Gestik oder eine geringe Körperdistanz. Im Hintergrund stehen häufig Konflikte, vor allem solche mit dem Personal, aber auch mit anderen Patienten. Die Anlässe dafür sind besonders typische Pflegeaktivitäten, aber auch die Verweigerung von Wünschen etwa unter Hinweis auf die Stationsregeln – einschließlich der Zurückweisung des Wunsches nach sofortiger Entlassung. Übergriffe richten sich eher gegen jüngere Beschäftigte mit kürzerer Beschäftigungsdauer in der Klinik (Richter u. Berger 2001, S. 696). Diese beiden Merkmale dürften miteinander korrelieren. Plausibel ist, dass Beschäftigte mit kürzerer Berufserfahrung eher betroffen sind. Dazu passt auch die überproportionale Beteiligung von Personen in Ausbildung, zumal diese nur einen Teil ihrer Ausbildungszeit auf der Station verbringen. Im Übrigen sind Ärztinnen und Ärzte kaum betroffen; mit gewaltsamen Übergriffen scheinen hauptsächlich Angehörige des Pflegedienstes konfrontiert zu sein. Standards zum „Umgang mit aggressivem Verhalten und Zwangsmaßnahmen“ (Rupp u. Rauwald 2004) können auf solchen Erkenntnissen aufbauen.
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2.1 Gewaltdelinquenz
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Rupp M, Rauwald C (2004) Maßnahmen zur primären Prävention. In: Ketelsen R, Schulz M, Zechert C (Hrsg) Seelische Krise und Aggressivität. Der Umgang mit Deeskalation und Zwang. Psychiatrie-Verlag, Bonn, S 27–43 Schanda H, Taylor P (2001) Aggressives Verhalten psychisch Kranker im stationären Bereich: Häufigkeit, Risikofaktoren, Prävention. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 69:443–453 Sessar K (1981) Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität. Max-Planck-Institut für Strafrecht, Freiburg Singer P (2004) Erfassung der politisch motivierten Kriminalität in einem neuen Definitionssystem mit mehrdimensionalen Analysemöglichkeiten. Kriminalistik 58:32–37 Steffen W (2005) Gesetze bestimmen die Taktik. Von der Reaktion auf Familienstreitigkeiten zur Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Veränderungen im polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt. Zugleich ein Beispiel für die Praxisrelevanz kriminologischer Forschung. In: Kury H, Obergfell-Fuchs J (Hrsg) Gewalt in der Familie. Für und wider den Platzverweis. Lambertus, Freiburg, S 17–36 Steinert T (1998) Aggression und Gewalt bei Schizophrenie. Häufigkeit, Prädiktoren und Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf. Waxmann, Münster Steinert T (2002) Gewalttätiges Verhalten von Patienten in Institutionen. Psychiatrische Praxis 29:61–67 Verrel T (1995) Schuldfähigkeitsbegutachtung und Strafzumessung bei Tötungsdelikten. Eine empirische Untersuchung zur Bedeutung des psychowissenschaftlichen Sachverständigen im Strafverfahren. Fink, München Walter M (2005) Jugendkriminalität. Eine systematische Darstellung, 3. Aufl. Boorberg, Stuttgart Wetzels P, Enzmann D, Mecklenburg E, Pfeiffer C (2001) Jugend und Gewalt. Eine repräsentative Dunkelfeldanalyse in München und acht anderen deutschen Städten. Nomos, Baden-Baden Wetzels P, Greve W, Mecklenburg E, Bilsky W, Pfeiffer C (1995) Kriminalität im Leben alter Menschen. Eine altersvergleichende Untersuchung von Opfererfahrungen, persönlichem Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsfurcht. Ergebnisse der KFN-Opferbefragung 1992. Kohlhammer, Stuttgart Wilmers N, Enzmann D, Schaefer D, Herbers K, Greve W, Wetzels P (2002) Jugendliche in Deutschland zur Jahrtausendwende: gefährlich oder gefährdet? Ergebnisse wiederholter, repräsentativer Dunkelfelduntersuchungen zu Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen 1998–2000. Nomos, Baden-Baden
2.1.3
Forensisch-psychiatrische Aspekte der Gewaltdelinquenz H. Saß, S. Herpertz
2.1.3.1
Allgemeine Gesichtspunkte
2.1.3.1.1 Begriffsklärungen Im Rahmen dieses Kapitels wird es um forensisch-psychiatrische Aspekte in der Deliktgruppe mit Aggressions- und Gewalthandlungen gehen, wobei den Tötungsdelikten eine besondere Bedeutung zukommt. Wie in Band 2 im Kapitel über die Affektdelikte und die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ ausgeführt, stellt es offenbar eine ubiquitäre menschliche Verhaltens-
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disposition dar, entweder aus hoher affektiver Erregung heraus oder in geplanter Verfolgung wichtiger Ziele unter Bruch sozialer Normen gewalttätig zu handeln oder gar zu töten. Im Übrigen ist, auch wenn bei der Analyse von Tötungsdelikten das Hauptaugenmerk oft auf Fragen der affektiven Erregung und der Impulsivität (vgl. Abschnitt 2.1.3.1.2) liegt, im forensischpsychiatrischen und kriminologischen Kontext durchaus geläufig, dass kriminelle Tötungshandlungen sehr häufig einem relativ kühlem Kalkül und einer Kosten-Nutzen-Abwägung folgen. Dies betrifft sowohl zahlreiche Fallgestaltungen im Rahmen individueller Lebensentwicklungen bei ansonsten nicht kriminellen Menschen wie vor allem geplante oder in Kauf genommene Tötungshandlungen in kriminellem Milieu oder auch im Rahmen politisch-fanatischer oder terroristischer Einzel- oder Gruppenaktionen. Von daher ist, obwohl eine forensisch-psychiatrische und psychologische Begutachtung heute nahezu ausnahmslos bei allen Kapitaldelikten erfolgt, auf den in vielen Fällen nur allzu menschlichen Motivationshintergrund von Gewalt- und Tötungsdelinquenz hinzuweisen. Der letztgenannte Aspekt wurde jüngst noch einmal in anregender Form durch einen soziobiologischen Ansatz breit entwickelt (Buss 2007). Aus evolutionspsychologischer Sicht lassen sich unterschiedliche Typen von Tötungsdelikten motivational daraufhin untersuchen, ob sie im Dienst eines archaischen menschlichen Fortpflanzungsstrebens stehen und den Erfolg des Täters in diesem Sinne erhöhen können. So kommt es zu interessanten Sehweisen bei der Analyse möglicher Bedeutungen etwa der Tötung der Intimpartnerin, des Vaters, der Mutter, des Kindes oder eines sozialen Rivalen. Auch wenn Buss den evolutionsbiologischen Gedanken des Paarungsvorteils und der Konkurrenz um Fortpflanzungschancen sicherlich zu stark in den Mittelpunkt rückt, so kommt es doch zu einer Verbreiterung des Verständnishorizontes für die unterschiedlichen Formen von Mord und Totschlag. Im Übrigen finden sich auch im Tierreich die instinktgebundenen Verhaltensradikale mit zum Teil rituell kontrollierten Formen aggressiver Selbstbehauptung, die im Dienste der Arterhaltung oder der Sicherung von Rang und Revier stehen (Hippius u. Saß 1990). Terminologisch sind die Begriffe von Gewalt und Aggression vieldeutig und werden häufig unterschiedslos nebeneinander gestellt, auch handelt es sich jeweils um Sammelbegriffe. Allgemein anerkannte Definitionen und Operationalisierungen der Begriffe Gewalt und Aggression gibt es bislang nicht (vgl. Steinert u. Bergk 2008). Hacker (1988) definiert Aggression als eine dem Menschen innewohnende Disposition, Kompetenz oder Bereitschaft, aufgrund seiner angeborenen Lernfähigkeit Handlungsweisen zu entwickeln, die sich ursprünglich in Aktivität und Kontaktlust, später in den verschiedensten gelernten und sozial vermittelten, individuellen und kollektiven Formen ausdrücken, von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit reichend. Zum allgemeinen Verständnis von Aggression gehört die Vorstellung von unangepasstem, zerstörerischem, bösem und destruktivem Verhalten mit den Merkmalen Schaden, Intention und Normabweichung (Pelz u. Schmidt 2007). Der Begriff der Gewalt umfasst schwere und schwerste
2.1 Gewaltdelinquenz
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Formen von Aggressionen und wird von Huber (1995) definiert als „Aggression in ihrer extremen, in aller Regel physisch ausgeübten und nicht akzeptablen Ausprägung“. Bei der Konzeptualisierung von Gewalttätigkeit beziehungsweise aggressivem Verhalten sind Differenzierungen üblich, die oft in Gegensatzpaare gefasst werden, etwa die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Formen, verbalen und physischen Formen sowie geplanten und impulsiven Formen (Pelz u. Schmidt 2007). Die Unterscheidung zwischen reaktiver und proaktiver Aggression betrifft die Herkunft des jeweiligen Verhaltensaktes, wobei die reaktive Form auf einen äußeren, gewöhnlich frustrierenden Reiz zurückgeht, während die proaktiven Formen absichtsvoll und geplant eingesetzt werden (Crick u. Dodge 1996). Einige dieser Differenzierungen sind von Interesse für die forensischen Fallgestaltungen. So betrifft die Unterscheidung zwischen indirekter (verdeckter) und direkter (offener) Aggressivität beziehungsweise Gewalttätigkeit das Ausmaß der Konfrontation zwischen Aggressor und Opfer (Björquvist 1994). Indirekte, verdeckte oder heimliche Formen aggressiven Verhaltens sind z. B. Stehlen, Brandstiftung, Weglaufen oder Schulschwänzen. Kriminologisch besonders bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen der instrumentellen oder geplanten Aggression, die bewusst auf Ziele wie etwa materiellen Gewinn ausgerichtet wird, und der emotional motivierten Aggression, die ohne Vorplanung impulsiv aus einem Ärgeraffekt heraus geschieht. Eine weitere, auf die affektive Beteiligung abzielende Differenzierung, die auch für Therapieindikationen wegleitend sein kann, erfolgt daher in eine „heiße“ versus eine „kalte“ Form der Aggression (Woodworth u. Porter 2002; Soller et al. 2006).
2.1.3.1.2 Gewaltdelinquenz und Impulsivität Schließlich gehört in diesen Themenkreis noch der in der Psychopathologie wie in der forensischen Psychiatrie ebenso bedeutsame wie vieldeutige Begriff der Impulsivität, hier verstanden als – häufig deliktträchtiges – Persönlichkeitsmerkmal mit spezifischen Eigenheiten des Verhaltens, des kognitiven Stils und der affektiven Reagibilität (vgl. Herpertz u. Saß 1997; Herpertz 2001). Im Kontext von Gewaltdelinquenz imponiert Impulsivität in erster Linie als Disposition zur motorischen Enthemmung und als Bereitschaft zu handlungsorientierten aggressiven Verhaltensstilen. Auch wenn die in der biologischen Forschung häufig vorgenommene Gleichsetzung von Impulsivität und aggressiven Verhaltensstilen problematisch erscheint, besteht zweifellos eine enge Beziehung zwischen den Verhaltenskonstrukten Aggressivität und Impulsivität (Herpertz u. Saß 1997). Ein heftiger, rasch aufschießender Ärgeraffekt wird bei unzureichender Impulskontrolle aggressive Handlungsantriebe begünstigen, insbesondere wenn die Situation zusätzlich durch eine feindselige Haltung gekennzeichnet ist (Barratt 1994). Dies trifft vor allem auf die impulsive Aggressivität zu, die von der geplanten Aggression und auch von der gelernten Aggressivität zu unterscheiden ist, die keinen Ärgereffekt zur Voraussetzung haben muss
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(Barratt et al. 1999). Dabei ist das gehäufte Auftreten spontaner, nicht geplanter aggressiver Handlungen gebunden an ein hohes Maß an Impulsivität, während umgekehrt ein impulsives Individuum nicht immer eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten aufweisen muss (Herpertz 2001).
2.1.3.1.3 Epidemiologische Aspekte Einzelne Deliktformen der Gewaltkriminalität sind Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Raub und räuberische Erpressung, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Vergiftung, erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme. In der Gesamtheit der polizeilich bekannt gewordenen Straftaten macht die Gewaltkriminalität laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) (Bundeskriminalamt 2001 und folgende Jahre) global in den letzten Jahren etwa 3% aus, wobei Jugendliche sowie Heranwachsende stark überrepräsentiert sind. Trotz zeitbedingter Schwankungen in der sehr stark medial gesteuerten Aufmerksamkeitszuwendung ist die Zahl der Tötungsdelikte in einzelnen Gesellschaften relativ konstant. In Deutschland ist mit einer Häufigkeit von etwa einem Tötungsdelikt auf 100 000 Einwohner im Jahr zu rechnen. Allerdings gibt es in den Jahren zwischen 1995 und 2004 laut PKS einen Rückgang in den vollendeten Tötungsdelikten (von 1000 auf 868) und in den Versuchen (3928 auf 2488). Deutlich höhere Zahlen finden sich in den USA, niedrigere Werte beispielsweise in Skandinavien oder in Japan. Obwohl die meisten Täter psychiatrisch begutachtet werden, spielen psychische Störungen im engeren Sinne nur bei einem Bruchteil eine Rolle. Dennoch werden nahezu alle Täter mit Tötungsdelikten zur Frage der Schuldfähigkeit begutachtet. Die Zahl der als schuldunfähig eingestuften Täter mit Tötungsdelikten lag 1995 bei 6,5% und im Jahre 2000 bei 9,2%, vermindert schuldfähig waren im Jahr 1995 32% und im Jahr 2100 30,6%. Von den schuldunfähigen Tätern werden knapp 90%, von den vermindert schuldfähigen Tätern knapp 10% gemäß § 63 StGB eingewiesen (Nedopil 2007). Generell gibt es ein deutliches Überwiegen von männlichen gegenüber weiblichen Tätern in der Häufigkeit von Aggressivität und gewalttätigem Verhalten. Im Jahre 2004 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik den Anteil der Frauen an den Tötungsdelikten mit zirka 12%, an den Raubdelikten mit 10%, an den schweren Körperverletzungen mit 14%, an den Brandstiftungen mit 21% und an den sexuellen Gewaltdelikten mit 1%. Nach Oberlies (1997) kommen die Tötungsopfer bei weiblichen Täterinnen weit häufiger aus dem familiären Umfeld als bei Männern. Darüber hinaus sind bei weiblichen Täterinnen weit mehr psychotische Erkrankungen an den Delikten beteiligt (etwa ein Drittel der Fälle) als bei Männern (etwa 10% der Fälle). Dafür liegen bei den Männern häufig dissoziale Tendenzen vor, etwa Vorstrafen wegen Gewalt- und anderen Delikten, ferner egozentrische, kränkbare und antisoziale Persönlichkeitsmerkmale, Empathiemangel und emotionale Labilität. An Risikofaktoren für Gewaltdelinquenz werden bei Frauen ähnlich wie bei Männern schwierige Persönlichkeitsmerkmale
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gefunden, insbesondere aus dem emotional-instabilen Bereich und der Borderlinepersönlichkeitsstörung, ferner Alkohol- und Drogenmissbrauch, Broken-home-Situationen und Missbrauchserfahrungen in Kindheit und Jugend (Coid et al. 2000; Coid 2003). Die Feststellung eines deutlichen Überwiegens von Männern gegenüber Frauen bei Gewaltdelikten trifft nicht zu für die Sonderfälle der Kindstötungen, die überwiegend von Frauen und hier vor allem von psychisch erheblich gestörten Müttern begangen werden (Friedman et al. 2005; Friedmann u. Resnick 2007). Insbesondere finden sich psychotische Erkrankungen, vor allem schwere melancholische Depressionen. Daneben kann es motivisch um die Kindstötung bei verheimlichter Schwangerschaft und ungewolltem Kind gehen, aber auch um aggressive Handlungen, etwa starkes Schütteln bei Schreien des Kindes, die als Misshandlung beginnen und gewollt oder ungewollt zur Tötung führen. Trotz insgesamt etwa gleich bleibender Kriminalität in Deutschland seit den 80er Jahren verzeichnet die PKS für jüngere Delinquenten in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg, z. B. bei Raubdelikten und gefährlichen Körperverletzungen, auch zeigt die Gewaltkriminalität junger Menschen höhere Werte beim Vergleich der neuen mit den alten Bundesländern und beim Vergleich nichtdeutscher mit deutschen jungen Menschen. Allerdings sind für die genannten Aussagen erhebliche methodische Probleme wie Dunkelfelder nichtangezeigter Delikte, Abhängigkeit von der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und selektive polizeiliche Aktivitäten zu berücksichtigen (vgl. Mansel u. Hurrelmann 1998). Deshalb gilt es als unklar, ob ein realer Anstieg von Aggressivität bei Heranwachsenden stattfindet, obwohl etwa von Pelz und Schmidt (2007) Hinweise gesehen werden, dass sich Qualität und Schärfe der Gewalttätigkeit erhöhen und das Klima der Gewalt an Schulen sich verändert (s. auch Stattin u. Magnusson 1995). Ein interessantes Modell zur altersabhängigen Entwicklung aggressiven Verhaltens bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat Moffitt (1996) auf der Basis einer in Neuseeland durchgeführten Längsschnittstudie formuliert. Gefunden wird ein Anstieg aggressiver Verhaltensweisen ab einem Alter von etwa elf Jahren mit einem Gipfel in einem Alter von etwa 15 Jahren und einem langsamen Absinken bei den jungen Erwachsenen. Dabei ließen sich zwei Entwicklungsverläufe differenzieren. Eine kleine Gruppe zeigte bereits im Kindesalter massive Aggressivität, die über das Jugendalter hinaus stabil blieb („life-course-persistent“). Bei einer anderen Gruppe trat im Jugendalter eine Periode erhöhter Aggressivität und Delinquenz auf, doch ging dieses gestörte Sozialverhalten im frühen Erwachsenenalter zurück („adolescent-limited“). Bei den Personen mit Stabilität des Problemverhaltens wurde gezeigt, dass eine erste Straffälligkeit zwischen sieben und elf Jahren die Kriminalität im Erwachsenenalter sehr gut vorhersagen kann, wobei nicht nur eine Stabilität über die Zeit, sondern auch eine Konsistenz über unterschiedliche Situationen zu beobachten war, etwa Lügen zu Hause, Ladendiebstähle in der Gemeinde, Betrügen oder Schwänzen in der Schule, körperliche Auseinandersetzungen in Lokalen, Betrügereien/ Diebstähle am Arbeitsplatz.
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2.1.3.1.4 Ätiologische Aspekte Für die Entstehung von Gewaltdelinquenz werden unterschiedliche Einflussbedingungen mit komplexer Interaktion von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren verantwortlich gemacht (vgl. Elliot 2004). In der Verhaltensforschung gilt Aggressivität als Resultante von biologischen Reaktionsbereitschaften, die im Dienste der Selbstverteidigung oder Verteidigung gegenüber Gruppenfeinden stehen, aber auch aus Angst, bei Bedrohung erfolgen oder als Angriff auf sexuelle Rivalen, ferner als Mittel zur Bestimmung der sozialen Rangfolge oder der Revierverteidigung (vgl. EiblEibesfeldt 1995). Bestimmende Faktoren auf der Seite des Individuums sind Merkmale der Persönlichkeit, Einflüsse aus Familie, Schule, Peergruppe, Erziehung und besondere Lebensereignisse. Zu den genannten sozialen und individuellen Bedingungen tritt stets der Einfluss der Situation hinzu, in der es durch bestimmte Auslösereize und Interaktionen zur Manifestation von Verhaltensdispositionen in konkreten Gewaltakten kommt. Eine Rolle spielen beispielsweise motivierende Anreize, Modelllernen, konstellative Faktoren wie psychotrope Substanzen oder auch Gruppendruck. Häufig untersucht und herausgestellt wurden bestimmte familiäre Rahmenbedingungen und Einflüsse aus dem engeren sozialen Umfeld, die zu einer erhöhten Disposition für Aggressivität und Gewaltdelinquenz führen können. Hierzu gehören die so genannten Broken-home-Familien, Substanzmissbrauch der Eltern, Gewalttätigkeit in der Familie, sexueller Missbrauch, ungünstige Einflüsse von Peers, etwa in Jugendgangs, Mangel an Selbstbewusstsein durch Misserfolge in Schule und Beruf, häufige Abbrüche in der sozialen Entwicklung (vgl. Lösel u. Bender 1998; Farrington 2000; Tarter et al. 2002; Christofferson et al. 2003). Als Risikofaktoren für die Entwicklung erhöhter Aggressivität und Gewalttätigkeit ergaben sich in der großen neuseeländischen Verlaufsstudie (Dunedin-Studie) (Moffitt et al. 1996, 2002) sowie in anderen Untersuchungen zunächst neurophysiologische Auffälligkeiten im Sinne eines erniedrigten Arousals, perinataler Auffälligkeiten und Merkmale frühkindlicher Hirnschädigung, ferner Entwicklungsverzögerungen im kognitiven und motorischen Bereich und späteres auffälliges Sozialverhalten einschließlich von Merkmalen der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Eine Folge der schwierigen Temperamenteigenschaften sind problematische Interaktionen in Familien, die darüber hinaus durch weitere Erziehungsprobleme gekennzeichnet sind, etwa ablehnendes und inkonsistentes Verhalten, Fehlen von Wärme, Akzeptanz und emotionaler Unterstützung, leichte Reizbarkeit und Ungeduld (Esser 2002). Weil diese Kinder und Jugendlichen häufig in einem antisozialen Milieu aufwachsen, findet eher eine Identifikation mit aggressiven Rollenmodellen statt, da Eltern oder Verwandte nicht selten selbst delinquent, alkoholabhängig und/oder psychisch krank sind und prosoziale Rollenmodelle weniger zur Verfügung stehen. Entsprechend verläuft in der kriminologischen Delinquenztheorie von Farrington (1992) die Entwicklung eines dissozialen Selbstkonzeptes in
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enger Verschränkung mit kriminogenen Faktoren der sozialen Umgebung („life-course-theory“). Derartige Umstände begünstigen ein hohes Maß an reaktiver Aggression, feindseligen Attributionsstilen und proaktiver Aggressivität durch Aufsuchen entsprechender Situationen, in denen aggressive Neigungen ausgelebt werden können (Pelz u. Schmidt 2007). Insofern entstehen aus den Risikofaktoren und ungünstigen Umgebungsbedingungen kumulative Effekte mit ungünstiger Verstärkung in einer Spirale aus individuellen Risikofaktoren, emotionalen und kognitiven Defiziten, Lernstörungen, schlechten Schulleistungen, schlechten Chancen im späteren Berufsleben, Alkoholund/oder Drogenmissbrauch, riskantem Sexualverhalten, rücksichtslosem und riskantem Autofahren, Abgleiten in dissoziale Peergruppen etc. (vgl. Pelz u. Schmidt, 2007). Zu den Wurzeln antisozialer Störungen im Erwachsenenalter gehören insbesondere die Vorstufen von Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit (Moffitt et al, 2002; Simonoff et al. 2004). Interessanterweise finden sich in der Verlaufsstudie von Moffitt et al. (1996, 2002) auch eine Reihe von protektiven Faktoren, die derart ungünstigen Entwicklungen entgegenwirken und ein nichtaggressives, sozial angepasstes Leben fördern können, z. B. eine spät einsetzende Pubertät, aber auch die frühe Übernahme von Verantwortung und Führungsrollen in sozialen Gemeinschaften anstelle eines Lebens in Gruppen, die aggressive Rollenmodelle enthalten. Zu den makrosozialen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Faktoren, die zu Gewaltbereitschaft und erhöhter Disposition für aggressive Handlungen führen, gehören aus kriminologischer Sicht auch gravierende soziale Umbrüche, etwa in den neuen Bundesländern, kulturelle Konflikte und Integrationsprobleme bei Migranten, ghettoartige Wohngebiete mit hoher Gewalt- und Kriminalitätsdichte, ausufernde Gewaltdarstellungen in den Massenmedien sowie im Rahmen von Computerspielen, ein leichter Zugang zu Waffen und eine latente Bekräftigung von Aggressivität in weiten Teilen der Gesellschaft (Lösel 1999). Eine Reihe von biologischen Faktoren, insbesondere Transmitterfunktionen und hormonelle Einflüsse, aber auch hirnstrukturelle Abnormitäten, sind in ihrer Bedeutung für die Genese gesteigerter Aggressivität untersucht worden. Eher spekulativ sind derzeit noch Hypothesen über eine hirnorganische Fundierung von Gewalthandlungen, wie sie Bogerts (2006) am Beispiel des berühmten Hauptlehrers Wagner oder der politischen Terroristin Ulrike Meinhof angestellt hat. Ähnliches gilt für Arbeiten über präfrontale Hirnfunktionsstörungen als (partielle) Ursachen von Tötungshandlungen (Raine et al. 1997, 1998). Im Vordergrund stehen derzeit molekularbiologische Perspektiven zu Zusammenhängen zwischen Impulsivität, Aggression und dem Serotoninsystem. Als biologische Korrelate einer Disposition zu Gewalttätigkeit finden sich bei jungen Männern mit erhöhter Aggressivität Auffälligkeiten im Bereich der Neurotransmitter und der hormonellen Ausgangslage, vor allem erniedrigte Serotonin- und erhöhte Testosteronwerte (Moffitt et al. 1997), sowie der Stressregulation (Summers u. Winberg 2006).
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Heinz (1999) diskutiert eine zentrale serotonerge Dysfunktion als körperliche Entsprechung von psychopathologischen Störungen aus dem Umkreis von Impulsivität, Aggressivität und Alkoholabhängigkeit einerseits sowie Depressivität andererseits. Allerdings ist angesichts der komplexen Vernetzung der serotonergen Neurotransmission mit anderen Neurotransmittersystemen vor voreiligen Verallgemeinerungen zu warnen. Heinz betont die Bedeutung von Umweltfaktoren und sozialem Stress, insbesondere eine frühe soziale Isolation, die zu einer überdauernden Reduktion des zentralen Serotoninumsatzes führen kann, wie dies zum Beispiel bei der „gelernten Hilflosigkeit“ gezeigt wurde. Derartige Befunde legen nahe, dass als primäres psychopathologisches Korrelat der psychosozialen Isolation und der damit verbundenen serotonergen Dysfunktion eine erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität resultiert, die sekundär in Aggressionsneigung und exzessivem Alkoholkonsum umschlagen kann. Die wesentlichen Neuerungen der gegenwärtigen „molekularpsychiatrischen“ Neurowissenschaften liegen in Forschungsstrategien, mit denen sich zeigen lässt, wie die psychosozialen Erfahrungen, die im Laufe des Lebens gemacht werden, in die biologische Ausstattung der Person eingehen. Nach heutigem Kenntnisstand stellen die individuellen Unterschiede in der Ausprägung von Impulsivität, Aggressivität, Suchtverhalten und Suizidalität relativ stabile, überdauernde Merkmale dar, die zwar stark genetisch bestimmt sind, die sich aber erst aus dem Zusammenspiel von genetischer Disposition und Umgebungseinflüssen während der individuellen und sozialen Entwicklung vollends herausbilden (Lesch u. Merschdorf 2000; Caspi et al. 2002; Meyer-Lindenberg et al. 2006). Vor allem kommt sozialen und Lernfaktoren eine wesentliche Bedeutung bei der Modulierung der psychopathologischen Korrelate der serotonergen Dysfunktion zu. Auch hier ist die Interaktion mit familiären Bedingungen, Schichtzugehörigkeit, Stress und anderen sozialen Faktoren von Bedeutung (Susman u. Ponirakis 1997; Canli u. Lesch 2007). Eine seit der klassischen Beschreibung der Aggressivität bei Psychopathen von Cleckley (1976) immer wieder herausgehobene Bedeutung besitzt der Mangel an Empathie (Herpertz u. Saß 2000; Herpertz et al. 2001). Als soziale Informationsverarbeitung werden Faktoren zusammengefasst, die über kognitive Schemata und Überzeugungen zur Disposition beitragen, in konkreten Situationen aggressiv zu reagieren. Hierzu gehören eine sensiblere Wahrnehmung von aggressionsrelevanten Reizen bei der Interpretation von mehrdeutigen Situationen, eine verminderte Fähigkeit zum Nachempfinden der Gefühle und Motive von Interaktionspartnern, eine egozentrische Bevorzugung eigener Ziele mit Vernachlässigung von Kompromissmöglichkeiten, eine positive Einschätzung aggressiver Alternativen bei der Handlungsauswahl und eine geringere Einschätzung der eigenen Kompetenz hinsichtlich nichtaggressiver Handlungsalternativen (Huesmann 1997). Dabei können sich kognitive Defizite beziehungsweise neuropsychologische Minderleistungen und Gewalttätigkeit gegenseitig verstärken. Einerseits führen die kognitiven Defizite zu negativen Folgen, weil die Betrof-
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fenen nicht in der Lage sind, reale Situationen des Lebens angemessen zu erfassen und sich in ihrer Umwelt mehr oder weniger problemlos zu orientieren, andererseits reagiert die Umwelt negativ, kritisch oder diskriminierend auf derartige Defizite, was reaktiv zu einer Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und kompensatorisch zur Gewaltanwendung führen kann (Remschmidt 1997; Blair 2006).
2.1.3.1.5 Gewaltdelinquenz und familiäre Nahbeziehungen In der forensisch-psychiatrischen Begutachtung sind Gewaltdelikte in der Familie gegenüber der allgemeinen Gewaltdelinquenz überproportional häufig vertreten und machen etwa ein Viertel aller Begutachtungen wegen Aggressionsdelikten aus. Nach Creighton (1985) werden Jungen in Familien häufiger Opfer von Gewalthandlungen als Mädchen, danach folgen Frauen als Opfer familiärer Aggressionsdelikte. Unter Bezug auf Cornell et al. (1985) lassen sich bestimmte Interaktionsmuster und Motivationshintergründe für familiäre Gewalt beschreiben. Danach sind zwischenmenschliche Beziehungen in der Familie besonders eng und verlaufen häufig konflikthaft, auch sind die Interaktionen wegen der Bindung an den familiären Rahmen und der Nähe enger und unausweichlicher als im sonstigen sozialen Feld. Darüber hinaus sind mit der familiären Ordnung weithin noch hierarchische Vorstellungen, Machtgefälle und gesellschaftlich akzeptierte Einflussnahme verbunden, wobei die Mitglieder einer Familie diesem Rahmen verpflichtet sind und sich im Vergleich zu anderen sozialen Kontexten weniger leicht umorientieren oder zurückziehen können. Zuweilen entstehen daraus sehr intensive Konfliktlagen, die sich über lange Zeit entwickeln und hohe emotionale Dynamik enthalten. Wenn Gewalthandlungen in der Familie, Tötungsdelikte von Eltern an Kindern, von Ehepartnern untereinander und von Kindern an Eltern mit einer langen, konflikthaften Vorgeschichte und intensiven emotionalen Verwicklungen verbunden sind, muss eine Analyse unter den Gesichtspunkten einer affektiven Ausnahmeverfassung mit Prüfung der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ im Sinne der Affektdelikte erfolgen (s. dazu Bd. 2). Tötungsdelikte innerhalb einer Familie können zum einen den Ehe- oder Lebenspartner betreffen, zum anderen die Tötung eines Kindes oder eines Elternteils, also Matrizid bei Tötung der Mutter und Patrizid bei Tötung des Vaters. Häufiger als in der allgemeinen Tötungsdelinquenz geschehen Elterntötungen unter dem Einfluss psychotischer Erkrankungen der Kinder. Darüber hinaus gibt es seltene, eindrucksvolle Tötungen von Elternteilen, vor allem Vätern, die lange Zeit ihre Familie durch aggressives, dominantes und entwürdigendes Verhalten oder auch durch sexuelle Übergriffe gequält haben (Weber 1987). Bei Muttermördern sind oft Merkmale sexueller und psychischer Unreife sowie Kontaktstörungen gefunden worden (Green 1981). Bei der Begutachtung von Gewalttaten oder Tötungshandlungen in der Familie ist neben der geläufigen Untersuchung im Hinblick auf psychische
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Erkrankungen besonderes Augenmerk auf die Persönlichkeit aller Beteiligten, die familiäre Interaktion und die Dynamik der zur Tat führenden Entwicklung zu legen. Neben der Möglichkeit von Ausnahmezuständen, die durch heftige Affekterregungen unmittelbar zur Tatzeit bedingt sind, muss auf längerfristige Verstimmungen depressiv-dysphorischer Art geachtet werden, auf so genannte posttraumatische Belastungsstörungen, etwa nach familiärem Missbrauch, ferner auf Reifungs- und Entwicklungsstörungen, die die Fähigkeit zum Umgang mit familiären Spannungen, Ablösungskonflikten und dem Widerspruch zwischen Bindungswünschen und Autonomiestreben nachhaltig beeinflussen können. Ein in den letzten Jahren zunehmend wichtigeres Sondergebiet sind familiäre Gewalthandlungen und Tötungsdelikte in Zusammenhang mit soziokulturellen Unterschieden und konkurrierenden Wertsystemen bei Migranten. Auf der einen Seite kommt es auch dort, ähnlich wie in einheimischen Familien, zu familiären Spannungen mit Abhängigkeitsproblemen, Machtausübung, Unterdrückung, psychischer oder körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch. Hier wird die gutachtliche Beurteilung sich an psychopathologischen Auffälligkeiten, Familiendynamik und Entwicklung der spannungsvollen Situation vor der Tat orientieren, ähnlich wie es bei Probanden ohne Migrationshintergrund zu leisten ist. Eine zusätzliche Dynamik kann durch kulturelle Abgeschiedenheit der an konservative Wertvorstellungen des Heimatlandes gebundenen Primärfamilie dann entstehen, wenn die Kinder eine freiheitlichere Lebenseinstellung entwickelt haben und auf Integration in die westliche Kultur ausgerichtet sind, was die Brisanz der familiären Auseinandersetzungen unter Umständen erheblich verstärkt. Darüber hinaus gibt es familiäre Tötungshandlungen, umgangssprachlich als „Ehrenmorde“ bezeichnet, die meist von männlichen Familienmitgliedern an jungen Frauen begangen werden und zur Durchsetzung von angeblich in der fremdländischen Kultur gebotenen Sitten, Normen und Gebräuche dienen sollen. In aller Regel wird auch in eingewanderten Familienverbünden eine hinreichende Vertrautheit mit den mitteleuropäischen Rechtsnormen anzunehmen sein. Es handelt sich also in vergleichbarer Weise wie bei politisch motivierten Taten um ein die hier gültigen Gesetze bewusst verletzendes Handeln aus abweichender Wertorientierung heraus. Dieses ist für die Schuldfähigkeitsfrage ohne wesentliche Bedeutung, sofern keine darüber hinausgehenden Persönlichkeitsanomalien, psychische Erkrankungen oder abnorme Entwicklungen vorliegen, die für die forensisch-psychiatrische Begutachtung im Hinblick auf §§ 20, 21 StGB relevant sind. Dagegen kann jenseits der Schuldfähigkeitsfrage unter soziokulturellen und anthropologischen Gesichtspunkten, die unter Umständen dem Gericht durch landeskundlich kompetente Personen oder auch durch eine kulturanthropologische Zusatzbegutachtung zu vermitteln sind, eine Aufhellung des Motivationshintergrundes angezeigt sein. Ferner kann in Einzelfällen je nach vorangegangener Entwicklung der Konfliktdynamik in der Familie eine Prüfung unter den Gesichtspunkten der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ beziehungsweise ei-
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nes Affektdeliktes nahe liegen. Allerdings ist erfahrungsgemäß sorgfältig auf die Möglichkeit zu achten, dass zur Verdeckung der eigentlichen Motivation eines „Ehrenmordes“ eine Affektdeliktkonstellation mit konsekutivem Aufwerfen der Schuldfähigkeitsfrage konstruiert wird.
2.1.3.1.6 Psychopathologische Aspekte Eine besondere Bedeutung hinsichtlich Art und Schwere von Gewaltdelinquenz besitzen psychische Erkrankungen. Wegen der großen Bedeutung psychiatrischer Morbidität gerade bei Tötungsdelikten (Fazel et al. 2004) ist die sorgfältige forensisch-psychiatrische Begutachtung bei Kapitaldelikten unabdingbar. Im Einzelnen wird auf eine mögliche Disposition zur Aggressivität und Gewalttätigkeit infolge psychopathologischer Phänomene bei der Schilderung der einzelnen Krankheitsbilder eingegangen. Zwar gilt inzwischen das alte Vorurteil als widerlegt, dass psychische Erkrankungen ganz allgemein in besonderem Maße mit einer erhöhten Gefahr von Gewaltdelinquenz einhergehen. Dennoch gehört zur Symptomatik verschiedener psychischer Erkrankungen eine gegenüber gesunden Zeiten gesteigerte Aggressivität, etwa bei Schizophrenie, Manie, Frontalhirnschädigung oder – selten – Epilepsie. Intoxikationen spielen eine große Rolle, vor allem durch Alkohol. Auch bei überdauernden Verfassungen psychischer Gestörtheit gibt es eine habituell gesteigerte Aggressivität, etwa bei bestimmten Formen von Persönlichkeitsstörungen (Saß 2001). Dies gilt besonders für die antisoziale Persönlichkeitsstörung bei Männern oder die Borderlinepersönlichkeitsstörung bei Frauen, aber auch bei Männern (Coid et al. 2000; Coid 2003). Während nach Böker und Häfner (1973) Gewaltdelikte bei psychisch Kranken und geistig behinderten Personen im Großen und Ganzen ähnlich häufig sind wie in der Allgemeinbevölkerung, haben spätere Untersuchungen an epidemiologisch repräsentativen Stichproben in der Allgemeinbevölkerung oder auch an repräsentativen Stichproben von Verurteilten eine Häufung gewalttätiger Handlungen bei schizophrenen und affektiven Psychosen, vor allem aber bei Patienten mit psychotischer Erkrankung und Substanzmissbrauch gezeigt (Haller et al. 2001; Brennan et al. 2000; Arseneault et al. 2000). Die jüngere Datenlage bestätigt für die schizophrenen Erkrankungen eine gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt erhöhte Gefahr von gewalttätigem und kriminellem Verhalten (Swanson et al. 2006). Verstärkt werden die Risiken durch zusätzlichen Substanzmissbrauch, aber auch durch die zunehmende Deinstitutionalisierung psychiatrischer Patienten (Wallace et al. 2004; Soyka et al. 2007). Klinisch ebenfalls besonders wichtig sind impulsive und aggressive Störungen bei hirnorganischen Bildern, insbesondere bei Frontalhirnschädigung (vgl. Nedopil 2007). Am höchsten war der Zusammenhang zwischen psychischer Störung und aggressivem Verhalten bei Männern mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, Alkoholismus und anderer Form von Substanzabhängigkeit (vgl. Guze 1976; Steadman et al. 1998; Raine et al. 2000). In Finnland fand sich bei Untersuchungen von Männern mit
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Tötungsdelikten eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung um das Sechsbis Achtfache erhöhte Rate von Schizophrenie und eine um das knapp zweifach erhöhte Rate an affektiven Erkrankungen; die Erhöhung für Alkoholabhängigkeit betrug das Elffache und für antisoziale Persönlichkeitsstörung das Zwölffache. (Eronen et al. 1996). Auch die Prognose bezüglich krimineller Rückfälligkeit wird durch psychische Erkrankungen – zumeist negativ – beeinflusst (Stadtland u. Nedopil 2005).
2.1.3.1.7 Tätertypologien Eine Typisierung im Bereich der Gewaltdelinquenz kann entweder nach bestimmten Formen der Aggression oder nach bestimmten Persönlichkeitseigenschaften der Täter erfolgen. Eine valide wissenschaftliche Bestimmung der kriminologischen Relevanz der einzelnen Typologien, etwa für Fragen der Risikobeurteilung, der Prävention und Therapie oder auch der Schuldfähigkeitsfrage steht allerdings noch aus. Einflussreich im Bereich der Aggressionsdelikte waren die Unterscheidungen von Megargee (1966, 1984) in einen überkontrollierten und einen unterkontrollierten Persönlichkeitstypus. Dabei sind die überkontrollierten Personen gekennzeichnet durch abweisendes, ängstliches Verhalten, Insuffizienzgefühle, passiv-depressive Symptome, Schüchternheit, Antriebsmangel, Pessimismus und Hoffnungslosigkeit, Affektstarre, Leidensdruck, Misstrauen, Unselbstständigkeit, Kontaktmangel und Introversion, Kränkbarkeit sowie vermindertes Durchsetzungsvermögen. Demgegenüber fand Megargee die unterkontrollierten Probanden als sozial umtriebig, bindungsschwach, fordernd, egoistisch, mit Neigung zu verbaler Bedrohung und früher Aggressivität, Suizidversuchen in der Anamnese, Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit mit vermehrten Jugendstrafen und später Promiskuität. Nedopil (1991) konnte in einer Studie über begutachtete Aggressionstäter diese Tätertypen bestätigen. Bei der Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen, die langfristige Prädiktoren von Gewaltdelinquenz sind, wurden Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsprobleme, niedrige Intelligenz und erhöhte Risikobereitschaft herausgestellt (Hawkins et al. 1998; Lipsey u. Derzon 1998). Danach zeigen insbesondere junge Gewalttäter Defizite in den exekutiven Hirnfunktionen, also in solchen Leistungen, die für abstraktes Denken, Planen, zielbewusstes Handeln, Sprachentwicklung, Konzentration, Selbstaufmerksamkeit und Selbstkontrolle bedeutsam sind (Moffitt u. Henry 1991). Vor allem bei Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, die durch Neigung zu Gewaltanwendung charakterisiert sind, bestehen Defizite in der Verhaltenshemmung im Verein mit reduzierter Ängstlichkeit (Herpertz et al. 2001).
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Spezialfragen bei einzelnen Deliktformen
2.1.3.2.1 Tötungsdelikte z Sonderstellung der Affekttaten Eine erste Besonderheit bei Tötungsdelikten liegt in der herausgehobenen Stellung von Taten unter den Bedingungen einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, also den so genannten Affektdelikten, denen ein eigener Beitrag gewidmet ist (vgl. Saß in Bd. 2). Für diesen Problemkreis hat Marneros (2007) neuerlich die Differenzierung in Affekttaten einerseits und Impulstaten andererseits herausgestellt. Sie entspricht der Differenzierung von Affektdelikten im engeren beziehungsweise weiteren Sinne bei Saß (1993). Dabei sind die Affektdelikte im engeren Sinne vor allem durch den seit Rasch (1964) in den Mittelpunkt des Interesses gerückten Aspekt der besonderen Vorgeschichte der Tat mit charakteristischem Beziehungskonflikt zwischen Täter und Opfer gekennzeichnet, der bei den reinen Impulstaten fehlt. z Psychopathologische Aspekte beim § 213 StGB Eine andere Besonderheit ist die Sonderstellung der minderschweren Fälle des Totschlages, die gemäß § 213 StGB dann vorliegen, wenn der Täter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist oder wenn sonst ein minder schwerer Fall vorliegt. Zwar ist hier wie auf allen anderen Feldern der forensisch-psychiatrischen Begutachtung mit aller gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung anzuerkennen, dass die Beurteilung der Voraussetzungen des § 213 StGB zunächst einmal eine eindeutig juristische Aufgabe darstellt. Wenn es allerdings z. B. um schwere Beleidigung und Zorn geht, die zur Tat hinreißen, so dürfte in Einzelfällen neben der tatrichterlichen Beurteilung auch der eher psychopathologisch zu erläuternde Befund im Erleben des Täters von Interesse sein. Hier kann es erheblich auf spezifische Merkmale der Persönlichkeit in ihrer Verschränkung mit den situativen Bedingungen ankommen, etwa hinsichtlich der Ärgeraffekte und ihres Einflusses auf die psychophysische Reaktionslage zur Tatzeit. Insofern bietet sich bei solchen Fragestellungen ein intensiver Dialog zwischen Sachverständigen und Gericht an. Bei vielen Fallgestaltungen des § 213 StGB dürfte darüberhinaus die Abgrenzung zu den so genannten Affektdelikten mitsamt der dafür gesondert entwickelten Beurteilungssystematik für die Frage der Schuldfähigkeit zu diskutieren sein (vgl. Saß 1993). Allerdings haben forensische Psychiater dazu kritisch bemerkt, heftiger Affekt, der nach der Rechtssprechung zu § 213 StGB gefordert wird, und heftigster Affekt, der etwa für eine Bewusstseinstrübung spräche, ließen sich nicht unterscheiden (Janzarik 1972). Ein Differenzierungsmerkmal zwischen den Fragestellungen des § 213 StGB einerseits und der § 20, 21 StGB andererseits könnte in dem Erforder-
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nis „ . . . ohne eigene Schuld . . .“ im § 213 StGB gesehen werden. Ob allerdings ein durch Provokation ausgelöster Ärgeraffekt „ohne eigene Schuld“ entstanden ist, wird nicht immer klar zu beantworten sein, da nicht nur bei Affektdelikten im engeren Sinne der Tat sicherlich in vielen Fällen eine komplexe Entwicklung hin zum späteren Delikt vorangegangen sein kann. Aus interaktionaler Perspektive (Glatzel 1987) ist in einer privaten wie in einer sozialen Beziehung in der Regel keiner der Partner gänzlich ohne Mitwirkung am Verhalten des anderen. Obwohl also aus Sicht eines forensischen Psychiaters die Frage nach einem möglichen Verschulden recht komplex ist, kann er zuweilen aus psychopathologischer Perspektive Aspekte beisteuern, die dem Gericht für eine Bewertung der vorangegangenen Entwicklung, der Entstehung der psychischen Verfassung zur Tatzeit und der motivationalen Hintergründe, die bei der Tat wirksam waren, hilfreich sein können. Ähnliche Überlegungen gelten für das Erfordernis „ . . . schwere Beleidigung . . .“ im § 213 StGB. Sofern hier aus rechtlicher Sicht eine objektive Bestimmung des Schweregrades der Beleidigung angezeigt ist, käme es nur auf die tatrichterliche Beurteilung an. Sollte allerdings eine Berücksichtigung von persönlichkeitsbedingten und situativen Vorbedingungen für das subjektive Erleben einer Beleidigung und ihre Bedeutung für die daraus resultierende affektive Verfassung eines gekränkten Täters eine Rolle spielen, so könnte wiederum die psychopathologische Analyse für die individuelle Schweregradsbeurteilung Bedeutung erlangen. Die Bedingung des § 213 StGB „ . . . zum Zorne gereizt und hierdurch zur Tat hingerissen . . .“ führt auch zu der Frage, ob und wie die Privilegierung nach § 213 StGB von der De- beziehungsweise Exkulpierung nach §§ 20, 21 StGB auf der Grundlage einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ abzugrenzen ist. Gemeint sind Fälle, bei denen einerseits die Voraussetzungen des § 213 StGB vorliegen mögen, andererseits aber auch ein höchstgradiger Affekt mit „tiefgreifender Bewusstseinsstörung“ und erheblicher Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens. Hier kann eine Strafmilderung nach § 213 StGB wie auch nach den Schuldfähigkeitsparagrafen erfolgen, denn laut Bundesgerichtshof greift in Fällen, in denen die erste Alternative des § 213 StGB unabhängig von dem Grad der Schuldfähigkeit des Täters zu bejahen ist, das Verbot der Doppelverwertung von Milderungsgründen nach § 50 StGB nicht ein (BGH JZ 1983, 400). Für die Diskussion der Frage, in welchem Verhältnis bei entsprechenden Tötungsdelikten die psychopathologisch zu beurteilenden Aspekte des § 213 StGB und der §§ 20,21 StGB zueinander stehen, wurde auf die Unterschiede zwischen den Begriffen der Bewusstseinsstörung einerseits und des Zornes andererseits hingewiesen (Glatzel 1987). Bei ersterer liegt aus psychopathologischer Perspektive das Schwergewicht der Problematik in der Alteration des Persönlichkeitsgefüges am Ende einer vielschichtigen Entstehungsgeschichte. Bei deren Analyse lassen sich die inzwischen weithin anerkannten Prüfungsschritte und Bewertungsregeln, wie sie für die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung bei Affektdelikten“ entwickelt wurden, verwenden (Saß
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1983, 1993). Dagegen könnte man mit Glatzel (1987) die Fallgestaltungen gemäß § 213 StGB eher in solchen Konstellationen erwägen, in denen die Beziehung zwischen Täter und Opfer vorwiegend durch die Tat beziehungsweise deren unmittelbares Vorfeld bestimmt ist. Die Erregung bedarf dabei als Voraussetzung nicht der spezifischen Vorgeschichte in der langen, konflikthaften Beziehung zwischen Täter und Opfer, vielmehr ist laut Glatzel in den Fallgestaltungen des § 21 StGB gerade das Fehlen einer solchen Vorgeschichte typisch. Diese Konstellationen dürften den Impulstaten im Sinne von Marneros (2007) beziehungsweise den Affektdelikten im weiteren Sinne (Saß 1983) entsprechen. z Spezialfall Kindstötung Eine Sonderstellung innerhalb der zweiten Alternative des § 213 StGB nimmt neuerdings die Kindstötung ein, die unter Umständen als sonstiger minderschwerer Fall des Totschlages anzusehen ist. Diese Konstellation entspricht dem ehemaligen, 1998 aufgehobenen § 217 StGB, also dem Fall, dass eine Mutter ihr uneheliches Kind in Zusammenhang mit der Geburt tötet. Aus psychiatrischer Sicht ist der Verzicht problematisch, da die psychologische und psychopathologische Situation etwa von Frauen mit ungewollter und auch verheimlichter Schwangerschaft erhebliche Besonderheiten aufweist. Diese sind so erheblich, dass der Verzicht auf die Privilegierung aus medizinischen Gründen zu überdenken ist. Schon immer war in unterschiedlichen Rechtssystemen die Tötung neugeborener Kinder als ein Ausnahmegeschehen betrachtet und auch mit einem geringeren Strafmaß versehen worden. Auf diese Weise sollte der häufig schwierigen sozialen Situation einer unter Umständen ledigen Mutter Rechnung getragen werden, die ihr Kind unmittelbar nach der – zumeist heimlich erfolgten – Geburt tötet und beseitigt. Häufig sind es erstgebärende Frauen, die nicht selten auch die gesamte Schwangerschaft vor der Umgebung verheimlichen konnten. Auf der einen Seite geht es um die besondere psychische Verfassung, die mit dem einschneidenden körperlichen und seelischen Erleben einer Geburt einhergeht. Daneben gibt es abrupte hormonelle Änderungen unter und nach der Geburt, die physiologisch bedingt erhebliche Auswirkungen auf das psychische Befinden haben können. Schließlich ist für die Beurteilung der Täterpersönlichkeit und des Motivationshintergrundes eine eingehende Analyse der Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Reife sowie der psychodynamischen Situation im Vorfeld der Geburt erforderlich, damit neben der reinen Schuldfähigkeitsfrage auch Material für die rechtliche Prüfung in Hinblick auf die Voraussetzungen des § 213 StGB (sonstiger minderschwerer Fall) gewonnen wird. Von der Persönlichkeit her handelt es sich meist um junge, zuweilen minderbegabte, in ihrer Reifung retardierte und naive Frauen (Mendlovicz et al. 1998). Die forensisch-psychiatrische Begutachtung hat in diesen Fällen natürlich auch die Schuldfähigkeitsfrage zu prüfen, also das Vorliegen einer psychischen Erkrankung im engeren Sinne, etwa die nicht selten in der
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Perinatalzeit auftretenden psychotischen Störungen oder auch schwerwiegende depressive Episoden. Die Depression ist mit einer Prävalenz von zirka 10% aller Gebärenden die häufigste postpartale Erkrankung und birgt ein hohes postpartales Risiko, wobei Suizidalität und erweiterte Suizidalität häufige Symptome dieser Depressionsformen darstellen und eine hohe Gefahr für das Leben der Kinder beinhalten (Hornstein u. Trautmann-Villaba 2007). Nimmt man den Neonatizid, also die Tötung in den ersten 24 Stunden nach der Geburt, so findet sich bei Müttern, die ihr Kind töten, eine hohe Prävalenz von psychischen Erkrankungen, vor allem von depressiven und schizophrenen Erkrankungen (Spinelli 2004; Friedman et al. 2005). Seltene, aber dramatische und tragische Ereignisse sind Tötungen von Kindern im Rahmen eines erweiterten Suizides, in der Regel durch die Mutter. Neben den produktiven Phänomenen ist auch die aus der Depression erwachsene Bindungsstörung zwischen Mutter und Säugling, die klinisch und in der Forschung zunehmend beobachtet wird, mit einem hohen Risiko für einen Infantizid verbunden (Hornstein u. Trautmann-Villaba 2007). Zumeist geht es hier um die Frage einer schwerwiegenden depressiven Erkrankung, die allerdings nicht selten von der Umgebung nur unzureichend wahrgenommen wurde. So einfühlbar dem psychiatrischen Beurteiler aus seiner klinischen Erfahrung heraus die pathologische Motivation zu Suizid und Mitnahme des Kindes infolge tiefer melancholischer Verstimmung sein mag, so schwierig kann es in foro sein, dies den anderen am Verfahren beteiligten Instanzen klar zu machen, zumal die Mütter zum Zeitpunkt der Verhandlung in der Regel voll remittiert sind. Schwierig zu erkennen, aber auch zu vermitteln sind ferner die atypischen depressiven Verfassungen, die über Reizbarkeit und Veränderungen der Impulskontrolle aggressives Verhalten begünstigen können. Allerdings gibt es auch Kindstötungen im Rahmen von Partnerschaftskrisen und sozialen Verwicklungen, die in einen motivischen Hintergrund von egozentrischer Behauptung der eigenen Interessen, Rache oder Wunsch nach Verletzung des Partners eingebettet sind. Diese nichtpathologischen, sondern normalpsychologisch ableitbaren Hintergründe beeinträchtigen die Schuldfähigkeit, sofern nicht affektive Ausnahmeverfassungen vorgelegen haben, in aller Regel nicht. Schließlich kann es zu Tötungen aus Mitleid kommen, etwa bei Behinderungen und langjähriger, auswegloser Erkrankung. Hier wird neben der Persönlichkeitsanalyse erneut die psychodynamische Situation im Vorfeld der Tat besondere Bedeutung erhalten. z Psychopathologische Aspekte der Mordmerkmale Eine weitere, auch psychopathologisch relevante Fragestellung in den Paragrafen des Strafgesetzbuches über Tötungsdelikte betrifft die Qualifikationsmerkmale des Mordes. Damit werden – wie übrigens auch bei einigen Aspekten des § 213 StGB – möglicherweise Fragen der inneren Tatseite und damit auch der psychischen Verfassung des Täters und seiner Motivation
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berührt. Ähnlich wie in den Bemerkungen zu den psychopathologischen Aspekten zu § 213 StGB ist auch hier zu betonen, dass Feststellungen zum Tatmotiv natürlich eine Angelegenheit des erkennenden Gerichtes sind. Daher sollte der Sachverständige sich hierzu keineswegs ungefragt und in jedem Falle nur mit größter Zurückhaltung äußern, da nach wiederholten juristischen Aussagen der Tatrichter zur Feststellung der subjektiven Mordmerkmale in der Regel nicht der Hilfe eines Sachverständigen bedürfe. Die Kriterien des Mordes sind in drei Gruppen gegliedert, nämlich die niedrigen Beweggründe, die Verwerflichkeit der Begehungsweise und die Verwerflichkeit des Handlungszweckes (vgl. Dölling u. Laue in diesem Band). Die genannten Begriffe enthalten offensichtlich neben objektiven auch wesentliche subjektive Aspekte. Damit können sich Fragen nach der aktuellen psychischen Verfassung des Täters zur Tatzeit wie Gestimmtheit oder Wahrnehmungs- und Urteilsfunktionen stellen, aber auch nach überdauernden Faktoren wie Intentionen und Werterhaltungen, die eine psychopathologische Erörterung nahe legen. Für die folgenden Ausführungen hierzu finden sich differenzierte Vorüberlegungen in der forensisch-psychiatrischen Literatur vor allem bei Janzarik (1992) und Venzlaff (1993). Eine neuere Äußerung stammt von Dannhorn (2007). Der wichtigste Beitrag des psychiatrischen Sachverständigen für die Frage der Mordqualifikation dürfte in der Rekonstruktion der emotionalen Verfassung des Täters liegen, wobei hier erneut die Nähe zur Affektdeliktkonstellation deutlich wird. Daher betont Eser (1980, S. 45 f.) bei seinen Überlegungen zu den Bedingungen, die die Mordqualifikation einschränken können, insbesondere Fragen des Affektes und des Konfliktes. Heine (1988) erörtert die Frage der affektiven Verfassung und ihrer möglichen Auswirkungen auf die für die Vorwerfbarkeit niedriger Beweggründe geforderte Fähigkeit des Täters, seine gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern. Janzarik (1992) hat das Problem der Mordmerkmale auf der Grundlage der strukturdynamischen Konzeption diskutiert. Kritisch wird aus der Sicht des psychiatrischen Sachverständigen hingewiesen auf „Vermeidungsstrategien“, mit denen die Rechtsprechung der in Einzelfällen als unverhältnismäßig empfundenen lebenslangen Freiheitsstrafe mit mindestens 15-jähriger Haftverbüßung auszuweichen suche. Hierzu gehöre neben der bemerkenswert häufigen Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit auch die – zusätzlich mit der Affektproblematik behaftete – Infragestellung der Mordmerkmale. Janzarik formuliert, bei vertiefter Kenntnis von Täterpersönlichkeit und Vorgeschichte könne sich das in vielen Fällen aus der Laienperspektive sich aufdrängende und sonst nicht äußerungsfähige Unbehagen an der Qualifizierung einer Tat als Mord in die Prüfung der Schuldfähigkeit einmischen. Korrekt bliebe der Hinweis auf einen möglichen, dann aber durch Fragen des Gerichtes einzuführenden Beitrag sachverständigen Wissens zur Klärung des subjektiven Mordtatbestandes. Ansonsten könnte die Bereitschaft wachsen, die empfundenen Unstimmigkeiten mit einem Ausweichen auf den § 21 StGB zu glätten.
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Gerade bei Tötungsdelikten, bei denen zumeist keine psychischen Erkrankungen im engeren Sinne vorliegen, geschieht die sachverständige Prüfung der Schuldfähigkeit auf der Basis einer vertieften Hinwendung zu Lebensgang, Persönlichkeit, Situation und subjektiven Tataspekten (ebd. 1992). So ist aus forensisch-psychiatrischer Sicht jedes, auch das deliktische Handeln in einen situativen Zusammenhang eingefügt und stellt eine individuelle Antwort auf die mit der Situation gegebenen Möglichkeiten und Aufforderungen dar, wobei auch die aktuelle Befindlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Insofern kann bei Tötungsdelikten die psychopathologische Auswertung von Lebenslauf, Persönlichkeit und subjektiver Tatsituation einen wesentlichen Beitrag zur Gewinnung der Grundlagen rechtlicher Beurteilung leisten, doch hat sich natürlich der Sachverständige aus der Wertung selbst heraus zu halten. Anfänge einer solchen Wertung können sich allerdings bereits, wie Janzarik in einer ebenso knappen wie bedeutsamen Bemerkung andeutet, in der Interpretation der Befunde verstecken. Aus der psychopathologisch-menschenkundlichen Perspektive der strukturdynamischen Konzeption läge die Erwartung nahe, dass bereits mäßig ausgeprägte Abweichungen von der psychischen Norm geeignet sein könnten, mit restriktiven Auswirkungen auf Mordmerkmale störend in die realitätsgerechte Erfassung der Tatsituation einzugreifen (ebd.). Dagegen wäre mit einer die Tötungshandlung selbst ermöglichenden erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit erst bei höhergradigen psychischen Störungen zu rechnen. Die wegen einer Einschränkung psychischer Fähigkeiten notwendige Verneinung von Mordmerkmalen würde in solchen Fällen noch nichts über die Schuldfähigkeit aussagen; die Voraussetzungen einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit würden auch den Mordmerkmalen die Grundlage entziehen. Bei Betrachtung der einzelnen Mordmerkmale ergeben sich aus psychiatrischer Sicht wenige Probleme in der ersten Gruppe, die die niedrigen Beweggründe umfasst. Tötung aus Mordlust mag zwar mit manchen Persönlichkeitsauffälligkeiten einhergehen, etwa Handlungsweisen aus Reizhunger, zur Übertönung von Langeweile, aus Experimentierfreude oder zur sexuellen Anregung (ebd.). Dies wird in aller Regel – im Unterschied zu Heranwachsenden – bei Erwachsenen weder in den Bereich der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ führen noch in Hinblick auf die Mordmerkmale Zweifel an den psychischen Funktionen und Bewusstseinsleistungen begründen. Das Merkmal der Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebes wäre aus psychiatrischer Sicht unter dem Aspekt zu prüfen, ob der wesentliche Gehalt einer sexuell motivierten Tötung über die emotionale Komponente unmittelbar erlebt wird und auch bei eingeschränkter Schuldfähigkeit erlebbar bleibt. Hier geht es um den Gesichtspunkt, dass je nach der Situation ein bestimmtes Maß an reflexiven Kognitionen gefordert ist, das unter Umständen schon dann nicht mehr aufgebracht werden kann, wenn noch nicht von einer erheblichen Einschränkung der Schuldfähigkeit zu sprechen ist. Wenig psychopathologische Probleme wirft auch das Merkmal der Habgier auf, also ein Habenwollen
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um jeden Preis. Forensisch-psychiatrisch bedeutsam mag allenfalls eine Konstellation sein, etwa bei der Mittelbeschaffung zur Suchtbefriedigung, in der nicht die Schuldfähigkeit für die Tötungshandlung eingeschränkt ist, wohl aber die Mordqualifikation, nämlich die Fähigkeit des Täters, die Umstände, die das Handeln als niedrig erscheinen lassen, zu erfassen, etwa wegen massiven Entzugsdruckes. Vor allem die zweite Gruppe, Verwerflichkeit der Begehensweise, erscheint von den drei Gruppen der Mordmerkmale psychopathologisch relevant. Dölling und Laue definieren (s. Abschn. 2.1.1.2.1 in diesem Band) die in der Praxis am häufigsten vorkommende Heimtücke dergestalt, dass der Täter die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausnutzt. Da bei den Tötungshandlungen und insbesondere beim Spezialfall der Affektdelikte eine heftige psychische Erregung nahe liegt, wird nicht selten in foro an den Sachverständigen die Frage gerichtet, ob der Täter sich trotz der affektiven Verfassung die Situation, insbesondere die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers, in seinem Bewusstsein vergegenwärtigen konnte. Hier handelt es sich um eine mit der psychopathologischen Empirie schwer zu beantwortende Frage, für die in der forensisch-psychiatrischen Literatur bislang nur wenige Kriterien entwickelt worden sind. Bei der Beurteilung der Heimtücke, also der bewussten Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zur Tötung, kommt es auf das Erfassen und Erschließen situativer Gegebenheiten im Bewusstsein des Täters an. Hier könnte aus psychiatrischer Sicht schon eine mäßige Beeinträchtigung von Wachheit und Orientierung, etwa durch Alkohol, Drogen, affektive Erregung oder Intelligenzschwäche, geeignet sein, die Vergegenwärtigung der Umstände einer heimtückischen Tötung in Frage zu stellen. Janzarik (1992) spricht sich für eine Differenzierung aus zwischen einer sorgfältig geplanten, gut vorbereiteten und mit Verschlagenheit und Tücke durchgeführten Tötungshandlung einerseits sowie einem – ansonsten rein äußerlich den Tatbestand der Heimtücke erfüllenden – Vorgehen ohne Vorplanung, wobei aus begreiflichen Motiven die Gunst der Situation zu einem sonst wegen Schwäche und Unterlegenheit nicht möglichen tödlichen Angriff genutzt wird. Heimtücke sei keine Sache des Augenblickes und eines leicht störbaren Erfassens der aktuellen Situation. Die Haltung der Rechtsprechung zu der Bedeutung der affektiven Erregung im Hinblick auf die Mordmerkmale erscheint bislang noch uneinheitlich, wie Venzlaff (1993) zutreffend diskutierte. Für den BGH kann ein hochgradiger Erregungszustand verhindern, dass dem Angeklagten die Heimtücke oder die niedrigen Beweggründe seines Verhaltens bewusst waren, mit der Folge, dass sie nicht von seinem Vorsatz erfasst werden und eine Verurteilung wegen Mordes ausscheidet. Es reicht nach dem BGH nicht aus, dass der Täter die Umstände, auf die sich die rechtliche Beurteilung „heimtückisch töten“ stützt, nur in einer „äußerlichen, nicht ins Bewusstsein dringenden Weise“ wahrgenommen hat. Vielmehr muss er „ihre Bedeutung für die Tat erfasst haben, wenn der Vorwurf des Ausnutzens der
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Arg- und Wehrlosigkeit begründet sein soll“ (BGHSt 6, 120, 121 f.). Fehlt es an der Bedeutungskenntnis, ist die affektbedingte Bewusstseinstrübung rechtserheblich. Die besondere Lage des Opfers wird dann für den bewussten Willensbildungsprozess des Täters nicht kausal. Andererseits hält es der BGH für möglich, dass der Täter sich dessen bewusst ist, einen ahnungslosen und schutzlosen Menschen zu überraschen und sich die Bedeutung der Lage des Opfers zu vergegenwärtigen, selbst wenn er sich in heftiger Gemütsbewegung befindet, auch wenn diese zur Anwendung des § 21 StGB führt. Dabei wird gefordert, dass der Täter die Umstände, die die Heimtücke begründen oder die Niedrigkeit der Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung aufgenommen und erkannt hat und auch, insbesondere bei gefühlsmäßigen triebhaften Regungen, gedanklich beherrscht und gesteuert hat. Dabei setzt nach Auffassung des BGH ein Bewusstsein der Arg- und Wehrlosigkeit nicht unbedingt einen länger erwogenen Tatplan, eine längere Überlegung oder ein planvolles Vorgehen beim Täter voraus. Vielmehr kann er auch einer raschen Eingebung folgend die für ihn günstige Situation oder die Umstände, welche die Heimtücke begründen, in ihrer Bedeutung für die Tat erfasst haben, oft „mit einem Blick“ (BGHSt 2, 60; BGH NStZ 1981, 140; StV 1983, 523). Hier besteht also ein Unterschied in der Auffassung Janzariks (s. o.). Die Frage ist, ob beim Wahrnehmungsvorgang über unbestimmt-vorgestaltliche Eindrücke hinaus eine weitergehende Integration und Gestaltung auf kognitiver Ebene mit Erkennen der Wehrlosigkeit des Opfers stattgefunden hat. Dies mag insbesondere dann nahe liegen, wenn die Tathandlung auf eine bereits bestehende oder im Tatvorfeld aufbrechende feindselig-destruktive Gesinnung zurückgeht (Venzlaff 1993). Auch in der juristischen Kommentarliteratur werden hinsichtlich der inneren Verfassung und kognitiven Leistungsfähigkeit des Täters recht hohe Maßstäbe angelegt, jedenfalls können die entsprechenden, aus einschlägigen BGH-Entscheidungen entnommenen Formulierungen dies nahe legen (vgl. Fischer 2008, § 211 Rn 16, 44): So muss der Täter die Umstände, die die Wertung „heimtückisch“ begründen oder die Niedrigkeit der Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen und erkannt und insbesondere bei gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich beherrscht und gewollt gesteuert oder in unduldsamer Selbstgerechtigkeit ignoriert haben. Auch muss er dazu geistig imstande sein, was bei alkoholbedingter Bewusstseinsstörung, starker affektiver Anspannung, charakterologisch bedingter Egozentrizität oder niedrigem Intelligenzquotienten oder im Falle auffälliger Eigenarten der Täterpersönlichkeiten bei hochgradiger Erregung fehlen könne. Bei spontan gefasstem Tötungsvorsatz, situationsbedingten Jähtaten oder beim Überfahren einer Polizeisperre, bedürften die treibenden Beweggründe besonders sorgfältiger Prüfung. Aus psychopathologischer und wahrnehmungspsychologischer Sicht ist ein „Erfassen auf einen Blick“ als intuitiver Akt der Wahrnehmung nicht unbedingt an eine uneingeschränkte Bewusstseinsklarheit gebunden (Venz-
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laff 1993). Auch bei erheblicher Einengung des Bewusstseins auf das Tatgeschehen brauche sich der Wahrnehmungsvorgang nicht auf unbestimmtvorgestaltliche Eindrücke zu beschränken, sondern es könne sehr wohl zu einer weitergehenden Integration und Gestaltung auf kognitiver Ebene mit Erkennen der Wehrlosigkeit des Opfers kommen. Sicherlich ist die Qualität der Wahrnehmung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in der retrospektiven Betrachtung nicht empirisch klar überprüfbar. In Übereinstimmung mit Venzlaff und in Analogie zu entsprechenden Überlegungen im Kontext der Affektdelikte erscheinen aber indizielle Rückschlüsse dann möglich, wenn im Tatgeschehen der verhaltensdeterminierende Einfluss von Wahrnehmungseindrücken in der Täter-Opfer-Interaktion erkennbar wird, was auf erhalten gebliebene Fähigkeiten der Situationserkennung, der kognitiven Verarbeitung und der Steuerung schließen lässt (vgl. Saß 1983, 1993 und den Beitrag „Tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ in Bd. 2). Venzlaff (1993) schildert beispielsweise zweiphasige Delikte, bei denen trotz erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit Heimtücke des Vorgehens oder auch eine Verdeckungshandlung vorliegen können, wenn es nach initialem Affektdurchbruch bei Tatbeginn anschließend zu einer partiellen Normalisierung der Wahrnehmungsfunktionen und dem Wirksamwerden kognitiver Leistungen gekommen ist. Umgekehrte Bedingungen enthielt eine Konstellation, nach der eine erst in der Endphase eines lang hingezogenen Tatablaufs und insofern bereits als Tatfolge eingetretene erheblich verminderte Schuldfähigkeit die Bejahung von „niedrigen Beweggründen“ nicht ausschloss (BGH NStZ 1989, 363–364). Venzlaff (1993) weist darauf hin, dass die Wahrnehmung als bewusst werdende Außenwelt ein überaus komplexer Vorgang ist, der mit der Rezeption von Sinneseindrücken beginnt, die durch Organisation und Gestaltung bewusstseinsfähig werden, und durch Informationsverarbeitung als kognitive Leistung zum Erkennen führt. Deshalb könne die Formulierung des BGH so verstanden werden, dass im Rahmen einer starken affektiven Erregung zwar noch eine Integration von Sinneseindrücken bis zu einer gewissermaßen „vorgestaltlichen“ Wahrnehmung möglich sei, es aber durch die affektive Blockierung kognitiver Funktionen nicht zu einer ausreichenden Informationsverarbeitung komme, um die Hilf- und Wehrlosigkeit des Opfers als solche zu erkennen. Venzlaff hält es für inkonsequent, wenn der BGH nicht ausdrücklich fordert, dass die das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke ausschließende starke Erregung oder affektive Bewusstseinstrübung bereits die Qualität einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne der Schuldfähigkeitsparagraphen erfüllt haben muss, da eine affektive Blockierung kognitiver Funktionen, die soweit geht, dass Sinneseindrücke nur bis zur vorgestaltlichen Wahrnehmung integriert werden können, sicherlich einer psychischen Verfassung entspreche, die auch als tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Rechtssinne verstanden werden sollte. Ausdruck dieser nicht ganz konsequenten Haltung sei die Feststellung in BGHSt 11,139, wonach die Tatsache allein, dass jemand in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung töte, es nicht ausschließe, sein Vorgehen „heimtückisch“ zu nennen.
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Hinsichtlich des Merkmales der Grausamkeit spielt die Rekonstruktion des Tatablaufes gegebenenfalls eine wichtige Rolle. Allerdings dürften manche Umstände durchaus mehrdeutig sein, etwa eine Vielzahl potenziell tödlicher Verletzungen. Sie können unabhängig von Grausamkeit den unbedingten Tötungswillen, heftige Gegenwehr des Opfers, vielleicht aber auch das Bemühen des Täters anzeigen, den Todeskampf abzukürzen. Für Janzarik (1992) ist Grausamkeit der emotionalen Tönung nach keine stürmische, sondern eine eher verhaltene und mit menschenverachtender Distanz zum Opfer ausgelebte Regung. Anders als die Voraussetzungen von Heimtücke, die vom Täter aus der Situation erschlossen werden müssten, werde Grausamkeit in Verbindung mit den Reaktionen des Opfers in einer elementaren, durch nichts zu überbietenden Eindrücklichkeit erlebt, sodass eine psychische Störung ein ungleich höheres Ausmaß erreichen müsste, um den vorsätzlichen Einsatz von Grausamkeit in Frage stellen zu können. In der dritten Gruppe der Mordmerkmale, die eine besondere Verwerflichkeit des Handlungszweckes betrifft, geht es um die Tötung zur Ermöglichung und Verdeckung einer anderen Straftat. Diese beiden Bedingungen sind aus psychopathologischer Sicht differenziert zu betrachten (Janzarik 1992). Wenn es um die Ermöglichung einer Straftat geht, wird kaum eine psychische Konstellation vorstellbar sein, die die Vergegenwärtigung der Tatumstände und der angestrebten Ermöglichung in Frage stellt. Dagegen können Verdeckungsabsichten oft aus emotional bereits bewegten Handlungszusammenhängen heraus in einem „affektiv“ aufgeladenen und eingeengten psychischen Feld entstehen, in dem die freie Verfügung über mögliche Lösungswege eingeschränkt sein kann und kurzfristige Primitiventscheidungen sich vordrängen. Derartige Fallgestaltungen können in sich zuspitzenden Abläufen etwa bei Rausch- oder auch Sexualdelikten auftreten. Unter Umständen können hier aus der Verschränkung der situativen Faktoren mit individuellen Eigenschaften psychische Störfaktoren größere Bedeutung für die Vergegenwärtigung und Erfassung der Tatumstände erhalten und die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung der Tatumstände gefährden.
2.1.3.2.2 Brandstiftung z Historisches Brandstiftungen haben wegen ihrer verheerenden materiellen Folgen, aber auch als symbolbeladene Akte sowohl in Literatur, Dichtung und Mythologie als auch in kriminologischer und psychiatrischer Forschung stets eine große Bedeutung gehabt (vgl. die monografische Darstellung „Psychiatrie der Brandstiftung“ von Barnett 2005). Als prominente Deliktform nahmen sie in der Konzeption der Monomanien von Esquirol (1838), der sich auf Marc (1833) stützte, eine zentrale Rolle ein. Die Monomanienlehre hat trotz der ihr innewohnenden philosophischen, anthropologischen und theologischen Probleme im psychiatrischen Denken erheblichen Einfluss ausgeübt. In forensischer Hinsicht war sie von Anfang an umstritten und wurde be-
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reits von Griesinger (1845) abgelehnt. Konzeptionelles Grundproblem der Monomanienlehre ist die Gefahr der Tautologie, dass nämlich ohne Berücksichtigung übergreifender psychopathologischer Zusammenhänge allein ein bestimmtes Verhalten, etwa rezidivierendes Stehlen oder Brandlegen, Symptomcharakter erhält, woraus dann auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung geschlossen wird (Saß 1986). Umfassender, weil eingebettet in eine gesichtspunktreichere psychopathologische Betrachtung der Fälle, waren die Beiträge zur Monomanie von Kraepelin 1896, der sich in der Pyromaniefrage auch auf die Überlegungen von Jaspers (1909) bezog. Dieser hatte in seiner Dissertation über Brandstiftungsfälle bei heimwehkranken Mädchen das Feuerlegen als impulsiven Akt aufgefasst, der gebahnt werde durch unerträgliche Gefühle von Einsamkeit und Verlassenheit. Trotz immer erneuter Kritik ist die Pyromanie auch später zumeist als eigenständige kriminologische wie psychopathologische Delikt- und Krankheitsform angesehen worden, die sich bis in die gegenwärtigen operationalisierten Klassifikationssysteme, dort in der Gruppe der „Störungen der Impulskontrolle“, erhalten hat. Dies geschah trotz der schon früh geäußerten und bis heute gültigen Kritik, dass ein rezidivierendes delinquentes Verhaltensmerkmal allein weder den Charakter eines Symptoms im medizinischen Sinne aufweist noch als Beleg für eine psychische Erkrankung genommen werden kann. Psychopathologische Relevanz gewinnt dieses Verhalten erst, wenn andere Merkmale psychischer Gestörtheit hinzutreten. In den verschiedenen Auflagen des Lehrbuches von Kraepelin wurde die Brandstiftung beim impulsiven Irresein und den psychopathischen Zuständen eingeordnet, wobei er zwei Formen pathologischer Brandstiftung unterschied. Auf der einen Seite nannte er Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle, etwa bei heimwehkranken Mädchen (vgl. Jaspers 1909), auf der anderen Seite Brandstiftungen aus krankhafter Freude am flackernden Feuer und dem unbezähmbaren Wunsch, sich diesen Anblick zu verschaffen. Konzeptionell verstand er die Brandstiftungen in Anlehnung an die französischen Lehren von der instinktiven Monomanie als impulsive Triebhandlungen, bei denen es zur handlungsmäßigen Umsetzung eines von einem einzigen Motiv bestimmten Willensaktes komme. z Epidemiologische Aspekte Generell ist zu unterscheiden zwischen einmaliger oder seltener Brandstiftung aus abnormem Motiv heraus, etwa das Heimweh in der Schilderung von Jaspers, und Mehrfach- oder Serienbrandstiftungen aus „Freude am Feuer“. Darüber hinaus gilt es natürlich die mit Vorbedacht und zielgerichtet ausgeführten Brandstiftungen abzugrenzen, die aus einem Betrugs- oder Erwerbsmotiv heraus verübt werden, etwa wegen Versicherungsleistungen oder zur Veränderung eines Grundstückswertes. Brandstiftungen besitzen große volkswirtschaftliche Bedeutung. Nach Untersuchungen in den USA beliefen sich die durch Brandstiftung ver-
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ursachten Schäden auf 30% aller Feuerverluste, in europäischen Ländern auf zirka 20% (Priens 1994). In der Polizeilichen Kriminalstatistik machten im Jahr 2000 Brandstiftungen bundesweit 0,4% aller bekannt gewordenen Delikte aus bei einer Aufklärungsquote von 37% (Bundeskriminalamt 2001). Nach der PKS waren im Jahr 2000 83% der überführten Brandstifter Männer, davon etwas mehr als die Hälfte im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, 25% waren Kinder und Jugendliche. Häufigste Tatobjekte waren Gebäude, danach Müllcontainer, Telefonzellen, Heuhaufen etc. Jugendliche zünden bevorzugt leicht zugängliche Objekte wie abgestellte Autos, Müllcontainer etc. an, erwachsene Serientäter Gegenstände, die in Hausfluren, Kellern oder auf Dachböden gelagert sind (vgl. Barnett 2005). Aus polizeilichen Ursachenstatistiken ergibt sich als wesentliche Merkmalkombination für den aus polizeilicher Sicht häufigsten Serientätertypus: jünger als 25 Jahre, ohne Schulabschluss und Berufsausbildung, alleine lebend, arbeitslos, alkoholkrank und/oder bei der Tat alkoholisiert (Breitfeld 1992). Einen Eindruck von Epidemiologie und Motivationshintergründen verschafft eine große empirische Studie von Lewis und Yarnell (1951), die sich auf die Analyse von rund 2000 Akten des Dachverbandes der amerikanischen Feuerversicherungsgesellschaften stützte. Es wurden aus den auswertbaren 1145 Fällen von Tätern über 16 Jahren folgende Untergruppen gebildet: Nach Ausschluss der Versicherungsbetrüger verblieben im Ausgangskollektiv von 1145 Probanden 266 Rachetäter, 154 Psychotiker und 688 von den Autoren als „Pyromane“ klassifizierte Täter. Die letzte Gruppe ließ sich unterteilen in 241 Probanden, die in irgendeinem Zusammenhang mit der Feuerwehr standen, ferner 447 „Pyromane“ im engeren Sinne, davon unter anderem 98 Schwachsinnige. Bei Klassifizierung des Gutachtenmaterials nicht nach Diagnosen, sondern nach Tatmotiven ergeben sich am häufigsten Rachemotive, danach (gerichtete) Wut oder Verärgerung, schließlich Frustration, affektive Spannungsabfuhr und emotionale Ausnahmezustände. Auch in anderen Gutachtenstudien spielen Feuerwehrmitglieder mit Suche nach Anerkennung beim Löscheinsatz eine große Rolle (etwa 10% der Motive). Ebenfalls von Bedeutung sind Verdeckungsmotive, Versicherungsbetrug und Geltungsbedürfnis. Bei Jugendlichen und Heranwachsenden finden sich häufiger Vandalismus, „sensation seeking“ oder die Absicht, jemandem einen bösen Streich zu spielen. Studien an Gutachtenmaterial (vgl. Barnett 2005) ergaben, dass in mehr als 90% der Fälle psychiatrische Diagnosen gestellt wurden, am häufigsten Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Intelligenzminderung und Alkoholismus. Bei den Persönlichkeitsstörungen werden in etwa einem Drittel der Fälle gemischte beziehungsweise nicht näher spezifizierbare Formen genannt, gefolgt von antisozialer Persönlichkeit bei Männern und Borderlinestörungen bei Frauen (ebd.). Während sich in früheren Studien, die sich auf die Typologie Kurt Schneiders stützten, häufig geltungsbedürftige Psychopathen fanden, weisen neuere Arbeiten (Laubichler et al. 1996) auf die Bedeutung auch selbstunsicherer Persönlichkeitsmerkmale hin. Depressive Störungen wurden in vier bis 14% der Fälle mitgeteilt, wobei die Taten
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depressiver Probanden sich fast immer in der eigenen Wohnung ereigneten, bei Frauen oft als Suizidversuch unter Mitnahmeabsicht, aber auch als aggressive Durchbruchshandlungen. Schizophrene Psychosen machen im Gutachtenmaterial deutschsprachiger Länder einen Anteil zwischen 5% und 8% aus, in skandinavischen Ländern um 20% und in US-amerikanischen Fallsammlungen bis zu 50%, wobei übereinstimmend berichtet wird, dass Brandstiftungen Schizophrener aus normalpsychologischen Motiven wie Hass und Rache häufiger vorkommen als unter dem Einfluss produktiv psychotischer Symptome (ebd.). Intelligenzminderung wird in Gutachtensammlungen bei etwa 30% der Fälle beobachtet, Alkoholismus und Substanzabhängigkeit in der Größenordnung zwischen 20 und 40% (ebd.). Bei einigen Krankheitsbildern werden besondere Beziehungen zu Brandstiftungsdelikten diskutiert. Verschiedene Fallberichte führen Patienten mit epileptischer Wesensänderung, Temporallappenanfällen oder psychomotorischen Auren auf, bei denen Zusammenhänge zwischen der organischen Erkrankung und Brandstiftungen gesehen wurden (Mende 1960; Brook et al. 1996; Pontius 1995, 1999). z Brandstiftung und Sexualität Früher stärker diskutiert wurden, unter dem Einfluss psychoanalytischer Hypothesen und Theorien, mögliche Zusammenhänge zwischen Brandstiftung und Sexualität. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Annahmen über direkt motivierte Brandstiftungen, bei denen der Täter während oder unmittelbar nach der Tat sexuelle Empfindungen, Masturbationshandlungen oder Orgasmus angibt, und indirekt sexuell motivierten Brandstiftungen, die motivisch einen Zusammenhang mit sexuellen Zurücksetzungen und Enttäuschungen aufweisen. In der psychoanalytischen Tradition wurde von Freud (1931) die Gewinnung des Feuers unter psychodynamischen Gesichtspunkten mit der Urethralerotik verknüpft, wonach der Feuerraub des Prometheus unter der Vorbedingung geschehe, dass dieser auf die homosexuelle Lust verzichtet, es durch Harnstrahl zu löschen. Empirische Untersuchungen und Falldarstellungen konnten die häufig allgemein geäußerte Vermutung besonderer Zusammenhänge zwischen Brandstiftung und Sexualität nicht bestätigen (Barnett 2005). Das schließt nicht aus, dass in Einzelfällen glaubhafte Berichte vorliegen, wonach etwa ein Proband Brandstiftungen jeweils nach erotischen Zurückweisungen vorgenommen habe. Interessant ist eine Studie von Quinsey et al. (1989) zur empirischen Überprüfung eines Zusammenhanges zwischen Brandstiftung und Sexualität an 29 Brandstiftern einer Klinik für psychisch kranke Straftäter. Auch bei solchen Probanden, die sexuelle Auffälligkeiten in der Vorgeschichte aufwiesen, zeigten sich bei der Präsentation von Geschichten sexuellen Inhaltes, einschließlich einer, die von sexueller Erregung während eines Brandes handelte, phallopletysmatografisch keine Unterschiede zwischen Sexualdelinquenten und Kontrollprobanden. Allerdings kam frühere Sexualdelinquenz bei Serienbrandstiftern häufiger als bei anderen Häftlingen vor. In
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anderen Studien wiesen Brandstifter signifikant weniger Sexualdelikte auf als Probanden mit Gewaltdelinquenz. Insgesamt ist die Datenlage uneinheitlich und keineswegs geeignet, die allgemeine Vorannahme einer besonderen Beziehung zwischen Sexualität und Brandstiftung zu stützen. Weder hinsichtlich Tätertypologien noch hinsichtlich Beziehungen zu bestimmten psychiatrischen Krankheitsbildern lassen sich eindeutige Muster bei Brandstiftern herausarbeiten. Vielmehr sind Täter mit Brandstiftungen hinsichtlich kriminologischer Merkmale weitgehend mit anderen Straftätern vergleichbar. z Brandstiftung als Störung der Impulskontrolle und der Affektregulation Impulsives Brandstiften gehört ebenso zu dem Konstrukt Impulsivität wie ein breites Spektrum anderer Verhaltens- und Erlebensweisen, etwa Suizidalität, selbstverletzendes Verhalten, antisoziales Verhalten, Alkoholismus und Gewaltdelinquenz (Herpertz u. Saß 1997; Herpertz 2001; Barnett 2005). Bei Probanden mit derartigen Verhaltensauffälligkeiten ließ sich vor allem in biologischen Untersuchungen eine verringerte 5-Hydroxy-Indolessigsäure-Konzentration im Liquor nachweisen. Als wesentlich für eine Neigung zu impulsivem Verhalten wurde eine Unterfunktion des serotonergen Systemes angenommen, was zu einem Wegfall von verhaltenshemmenden und -modulierenden Wirkungen führe. Neben derartigen biologischen Aspekten werden in Affektregulationsmodellen auch psychoanalytische und verhaltensorientierte Aspekte integriert, auch spielt bei der Verhaltenssteuerung die Regulierung von Stimmungslage und Affekt eine wesentliche Rolle (s. auch Abschn. 2.1.3.1.4 „Ätiologische Aspekte“ bei den Tötungsdelikten). Rechlin und Weis (1992) kommen in Übereinstimmung mit dem Großteil der internationalen Literatur zur Annahme eines multifaktorellen Konzeptes für Brandstiftung. Barnett (2005) hält in dieser Hinsicht zu Recht fest, dass die Pyromaniekonzeptionen von DSM und ICD in sich widersprüchlich, uneindeutig und damit für die praktische Anwendung ungeeignet seien, was vor allem auf mangelnde Berücksichtigung der Problemgeschichte des Pyromaniebegriffes zurückzuführen ist. Ergiebiger ist eine Analyse der Motivlage. Dazu hebt Barnett unter dem Gesichtspunkt der instrumentellen Bedeutung für die Affektregulation drei Gruppen pathologischer (nicht psychotischer) Brandstifter heraus: Serientäter, die durch das Delikt positive Affekte maximieren, Serientäter, die negative Affekte minimieren, Einzeltäter, die einen negativen Affekt „ohne Motiv“ minimieren. Die angenehme Emotionen maximierenden Serientäter berichteten von Freude am Feuer und – in seltenen Einzelfällen – von Erzielung eines Orgasmus, die negative Affekte minimierenden Serientäter meistens von Befreiung von Unlustgefühlen, während die einen negativen Affekt minimierenden Einzeltäter „ohne Motiv“ ihrer Tat mehr oder weniger hilflos gegenüberstanden und sie nicht erklären konnten.
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z Forensisch-psychiatrische Begutachtung Eine empirische Studie von Rechlin und Weis (1992) an 40 begutachteten Brandstiftern ergab eine erhebliche Variabilität. In der untersuchten Gruppe von 31 Männern und neun Frauen hatten 22 Probanden nur eine, einer zwei und 17 mehr als zwei Brandstiftungen verübt. Die Mehrzahl der Täter war unter 25 Jahren alt. Unter den psychiatrischen Diagnosen überwogen frühkindliche Hirnschädigung (22,5%), chronischer Alkoholismus (30%) und schizophrene Patienten (7,5%), die als Einfachtäter auffielen. In der forensischen Beurteilung der Schuldfähigkeit, die bei 38 Untersuchten erfolgte, wurde bei elf Probanden der § 20 StGB angenommen (drei wegen schizophrener Psychose, sechs wegen Rauschtat und zwei wegen Schwachsinn), viermal wurde Unterbringung nach § 64 StGB und dreimal nach § 63 StGB empfohlen. Verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB wurde 15 mal angenommen (sechsmal Rauschtat, dreimal Schwachsinn, zweimal leichter Schwachsinn und Alkoholisierung, einmal erworbene Hirnleistungsminderung und dreimal schwere Persönlichkeitsstörungen). Viermal wurde in dieser Gruppe Unterbringung nach § 63 StGB und dreimal nach § 64 StGB empfohlen. Eine Gutachtenanalyse von Barnett (2005) an 333 seit 1911 an der Heidelberger psychiatrischen Klinik erstellten Gutachten erbrachte bei 119 auswertbaren Fällen ein deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechtes (109 Probanden, 91,6%). Das Alter lag zwischen 14 und 76 Jahren mit einem Mittelwert von 32,9 Jahren. 59 Probanden (49,6%) waren ledig und hatten keinen festen Partner, 11 (9,2%) ledig in fester Partnerschaft, 26 (21,8%) verheiratet, 20 (18,4%) verwitwet, getrennt oder geschieden. Jeweils 39 (32,8%) hatten keinen Haupt- oder Lernbehindertenschulabschluss. Ein Drittel hatte niemals eine Berufsausbildung abgeschlossen; 42 Probanden (45,3%) waren vorbestraft, davon zehn (8,4%) bereits wegen Brandstiftungsdelikten. Besonders interessant ist die Aufschlüsselung der Tatmotive: 29 Probanden (24,4%) handelten aus Rache, 21 (17,6%) waren psychotisch oder hirnorganisch verwirrt. 15 mal (12,6%) wurde die Tat als Ausdruck einer aktuellen Frustration angesehen, ohne dass sich das Delikt wie bei Rachetaten direkt gegen jemand Bestimmtes richtete. Bei acht Probanden (6,7%) wurde Freude am Feuer als Hauptmotiv angesehen, in sechs Fällen (5%) konnte kein eigentliches Motiv eruiert werden, vielmehr ereigneten sich die Taten auf dem Boden einer hintergründigen Verstimmung oder aus zufälligen situativen Gegebenheiten heraus, oft in Zusammenhang mit Alkohol. Das so genannte Motiv des Hilfeschreis wurde in sechs Fällen (5%) gesehen, je vier (3,4%) Probanden begingen die Tat aus Vandalismus, zur Verdeckung einer anderen Straftat oder aus dem Bestreben heraus, sich bei Löscharbeiten beteiligen zu wollen. In jeweils drei Fällen (2,5%) war der Brand durch Fahrlässigkeit entstanden oder das Hauptmotiv lautete Versicherungsbetrug, Selbstverbrennungsabsicht oder der Wunsch, die Feuerwehr bei der Arbeit zu beobachten. Lediglich in zwei Fällen (1,7%) ließ sich eine sexuelle Motivierung feststellen.
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Diagnostisch lagen in 37 Fällen (31,1%) Persönlichkeitsstörungen vor, 24-mal (20,2%) Intelligenzminderung, 16-mal (13,4%) Alkoholmissbrauch beziehungsweise Alkoholerkrankung, 13-mal (10,9%) paranoid-halluzinatorische Psychosen, dreimal (2,5%) Demenz, zweimal (1,7%) progressive Paralyse. An Nebendiagnosen ergab sich bei 45 Probanden (37,8%) eine Persönlichkeitsstörung, 31 Probanden (26%) Intelligenzminderung, 26 (31,8%) Alkoholismus und Alkoholfolgekrankheiten, 14 (11,8%) paranoid-halluzinatorische Psychose. Bei den insgesamt 45 Probanden mit Persönlichkeitsstörungen als Haupt- oder Nebendiagnose führten Merkmale wie reizbar, erregbar, emotional instabil; danach kamen Züge von Haltlosigkeit und Willensschwäche, danach geltungsbedürftige und hysterische Merkmale, sodann asthenische und selbstunsichere sowie narzisstische und egozentrische. Die häufigste Kombination war reizbar mit haltlos und geltungsbedürftig. z Resümee Die vorgetragenen Informationen bedeuten für die gutachterliche Beurteilung, dass Zurückhaltung gegenüber der allgemeinen Tendenz geübt werden sollte, Brandstiftungsdelikte als eine besondere und auf Krankheitsnähe verdächtige Verhaltensweise anzusehen. Immer noch gültig ist die seit Aufkommen der Monomanienlehre geübte Kritik an der Heraushebung einer lediglich durch Brandstiftungshandlungen gekennzeichneten Pyromanie. Dies gilt auch gegenüber den entsprechenden Diagnosekategorien in ICD-10 und DSM IV TR. Die allgemeine Einordnung der Brandstiftung unter die „Störungen der Impulskontrolle“ gibt für die forensische Beurteilung nichts her. Eine nachhaltige Tendenz zu einer bestimmten Deliktform gewinnt erst dann forensische Relevanz, wenn zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten und diagnostizierbare Erkrankungen oder Persönlichkeitsanomalien vorliegen (vgl. Saß 1985). Natürlich wird man bei der Motivationsanalyse auch auf die Fähigkeit zum Umgang mit Frustrationen und auch eine besondere „Freude am Feuer“ achten, doch müssen sich die psychopathologischen Besonderheiten auf verschiedenen Ebenen im Verhalten und Erleben zeigen lassen, nicht nur in dem Brandstiftungsverhalten. Als forensisch-psychiatrische Konsequenz wird im affektregulatorischen Modell von Barnett (2005) eine ausschließlich am Schweregrad der affektiven Auslenkung orientierte, nosologisch neutrale Schuldfähigkeitsbeurteilung im Sinne des psychopathologischen Referenzsystemes (Saß 1985) vorgeschlagen. Dagegen wird die Orientierung an der Pyromaniekonzeption der operationalisierten Klassifikationssysteme wegen ihrer Herkunft aus konzeptionell wenig tragfähigen Modellen der Triebstörung beziehungsweise der instinktiven Monomanie nicht für fruchtbar gehalten.
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2.2.1
Juristische Grundlagen zur Sexualdelinquenz D. Dölling, C. Laue
2.2.1.1 Allgemeines Der 13. Abschnitt des StGB (§§ 174–184 f) ist mit „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überschrieben. Diese Überschrift weist auf das Rechtsgut der Tatbestände dieses Abschnitts hin. Sie schützen vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet: Dem potenziellen Opfer sollen die physischen und psychischen Bedingungen erhalten bleiben, selbst zu entscheiden, ob es von einer Person in ein sexualbezogenes Geschehen involviert werden will oder nicht (Laubenthal 2000, S. 7). Darüber hinaus schützen manche Tatbestände auch die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie soll – je nach Altersstufe des Opfers – entweder von jeglichem Sexualkontakt mit Älteren frei gehalten werden oder von Sexualkontakten, die unter Ausnutzung eines Obhuts- oder Abhängigkeitsverhältnisses erfolgen. Das zentrale Tatbestandsmerkmal bei den meisten Delikten des 13. Abschnitts ist die sexuelle Handlung. Darunter fällt jede menschliche Hand-
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Stattin H, Magnusson D (1995) Onset of official delinquency: its co-occurrence in time with educational, behavioural, and interpersonal problems. Br J Criminol 35:417–449 Steadman HJ, Mulvey EP, Robbins PC, Appelbaum PS, Grisso T, Roth LH, Silver E (1998) Violence by people discharged from acute psychiatric inpatient facilities and by others in the same neighbourhood. Arch Gen Psych 33:393–401 Steinert T, Bergk J (2008) Aggressives und gewalttätiges Verhalten: Diagnostik, Prävention und Behandlung. Nervenarzt, S 79:359–370 Summers DH, Winberg S (2006) Interactions between the neural regulation of stress and aggression. J Exp Biol 209:4581-4589 Susman EJ, Ponirakis A (1997) Hormones-context interactions and antisocial behavior in youth. In: Reine A, Brennan PA, Farrington P, Mednick SA (eds) Biosocial bases of violence. Plenum Press, New York, pp 251–269 Swanson JW, Swartz MS, Dorn RA van, Elbogen EB, Wagner HR, Rosenheck RH, Stroup T S, McEvoy JB, Lieberman JA, (2006) A national study of violent behavior in persons with schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 63:490–499 Tarter RE, Dunn MG, Mezzich AC, Vayukov M, Kiriscy L, Kirrilova G (2002) Origins and consequences of child neglect in substance abuse families. Clin Psychol Rev 22:1063– 1090 Venzlaff U (1993) Über zweiphasig ablaufende Affekttaten. In: Saß H (Hrsg) Affektdelikte. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 147–162 Wallace C, Mullen PE, Burgess P (2004) Criminal offending in schizophrenia over a 25-year period marked by deinstitutionalization and increasing prevalence of co-morbid substance use disorders. Am J Psychiatry 161:716–727 Weber J (1987) Motivationsvielfalt beim Filizid. MschrKrim 72:169–175 Woodworth M, Porter S (2002) In cold blood: characteristics of criminal homicides as a function of psychopathy. J Abno Psych 111:436–445
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Juristische Grundlagen zur Sexualdelinquenz D. Dölling, C. Laue
2.2.1.1 Allgemeines Der 13. Abschnitt des StGB (§§ 174–184 f) ist mit „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überschrieben. Diese Überschrift weist auf das Rechtsgut der Tatbestände dieses Abschnitts hin. Sie schützen vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet: Dem potenziellen Opfer sollen die physischen und psychischen Bedingungen erhalten bleiben, selbst zu entscheiden, ob es von einer Person in ein sexualbezogenes Geschehen involviert werden will oder nicht (Laubenthal 2000, S. 7). Darüber hinaus schützen manche Tatbestände auch die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie soll – je nach Altersstufe des Opfers – entweder von jeglichem Sexualkontakt mit Älteren frei gehalten werden oder von Sexualkontakten, die unter Ausnutzung eines Obhuts- oder Abhängigkeitsverhältnisses erfolgen. Das zentrale Tatbestandsmerkmal bei den meisten Delikten des 13. Abschnitts ist die sexuelle Handlung. Darunter fällt jede menschliche Hand-
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lung, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder ihrem konkreten Kontext für das allgemeine Verständnis eine Beziehung zum Geschlechtlichen aufweist, d. h. objektiv sexualbezogen erscheint (Laubenthal 2000, S. 19 ff.; Gössel 2005, S. 13 ff.). Unter die sexuellen Handlungen fallen nur Handlungen am Körper oder des Körpers, bloße Reden reichen nicht aus. Bei Handlungen mit mehrdeutigem äußeren Erscheinungsbild, die für sich betrachtet nicht ohne weiteres einen sexuellen Bezug aufweisen, stellt die Rechtsprechung auf das Gesamturteil eines Beobachters ab, der alle Umstände des Einzelfalls kennt (BGH NStZ 2002, 431). Zu diesen ambivalenten Handlungen zählen z. B. körperliche Züchtigungen oder ärztliche Untersuchungen, die zur sexuellen Erregung vorgenommen werden. Nach § 184 f StGB sind sexuelle Handlungen nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind.
2.2.1.2 Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung § 177 StGB (sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) bildet den zentralen Tatbestand zum Schutz der sexuellen Freiheit. Strafbar ist nach dem Grundtatbestand des Absatzes 1, wer eine andere Person mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen. Die Strafdrohung beträgt Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Die Gewalt muss ein Mittel sein, um den tatsächlichen oder erwarteten Widerstand gegen die sexuelle Handlung zu brechen („finale Verknüpfung“). Eine Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben liegt vor, wenn der Täter eine von seinem Einfluss abhängige Situation ankündigt, bei der die nahe liegende Möglichkeit einer Körperverletzung oder des Todes besteht. Bei der Drohung mit einer Leibesgefahr wird die Ankündigung von Verletzungen von einiger Erheblichkeit verlangt (BGH StV 2001, 679). Die Ausnutzung einer schutzlosen Lage ist gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maß verringert sind, dass es dem ungehemmten Einfluss des Täters preisgegeben ist und deshalb von Widerstand absieht (BGHSt 50, 359). Wie das Wort „an“ deutlich macht, werden nur (auch gleichgeschlechtliche) sexuelle Handlungen mit körperlicher Berührung tatbestandlich erfasst. Bei anderen sexuellen Handlungen, so Handlungen des Opfers an sich selbst oder sexuellen Handlungen ohne körperliche Berührung, kommt lediglich Nötigung gemäß § 240 StGB in Betracht (Laue 2008, § 177 Rn 12). Einen besonders schweren Fall bildet nach § 177 Abs. 2 StGB in der Regel die Vergewaltigung, die vorliegt, wenn der Täter entweder mit dem Opfer den Beischlaf, d. h. den heterosexuellen Geschlechtsverkehr, vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Eine besondere Erniedrigung ist gegeben, wenn das Opfer in gravierender, über die
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Verwirklichung des Grundtatbestandes hinausgehender Weise zum bloßen Objekt sexueller Willkür des Täters herabgewürdigt wird (Fischer 2008, § 177 Rn 67 a). Zu den sexuellen Handlungen, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, gehört vor allem die hetero- oder homosexuelle orale und anale Penetration. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel auch dann vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich, d. h. als Mittäter, begangen wird. Bei allen besonders schweren Fällen ist Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren angedroht. Qualifiziert und damit nicht nur regelmäßig, sondern stets mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu bestrafen, ist die sexuelle Nötigung nach § 177 Abs. 3 StGB, wenn der Täter bei der Tat eine Waffe, ein gefährliches Werkzeug oder sonst ein Mittel zur Überwindung des Widerstandes bei sich führt. Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist gemäß Absatz 4 zu erkennen, wenn der Täter bei der Tat eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug verwendet oder das Opfer schwer misshandelt beziehungsweise in Todesgefahr bringt. Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, ist die Strafe nach § 178 StGB (Sexuelle Nötigung mit Todesfolge) Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe. Minder schwere Fälle, bei denen die Strafrahmen nach § 177 Abs. 5 StGB niedriger liegen, setzen voraus, dass die Tat in ihrem Schuldgehalt wesentlich vom Regeltatbild nach unten abweicht (Fischer 2008, § 177 Rn 89). Von der Rechtsprechung wird auch das Opferverhalten berücksichtigt, etwa das Mitgehen in die Wohnung des Täters (s. BGH StV 2006, 16). Täter und Opfer der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung kann jede männliche und weibliche (auf Täterseite: strafmündige) Person sein. Daneben gibt es eine Gruppe von Tatbeständen, durch die jeweils ein bestimmter Personenkreis gegen Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung besonders geschützt wird. Dazu gehört § 179 StGB (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen). Opfer können nur Personen sein, die entweder wegen einer geistigen oder seelischen Erkrankung oder Behinderung oder wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder körperlich widerstandsunfähig sind. Der Täter muss diese Widerstandunfähigkeit ausnutzen und sexuelle Handlungen am Opfer vornehmen oder an sich vornehmen lassen oder das Opfer dazu bestimmen, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen. Die Strafdrohung beträgt Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter den Beischlaf vollzieht oder Handlungen vornimmt beziehungsweise vom Opfer vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, oder wenn die Tat gemeinschaftlich begangen wird beziehungsweise wenn das Opfer durch die Tat in seiner Gesundheit oder der körperlichen oder seelischen Entwicklung schwer gefährdet wird. Findet das Opfer durch die Tathandlung den Tod, lautet die Strafdrohung wie bei der sexuellen Nötigung mit Todesfolge.
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Besonders geschützt gegen Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung sind auch Personen, die als Gefangene oder aufgrund behördlicher Anordnung in einer Anstalt untergebracht sind und daher in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Anstaltspersonal stehen. Ebenso geschützt sind Personen, die in einer Einrichtung für kranke oder hilfsbedürftige Menschen aufgenommen sind (§ 174 a StGB). Bei diesem Tatbestand ist der Täterkreis eingeschränkt. Täter kann nur sein, wem das Opfer im Rahmen des Anstalts- oder Einrichtungsverhältnisses zur besonderen Beaufsichtigung oder Betreuung anvertraut ist. Der Täter muss seine Stellung innerhalb des Anstaltsverhältnisses oder die Krankheit beziehungsweise Hilfsbedürftigkeit des Opfers zur Begehung der Tat ausnutzen. Der Strafrahmen beträgt jeweils Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Amtsträger, die an Strafverfahren oder Verfahren zur Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mitwirken und die besondere Abhängigkeit desjenigen, gegen den das Verfahren gerichtet ist, zur Vornahme sexueller Handlungen ausnutzen, werden nach § 174 b StGB bestraft. Besonders geschützt sind nach § 174 c StGB außerdem Personen, die wegen einer Krankheit oder Behinderung in einem Beratungs-, Behandlungsoder Betreuungsverhältnis stehen. Der Therapeut oder Berater, der unter Ausnutzung eines solchen Verhältnisses sexuelle Handlungen an der ihm anvertrauten Person vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt, ist mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen. Das Gleiche gilt für den Missbrauch eines psychotherapeutischen Behandlungsverhältnisses.
2.2.1.3 Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen Der zentrale Tatbestand zum Schutz der Gesamtentwicklung (BGH NJW 2000, 3726) und speziell der sexuellen Entwicklung von Kindern ist § 176 StGB (sexueller Missbrauch von Kindern). Kinder sind alle Personen vor Vollendung des 14. Lebensjahres. Der Eintritt eines Schadens an den Schutzgütern muss im Einzelfall nicht nachgewiesen werden; es handelt sich beim sexuellen Missbrauch von Kindern um ein abstraktes Gefährdungsdelikt (Dölling u. Laue 2005, S. 892). Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einem Kind vornimmt oder an sich von einem Kind vornehmen lässt beziehungsweise es dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von dem Dritten an sich vornehmen lässt. In besonders schweren Fällen beträgt die Strafdrohung Freiheitsstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren. Eine geringere Tatschwere, die sich in der herabgesetzten Strafdrohung von Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren ausdrückt, sieht der Gesetzgeber gemäß § 176 Abs. 4 bei den folgenden Tathandlungen: z Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind, wobei nach der Rechtsprechung die Wahrnehmung durch das Kind ein entscheidendes Motiv
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für den Täter darstellen muss (BGH StV 2005, 133). Das Kind muss die Aktivität des Täters (oder eines Dritten) zwar sinnlich wahrnehmen, allerdings den sexuellen Bezug des Geschehens nicht begreifen (Laubenthal 2000, S. 107 f.). Bestimmen eines Kindes, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen. Dabei ist eine räumliche Nähe zwischen Bestimmendem und Kind nicht vorausgesetzt. Eine (optische oder akustische) Wahrnehmung der sexuellen Handlungen des Kindes durch den Täter ist nicht erforderlich; es genügt die Kontaktaufnahme des Täters mit dem Opfer per Telefon (Lackner u. Kühl 2007, § 176 Rn 2, 4). Einwirken durch Darstellungen auf ein Kind, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen, die es an oder vor dem Täter oder einem Dritten vornehmen oder vom Täter oder einem Dritten an sich vornehmen lassen soll. Zu den Darstellungen gehören Schriften, Ton- und Bildträger, Abbildungen und Datenspeicher, sodass auch Einträge in Internetchatrooms erfasst sind, mit denen der Täter Kontakt zu Kindern herstellen will, um sich mit ihnen zu verabreden. Einwirken auf ein Kind durch Vorzeigen pornografischer Darstellungen – das sind Abbildungen und Filme –, durch Abspielen pornografischer Tonträger oder durch entsprechende Reden. Auch hier ist keine körperliche Nähe vorausgesetzt, sodass telefonische Kontaktaufnahme ausreicht (BGHSt 29, 29). Das Anbieten eines Kindes zu einem sexuellen Missbrauch und das Verabreden mit einem anderen zu einer solchen Tat (§ 176 Abs. 5 StGB).
Der Vorsatz bei einem sexuellen Missbrauch von Kindern muss auch die Kenntnis des Schutzalters erfassen. Dabei genügt es, wenn dem Täter das Alter seines Opfers gleichgültig ist und er damit rechnet, dass es noch nicht 14 Jahre alt ist (BGH NStZ-RR 2004, 105). Zu einem Verbrechenstatbestand – § 176 a StGB (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern) – mit einer Strafdrohung von Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird der sexuelle Missbrauch, wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre bereits wegen einer solchen Tat rechtskräftig verurteilt wurde. Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren ist zu verhängen, wenn der Täter an dem Kind den Beischlaf vollzieht oder entsprechende Handlungen begeht, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird oder wenn das Kind in seiner Gesundheit beziehungsweise seiner körperlichen oder geistigen Entwicklung schwer gefährdet wird. Dieselbe Strafdrohung besteht, wenn der Täter den sexuellen Missbrauch des Kindes zur Herstellung von Pornografie begeht, die verbreitet werden soll. Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu verhängen, wenn das Opfer bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder in die Gefahr des Todes gebracht wird. Verursacht der Täter wenigstens leichtfertig den Tod des Kindes, ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe (§ 176 b StGB).
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Jugendliche (und Kinder) bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres werden durch § 182 StGB (sexueller Missbrauch von Jugendlichen) besonders geschützt. Bestraft wird derjenige, der sexuelle Handlungen an dem Jugendlichen vornimmt oder von diesem an sich vornehmen lässt, wenn der Täter ihm dafür ein Entgelt, d. h. einen materiellen Vermögensvorteil, zuwendet oder verspricht oder eine Zwangslage des Jugendlichen ausnutzt. Eine Zwangslage ist eine ernste persönliche oder wirtschaftliche Bedrängnis, die aber nicht Existenz bedrohend und keine Notlage sein muss. Dies kann bei drogenabhängigen oder von zu Hause fortgelaufenen sowie obdachlosen Jugendlichen der Fall sein. Gleichgültig ist, ob die Zwangslage vom Täter geschaffen oder lediglich vorgefunden wurde und ob sie für das Opfer vermeidbar war (Lenckner et al. 2006, § 182 Rn 5). Unter der gleichen Strafdrohung – Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe – steht das Ausnutzen einer Zwangslage des Jugendlichen, um ihn dazu zu bestimmen, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen. Der Täter muss in allen Fällen über 18 Jahre alt sein. Nach dem Gesetzeswortlaut macht sich nur strafbar, wer den Jugendlichen zur Vornahme sexueller Handlungen missbraucht. Da der Gesetzgeber davon ausgeht, dass bei Jugendlichen unter 16 Jahren die Entwicklung der sexuellen Selbstbestimmung noch nicht abgeschlossen sein muss (BT-Drs. 12/4584, S. 7, 8), liegt im Ausnutzen einer Zwangslage oder im Handeln gegen Entgelt schon per se ein Missbrauch, so dass diesem Tatbestandsmerkmal kaum eigenständige Bedeutung zukommt; bei „echten Liebesbeziehungen“ fehlt es bereits am Ausnutzen einer Zwangslage (Lenckner et al. 2006, § 182 Rn 5, 7). Ist der Täter über 21 Jahre alt, so macht er sich strafbar, wenn er den Jugendlichen dadurch missbraucht, dass er die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt und sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt oder den Jugendlichen dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an einem Dritten vorzunehmen oder an sich von dem Dritten vornehmen zu lassen. Ausgenutzt werden muss die mangelnde Fähigkeit des Jugendlichen, aufgrund seiner sittlichen und geistigen Entwicklung Bedeutung und Tragweite sexueller Handlungen zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten (Laubenthal 2000, S. 154). Besonders geschützt werden Jugendliche, die in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zu einer Autoritätsperson stehen. § 174 StGB (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) stellt sexuelle Übergriffe dieser Autoritätspersonen gesondert unter Strafe. Strafbar macht sich nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wer sexuelle Handlungen an einem Jugendlichen, der das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, vornimmt oder von diesem an sich vornehmen lässt, wenn der Jugendliche dem Täter zur Erziehung, Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Dabei ist nicht entscheidend, auf welche Weise die Erzieher, Ausbilder oder Betreuer bestellt worden sind (BGHSt 21, 196, 201 f.). Dies kann geschehen durch Gesetz, Gerichtsbeschluss, Verwaltungsakt, Vertrag oder berufliche Stellung, aber auch stillschweigend und durch tatsächliche Übernahme und auch durch den Minder-
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jährigen selbst (s. BGHSt 41, 137). Nicht maßgeblich ist auch, ob der Minderjährige dem Täter für längere oder kürzere Zeit anvertraut worden ist (BGHSt 21, 196, 201 f.). Entscheidend ist das tatsächliche Vorliegen eines entsprechenden Verantwortungsverhältnisses. Dies ist nach der gesamten tatsächlichen Gestaltung des Einzelfalls zu beurteilen (BGHSt 19, 163). Zur Erziehung anvertraut sind die Jugendlichen vor allem den Personensorgeberechtigten (BGH NStZ 1989, 21), also insbesondere beiden Eltern oder einem Elternteil, einem Pfleger oder Vormund (s. Laubenthal 2000, S. 120). Auf nicht personensorgeberechtigte Personen kann die Ausübung der Personensorge ausdrücklich oder stillschweigend übertragen werden (BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 2). Allerdings begründet die ständige häusliche Gemeinschaft zwischen Stiefvater und Stiefkind für sich genommen ebenso wenig das Vorliegen eines Betreuungsverhältnisses (BGH NStZ 1989, 21) wie die Übernahme einer reinen Aufsichtstätigkeit (BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 6). Entscheidend ist, ob der Stiefelternteil zur Tatzeit die Stellung eines Familienmitglieds hat und dem Stiefkind nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse so übergeordnet ist, dass er die Lebensführung des Stiefkindes verantwortlich überwacht und leitet, oder ob ihn zumindest das Stiefkind als Vertrauensperson anerkennt (BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 3). Ein Lehrer ist Erzieher für die von ihm unterrichteten Schüler, außerhalb der Unterrichtserteilung aber nur während der Aufsicht in der Schule sowie bei besonderen Schulveranstaltungen wie Ausflügen oder Schulfeiern (BGHSt 19, 163, 166). Ausbildung ist die Vermittlung von fachlichen Fertigkeiten und Kenntnissen zu einem bestimmten Ausbildungsziel und der Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung (Fischer 2008, § 174 Rn 7). Ausbildung ist mehr als die bloße Anleitung zu schlichten Verrichtungen oder die Einweisung in einen neuen Aufgabenbereich, sondern verlangt auch, dass dem Täter die Pflicht zu einer gewissen Obhut obliegt (BGHSt 21, 196, 198, 202). Anvertrautsein zur Betreuung in der Lebensführung setzt eine besondere Verantwortlichkeit des Erwachsenen für das körperliche und psychische Wohl des Minderjährigen voraus (Fischer 2008, § 174 Rn 8). In diesem Sinne liegt kein Betreuungsverhältnis vor bei einem Pfarrer gegenüber minderjährigen Gemeindemitgliedern (BGHSt 33, 340). Das Betreuungsverhältnis muss auf eine gewisse Dauer angelegt sein (Laubenthal 2000, S. 123), sodass bei einmaligen oder kurzzeitigen Betreuungsverhältnissen, wie z. B. beim Babysitter, kein Obhutsverhältnis vorliegt. Dagegen ist bei Bestehen einer spezifischen Abhängigkeit des Minderjährigen und einem Über- und Unterordnungsverhältnis (BGHSt 41, 137, 139) ein Betreuungsverhältnis zu bejahen, so etwa bei Reisebegleitern oder Betreuern bei längeren Ferienaufenthalten oder Zeltlagern. Nach § 174 Abs. 4 StGB ist in den soeben genannten Fällen ein Absehen von Strafe möglich, wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist. Dies kommt insbesondere dann in Frage, wenn die sexuellen Handlungen zwischen Täter und Schutzbefohlenem aus einem echten Liebesverhältnis resultieren oder bei Verführung
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durch einen sexuell erfahrenen Minderjährigen (Lackner u. Kühl 2007, § 174 Rn 16). Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB vor denselben sexuellen Handlungen im Rahmen eines der oben genannten Obhutsverhältnisse (Erziehung, Ausbildung, Betreuung) und darüber hinaus bei Unterordnung unter den Täter im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses geschützt, wenn der Täter die damit verbundene Abhängigkeit zur Tatbegehung ausnutzt. Im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, wer für einen anderen (freiwillig oder unfreiwillig) Dienste zu verrichten hat und bei deren Ausführung einem Vorgesetzten unterstellt ist (Lackner u. Kühl 2007, § 174 Rn 8). Täter kann nur der rechtliche oder faktische Vorgesetzte des Minderjährigen sein; die Befugnis zu Einzelweisungen aus arbeitstechnischen Gründen reicht nicht aus. In Frage kommen damit unter anderem leitende Angestellte, Meister, Gesellen, Vorarbeiter und Einrichter am Fließband. Sexuelle Handlungen sind nach Nr. 2 nur dann strafbar, wenn sie unter Missbrauch der Abhängigkeit des Minderjährigen vorgenommen werden. Dazu muss der Täter seine Macht gegenüber dem Schutzbefohlenen erkennen und die auf ihr beruhende Abhängigkeit zu sexuellen Handlungen ausnutzen (BGHSt 28, 365, 367). Strafbar macht sich nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch, wer sexuelle Handlungen an seinem noch nicht 18 Jahre alten leiblichen oder angenommenen Kind vornimmt oder von diesem an sich vornehmen lässt. Die Strafdrohung bei § 174 Abs. 1 StGB ist Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Eine geringere Strafdrohung von Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe gilt gemäß § 174 Abs. 2 StGB für denjenigen, der unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt oder den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, dass dieser sexuelle Handlungen vor dem Täter vornimmt. Jugendliche werden auch durch § 180 StGB (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger) besonders geschützt. Rechtsgut ist die ungestörte Entwicklung des Jugendlichen, vor allem auf sexuellem Gebiet (Lackner u. Kühl 2007, § 180 Rn 1a), so dass sich die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung bilden kann (Fischer 2008, § 180 Rn 2). Nach Absatz 1 macht sich strafbar, wer sexuellen Handlungen einer Person vor Vollendung des 16. Lebensjahres an oder vor einem Dritten oder eines Dritten an einer solchen jugendlichen Person durch bestimmte Handlungen Vorschub leistet. Vorschubleisten ist die Schaffung günstigerer Bedingungen für eine sexuelle Handlung (Lackner u. Kühl 2007, § 180 Rn 4). Dies kann geschehen durch Vermittlung oder durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit. Bei der Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit gilt das Erzieherprivileg: Danach macht sich der Personensorgeberechtigte nicht strafbar, es sei denn er verletzt dadurch gröblich seine Erziehungspflicht. Die Strafdrohung lautet Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Wird eine Person vor Vollendung des 18. Lebensjahres durch den Täter bestimmt, die genannten sexuellen Handlungen gegen Entgelt vorzuneh-
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men oder vermittelt der Täter dies, so droht ihm gemäß § 180 Abs. 2 StGB Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Die gleiche Strafe droht nach § 180 Abs. 3 StGB demjenigen, der eine Person unter 18 Jahren, die ihm zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Missbrauch der damit verbundenen Abhängigkeit dazu bestimmt, sexuelle Handlungen an oder vor einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen.
2.2.1.4 Delikte im Zusammenhang mit Prostitution Mit den § 180 a StGB (Ausbeutung von Prostitution) und § 181 a StGB (Zuhälterei) werden Prostituierte geschützt. Rechtsgut des § 180 a StGB ist die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung von Prostituierten; deren persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit wird nur insoweit geschützt, als die Abhängigkeit dazu instrumentalisiert werden kann, Prostituierte gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen zu veranlassen (Lackner u. Kühl 2007, Vor § 174 Rn 4). Prostitution ist die auf eine gewisse Dauer angelegte Bereitschaft, gegen Entgelt hetero- oder homosexuelle Handlungen an oder vor wechselnden Partnern vorzunehmen beziehungsweise von diesen an sich vornehmen zu lassen (BGH NStZ 2000, 86). Die entgeltliche Vornahme sexueller Handlungen vor einem unbestimmten Kreis von Personen („Liveshow“ in einem Nachtclub) fällt nicht darunter (Fischer 2008, § 180 a Rn 3). Strafbar macht sich nach § 180 a Abs. 1 StGB, wer gewerbsmäßig einen Prostitutionsbetrieb unterhält oder leitet und darin Personen, die der Prostitution nachgehen, in persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit hält. Abhängigkeit bedeutet, dass die Prostituierten aufgrund der von dem Betriebsinhaber oder -leiter beziehungsweise seinen Mitarbeitern geschaffenen Umstände nicht mehr frei über die Vornahme sexueller Handlungen entscheiden können (Laue 2008, § 180 a Rn 4). Persönliche Abhängigkeit liegt unter anderem bei der Abnahme der Ausweispapiere vor (BGH NStZ 1994, 179) oder bei einer Regelung, nach der die Prostituierten den Betrieb nur in Begleitung von Überwachungspersonen verlassen dürfen (BGH NStZ 2000, 657, 660). Wirtschaftliche Abhängigkeit ist bereits gegeben, wenn die Prostituierten über das für ihre geleisteten Handlungen entrichtete Entgelt nicht verfügen können und auf Zuwendungen des Betriebsinhabers oder -leiters angewiesen sind (Laubenthal 2000, S. 179). Die Strafdrohung ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Nach § 180 a Abs. 2 Nr. 1 StGB wird ebenso bestraft, wer einer Person unter 18 Jahren gewerbsmäßig Unterkunft oder Aufenthalt zur Ausübung der Prostitution gewährt. Diese Vorschrift dient auch dem Jugendschutz. Der gleichen Strafdrohung unterliegt, wer eine andere Person, der er zur Ausübung der Prostitution Wohnung gewährt, zur Prostitution anhält oder im Hinblick auf sie ausbeutet (Abs. 2 Nr. 2). Ausbeuten verlangt ein vom Täter aufrechterhaltenes Abhängigkeitsverhältnis, durch das dieser die Prostitutionsausübung als Erwerbsquelle planmäßig und eigensüchtig ausnutzt und
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dadurch die wirtschaftliche Lage der Prostituierten spürbar verschlechtert (BGH NStZ 1999, 349). Durch § 181 a StGB wird die Freiheit der Selbstbestimmung von Prostituierten geschützt (BGHSt 48, 314, 321), die davor bewahrt werden sollen, als Ausbeutungsobjekt von Zuhältern in der Prostitution verharren zu müssen. Nach Abs. 1 Nr. 1 macht sich strafbar, wer eine andere Person, die der Prostitution nachgeht, ausbeutet (ausbeuterische Zuhälterei). Nach Nr. 2 ist strafbar, wer eines Vermögensvorteils wegen eine andere Person bei der Ausübung der Prostitution überwacht, die Art und Weise der Prostitutionsausübung bestimmt oder Maßnahmen trifft, die die Prostituierten davon abhalten sollen, die Prostitution aufzugeben (dirigierende Zuhälterei). Jeweils müssen Beziehungen zum Opfer unterhalten werden, die über den Einzelfall hinausgehen. Bei den Begehungsformen der dirigierenden Zuhälterei wird ein bestimmender Einfluss des Täters auf die Prostitutionsausübung vorausgesetzt, der geeignet ist, das Opfer in Abhängigkeit vom Täter zu halten, seine Selbstbestimmung zu beeinträchtigen, es zu nachhaltiger Prostitution anzuhalten oder seine Entscheidungsfreiheit in sonstiger Weise nachhaltig zu beeinträchtigen (BGHSt 48, 314, 317). Aufgrund der durch das Prostitutionsgesetz erfolgten rechtlichen Anerkennung des Arbeitsverhältnisses von Prostituierten ist eine einschränkende Auslegung notwendig, die berücksichtigt, dass Arbeitgebern Überwachungs- und Weisungsrechte zustehen (Fischer 2008, § 181 a Rn 13 a). Die Strafdrohung ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird gemäß § 181 a Abs. 2 StGB bestraft, wer die persönliche oder wirtschaftliche Unabhängigkeit einer Person dadurch beeinträchtigt, dass er gewerbsmäßig die Prostitutionsausübung dieser Person durch Vermittlung sexueller Kontakte fördert und dabei über den Einzelfall hinausgehende Beziehungen zu dieser Person unterhält. Mit den § 184 d StGB (Ausübung der verbotenen Prostitution) und § 184 e StGB (Jugendgefährdende Prostitution) wird die Prostitutionsausübung reglementiert. Nach § 184 d StGB stehen beharrliche Verstöße gegen Sperrbezirksverordnungen unter Strafe (Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen). Nach § 184 e StGB macht sich strafbar, wer der Prostitution in der Nähe einer Schule oder einer anderen Örtlichkeit, die zum Besuch von Jugendlichen bestimmt ist, oder in einem Haus, in dem Jugendliche wohnen, in einer Weise nachgeht, die das sittliche Wohl der Jugendlichen zu gefährden geeignet ist.
2.2.1.5 Pornografiedelikte In den §§ 184 bis 184 c StGB ist das Verbreiten pornografischer Schriften unter bestimmten Vorraussetzungen unter Strafe gestellt. Zu den Schriften im Sinne des StGB gehören nach § 11 Abs. 3 StGB auch Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen. In § 184 c StGB ist auch die Verbreitung durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste erfasst.
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Der Begriff der Pornografie ist umstritten. Darunter fallen Darstellungen, die zum Ausdruck bringen, dass sie ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Betrachter abzielen und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreiten (Lackner u. Kühl 2007, § 184 Rn 2). Vorausgesetzt wird überwiegend (Fischer 2008, § 184 Rn 7) eine vergröbernde Darstellung, die ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen emotional-individualisierte Bezüge weitgehend ausklammert und den Menschen zum bloßen auswechselbaren Objekt sexueller Betätigung macht. § 184 StGB (Verbreitung pornografischer Schriften) enthält kein umfassendes Verbot der Pornografie, sondern schützt in seinen verschiedenen Tatbeständen – zum Teil überschneidend – zwei unterschiedliche Rechtsgüter: In Abs. 1 Nr. 1 bis 5 und 7 steht der Jugendschutz im Vordergrund (Laue 2008, § 184 Rn 2). Danach stehen verschiedene Verhaltensweisen unter Strafe, durch die Jugendlichen pornografische Schriften überlassen oder zugänglich gemacht werden. Die Tatbestände sind als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet, so dass es auf den Eintritt einer konkreten Gefährdung der Entwicklung des Jugendlichen nicht ankommt (Gössel 2005, S. 210). Abs. 1 Nr. 6, aber auch Nr. 3 bis 5 und 7 schützen den Einzelnen vor einer ungewollten Konfrontation mit Pornografie. Schließlich werden durch Abs. 1 Nr. 8 Vorbereitungshandlungen zu den Nr. 1 bis 7 unter Strafe gestellt (Lenckner et al. 2006, § 184 Rn 3), während Abs. 1 Nr. 9 verhindern soll, dass weitergehende Pornografieverbote anderer Staaten unterlaufen werden und es so zu Konflikten mit dem Ausland kommt. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Wegen Anbietens, Überlassens oder Zugänglichmachens gegenüber Jugendlichen macht sich der Sorgeberechtigte nicht strafbar, wenn er dabei seine Erziehungspflicht nicht gröblich verletzt (§ 184 Abs. 2 StGB). Nach den §§ 184 a und 184 b StGB steht das Verbreiten oder Zugänglichmachen von „harter“ Pornografie, das sind gewalt-, tier- oder kinderpornografische Darstellungen, unter verschärfter Strafe: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bzw. Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bei der Kinderpornografie. Bei der Kinderpornografie lautet die Strafe Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt und die Darstellungen ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergeben. Bestraft wird auch, wer es unternimmt, d. h. zumindest versucht, sich Kinderpornografie zu verschaffen, die ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt. Ebenso – mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe – wird bestraft, wer solche Pornografie besitzt. Beim Betrachten kinderpornografischer Bilder aus dem Internet ist umstritten, ob das Abspeichern von Bilddateien im Arbeitsspeicher oder Cachespeicher für die Besitzverschaffung ausreicht (vgl. Fischer 2008, § 184 b Rn 21). Ein Sichverschaffen liegt jedenfalls vor, wenn der Täter Daten auf der Festplatte speichert. Der Grund für diese Ausweitung der Strafbarkeit wird nicht nur
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
in dem sich im Besitz manifestierenden Nachfragebedürfnis, sondern unter anderem auch in dem Anreiz zu real verwirklichtem Kindesmissbrauch gesehen.
2.2.1.6 Sexualität in der Öffentlichkeit Nach § 183 StGB steht Exhibitionismus unter Strafe. Geschützt wird das Individualrechtsgut der psychischen und körperlichen Integrität vor ungewollten sexuellen Eindrücken (Lackner u. Kühl 2007, § 183 Rn 1). Ein darüber hinausgehendes Universalrechtsgut ist nicht geschützt (Fischer 2008, § 183 Rn 2). Täter kann nur ein Mann sein. Opfer können Frauen oder Männer sein. Tathandlung ist das Belästigen durch eine exhibitionistische Handlung, das ist eine Handlung, mit der ein Mann einer anderen Person ohne deren Einverständnis sein entblößtes Geschlechtsteil zeigt, um sich entweder allein dadurch oder zusätzlich durch Beobachten der Reaktion der anderen Person sexuell zu erregen, seine Erregung zu steigern oder sich zu befriedigen (BayObLG NJW 1999, 72). Die Handlung muss nicht in der Öffentlichkeit vorgenommen werden; allerdings muss der Täter nach herrschender Meinung den direkten Vorsatz haben, dass eine andere Person sie wahrnimmt, das bloße Rechnen mit dieser Möglichkeit reicht nicht aus (Laubenthal 2000, S. 160). Handlungen ohne spezifisch sexuelle Tendenz, etwa zur Demonstration der Nacktheit oder zur Provokation, fallen nicht unter den Tatbestand (Lackner u. Kühl 2007, § 183 Rn 2). Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Nach Absatz 2 ist Exhibitionismus ein Antragsdelikt, es sei denn, die Staatsanwaltschaft bejaht das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, insbesondere weil aus den Umständen erkennbar ist, dass der Täter in Zukunft ähnliche oder schwerere Straftaten begehen wird beziehungsweise dringend behandlungsbedürftig ist und die Verurteilung seine Behandlungsbereitschaft erhöhen wird (Lackner u. Kühl 2007, § 183 Rn 6). Nach § 183 a StGB (Erregung öffentlichen Ärgernisses) macht sich strafbar, wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wenn die Tat nicht nach § 183 StGB strafbar ist. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
Literatur Dölling, D, Laue C (2005) Juristische Aspekte des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Deutschland. In: Amann G, Wipplinger R (Hrsg) Sexueller Missbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. dgvt-Verlag, Tübingen, S 889–934 Fischer T (2008) Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. Beck, München Gössel KH (2005) Das neue Sexualstrafrecht. Eine systematische Darstellung für die Praxis. De Gruyter, Berlin Lackner K, Kühl K (2007) Strafgesetzbuch. Kommentar, 26. Aufl. Beck, München Laubenthal K (2000) Sexualstraftaten. Die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Springer, Berlin
2.2 Sexualdelinquenz
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Laue G (2008) Kommentierung der §§ 174 bis 184 f StGB. In: Dölling D, Duttge G, Rössner D (Hrsg) Gesamtes Strafrecht StGB/StPO/Nebengesetze Handkommentar. Nomos, BadenBaden, S 980–1041 Lenckner T, Perron W, Eisele J (2006) Kommentierung der §§ 174 bis 184 f StGB. In: Schönke A, Schröder H: Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl. Beck, München, S 1502– 1634
2.2.2 Kriminologische Grundlagen der Sexualdelinquenz A. Dessecker Ausmaß und Entwicklung der bekannt gewordenen Delinquenz werden üblicherweise anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik bestimmt (s. 2.2.2.1). Bei Delikten mit sexuellem Bezug ist zu erwarten, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil im Dunkelfeld bleibt (s. 2.2.2.2). Abschließend wird ein kurzer Blick auf Forschungsergebnisse zur Legalbewährung nach einer Verurteilung geworfen (s. 2.2.2.3). Die ausgewählten Themenbereiche, die in diesem Artikel behandelt werden können, schöpfen das Spektrum kriminologischer Erkenntnisse über Sexualdelikte nicht aus; ausführlichere Darstellungen finden sich in Handbüchern der Kriminologie (Brettel 2008; Eisenberg 2005, S. 675 ff.; Kaiser 1996, S. 758 ff.), aber auch in einer umfangreichen spezialisierten Literatur.
2.2.2.1
Ausmaß und Entwicklung der Sexualdelinquenz
2.2.2.1.1 Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik Die Polizeiliche Kriminalstatistik liefert deliktspezifische Daten aus der Sicht der Polizei, die von der Systematik des Strafgesetzbuchs ausgeht. Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung muss sich der Vorsatz auf sämtliche Merkmale des objektiven Tatbestands beziehen. Doch enthält der 13. Abschnitt im Besonderen Teil des StGB auch Tatbestände wie etwa die Ausbeutung von Prostituierten (§ 180 a StGB), bei denen ökonomische Kalküle in den Vordergrund treten werden. Und selbst bei klassischen Sexualdelikten wie der Vergewaltigung ist es nicht ausgemacht, dass sie von einer sexuellen Motivation getragen sind und nicht etwa von dem Wunsch nach Machtdemonstration und Erniedrigung des Opfers (Künzel 2003, S. 268 ff.; Nedopil 2007, S. 198 ff.). Im Berichtjahr 2007 entfallen auf die Delikte des 13. Abschnitts rund 56 000 Fälle. Hinzu kommen sexuell motivierte Handlungen, die andere Straftatbestände erfüllen und von der Polizei gesondert erfasst werden, insbesondere Beleidigungen mit sexuellem Hintergrund (Tabelle 2.2.1). Alle diese Taten zusammen genommen entsprechen 1% der polizeilich registrierten Kriminalität in diesem Jahr – ein kleiner Ausschnitt der von der Polizei registrierten Delikte. Allerdings gibt es weitere sexuell motivierte Delikte wie den Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB) und die Nötigung zu einer sexuellen Handlung (§ 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB), die in der
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Tabelle 2.2.1. Verteilung sexuell motivierter Kriminalität nach Straftatengruppen (Bundeskriminalamt 2008 b, S. 133 und Tabelle 01) z Vergewaltigung und sexuelle Nötigung z sonstige sexuelle Nötigung z sexueller Missbrauch unter Ausnutzung von Machtverhältnissen z sexueller Missbrauch von Kindern z sonstiger sexueller Missbrauch z sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit z Förderung der Prostitution z Pornografiedelikte z Menschenhandel z Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung z Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten z Beleidigung auf sexueller Grundlage z insgesamt
7 511 6 806 1 548
9,5% 8,6% 2,0%
12 772 2 191 8 126 604 15 953 707 56 281 18 21 694 78 700
16,2% 2,8% 10,3% 0,8% 20,3% 0,9% 71,5% < 0,1% 27,6% 100%
Polizeistatistik nicht gesondert ausgewiesen werden. Andererseits hat die neueste Gesetzgebung die Menschenhandelsdelikte seit Februar 2005 aus dem Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung herausgenommen und zu den Straftaten gegen die persönliche Freiheit umgruppiert (§§ 232–233 b StGB). Das häufigste sexuell motivierte Delikt nach der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die „Beleidigung auf sexueller Grundlage“. Übereinstimmend mit einer traditionellen Sicht der Beleidigung als „kleines Sexualdelikt“ (Arzt 2000, S. 265) dürfte die Polizei unter dieser Rubrik mutmaßliche sexuelle Belästigungen registrieren, die keinen anderen Tatbestand erfüllen. Die in der Tabelle als „sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit“ aufgeführten Taten sind dagegen nach polizeilicher Bewertung unter die Tatbestände der exhibitionistischen Handlungen (§ 183 StGB) oder der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a StGB) zu subsumieren. Nach der Häufigkeit erst an dritter Stelle folgt der sexuelle Missbrauch von Kindern, der eine erhebliche Bandbreite von exhibitionistischen Handlungen vor Kindern (§ 176 Abs. 4 S. 1 StGB) bis hin zu der Todesfolge als Erfolgsqualifikation (§ 176 b StGB) aufweist. Andere Formen sexuellen Missbrauchs werden deutlich weniger häufig angezeigt. Trotz der Entkriminalisierung im Bereich einfacher pornografischer Darstellungen sind Pornografiedelikte quantitativ immer bedeutsamer; ein erheblicher Anteil entfällt auf Besitz und Verschaffung von Kinderpornografie (§ 184 b Abs. 2 und 4 StGB). Nicht unbedeutend sind mit einem Anteil von 10% Vergewaltigungen (§ 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 StGB) und damit nach strafrechtlicher Bewertung vergleichbare sexuelle Nötigungen, während die „sonstigen“ sexuellen Nötigungen (§ 177 Abs. 1 und 5 StGB) etwas seltener registriert werden.
2.2 Sexualdelinquenz
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Die Aufklärungsquote, also der Anteil der Fälle, für die nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis eine mindestens namentlich bekannte oder auf frischer Tat ergriffene Person als tatverdächtig gilt (Kaiser 1996, S. 359), erreicht für die meisten Sexualdelikte ein hohes Niveau; beim sexuellen Missbrauch von Kindern liegt sie beispielsweise über 80%. Bei exhibitionistischen und ähnlichen Handlungen wird dagegen nur jeder zweite Fall aufgeklärt. Das dürfte damit zusammen hängen, dass es sich meist um flüchtige Begegnungen einander fremder Personen handelt. Die registrierten Tatverdächtigen sind weit überwiegend männlichen Geschlechts (Bundeskriminalamt 2008 b, S. 134). Der Frauenanteil liegt nur bei solchen Delikten an der 20%-Schwelle, bei denen wie beim Menschenhandel eine sexuelle Motivation eher unwahrscheinlich ist. Schließlich liefert die Polizeiliche Kriminalstatistik für die meisten Sexualdelikte Daten zu den mutmaßlichen Opfern (ebd., S. 136). Diese sind zum weit überwiegenden Teil weiblich; lediglich bei Missbrauchsdelikten sind zu mehr als 20% Jungen und junge Männer betroffen. Soweit das Gesetz nicht ohnehin Altersgrenzen vorgibt, sind Mädchen und junge Frauen bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil überproportional betroffen.
2.2.2.1.2 Entwicklung der Sexualdelinquenz Eine Darstellung der Entwicklung registrierter Sexualdelikte im Längsschnitt ist im Hinblick auf einige Gesetzesänderungen stärker interpretationsbedürftig als bei anderen Deliktgruppen. Abbildung 2.2.1 enthält eine Darstellung von Zeitreihen ausgewählter Tatbestände seit 1971; in diesem Jahr wurde das Erhebungsverfahren mit Einführung elektronischer Datenverarbeitung bundesweit vereinheitlicht. Insgesamt gehen die polizeilich registrierten Sexualdelikte in der Bundesrepublik zwischen 1971 (über 50 000 Fälle) und 1987 (rund 34 000 Fälle) deutlich zurück. Seither folgt ein ebenso deutlicher Anstieg, der sich mit der Einbeziehung der östlichen Bundesländer ab 1993 verstärkt und im Jahr 2004 die Marke von 57 000 Fällen überschreitet. Obwohl sich diese Gesamtzahl auf Sexualdelikte im Sinne der strafrechtlichen Systematik bezieht und insbesondere Beleidigungen ausklammert, gehen in sie vielfältige Delikte einschließlich solcher Taten ein, bei denen eine sexuelle Motivation eher fraglich erscheint. An die Stelle der „Sittlichkeit“ als Schutzgut ist seit 1974 die sexuelle Selbstbestimmung getreten. Die Strafbarkeitsgrenze wurde seitdem – etwa durch Entkriminalisierung homosexueller Handlungen – teilweise zurückgenommen, teilweise – wie bei der „Kinderpornografie“ – wieder hinausgeschoben. Die sexuellen Gewaltdelikte (§§ 177 Abs. 2 bis 4, 178 StGB) folgen weitgehend der allgemeinen Entwicklung der registrierten Sexualdelikte. Dabei wird das Niveau von 7000 Fällen erst seit 1998 überschritten. Die auf 100 000 Personen in der Bevölkerung bezogene Häufigkeitszahl beträgt 9,0 für 1971 und 10,7 im Jahr 2004. Der Anstieg seit Ende der 1990er Jahre kann in einem gewissen Ausmaß auf Gesetzesänderungen in den Jahren
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen 60000 50000 40000
erfasste Fälle
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30000
Sexualdelikte insgesamt sexueller Missbrauch von Kindern Öffentlichkeit Vergewaltigung und sexuelle Nötigung
20000 10000 0 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991
1994 1996 1998 2000 2002 2004
Abb. 2.2.1. Zeitreihen zu polizeilich registrierten Sexualdelikten 1971–2004 (Bundeskriminalamt 1987, S. 175 ff.; 2008 a, T01)
1997 und 1998 zurückgehen, die den Anwendungsbereich dieser Tatbestände erweitern auf Delikte gegen männliche Opfer, auf Taten innerhalb der Ehe und auf Delikte, bei denen ohne Gewalt oder Drohung eine schutzlose Lage des Opfers ausgenutzt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die Zunahme polizeilich registrierter sexueller Gewaltdelikte ein verändertes Anzeigeverhalten reflektiert. Der Ausbau des Schutzes vor Gewalt in der Familie war in den letzten Jahren mit zunehmender öffentlicher Beachtung solcher Delikte verbunden. Ähnliche Erwägungen gelten für den sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176–176 b StGB). Die Kurve dieser Taten zeigt im Zeitraum bis 1987 einen Rückgang (von 15 000 auf 10 000 Fälle) entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Sexualdelikte. Dagegen ist der Anstieg der Fallzahlen seit diesem Tiefpunkt nicht ungebrochen; vielmehr ist der Höchstwert von 1997 seither nicht mehr erreicht worden. Das Niveau für die Bundesrepublik im Jahr 2004 liegt mit einer Häufigkeitszahl von 18,5 Fällen pro 100 000 Einwohner unter demjenigen für Westdeutschland im Jahr 1971 (24,7). Die Neuregelung der einschlägigen Tatbestände im Jahr 1998 bezieht sich weniger auf die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auf die Erhöhung der Strafrahmen, worauf neue Qualifikationstatbestände und Regelbeispiele abzielen. Die öffentliche Aufmerksamkeit für Sexualdelikte gegen Kinder war jedoch bereits vorher stark ausgeprägt; darin liegt auch der Erfolg einer sozialen Bewegung (Schetsche 1996, S. 33 ff.). Der vermutlich durch das liberale Klima der Gesellschaft der 1970er Jahre beeinflusste Rückgang im Anzeigeverhalten wird dadurch zum Teil ausgeglichen. Atypisch ist der Verlauf der polizeilich registrierten exhibitionistischen Handlungen und sonstiger sexueller Handlungen in der Öffentlichkeit; dass hier der Tatbestand des § 183 StGB dominieren dürfte, erscheint plausibel. Diese Taten bleiben bis Mitte der 1980er Jahre durchgängig auf einem Ni-
2.2 Sexualdelinquenz
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veau über 10 000 Fällen, um danach etwas abzusinken. Der Rückgang im Hellfeld wird noch deutlicher, wenn man die Häufigkeitszahlen vergleicht: Sie liegen 1971 bei 18,9 Fällen pro 100 000 Personen der Wohnbevölkerung, 2004 bei 10,7 Fällen. Die Befragungsforschung liefert demgegenüber Belege dafür, dass solche Delikte im Dunkelfeld um ein Mehrfaches häufiger beobachtet werden als – die von der Polizei ähnlich häufig registrierte – sexuelle Gewalt. Da selten Anzeige erstattet wird, ist dieser Rückgang der registrierten sexuellen Belästigungen in der Öffentlichkeit möglicherweise auf eine geminderte Empfindlichkeit potenzieller Opfer zurückzuführen.
2.2.2.2 Sexualdelinquenz im Dunkelfeld Die für Deutschland vorliegenden überregionalen Opferbefragungen von Stichproben, die für die Wohnbevölkerung des ganzen Landes oder zumindest für mehrere Bundesländer repräsentativ sind (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 69), gestatten auch Aussagen über wenige Sexualdelikte. Hinzu kommen einige regional begrenzte Untersuchungen. Befragungsstudien lassen vor allem dort aussagekräftige Ergebnisse erwarten, wo es um Viktimisierungen in der Öffentlichkeit geht. Sexualität gilt traditionell als für diese Methode wenig geeigneter „Tabubereich“. Dies gilt um so mehr für Ereignisse im sozialen Nahraum, die zum größten Teil in einem „absoluten Dunkelfeld“ bleiben.
2.2.2.2.1 Befragungen der gesamten Bevölkerung Die im Frühjahr 1991 in der ehemaligen DDR durchgeführte Datenerhebung von Ewald et al. (1994, S. 145, 155) erfasste bei den weiblichen Befragten sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung. Die Opferrate für sexuelle Belästigung betrug mit 14,6% in den vergangenen fünf Jahren erwartungsgemäß ein Mehrfaches des Wertes für vollendete und versuchte sexuelle Gewalt (2%). Noch deutlicher überwogen die Belästigungsopfer im Zeitraum nach der Grenzöffnung im November 1989. Während sexuelle Gewaltdelikte überwiegend angezeigt wurden, galt dies nur für 13% der Belästigungsfälle. Bereits im Herbst 1990 wurden die Daten von Kury et al. (1992, S. 128 ff.) in den östlichen und westlichen Ländern erhoben. Gegenstand war neben anderen Delikten eine recht allgemein formulierte Frage nach sexueller Belästigung von Frauen, die ein breites Spektrum von „frechem Benehmen“ bis zur vollendeten Vergewaltigung abdeckte. Opfer einer sexuell motivierten Handlung in diesem Sinne waren nach dieser Studie innerhalb von fünf Jahren vor der Befragung 2,1% der weiblichen Befragten in Ostdeutschland und mit 3,9% fast doppelt so viele in Westdeutschland. Dabei überwogen Vorfälle, die von den Betroffenen als bloß „freches Benehmen“ eingestuft wurden und deren Strafbarkeit zweifelhaft bleibt, im Osten deutlich; im Westen entfiel auf sie mehr als ein Drittel der sexuell motivier-
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ten Delinquenz. Dementsprechend wurde nur jede dritte Viktimisierung bei der Polizei angezeigt. Wetzels et al. (1995, S. 52 ff.) führten ihre Befragung im Frühjahr 1992 durch. Im Hinblick auf sexuell motivierte Delinquenz erfasste diese Studie sowohl Vergewaltigung und sexuelle Nötigung als auch sexuelle Belästigung, und zwar bei beiden Geschlechtern. Für den Zeitraum von fünf Jahren vor der Befragung, also die Jahre 1987 bis 1991, betrugen die Opferraten der Befragten unter 60 Jahren für sexuelle Belästigungen (West: 7,9%, Ost: 4,3%) das sechs- bis siebenfache der entsprechenden Anteile der Befragten, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren (West: 1,4%, Ost: 0,6%). Anders als bei den Gewalttaten wurde wegen sexueller Belästigungen überwiegend keine Strafanzeige erstattet. Abgesehen vom Handtaschenraub waren diese Sexualdelikte die einzigen Delikte, bei denen Frauen häufiger von einer Viktimisierung berichteten. Männer waren vor allem von sexueller Gewalt nur in geringem Ausmaß betroffen. Die groß angelegten Bevölkerungsumfragen der frühen 1990er Jahre zeigen für sexuelle motivierte Delinquenz damit ein deutliches West-Ost-Gefälle, das sich – anders als bei sonstigen Delikten – auch nach Öffnung der innerdeutschen Grenze nicht einebnet. Doch ist nicht auszuschließen, dass diese Unterschiede zumindest teilweise auf den Grad öffentlicher Thematisierung von Sexualdelikten und dadurch beeinflusste Definitionsleistungen der Befragten zurückzuführen sind. Dass sexuelle Belästigungen in der Öffentlichkeit wesentlich häufiger vorkommen als sexuelle Gewalt, ist dagegen ohne weiteres plausibel. Soweit bundesweite Befragungsergebnisse aus der Zeit nach 1995 vorhanden sind, ergeben sich keine deutlichen Abweichungen, wenn man berücksichtigt, dass sie sich auf einen kürzeren Referenzzeitraum von einem Jahr beziehen. Mehrthemenumfragen eruierten im Jahr 1995 eine Opferrate von 0,6% für sexuelle Gewaltdelikte, 1997 eine Rate von 0,2% für sexuelle Gewaltdelikte, aber 1,5% für – möglicherweise nicht strafbare – sexuelle Belästigungen. Eine weitere Erhebung im Rahmen des SozialwissenschaftenBus III/1997 ermittelte mit identischen Frageformulierungen Opferraten von 0,3% für sexuelle Gewaltdelikte und 2,1% für sexuelle Belästigungen (Dölling et al. 1998, S. 70; Heinz u. Spieß 1998).
2.2.2.2.2 Befragungen junger Menschen Allgemeine Bevölkerungsbefragungen dürften vor allem im Hinblick auf solche Formen sexuell motivierter Delinquenz aussagekräftig sein, die in der Öffentlichkeit geschehen und nicht nur eine begrenzte Bevölkerungsgruppe betreffen. Ein Nachteil solcher Befragungen besteht darin, dass Erfahrungen solcher Gruppen, die möglicherweise besonders gefährdet sind, Opfer eines Delikts zu werden, kaum zur Geltung kommen, wenn sie bei der Stichprobenziehung nicht von vornherein überproportional berücksichtigt werden. Dieser Einwand gilt besonders für junge Menschen.
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Die Schülerbefragungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wurden seit 1998 mehrfach in Großstädten, neuerdings verstärkt aber auch in ländlichen Regionen durchgeführt. Schriftlich befragt wurden Jugendliche der neunten Jahrgangsstufen während zweier Schulstunden im Klassenverband. Die Opferraten für sexuelle Gewaltdelikte im Jahr 1999 lagen zwischen 3,3% in Hamburg und immerhin 1,7% im Landkreis Friesland. Diese Raten ergeben sich aufgrund einer Gewichtung unterschiedlicher Bildungsniveaus entsprechend der Grundgesamtheit, die unerwünschte Verzerrungen ausschalten soll. Während insgesamt 13% der Gewaltvorfälle bei der Polizei angezeigt wurden, lag die Anzeigehäufigkeit bei sexuell motivierten Delikten mit 7,9% besonders niedrig (Wilmers et al. 2002, S. 31 f.). Soweit Vergleiche über mehrere Befragungszeitpunkte möglich waren, zeigten sich zwischen 1997 in Hannover und Leipzig tendenzielle Rückgänge (ebd., S. 38). Längerfristige Vergleiche ermöglichen auch Delinquenzbefragungen bei Studierenden des ersten Semesters im Studiengang Rechtswissenschaft an der Universität Gießen. Während Viktimisierungserfahrungen durch Vergewaltigung langfristig rückläufig waren, nahmen die Anteile der Befragten, die Opfer obszöner Telefonanrufe geworden waren, mit der Zeit zu. So gaben 1980/81 rund 15% der befragten Frauen an, irgendwann einmal Opfer eines Vergewaltigungsversuchs geworden zu sein, weitere 5% berichteten sogar über eine vollendete Vergewaltigung. Demgegenüber fanden sich 1992/93 nur 2% Opfer einer versuchten und kein einziges einer vollendeten Vergewaltigung. Was obszöne Telefonanrufe betrifft, waren 1976/77 mehr als 10% der männlichen und rund ein Viertel der weiblichen Befragten betroffen. Während der Anteil der Männer sich über die Zeit nicht veränderte, wuchs er bei den Frauen auf die Hälfte im Jahr 1990/91 (Kreuzer et al. 1993, S. 183 ff.). Dieselbe Untersuchung ermöglicht Querschnittvergleiche zu selbst berichteter sexuell motivierter Delinquenz von Studienanfängerinnen und -anfängern aus Gießen, Jena und Potsdam. 3–5% der Befragten gaben an, irgendwann jemanden mit obszönen Telefonanrufen belästigt zu haben, wobei weder in regionaler Hinsicht noch bei der Geschlechterverteilung signifikante Unterschiede gemessen wurden. Eine sexuelle Nötigung wurde von über 1% der männlichen Befragten angegeben, jedoch nur von einer einzigen Studentin (ebd., S. 114 ff.).
2.2.2.3 Kriminalitätskarrieren und Legalbewährung Weitgehend unabhängig von der allgemeinen kriminologischen Karriereforschung (Boers 2006) wurden in den letzten Jahren einige Erkenntnisse über sexuell motivierte Delinquenz im biografischen Längsschnitt gesammelt. Die wohl umfangreichste neuere deutsche Untersuchung stammt von Elz (2001, 2002, 2004; Elz u. Fröhlich 2002; Nowara 2001). Diese Studie der Kriminologischen Zentralstelle e. V. (KrimZ) konzentrierte sich auf Beschreibung und Erklärung von Rückfälligkeit im Sinne erneuter kriminal-
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rechtlicher Sanktionen nach einer Verurteilung wegen einiger ausgewählter Tatbestände des Sexualstrafrechts. Im Wesentlichen wurden drei große Deliktgruppen betrachtet, nämlich sexueller Missbrauch (im wesentlichen von Kindern nach § 176 StGB), sexuelle Gewaltdelikte (hauptsächlich Vergewaltigung nach § 177 StGB a. F.) und sexuelle Belästigungsdelikte (exhibitionistische Handlungen nach § 183 StGB). Die Forschungsfrage wurde anhand der Eintragungen im Bundeszentralregister und damit im Hellfeld untersucht. Als Rückfall galt jede erneute Straftat mit nachfolgender Sanktionierung, wobei nach der Art der Delikte unterschieden wurde (erneute Sexualdelikte als „einschlägige“ vs. sonstige Delikte). Der Beobachtungszeitraum betrug sechs Jahre ab dem Zeitpunkt der Entlassung aus dem Straf- oder Maßregelvollzug, bei ambulanten Sanktionen gemessen ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft (Elz 2001, S. 70 ff.). Auf diese Weise lassen sich für die wichtigsten Sexualdelikte Basisraten für die Rückfälligkeit mit einem erneuten Delikt ermitteln (Tabelle 2.2.2). Eine besonders hohe einschlägige Rückfallrate ergab sich nach Verurteilungen gemäß § 183 StGB, wobei die neuen Delikte zu fast zwei Dritteln wieder exhibitionistische Handlungen waren, während sexuelle Gewaltdelikte nur mit einem kleinen Anteil vorkamen (Elz 2004, S. 105). Diese Ergebnisse werden durch Auswertungen größerer Untersuchungsgruppen weitgehend bestätigt, etwa die im Rahmen der Rückfallstatistik von Jehle u. HohmannFricke (2004, S. 152 ff.). Dagegen zeigte sich nach Verurteilung wegen eines sexuellen Gewaltdelikts im Jahr 1987 ein relativ hoher Anteil von Rückfalldelikten, die jedenfalls nach der strafrechtlichen Zuordnung nicht unter den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung fielen. Die Hälfte dieser Täter wurde innerhalb von sechs Jahren wegen eines anderen Delikts verurteilt, wobei quantitativ Eigentums- und Straßenverkehrsdelikte überwogen, in Einzelfällen aber auch Verurteilungen wegen versuchter Tötungsdelikte vorkamen (Elz 2002,
Tabelle 2.2.2. Basisraten des Rückfalls nach Sexualdelinquenz (KrimZ-Studie; Beobachtungszeitraum 6 Jahre) Untersuchungsgruppe
kein Rückfall
nur sonstiger Rückfall
(auch) einschlägiger Rückfall
sexueller Missbrauch (N = 77)
47%
31%
22%
sexuelle Gewalt (N = 181)
32%
49%
19%
exhibitionistische Handlungen (N = 54)
24%
20%
56%
§§ 63, 64 StGB (N = 71)
35%
35%
30%
DDR-Strafrecht (N = 115)
10%
46%
44%
2.2 Sexualdelinquenz
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S. 217, 230 f.). Eine besonders hohe Legalbewährungsquote war schließlich nach einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs zu beobachten, wobei dies insbesondere Täter betraf, die in enger Beziehung zum Opfer des Sexualdelikts gestanden hatten.
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2.2.3
Sexualstraftäter – Klinisches Erscheinungsbild H.-L. Kröber
2.2.3.1 Verantwortlichkeit für das eigene Sexualverhalten „Sexualstraftäter“ ist, lang vor der dahinter stehenden Realität, ein mit vielfältigen Phantasien überfrachtetes Reizwort der rechtspolitischen Debatte und des Kampfes um die Zuschaueraufmerksamkeit in den Medien. Er ist der Teufel nicht erst des 21., sondern schon des 20. Jahrhunderts. Der Sexualverbrecher wurde als Symbol der Auflösung gesellschaftlicher Ordnung und staatlicher Ohnmacht gesehen, und bereits die Rechtspolitik der Weimarer Zeit orientierte sich an Aufsehen erregenden Fällen sexuell devianter Serienmörder wie Peter Kürten oder Fritz Haarmann. Schon damals wurden die angeblich zu laschen Strafen und zu laschen Haftbedingungen kritisiert, wurden lebenslange Inhaftierung und Zwangskastration gefordert, was in der NS-Zeit dann zügig umgesetzt wurde (Wachsmann 2006). Auch der Teufel des einstigen Volksglaubens ist ein „Succubus“, einer, der den Geschlechtsverkehr erzwingt oder erschleicht, und so vereint sich bei Politikern und Laien im Bild des Sexualstraftäters all das, was man an Unheimlichem über Sexualität weiß, erlebt hat oder vermutet. Der Teufel, so wird jedoch gedeutet, ist der Vertreter unserer eigenen Triebhaftigkeit und Bereitschaft zum sündhaften Rechtsbruch. Verbrechen, so der grundlegende Gedanke, entsteht aus den Begierden, und insbesondere das geschlechtliche Triebchaos ist Ursache und Folge des Bösen in der Welt. Das tatsächliche, klinische Bild des Sexualstraftäters ist vor allem eines: uneinheitlich. Es gibt sehr unterschiedliche Gruppen von Sexualstraftätern;
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das Spektrum reicht vom Prominenten, der mit Zwangsprostituierten Drogen konsumiert hat, über ganz unterschiedliche Vergewaltiger und Kindesmissbraucher bis zu der großen, ebenfalls variantenreichen Gruppe der Exhibitionisten und zu der kleinen, aber eindrucksvollen Gruppe der sexuellen Sadisten. Zur Orientierung seien nochmals die im vorangehenden Kapitel erörterten Zahlen der Kriminalstatistik (Bundeskriminalamt 2005) erinnert: pro Jahr in Deutschland (80 Millionen Einwohner) etwa 15 000 Strafanzeigen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung, ebenfalls 15 000 Tatverdächtige wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, 9000 wegen Exhibitionismus, 4000 wegen sonstiger Missbrauchsdelikte, 11 000 wegen Pornografiedelikten, hingegen 26 wegen sexuell motivierten Mordes, davon etwa fünf Tötungsdelikte an einem Kind im Zusammenhang mit einem sexuellen Übergriff. Daraus ergeben sich auch für die klinische Kriminologie die wesentlichen, belangvollen Tätergruppen, die wir in den nachfolgenden Kapiteln ansehen wollen: z Männer, die Vergewaltigungen oder sexuelle Nötigungen begehen, z Männer mit destruktiver Sexualität (v. a. Sadismus), z Männer, die Kinder sexuell missbrauchen (Inzesttäter und Pädosexuelle), z Männer mit abnormen Gewohnheiten, insbesondere Exhibitionisten. Im Handbuch der Forensischen Psychiatrie schrieb Witter (1972, S. 1052), der bei weitem überwiegende Teil der Sexualdelikte habe zu Geisteskrankheiten oder organischen „Grenzfällen“ keinerlei Beziehungen. Bei den meisten Tätern handele es sich vielmehr um normale oder abnorme, neurotische oder psychopathische Persönlichkeiten. Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen sei es, die Determinationsstruktur des rechtswidrigen Verhaltens zu klären. So seien „Schwerpunkte in der Kriminogenese“ zu finden und herauszustellen, aus denen sich „Aussagen über die Behandlungsmöglichkeiten und die Prognose des sexuell devianten Verhaltens ableiten“ ließen. Daran hat sich im Grundsatz nichts geändert. Sexuell motivierte Straftaten sind – auch in der Sicht des forensischen Psychiaters – zumeist sexuell motiviert und nicht durch irgendwelche geheimnisvollen Triebkräfte, die ihren Ursprung in unbekannt gebliebenen Kindheitserlebnissen haben. In den heutigen aufgeklärten, durch schulischen Sexualkundeunterricht von jeglichen Ängsten vermeintlich befreiten Zeiten wirkt es manchmal anachronistisch, wenn man auf die ungeheure Wirkmacht des sexuellen Begehrens verweist, der weder durch die Emanzipation der Frau noch durch das breite gewerbliche, vor allem mediale Sexangebot etwas an Kraft genommen wurde. Im Gegenteil: Die hautnahe Präsenz des intensiv Begehrten, die erregende Frau gleich drüben auf der Tanzfläche oder am Nachbartisch, fordert Kräfte der Selbstkontrolle, die in früheren, stärker ritualisierten Ordnungen nicht verlangt wurden. Kurzum: Sexuelles Begehren ist ein klassisches, die Menschheitsgeschichte prägendes Motiv für einen Regelverstoß, ein Motiv, das nach Intensität und Bedeutsamkeit mit den beiden anderen großen Motiven, der Gier nach Geld und
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Besitz sowie dem Wunsch nach Rache, konkurrieren kann. „Sexualität ist eine sicherlich angelegte und im Biologischen verankerte Möglichkeit des Erlebens, die vollkommen in Beschlag genommen wird von dem, was das Menschliche ausmacht: Sie wird in Dienst genommen von Phantasie, Erinnerung, Innenwelt, wird zu einer Funktion von eigenen und individuellen Gefühlen, Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Ängsten, Konflikten, die alle in der eigenen Geschichte wurzeln“ (Schorsch 1986, S. 281). Sexuelles Begehren ist also nicht abgekoppelt von der Person, ihrer Lebensgeschichte, ihren existenziellen Wünschen; Sexualität ist keine harmlose Fitnesssportart unter anderen, zu der man in der Schule und am Fernseher das nötige technische Rüstzeug erwirbt. Oftmals geht es um mehr als den allein sexuellen Vollzug, nämlich um Liebe und Geliebtwerden, um Angenommensein oder zumindest die Erfahrung, ein richtiger Mann, eine richtige Frau zu sein und kein Verlierer. Es gibt das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, das weder mit Machtstreben noch mit sexuellem Begehren identisch oder erklärbar ist. Diese Sehnsüchte nach der Zuwendung und Bewunderung anderer erhalten aber ein besonderes Gewicht, wenn sie nur oder vor allem in sexuellen Erlebnissen Verwirklichung finden können. Sexualität ist verwoben in ein Gewebe von Stimmungen, Gefühlen, Erwägungen und Bedürfnissen, das nicht leicht zu entflechten ist; es besteht auch gar kein Grund, sie auf einige wenige Aspekte wie „Stärke“ oder „Machtdemonstration“ zu reduzieren; vor allem aber darf man die Macht des genuin Sexuellen nicht unterschätzen und nicht aus den Überlegungen zur Handlungsmotivation eliminieren. Sexuell motivierte Delikte sind zumeist nicht Ausdruck einer psychischen Pathologie, gar einer psychischen Krankheit. Insofern stimmt der feministische Slogan, dass ganz normale Männer ganz normale Vergewaltiger sind – aber eben nur eine kleine Minderheit der ganz normalen Männer. Der Wunsch, sich eine sexuell begehrte Person einfach nehmen zu dürfen, auch ohne Geldzahlung, wird überall auftauchen, nicht nur bei Männern; fast alle aber halten sich an das Wissen, dass solches nicht geht. Sexualdelinquenz entspringt in sehr vielen Fällen nicht einem abnormen sexuellen Begehren, sondern einem ganz normalen; ungewöhnlich und normwidrig aber ist es, sich einfach zu nehmen, was man haben will, insbesondere dann, wenn dies ein Mensch ist. Bestraft wird nicht abnormes Sexualverhalten, der Staat versteht sich nicht mehr als Tugendwächter und Bewahrer einer Standardsexualität; bestraft wird die Verletzung, ja die Zerstörung der sexuellen Selbstbestimmung des Opfers solcher Übergriffe. Die Tatsache des sexuell motivierten Rechtsbruchs begründet also für sich noch keineswegs den Verdacht, hier müsse eine psychische Abnormität vorgelegen haben. Dies gilt auch dann, wenn abnormes Sexualverhalten praktiziert wird. Es mag sein, dass in Einzelfällen ein besonders destruktives Vorgehen oder ein kannibalistisches Ritual auf eine schwere Störung im Persönlichkeitsgefüge des Täters verweist; dies müsste dann jedoch im Einzelfall aufgezeigt werden, und es müsste gleichwohl erörtert werden, ob ein normkonformes Handeln nicht gleichwohl zumutbar war. Die schiere
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normabweichende sexuelle Präferenz allein kann noch keine seelische Abnormität begründen; jahrzehntelang waren homosexuelle Handlungen zwischen Männern verboten; heute wird keiner mehr behaupten, dass die Homosexuellen deshalb psychisch grundsätzlich gestörter seien als Heterosexuelle. Ebenso wenig ist eine frühe sexuelle Prägung auf Kinder per se pathologisch; sie setzt dem eigenen Handeln besondere Rahmenbedingungen, wie dies aber auch bei Homosexualität und Heterosexualität der Fall ist. Die Bedingungen sind andere, aber sie sind zu bewältigen. Die ausschließliche Festgelegtheit auf ein Sexualverhalten, das zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann, bedeutet noch keineswegs, dass dadurch bereits die Schuldfähigkeit beeinträchtigt wäre. Motiv und rechtswidriges Handlungsziel einerseits, Steuerungsfähigkeit andererseits sind deutlich voneinander zu scheidende Sachverhalte. Dass beispielsweise das Autofahren für Menschen unter 18 Jahren verboten ist, dass aber viele Jugendliche gerne Auto fahren würden, bedeutet noch keineswegs, dass bei diesen Jugendlichen auch nur die mindeste Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit hinsichtlich des Fahrens ohne Fahrerlaubnis anzunehmen wäre. Sicherlich ist richtig, dass bei stabil Pädosexuellen (sog. „Kernpädophilen“), die abgesehen von einer Autoerotik nur in illegalen Handlungen ihre Sexualität praktizieren können, die Steuerungsfähigkeit in Bezug auf die Einhaltung der Rechtsnormen, psychologisch gesprochen also die Selbstdisziplin, stärker beansprucht wird als bei Menschen, die auf sexuell entwickelte Partner orientiert sind und bei einvernehmlicher Sexualität mit dem Gesetz nicht in Konflikt kommen. Ohnehin gehören Millionen von Menschen zu den Verlierern im Sexualwettstreit: Sie sind allein, haben keine Sexualpartner und auf absehbare Zeit auch keine Chance, Sexualität partnerschaftlich zu praktizieren. Die Zahl der unfreiwillig partnerlosen Heterosexuellen, die unfreiwillig auf das Praktizieren ihrer heterosexuellen Begierden verzichten müssen, ist sicherlich ungleich höher als die Gesamtzahl aller Pädosexuellen. Auch bei diesen Heterosexuellen nimmt man nicht an, dass das Fehlen eines Sexualpartners ihre Steuerungsfähigkeit für nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen vermindert. Ein erklecklicher Teil der sexuellen Übergriffe wird vielmehr von Tätern begangen, die durchaus eine Partnerin oder die Möglichkeit zu einvernehmlicher Sexualität haben. Allein die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung wie auch allein die Diagnose einer abweichenden sexuellen Präferenz, hier einer Pädophilie, rechtfertigt nach forensisch-psychiatrischer Auffassung und auch nach BGH-Rechtsprechung noch keineswegs die Annahme eines Zustands, der dem Rechtsbegriff der so genannten „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB entspricht und zur Zuschreibung erheblich beeinträchtigter Steuerungsfähigkeit berechtigt, die zu Strafmilderung und unbefristeter Zwangsunterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug führen kann (BGH StV 2000, 18; Kröber 1997). Sexualdelinquenz ist in diesem Sinne nur äußerst selten so etwas wie „Triebabfuhr“, Ausdruck eines vermeintlich zu hohen Hormonspiegels, von
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sexueller Entbehrung oder „Notgeilheit“. Viel häufiger ist Sexualität ein aktiv gesuchter Akt der Selbstbelohnung, der Selbstbefriedigung, des Zeitvertreibs; Heterosexuelle wie Pädophile sind in der Lage, Sexualität auf die Tagesordnung zu setzen und wieder herunter zu nehmen, Kosten und Nutzen pragmatisch und effektiv zu kontrollieren. Wir gestalten die enorme Wirkkraft des Eros, suchen nach Erregungen und angenehmen Empfindungen. Auf diese Weise – der Ausweitung des sexuellen Erfahrungsbereichs – können auch sexuelle Objekte und Praktiken interessant werden, die man primär für abwegig und uninteressant gehalten hat, wie z. B. das taktile Erlebnis des Streichelns und Fühlens der zarten, warmen Haut und der jungen Gliedmaßen von Kindern, das manche Inzesttäter unabhängig vom Alter und sexuellen Entwicklungsgrad der Kinder ebenso fasziniert wie das Spiel mit der Angst, der Erregung und der Verleugnung des sexuellen Übergriffs. Gleichwohl wird man bei Erwachsenen keine grundsätzliche Änderung der sexuellen Orientierung zu erwarten haben, und wer eindeutig auf sexuell entwickelte Partner orientiert ist, wird durch keinerlei „Verführung“ oder pornografisches Angebot zum Pädosexuellen werden. Heterosexuelle Männer werden durch das Betrachten von Kinderpornografie ebenso wenig pädophil, wie sie durch das Betrachten nackter Männer schwul werden.
2.2.3.2 „Progredienz“ als Normalverlauf und als Symptom Als „Progredienz“ wird der Sachverhalt bezeichnet, dass es in einer bestimmten Zeitstrecke zu einer Ausweitung und Entfaltung der sexuellen Aktivität kommt. Das ist in Jugend und Adoleszenz völlig normal und Ausdruck des sexuellen Lern- und Entwicklungsprozesses. „Progredienz“ wird aber auch als ein Leitsymptom „sexueller Süchtigkeit“ gesehen, die ein durchaus problematisches Konstrukt ist. Dauerhaftes oder progredientes Fehlverhalten des Menschen, seine Laster, galten von Gebsattel (1954) als Formen der Süchtigkeit, die er nicht auf die stoffgebundenen Süchte (Alkohol, Drogen) eingeschränkt sehen wollte, sondern als Essenz der sexuellen Verirrungen, der Leidenschaften (wie z. B. des exzessiven Spielens) und aller ungünstigen sozialen Strebungen ansah. Die Sucht sei zu verstehen als Ausweichen vor der inneren Leere in die Aktion, den Rausch, der aber den Handelnden stets unbefriedigt zurücklasse, sodass das Manöver wiederholt, ja destruktiv gesteigert und in teils absurden Formen ausgebaut werden müsse. Es komme zu einer Progredienz, die sich zunächst als „Scheinverwirklichung“ und Ausschmückung der Oberfläche maskiere, aber durch zunehmende Entleerung und eine „Schrumpfung des gesamten Lebensspielraums“ gekennzeichnet sei, bis schließlich „alle sonstigen Inhalte, Aufgaben und Interessen von dem einzigen großen Interesse verschlungen“ werden, sich im süchtigen Akt zu fühlen und dem Sich-nicht-mehr-Fühlen zu entkommen. Von Gebsattel beschrieb diese Verläufe als existenzielles Scheitern und war keineswegs geneigt, hier im klinischen Sinne von Krankheit zu sprechen.
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Diese Tradition nahm Giese (1962 a) auf, wobei er zwischen ich-syntoner „Fehlhaltung“ und (krankhafter) „Perversion“ unterschied, für die er sechs „Leitsymptome“ formulierte. Wo die Leitsymptome gegeben sind, liege „Perversion“ vor, wo sie nicht erfüllt sind, handele es sich um eine (ichsyntone) „sexuelle Fehlhaltung“, bei der sich der Akteur mit seinen Verhaltensweisen im Einklang befindet. Als Leitsymptome nannte Giese: 1. Verfall an die Sinnlichkeit, 2. zunehmende Frequenz und abnehmende Satisfaktion, 3. Promiskuität und Anonymität, 4. Ausbau von Phantasie, Praktik, Raffinement, 5. süchtiges Erleben, 6. Periodizität der dranghaften Unruhe. Dies korrespondierte mit dem Konzept der „progressiven psychopathologischen Entwicklung“ (Bürger-Prinz 1944, 1955; Rasch 1986), wonach die Sexualität in ihrer besonderen Ausformung und Betätigung immer mehr Raum im Lebensganzen des betreffenden Menschen beansprucht, bis sie schließlich alles andere, insbesondere personale Beziehungen, ausschließt. „Verfall an die Sinnlichkeit“ heißt bei Giese, dass infolge „konstitutioneller Bedingungen“ des Betroffenen alle Sinnesorgane, die ja stets auch im Dienste der Sexualität stehen können, von sexuellen Anmutungen überflutet und besetzt werden. Beim Perversen gebe der sinnliche Reiz kein „Zeichen“, sondern sei „Signal wie im Pawlowschen Experiment“. Giese bezog sich auf ein inzwischen obsoletes, vermeintlich naturwissenschaftliches Modell der Hyperästhesie, das ein passives Überwältigtwerden von Sinnesreizen postuliert, damit ein Verfallensein an die Sinnesreize, für das man auch nicht (mehr) verantwortlich gemacht werden kann (Kröber 1996). Pawlow wurde zu Recht mehrfach von Giese als Pate genannt. Ausgeklammert wird, dass man den Menschen auch in der Sexualität nicht nur als reflexhaft reagierendes Objekt, sondern als aktives, intentional handelndes, zukunftbezogenes Subjekt sehen kann, wie sich in der nach wie vor schlechten Vorhersagbarkeit seines Verhaltens erweist. Unmittelbar daneben standen Verweise auf organische Befunde und volkstümliche Annahmen über „Sexualnot“ und „dranghafte Unruhezustände“, die bereits damals in der forensischen Psychiatrie obsolet waren. Giese nahm dies in Kauf, um für seine Klassifikation des Geschehens als „Krankheit“ zu werben: Abgesehen von Verläufen, wo abnorme sexuelle Praktiken als umschriebene, entlastende Auffälligkeiten in ein ansonsten ungestörtes, selbstkontrolliertes und sozial positives Leben eingebunden bleiben („sexuelle Fehlhaltung“), zeige sich häufig eine „fortschreitende, die Persönlichkeit besetzt haltende und sie beanspruchende Ausfüllung des Erlebnisraumes. Das perverse Geschehen läuft geradezu selbsttätig weiter.“ Diesem Vorgang sei Krankheitswert zuzusprechen, er stelle eine Voraussetzung verminderter Zurechnungsfähigkeit dar: „Die Fähigkeit, der Einsicht gemäß zu handeln, ist sehr häufig erheblich vermindert“ (Giese 1962 a, S. 450).
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Gieses Nachfolger E. Schorsch hat die Leitsymptome in ein allgemeines Schema „progredienter psychopathologischer Entwicklungen“ übertragen. Deren Leitsymptome sieht Schorsch bei ganz unterschiedlichen Störungen vollständig oder weitestgehend erfüllt, nämlich bei Zwang, Phobie, Sucht, Spielen, neurotischer Kriminalität, dem depressiven, dem paranoiden und dem querulatorischen Syndrom sowie beim Partnerkonflikt. Er gliedert die Leitsymptome unter heuristischem Aspekt in drei Gruppen (Schorsch 1988): I. beobachtbare Verhaltensebene 1. Symptomhäufung, 2. Ausgestaltung der Symptominszenierung, 3. Intensitätsschwankungen des Symptoms, 4. Lockerung/Verlust der personalen Einbindung; II. explorierbare Ebene qualitativen Erlebens 5. zunehmende Okkupierung des Erlebens durch das Symptom, 6. Verlust der reparativen Stabilisierungsfunktion des Symptoms, 7. vitalisierte Dekompensationszeichen; III. interpretative Ebene 8. Herabsetzung der Schwelle für die Symptomauslösung, 9. Einengung der Realitätswahrnehmung auf Reizqualitäten des Symptoms, 10. Angewiesensein auf das Symptom als „Rettungsanker“. Für diese Entwicklung gibt Schorsch eine psychodynamische Erklärung: Eine psychische Symptombildung habe eine reparative Funktion zur Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichts und sei daher angstbindend. Progredienz, nämlich ein immer häufigeres Inszenieren des Symptoms, trete dann ein, wenn das gelegentliche Inszenieren des Symptoms zur Bewahrung des inneren Gleichgewichts nicht mehr ausreiche, weil dieses krisenhaft in Gefahr geraten sei. Es komme dann zu einer immer häufigeren Wiederholung des Symptoms in einer immer vergeblicheren Hoffnung auf dessen reparative Funktion, die aber nicht mehr eintrete. Die Beruhigung durch das Symptom werde daher immer flüchtiger, die Befriedigung nehme ab. Schorsch (1973) führte die Progredienz auf grundlegende psychodynamische und psychopathologische Faktoren eines aktiven Subjekts zurück: „Die progredienten Entwicklungen sexueller Deviationen, die ,süchtig-perversen‘ Verläufe Gieses, sind aufzufassen als Resultat einer Ablehnung und weitgehenden Negierung der sexuellen Deviation; die progrediente Dynamik, die zeitweise und periodisch ein Zusammenbrechen der Abwehr und Kontrolle bewirkt, wird in Gang gesetzt und unterhalten durch den Mechanismus der Abspaltung, durch Unfähigkeit zum Lusterleben infolge von Schuldgefühlen, ein starkes Selbstbestrafungsbedürfnis sowie durch den Ersatzcharakter der devianten Handlungen.“ Die „progrediente Entwicklung“ wird hier zur Verlaufsgestalt einer zugrunde liegenden Störung, die es zu erkennen und in ihrem Schweregrad zu bestimmen gilt (Berner 1996).
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In sehr vielen Fällen aber ist der sexuelle Übergriff nicht einer psychischen Störung geschuldet, sondern normalpsychologisch bedingt, nicht zuletzt, wenn auch sonst Tendenzen zu dissozialem Verhalten und Normverstößen den Lebensstil kennzeichnen.
2.2.3.3
Sexuell motivierte Gewaltdelikte
2.2.3.3.1 Vergewaltigung und sexuelle Nötigung Das Normwidrige bei einer Vergewaltigung liegt nicht darin, dass Sex praktiziert wird, sondern darin, dass jemand sich ohne Rücksicht auf andere das nimmt, was er gerade haben will. Insofern ist Vergewaltigung, wie Raub, in charakteristischer Weise ein dissoziales Delikt und nicht selten das Delikt dissozialer Täter. Ein erheblicher Anteil der Vergewaltiger hat auch bereits andere Straftaten begangen. Führende Merkmale sind Rücksichtslosigkeit und Durchsetzungsbereitschaft, auch völlig fehlendes Mitleid mit dem Opfer, während das Motiv zu missbilligen, aber keineswegs unverständlich ist. Es ist nicht so, dass Vergewaltiger besonders „triebstark“ wären, gar hohe Testosteronspiegel aufweisen würden. Vergewaltigungen werden kaum einmal aus „sexueller Not“ heraus begangen: Gar zu viele Menschen, Männer wie Frauen, sind unfreiwillig lange Zeit ohne Sexualpartner, durchaus auch als Jugendliche und Heranwachsende, und Vergewaltigung scheint keine typische Lösung dieses Problems zu sein. Aber es gibt sie, die „Nach-Disko-Vergewaltiger“ am Freitag- und Samstagabend, die abermals den ganzen Abend verbracht haben, ohne erfolgreich einer Frau nahe zu kommen, die Cola oder ein Bier in der Hand (auf den Alkohol kommt es hier nicht an), immer am Rande des Geschehens, und die dann auf dem Heimweg die einzige Frau überfallen, die um diese Zeit in Sichtweite kommt, egal wie alt sie ist. Wenn sie Glück haben, werden sie gleich beim ersten Mal gefasst und bestraft und lassen sich belehren: Sie gehen nicht nochmal das Risiko einer Haftstrafe ein. Nicht gut ist es, wenn sie scheinbar erfolgreich sind, wenn nichts in der Zeitung steht, wenn es so aussieht, als wäre gar nichts passiert. Dann ist die Versuchung groß, es nochmal, ein einziges Mal noch, zu machen, weil es so aufregend war, so „geil“, und eigentlich auch so einfach. Auf diese Weise ergeben sich bei jenen, die nicht bald gefasst werden, Tatserien und ein fatales Lernen am vermeintlichen Erfolg. Es ist aber jemand, der eine Vergewaltigungsserie begangen hat, noch keineswegs bereits ein Hangtäter; diese Einschätzung ließe sich erst treffen, wenn er unbeeindruckt von Strafe und Strafverbüßung am Vergewaltigen festhielte. Sehr problematisch sind allerdings auch Jugendliche, die bereits primär als angstarme, planmäßig agierende, bewaffnete Serienvergewaltiger in Erscheinung treten (vgl. Prentky et al. 2000; Sevecke u. Krischer 2006). Der Akt der Vergewaltigung steht im Spannungsfeld zwischen Angst und Erregung: Wenn der Täter zu aufgeregt ist, Angst vor dem personellen wie sexuellen Scheitern hat, zu sehr befürchtet, dass er der Frau nicht gewach-
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sen ist, der Widerstand zu groß ist, wenn er sich nicht richtig durchsetzen kann, so bedroht all dies seine Potenz, seine Erektion, seine Fähigkeit zum Orgasmus. Dass Vergewaltiger, selbst wenn sie sich gewaltsam gegen die Frau durchsetzen, keine zur Penetration hinreichende Erektion bekommen, gerade deswegen von der Frau manuelle oder orale Stimulation verlangen, ist keine Seltenheit. Bisweilen verleiht die Drohung mit Waffen die Sicherheit, die Vergewaltigung problemlos durchzuziehen. Wenn der Täter die Tat sehr routiniert durchführt, keine Erektionsprobleme hat und bald zum Samenerguss kommt, so legt dies den Gedanken nahe, dass er entweder eine Persönlichkeitsstruktur aufweist, die durch geringe Erregbarkeit und weitgehende Angstfreiheit gekennzeichnet ist, oder dass er ein Serientäter ist, der schon eine ziemliche Verhaltenssicherheit in solchen Aktionen gewonnen hat. Die Vergewaltigungsopfer berichten manchmal, sie hätten den Eindruck gehabt, der Täter mache dies nicht zum ersten Mal. Insgesamt sind die Gesichtspunkte, die bei der Tatbildanalyse (im Rahmen einer operativen Fallanalyse) zur Durchleuchtung eines Tatgeschehens angewendet werden (Ressler et al. 1993; Wegener 2003; Baurmann u. Dern 2006), sicherlich belangvoll, um eine grobe Einschätzung der Täterpersönlichkeit zu erhalten. Je qualifizierter, organisierter, vorbereiteter ein Täter vorgeht, desto höher ist seine Situationskontrolle, desto niedriger sein Risiko, desto gefährlicher kann er agieren, desto häufiger kann er wiederholen. Manche Jugendliche begehen Schrumpfformen von Vergewaltigung, sie verfolgen Frauen, oder sie „grapschen“, fassen vorbeikommenden Frauen an die Brüste, ans Gesäß. Manche entwickeln ihre spezielle Vorgehensweise, indem sie dies z. B. immer in Treppenhäusern machen oder beim Aussteigen aus der U-Bahn oder mit dem Fahrrad. Man sieht hier einen Kompromiss aus sexueller Begierde und Angst, man möchte nicht zur Rede gestellt oder gar bestraft werden; schon sich der Rede zu stellen wäre eine Strafe. Es muss schnell gehen, und wenn es schnell geht, ist das Risiko, dass Anzeige erstattet und der Täter ermittelt wird, tatsächlich gering. Von sexuell motivierter Beleidigung über Anfassen und sexuelle Nötigung bis zur Vergewaltigung gibt es Übergänge und Entwicklungswege, die allerdings keineswegs von allen beschritten werden. In der Literatur werden auch Gruppenvergewaltigungen, vor allem durch Jugendliche, behandelt (Rasch 1968; Witter 1972), die teilweise spontan z. B. nach Besuch einer Tanzveranstaltung und unter Alkoholeinfluss begangen würden, teilweise aber auch länger geplant und verabredet. Wie bei allen Gruppendelikten (Wendt et al. 2002) ist die Zusammensetzung solcher Tätergruppen persönlichkeitsdiagnostisch oft recht uneinheitlich, so dass selbst bei schweren Delikten die Prognose nicht a priori schlecht sein muss (zu Gruppendelikten Jugendlicher s. den Beitrag von Hartmann in diesem Band, Abschn. 1.5). Manche Täter spezialisieren sich auf die Vergewaltigung psychisch kranker oder aus anderen Gründen widerstandsunfähiger Menschen (nicht nur Frauen sind Opfer), manche begehen solche Tat neben anderen, bei sich bietender Gelegenheit. Teilweise sind dies Ärzte, Pflegekräfte, Heimmit-
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arbeiter. Die Täter bieten in der Regel keine Besonderheiten gegenüber anderen Tätern von sexuellen Übergriffen; die Versuchung war bei ihnen größer, weil sie glaubten, ein besonders kleines Risiko der Entdeckung und Bestrafung einzugehen. Tatsächlich haben es schizophren oder hirnorganisch Kranke bisweilen schwer, vor Gericht Gehör zu finden, obwohl an ihrer Zeugentüchtigkeit und Aussagegenauigkeit im konkreten Fall medizinisch gar kein Zweifel begründbar ist; statt eine Expertise einzuholen oder dieser zu folgen, werden solche Fälle gern zu Gunsten anderer, vermeintlich besser gesicherter Tatvorwürfe eingestellt. Vereinzelt gibt es auch Fälle, in denen Ärzte ohne diagnostische Indikation, aber unter Vortäuschung sachgerechten Arbeitens den Intimbereich von Patienten untersuchen und penetrieren; sie scheinen manchmal straflos davon zu kommen, wenn sie sich beim Bundesverfassungsgericht (2006) auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und prozessuale Formfehler berufen (so der Fall des „Prof. Stimmgabel“). z Täterbild. Hinter Vergewaltigungen steht nicht selten ein Frauenbild, das geprägt ist von der Auffassung, dass die Frauen Männern überlegen sind, da sie über alles verfügen, was Lust bereitet, und dass sie eigentlich stets verweigern, was man dringlich begehrt – das sei ungerecht. Also nimmt man sich bisweilen, was man so dringend begehrt und was einem einfach vorenthalten wird. Schorsch und Mitarbeiter (1985) haben immer wieder auf die „fragile“, die brüchige Männlichkeit solcher Täter hingewiesen, und zahllose Gutachter haben das aufgegriffen: Wer sich seiner Männlichkeit sicher und bewusst ist, der hat bereits einvernehmlichen Sex mit einer oder mehreren Frauen, will dies heißen. Vergewaltiger machen den Männern keine Ehre, sie sind in der intuitiven Wahrnehmung anderer „Loser“, Männer, die es auf ordentliche Weise nicht bringen, und die es auch sonst nicht bringen. Aber es gibt sicherlich auch Männer, die jede Menge Sex mit Frauen haben, die sich ihrer Männlichkeit sicher sind, und denen es gleichwohl Spaß macht, Frauen zum Sex zu zwingen, sie zu unterwerfen, zu demütigen, sich an dem ganzen für dumm und zickig gehaltenen Geschlecht zu rächen. Vergewaltiger finden sich unter sozial randständigen Männern, die stets auf Fraueneroberung aus waren, jedoch besonders unattraktive, mütterlich versorgende Frauen geheiratet haben, aber auch unter den Partnern gutaussehender Frauen, die ihre Eigenständigkeit und Stärke beweisen wollen. Während bei Kindesmissbrauchern Anhaltspunkte für etwas vermehrte eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit vorliegen (Salter et al. 2003), ist diese Quote bei Vergewaltigern nicht erhöht; wohl aber haben auch dissoziale Vergewaltiger gehäuft nichtsexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht (Mullen et al. 1993, 1994; Wetzels 1997). Bei den nicht eigentlich dissozialen Tätern finden sich nicht selten Männer, die in stabilen, längeren Partnerschaften leben, in denen sexuell kaum Wünsche unerfüllt geblieben sind, bis auf Analverkehr, den die meisten Frauen nicht mögen, aber darum geht es gar nicht. Man kann sich eigent-
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lich nicht beschweren, nur dass der Trainer einen schon wieder nicht aufgestellt, sondern auf die Bank verbannt hat. Man ist gekränkt über die Banalität des Lebens, die Langeweile, das Ausbleiben des Glücks, die eigene Dürftigkeit: Warum nicht zugreifen, wenn da eine junge Frau so aufreizend die Straße entlang geht? Die aktuellen Auslöser für solche Taten sind fast nie schwerwiegende Erlebnisse, keine großen Verluste, keine tiefgreifenden Niederlagen, wohl aber unerfreuliche Ereignisse und missmutige Verstimmungen (die sog. „Dysphorie“, bei der es sich nicht um eine psychische Krankheit handelt, sondern nur um die griechische Schwester der schlechten Laune). Wenn solche Taten dann spontan, aus einer augenblicklichen Entschlussfassung heraus unvorbereitet begangen werden, ist die Prognose noch vergleichsweise günstig. Fatal ist es, wenn das Verfolgen und schließliche Vergewaltigen von Frauen sich zu einer abendfüllenden Freizeitbeschäftigung entwickelt, wenn die Täter regelmäßig auf Jagd gehen („cruising“). „Cruising“ bezeichnet ein Verhalten, bei dem die Täter zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Auto Mädchen oder Frauen (manchmal auch Kindern oder Männern) nachstellen, sie ins Visier nehmen, beobachten, verfolgen, einen Zugriff erwägen. Es ähnelt dem Verhalten von Männern auf der Jagd nach Wild, und bereits die Jagd selbst ist spannend, erregend, ein Vergnügen, selbst wenn am Ende kein Wild erlegt wurde. So ist auch beim Cruising der Verzicht auf den Zugriff, auf die Vergewaltigung für manchen ein Beweis der eigenen Selbstdisziplin, der Situationskontrolle, ein indirekter Ausweis der eigenen Überlegenheit. Im „cruising“ sind also Elemente des Voyeurismus enthalten, insbesondere bei solchen Formen, bei denen eine Person lange im Fokus des Jägers verbleibt, der möglicherweise sogar Daten sammelt über dieses potenzielle Opfer und zu unterschiedlichen Zeitpunkten immer wieder dieses spätere Opfer observiert. Wo solche länger dauernden Täter-Opfer-Beziehungen aus dem Dunkel heraus im Vorfeld nachweisbar sind, ist anzunehmen, dass die Person des Opfers für den Täter eine besondere Bedeutung gewonnen hat, die sie in besonderer Weise aus der sonst gegebenen Anonymität heraushebt. Der Täter hat sich diese Person bereits „angeeignet“, ein vermeintliches Besitzrecht erworben, eine Sonderbeziehung statuiert, die ihn als absoluten Machthaber sieht. Diese imaginierte Macht ist direkt gekoppelt mit imaginiertem Sex; der Täter stellt sich vor, wie es sein wird, das Opfer zu überwältigen und zu penetrieren: Ohne den Wunsch nach sexueller Unterwerfung und Orgasmus wäre der Machtanspruch inhaltslos. Es gibt Sonderformen der Vergewaltigung am Rande des Rotlichtmilieus, das „Zureiten“ und Verschleppen von Frauen, um sie für die Tätigkeit als Prostituierte gefügig zu machen. Wir finden hier nicht selten eine grenzüberschreitende Delinquenz (nach Polen, Tschechien etc.), bewaffnet, oft gemeinschaftlich begangen, unter Benutzung von Autos, bisweilen mit dem Einsatz von Betäubungsmitteln und Fesselungsmaterialien. Es kann dies Ähnlichkeit mit sadistisch motivierten Überfällen haben, und auch dann, wenn eigentlich gewerbliche Interessen hinter den Aktionen stehen mögen, finden hier Männer ein Betätigungsfeld, denen solche Handlungsmuster ei-
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ne besondere Befriedigung bereiten. Ihre Einbettung in ein Netzwerk organisierter Kriminalität macht solche psychopathisch strukturierten Täter nur umso gefährlicher, weil dieses Netzwerk sie schützt und auch im Falle einer Verhaftung weiter unterstützt und gegebenenfalls Fluchtmöglichkeiten eröffnet. Es gibt Täter, die nur zum Zweck der Vergewaltigung in Wohnungen einsteigen oder auch in ein Krankenhaus, ein Internat oder ein Altenheim eindringen. Oftmals wurden diese Räume vorher observiert, der Täter hatte eine Vorstellung davon, wen er antreffen will; manchmal hat er kurz zuvor eine Frau in dieses Haus gehen sehen. Manchmal aber reizen auch nächtlich oder tagsüber aufstehende Balkontüren und Fenster, ohne dass eine Observation voranging. Keineswegs ganz selten ist es, dass Täter, die als Diebe in Wohnungen eindringen und dort auf eine Frau stoßen, diese Frau dann auch vergewaltigen. Bei vielen wirkt offenbar schon das Eindringen in den räumlichen Intimbereich eines anderen Menschen, einer Frau, ihr Wohnraum, ihr Bad, ihr Schlafzimmer, und auch das Durchsuchen ihrer Sachen sexuell stimulierend. Der intime, persönliche Raum einer fremden Frau weckt sexuelle Appetenz (meisterlich beschrieben in der kurzen Erzählung „Nachbarn“ von Raymond Carver, 2001). Die ungewollte oder auch gesuchte Konfrontation mit dieser Frau schafft dann die Option, sich sexuelle Lust zu bereiten; rechtswidrig handelt man ohnehin schon – sollte man nicht auch das mitnehmen? Verblüffend oft kommt es dabei zu sexuellen Übergriffen junger Männer auch auf alte und sehr alte Frauen, was von den Tätern hinterher oft verleugnet wird, weil man sich nunmehr dafür schämt, nicht wegen des Geschlechtsverkehrs, sondern wegen des Alters der Frau. Bei manchen Wohnungseinbrechern kann man eine Entwicklung verfolgen hin zu immer größerer Risikobereitschaft und hin zur sexuellen Konfrontation: Erst werden nur sicher leere Wohnungen bestohlen, dann werden Situationen durchgestanden, bei denen jemand nach Hause kommt, man sich aber versteckt und unbemerkt entwischt oder rasch an der Bewohnerin vorbei das Freie sucht. Schließlich aber wird die Konfrontation gesucht, die Frau bedroht und in ihrer Wohnung vergewaltigt, was auch in den Nachwirkungen besonders traumatisierend ist. Auch hier liegt beim Täter nicht eine psychodynamische „Progredienz“ im Sinne von Schorsch und Giese vor (s. Kap. 2.2.3.3), vielmehr handelt es sich um die schrittweise Erschließung einer besonders erregenden Situation, in der man die eigene Angst durch Training zunehmend überwinden kann zu Gunsten der sexuellen Lust. Diese Gruppe der Wohnungseinbrecher, die erst stehlen und später zunehmend vergewaltigen, ist nicht groß; allerdings scheint solches Tun einen großen Reiz auszuüben, sodass ein hoher Prozentsatz zumindest der begutachteten Täter dieses Tattyps immer wieder rückfällig wird. Während manche als Einbrecher auf diese Laufbahn geraten, starten manch andere als Voyeure, die nachts umherlaufen und schließlich an bestimmten Orten stundenlang sitzen, um eine Frau heimkommen zu sehen, um sie durch ein Fenster zu beobachten, um den Moment zu erwischen,
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wo das Mädchen oder die Frau sich auszieht, ja womöglich sogar sexuelle Handlungen durchführt. Das Ganze geschieht in einer steten Vorlust, die recht unempfindlich wirkt für die vielen Niederlagen, erfolglosen Stunden, vorgezogenen Vorhänge; die Täter sind nicht selten kontaktgestörte, schizoid konfigurierte Männer, die aber ansonsten sozial und insbesondere beruflich hinreichend eingebunden sind und allenfalls tags durch ihre Müdigkeit auffallen. Viele Voyeure sind polizeibekannt, haben ihre besonders beliebten Aufenthaltsorte; teilweise sind sie mit Hausverboten und Platzverweisen in ihrem Treiben zu beeinträchtigen. Das Problem liegt neben der Lästigkeit vor allem darin, dass gesichert einige Voyeure irgendwann dazu übergehen, ihre Opfer nicht nur zu beobachten, sondern Kontakt aufzunehmen, in die Wohnungen einzudringen, das Opfer gewaltsam zu unterwerfen. Es gibt hier Überlappungen mit einigen der Verhaltensweisen, die als Stalkingverhalten beschrieben werden (Dressing u. Gass 2002; Dressing et al. 2005; Endrass et al. 2007). Die Rolle von Alkohol für Vergewaltigung wird hingegen tendenziell überschätzt. Starke Betrunkenheit und Geschlechtsverkehr schließen sich bei Männern weitgehend aus; so erklärt der Pförtner in einer Torszene von Macbeth (II, 3), der Trunk befördere drei Dinge: rote Nasen, Schlaf und Urin. Liebeslust befördere und dämpfe er zugleich: „It provokes the desire, but it takes away the performance“ (Shakespeare). Das gilt auch für den nicht-einvernehmlichen Übergriff. Wenn der Mann sehr stark betrunken ist, schwinden zudem in der Regel seine Chancen, eine Frau zu überwältigen, es sei denn, diese wäre auch betrunken. Taten unter starkem Alkoholeinfluss werden in der Tat am ehesten von Alkoholikern begangen; alles, was Alkoholiker tun, geschieht unter Alkoholeinfluss, Gutes wie Böses. Die Mehrheit der Vergewaltiger aber ist nüchtern, und zumal die organisiert, geplant vorgehenden Täter sind nüchtern. Alkoholisiert waren manche der Täter, die nach Kneipen- oder Diskoabenden Kontakt zu einer Frau geknüpft hatten, sich Hoffnungen machten, vor der Haustür dann aber doch weggeschickt wurden: allerdings in der Regel, wenn tatzeitnahe Blutalkoholwerte gemessen wurden, in einem Bereich bis etwa 1,5‰, also in jenem Bereich, in dem in gewissem Umfang sexuelle Appetenzsteigerung und Enthemmung durch Alkohol auftreten können, die Selbstkontrolle aber noch gut erhalten ist (Kröber 2000, 2001). Falls tatzeitnah deutlich höhere Werte gemessen werden, verweisen diese auf eine erhebliche Alkoholgewöhnung durch chronischen Missbrauch oder eine bereits bestehende Alkoholabhängigkeit.
2.2.3.3.2 Sadistische Taten und Verdeckungsmorde Es gibt bei Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und, in sehr seltenen Fällen, beim sexuellen Kindesmissbrauch den Übergang zu Tötungsdelikten, die teilweise als Verdeckungsmorde imponieren, bisweilen aber auch als die gesuchte aggressive Steigerung des Übergriffs, also nicht zweckrational (um nicht als Täter erkannt und überführt zu werden), sondern
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als ein destruktives Ausagieren, als Zerstörungswille und Zerstörungslust. Die Unterscheidung zwischen situativ begründeten Gewalttaten einerseits, sadistisch motivierten Taten anderseits ist kriminalprognostisch belangvoll, weil das Vorliegen von sexuellem Sadismus eine besonders schlechte Prognose konstituiert. Überwiegend handelt es sich bei den Tötungsdelikten, die in Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen begangen werden, um Morde zur Verdeckung oder Ermöglichung der Straftat, und nicht um sadistische oder „Lustmorde“. Bereits Wulf (1979) konnte deutliche Unterschiede zwischen jenen Lebenslänglichen feststellen, die einen „Sexualmord“ im engen Sinne begangen hatten, bei denen also die sexuelle Befriedigung mit dem Tötungsakt verkoppelt war, und jenen, die zur Ermöglichung oder Deckung des Sexualaktes getötet hatten; Letztere wiesen wesentlich häufiger kriminovalente Merkmale und allgemeine dissoziale Prägungen auf. Verdeckungsmorde sind Taten nach dem erfolgten, bei Kindern manchmal kaum gewaltsamen sexuellen Übergriff, um einer Identifizierung als Täter und der Strafverfolgung zu entgehen. Nicht selten werden die Tötungsdelikte auch zu Beginn oder im Rahmen der Vergewaltigung begangen, um das Opfer am Schreien und Kämpfen zu hindern und sich durchzusetzen. Dies kann durchaus von einer paradoxen Wut auf das Opfer begleitet sein, das einem solche Schwierigkeiten bereitet und einen so in Gefahr bringt. Entsprechend kann das Tatbild sehr brutal sein und auch ein „overkilling“ beinhalten, und dennoch kann es ein Verdeckungsmord sein. Dies gilt nicht zuletzt bei einem zweizeitigen Tatgeschehen, wenn das Opfer, von dem der Täter abgelassen hatte im Glauben, es sei tot, nun plötzlich zuckt oder Geräusche von sich gibt; es kommt dann zum nochmaligen, „überflüssigen“ Einschlagen oder Einstechen auf das Opfer, dessen Vitalfunktionen bereits zusammengebrochen sind. All dies ist nicht Teil einer sadistischen Inszenierung und nicht Ausdruck einer sadistischen Motivation, sondern ist Teil des (manchmal panisch unterlegten, aber durchaus zweckgerichteten) Versuchs, sich durch ein noch größeres Verbrechen jeglicher Strafe zu entziehen. Der Begriff Sadismus hingegen sollte in foro nicht alltagssprachlich, sondern nur dann verwandt werden, wenn eine entsprechende, zeitlich überdauernde Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie bzw. Perversion) vorliegt. Sadismus ist eine sexuelle Deviation, d. h. ein dauerhaftes und stabiles inneres Gebilde in Form einer abweichenden sexuellen Orientierung an sadomasochistischen Praktiken. Sadismus ist die Ausdrucksform einer auf den anderen gerichteten destruktiven Dynamik, die sich triebhaft äußert und lustvoll entlädt; sie ist mehr oder weniger eng und unmittelbar an Sexualität gebunden; Sadismus ist sexualisierte Destruktivität (Schorsch u. Becker 1977). Destruktiv ist die sadistische Dynamik deshalb, weil sie in dem anderen etwas zu brechen, etwas zu zerstören trachtet, nämlich dessen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung.
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In der ICD-10 (Dilling et al. 1991) ist F65.5 Sadomasochismus wie folgt kodiert: A. Die allgemeinen Kriterien für eine Störung der Sexualpräferenz (F65) müssen erfüllt sein. B. Präferenz für sexuelle Aktivitäten entweder als Passiver (Masochismus) oder als Aktiver (Sadismus) oder beides, bei denen mindestens eines der folgenden Charakteristika vorliegt: 1. Schmerzen, 2. Erniedrigung, 3. Unterwerfung. C. Die sadomasochistische Aktivität ist die wichtigste Quelle sexueller Erregung oder notwendig für sexuelle Befriedigung. Die allgemeinen Kriterien für eine Störung der Sexualpräferenz (F65) sind: (G1.) wiederholt auftretende intensive sexuelle Impulse und Phantasien, die sich auf ungewöhnliche Gegenstände oder Aktivitäten beziehen. (G2.) Handelt entsprechend den Impulsen oder fühlt sich durch sie deutlich beeinträchtigt. (G3.) Diese Präferenz besteht seit mindestens sechs Monaten. Anschaulich beschrieben hat vor allem der amerikanische Psychiater Stoller (1975) den Sadismus, den er als „erotisierten Hass“ bezeichnet hat. Sadismus als sexuelle Perversion ist nach Stoller z sexuell. Er geht einher mit einer bewusst erlebten sexuellen Erregung. Er muss nicht mit fraglos sexuellen Handlungen einhergehen. z Sadismus ist Feindseligkeit – Rache und Zerstörungswunsch. Er ist der als Racheakt erlebte und ausgelebte Wunsch, dem Objekt (Opfer) zu schaden (Destruktivität statt allein Aggressivität). z Sadismus ist Triumph. Bei jeder perversen Handlung, mit anderen oder allein, wird ein Triumph gefeiert. Die nicht misslungene Tat ist in der Rückschau glorreich und grandios. z Perversion ist, glaubt Stoller, ein reinszeniertes Trauma. Ein erlittenes Kindheitstrauma wird in den Triumph eines Erwachsenen verwandelt; ob dies stimmt, ist fraglich. Nur eine Minderheit der Sadisten hatte sexuelle Missbrauchserlebnisse; viele aber hatten langwährende emotionale Missbrauchs- und Deprivationserfahrungen, und eher war es so, dass frühzeitige sexuelle Erregung als einzige Kompensation und Selbstbelohnung erfahren wurde, die dann gekoppelt war mit Hass, Rache- und Zerstörungswünschen. Stoller vertrat die Hypothese, dass eine Perversion ein erneutes Durchleben eines gezielt gegen das eigene Geschlecht (als körperliche Bedingtheit) oder gegen die Geschlechtsidentität (Männlichkeit oder Weiblichkeit) gerichteten, tatsächlich erlebten Traumas ist und dass die Vergangenheit in der perversen Handlung ungeschehen gemacht wird: „Diesmal nun wird das Trauma in Lust, Orgasmus, Sieg verwandelt“ (ebd., S. 29). Möglicherweise wird die kindliche Gewalterfahrung, gerade auch von Jungen, zugleich als Angriff auf die eigene Ge-
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schlechtlichkeit und Geschlechtsidentität erlebt; dann wäre diese Annahme mit den empirischen Daten vereinbar. Es gibt aber auch Täter, die aus Familien mit einer ständigen, gnadenlosen, stählernen Feindseligkeit stammen, in denen es aber keine manifeste Gewaltausübung gab, sondern die äußeren Formen sorgsam gewahrt wurden. Allemal ist er in eine Tat umgesetzte Phantasie – ein im Laufe der Jahre allmählich aufgebautes Abwehrsystem zur Rettung erotischer Lust. Gesucht und immer stärker erreicht wird die perfekte Inszenierung der sadistischen Phantasien. Der Täter bemüht sich im Laufe jahrelangen Versuchens und Irrens, bei der Konstruktion von Phantasiegebilden sicherzustellen, dass er schließlich zu einer Inszenierung – der Perversion des Erwachsenen – gelangt, die perfekt abläuft. Sadismus ist Risiko und Kontrolle des Risikos: Um höchste Erregung auszulösen, muss der perverse Akt ein riskantes Unternehmen sein. Risiko muss sein. Die Angst darf aber nicht überhand nehmen; man darf sich das Risiko nur vorstellen. Sadismus, so Stoller, ist Entmenschlichung der Sexualität. „Eine andere Person auf eine Brust, einen Penis oder einen Stofffetzen reduzieren zu müssen, bevor es einem gelingt, sein Begehren auf sie zu richten, ist sehr traurig – und gefährlich“ (ebd.). Das Bedürfnis nach Wiederholung rührt aus der Unfähigkeit, sich von der zugrunde liegenden Psychodynamik dauerhaft zu befreien. In der Perversion wiederholt man, weil die Taten die Tatursachen beheben, „und weil Rache und Orgasmus eine Wiederholung wert sind. Das ist Grund genug“ (ebd.). Die sexuell devianten Taten werden also aus dem gleichen Grund wiederholt wie die nichtdevianten, normalen: weil sie ihren Lohn in sich tragen, weil Orgasmus stets den Wunsch nach Wiederholung schafft und weil unsere sexuelle Bedürftigkeit mit dem Orgasmus nicht endet.
z Sadistisches Tatbild. Nicht immer, aber bisweilen gelingt es, anhand des Tatbildes auf eine sadistische Perversion zu schließen. Waffen, Knebel, Stricke, Klebeband, Handschellen, Chemikalien, Watte, Transportmittel hat der Erwachsene nicht zufällig dabei. Es sind Tatwerkzeuge. Wer Tatwerkzeuge mitbringt, hat die Tat geplant – im Falle von Sadismus stets hunderte von Malen vorphantasiert. Je mehr Werkzeuge eingesetzt werden, desto nahe liegender ist der Verdacht „Sadismus“. Beweisend wäre dann die sadistische Inszenierung, also das lang hingezogene Tatgeschehen, in dessen Verlauf der Täter das Opfer überwältigt, fesselt, in unterschiedlichsten Formen quält, demütigt, Schmerzen zufügt, sexuell missbraucht, vergewaltigt, mit Fäkalien oder anderen Körperausscheidungen beschmiert, bluten lässt, bis zur Bewusstlosigkeit würgt, dann wieder aufwachen lässt – es gibt die unterschiedlichsten Handlungsmuster. Es eint sie der Wunsch, das Opfer zu quälen und das Leid, die Angst, die Qual des Opfers wahrzunehmen, während man selbst in der Rolle des Allmächtigen ist, der die Situation nach Belieben steuern kann. Es ist dies ein Idealbild vollkommener Situations-
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kontrolle und absoluter Herrschaft über einen Menschen, dem die Realität nur vereinzelt nahe kommt. Es gibt aber auch abortive Tatbilder, die sich aus einer Störung von außen oder einem Abbruch wegen zu hohen Risikos ergeben haben, bei denen sich der Sadismusverdacht nur aus den vom Täter mitgeführten Gegenständen ergibt. Es gibt eine vermutlich größere Anzahl von Sadisten, denen es nicht um das Töten des Opfers geht, sondern um die lang dauernde Inszenierung, aus der das Opfer schließlich nach Stunden oder Tagen, manchmal Wochen entlassen wird. Fälle wie der des Berliner „Sadomaurers“, der unter dem Keller des Siedlungshauses in langer Arbeit einen weiteren Keller mit einer kompletten sadistischen Einrichtung (Gestelle, Ketten, Folterwerkzeuge) gebaut hatte, verdeutlichen durch die Entführung und das wochenlange Gefangenhalten des Opfers als „Sklavin“ das Konzept der totalen Beherrschung des Sexualobjekts. Andererseits aber gibt es auch Täter, die zwar ausgedehnte szenische Phantasien haben, bei denen aber, nach langem „cruising“ und der Verfolgung potenzieller Opfer, der eigentliche Zugriff – wohl limitiert durch Angst – nur recht kurz dauert und sich beispielsweise allein im Niederstechen der Frauen manifestiert, wenn sie gerade die Haustür öffnen. Ein eigentlich sexuelles Tathandeln kann durchaus fehlen; es genügt die Geschlechtlichkeit des Opfers. Bei manchen Tätern werden wir nie eindeutigen Aufschluss über die dahinter stehenden Motive erhalten, wenn sie sich, wie viele Sadisten, entschließen, genau diesen Hintergrund lebenslang zu leugnen. Es gibt auch bei den Menschen mit sadistischer Perversion durchaus unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen (Berner 1997). In der forensischen Begutachtungsperspektive geht das Spektrum sadistischer Täter von sozial sehr kompetenten, aktiven Männern mit erheblicher psychopathischer oder histrionischer Prägung und einem pathologischen Narzissmus über einen Bereich mit überangepassten, weichen, äußerlich unauffälligen Personen bis hin zu massiv schizoid gestörten Persönlichkeiten, die ein ausgeprägtes Defizit in der Wahrnehmung und dem Verständnis sozialer Situationen haben und ein ganz zurückgezogenes, freudloses Einzelgängerdasein leben. Dass eine Tat besonders grausam begangen worden ist, längere Zeit gedauert hat und die besondere Zerstörungswut des Täters ausweist, belegt aber noch keinen überdauernden sexuellen Sadismus. Warnend hat Leygraf (2007) auf Fehldiagnosen – mit der schwerwiegenden Konsequenz unbefristeter Freiheitsentziehung – hingewiesen, bei denen Sadismus allein wegen der besonderen Brutalität der Tatbegehung unterstellt wird. Sexualdelikte sind aber nahezu regelhaft mit dem Einsatz von Macht verbunden, die in Abhängigkeit vom Opfer und der Art des intendierten sexuellen Geschehens struktureller, subtiler oder massiv gewalttätiger Natur sein kann. Nicht im Erzwingen einer sexuellen Handlung liege das Wesen einer sadistischen Störung; entscheidend sei vielmehr, dass der Täter sexuelle Erregung und Befriedigung darin findet, das Opfer zu quälen, zu demütigen und sich an dessen Leiden zu ergötzen. In wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich die Feststellung einer sadistischen Störung als wenig reliabel
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erwiesen (Marshall et al. 2002; Levenson 2004), so dass die Angaben über den Anteil sadistischer Sexualstraftäter eine Spannbreite von 5 bis 80% aufweisen (Marshall et al. 2002). Insbesondere, so Leygraf, sei es unzulässig, aus wenigen Besonderheiten an der Leiche des Opfers auf Sadismus rückzuschließen. So fanden sich z. B. postmortale Verstümmelungen des Körpers bei 50% der sexuell motivierten, aber auch bei 50% der nicht sexuell motivierten Tötungsdelikte (Langevin et al. 1988). Insbesondere ist es irreführend, aus der Anzahl von Messerstichen irgendwelche diagnostischen Schlussfolgerungen zu ziehen: Messerstiche können im Takt von ein bis zwei Sekunden gesetzt werden, 30 binnen einer Minute, das Opfer ist zu dieser Zeit weiter am Leben, der Täter kann noch unsicher sein, ob er das Opfer erfolgreich getötet hat oder erneut zustechen sollte. Natürlich sind viele Messerstiche in der Regel ein Ausdruck von Wut, Erregung, Durchsetzungswillen, die aber im Rahmen eines Tötungsdelikts primär nicht als pathologisch imponieren. Schwierig ist auch die Beurteilung des zerstörten Leichnams: Geht es um eine sadistische, destruktive Bemächtigung des Leibes, speziell des Geschlechtsleibes, und seine Zerstörung, oder geht es um den nichtsadistischen Versuch, die Leiche verschwinden zu lassen, weswegen häufig eine Zerstückelung durchgeführt oder zumindest begonnen wird. Während bei Verdeckungsmorden die Schuldfähigkeit zumindest für diesen Teil des Tatgeschehens in der Regel unbeeinträchtigt ist, verweist die sadistische Perversion nicht selten auf eine schwerwiegende Pathologie der Persönlichkeit, die als „schwere seelische Abartigkeit“ zu fassen ist und bei Vorliegen von Progredienzzeichen, also einer Überforderung von Mechanismen der Selbstkontrolle, eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit konstituieren kann.
2.2.3.4
Sexueller Missbrauch von Kindern
2.2.3.4.1 Gelegenheitstäter und stabil Pädosexuelle Es besteht in der Öffentlichkeit eine hohe Sanktionsbereitschaft gegen Taten, die sich gegen die ungestörte sexuelle Entwicklung und Selbstbestimmung von Kindern richten. Pädosexuelle gelten, empirisch nicht ganz zu Unrecht, als klassische Rückfalltäter. Dies gilt aber allenfalls für Männer, die sexuell primär oder ausschließlich auf Kinder ausgerichtet sind. Tatsächlich wird aber weniger als die Hälfte der sexuellen Übergriffe auf Kinder von stabil pädosexuellen Männern (Pädophilen) begangen. Insbesondere die relativ zahlreichen Übergriffe auf pubertäre, aber noch nicht 14-jährige Mädchen werden ganz überwiegend von so genannten Gelegenheitstätern begangen, die an sich eine stabile heterosexuelle Orientierung haben, aber hier die konstante Nähe zu einem Mädchen (z. B. Tochter der Lebenspartnerin) oder eine sonstige Gelegenheit ausnutzen, um zu sexuellen Erfolgserlebnissen zu kommen. Besteht eine konstante familiäre oder partnerschaftliche Beziehung des Täters zur Mutter des Opfers, wird auch
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von Inzesttätern gesprochen. Bei innerfamiliärem sexuellem Missbrauch ist nicht der leibliche Vater und nicht ein Großvater am häufigsten der Täter, sondern ein guter Bekannter der Familie oder eine vaterähnliche Figur; dies ergibt sich nicht nur aus der Kriminalstatistik, sondern auch aus umfangreichen anonymen Befragungen von Frauen (Wetzels 1997). Diskutiert wurden vermeintlich typische Familienstrukturen (Weinberg 1955), in denen Inzesttaten begangen werden. Genannt wurden promiskuitive Familien, bei denen ständig soziale Regeln übertreten werden und keine klaren Grenzen bestehen, aber auch so genannte endogamische Familien mit hoher Rollenkonfusion, insbesondere hinsichtlich der Generationsgrenzen. Als weiterer Faktor wurde der emotionale Rückzug der Mutter vom Täter genannt. Solche umschriebenen Muster scheinen jedoch seltener zu sein; stärker gefährdet sind aber allemal sozial schwache Familien. Gerade, wenn das betroffene Kind bereits in der Pubertät ist, wird in der Straftat keine Paraphilie sichtbar, sondern eine Bevorzugung des jungen, schlanken, noch attraktiven Körpers. Es können aber auch deutlich jüngere, präpubertäre Kinder, Mädchen und Jungen, Opfer von Gelegenheitstätern werden, die durch das Zusammenleben mühelosen Zugang zu diesem Kind haben. Bisweilen handelt es sich um das Ausweichverhalten von Männern, deren Beziehungen zu erwachsenen Partnern immer wieder scheitern und als unbefriedigend erlebt werden. In anderen Fällen sind die Betreffenden primär kontaktgestört und weichen auf Unterlegene aus, um einer vermuteten Abweisung und Kränkung durch erwachsene Partner zu entgehen (Schorsch 1971). Manche stabil dissozialen Männer mit eher brüchigem Selbstwertgefühl, aber geltungsbedürftigem Auftreten, die sich durch vielfältige Kleinkriminalität auszeichnen, suchen bevorzugt den Kontakt zu sehr jungen Mädchen in und nach der Pubertät; diese können dann 15, aber auch 13 Jahre alt sein. Diese Mädchen sind sexuell zumeist entwickelt und zeichnen sich für den betreffenden Mann dadurch aus, dass sie ihn bewundern, sich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen, und er sich ihnen gegenüber sicher und überlegen fühlen kann. Es handelt sich hierbei nicht um Pädophilie. Wenn diese Täter vor Gericht stehen, haben sie oft keine einschlägigen Vortaten. Sie wurden z. B. auch wegen der Vergewaltigung von Frauen verurteilt, und ihre Straftaten verdeutlichten ein breites Spektrum fehlender sozialer Rücksichtnahme, von Verkehrsdelikten über Diebstahl bis zu Körperverletzung und Raub. Kriminologisch entstammt die sehr kleine Gruppe der Männer, die im Kontext eines sexuellen Übergriffs ein Kind töten (jährlich etwa fünf Fälle), sehr viel häufiger dieser großen Gruppe von bislang nur anderweitig straffälligen Gelegenheitstätern und nicht der Gruppe der stabil Pädosexuellen. Auch die Männer, die Sexualverbrechen an Kindern (überwiegend Mädchen) ohne vorherige Anbahnung im direkten gewaltsamen Übergriff begehen (und nach ihrer Begehensweise kriminalstatistisch überwiegend unter die Vergewaltiger gerechnet werden), die das Kind nicht selten erst noch an einen anderen Ort verbringen, sind weit überwiegend nicht stabil pädo-
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sexuell ausgerichtet, sondern imponieren zumeist durch eine auch sonst sichtbare Gewaltbereitschaft, polytrope Kriminalität und dissoziale Merkmale. Dem Opfer unbekannte Täter, die in dieser unmittelbar gewaltsamen Weise sexuelle Übergriffe begehen, sind mit unter 25% die kleinste, aber gefährlichste Tätergruppe (Elz 2001, 2002). Auch die so genannten „pädophilen Altersdelikte“ (Witter 1972) werden nicht von „Pädophilen“, sondern von Gelegenheitstätern begangen, die sich nun im mittleren oder höheren Lebensalter erstmals an Kindern vergreifen. Ursachen sind neben den bereits genannten selten einmal auch beginnende oder fortgeschrittene alterspsychiatrische Erkrankungen, insbesondere Hirnabbauprozesse. Diese organisch begründbaren Übergriffe sind jedoch rar; bei ihnen müssen sich jeweils weitere, diagnostisch richtungweisende psychopathologische Einbußen feststellen lassen. „Pädophilie“ ist in den einschlägigen diagnostischen Manualen, also ICD-10 (Dilling et al. 1991) und DSM-IV (APA 1996), definiert als eine stabile „Störung der Sexualpräferenz“, nämlich eine sexuelle Präferenz für Kinder in der Vorpubertät oder einem frühen Stadium der Pubertät. Die Manuale zählen deskriptiv und ohne kausale Zuschreibungen verschiedene Kriterien auf. Für die ICD-10-Diagnose einer Pädophilie (F65.4) müssen die allgemeinen Kriterien für eine Störung der Sexualpräferenz erfüllt sein, die Betreffenden müssen mindestens 16 Jahre alt sein und mindestens fünf Jahre älter als die geschädigten Kinder, und es muss eine anhaltende oder dominierende Präferenz für sexuelle Handlungen mit Kindern vor deren Pubertät gegeben sein. Zu den allgemeinen Kriterien einer Störung der Sexualpräferenz gehört, dass diese Neigung seit mindestens sechs Monaten bestehen muss. Die Person muss in dieser Zeit wiederholt wiederkehrende, ungewöhnliche sexuelle Impulse und Phantasien haben und sich dadurch entweder deutlich beeinträchtigt fühlen oder gemäß diesen Impulsen handeln. Es geht also auch um das subjektive Erleben der Betreffenden, nicht allein um das beobachtbare Verhalten. Daneben gibt es, je nach Betrachtungsweise (diagnostisch, prognostisch oder therapeutisch), eine ganze Reihe von Typisierungsversuchen (z. B. Schorsch 1971; Beier 1995; Rehder 1996). Das DSM-IV hat identische Kriterien und erlaubt weitere Unterscheidungen: in einen „ausschließlichen Typ“ (nur auf Kinder orientiert) und einen „nicht ausschließlichen Typ“, der auch im Kontakt zu Erwachsenen Sexualität praktizieren kann, sowie die Unterscheidung, ob die Person auf Jungen, Mädchen oder beide Geschlechter orientiert ist. Es verweist darauf, dass die auf Mädchen orientierten Täter am häufigsten Acht- bis Zehnjährige bevorzugen, die auf Jungen orientierten geringfügig ältere Kinder. Auch kriminologisch scheint es Unterschiede zu geben zwischen Tätern, die konstant auf Jungen ausgerichtet sind, und Tätern mit Mädchen als Opfern. Auf Mädchen orientierte Täter sind vielgestaltig, ihr Tatmuster ist weniger einheitlich, es finden sich unter ihnen etwas häufiger schwere Persönlichkeitsstörungen und sonstige sexuelle Störungen. Die auf Knaben bezogenen Pädosexuellen sind deutlich häufiger lose miteinander vernetzt,
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über gemeinsame Anlaufpunkte (Hallenbäder, Sportstadien, Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser, Wohnheime und andere Einrichtungen für geistig behinderte Kinder, aber auch bestimmte Kneipen etc.) im informellen Austausch über günstige Gelegenheiten und drohende Gefahren. Zudem betreibt ein Teil dieser Männer eine sehr bewusste Publicrelationarbeit zur Etablierung des Gedankens der Unschädlichkeit und Straffreiheit sexueller Kontakte zu Kindern. Aber auch bei diesen Männern gibt es eine kooperative, gemeinschaftliche Tatbegehung eher selten und nicht systematisch. Sexueller Missbrauch ist in Westeuropa (entgegen journalistischen Verschwörungstheorien) kein Gruppendelikt, schon gar nicht ein mafiaartig organisiertes unter Einbeziehung hochrangiger Persönlichkeiten. Solche Strukturen sind weder nötig, um sozial potenten Tätern Übergriffe zu ermöglichen, noch aus Tätersicht sinnvoll, weil sie die Täter einer schrankenlosen Erpressbarkeit überantworten würden. Wenn dann eine Gruppe von geistesschwachen und alkoholkranken Erwachsenen, deren Gemeinsamkeit im Besuch ein und derselben Kneipe besteht, als angebliche Verschwörergemeinschaft präsentiert wird, erhöht das die Plausibilität solcher Konzepte nicht gerade. Tatsächlich sind die miteinander vernetzten „Missbraucherringe“, die ein Münsteraner Psychoanalytiker sich ausgedacht hat, paranoide Hirngespinste, die aber als Anleitung zur gezielten Jagd auf vermeintlich sexuell übergriffige Menschen (sog. „Aufdeckungsarbeit“) fatale Folgen gezeitigt haben, wie der Münsteraner Montessori-Prozess und das Mainzer Verfahren („Wormser Prozesse“) wegen vermeintlichen massenhaften Missbrauchs gezeigt haben (Steller 2000). Sicherlich gibt es Pädosexuelle, die andere Pädosexuelle kennen, sich mit diesen austauschen, manchmal gemeinsam unterwegs sind; es entspricht dies Bekanntschaftsstrukturen bei Dieben und anderen Straftätern, die bisweilen, und in unterschiedlichen Besetzungen, gemeinschaftlich antreten, wenn das sinnvoll ist. Das sind aber ganz sicher keine hierarchischen Strukturen, und schon gar nicht solche, die in sozial stabile Strukturen hineinreichen. Nicht wenige Pädosexuelle machen geltend, sie seien subjektiv auf der Suche nach einer quasi partnerschaftlichen oder pädagogischen Bindung. Die eigene Erlebniswelt ist auf die des Kindes ausgerichtet. Sexuelle Handlungen werden nicht selten als unausweichliche Konsequenz einer angeblich gleichberechtigten Beziehung dargestellt. Tatsächlich lässt bereits die Alltagsbeobachtung die gezielte und bewusste Ausnutzung eines Gefälles an Macht und sozialer Kompetenz erkennen, und es bedarf einer ziemlichen Realitätsverleugnung, um zu bestreiten, dass Körpererleben, Sinnlichkeit und Sexualität präpubertärer Kinder und jene Erwachsener nicht zusammengehen, dass vielmehr das Kind überrollt wird. Wo beschworen wird, wie sehr einem an der „Liebe“ des Kindes gelegen war und wie sehr man selbst es geliebt habe, wird eine ganz narzisstische Lesart von Liebe erkennbar. Dass es um die Bedürfnisse des Kindes gar nicht geht, wird auch darin sichtbar, dass oft sozial besonders schwache, psychisch anfällige, gar geistig behinderte Kinder ausgewählt werden, weil man von deren Angehörigen keine Anzeige und im Notfall von den Kindern eine dürftige Zeugen-
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aussage erhofft. Und die „Liebe“ endet allemal, wenn das Kind aus der Altersspanne hinauswächst, in der es für den Täter sexuell reizvoll ist. Dannecker (2001) weist darauf hin, dass dem Kind beim sexuellen Kontakt mit Erwachsenen das Sexualobjekt aufgedrängt wird; pädosexuellen Männern sei die in ihren Beziehungen fehlende Reziprozität durchaus bewusst: Auch wenn es zu sexuellen Akten kommt, werden sie vom Kind nicht begehrt. Muss man sich von Tätern gedrehte Filmszenen anschauen, erkennt man, wie widerwillig, gequält und genervt die zur Sexualität genötigten Kinder dreinschauen, während der Täter dies nicht im Mindesten zur Kenntnis nimmt. Die Tatbilder gegenüber Kindern umfassen im Grunde alles, was sexuell möglich ist. Dies reicht von der Erregung beim Entkleiden und Anschauen des Kindes, verbunden mit eigener offener oder verdeckter Masturbation, über ein- oder wechselseitigen Oralverkehr bis hin zu analer und vaginaler Penetration mit Fingern, Gegenständen, Penis sowie unterschiedlich starker Gewaltanwendung. Die große Mehrzahl der Delikte wird ohne direkte Gewaltanwendung durchgeführt, viele Delikte an Jungen werden ohne Penetration durchgeführt. Hinzu kommen sexuelle Handlungen vor Kindern, und die Veranlassung von Kindern, an sich selbst sexuelle Handlungen durchzuführen, um sich daran zu erregen oder es technisch aufzuzeichnen. Die Vorgeschichte pädosexueller Männer ist deutlich weniger durch initiale soziale Handicaps belastet als die sonstiger Strafgefangener; Brokenhome-Situationen sind deutlich seltener, die meisten schaffen einen schulischen Abschluss, viele haben primär eine Berufsausbildung. Die Erfahrung eigenen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit scheint bei ihnen nicht häufiger vorzukommen als in der Allgemeinbevölkerung; davon abweichende Daten wie bei Bourke und Donohue (1996) konnten nie reproduziert werden. In der Verlaufsstudie von Salter et al. (2003) waren 26 (11,6%) von 224 in der Kindheit missbrauchten Jungen im Verlauf von durchschnittlich zehn Jahren selbst mit sexuellen Übergriffen auffällig geworden, sieben (3%) waren deswegen abgeurteilt worden. Bei 17 der 26 waren die eigenen Taten Kindesmissbrauch. Die Taten hatten sie ganz überwiegend als Jugendliche begangen, nur ein Drittel war bei der ersten eigenen Tat älter als 16 Jahre. Die Daten der Londoner Studie stützen laut Salter et al. die Annahme, dass das Erleben von sexuellem Missbrauch nicht zu Pädophilie führt, dass aber die sozialen Rahmenbedingungen, die das Risiko erhöhten, Opfer zu werden, zugleich das Risiko erhöhen, bereits als Jugendlicher kriminell zu werden, auch mit Sexualdelikten. In einem eigenen Gutachtenkollektiv (Wendt u. Kröber 2005) war die Rate der Vorerfahrungen mit sexuellem Missbrauch nicht erhöht; jeder Vierte berichtete jedoch miterlebte oder selbsterlebte Gewalt in der Kindheit; häufiger wurde die Familienatmosphäre als feindselig beschrieben. Die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie lieferten keine regelhafte Erklärung für die Entwicklung zu Devianz und Delinquenz. Bis in die Adoleszenz blieb die Biografie überwiegend äußerlich unauffällig. Die Probanden gaben in ihrer Sexualanamnese den Beginn erster Sexualkontakte durchschnittlich um das 16. Lebens-
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jahr an; wiederholt wurde aber auch, in idealisierender Form, von pubertären Verliebtheiten und Doktorspielen berichtet. Bis zum 20. Lebensjahr hatten alle ihre pädophilen Neigungen bemerkt. Dennoch versuchte die Hälfte der Probanden zumindest zeitweilig, ihr Leben in anderen Partnerschaften zu organisieren. Bei einigen bestanden Partnerschaften oder Sexualkontakte zu Erwachsenen zeitlich parallel zum pädophilen Handeln. Die Versuche, sich in einer Partnerschaft zu etablieren, auch zu heiraten, lassen sich nicht pauschal als bewusste Camouflage werten. Sie stellen bei vielen eher den Versuch dar, doch noch irgendwie dem anerzogenen Normgefüge und den sozialen Erwartungen zu entsprechen. Erste Straftaten werden von vielen Pädosexuellen im Alter von 18 bis 20 Jahren begangen. Zumindest in Begutachtungskollektiven überwiegen die Probanden, die bereits eine ganze Reihe von Malen verurteilt worden sind und bereits mehrere Haftstrafen, oft im Bereich zwischen zwei und vier Jahren, verbüßt haben. In aller Regel geht es um viele Einzeltaten an oft recht vielen Kindern; nicht selten scharen Pädosexuelle Gruppen von vier bis acht Kindern um sich, mit denen sie Kontakt pflegen, die bei ihnen ein und aus gehen, trinken, rauchen, fernsehen dürfen; mit einem oder zweien dieser Kinder kommt es dann jeweils zum sexuellen Kontakt, so dass sich bei den anderen Kindern der Eindruck aufdrängt, dass man meistens Glück hat und die eklige Gegenleistung nicht erbringen muss. Nicht ganz selten sind aber einzelne Kinder in der Rolle des Favoriten, der besonders verwöhnt wird, in den der Täter verliebt ist, dem er sich besonders intensiv widmet, ohne aber auf sexuelle Kontakte mit anderen Kindern, so sie möglich werden, zu verzichten. Dass manche Täter in bestimmte Kinder verliebt sind, muss man ihnen nicht bestreiten, mindert aber ja wohl nicht ihre Verantwortung und rechtfertigt nicht ihre sexuellen Handlungen. Liebe zu Kindern verschafft kein Anrecht auf Sex. Eine Minderheit im Bereich um 20% der Pädosexuellen wird auch mit anderen Delikten straffällig, vor allem mit Eigentumsdelikten, sodann Verkehrsvergehen; die Quote der Gewalttäter unter Pädosexuellen liegt in Begutachtungskollektiven (in denen sie überrepräsentiert sind) unter 10%. In sehr vielen Fällen verläuft die Kontaktaufnahme wie auch die schließliche Tatdurchführung ohne direkte Gewaltanwendung. Die Kinder werden angesprochen, mit Versprechen gelockt, bei ihrer Hilfsbereitschaft gepackt und schließlich in eine Lage gebracht, in der sie sich dem Übergriff nicht entziehen können, z. B. durch Übernachtung beim Täter, wo sie kaum bekleidet mitten in der Nacht kaum weglaufen können – wenn nicht ohnehin die Türen abgeschlossen sind. Typische Orte der Ansprache sind Spielwarenabteilungen, Sportplätze, Schwimmbäder, Spielplätze, die Umgebungen von Kinderheimen und Schulen. Manche finden bereits durch ihren Beruf Kontakt (als Sozialarbeiter, Erzieher, Familienhelfer), andere lernen die Kinder im Rahmen einer Vereinsarbeit kennen (z. B. in der Gemeinde, Sportverein oder beim Jugendbund). Gerade erfahrene Täter, die sich auf sozial schwache oder geistig behinderte Kinder konzentrieren, pflegen nicht ganz selten den Kontakt mit den Müttern ihrer Opfer, die ihr Kind dann gern für Stun-
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den oder Tage dem so fürsorglich wirkenden Mann überlassen. Nicht wenige Pädosexuelle dokumentierten ihre Handlungen mit den Kindern auf Video oder auf Fotos, zumeist mit der Absicht, die sexuellen Erlebnisse masturbatorisch wiederholen zu können, teilweise auch mit dem Ziel der materiellen Verwertung (überwiegend Tausch, aber manchmal auch Verkauf). „Wachstumstabellen“ und „Statistiken“ waren bei einigen in die Anbahnung und die eigentliche sexuelle Interaktion eingebunden, ebenso „Spiele“ wie „Strippoker“ oder „Mutproben“. Sehr viele Pädosexuelle bleiben bei ihrer jeweils erprobten Strategie; auch in den durchgeführten sexuellen Handlungen gibt es eine hohe Konstanz, nur sehr wenige zeigen hier eine hohe Variabilität oder Veränderungstendenzen. In einer neueren Studie haben amerikanische Autoren (Miethe et al. 2006) darauf hingewiesen, dass die Spezialisierung und Deliktpersistenz bei Sexualstraftätern überschätzt werde; allerdings kamen sie zu diesem Ergebnis bei der Auswertung von 10 000 Datensätzen, bei denen 70% der Kindesmissbraucher und auch der Vergewaltiger nur ein einziges Sexualdelikt begangen hatten, also ganz überwiegend Gelegenheitstäter waren. Unter den Sexualstraftätern hatten die Pädophilen die stärkste Tendenz zu einem stereotypen Vorgehen. Das „Progredienz“-Phänomen (im Sinne von Giese 1962 a; Schorsch 1988; s. Abschn. 2.2.3.2) ist das Gegenteil von stereotypem Verhalten und liegt praktisch nie vor. Es gibt bei Pädosexuellen, wenn sie erstmal ihren Stil gefunden haben, fast nie eine Steigerung im Umfang und Gehalt der sexuellen Handlungen, auch keine nachlassende Satisfaktion, und die Schwankungen in der Frequenz sind in aller Regel auf äußere Faktoren rückführbar. Dass viele Pädosexuelle sozusagen ihren Tag mit der Kontaktsuche zu Kindern verbringen, ist Ausdruck einer konstant bleibenden sozialen Stilbildung und nicht Indikator einer ständigen innerpsychischen Zunahme der Bedeutsamkeit sexuellen Erlebens. Insofern ist auch prognostisch nur dann eine Eskalation zu befürchten, wenn die bisherigen Taten als abortiv imponieren, offenbar nicht wie geplant ausgeführt wurden und bereits deutlich Elemente direkter Gewalt enthalten (z. B. Bedrohung mit einer Waffe oder punktueller Einsatz von Schlägen). Zur Prognose siehe auch Band 3 dieses Handbuchs (Kröber 2006). Die überwiegende Mehrzahl der psychiatrisch begutachteten Pädosexuellen erfüllte nicht die Eingangskriterien einer Persönlichkeitsstörung oder einer psychiatrischen Erkrankung. Häufig jedoch gab es akzentuierte Persönlichkeiten mit geltungsbedürftig-histrionischen sowie mit dissozialen Zügen. Gehemmte beziehungsweise selbstunsichere Persönlichkeitsstile, wie sie oft in ambulanten Stichproben gefunden werden, sehen wir gutachterlich nur selten. Tatsächlich sind die „kontaktarmen, retardierten Jugendlichen“ (Schorsch 1971) wie auch die „neurotischen“ erwachsenen Täter von Witter (1972) überwiegend wohl keine Pädophilen, sondern Gelegenheitstäter, die infolge von Insuffizienzgefühlen und Unsicherheiten erwachsenen Frauen gegenüber auf Kinder ausweichen. Bisweilen dürfte es sich aber auch um Pädophile handeln, die sich allein in der Situation der aku-
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ten Strafverfolgung und Begutachtung besonders verunsichert, scheu und ängstlich präsentieren, sich aber in Freiheit durchaus kompetent zu bewegen wissen. Die Kombination mit anderen Paraphilien, z. B. Sadismus, ist sehr selten, kommt aber vor.
2.2.3.4.2 Intakte Verhaltenskontrolle, hohe, aber nicht rasche Rückfälligkeit Bei den so genannten Gelegenheitstätern ist die Rückfälligkeit mit Sexualdelikten gering; diejenigen, die innerfamiliär die pubertierende Tochter der Lebensgefährtin sexuell missbraucht haben, werden, wenn sie bestraft werden, nur in 10% der Fälle mit neuen Delikten rückfällig. Ansonsten hängt die Rückfälligkeit von der allgemeinen Dissozialität und Deliktbereitschaft der Gelegenheitstäter ab (Elz 2001, 2002). Deutlich anders ist die Situation bei stabilen Pädosexuellen, also echten Pädophilen. Diese Täter werden im Durchschnitt weniger schnell rückfällig als andere Wiederholungstäter. Sie schaffen es in der Regel recht gut, Bewährungszeiten ohne erneute Straftat zu überstehen; bei nicht wenigen vergehen sogar fünf und mehr Jahre bis zum nächsten Rückfall. Die Intensität des sexuellen Begehrens und der Stellenwert erlebter Sexualität ändern sich bekanntlich im Lebensverlauf, unter anderem in dem Maße, in dem andere Bereiche in Partnerschaft und Umwelt erschlossen werden können oder an Wichtigkeit für die persönliche Zufriedenheit gewinnen. Katamnestische Untersuchungen (Hanson et al. 1993; Beier 1995; Greenberg 1988), insbesondere die Rückfallstudie der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden (Egg 1998; Elz 2001, 2002) verdeutlichten aber, gerade im Bereich des strafrechtlich weniger schwerwiegenden sexuellen Kindesmissbrauchs (Fälle ohne körperliche Gewalt), eine einschlägige Rückfälligkeit der Untersuchten bis ins hohe Alter. Die Langzeitprognose ist also bei stabil Pädosexuellen schlecht, die meisten werden irgendwann wieder rückfällig, wenn auch nur selten eine Steigerung in der Art und Intensität der begangenen Taten eintritt. Mitunter wird gleich nach Ablauf der Strafe umgehend wieder der Kontakt zur kindlichen Erlebniswelt gesucht, manchmal in sehr offensiver Weise, z. B. als Aushilfstrainer oder als Streetworker; die meisten werden aber in der Bewährungszeit noch nicht rückfällig. Mit zunehmender Sanktionserfahrung ist ein vorsichtigerer Umgang mit den Risiken und den Folgen für die eigene Person erkennbar. Mit der Zahl der einbezogenen Kinder wächst jedoch das Risiko aufzufallen, und als Vorbestrafter gerät man leichter ins Visier der Ermittler. Eigentlich wäre zu erwarten, dass ältere Pädosexuelle seltener verurteilt werden. Die Lebenssituation von 22 älteren pädosexuellen Gutachtenprobanden (Wendt u. Kröber 2005) war im mittleren und höheren Lebensalter durch Vereinsamung, eine weitere Abnahme sozialer Beziehungen zu Erwachsenen und einen sozialen Abwärtstrend bestimmt. Dadurch bedingt wuchs die Bedeutung des sexuellen Erlebens, das als vermeintlich einzige Quelle für Befriedigung und Selbstwert übrig blieb. Seine Bedeutung konn-
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te kaum durch andere Erfahrungsbereiche (für die sich Verzicht gelohnt hätte) eingeschränkt werden. Bei den älteren Pädophilen fand sich zudem häufig die Tendenz, einzelne längere und individuelle Bindungen durch viele anonyme Kontakte zu ersetzen, womit auch das Risiko einer Strafanzeige beziehungsweise einer erneuten Verurteilung wuchs. Es gab im mittleren und höheren Lebensalter keine Abnahme der Delinquenz, vielleicht aber auch nur eine scheinbare Zunahme durch häufigere Überführung als Täter. Wie in Abschnitt 2.2.3.1 ausgeführt, wird der wiederholte sexuelle Übergriff auf Kinder, dessen Hintergrund eine pädosexuelle Objektwahl ist, nicht per se als „schwere andere seelische Abartigkeit“ gewertet; allein die normabweichende Ausrichtung auf ein ungewöhnliches Sexualziel konstituiert auch keine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit. Tatsächlich stellen gerade pädosexuelle Menschen immer wieder unter Beweis, dass sie recht gut imstande sind, Risiken abzuwägen und jahrelang deliktfrei zu leben, wenn sie unter besonderer Beobachtung stehen, z. B. eine Bewährungsstrafe erhalten haben oder eine Strafrestaussetzung zur Bewährung. Die große Mehrheit der Betroffenen ist imstande, dann drei Jahre oder länger auf sexuelle Kontakte zu Kindern zu verzichten; die Rückfälligkeit tritt ein, wenn der Verfolgungsdruck nachlässt und der Glaube wieder zunimmt, die jetzigen Handlungen könnten ohne strafrechtliche Nachwirkungen bleiben.
2.2.3.5 Abnorme sexuelle Gewohnheiten, insbesondere Exhibitionismus Hauptmerkmale einer Paraphilie sind nach DSM-IV (APA 1996) „wiederkehrende, intensive, sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sich im Allgemeinen 1. auf nichtmenschliche Objekte, 2. auf das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder seines Partners oder 3. auf Kinder oder andere nicht einwilligungsfähige Personen beziehen und die über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten auftreten (Kriterium A). Dies kann episodisch oder durchgängig der Fall sein. Das Verhalten, die sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Phantasien führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (Kriterium B).“ Neben den bereits erörterten Sachverhalten der Pädophilie und des Sadismus können dies weitere, ungewöhnliche Begierden oder Praktiken sein, wie Voyeurismus, Fetischismus, Transvestitismus, Nekrophilie, sexueller Kannibalismus. Ein nekrophiler Täter, der nachts auf einem Friedhof Särge frisch Beerdigter ausgräbt oder in Leichenhallen eindringt, um beim Betasten der toten Körper zu onanieren, ist eine Rarität (Ehrlich et al. 2000; Rothschild 2004); generalisierende Aussagen über alle sexuell Nekrophilen oder auch sexuelle Kannibalen sind daher weder möglich noch erforderlich. Sie finden sich vor allem in rechtsmedizinischen Berichten, ebenso jene Menschen, die durch ungewöhnliche Praktiken wie Selbststrangulation beim Masturbieren zu Tode kommen
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oder sich schwer verletzen. Wohl aber finden sich typische kriminologische und psychiatrische Muster bei sexuellen Massendelikten wie dem Exhibitionismus. Bedacht werden muss bei den Paraphilien stets, dass mit ein und demselben Begriff zumeist zwei recht verschiedene Aspekte benannt werden: Exhibitionismus ist einerseits ein strafrechtlich sanktioniertes, delinquentes Verhalten (§§ 176 Abs. 4 Nr. 1, 183, 183 a StGB) von Männern und ergibt sich aus dem strafrechtlichen Verbot. Es ist andererseits eine psychosexuelle Störung oder zumindest eine abnorme Gewohnheit, ein bei Männern ungewöhnliches und erklärungsbedürftiges Verhalten. Exhibitionismus wird in der ICD-10 (Dilling et al. 1991) unter den „F65 Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien)“ geführt als Diagnose F65.2 „Exhibitionismus“. Es bestehe die wiederholte Neigung, die eigenen Genitalien vor meist gegengeschlechtlichen Fremden (heranwachsenden oder erwachsenen Frauen) in der Öffentlichkeit zu entblößen, ohne näheren Kontakt zu wünschen. Meist sei der Täter erregt und oft masturbiere er. Wenn das Opfer erschreckt oder beeindruckt sei, erhöhe dies häufig die Erregung. Die Neigung könne in emotionalen Belastungs- und Krisensituationen manifest werden. Bei manchen sei Exhibieren die einzige sexuelle Betätigung, andere hätten daneben ein aktives erwachsenes Sexualleben. Die meisten Exhibitionisten würden ihren Drang als schwer kontrollierbar und persönlichkeitsfremd erleben. Ganz ähnlich ist die Operationalisierung des Exhibitionismus (302.4) im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSMIV-TR (Saß et al. 2003). Aus der polizeilichen Kriminalstatistik ergibt sich, dass es sich beim Exhibitionismus mit jährlich etwa 9000 Tatverdächtigen in Deutschland um ein quantitativ recht stabiles Delikt handelt mit vielleicht sinkender Anzeigebereitschaft; etwa einer von 8000 geschlechtsreifen Männern tritt jährlich exhibitionistisch in Erscheinung (im Jahr 2004, zum Vergleich: ca. 15 000 Tatverdächtige wegen sexuellen Missbrauchs, ca. 15 000 wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung; Bundeskriminalamt 2005). Hierbei sind nur jene gezählt, die nicht vor Kindern exhibieren, weil dies als sexuelles Missbrauchsdelikt verbucht wird; die Zahl der tatverdächtigen Exhibitionisten vor Kindern (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB) liegt bei fünf- bis sechstausend. Von allen 6625 Verurteilungen wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den alten Bundesländern und Gesamtberlin im Jahr 2000 (Statistisches Bundesamt 2001) entfielen 1242 (18,7%) auf Exhibitionismus gemäß §§ 176, 183 und 183 a; die Dunkelzimmer wird auf eins zu acht geschätzt (Göppinger et al. 1997). Nur 85 wurden nach Jugendstrafrecht verurteilt, die ganz große Mehrheit war also erwachsen. 53% der Exhibierer vor Kindern und 80% der nach §§ 183, 183 a StGB Verurteilten wurden mit einer Geldstrafe bedacht. 48% der Exhibitionisten waren früher schon bestraft worden wegen irgendeines Delikts, dies traf auf 45% der sonstigen Sexualstraftäter zu. Delikte nach § 183 StGB rechtfertigen mangels Erheblichkeit nicht die Anordnung der psychiatrischen Maßregel gemäß § 63 StGB (Laubenthal 2000). Bei einer Stichtagerhebung in niedersächsischen Maßregelvollzug waren
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gleichwohl 2,5% der Patienten wegen exhibitionistischer Delikte untergebracht (Pozsar et al. 1999). Tatsächlich finden sich auch heute noch vereinzelt Untergebrachte im Maßregelvollzug, die als schwerstes Delikt mehrfach vor Kindern exhibiert haben; begründet wird dies zumeist mit wissenschaftlich nicht begründbaren Befürchtungen künftiger Intensitätssteigerung, die ihrerseits aber nicht pauschal mit „Progredienz“ gleichzusetzen ist. z Psychiatrische Theorien. Der Begriff „Exhibitionist“ wurde von Lasègue (1877) geprägt. Die Taten würden in sehr monotoner Weise begangen, die Täter seien aber ansonsten keineswegs anrüchig oder aggressiv, sondern scheu und schamhaft. Die Tat sei Folge eines überwältigenden Dranges, der ohne eigentliche Befriedigung bleibe. Krafft-Ebing (1886) verwies darauf, dass Exhibitionisten, die sich vor Kindern entblößen, häufig keinen Unterschied zwischen Knaben und Mädchen machen, was dafür spreche, dass „der Reiz der Unschuld hierbei eine Rolle spielt“. Exhibitionismus wurde von Anfang an als sexuelle Deviation von Männern betrachtet. Hoche (1909) verwies darauf, dass aber das weibliche Geschlecht immer schon in bestimmtem Umfang Entblößungen des Körpers vollzogen habe, ohne dass man daran Anstoß nehme. Anders bei Männern: „Der nackte männliche Körper hat für das unverdorbene Weib nicht den Reiz, den der weibliche Körper auf den Mann ausübt“ (ebd., S. 525). Giese (1962 a) verwies darauf, dass das phallische Analogon bei der Frau die Brüste seien, und dass es vielfältige, ganz überwiegend kulturell integrierte Formen des Exhibierens der Brüste gebe. Bereits Hoche unterschied anhand einer Sammlung von 86 Fällen unterschiedliche Gruppen von Exhibitionisten: sexuell unerfahrene jugendliche Exhibitionisten, bei denen es eine ungeschickte Form der Kontaktaufnahme sei, alte Onanisten, für die das Erschrecken der weiblichen Zeugen und die Spekulation auf das Auftreten sexueller Empfindungen beim Gegenüber den Reiz darstelle, und schließlich Hirnorganiker, Alkoholiker und geistig Behinderte (die ja damals wesentlich zahlreicher waren). Sexuelle Angriffe würden damit höchstens in der Form verbunden, dass der Täter Kinder einlädt, die Genitalien zu besehen oder zu berühren; abschließende Onanie, auch vor Zeugen, komme vor. Eine Untersuchung an 70 Exhibitionisten veröffentlichte Staehelin (1926). Auch er legte Wert auf die diagnostische Differenzierung und beschrieb, dass Persönlichkeitsgestörte den größten Anteil der Exhibitionisten stellen (in seinem Kollektiv mit 31 fast die Hälfte). Er unterschied typische Exhibitionisten, infantile, ängstliche, unbeholfene, schlaff-passive, überenergische und eitel-selbstgefällige Exhibitionisten sowie drei Masochisten und einen Sadisten. Unter seinen Fällen waren aber auch 21 Schwachsinnige, zehn Schizophrene, zwei Alkoholiker, vier organisch Demente und zwei Epileptiker. Lauber (1958) beschrieb 14 Frontalhirntraumatiker, die dann exhibierten; Lauber nahm an, dass es durch die so lokalisierten Hirnverletzungen zu Enthemmungsphänomenen und zur Freisetzung atavistischer Verhaltensmuster komme.
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Für Giese (1962 b) war Exhibitionismus gekennzeichnet durch 1. Demonstration des eigenen Geschlechtskörpers in der Öffentlichkeit, 2. Gesehenwerden und 3. Verzicht auf persönliche Beziehung. Die Demonstration sei aber kein solipsistischer Akt, sondern erzwungene Partnerschaft, der Exhibitionist (die Exhibitionistin) dränge sich dem anonymen Partner auf und erreiche so das Gefühl von Macht und Überlegenheit. Er stelle „gewaltsam“ Partnerschaft her durch Erblicken und Erblicktwerden. Der Blick des Täters sei, mit der Formulierung von Sartre, der Versuch, „der Freiheit des anderen die Stirn zu bieten“ (die Stirn ist es aber nun gerade nicht, d. Verf.). Dass der Tat eine „dranghafte Unruhe“ vorangehe, sei nicht typisch allein für Exhibitionismus, sondern für alle Perversionen (Giese 1962 a). Man muss allerdings ergänzen, dass auch vielen nichtdevianten sexuellen Verhaltensweisen eine dranghafte Unruhe vorangeht. Witter (1970) sah den Delinquenzbeginn bei „typischen“ Exhibitionisten meist kurz nach der Pubertät und ein Abflauen im vierten Lebensjahrzehnt. „Schwäche und Selbstunsicherheit dominieren auch bei diesen abnormen Persönlichkeiten, allerdings nicht als Abbauerscheinung, sondern als vorgegebene Wesensart“ (ebd., S. 127). Allerdings gebe es Exhibitionismus bei Jugendlichen auch als harmlose Erscheinung pubertärer Neugierde und Triebunsicherheit. In seinem Handbuchbeitrag bezeichnete Witter (1972) die Exhibitionisten als „ausgesprochen monotrope Sexualdelinquenten mit einer hohen Rückfallquote, aber ohne Tendenzen zu sonstiger Kriminalität“ (ebd., S. 1064). Zwar seien Schlüsselerlebnisse verständlich, „das exhibitionistische Begehren an sich“ könne dadurch aber kaum befriedigend gedeutet werden. Wesentliche Übersichtsarbeiten im Laufe der Jahrzehnte sind die von Karpman (1926), Kolle (1932 a) Blair und Lanyon (1981), Mester (1984), Görgen (2003), Kröber (2004 a) und die Habilitationsschriften von Cabanis (1966) sowie Wille (1968). Eine systematische Fallsammlung zur Erörterung von Strafwürdigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bietet die juristische Dissertation von Sander (1996). Bevorzugtes Manifestationsalter war nach den Polizeidaten von Cabanis (1966) bei 959 Verdächtigen die Jugend und das junge Erwachsenenalter: 20% waren unter 20 Jahre alt, kumulativ zwei Drittel jünger als 35 Jahre. Nur 9% waren älter als 50 Jahre. Arbeiter und Unqualifizierte waren mit einem Anteil von über 83% deutlich überrepräsentiert. Bei Jehle und Hohmann-Fricke (2004) lag der Altersschwerpunkt der Exhibitionisten (Grundlage war ein Verurteilungsjahrgang mit 5880 Sexualstraftätern) bei den 25bis 35-Jährigen. Eine Vielzahl von Autoren berichtet, dass die Exhibitionisten ihrer Untersuchungskollektive weit überwiegend verheiratet waren (Kolle 1932 b; Petri 1969; Rooth 1973; Mester 1984). Die Ehefrauen würden aber zumeist als sexuell sehr gehemmt, zurückhaltend und abweisend empfunden, sodass der Mann sich hinsichtlich seiner sexuellen Wünsche oft zurückgestoßen, sprachlos gemacht und als abnorm hingestellt sehe. Häufig bleibe ein Gefühl der Erniedrigung und der reaktiven Aggression gegenüber der als
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überlegen erlebten Frau zurück (Bräutigam 1977). Die meisten Exhibitionisten, so Mester (1984), erleben beim Akt einen Orgasmus; die Erregung währenddessen sei für diese Männer viel stärker als beim ehelichen Beischlaf. Beeindruckend seien die geringen Anstrengungen, hinsichtlich Strafverfolgung unerkannt zu bleiben. Für viele sei es offenbar besonders anziehend, sich besonderer Gefahr auszusetzen. Viele zeigten keine enge Konstanz hinsichtlich des Opferalters; ausschließlich erwachsene Frauen als Adressaten wählten 58% der Täter bei Schorsch (1971), 38% der Täter bei Mester. Fast nie mussten sich die Opfer durch besondere physische Merkmale auszeichnen. Exhibieren vor erwachsenen Männern ist offenbar eine Rarität, die Exhibitionisten vor Kindern taten dies nicht selten vor Kindern beiderlei Geschlechts und vor mehreren Kindern gleichzeitig. Schorsch (1971) unterschied anhand eines großen, aber eben auch selektierten Fallmaterials drei Gruppen: „Typische Exhibitionisten“ des mittleren Lebensalters seien sozial gut integriert, oft verheiratet, wenig eigenständig und durchsetzungsfähig. Die Taten wirkten wie ein Ausbruch aus einem Leben voller Kränkung, Unterlegenheit und Schwäche in vermeintliche Stärke. „Jugendliche Exhibitionisten“ zeichneten sich durch Einzelgängertum und Scheu aus, waren sexuelle Spätentwickler und unerfahren. Exhibieren sei bei ihnen keine stabile Deviation, sondern ein hilfloses Kontaktangebot beziehungsweise eine verdeckt aggressive „Flucht nach vorn“. Bei der dritten Gruppe „instabiler“, sozial wenig integrierter Exhibitionisten fehle oft das spannungsgeladene Vorfeld dranghaften Erlebens. Vereinsamung, Beziehungsleere und auch Alkoholmissbrauch seien wesentliche Faktoren, die Taten seien häufiger aggressiv gefärbt. Beier (1995) unterschied in Anlehnung an Schorsch drei „Tätertypen“: „Typische Exhibitionisten“ stammen danach aus geordneten, sozial integrierten Familien ohne erkennbare Auffälligkeiten. Sie waren als Kind angepasst, eher zurückgezogen und isoliert, in ihrer sozialen und beruflichen Entwicklung unscheinbar und unauffällig. Der Beginn des manifest exhibitionistischen Verhaltens lag häufig erst in der dritten Lebensdekade. „Atypische Exhibitionisten“ im Sinne von Beier unterscheiden sich nicht im Tatmuster, stammen aber aus sozial ungünstigem Milieu und hatten oft schon früh eine Außenseiterposition. Zum Teil seien sie durch auffallende Körpermängel und durch hirnorganisch bedingte Defizite, posttraumatischer oder alkoholischer Genese, belastet gewesen. Bei ihnen bestand häufig zusätzlich Dissozialität. Schließlich grenzte Beier „pädophil-orientierte Exhibitionisten“ als Sondergruppe ab allein anhand des Tatmerkmals, dass (überwiegend) Kinder als Opfer gewählt wurden. Die Ergebnisse zum Verlauf waren nach dieser Aufteilung nicht erstaunlich: Bei den sozial gut integrierten Tätern (50% Rückfällige) und den diesen weitgehend vergleichbaren, sich aber vor Kindern zeigenden (pädophilorientierten) Exhibitionisten (33% Rückfällige) war das Exhibieren weitgehend auf eine mittlere Lebensphase beschränkt. Bei den sozial randständigen, zum Teil desintegrierten Exhibitionisten hingegen wurden 66% erneut sexuell straffällig. Die sozial integrierten Exhibitionisten lebten zum Katamnesezeitpunkt sig-
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nifikant häufiger in der ehemaligen Beziehung oder hatten eine neue Partnerin gefunden. Nach einer Untersuchung aus Cambridge in den 50er Jahren (Radzinowicz 1957) betrug die Rückfallrate in vier Jahren 18,6%; 40% der Rückfälle ereigneten sich im ersten Jahr nach der Indextat. Ab dem Alter von 40 würden die Taten seltener (Rooth 1971). Aktuellere angelsächsische Daten finden sich bei Furby et al. (1989). Immer noch lehrreich ist die kasuistische Studie von Villinger (1937) über zwei intelligente, gesunde Probanden, die über eine gute Allgemeinbildung, über die Fähigkeit der Selbstbeobachtung und der Darstellung ihrer Erlebnisse verfügten. Auch Villinger verwies darauf, dass Exhibieren nicht selten bei psychisch Kranken auftrete, wesentlich häufiger aber bei Persönlichkeitsgestörten. Zur Rückfälligkeit der Exhibitionisten stellt Villinger fest, dass Rückfälle „überaus häufig sind, selbst da, wo sich ein normales Geschlechtsleben, etwa in der Ehe, nebenher entwickelt. Das ist leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass die Konstitution ja dieselbe bleibt und dass die Erinnerung an eine geglückte Form der Erreichung des Orgasmus eine – bewusste oder unbewusste – Tendenz zur Wiederholung hinterlässt“ (ebd., S. 273). Just das ist das Geheimnis des „Wiederholungszwangs“ bei ganz normaler wie auch devianter Sexualität. Im ersten Fall Villingers war der Proband der festen Überzeugung, durch seine Entblößung und onanistische Manipulationen bei Frauen sexuelle Erregung hervorzurufen; wenn die Frauen sich aufregten, sei seine Erregung noch stärker geworden. Das Anschauen weiblicher Genitalien habe ihn hochgradig erregt, und er habe im Umkehrschluss gedacht, das müsse dann bei Frauen auch so sein. Villinger beschreibt ihn als Menschen mit einer schizoid-selbstunsicheren, sensitiv-infantilen Persönlichkeit, bei dem die früh und stark anspringende Sexualentwicklung in seltsamem Gegensatz stand zur körperlichen und sozialen Kindlichkeit. Villinger vermutete, dass sich hier das Exhibieren als Steigerungsform des intensiven Masturbierens entwickelte. „Ist der Orgasmus tatsächlich einmal auf diese Weise erreicht und intensiv erlebt worden, so übertrifft er den durch Onanie erzielten an Lustgewinn um ein Vielfaches und wird infolgedessen mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit immer wieder angestrebt. So kommt es dann zum Exhibitionismus“ (ebd., S. 275). Der zweite Fall war ein NS-Studentenführer, intelligent, sozial wendig, von sicherem Auftreten, sexuell aktiv, verlobt, der als Schlüsselerlebnis schilderte, dass er in das beleuchtete Zimmer einer Studentin hineinsehen konnte und diese in seins. Als sie ihn einmal beim Umziehen gesehen habe, habe er eine starke sexuelle Erregung verspürt, sich entblößt und der jungen Frau zugewandt. Er habe ihr gegenüber von seinem Zimmer aus dann noch öfter exhibiert, später aber auch gegenüber fremden Frauen im Freibad und auf Straßen. Speziell hatte er es auf Hausangestellte und Küchenmädchen abgesehen, von denen er erhoffte, dass da „etwas zu machen sei“ und dass die Frauen sich angesprochen fühlen und zu intensiverem Kontakt bereit sein könnten. Villinger hatte keine Zweifel an der Schuldfähigkeit: „Vielmehr steht hier der Vertreter einer großen, wohl der größten Exhibitionistengruppe vor uns, die
2.2 Sexualdelinquenz
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gekennzeichnet ist durch ihre geistige ,Normalität‘, wennschon bestimmte Wesenszüge ihr ein besonderes Gepräge geben.“ Es gehe um den Lustgewinn des Exhibierens bei besonderem Reizhunger und Abwechslungsbedürfnis – heute würde man vielleicht von „sensation seeking“ sprechen (Möller et al. 1998). „Die Exhibition steht in der Mitte zwischen Onanie und normalem Geschlechtsakt, insofern sie nicht objektlos und nicht risikolos ist wie jene, sondern das Sexualobjekt wenigstens leibhaftig vor sich sieht, ferner insofern sie den Kitzel der Gefahr bis zu einem gewissen Grade mit diesem teilt, aber doch nicht den vollen Einsatz fordert, endlich indem sie die normale wechselseitige Erregung anstrebt, aber auf einem Nebenwege, und sich mit bloß vorgestelltem Erfolg begnügt“ (Villinger 1937, S. 285). Exhibieren findet sich also bei einer Reihe psychischer Krankheiten, weitaus am häufigsten aber bei Menschen mit akzentuierter Persönlichkeit. Offenbar gibt es keine einheitliche Ursache, sondern eine Reihe divergenter Hintergründe, während es andererseits schwierig ist, dieses Verhalten wieder zu löschen, wenn es einmal fest etabliert ist. Zur Therapie finden sich eingehendere Ausführungen unter anderem bei Petri (1969), Snaith (1983), Schorsch et al. (1985), Marshall et al. (1990, 1991) Nagayama Hall (1995), Berner (1998, 2000, 2001) und Vogelgesang (1999). Recht durchgängig wird angegeben, dass die Absolventen von zumeist verhaltenstherapeutischen Programmen halb so häufig rückfällig werden wie Unbehandelte, nämlich in etwa 15 bis 20% der Fälle; angenommen wurde, dass die unbehandelte Rückfallrate 30 bis 40% beträgt. Das Thema Exhibitionismus und Rückfälligkeit verhandeln Arbeiten von Elz (2004) sowie Jehle und Hohmann-Fricke (2004). Letztere fanden in einem Verurteilungsjahrgang mit 5880 Sexualstraftätern insgesamt 1031 Exhibitionisten, davon 347 gegenüber Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB und 682 gemäß § 183 StGB. Die Legalbewährung während einer Zehnjahresfrist lag bei etwa zwei Dritteln. Wegen Exhibierens gemäß § 183 StGB erneut verurteilt wurden 10%, 2% wegen Exhibierens vor Kindern, weitere 20% wegen sonstiger, nicht sexueller und nicht gewaltsamer Straftaten verurteilt. Auch Sugarman et al. (1994) verneinten eine besondere Gefährlichkeit. Innerhalb der Sexualdelikte trifft also die Feststellung zu, dass Exhibitionisten bei ihrer Deliktform bleiben und nur mit dieser Deliktform in Erscheinung treten (monotrope Delinquenz). Es gibt aber Ausnahmen. Im eigenen Gutachtenkollektiv (Kröber 2004 b) fanden sich binnen vier Jahren 17 männliche Probanden, die gesichert mindestens einmal ihr Geschlechtsteil exhibiert hatten, die aber früher und/oder später auch andere Straftaten begangen haben, insbesondere sexuelle Missbrauchs- und Gewaltdelikte. Bei Rekonstruktion der Delinquenzverläufe ergab sich, dass es sich bei diesen Probanden nicht um typische Exhibitionisten handelte, sondern um Männer, die als eher passageres Rückzugsgefecht das Exhibieren als sexuell aggressive Geste praktizierten. Exhibieren war bei ihnen kein „Einstiegsdelikt“ in eine spätere, sexuell motivierte Gewaltkriminalität, sondern das vorübergehende Verhalten nach
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vorangehender Bestrafung wegen sexueller Kontakt- und Gewaltdelikte, teilweise auch eine Trotzreaktion in Haft oder psychiatrischer Unterbringung. z Opfer von Exhibitionismus. Es gibt sehr wenig Untersuchungen zu den psychischen Schäden bei Opfern von Sexualdelikten, speziell leichterer Delikte wie des Exhibierens (Baurmann 1983). Es gibt allerdings auch keine relevante Literatur, die behaupten würde, das Erleben von exhibitionistischen Handlungen berge größere Gefahren für die derart belästigten Frauen und Kinder. Von den heutigen Kinder- und Jugendpsychiatern gibt es allerdings keine dezidierten Stellungnahmen mehr (Lempp 1999). Nau (1964) hatte solche Schäden gestützt auf die Nachuntersuchung von 1646 Zeugen in Sittlichkeitsprozessen explizit verneint. Zwar hätten Straftat und auch das Strafverfahren bei entsprechender Persönlichkeitsstruktur der Zeugen und bestimmten Milieueinflüssen eine vorübergehende Beunruhigung bewirkt und vereinzelt Betreuungsmaßnahmen erforderlich gemacht. Nur in 2% der Fälle – es waren auch sexuelle Gewaltdelikte erfasst – hätten Dauerschäden nachgewiesen werden können. Problematisch waren vor allem Inzesthandlungen mit lang dauernden innerfamiliären Konfliktspannungen sowie jahrelange Kindesmisshandlungen, nicht aber exhibitionistische Handlungen. Ganz ähnlich hatte sich Lempp (1968) geäußert. Scharfenberg und Schirmer (1972) befragten 903 Mädchen im Alter von 14 bis 21 Jahren. Davon hatten 43% exhibitionistische Handlungen erlebt, und zwar 39% einmal und 4% mehrmals. Zu einer Anzeige kam es nur bei 22 der 387 Fälle (6%). Die Hälfte der Mädchen war zum Vorfallszeitpunkt unter 14 Jahre alt. Berichtet wurde zwar ein bisweilen verstörtes Verhalten unmittelbar nach den Erlebnissen; Schäden und ernsthafte psychische Verhaltensstörungen seien aber durchgängig verneint worden. Es muss allerdings bedacht werden, dass es in der fraglichen Zeit kein Konzept posttraumatischer Störungen gab, sodass diese Daten vielleicht eher Ausdruck damaliger diagnostischer Konventionen sind. Horstkotte (1974) betonte, Exhibitionismus sei gleichwohl kein „victimless crime“: Frauen, denen der Exhibitionist entgegenträte, empfänden nicht nur ein moralisches Ärgernis, sondern Schrecken und oft Angst vor intensiveren Attacken; unter Umständen komme es dem Täter gerade darauf an. Wünschenswert wäre jedenfalls eine unvoreingenommene Opferforschung auf heutigem diagnostischen Niveau, die das gesamte Spektrum sexueller Übergriffe erfasst und sich gerade auch der „leichten Fälle“ annimmt.
2.2 Sexualdelinquenz
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Eigentums- und Vermögensdelinquenz
2.3.1
Juristische und kriminologische Grundlagen der Eigentums- und Vermögensdelinquenz B.-D. Meier
2.3.1.1 Juristische Grundlagen Der Begriff der Eigentums- und Vermögensdelinquenz nimmt Bezug auf die strafrechtssystematische Unterscheidung zwischen den Delikten, bei denen das Strafrecht unabhängig vom wirtschaftlichen Wert die formale Position des Eigentums an einer Sache schützt, und den Delikten, bei denen es unabhängig von der Sachqualität des Angriffsobjekts die Vermögenswerte eines Rechtssubjekts schützt. Beide Schutzrichtungen können sich überschneiden, wie etwa dann, wenn eine wirtschaftlich wertvolle Sache entwendet wird (gleichzeitiger Verlust von Eigentum und Vermögen). Sie können aber auch auseinander fallen, wie dann, wenn eine Sache ohne wirtschaftlichen Wert entwendet wird (z. B. ein Erinnerungsfoto – hier kommt nur ein Eigentumsdelikt in Betracht), oder dann, wenn ein Gläubiger um eine Forderung geprellt wird (hier kommt nur ein Vermögensdelikt in Betracht). Zu den Eigentumsdelikten zählen vor allem Diebstahl und Unterschlagung sowie Sachbeschädigung, Raub und räuberischer Diebstahl, wobei sich Letztere allerdings auch als Gewaltdelikte einordnen lassen. Zu den Vermögensdelikten zählen vor allem der Betrug in allen seinen tatbestandlichen Varianten, die Untreue und die so genannten Anschlussdelikte, die die Hilfeleistung nach einer Tat und die wirtschaftliche Verwertung der rechtswidrig erlangten Güter mit Strafe bedrohen (Begünstigung, Hehlerei, Geldwäsche). Strafrechtssystematisch ebenfalls zu den Vermögensdelikten zählen die Erpressung und die räuberische Erpressung, die aber mit Blick auf die hier mitwirkenden Nötigungselemente wiederum eher bei den Gewaltdelikten einzuordnen sind.
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2.3 Eigentums- und Vermögensdelinquenz
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Witter H (1970) Grundriß der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie. Springer, Berlin Heidelberg New York Witter H (1972) Zur Kriminologie der Sexualdelikte. In: Göppinger H, Witter H (Hrsg) Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd 2. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 1050–1085 Wulf BR (1979) Kriminelle Karrieren von „Lebenslänglichen“. Eine empirische Analyse ihrer Verlaufsformen und Strukturen anhand von 141 Straf- und Vollzugsakten. Minerva, München
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Eigentums- und Vermögensdelinquenz
2.3.1
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2.3.1.1 Juristische Grundlagen Der Begriff der Eigentums- und Vermögensdelinquenz nimmt Bezug auf die strafrechtssystematische Unterscheidung zwischen den Delikten, bei denen das Strafrecht unabhängig vom wirtschaftlichen Wert die formale Position des Eigentums an einer Sache schützt, und den Delikten, bei denen es unabhängig von der Sachqualität des Angriffsobjekts die Vermögenswerte eines Rechtssubjekts schützt. Beide Schutzrichtungen können sich überschneiden, wie etwa dann, wenn eine wirtschaftlich wertvolle Sache entwendet wird (gleichzeitiger Verlust von Eigentum und Vermögen). Sie können aber auch auseinander fallen, wie dann, wenn eine Sache ohne wirtschaftlichen Wert entwendet wird (z. B. ein Erinnerungsfoto – hier kommt nur ein Eigentumsdelikt in Betracht), oder dann, wenn ein Gläubiger um eine Forderung geprellt wird (hier kommt nur ein Vermögensdelikt in Betracht). Zu den Eigentumsdelikten zählen vor allem Diebstahl und Unterschlagung sowie Sachbeschädigung, Raub und räuberischer Diebstahl, wobei sich Letztere allerdings auch als Gewaltdelikte einordnen lassen. Zu den Vermögensdelikten zählen vor allem der Betrug in allen seinen tatbestandlichen Varianten, die Untreue und die so genannten Anschlussdelikte, die die Hilfeleistung nach einer Tat und die wirtschaftliche Verwertung der rechtswidrig erlangten Güter mit Strafe bedrohen (Begünstigung, Hehlerei, Geldwäsche). Strafrechtssystematisch ebenfalls zu den Vermögensdelikten zählen die Erpressung und die räuberische Erpressung, die aber mit Blick auf die hier mitwirkenden Nötigungselemente wiederum eher bei den Gewaltdelikten einzuordnen sind.
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2.3.1.1.1 Eigentumsdelikte Die Strafbarkeit wegen Diebstahls setzt voraus, dass der Täter einem anderen eine fremde bewegliche Sache mit der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen (§ 242 StGB). Da der Täter an der entwendeten Sache kein Eigentum begründen kann, erfasst der Diebstahltatbestand nicht den Eingriff in die rechtliche, sich im Eigentum ausdrückende Herrschaftsbeziehung des Bestohlenen über die Sache, sondern den Eingriff in die faktische, sich in der realen Zugriffsmöglichkeit auf die Sache ausdrückende Herrschaftsbeziehung. Der Begriff der Wegnahme wird dementsprechend definiert als der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams, wobei unter Gewahrsam die tatsächliche, willensgetragene Herrschaftsmacht über die Sache verstanden wird (Maurach et al. 2003, S. 349 ff.; Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 38 ff.). Die Wegnahme setzt ein Handeln gegen den Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers voraus. Sie ist ausgeschlossen, wenn der bisherige Gewahrsamsinhaber mit dem Gewahrsamswechsel einverstanden ist. Der Täter kann in diesem Fall jedoch wegen anderer Delikte strafbar sein, etwa wegen Betrugs oder Erpressung (wenn er den bisherigen Gewahrsamsinhaber durch Täuschung oder Nötigung zur Erklärung des Einverständnisses veranlasst hat) oder wegen versuchten Diebstahls (wenn er das Einverständnis nicht gekannt hat). Vollendet ist der Diebstahl dann, wenn der Täter an der Sache neuen Gewahrsam begründet hat. Hierfür kommt es darauf an, dass über die Sache eine neue tatsächliche Herrschaftsbeziehung begründet wird, deren Ausübung keine wesentlichen Hindernisse mehr entgegenstehen. Bei Gegenständen, die wegen ihrer Beschaffenheit oder ihres Gewichts nur schwer zu transportieren sind, ist diese Voraussetzung später gegeben als bei unauffälligen, leicht fortzuschaffenden Gegenständen wie Geld, Schmuck oder abgepackten Lebens- oder Genussmitteln. Bei Letzteren kann es für die Vollendung des Diebstahls genügen, dass der Täter sie an sich nimmt und einsteckt. Ein vollendeter Diebstahl kann deshalb auch innerhalb der Räumlichkeiten eines Lebensmittelmarkts oder eines Kaufhauses begangen werden. Im Grundtatbestand wird der Diebstahl mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht. Der Diebstahl kann mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden, wenn ein besonders schwerer Fall vorliegt, wobei das Gesetz insgesamt sieben Konstellationen nennt, bei denen in der Regel von einem besonders schweren Fall auszugehen ist (§ 243 StGB). Praktisch bedeutsam sind vor allem der Einbruchdiebstahl in Gebäude und der Diebstahl von Sachen, die durch eine Schutzvorrichtung (Kassetten, Kisten, Schlösser, Alarmanlagen o. ä.) gegen Wegnahme besonders gesichert sind. Einen Qualifikationstatbestand bilden der Diebstahl mit Waffen, der Bandendiebstahl und der Wohnungseinbruchdiebstahl (§ 244 StGB). Für diese Fälle wird für den Diebstahl nicht nur in der Regel, sondern stets eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren angedroht. Bereits zu den Gewaltdelikten zählen der Raub (§ 249
2.3 Eigentums- und Vermögensdelinquenz
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StGB) und der räuberische Diebstahl (§ 252 StGB). Hier wird der Diebstahl durch das Hinzutreten von Gewalt gegen eine Person und Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nicht nur kriminologisch, sondern auch strafrechtssystematisch zu einem eigenständigen Delikttyp aufgewertet, der im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht ist. Anders als der Diebstahl setzt die Unterschlagung keine Wegnahme voraus. Wegen Unterschlagung wird bestraft, wer sich oder einem Dritten eine fremde bewegliche Sache rechtswidrig zueignet (§ 246 StGB). Da auch der Unterschlagende an der Sache selbst kein Eigentum begründen kann, kommt es für den Begriff der Zueignung lediglich darauf an, dass der Täter durch eine Handlung den Willen manifestiert, sich wie ein Eigentümer verhalten zu wollen, d. h. mit der Sache wie ein Eigentümer nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen zu wollen (Maurach et al. 2003, S. 399 ff.; Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 136 ff.). In der Regel hat der Täter die Sache bereits in seinem Gewahrsam (etwa wenn er einen entliehenen oder ihm aus einem anderen Grund überlassenen Gegenstand wie ein Eigentümer an einen Dritten verkauft), sodass sich die Unterschlagung meist wesentlich subtiler und unbemerkter vollziehen kann als der Diebstahl. Gleichzeitig ist das Gefährdungspotenzial für den Geschädigten größer, da der Unterschlagende anders als der Dieb das Eigentumsrecht des Geschädigten durch die Übertragung der Sache auf einen gutgläubigen Dritten zum Erlöschen bringen kann (§ 932 BGB). Der Grundtatbestand der Unterschlagung wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht. Die Strafdrohung erhöht sich auf fünf Jahre, wenn der Täter die Unterschlagung an einer Sache begeht, die ihm (z. B. im Rahmen eines Geschäftsbesorgungsvertrags oder einer Verwahrung) anvertraut worden war. Soweit sich der Diebstahl oder die Unterschlagung auf geringwertige Sachen beziehen (die Wertgrenze liegt derzeit etwa bei 30 Euro), wird die Tat grundsätzlich nur dann verfolgt, wenn der Verletzte einen Strafantrag stellt (§ 248 a StGB). Ein Einschreiten von Amts wegen setzt in diesen Fällen voraus, dass die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht, was namentlich bei mehrfach auffälligen Wiederholungstätern oder gewerbsmäßigem Handeln nahe liegt (Fischer 2008, § 248 a Rn 7). Ein einmal eingeleitetes Verfahren kann in jedem Verfahrensstadium bis zum Erlass des Urteils folgenlos oder gegen die Erfüllung von Auflagen und Weisungen wieder eingestellt werden, sofern dies mit der Schwere der Schuld und dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung vereinbar ist (§§ 153, 153 a StPO, §§ 45, 47 JGG). Die Zulässigkeit der Verfahrenseinstellung ist dabei nicht auf die Verfolgung von Bagatelldelikten im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelinquenz beschränkt, sondern erfasst das gesamte Spektrum der bekannt gewordenen Straftaten bis in den Bereich der mittelschweren Kriminalität. Das Ziel der Verfahrenseinstellung ist die Konzentration der Strafverfolgung auf die schwereren Fälle, die die Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit in besonderer Weise berühren (Beulke 2004, § 153 a Rn 3 f.).
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Obwohl strafrechtssystematisch als Eigentumsdelikt konzipiert, steht die Sachbeschädigung kriminologisch an der Grenze zu den Gewaltdelikten, da hier anders als beim Diebstahl und der Unterschlagung nicht das sich in der Zueignung ausdrückende Gewinninteresse, sondern die Aggression des Täters im Hintergrund steht („Gewalt an Sachen“). Wegen Sachbeschädigung wird bestraft, wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört oder ihr Erscheinungsbild nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert (§ 303 StGB). Eine Beschädigung liegt vor, wenn der Täter auf die Sache in einer Weise einwirkt, dass er ihre stoffliche Unversehrtheit (z. B. durch Kratzer, Einbeulen oder das Herausreißen von Seiten) oder ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit (z. B. durch das Lockern von Befestigungsschrauben) mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. Die Zerstörung bezeichnet eine gesteigerte Form der Beschädigung; hier wird die Sache so wesentlich beschädigt, dass sie für ihren Zweck völlig unbrauchbar wird. Mit der erst 2005 in das Gesetz aufgenommenen Alternative des Veränderns des Erscheinungsbilds einer Sache soll das Auftragen von Graffitis auf Hauswände, öffentliche Bauten und Verkehrseinrichtungen erfasst werden (Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 18 ff.). Für die Sachbeschädigung wird im Gesetz Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren angedroht. Sonderformen und Qualifikationen der Sachbeschädigung, die zum Teil mit höheren Strafdrohungen versehen sind, sind die Datenveränderung und die Computersabotage (§§ 303 a, b StGB), die gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304 StGB) und die Zerstörung von Bauwerken (§ 305 StGB). Die Brandstiftungsdelikte (§§ 306 ff. StGB) beinhalten zwar ebenfalls eine Beschädigung an den in Brand gesetzten Gegenständen, werden strafrechtssystematisch aber als gemeingefährliche Straftaten eingeordnet.
2.3.1.1.2 Vermögensdelikte Bei den Vermögensdelikten steht der Tatbestand des Betrugs im Mittelpunkt. Der Gesetzeswortlaut (§ 263 StGB) ist unvollständig und wenig geglückt. In der Sache setzt die Strafbarkeit wegen Betrugs voraus, dass der Täter einen anderen mit der Absicht täuscht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen; durch die Täuschung muss der Täter bei dem anderen einen Irrtum hervorrufen, der ihn zu einem vermögensschädigenden Verhalten veranlasst (Maurach et al. 2003, S. 474 ff.; Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 248 ff.; Rengier 2007, S. 200 ff.). Anders als bei den Eigentumsdelikten muss beim Betrug ein anderer (der Getäuschte) an der Vermögensschädigung zwingend mitwirken. Konstitutiv ist, dass es dem Täter mit der Täuschung gelingt, den anderen zu einem Verhalten zu veranlassen, dessen vermögensschädigender Charakter ihm infolge seines Irrtums verborgen bleibt. Während Diebstahl, Unterschlagung und Sachbeschädigung eine Fremdschädigung des Opfers voraussetzen, geht es beim Betrug im Kern um eine unbewusste Selbstschädigung des Getäuschten, die vom Täter für eigene Zwecke ausgenutzt wird. Mit dem Begriff der Täuschung ist gemeint, dass der Täter entweder
2.3 Eigentums- und Vermögensdelinquenz
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durch eine ausdrückliche Erklärung oder durch ein Verhalten, dem ein bestimmter Erklärungswert beizumessen ist, auf das Vorstellungsbild des anderen einwirkt. Die Erklärung muss sich auf Tatsachen, also auf prinzipiell beweisbare Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart beziehen, die unwahr sind; allgemeine Redewendungen, übertreibende Anpreisungen oder bloße Meinungsäußerungen über die künftige Entwicklung genügen nicht. Konsequenz der Täuschung muss ein Irrtum des Getäuschten sein, also eine unrichtige Vorstellung über die Wahrheit der vom Täter vorgespiegelten Tatsachen. Zweifel schließen den Irrtum ebenso wenig aus wie eine besondere Leichtgläubigkeit (z. B. von älteren Menschen) oder Unerfahrenheit in dem betreffenden Wirtschaftszweig (z. B. bei Kaufentscheidungen). Das Strafrecht erwartet nicht, dass der Getäuschte selbst die Wahrheit der bekundeten Tatsachen überprüft, sondern stellt lediglich darauf ab, ob sich der Irrtum im Ergebnis motivierend auf ein vermögensschädigendes Verhalten ausgewirkt hat (Arzt 2000, S. 492 f.). Im Grundtatbestand wird der Betrug ebenso wie der Diebstahl mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (§ 263 Abs. 1 StGB). In besonders schweren Fällen kann die Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren betragen, wobei das Gesetz hier fünf Konstellationen nennt, bei denen ein besonders schwerer Fall in der Regel vorliegen soll (§ 263 Abs. 3 StGB); hierzu gehört namentlich der Fall, dass die Tat zu einem Vermögensverlust großen Ausmaßes geführt (die Grenze ist bei ca. 50 000 Euro anzusiedeln) oder der Täter in der Absicht gehandelt hat, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen. Einen Qualifikationstatbestand mit einer Strafdrohung von einem Jahr bis zu zehn Jahren bildet der banden- und gewerbsmäßige Betrug (§ 263 Abs. 5 StGB). Sonderformen sind der Computerbetrug (§ 263 a StGB), der Subventionsbetrug (§ 264 StGB), der Kapitalanlagebetrug (§ 264 a StGB) und der Kreditbetrug (§ 265 b StGB). Der Bagatellbereich wird durch den Tatbestand des Erschleichens von Leistungen erfasst (§ 265 a StGB, namentlich Beförderungserschleichung). Im Übrigen gelten für die Verfolgung der Bagatellkriminalität dieselben Regeln wie bei Diebstahl und Unterschlagung (§ 263 Abs. 4 StGB). Die Erpressung unterscheidet sich vom Betrug strafrechtssystematisch darin, dass der Täter auf den anderen hier nicht durch Täuschung, sondern mit Gewalt oder durch Drohung einwirkt, um ihn zu einem vermögenschädigenden Verhalten zu veranlassen. Der Grundtatbestand der Erpressung ist parallel zu dem des Betrugs konstruiert und wird wie dieser mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (§ 253 StGB). Der Qualifikationstatbestand der räuberischen Erpressung, der an die eingesetzten Nötigungsmittel besondere Anforderungen stellt, wird mit einer Mindeststrafe von einem Jahr geahndet (§ 255 StGB); in den Rechtsfolgen steht die räuberische Erpressung dem Raub und dem räuberischen Diebstahl gleich. Während der Täter das fremde Vermögen beim Betrug durch Täuschung und bei der Erpressung durch Nötigung schädigt, knüpft der Tatbestand
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der Untreue daran an, dass der Täter eine ihm schon vor der Tat eingeräumte privilegierte Zugriffsmöglichkeit auf das fremde Vermögen zu dessen Nachteil ausnutzt. Voraussetzung der Strafbarkeit ist, dass der Täter eine rechtlich oder faktisch begründete Treuepflicht für fremdes Vermögen hat (§ 266 StGB). Die Pflicht kann sich aus Gesetz (wie im Verhältnis von Eltern gegenüber ihren Kindern), behördlichem Auftrag (wie bei der Bestellung eines Betreuers oder Insolvenzverwalters), Rechtsgeschäft (wie bei Bevollmächtigten) oder den tatsächlichen Umständen ergeben; sie muss den typischen und wesentlichen Inhalt des Treueverhältnisses bilden und den Täter mit einem Mindestmaß an Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit ausstatten (Maurach et al. 2003, S. 579 ff.; Wessels u. Hillenkamp 2007, S. 379 ff.). Die Tat kann in der Weise begangen werden, dass der Täter die ihm eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht (z. B. indem er für das fremde Vermögen nachteilige Verträge abschließt) oder dass er die ihm obliegende Pflicht auf andere Weise verletzt (z. B. indem er auf seinem Geschäftskonto eingezahlte Fremdgelder nicht auszahlt). Folge der Pflichtverletzung muss der Eintritt eines Vermögensschadens sein. Die Untreue wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft; für besonders schwere Fälle gelten die gleichen Regelungen wie beim Betrug. Sonderformen sind das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266 a StGB) und der Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten (§ 266 b StGB). Bei den Anschlussdelikten dient nur die Hehlerei (§ 259 StGB) ausschließlich dem Schutz von Vermögensinteressen. Die Hehlerei richtet sich gegen die Aufrechterhaltung und Vertiefung der durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenslage, die der Hehler durch den Erwerb oder das Weiterschieben der aus der Vortat erlangten Sache bewirkt. Die Begünstigung (§ 257 StGB), mit der die Hilfeleistung für den Vortäter nach Abschluss der Tat erfasst wird, lässt sich demgegenüber nicht nur als Schutzvorschrift für den Geschädigten, sondern auch als ein Delikt zum Nachteil der Rechtspflege deuten, da der Täter die der Rechtspflege obliegende Wiederherstellung des durch die Vortat beeinträchtigen gesetzmäßigen Zustands erschwert oder vereitelt (Rengier 2007, S. 317 f.). Bei der Strafbarkeit der Geldwäsche (§ 261 StGB) schließlich treten die Vermögensinteressen des konkret Geschädigten noch stärker in den Hintergrund; hier geht es vor allem um den Schutz der Rechtspflege sowie des allgemeinen Vertrauens in die Solidität des legalen Finanz- und Wirtschaftssystems.
2.3.1.2 Kriminologische Befunde Die gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte stellen den größten Anteil an der den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen klassischen Kriminalität. Von den zirka 6,5 Millionen Straftaten, die der Polizei 2004 bekannt wurden (ohne Staatsschutz- und Verkehrskriminalität), entfielen mehr als zwei Drittel auf die vorstehend skizzierten Eigentums- und Vermögensdelikte (Tabelle 2.3.1, Sp. 3). Im Mittelpunkt steht der Diebstahl,
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Tabelle 2.3.1. Die Eigentums- und Vermögensdelinquenz im Jahr 2004 aus der Sicht der Polizei Strafpolizeilich taten(gruppen) registrierte Fälle N
%
Aufklärungsquote %
ermittelte Tatverdächtige N
%
Anteil Kinder und Jugendliche %
1
2
3
4
5
6
7
Straftaten insgesamt a
6 533 156
100,0
54,2
2 384 268 b 100,0
Diebstahl ohne 1 516 894 erschwerende Umstände davon: Laden501 433 diebstahl Diebstahl unter 1 444 136 erschwerenden Umständen (§§ 243–244 a StGB) Unterschlagung 103 681 723 087 Sachbeschädigung (§§ 303–305 a StGB) Raub und 59 732 räuberische Erpressung (§§ 249–252, 255, 316 a StGB) Betrug 941 859 (§§ 263–265 b StGB) davon: Leistungs- 189 121 erschleichung (§ 265 a StGB) Untreue 49 152 (§§ 266–266 b StGB) 28 191 Anschlussdelikte (§§ 257–261 StGB) c
22,9
45,0
586 675
24,6
28,6
7,6
94,2
413 335
17,3
28,5
21,8
13,9
128 106
5,4
33,3
1,6 10,9
63,3 26,6
63 191 177 398
2,7 7,4
9,0 38,0
0,9
50,8
38 948
1,6
36,7
14,2
81,4
455 311
19,1
7,7
2,9
98,2
136 681
5,7
16,1
0,7
98,7
32 387
1,4
0,6
0,4
97,9
28 649
1,2
19,2
17,3
Quelle: Bundeskriminalamt 2004, Tabellen 01, 20 a ohne Staatsschutz- und Verkehrsdelikte b Personen, gegen die im Berichtjahr mehrfach ermittelt wurde, werden bei der Gesamtzahl der Straftaten nur einmal gezählt. Die Tatverdächtigen bei den einzelnen Straftaten(gruppen) lassen sich daher nicht zur Gesamtzahl der Tatverdächtigen addieren c einschließlich Strafvereitelung (§ 258 StGB)
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der mit insgesamt etwa 45% am Kriminalitätsaufkommen beteiligt ist, gefolgt von Betrug und Sachbeschädigung, die mit Anteilen zwischen zehn und 15% beteiligt sind. Die übrigen Deliktarten spielen quantitativ nur eine untergeordnete Rolle.
2.3.1.2.1 Phänomenologie Bei den Diebstahldelikten dominieren auf der polizeilichen Ebene vor allem drei Erscheinungsformen: der Ladendiebstahl, der Diebstahl in und aus Kraftfahrzeugen (z. B. von Autoradios) sowie der Diebstahl von Fahrrädern. Differenziert man nicht mit dem Gesetz zwischen einfachen und schweren Taten, sondern betrachtet die der Polizei bekannt gewordene Diebstahlkriminalität insgesamt, machen diese drei Erscheinungsformen zusammen knapp die Hälfte (2004: 46,0%) der registrierten Diebstahlkriminalität und ein Fünftel (20,5%) des gesamten Kriminalitätsaufkommens aus. Der hohe Anteil von Ladendiebstählen ist dabei in erster Linie eine Folge der gezielten Strategie des Handels, namentlich von großen Kaufhäusern und Selbstbedienungsläden, entdeckte Taten zum Zweck der Prävention nicht nur zivilrechtlich mit der Forderung eines pauschalen Schadensersatzes („Fangprämie“) und Hausverbot, sondern auch strafrechtlich mit der Erstattung einer Anzeige zu ahnden (Kaiser 1996, S. 811 ff.; Eisenberg 2005, S. 248 f.; Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 119 ff.). Die hohen Anteile von Diebstählen in und aus Kraftfahrzeugen (hierbei handelt es sich häufig um eine Form der indirekten Beschaffungskriminalität von Drogenabhängigen) sowie von Fahrrädern sind vor allem auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Versicherungsunternehmen zurückzuführen, die die Strafanzeige zur Bedingung für die Schadensregulierung machen. Dabei ist festzustellen, dass die Zahlen in den beiden zuletzt genannten Kriminalitätsfeldern seit 1993 rückläufig sind (Bundeskriminalamt 2004, S. 177 ff.), was sich hinsichtlich des Diebstahls in und aus Kraftfahrzeugen mit verbesserten technischen Schutzvorkehrungen (z. B. elektronische Wegfahrsperren), hinsichtlich des Fahrraddiebstahls vor allem mit der Herausnahme dieser Schadensform aus dem Leistungsspektrum vieler Hausratversicherer erklärt. Andere Erscheinungsformen des Diebstahls als die genannten sind deutlich seltener. Dies gilt etwa für den Diebstahl in und aus Dienst-, Büro- und Lagerräumen, der 2004 nur 6,5% der bekannt gewordenen Diebstahlkriminalität ausmachte, den Wohnungseinbruchdiebstahl (5,9%) und den Taschendiebstahl (4,0%). Auch hinter der Sammelkategorie des Betrugs verbergen sich ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Die quantitativ größte Bedeutung (28,6% der bekannt gewordenen Betrugskriminalität) hat der Waren- beziehungsweise Warenkreditbetrug, bei dem der Täter den Umstand ausnutzt, dass viele Verkäufer die Waren auf Rechnung liefern, sich also im Vertrauen auf die Zahlungsfähigkeit des Täters zur Vorleistung bereit erklären; zu denken ist hier namentlich an den über das Internet abgewickelten Versandhandel. Die zweithäufigste Deliktform (20,1%) ist die Leistungserschleichung, bei
2.3 Eigentums- und Vermögensdelinquenz
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der es sich größtenteils um Fälle des „Schwarzfahrens“ handelt; ähnlich wie beim Ladendiebstahl wird die Entwicklung in diesem Bereich maßgeblich durch die Kontrollstrategien der geschädigten Verkehrsbetriebe bestimmt (erhöhtes Beförderungsentgelt und ggf. Strafanzeige; vgl Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 129 f.). Dritthäufigste Form (13,8%) ist der Betrug mittels rechtswidrig erlangter unbarer Zahlungsmittel wie ec- und Kreditkarten; hierzu gehört namentlich der rechtswidrige Einsatz fremder ec-Karten an Geldautomaten. Der in der Öffentlichkeit häufig thematisierte Sozialleistungsbetrug zum Nachteil von Sozialversicherungen und Sozialämtern spielt quantitativ nur eine untergeordnete Rolle (3,4%). Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass die durch Betrug bewirkten Schadenssummen sehr unterschiedlich sind. Die quantitativ häufigsten Deliktformen führen nur selten zu hohen Schadenssummen, während die höchsten Schäden eher durch die seltenen Formen des Betrugs, konkret: durch Grundstücks- und Baubetrug sowie durch Beteiligungs- und Kapitalanlagebetrug, verursacht werden. Die Sachbeschädigung ist häufig nur Begleitdelikt (z. B. bei Einbruchdiebstahl) und wird in diesen Fällen von der Polizei nicht gesondert erfasst. Bei den in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesenen Fällen handelt es sich um Taten, die sich in der Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums erschöpfen. Bei diesen „reinen“ Sachbeschädigungsfällen steht die (vorsätzliche) Beschädigung an Kraftfahrzeugen im Vordergrund (38,4% der Sachbeschädigungskriminalität). Der hohe Anteil dieser spezifischen Deliktform lässt sich wieder mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Versicherungsunternehmen erklären, da die Kfz-Vollkaskoversicherung mut- und böswillige Handlungen Dritter (z. B. Zerkratzen des Lacks oder Abbrechen der Antenne) nur dann abdeckt, wenn bei der Polizei Anzeige erstattet wird. Einzelanteile sonstiger Erscheinungsformen der Sachbeschädigung lassen sich der Statistik nicht zuverlässig entnehmen. Dies gilt auch für die Häufigkeit, mit der Graffitis an Hauswänden, öffentlichen Bauten und Verkehrseinrichtungen in das Blickfeld der Polizei geraten.
2.3.1.2.2 Verfolgungspraxis Die Verfolgung der Täter wird wesentlich dadurch geprägt, ob der Polizei die Aufklärung des Falles gelingt. Die Aufklärungsquote ist bei den einzelnen Delikten sehr unterschiedlich; 2004 variiert sie zwischen 13,9% beim Diebstahl unter erschwerenden Umständen und 98,7% bei der Untreue (Tabelle 2.3.1, Sp. 4). Für den Aufklärungserfolg kommt es maßgeblich darauf an, ob der Geschädigte schon bei der Anzeigeerstattung einen Tatverdächtigen benennt, dem die Tat zugerechnet werden kann (Dölling 1987, S. 258 ff.); diese Situation ist typischerweise beim Ladendiebstahl und der Beförderungserschleichung, aber auch bei vielen anderen Erscheinungsformen des Betrugs sowie bei der Untreue gegeben, sofern die betreffenden Taten vom Geschädigten überhaupt entdeckt werden. Der Polizei kommt in
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diesen Fällen nur noch die Aufgabe zu, die Beweismittel zusammenzustellen (die Einlassung des Beschuldigten, Zeugenaussagen, Dokumente etc.), anhand derer der Tatverdächtige überführt werden kann. Kann der Geschädigte bei der Anzeigeerstattung keinen Tatverdächtigen benennen und liegen auch sonst keine Informationen über dem mutmaßlichen Täter vor (Personenbeschreibung, Kfz-Kennzeichen o. Ä.), sodass der Polizei konkrete Anknüpfungspunkte für weitere Ermittlungen fehlen, wird die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall aufgeklärt werden kann, geringer. Dies erklärt, warum die Aufklärungsquote bei manchen Deliktformen, insbesondere beim schweren Diebstahl (namentlich Einbruchsdiebstahl, Diebstahl in und aus Kfz, Fahrraddiebstahl) und bei der Sachbeschädigung (Beschädigung an Kfz), so niedrig liegt: Zeugen, die das Tatgeschehen beobachtet haben, stehen hier meist nicht zur Verfügung; die Anzeige richtet sich gegen Unbekannt. Folge der deliktspezifisch unterschiedlichen Aufklärungsquoten ist, dass die Delinquenz der Personen, die von der Polizei als Tatverdächtige ermittelt werden, strukturell eine andere ist als die Delinquenz, die der Polizei insgesamt bekannt wird. Während auf der Fallebene (Tabelle 2.3.1, Sp. 3) jedes fünfte registrierte Delikt (2004: 21,8%) ein Diebstahl unter erschwerenden Umständen ist, wird auf der Ebene der ermittelten Tatverdächtigen (Tabelle 2.3.1, Sp. 6) nur jedem zwanzigsten Beschuldigten (5,4%) ein solches Delikt zur Last gelegt. Umgekehrt wirkt sich die hohe Aufklärungsquote bei dem Massendelikt des Ladendiebstahls in der Weise aus, dass jeder sechste von der Polizei ermittelte Tatverdächtige (17,3%) beschuldigt wird, einen Ladendiebstahl und damit ein eher geringfügiges Delikt begangen zu haben. Ebenfalls auffällig hoch ist der Anteil der Beschuldigten, denen ein Betrug zur Last gelegt wird (19,1%). Bei alledem ist festzustellen, dass sich unter den Tatverdächtigen, gegen die wegen schweren Diebstahls, Sachbeschädigung oder Raubes ermittelt wird, überproportional viele Kinder und Jugendliche befinden. Bei den genannten Delikten ist wenigstens jeder dritte Beschuldigte jünger als 18 Jahre (Tabelle 2.3.1, Sp. 7). Ähnliches gilt für Tatverdächtige, gegen die wegen einfachen Diebstahls, namentlich Ladendiebstahls, ermittelt wird; hier ist jeder vierte Beschuldigte unter 18 Jahren. Die Eigentumsdelikte mit Ausnahme der Unterschlagung lassen sich dementsprechend als typische Jugenddelikte kennzeichnen. Ihre Begehung setzt in der Regel weder besonderes Wissen noch besondere Fertigkeiten oder eine besondere Vertrauensstellung voraus, sodass sie, anders als etwa der Betrug, auch von Menschen begangen werden können, die nur über geringe soziale Handlungskompetenz verfügen. Zudem wirkt sich bei der Strafverfolgung aus, dass Kinder und Jugendliche häufig spontan, ungeplant und damit sichtbarer handeln als Erwachsene und nach der Entdeckung der Tat auch geständnisbereiter sind, sodass sie leichter überführt werden können (Walter 2005, S. 245 ff.). Die meisten wegen Eigentums- und Vermögensdelikten eingeleiteten Verfahren werden von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Genaue Zahlen über die Einstellungsquoten bei den Eigentums- und Vermögensdelikten
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sind nicht bekannt, da die entsprechende Statistik (Staatsanwaltschaftsstatistik) über die den Verfahren zugrunde liegenden Tatvorwürfe keine Aussagen macht. Da es sich bei den von der Polizei aufgeklärten Taten häufig nur um Bagatelldelikte handelt, sehen die Staatsanwaltschaften für die Verfolgung im förmlichen Verfahren (Anklage, Hauptverhandlung, Verurteilung) meist keinen Anlass. Die Einstellungspraxis wird überwiegend durch Richtlinien der Landesjustizverwaltung strukturiert, die an die Höhe des angerichteten Schadens anknüpfen. In manchen Bundesländern werden Verfahrensweisen erprobt, mit deren Hilfe das Massendelikt des Ladendiebstahls beschleunigt erledigt werden kann (Minthe 2003). Bezogen auf die Gesamtzahl aller Strafsachen wird von den Staatsanwaltschaften nur etwa jedes vierte Verfahren (2003: 24,7%) mit einer Anklage oder einem Strafbefehlsantrag abgeschlossen (Dittmann 2004, S. 72 ff.). Bei den Eigentumsund Vermögensdelikten dürfte dieser Anteil der förmlich abgeschlossenen Verfahren noch geringer sein. Die Zahlen für die von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen und für die von den Gerichten Verurteilten lassen sich nicht miteinander vergleichen, da die entsprechenden Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik) mit unterschiedlichen Erfassungskriterien arbeiten und auch die Bezugsgebiete unterschiedlich sind (Deutschland insgesamt beziehungsweise nur die früheren alten Bundesländer einschließlich Ost-Berlin). In der Struktur sind die Delikte, derentwegen die Gerichte verurteilen, jedoch sehr ähnlich. Auch auf der gerichtlichen Ebene zeigt sich, dass die meisten Verurteilungen wegen einfachen Diebstahls und Betrugs erfolgen (Tabelle 2.3.2, Sp. 3), während den übrigen Deliktarten keine annähernd gleich große quantitative Bedeutung zukommt. Zwar liegen die Prozentwerte bei den Verurteilten etwas geringer als die korrespondierenden Werte bei den Tatverdächtigen (Tabelle 2.3.1, Sp. 6); hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsstatistik anders als die Polizeiliche Kriminalstatistik auch die quantitativ bedeutsame Verkehrskriminalität ausweist. Ebenfalls ähnlich wie auf der polizeilichen Ebene ist der überproportional hohe Anteil an verurteilten Jugendlichen beim schweren Diebstahl, der Sachbeschädigung und dem Raub (Tabelle 2.3.2, Sp. 4). Geringer ist der Anteil der Jugendlichen, die wegen einfachen Diebstahls verurteilt werden; hier spiegelt sich wider, dass die meisten dieser Taten von den Staatsanwaltschaften und zum Teil auch von den Gerichten folgenlos, nach Einleitung einer erzieherischen Maßnahme oder gegen die Erfüllung von Auflagen oder Weisungen eingestellt werden (§§ 45, 47 JGG). Die Sanktionen, die die Gerichte für die gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelinquenz verhängen, sind vergleichsweise moderat. Die beiden quantitativ bedeutsamen Delikte einfacher Diebstahl und Betrug werden nur in etwa jedem sechsten Fall mit Jugend- oder Freiheitsstrafe geahndet (Tabelle 2.3.2, Sp. 5), deren Vollstreckung zudem überwiegend zur Bewährung ausgesetzt wird. In den übrigen Fällen werden die Taten mit Geldstrafe oder den erzieherisch ausgerichteten Sanktionen des Jugendstrafrechts geahndet. Ähnlich moderat ist die Justiz bei der Unterschlagung, der Sach-
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a
16,2
3,1
1,0 1,6 1,2
14,2 4,9 1,1 0,7
22 693
7707 11 520
8981
104 580 35 970
8419 4847
100,0
3
%
118 974
736 297
2
N
0,1 11,1
2,3 3,6
34,2
6,3 20,9
22,9
10,5
7,2
4
18,3 25,1
15,1 4,4
77,6
14,1 5,6
62,7
17,0
19,7
5
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5279
7942
305 205
6623
6929
62 594
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Quelle: Strafverfolgungsstatistik 2003, Tabellen 2.1, 2.3; Strafvollzugsstatistik 2003, Tabelle 5 a Bezugsgebiet: Bundesrepublik Deutschland nach dem Gebietsstand bis zum 3. Oktober 1990 b einschließlich Strafvereitelung (§ 258 StGB)
Diebstahl ohne erschwerende Umstände (§§ 242, 248 b, 248 c StGB) Diebstahl unter erschwerenden Umständen (§§ 243–244 a StGB) Unterschlagung Sachbeschädigung (§§ 303–305 a StGB) Raub und räuberische Erpressung (§§ 249–252, 255, 316 a StGB) Betrug (§§ 263–265 b StGB) davon: Leistungserschleichung (§ 265 a StGB) Untreue (§§ 266–266 b StGB) Anschlussdelikte (§§ 257–261 StGB) b
Straftaten insgesamt
1
Straftaten(gruppen)
0,6
8,4
12,7
0,5 0,3
10,6
11,1
100,0
7
Anteil Anteil zu Jugend- Strafgefangene und Sicherungsverwahrte am 31. 3. 2003 Jugendliche oder Freiheitsstrafe % Verurteilte % N %
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Verurteilte
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Tabelle 2.3.2. Die Eigentums- und Vermögensdelinquenz im Jahr 2003 aus der Sicht der Justiz
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beschädigung und der Untreue. Deutlich härter sind die Sanktionen demgegenüber beim schweren Diebstahl und den unter Einsatz von qualifizierten Nötigungsmitteln begangenen Raubdelikten; hier werden etwa zwei Drittel der Verurteilten (2003: 62,7%), beim Raub drei Viertel (77,6%) mit Jugend- oder Freiheitsstrafe belegt, und auch die Aussetzungsquoten sind hier geringer. Konsequenz dieser nach der Tatschwere differenzierenden Sanktionspraxis ist, dass die wegen Raubes Verurteilten im Strafvollzug die größte Gefangenengruppe stellen (2003: 12,7%), dicht gefolgt von den wegen schweren Diebstahls Verurteilten (Tabelle 2.3.2, Sp. 7). Dass im Strafvollzug im Übrigen auch viele Personen einsitzen, die lediglich wegen einfachen Diebstahls verurteilt worden sind (11,1%), ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass ein vergleichsweise hoher Anteil von Verurteilten mangels Liquidität anstelle der Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen muss.
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2.3.2 Klinisches Erscheinungsbild und psychiatrische Aspekte der Eigentums- und Vermögensdelinquenz H.-L. Kröber, C. Paar Eigentums- und Vermögensdelinquenz bedürfen hinsichtlich ihrer Motivation keiner psychiatrischen Expertise, so denkt jedermann, auch der Psychiater: Das Besitzstreben ist im Menschen tief verwurzelt, und mehr ist eben besser als weniger, selbst wenn man schon viel hat. Das klassische Bild des Kriminellen wird bestimmt von Dieben und Räubern, während der Betrüger nochmals einem anderen Typus entspricht. Trotzdem ist es von Interesse, die Phänomenologie dieser Deliktformen und dieser Täter zu betrachten. Dabei gerät man in Lektüreprobleme: Während es eine überbordende Literatur über Sexualstraftäter, Serienmörder und auch Gewaltdelinquenz oder Terroristen gibt, ist das empirisch-kriminologische Interesse an den Dieben und Betrügern schwach; liebevolle Beschreibungen unterschiedlicher Begehensstile von Dieben wie noch bei Suttinger (1966) finden sich selten. Das Fach scheint über diese Fragen hinaus zu sein und beschäftigt sich mit Entstehungsbedingungen, Risikofaktoren, oder den spezifischen Formen der organisierten und der Wirtschaftskriminalität. So fehlt auch bei Göppinger (1997) ein eigenes Kapitel über Diebe und Betrüger, während für die Diskussion der Gewalt-, Sexual-, Wirtschafts- und Drogenkriminalität durchaus Raum ist. Offenbar war man der Auffassung, dass man ja ohnehin die ganze Zeit über diesen „Täter in seinen sozialen Bezügen“ spricht – und der Täter ist ein Dieb. Für die Strafrechtpraxis und den Strafvollzug hingegen sind Diebstahldelikte sozusagen der Cantus firmus ihres Schaffens, das Standardmodell der Delinquenz. Zu den Betrugsdelikten gibt es bisweilen Übergänge, viele Betrüger aber sind keine Diebe, ja nicht einmal polytrop straffällig. Deswegen empfiehlt sich die getrennte Erörterung. Ohnehin muss bei den Dieben die iatrogene Sondergruppe der Täter(innen) mit „Kleptomanie“ zusätzlich erörtert werden, während, soweit bekannt, ein „süchtiges Betrügen“ beziehungsweise eine Betrugs-Monomanie noch nicht ernsthaft als Dekulpierungsgrund ins Feld geführt worden ist.
2.3.2.1 Diebstahlsdelikte Gestohlen wird, um schnell, ohne weitere Gegenleistung und ohne längeres Warten an bestimmte Sachen heranzukommen. Man möchte nichts hingeben für das, was man erhält, abgesehen vom Einsatz und dem Risiko beim Akt des Diebstahls. Deswegen haben Ladendiebe natürlich stets Recht, wenn sie betonen, sie hätten es gar nicht nötig zu stehlen und genug Geld im Portemonnaie. Das leicht zu durchschauende Geheimnis ist: Man möchte dieses Geld nicht weggeben. Das gestohlene Gut ist wie ein Geschenk. Die Freude des Einbrechers beim Öffnen des Safes gleicht der Freude bei der Bescherung am Weihnachtsabend. Die Beute ist mehr, als
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sich in Geld ausdrücken lässt: Sie ist zugleich ein Erfolg, Beweis eigener Tüchtigkeit, und dafür, dass man geliebt wird, zumindest vom Schicksal. Nur in Maßen und nur in Notzeiten wird auch aus Not gestohlen. Man muss sich vor der Erörterung der Frage, ob im Felde des Diebstahls gewisse Typisierungen möglich sind, vergegenwärtigen, dass Diebstahl ein Massendelikt ist. Wie im vorangehenden Abschnitt erörtert, entfallen zwei Drittel der zirka 6,5 Millionen jährlichen Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) auf Eigentums- und Vermögensdelikte; Diebstahl allein ist mit etwa 45% am Kriminalitätsaufkommen beteiligt. Der einfache Diebstahl ohne erschwerende Umstände wurde 1,5 Millionen Mal angezeigt, davon 500 000 Fälle von Ladendiebstahl. Täglich werden in Deutschland also fast 2000 Ladendiebe erwischt. Während hier die Aufklärungsquote bei 95% liegt, ist die Aufklärungsquote bei Diebstahl unter erschwerenden Umständen, der immerhin 1,4 Millionen Mal begangen wurde, mit 14% nur gering; ermittelt wurden in diesem Sektor, der schon eher in den typischen Kriminalitätsbereich hineinfällt, 128 000 Tatverdächtige, davon ein Drittel Kinder und Jugendliche. Tatsächlich ist Diebstahl das klassische Einstiegsdelikt von Kindern, die vor einer kriminellen Karriere stehen. Es kann dies im Rahmen von kindlichen Diebesbanden sein, die teilweise von Jugendlichen oder Erwachsenen geleitet werden, wie dies von Charles Dickens in „Oliver Twist“ durchaus realistisch für das London vor zweihundert Jahren geschildert wird; vergleichbare Verhältnisse gibt es aber auch heute, zum Beispiel in einigen grenzüberschreitend agierenden Banden aus Osteuropa, die gezielt strafunmündige Kinder zum Betteln und Stehlen einsetzen. In diesen Fällen werden also die Kinder von Erwachsenen zu Delinquenz gedrängt. Oftmals ist aber der Einfluss Erwachsener wesentlich weniger direkt. Diebstahlhandlungen sind Teil eines antisozialen Spektrums bei Kindern mit einer frühen Störung des Sozialverhaltens; bei diesen tritt es gemeinschaftlich auf mit einer Vielzahl weiterer Symptome wie Streitsucht, Gewaltanwendung, Tierquälerei, Zündeln, Weglaufen, Schuleschwänzen. Andererseits gibt es Kinder, die eine deutlich geringere psychische Instabilität aufweisen, aber gleichwohl frühzeitig, insbesondere im Kontakt mit Gleichaltrigen, zu stehlen beginnen und in Außenseiterpositionen verbleiben. Für diese Tätergruppen trifft also in typischer Weise zu, was wir über die unterschiedlichen Wege dissozialer Entwicklungen wissen (Andrews u. Bonta 1998; Moffitt 1993; Moffitt u. Caspi 2001; Dahle 2005). Die Beschreibung eines relativ stark konstitutionsbiologisch präformierten Tätertypus (Cleckley 1976) einerseits, eines sehr viel stärker durch seine ungünstige soziale Umgebung geprägten Typus andererseits entspricht einer Zweiteilung, wie sie bereits bei Aichhorn (1925) anzutreffen war in der Unterscheidung zwischen primärer Verwahrlosung und neurotischem Stehlen. Auch Aichhorn hatte bereits den besonderen Typus des kindlichen oder jugendlichen Täters beschrieben, der aus einer Verwöhnungsverwahrlosung heraus beginnt, Diebstahldelikte zu begehen. Ins Zentrum rückte er jedoch, auch im Hinblick auf die sozialpädagogische Einwirkung, die Nei-
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gung zum sofortigen Lustgewinn, die mangelnde oder fehlende Fähigkeit zu Aufschub, Verzicht und länger dauernder Unlusterduldung. Wo ein Täter ganz auf die rasche Befriedigung seiner Bedürfnisse ausgerichtet sei, existiere für ihn im Moment der Tat die Realität mit ihren späteren unangenehmen Folgen nicht (ebd., S. 177). Aichhorn ging davon aus, dass Kinder ihr Leben als „asoziale Wesen“ beginnen und dass es die Aufgabe der Erziehung sei, das Kind aus dem Zustand der Asozialität in den der sozialen Anpassung hinüberzuführen, was nur gelingen könne, wenn auch die Gefühlsentwicklung des Kindes normal verlaufe. Dies bedeute, dass das Kind, dem es nicht gelingt, seine Triebwünsche zu integrieren und mit ihnen sozialkonform zu leben, im Rahmen der Nacherziehung eben dieses erlernen müsse. Dies sei mithin mehr als eine oberflächliche Anpassungsleistung von Kindern und Jugendlichen, die sie bisweilen in entsprechenden Einrichtungen erbringen, solange sie einer stärkeren Macht unterworfen sind, sondern ein innerer Wandlungs- und Lernprozess. Es geht also nicht nur um die Fähigkeit zur passageren Unterwerfung, sondern um den Erwerb der emotionalen Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht. Tatsächlich kann man den schrittweisen Sozialisierungsprozess von Kindern alltäglich beobachten: Sie sollen im Grundsatz lernen, sich bis in die ersten Grundschulklassen hinein sozial angemessen zu verhalten in der Weise, dass sie nicht mehr gegen andere Kinder gewalttätig werden, dass sie nicht mehr ohne Not lügen, nicht stehlen und sich motorisch und in ihrer Aufmerksamkeitszuwendung unter Kontrolle haben. Wo eine dieser Aufgaben nicht bewältigt wird, finden sich nicht selten weitere Einbußen. So ist insbesondere das Stehlen regelhaft vom Lügen begleitet, und das Lügen wird für dissozial verwahrlosende Kinder zu einer Grundform der sozialen Kommunikation; die habituelle Verleugnung eigener Täterschaft verhindert zugleich die Herausbildung eines Konzeptes eigener Verantwortlichkeit. Andererseits ist unstreitig, dass die Kenntnis basaler Regeln, dass man andere nicht bestiehlt, verletzt, gar tötet oder sexuell missbraucht, bereits viele Jahre vor der Strafmündigkeit in dem Bewusstsein selbst minderbegabter Kinder verankert ist. Die weitere Forschung zur Entwicklungspsychologie der Dissozialität hat das Wahrnehmungsbild noch weiter erheblich differenziert (Laucht 2001; Matthys et al. 2003; Müller-Isberner et al. 2003). Aber auch bei Kindern und Jugendlichen ist Diebstahl ein Massendelikt; 80% aller Jungen haben bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres einmal oder mehrmals gestohlen (Glueck u. Glueck 1950), viele werden dies später noch das ein oder andere Mal tun. Solche gelegentlichen Diebstähle bei vermeintlich günstiger Gelegenheit sind nicht weiter aufklärungsbedürftig, auch wenn nachvollziehbar ist, dass der sozial gut integrierte Täter, wenn er denn das Pech hat, gefasst zu werden, gerne allerlei ungewöhnliche Gründe anführen möchte, weswegen ihm diese Tat widerfahren ist; besonders beliebt ist die Feststellung, dass man selbst sich die Handlung überhaupt nicht erklären könne. Der psychiatrischen Gutachter sollte in solchen
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Fällen aber der Versuchung widerstehen, seinerseits eine Erklärung aus dem Repertoire psychiatrischer Störungsbilder anzubieten. Im Grunde aber nimmt die Diebstahlbereitschaft mit zunehmendem Alter ab; während bei den 14- bis 15-Jährigen noch drei Kinder von 100 jährlich einen Diebstahl begehen, sind es bei den 16- bis 17-Jährigen nur noch zwei, bei den Heranwachsenden nur noch 1,5, und im Erwachsenenalter nimmt die Quote dann zunehmend ab. Allerdings ist auch noch bei den älteren und selbst den hochbetagten Menschen innerhalb ihrer Altersgruppe Diebstahl das bei weitem häufigste Delikt; insofern andere Deliktmöglichkeiten zunehmend schwinden, nimmt altersbezogen die Häufigkeit sogar zu, während sie absolut aber weiter abnimmt (Göppinger 1997, S. 519). Zu bedenken ist auch, dass die Schadenhöhe bei einer sehr großen Zahl von Fällen sehr gering ist, in der Hälfte der Fälle unter 25, in 80% unter 100 Euro. Allerdings gibt es auch Serientäter, die sich im Einzelfall immer wieder mit kleineren Beträgen begnügen müssen. So gibt es Orte, in die man relativ leicht einbrechen kann, wie zum Beispiel Kindertagesstätten, in denen aber andererseits relativ wenig Beute zu machen ist, abgesehen von Kaffee und dem Geld in der Kaffeekasse, was dann in einem Fall der Legende Vorschub geleistet hat, bei dem altgedienten Einbrecher, der früher durchaus auch anderes gestohlen hatte, handele es sich um einen Koffeinsüchtigen (Kröber 1999; Leygraf 1999). Betrachtet man jedoch die große Kerngruppe dissozialer Krimineller, deren Entwicklung in Kindheit und Jugend begonnen hat, teilweise zunächst mit einfachen Diebstahldelikten, nicht selten gemeinschaftlich begangen, die dann später zu qualifizierteren Taten übergegangen sind, so ergibt sich aus den kriminologischen Verlaufsstudien ein recht markantes und einheitliches Bild. Dieses hat beispielsweise Farrington (1996) skizziert anhand seiner „Cambridge Study in Delinquent Development“, in welcher der Lebensverlauf von 400 Londoner Jugendlichen ab dem Alter von acht Jahren bis zum Alter von 32 Jahren wissenschaftlich begleitet wurde. Das Ergebnis fasste Farrington wie folgt zusammen (1996, S. 69, Übersetzung des Autors): „Die Cambridge Study kam zu dem Ergebnis, dass der typische Straftäter – ein männlicher Eigentumsstraftäter – überwiegend aus einer kinderreichen Familie mit niedrigem Einkommen stammt und kriminelle Eltern hat. Er wird in Kindheit und Jugend von seinen Eltern nur dürftig wahrgenommen und betreut. Diese benutzen strenge oder unberechenbare Techniken der Kindererziehung, leben oftmals im Streit miteinander und stehen vor der Scheidung. In der Schule offenbart sich eine eher niedrige Intelligenz und geringe Leistungsfähigkeit, er ist unruhig, überaktiv und impulsiv und oft ein Schulschwänzer. Er tendiert dazu, sich mit Freunden zusammenzutun, die auch delinquent sind. Nach dem Verlassen der Schule hat der typische Straftäter überwiegend dürftige Arbeitsstellen mit geringem Status, ist dazwischen häufig arbeitslos. Sein deviantes Verhalten ist eher vielgestaltig als spezialisiert. Er begeht nicht nur Eigentumsdelikte wie Diebstahl und Einbrüche, sondern ist auch beteiligt an Gewalthandlungen, Vandalismus, Drogengebrauch, exzessivem Trinken, rücksichtslosem
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Autofahren und sexueller Promiskuität. Der Gipfelpunkt seiner kriminellen Aktivitäten liegt in den Teenagerjahren und geht jenseits des 20. Lebensjahres zurück, insbesondere wenn er heiratet oder mit einer Frau zusammenlebt. Jenseits des 30. Lebensjahres ist der typische Straftäter wahrscheinlich geschieden oder lebt getrennt von seiner Frau und von seinen Kindern. Er ist überwiegend arbeitslos oder hat einen Billigjob, er zieht häufig um, wohnt eher zur Miete als in Wohneigentum. Sein Leben ist immer noch dadurch charakterisiert, dass er abends nur selten zu Hause bleibt, häufig erheblich trinkt, unter Alkohol Auto fährt, in Gewalthandlungen verwickelt ist und eher Drogen nimmt als seine Altersgenossen. So schafft der typische Straftäter dieselbe Form eines sozial insuffizienten, verwahrlosten und zerrissenen familiären Hintergrundes für seine eigenen Kinder, wie er dies selbst erfahren hat. Auf diese Weise gibt es eine Fortpflanzung von einer Generation zur nächsten im Hinblick auf die sozialen Probleme, von denen das Begehen von Straftaten nur ein Element ist.“ Diese Ergebnisse der Cambridge-Study korrespondieren wiederum sehr gut mit den klassischen Ergebnissen der Tübinger Jungtäterstudie (Göppinger 1983, 1997), in der eine Reihe von Merkmalen herausgearbeitet wurde, die die unterschiedlichen Lebensverläufe von jungen Männern bedingen, die sich entweder zu einer kriminellen Aktivität hin entwickeln oder dazu weiten Abstand halten. Auch in der Tübinger Studie waren die später kriminellen jungen Erwachsenen erheblich stärkeren Belastungen ausgesetzt, sie hatten einen geringeren sozioökonomischen Status, die Erziehungspersonen waren sehr viel häufiger sozial und strafrechtlich auffällig, auch durch Wohnungswechsel, schlechte Wohnverhältnisse, inkonsequente Erziehung, gestörte Beziehung zwischen den Eltern, keine ausreichende Kontrolle der Kinder, die sich dann auch zunehmend aktiv den Kontrollversuchen der Eltern entzogen. Bei all diesen Risikofaktoren gilt allerdings, dass es immer wieder auch Personen gab, die trotz aller Risikofaktoren keine kriminelle Laufbahn einschlugen. Deutlich mehr spätere Häftlinge waren in ihrer Kindheit und Jugend in Heimen oder bei anderen Erziehungspersonen als den Eltern untergebracht, ab dem 15. Lebensjahr war eine deutlich erhöhte Mobilität feststellbar. Für dissoziale Jugendliche besaß die eigene Wohnung einen nur geringen Stellenwert, sie begnügten sich häufig mit Notunterkünften und Unterschlupfmöglichkeiten, ein beträchtlicher Teil streunte immer wieder einmal vorübergehend wohnsitzlos umher. Ein großer Prozentsatz der späteren Strafgefangenen erreichte keinen Hauptschulabschluss, sehr wenige konnten eine Lehre abschließen, und im weiteren Arbeitsleben gab es eher noch einen beruflichen Abstieg, häufigen Arbeitsplatzwechsel, wiederkehrende berufliche Untätigkeit, nicht zuletzt auch wegen schlechten Arbeitsverhaltens. Trotz vielfach misslicher Erfahrungen hatten viele der Jungtäter keine adäquate Einschätzung ihrer beruflichen Möglichkeiten. Oft ging Haftzeiten eine Zeit beruflicher Untätigkeit voraus, in der jene Straftaten begangen wurden, die dann die Inhaftierung nach sich zogen. Die späteren Strafgefangenen wiesen ein ganz überwiegend sehr unstrukturiertes Freizeitverhalten auf, das nicht vorgeplant, son-
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dern jeden Tag aufs Neue von Zufällen abhängig war, wobei aber der zeitliche Umfang immer mehr ausgeweitet wurde auf Kosten von Schlaf und geregelter Arbeit. Anders als in der sozial integrierten Gruppe gab es in der Freizeit auch keine sozialen Verpflichtungen wie regelmäßigen Sport, Vereinstätigkeit, Nebentätigkeiten, Weiterbildung. Sie hatten in diesem Sinn deutlich mehr Freizeit zur Verfügung als die sozial Integrierten. Im Felde interpersonaler Beziehungen fiel bei den Straffälligen auf, dass sie häufig wechselnde, oberflächliche Beziehungen hatten, dass auch die Kontakte zur Herkunftsfamilie überwiegend von Zwecksmäßigkeitserwägungen geprägt waren. Der erste Geschlechtsverkehr erfolgte deutlich früher als in der Vergleichsgruppe, die Beziehungen blieben aber oft unverbindlich, auch nach Eheschließung. Die Ehen selbst waren von nur geringer Tragfähigkeit und relativ hoher Unbeständigkeit. Die Bedeutsamkeit dieser Sozialfaktoren ist in unterschiedlichsten Studien immer wieder repliziert worden; so auch im Heidelberger Delinquenzprojekt über Männer mit Gewaltdelikten, die allerdings überwiegend mit einem breiten Deliktspektrum auffielen und auch eine größere Anzahl von Diebstählen begangen hatten (Kröber et al. 1993). Die Evaluation der Bedeutung solcher Einflussfaktoren für den Delinquenzverlauf ist eine wesentliche Grundlage der klinischen Kriminalprognose von Psychologen und Psychiatern (Dahle 2006; Kröber 2006). Recht gut gesichert ist auch der Befund, dass diejenigen, deren kriminelle Aktivität nicht im Wesentlichen auf die Jugend beschränkt war, sondern lebenslang persistierte, oftmals neben sozialen auch neurokognitive Beeinträchtigungen (in den räumlichen Funktionen und den Gedächtnisleistungen) aufwiesen, und zwar unabhängig von Abusus oder hyperkinetischen und Aufmerksamkeitsstörungen (Raine et al. 2005). Betrachtet man die Gruppe der wiederholt straffälligen Diebe, so kommen bei diesen tatsächlich nicht selten noch andere Delikte hinzu, einerseits Folgedelikte wie Hehlerei, Urkundenfälschung, Unterschlagung, einfache Betrugsdelikte, Verkehrsdelikte wie insbesondere Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie unter Alkoholeinfluss. Insofern ein überproportional hoher Anteil aus sozial schwachen Verhältnissen kommt, ist solche Delinquenz natürlich ein Unterschichtphänomen und war es auch früher. Eine Monografie von Zimmermann (1847) über die Diebe in Berlin mit dem Untertitel „Darstellung ihres Entstehens, ihrer Organisation, ihrer Verbindungen, ihrer Taktik, ihrer Gewohnheiten und ihrer Sprache“ geht davon aus, dass die Eigentumsverbrecher „hauptsächlich aus dem Proletariat hervorgehen“ (ebd., S. 3). Zimmermann war Kriminalkommissar und Referendar am Kammergericht und stellte aus seinen praktischen Erfahrungen bei der Berliner Polizei die geplanten und vorbereiteten Einsteige- und Einbruchdiebstähle, Nachschlüssel- und Taschendiebstähle sowie Hehlerei in den Vordergrund. Zugleich war das über vierhundert Seiten umfassende Werk ein Kompendium der unterschiedlichsten Begehensweisen bis hin zu den Berliner Wilddieben, den Hundedieben und jenen, die die Tauben wegfangen, Schrebergärten plündern, dort Sämereien und Blumenzwiebeln steh-
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len. Manche stahlen bevorzugt Billardbälle, Türklinken oder Messingbleche; dies tröstet in der Gegenwart, wo von den Berliner Straßen die Gullydeckel gestohlen und zum Buntmetallhändler gebracht werden. Suttinger beleuchtete im Handwörterbuch der Kriminologie (1966) den Automatendiebstahl und gleich danach den Beischlafdiebstahl, bei dem die Dunkelziffer sehr groß sei, weil teils keine Anzeige erstattet werde, teils das Opfer den Verlust nicht bemerke. Es folgen Eisenbahndiebstahl, Feld-, Forst- und Viehdiebstahl, sodann die quantitativ sehr umfänglichen Formen des Warenhausdiebstahls, Taschen- und Trickdiebstahls sowie des Kraftfahrzeug- und Fahrraddiebstahls und des Diebstahls aus Kraftfahrzeugen. Distinguierter sind dann schon Tatformen wie der Juwelendiebstahl, Hoteldiebstahl und der Diebstahl von Transportgütern; nach wie vor werden gerne ganze LkwLadungen, Container und ähnliche Transportbehältnisse gestohlen. Unter den Formen des Einbruchdiebstahls imponieren dann der Wohnungseinbruch, der Einbruch in Geldinstitute, der Einbruch in Geschäfte und Fabriken sowie Lagerräume und schließlich der relativ häufige Einbruch in Gaststätten, Vereinsheime, Spielhallen und Ähnliches, wo dann wiederum Kassen oder Automaten aufgebrochen werden, teilweise auch anderes stehlenswertes Gut wie Zigaretten und Alkoholika gestohlen wird. Dass es sich insbesondere beim Einbrechen um ein Handwerk mit einer Vielzahl von technischen Problemen handelt, geht aus der Monografie von Deusinger (1993) „Der Einbrecher“ hervor, die sich auf eine eingehende, sozusagen fachliche Befragung von Tätern stützt, natürlich mit der Absicht, Wohnungen und Häuser besser vor Einbrechern zu sichern.
2.3.2.2 Psychisch auffällige Diebe und „Kleptomanie“ Parallel zur Etablierung des allgemeinen und gleichen Rechts in der Französischen Revolution wurden in der Monomanielehre Esquirols psychiatrische Erkrankungen postuliert, die in einer isolierten Störung der Willensfunktionen bestünden und dadurch die Schuldfähigkeit aufhöben, darunter die Kleptomanie. Mit der Erfindung der Kleptomanie wurde zumindest für gut 100 Jahre eine Ausnahmeregelung vom allgemeinen Recht für sozial Höhergestellte etabliert (Schmidt 1939). Die Argumente für und gegen die Annahme einer eigenständigen Kleptomanie waren im Kern bereits bis zum Jahre 1860 ausgetauscht. Matthey (1816) und Marc (1844) hatten folgende Merkmale kleptomanen Stehlens angegeben: 1. freiwilliges Geständnis des Diebes, 2. Wiedergutmachung des Schadens, 3. Geringschätzung des gestohlenen Gegenstandes, der weggeworfen oder verschenkt werde, 4. das Auftreten vegetativer Begleiterscheinungen beim Stehlen. Casper (1860) argumentierte dagegen, dass bei fünf Sechstel aller Diebe Not keine Rolle spiele; das freiwillige Geständnis diene nur der Abwendung von Schmach und Schande; die Geringschätzung und das Wegwerfen des
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Gegenstandes seien nicht durch Beispiele bewiesen, das Verschenken sei für die Beurteilung gleichgültig. Ideler erklärte 1854, niemals Fälle von Kleptomanie als selbstständige Art des Wahnsinns gesehen zu haben. Ein Jahrhundert später wurden diese Art Argumente erneut ausgetauscht. Pauleikhoff und Hoffmann (1975) nannten eine Reihe von Merkmalen für Diebstähle „ohne Bereicherungstendenz“. Bresser (1979) wies diese als nicht trennscharf zurück und erklärte, dass ertappte Täter immer angeben könnten, sie seien offensichtlich nicht besonders raffiniert gewesen. Und auch hochgestellte Täter würden die Tat in der Erwartung begehen, nicht gefasst zu werden. Die anderen Kriterien von Pauleikhoff und Hoffmann illustrieren die tendenziöse Tatdarstellung durch einen histrionischen Täter: Erschrecken beim Ertapptwerden, Überraschtsein, Sprachlosigkeit. Die Bemerkung, die Täter könnten sich nicht erinnern, „wie es dazu kommen konnte“ und welches „das Motiv“ sei, offenbart allein die voreingenommene psychiatrische Erwartung verborgener Pathologie. Dies betrifft nicht selten auch die vermeintlich „motivisch unklaren Delikte“ (Greger u. Popella 1968). Eine ich-psychologische Interpretation von Stehlakten durch Cierpka (1986) rekurrierte in abschließenden Erwägungen zur Schuldfähigkeit auf Gieses Kriterien perverser Sexualentwicklung (Giese 1962), die von Schumacher (1981) auf suchtähnliche Verhaltensweisen angewandt worden waren. Aber auch der Hinweis auf die „Persönlichkeitsfremdheit“ von Diebstahlhandlungen, einen vermeintlichen „Symptomcharakter des Verhaltens“ sowie gar die Behauptung eines „Wiederholungszwanges“ kann bei wiederholt erwischten Dieben nicht überzeugen; Persönlichkeitsanteile, die als scheinbar „fremd“ aus dem Selbstbild ausgeblendet werden, sind weder notwendig unbewusst noch notwendig unkontrollierbar. Die amerikanische psychiatrische Assoziation hat in ihrem Diagnostischen Manual, inzwischen DSM-IV-TR (Saß et al. 2003), der „Kleptomanie“ seit drei Jahrzehnten den Rang einer „Störung der Impulskontrolle“ zugewiesen. Bei der Gesamtgruppe der „Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert“, handelt es sich um eine opake diagnostische Sammelkategorie von fragwürdiger Validität, in welcher die „intermittierende explosible Störung“ untergebracht ist, die sich durch wiederholte Gewalttätigkeiten auszeichnet, die „Pyromanie“, die sich durch wiederholtes Feuerlegen zum Vergnügen, zur Befriedigung oder zur Entspannung auszeichnet, das „pathologische Spielen“, die „Trichotillomanie“, die sich durch wiederholtes Ausreißen des eigenen Haars zum Vergnügen, zur Befriedigung oder zur Entspannung auszeichnet, sowie schließlich auch noch die „nicht näher bezeichnete Störung der Impulskontrolle“, die für andere wiederholte ungewöhnliche Handlungen offen bleibt. Von forensischer Seite ist immer wieder vorgeschlagen worden, in diesem Bereich eher von abnormen Gewohnheiten zu sprechen, als eine „Störung“ zu hypostasieren, und es wurde vor dem unkritischen Umgang mit dieser Diagnose gewarnt (Hadamik 1955; Habermeyer u. Heekeren 2004).
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Die diagnostischen Kriterien für 312.32 Kleptomanie sind folgende: A. Wiederholtes Versagen, Impulsen zum Stehlen von Gegenständen zu widerstehen, die weder zum persönlichen Gebrauch noch wegen ihres Geldwertes benötigt werden. B. Zunehmendes Gefühl von Spannung unmittelbar vor Begehen des Diebstahls. C. Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung beim Begehen des Diebstahls. D. Das Stehlen wird nicht begangen, um Wut oder Rache auszudrücken und erfolgt nicht als Reaktion auf Wahnphänomene oder Halluzinationen. E. Das Stehlen kann nicht besser durch eine Störung des Sozialverhaltens, eine manische Episode oder eine antisoziale Persönlichkeitsstörung erklärt werden. Immerhin beinhalten die Kriterien D und E eine gewisse Eingrenzung: Wenn jemand ohnehin durch ein dissoziales Verhalten auffällt, so ist meist auch das Bedürfnis nicht groß, ihm eine „Kleptomanie“ zu attestieren. Insofern finden wir hier schon eine soziale Eingrenzung: Die Diagnose wird für Personen reserviert, die ansonsten eigentlich nicht kriminell auffällig, andererseits aber auch nicht manifest psychisch krank sind. Diese Personen allerdings müssen nur das Kriterium erfüllen, dass sie wiederholt gestohlen haben, weil alle anderen Kriterien, nämlich die Kriterien A, B und C, wohl bei jedem Diebstahldelikt, wie auch bei vielen anderen Alltagshandlungen, erfüllt werden. Kriterium A konstatiert einfach nur den Tatbestand, dass es wiederholt eine bestimmte Handlungsweise gegeben hat; daraus wird dann geschlussfolgert, dass die entsprechende Person „versagt“ hat, entsprechenden „Impulsen zu widerstehen“. Es ist dies nur die gespreizte Formulierung des Sachverhaltes, dass jemand entsprechend seinen Intentionen beziehungsweise entsprechend seinen daraus erwachsenen Impulsen gehandelt hat; daran ist nichts Ungewöhnliches, das tun wir stets. Darin eingeschlossen ist nun die Unterstellung, dass die gestohlenen Gegenstände „weder zum persönlichen Gebrauch noch wegen ihres Geldwertes benötigt werden“; mit dieser Vorschrift wird nur ausgeschlossen, dass Leute, die wirklich aus Not heraus gestohlen haben, in den Genuss der „Kleptomanie“-Diagnose kommen. Alle anderen, insbesondere die sozial etablierten Täter, haben das Stehlen natürlich nicht nötig. Das Kriterium B, zunehmendes Gefühl von Spannung unmittelbar vor Begehen des Diebstahls, dürfte bei all jenen zutreffen, die nicht durch ständiges Stehlen so abgestumpft sind, dass sie dies prickelnde Gefühl längst verloren haben. Das Kriterium C, dass der Täter bei Begehen des Diebstahls Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung erlebt, ist ebenso trivial wie Kriterium B, weil Menschen bei allen erfolgreich durchgeführten Aktionen am ehesten Vergnügen, Befriedigung oder Entspannung erleben. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass bei einer solchen Operationalisierung der Kriterien für „Kleptomanie“ Voraussetzungen geschaffen sind, um eine bestimmte Klientel von Diebinnen und Dieben zu beforschen, die nicht
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dem klassischen dissozialen Muster entsprechen, sondern sozial besser integriert sind und andere, zusätzliche Motive haben mögen, ihren Alltag durch Diebstahlhandlungen spannender zu gestalten oder aber ihren desinteressierten Partner oder die fortstrebenden Kinder aufzuschrecken und zu binden (Kröber 1988). Tatsächlich ist es beim Diebstahl wie bei anderen Delikten unmöglich, allein aus dem Tatbild, aus dem Ablauf der Straftat, den Angaben des Täters über die Tat und über seine Motive zu einem psychopathologischen Syndrom zu kommen. Auch am Vorliegen oder scheinbaren Fehlen einer Bereicherungsabsicht lässt sich nicht ermessen, ob das Delikt durch eine schwerwiegende psychische Störung ermöglicht beziehungsweise befördert wurde. Unstreitig ist, dass gerade die Erleichterung von Diebstahldelikten sehr direkt dazu führt, dass mehr Diebstähle begangen werden. So ist speziell der Warenhausdiebstahl ein Delikt, das erst aufgekommen ist, als in Frankreich nach der bürgerlichen Revolution auch die großen Warenhäuser, die Magazine entstanden, man sprach damals von „Magazinitis“ (Schmidt 1939, bei Schmidt findet sich detailliert die Geschichte der ersten 100 Jahre Diskussion über Kleptomanie). Die Argumentationsfiguren in Gutachten über Ladendiebe beleuchtete Löschper (1993). Allemal lässt sich über „kleptomane“ Diebe unter Zugrundelegung der DSM-Kriterien trefflich forschen; nicht überraschend gibt es bei diesen häufig histrionisch und emotional instabil konfigurierten Personen eine deutliche Überlappung mit anderen psychischen Auffälligkeiten, insbesondere affektiven Störungen, Substanzmissbrauch, Essstörungen, insgesamt Störungen aus dem „affektiven Spektrum“ (Goldman 1991, 1992; McElroy et al. 1991 a, 1991 b, 1995, 1996; Sarasalo et al. 1996, 1997; Presta et al. 2002; Grant 2003). Auch bei Patienten, die extra wegen ihrer „Kleptomanie“ in psychiatrische Behandlung kommen, ist eine solche Überlappung mit anderen Störungen unzweifelhaft psychiatrischer Art zu erwarten und gesichert (Leygraf et al. 1986; Leygraf u. Windgassen 1990, 1991). Dass bei der erhöhten Anzahl emotional instabiler oder depressiv verstimmter Probanden aus dieser Gruppe Serotoninwiederaufnahmehemmer (Lepkifker et al. 1999; s. auch Durst et al. 2001; Kozian u. Otto 2003) zur Behandlung empfohlen wurden, überrascht nicht. Allerdings kommt es auch unter Antidepressiva zu Stehlhandlungen (Kindler et al. 1997). Dass es ein Stehlen um des Stehlens willen gibt, bei dem die Bereicherungsabsicht allenfalls zweitrangig ist, ist kein Geheimnis. Manche Jugendliche stehlen „aus sportlichen Gründen“, also als Mutprobe, Imponiergehabe und als Abenteuerspiel. Die Schuldfähigkeit berührt dies nicht. Komplizierter erscheint der Sachverhalt, wenn die Angst-Lust-Spannung beim normwidrigen Akt auch mit eindeutigen sexuellen Sensationen einhergeht, wie dies vereinzelt fetischistische Diebe geltend machen. Immer dann, wenn zugleich andere psychische Störungen vorliegen, ist natürlich zu prüfen, wieweit diese das Geschehen wesentlich beeinflussen, so zum Beispiel bei der Beurteilung der häufigen Stehlhandlungen bei Patientinnen mit Magersucht oder Bulimie (Gerlinghoff u. Backmund 1987).
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Zahlreicher sind missmutig verstimmte Täter, nicht zuletzt weiblichen Geschlechts, von denen gesagt wird, ihr Stehlen diene dem Abreagieren von Spannungs- und Drangzuständen. Rasch (1986) sah bei diesen Menschen Gefühle der Minderwertigkeit, der Hoffnungslosigkeit und der Selbstaufgabe. Das ganze Leben erscheine als eine Kette von Misserfolgen und Zurücksetzungen, von Mobbing und mangelndem Respekt. Diebstähle würden hier begangen, um sich das zu holen, was einem sozusagen zu Unrecht vorenthalten wird. Die Taten bildeten eine Art Protest, eine aggressive Abwehr gegen das Schicksal des chronisch Benachteiligten. Den gleichen psychodynamischen Hintergrund sah Rasch auch bei manchen schwerer wiegenden Taten, dann eher von Männern, wie zum Beispiel Brandstiftung. Soweit diese Täter aber Schuldgefühle wegen ihrer Taten entwickelten, würden auch die Delikte nachträglich in die Reihe der Misserfolge und Kränkungen eingefügt. Angst und Schuldgefühle seien deshalb geeignet, die Tendenz zur Begehung von Straftaten zu stabilisieren. Bei der Exploration werde oft ein hohes Verlangen nach Hilfe geäußert, ohne dass ein dauerhafter Veränderungswunsch dahinter stehe. Man kann dies so deuten (Kröber 1988), dass die in diesen Fällen meist weiblichen Täter durch ihr wiederholtes Stehlen die signifikanten Bezugspersonen binden und deren Aufmerksamkeit und Zuwendung wiederherstellen, weswegen sie zwar bereit sind, sich allerlei Maßnahmen zu unterwerfen, nicht aber, ihr Delinquieren einzustellen. Immer dann, wenn die Behandlung scheinbar zum Erfolg geführt hat und die soziale Umgebung glaubt, Entwarnung geben und sich abwenden zu können, wird sie durch eine erneute Tat wieder aufgeschreckt. Auch weitere Autoren haben in kasuistischen Studien immer wieder gefunden, dass Partnerschaftskonflikte im Hintergrund offenbar eine wichtige Rolle spielen können (Bauer u. Hagenbuchner 1972; Floru 1974; Möller 1977). Osburg hat 286 Begutachtungsfälle ausgewertet (Osburg 1992). In den Begutachtungen wurde bei knapp einem Viertel der Probanden eine „neurotische Depression“ festgestellt, eine damals beliebte Diagnose, die in heutiger Diagnostik wohl als eine chronifizierte missmutige Verstimmung im Sinne einer Dysthymie und Dysphorie zu übersetzen wäre. 50% der Probanden seien Männer gewesen. Von den 211 Fällen, die in eine Clusteranalyse eingingen, hatten 28% vor allem eine Suchtproblematik, 18% eine hirnorganische Problematik. Es gab drei weitere Cluster mit Anteilen von 22, 19 und 14%, die alle als „Neurosen“ bezeichnet wurden. Die zu 22% neurotischen Frauen waren zum Tatzeitpunkt überwiegend körperlich krank, zudem medikamentenabhängig, teilweise bestand auch ein Alkoholabusus. Sie waren zur Hälfte in nervenärztlicher Behandlung und lebten in einer konflikthaften Beziehung, insbesondere zum Partner. Dies führte dann zur Diagnose „depressive Neurose“. Des Weiteren gab es mit einem Anteil von 19% die neurotische Konflikttäterin im Alter von 30 bis 60 Jahren, wegen Diebstahls vorbestraft, Arbeiterin oder Hausfrau; bei ihr war die aktuelle Situation durch einen Konflikt gekennzeichnet, den sie überwiegend mit ihrem Partner, zum geringeren Teil auch mit ihren Kindern auszutragen
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hatte. Die Hälfte war körperlich gesund, die andere Hälfte krank, jedoch nicht im neurologischen Bereich. Es war dies eine Gruppe, die keinen Abusus betrieb, ebenso wie die verbleibende dissoziale junge Gruppe, die auf einen Anteil von 14% der Begutachtungsfälle kam. Diese „jungen Neurotiker“ waren überwiegend Personen, die schon vorbestraft waren, meist wegen anderer Delikte. Zusammenfassend kann man also auch anhand der Osburg-Fälle sehen, dass sich kein eigenständiges Syndrom namens „Kleptomanie“ abbildet, sondern grob gesprochen eine Dreiteilung mit deutlichen Überlappungen: psychisch labile Menschen mit Suchtproblemen (50% des begutachteten Kollektivs betrieben einen Abusus) und großer Lebensunzufriedenheit, Menschen mit deutlichen dissozialen Prägungen sowie Menschen in chronischen innerfamiliären Konfliktsituationen, die auf das Stehlen als einen Modus der Konfliktaustragung gestoßen sind. Bei den so genannten „neurotischen Konflikttätern“ handelt es sich um eine Kerngruppe von Frauen, die nicht selten in ihren theatralischen Fähigkeiten gewisse betrügerische Talente aufscheinen lassen. Sie sind bei den Begutachtungen nicht selten anziehend zurechtgemacht und geben sich dem männlichen Gutachter und seiner Führung ganz anheim mit großen ratlosen Augen, die immer wieder einmal in Tränen verschwimmen, und erklären, sie könnten das, was sie gestohlen haben, überhaupt nicht gebrauchen oder hätten es an Kinder und arme Leute verschenkt. Nicht selten wird der Gutachter in die Position des Retters manövriert, was sich dann in der Hauptverhandlung wiederholen kann. Unstreitig ist allerseits, dass es Stehlhandlungen aber auch im Zusammenhang mit definierten psychischen Erkrankungen geben kann. Diskutiert wurde dies auch bei umschriebenen hirnorganischen Störungen (Khan u. Martin 1977; Gößling u. Rosin 1994). Eine Auswertung von „entschuldbaren Eigentumsdelikten“ bei diversen psychischen Erkrankungen, Epilepsien und hirnorganischen Veränderungen findet sich bei von Schumann (1975). Es gibt psychische Erkrankungen, die vor Delinquenz weitgehend bewahren, wie eine akute schwere Depression, es gibt andere, die mit erhöhter Delinquenz einhergehen. Insbesondere bei einer Vielzahl von Persönlichkeitsstörungen ist das Risiko delinquenter Handlungen erhöht. Obwohl nun bei einer akuten, schweren Depression, weil sie zu einer massiven Antriebshemmung führt und auch das Interesse an der Außenwelt weitgehend erlöschen lässt, keine relevanten Straftaten zu befürchten sind, ist bekannt, dass manche depressive Patienten im Beginn einer depressiven Phase oder im Verlaufe der Genesung einzelne Diebstahldelikte begehen (Keller et al. 1981). Wenn diese beispielsweise zur selben Zeit wegen ihrer Depression noch in stationärer psychiatrischer Behandlung sind, stellt sich die Frage, ob hier durch die Depression eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit eingetreten ist. Mundt (1981) hat durchaus einen Zusammenhang mit der Depression gesehen, er verwies auf die verstärkten Bedürfnisse nach einer Gratifikation; zur Frage einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hat er sich eher zurückhaltend geäußert. Im Übrigen können natürlich
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auch hirnorganische Verletzungen und Erkrankungen wie auch Psychosen aus dem schizophrenen Spektrum die Kritikfähigkeit und den Normenbezug herabsetzen. Insbesondere bei verwahrlosten Schizophrenen gibt es auch normal motivierte Diebstahldelikte bis hin zu qualifizierteren Formen wie Einbruchdiebstahl. Manche hatten bereits vor dem Erkranken eine dissoziale Entwicklung durchgemacht und sich dabei einiges an kriminellem Know-how und Handwerkszeug angeeignet. Sofern die Taten nicht in einem akut psychotischen Zustand begangen worden sind, wäre zu prüfen, ob ein schizophrenes Residualsyndrom zu einer so weitgehenden Auflockerung des Persönlichkeitsgefüges und des Normenbezuges geführt hat, dass hier eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen ist. Größte Zurückhaltung geboten ist jedoch gegenüber spekulativen Annahmen über „unbewusste“ Tatmotive und „Obsessionsdelikte“ (de Boor u. Kohlmann 1980). Die Argumentationslinien in diesen Fällen laufen so, dass einzelne Motive aus innerfamiliären Konflikten, die nachvollziehbar die Deliktbegehung befördert haben, herausgegriffen, symbolisch überhöht und in eine unbewusste Triebkraft verwandelt werden. Damit werden sie der verantwortlichen Einflussnahme entzogen, weswegen vermeintlich auch der illegale Akt nicht mehr der persönlichen Verantwortung unterliege. Tatsächlich sind Personen nicht für unbewusste Motive verantwortlich, wohl aber dafür, wenn sie in Kenntnis der Rechtswidrigkeit ihrer intendierten Handlungen diese gleichwohl durchführen, was ganz unabhängig davon ist, ob das Motiv ein ehrenwertes oder kritikwürdiges, ein bewusstes oder unbewusstes ist. Diebstahldelikte, bei denen gleichzeitig psychiatrische Diagnosen zu stellen waren, gingen nach einer Auswertung von 1649 Verurteilungen wegen Diebstahls in Montreal überwiegend mit Alkoholismus, Drogenmissbrauch sowie affektiven Störungen einher; allerdings waren nur 3,2% der Verurteilten psychisch auffällig (Lamontagne et al. 1994).
2.3.2.3 Betrugsdelikte Im Strafverfahren begegnet der forensische Psychiater Betrügern heute vorrangig dann, wenn Verhandlungs- oder Haftfähigkeit zu beurteilen sind. Die Frage nach der Schuldfähigkeit wird hingegen in den seltenen Fällen aufgeworfen, in denen psychiatrische Diagnosen im Raum stehen, die jenseits der Besonderheiten liegen, die die Persönlichkeit des kriminellen Rückfallbetrügers und die Delinquenzgeschichte kennzeichnen. Insofern werden Betrug und Betrüger in den gängigen Lehrbüchern forensischer Psychiatrie eher verstreut und am Rande abgehandelt; erwähnt wird Betrugsdelinquenz im Zusammenhang mit affektiven oder dissoziativen Störungen, pathologischem Glücksspiel oder subsumiert unter der histrionischen Persönlichkeit. Jenseits dessen erscheint die zahlenmäßig kleine, aber eindrucksvolle Subgruppe betrügerischer Rückfalltäter einer gesonderten Betrachtung wert.
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Bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts führte eine gesellschaftliche und psychiatrische Grundhaltung, beharrlich exzentrisches Verhalten als krank zu betrachten, dazu, manche dieser Täter der Begutachtung hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit im Sinne des damaligen § 51 StGB zuzuführen und mitunter auch der „ärztlichen Fürsorge und Absonderung“ (Birnbaum 1926) in festen Häusern der Heil- und Pflegeanstalten zu unterwerfen. Rückfällige Betrüger gaben als Hochstapler, psychopathische Schwindler und Lügner Anlass zu einer ganzen Reihe von psychiatrischen Kasuistiken und Stellungnahmen; zentraler Anknüpfungspunkt war dabei die von Anton Delbrück 1891 beschriebene „Pseudologia phantastica“. Delbrück hatte das Phänomen des ausgeprägten, auffälligen, sozusagen triebhaften Lügens erstmals umfassend als Symptom beschrieben, das bei verschiedenen Krankheitsbildern, vor allem bei der Hysterie und dem moralischen Irresein, aber auch bei hirnorganischen Erkrankungen und, im Sinne einer Verdünnungsreihe, durchaus auch beim Gesunden vorkommen kann. Kraepelin widmete in seinem psychiatrischen Lehrbuch (7. Aufl. 1904) dem „krankhaften Lügner und Schwindler“ ein eigenes Kapitel von immerhin sechs Seiten. Die Pseudologia phantastica fasste er konkreter als Delbrück als krankhafte Übererregbarkeit der Einbildungskraft, mangelnde Treue der Erinnerung und Unstetigkeit im Bereich der Gefühle und des Willens. Insbesondere stammt von Kraepelin (1906) dann auch eine kompakte Skizzierung des „geborenen Hochstaplers mit hysterischen Störungen“. Der sei ein gewandter Schwindler ohne Neigung oder Befähigung zu ernsthafter Arbeit. Sein ganzes Leben stelle nur eine Kette von unaufhörlichen Betrügereien dar. Nach Bedarf bringe er jeden Augenblick die abenteuerlichsten Erfindungen vor und finde sich in jeder Lebenslage zurecht. Die Verstandesbegabung sei ganz gut, oft hervorragend, die Auffassungsgabe rasch. Schlagfertigkeit und Lebhaftigkeit der Einbildungskraft fänden sich neben Unzuverlässigkeit der Erinnerung, Labilität der Stimmung und gehobenem Selbstgefühl. Dies alles gehe einher mit einer Neigung zum Abenteuerlichen, Theatralischen, einem Mangel an Ausdauer und Unstetigkeit der Lebensführung. Daneben fänden sich hysterische Stigmata verschiedener Art und auch Anfälle. Bei 13 der 15 an dieser Stelle von Kraepelin erwähnten Fälle seien Selbstmordversuche zu verzeichnen gewesen, die „meist nicht sehr ernsthafter Natur“ gewesen seien. Aschaffenburg (1907) sah als Gemeinsamkeit zwischen Hochstaplern und Schwindlern und den Kranken, die Delbrück in seiner Studie zur Pseudologia phantastica beschrieb, insbesondere die starke Autosuggestibilität, die es Hochstaplern und Betrügern ermögliche, so sicher und überzeugend aufzutreten. Sie spielten keine Rolle, sie erlebten sie. Erbbiologische Konstrukte lagen der umfangreichen Untersuchung von Baeyers aus dem Jahr 1935 zur „Genealogie psychopathischer Schwindler und Lügner“ zugrunde, deren Ausgangspunkt wiederum die Pseudologia phantastica war. Mit 67 Fällen bietet diese psychiatrische Studie neben einer Fülle von Datenmaterial einen detailreichen Einblick in die Biografien
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und psychischen Dispositionen derjenigen Betrüger, die in den vorangegangenen 20 Jahren einer psychiatrischen Begutachtung und teils auch einer psychiatrischen Unterbringung zugeführt worden waren und bei denen eine Neigung zum Pseudologisieren oder Schwindeln und Lügen aufgefallen war. Es vermittelt sich nicht nur ein plastischer Eindruck von den historischen Besonderheiten betrügerischen Tuns und Werdens und ihrer damaligen Bewertung, sondern es werden hier auch einige offenbar eher gleich bleibende, archetypische Muster deutlich. In den ausführlich dargestellten Kasuistiken findet sich eine Neigung zu luxuriösen Equipagen und teuren Pferden und dann auch schon Automobilen ebenso wie eine Tendenz zu eher oberflächlichen und kurzzeitigen Liebesbeziehungen und nur selten einmal der Hinweis auf eine am Ende doch noch gelungene soziale Stabilisierung. Festzuhalten ist aus der Studie von Baeyers (1935) aus heutiger Sicht, dass sich Unterschiede abzeichnen zwischen jenen 42 Untersuchten, die bereits seit der Kindheit pseudologisches Verhalten zeigten und bei denen das Schwindeln „nicht allein dem bequemen Gelderwerb oder dem billigen sinnlichen Genuss, sondern ebenso sehr und manchmal überwiegend der Selbstwerterhöhung“ diente, und einer zweiten Gruppe von 25 „sonstigen abnormen Schwindlern“, bei denen das Phänomen der Pseudologia phantastica, des Lügens aus Geltungssucht und gesteigerter Phantasietätigkeit, nicht vorlag, und die ganz überwiegend zielgerichtet und finanziell motiviert betrogen und hochstapelten, und zwar meist (88%) im Sinne monotroper Delinquenz (mit Vermögensdelikten). Gehäuft seien die Pseudologen der Gruppe eins auch durch Bettnässen, Pavor nocturnus (nächtliche Angstzustände), Davonlaufen und Diebstähle auffällig geworden. Diese Gruppe hatte einen Frauenanteil von immerhin 38%. In der eher dem kriminellen Pol zugeneigten Gruppe von Betrügern überwogen Männer deutlicher (88%). Hier wurden typische Betrügerqualitäten wie das Renommieren, Posieren und eine selbstbewusste Eitelkeit beschrieben, Primordialzeichen („frühpsychopathische Zeichen“) in Kindheit und Jugend fehlten. Dennoch zeigten sich nicht wenige psychiatrisch relevante Auffälligkeiten. Gegenüber den Schwindlern aus Gruppe eins wurde ein vermehrtes Auftreten psychogener Anfälle und psychogener Körperfunktionsstörungen (64%), hysterischer Reaktionen, querulatorischer Tendenzen, süchtigen Verhaltens (12%) und von Suizid (8%) beschrieben. In beiden Gruppen wurden bei über einem Viertel der Untersuchten Stimmungsanomalien oder affektive Auffälligkeiten (26%) vermerkt – vorwiegend im Sinne einer gesteigerten reaktiven Erregbarkeit, in 5 Fällen der Gruppe eins aber auch als an die zyklothyme oder zykloide Psychopathie erinnernde Dauerabweichungen beziehungsweise als endogene Schwankungen der Gemütslage. Überwiegend aus dem gutachterlichen Kontakt heraus mit Betrügern vertraut, haben die damaligen Protagonisten der Psychiatrie den Hochstaplern eher beiläufige Bemerkungen gewidmet (vgl. Kröber 1985 a). Gruhle (1939) sah sie vor allem durch Unruhe geprägt, nannte sie „bewunderns-
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werte Schauspieler“ und erklärte, „auch unter den männlichen Hochstaplern sind Leute, deren sichere Haltung, lockere Motorik und selbstverständliche Liebenswürdigkeit bezaubern“. Kurt Schneider (1938) ordnete sie den geltungsbedürftigen Psychopathen zu, welche mehr schwindeln, um eine bestimmte Rolle übernehmen zu dürfen als materieller Vorteile wegen – was sie nicht hindere, diese bei Gelegenheit mitzunehmen. Rabiater äußerten sich manche Kriminologen: Von Rohden (1933) und ein Gefängnisvorsteher namens Schürer von Waldheim (1942) sahen den Hochstapler als Sonderfall des geborenen Verbrechers. Von Rohden sprach ihm Klugheit, größte Anpassungs- und Einfühlungsfähigkeit, gewandte Ausdrucksbegabung zu, aber auch Aktivität neben Unruhe, Mangel jeglicher Ausdauer und Beharrlichkeit, Abscheu vor Eintönigkeit oder Fleiß. Schürer von Waldheim war empört, dass Hochstapler im Gefängnis, obwohl ihre Arbeitsscheu doch bekannt sei, „manchmal sehr gut gearbeitet haben.“ Denn „sie wollten dadurch nur persönliche Vorteile erlangen, vor allem ihre Entlassung beschleunigen“. Auf 14 eigenen Gutachtenfällen und der Auswertung von weiteren 60 Gutachten basiert eine ausführliche Abhandlung zum „hochstaplerischen Betrüger“ von Meinertz (1955). In seinem Versuch einer idealtypischen Beschreibung „mehrfach rückfälliger Betrüger und Hochstapler“ finden sich neben Altbekanntem einige Aspekte, die zuvor keine ausführliche Beachtung erfahren hatten, so Eigenarten in der Sprechweise von rückfälligen Betrügern. Meinertz versuchte eine Interpretation von Teilaspekten betrügerischen Verhaltens, in dem er wie vor ihm Helene Deutsch (1920) das Pseudologisieren dem Wachtraum an die Seite stellte. Sein Hang zur Wachträumerei hindere den Betrüger am Planen und bedinge seine Augenblicksbestimmtheit, denn „wenn das Traumleben sich überhaupt mit den Realitäten schneidet, dann im Augenblick“. Am Rande wird in dieser Arbeit eine häufige Süchtigkeit von Betrügern als allgemeine und allgemeingültige psychiatrische Erfahrung formuliert, ohne dass dies anhand von Daten hier oder an anderer Stelle belegt wäre. Ab den 60er Jahren waren Betrüger – wenn überhaupt – vereinzelt Gegenstand kriminologischer Auseinandersetzung. Die letzte umfassendere Stellungnahme seitens der forensischen Psychiatrie formulierte Paul Bresser anlässlich einer Tagung der „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie“ 1977. Bereits das Thema der damaligen Tagung – „Wirtschaftskriminalität“ – verweist auf den seitdem beherrschenden Fokus wissenschaftlicher Aktivitäten auf dem Gebiet der Betrugsdelinquenz. Bresser (1978) fasste – sozusagen abschließend – den psychiatrischen Wissensstand über den kriminologischen Prägnanztyp des Betrügers in sprachlich zeitgemäßer Form: Als „gewaltloser Intelligenztäter“, der im Gespräch unmittelbar geistige Beweglichkeit erkennen lasse, habe der Betrüger einen hohen Geltungsanspruch mit hochstaplerischem Einschlag und eine „betriebsame Temperamentsart“. Weiter wurden interaktionelle Besonderheiten herausgestellt: Das Auftreten sei selbstsicher, für naive Mitmenschen durchaus gewinnend und oft von „beneidenswerter Suggestiv-
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kraft“. Schilderungen würden gern sentimental ausgestaltet. Über die reine Zweckgebundenheit hinaus sei eine Freude am Spiel mit den Gefühlen anderer zu beobachten, ein reaktionsschnelles sowie dem Anschein nach mitfühlendes Eingehen auf affektive Regungen des Gesprächspartners. Besonders einflussreich für das Bild des Hochstaplers war da bereits ein Werk der Hochliteratur, Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, 1954 erschienen, das sich auf die Memoiren eines echten Hochstaplers stützen konnte, nämlich des Rumänen Manolescu mit dem emphatischen Titel „Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers“ (1906). Manolescu rühmte sich darin auch einiger Verbrechen, die er so großartig nun doch nicht begangen hatte (Wulffen 1907, 1923). Leonhard (1976) und Huber (1974) nahmen wiederum Krull als typisches Beispiel für einen hysterischen Psychopathen, für das „mehr scheinen als sein“ (Jaspers 1948). Thomas Mann selbst phantasierte ihn als „eine Art von Künstlernatur, ein Träumer, Phantast und bürgerlicher Nichtsnutz, der das Illusionäre von Welt und Leben tief empfindet und von Anfang an darauf aus ist, sich selbst zur Illusion, zu einem Lebensreiz zu machen“ (zitiert nach Mayer 1984). Ein ebenfalls sehr realitätsnaher Hochstaplerroman war der 1927 erschienene „Zenobi“ von Efraim Frisch (1984). In neuerer Zeit erlangten Fälle wie die des Tagebuchfälschers Kujau, des Regierungsberaters Pfeiffer und des falschen Psychiaters Postel allgemeine Aufmerksamkeit. Zu bedenken ist, dass hochstaplerische Betrüger eine sehr kleine, markante Gruppe im riesigen Felde des Massendeliktes „Betrug“ sind. Die meisten, die wegen Betrugs verurteilt sind, tragen keine besonderen, übereinstimmenden Merkmale. Insofern gibt es auch eine große Übereinstimmung mit den Sachverhalten im Bereich Wirtschaftskriminalität, während es andererseits, selten einmal, unter den Wirtschaftskriminellen „typische“, habituelle Betrüger gibt. Wir werden auf diesen Betrügertypus zurückkommen, wechseln aber zunächst ins nüchterne Feld der „Weiße-Kragen-Kriminalität“.
2.3.2.4 Wirtschaftskriminalität und „white-collar-criminality“ Der Begriff der „white-collar-criminality“ geht auf den Soziologen Edwin Sutherland (1983) zurück: „A white collar crime is a crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation.“ Sutherlands Anliegen war es, den Blick dafür zu öffnen, dass kriminelles Verhalten nicht auf die Unterschichten der Bevölkerung begrenzt ist. Seine Zielrichtung war eher die Analyse der gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, weniger die Deliktform oder der Täter, für dessen Persönlichkeit er spezifische Besonderheiten verneinte. In der Tat sind Studien zur Persönlichkeitsforschung bei „white-collarcriminality“ weder methodisch noch im Ergebnis überzeugend (hierzu z. B. Collins et al. 1993; Alaletho et al. 2003). Dennoch gerieten mit der Wahrnehmung und Beschreibung der „white-collar-criminality“ anders geartete
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Subgruppen von Betrugsdelinquenten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Hierzulande ist in diesem Zusammenhang von „Wirtschaftsdelinquenz“ die Rede, wobei die Begriffe nicht ganz deckungsgleich sind. Die Geschichte der Wirtschaftskriminalität beschrieb Schneider (1981). Charakteristisch für Wirtschaftsdelinquenz ist die Kollektivität und Anonymität des Opfers und die geringe Sichtbarkeit des Rechtsbrechers. Die Strafverfahren sind überdurchschnittlich lang, die Zahl der Verfahrenseinstellungen sehr hoch. Wirtschaftsstraftäter haben mit signifikant niedrigeren Strafen zu rechnen als „normale“ Täter so genannter Straßenkriminalität (Liebel 2002). Die Quote der Absprachen zwischen Gericht, Verteidigung und Staatsanwaltschaft über den Verfahrensausgang soll bei manchen Wirtschaftsstrafkammern schon zu Beginn der 90er Jahre bei 80% gelegen haben (vgl. Schwind 2005). Forensisch interessante Studien zu diesem Bereich werden nun schwerpunktmäßig von kriminologischer Seite durchgeführt. In einer Zürcher Studie aus den 70er Jahren (Schmid 1976) wurden 100 Fälle mit einer Schadenssumme von mindestens 100 000 Schweizer Franken und mindestens drei Straftatbeständen (Betrug, Veruntreuung, betrügerischer Konkurs meist in Zusammenhang mit Aktiengesellschaften) ausgewertet. Die verurteilten Wirtschaftsdelinquenten waren ganz überwiegend Männer, das Durchschnittsalter lag bei Deliktbegehung bei 40,7 Jahren. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seien „undeutlich“ gewesen, 48 Delinquenten seien überschuldet gewesen. In der Gruppe so genannter Einmaltäter wurden sozial, finanziell und familiär überdurchschnittlich integrierte Bereicherungstäter (16), die sich bewusst im Grenzbereich zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem bewegten, von Engpasstätern (33) unterschieden, die mit ihrer Delinquenz versuchten, drohenden Ruin oder berufliches Scheitern zu verhindern. In dieser Subgruppe kam es offenbar gehäuft zu psychiatrischen Begutachtungen, gelegentlich auch zu Dekulpierungen, aber mitunter auch zu einem Hinüberdriften der Delinquenten in die Gruppe der Wiederholungstäter. Bei diesen wiederum stellten die so genannten Unterwelttäter (38) als Mitglieder der „Zürcher Finanzunterwelt“ den größten Anteil. Es handele sich um eine Gruppierung, deren Mitglieder letztlich bekannt seien, sich an der Grenze zur Illegalität bewegten und die vorwiegend innerhalb ihres Milieus, aber auch mit ausländischen Unterweltkreisen, ihre Geschäfte abwickelten. Weiter wurden pseudologische Hochstapler (10) und „gewöhnliche Rückfalldelinquente“ (3) mit polytroper Delinquenz unterschieden. Eine erhöhte Bereitschaft, mit gesellschaftlichen Normen und Regeln subjektiv und situationsbezogen umzugehen, sich auch risikoträchtig zu verhalten, findet ihre Entsprechung in der ungewöhnlich hohen Zahl von Straßenverkehrsdelikten, mit denen nahezu alle in der Zürcher Studie untersuchten Wirtschaftsdelinquenten auffällig geworden waren. Persönlichkeitsprofile von Wirtschaftskriminellen beschrieb Knecht (2006) aus psychiatrischer Sicht, verwies aber auch darauf, dass diese oftmals sozial unauffällig und bestens vernetzt seien und überaus schwer zu fassen.
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Dass sich der Typus des klassischen, betrügerischen Rückfalltäters den Bereich der Wirtschaftskriminalität zu Eigen gemacht hat, ist einer aktuellen Studie zum Kapitalanlagebetrug zu entnehmen, die vorrangig auf die Täter-Opfer-Interaktion fokussiert (Liebel 2002). Die Kontaktaufnahme von Täter und Opfer erfolgte in erster Linie über Inserate und an zweiter Stelle über befreundete oder bekannte Drittpersonen als „heißer Tip“, was zu der bei diesem Deliktbereich häufigen Sogwirkung führt. Die Geschädigten kannten den Täter in der Regel zuvor nicht, schenkten ihm aber rasch vollstes Vertrauen und schlossen fast immer beim ersten oder zweiten Treffen einen Vertrag ab. Die Täter wurden als redegewandt, seriös, sympathisch, gut informiert und ausgesprochen fachkompetent erlebt. Sie nutzten paradoxe Strategien, forderten auf, gut zu überlegen, sich Zeit zu lassen und sich nicht auf die Aussagen von Anbietern zu verlassen, Maximalbeträge festzulegen und sich von diesen auf keinen Fall abbringen zu lassen. Mit Scheingewinnen in der Anfangsphase würden Investoren zu höheren Einsätzen verleitet. Um einen dann mitgeteilten Verlust aufzufangen, werde das rasche Nachschießen von Mitteln angeregt. Es entstehe so eine Dynamik, die bis in den Ruin führen könne. Zuletzt sollten dubiose „Wirtschaftsvermittler“ mit dem Auftrag der Wiederbeschaffung das allerletzte Geld der Betroffenen an sich bringen. Eine entsprechende Opferdynamik hatten Müller und Laakmann (1988) noch als bemerkenswerte Rarität verstanden und in einer Kasuistik im Nervenarzt dem pathologischen Spielen gleichgesetzt. Betrüger erkennen dies früh als ein typisches Verhaltensmuster von Geschädigten – eine früher gängige Bezeichnung war das „Krawattenmachen“ – und bauen es in ihre Strategien ein. Aus den USA kommend, sollen hierzulande seit Ende der 90er Jahre so genannte „recovery room operations“ beobachtet werden. Hier handele es sich um kurzzeitig eingerichtete Bürobetriebe, deren Telefonverkäufer ausschließlich bereits betrogene Personen für neuerliche Investitionen gewinnen sollen. Mit den Adressen von Geschädigten werde unter Betrügern reger Handel getrieben. Die sieben von Liebel interviewten Täter sahen als wesentliche Eigenschaften eines Anlageberaters Rhetorik, Durchsetzungsvermögen und selbstsicheres Auftreten sowie Seriosität in Auftreten und im Erscheinungsbild. Bis auf einen, der deliktisches Verhalten generell bestritt, gaben alle Täter betrügerische Kontakte an, die es in der Branche immer gebe, oft ins Ausland, oft in die Schweiz. Auch in einer aktuellen Studie von Bannenberg (2002) über Korruption in Deutschland war der Archetyp des klassischen betrügerischen Rückfalltäters vertreten, und zwar in einer Häufigkeit von 5–10%. Möglicherweise spielten bei diesem recht hohen Anteil die besondere Situation der Wende und die Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Treuhand ergaben, eine Rolle. Daneben aber wurde ein ganz anderer Typus von Wirtschaftsdelinquenten beschrieben, der sich auf Geber- wie auf Nehmerseite gleichermaßen finde. Der „typische Täter struktureller Korruption“ sei deutsch, männlich, über 40 und nicht vorbestraft, verheiratet und in geordneten Verhältnissen in der Regel schuldenfrei lebend. Er habe eine gute bis
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sehr gute Ausbildung oft über den zweiten Bildungsweg gemacht, sei sehr ehrgeizig und beruflich sehr engagiert und angepasst. Der materielle Aspekt sei bei den angeklagten Delikten motivierend, nicht aber ausschlaggebend gewesen. Der aus dem delinquenten Verhalten erwachsende Profit sei nicht zur Finanzierung eines ausufernd luxuriösen Lebensstils, sondern zur sukzessiven Steigerung des bisherigen Lebensstandards genutzt worden. Am Arbeitsplatz seien diese Täter als erfahren, korrekt, penibel und als Vorgesetzte streng und pingelig erlebt worden. Erwähnt wird eine Neigung, Untergebene wegen Unkorrektheiten und Nachlässigkeiten vor anderen zu kritisieren. Diese Täter hätten keine illegalen Wertvorstellungen, wollten glauben, sie handelten gerechtfertigt und zeigten ausgeprägte Strategien von Bagatellisierung, Selbstkorruption und Rationalisierung (von Bannenberg „Neutralisierung“ und Rechtfertigung genannt). In den 101 für die Studie ausgewerteten Strafverfahren mit 436 Angeschuldigten seien mitunter durchaus Gutachten zur Frage von Haft- und Verhandlungsfähigkeit gefertigt worden, wobei aber vorrangig Erkrankungen geltend gemacht worden seien, denen eine höhere soziale Akzeptanz zugeschrieben wird. In keinem Fall sei ein psychiatrisches Gutachten erstellt worden (mündliche Mitteilung Bannenberg).
2.3.2.5 Besonderheiten der Begutachtung von Betrügern Begutachtungen von Betrugsdelinquenten sind für gewöhnlich zeit- und energieaufwändig. Meinertz (1955) stellte insbesondere eine Tendenz hochstaplerischer Betrüger zu einem farbigen, aber auch detailverliebten und langatmigen Erzählstil heraus, der vielfach Anhaltspunkte zum Einhaken biete. Ein Wechsel hin zu einer abstrakten und damit kurz fassenden Ebene könne dann geradezu auf „verdächtige“ Hintergründe hinweisen, wobei der Versuch, diese zu erfragen, rasch zu neuen, komplex ausgestalteten Erzählungen führe. Insgesamt entstehe trotz seines guten Überblicks und der schnellen Einfühlung beim hochstaplerischen Betrüger der Eindruck der mangelnden Gliederung und mangelnder Fähigkeit, aus dem Rhythmus der Sprache und der Logik des Inhaltes ein geformtes Ganzes entstehen zu lassen. Selbst im Rahmen seiner sprachlichen Äußerungen fehle es dem Betrüger also am vorausschauenden Planen. Betrüger sind begabt darin, zeitgeistige Strömungen rasch zu erspüren und aufzugreifen. Aktuell ist der Fall eines in Freiheit jeweils über längere Zeit wirtschaftlich sehr erfolgreich und bruchlos überzeugenden Wirtschaftsdelinquenten, der, zum zweiten Mal inhaftiert, im Strafverfahren neben einer Reihe von histrionischen Symptomen insbesondere eine multiple Persönlichkeitsstörung geltend machte, was zur Begutachtung im Hinblick auf die Schuldfähigkeit führte. Erkennbar wurde er im Verlauf der sich hinstreckenden Explorationen von seiner Fabulierlust mitgerissen und berichtete in farbigen Details auch von Erlebnissen und Symptomen, die der cineastisch interessierte psychiatrische Laie mit Erkrankungen aus dem schizo-
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phrenen Formenkreis, der Manie und der Epilepsie in Verbindung bringen könnte. Nicht selten mag aber das Übermaß an nebensächlichen Informationen auch als zielgerichtete und nicht uneffiziente Kommunikationsstrategie eingesetzt werden und dem Zweck dienen, den Gutachter zu ermüden, zu verwirren und allmählich resignieren zu lassen und so die Kontrolle über die Explorationsinhalte zu übernehmen. Kröber (1985 a) hatte eine ähnliche Kommunikationsstruktur bei Frauen mit psychogenen Schmerzsyndromen beschrieben, die recht theatralisch in Erscheinung traten mit der Darstellung der chronischen Schmerzpatientin ohne fassbaren körperlichen Befund, sozusagen als Hochstaplerinnen mit einer Patientenrolle. Spekuliert hatte er (ebd., S. 241), dass solcherart hysterische Persönlichkeitsartung einhergeht mit einer besonderen kognitiven Struktur, der es nicht gelingt, Sachverhalte in ihrer kausalen Komplexität und hierarchischen Struktur zu durchdringen. Dies werde aber kompensiert durch eine intensive Ausrichtung auf das je aktuell Anliegende, auf das Erspüren der Wünsche und Intentionen anderer wie auch durch ein exzessives Sprachtraining, bei dem die Textproduktion sich nicht durch logische Strukturierung und analytische Reduktion auszeichnet, sondern durch gegenständliche Überflutung: Alles ist wirklich und gleich wichtig, alles findet auf der gleichen Realitätsebene statt. Warum sollte eine soeben gut erzählte Geschichte nicht ebenso gut oder besser sein als die schnöde Wirklichkeit? Zudem werden solche Menschen durch die logischen Widersprüche, die sich in ihrem Redefluss aufbauen, kaum irritiert, weil sie diese nicht belangvoll finden. Der Rezipient jedoch wird überflutet und dadurch desinformiert; wo er bei auftauchenden Widersprüchen einhaken möchte, ist der Sprecher schon längst weiter und hat bereits die nächste krasse Unwahrscheinlichkeit formuliert. Analoge Verhaltensmuster werden von juristischer Seite hinsichtlich des Aussageverhaltens berichtet (Bannenberg 2002): Nicht nur bestritten die Beschuldigten solange wie möglich vehement die ihnen vorgeworfenen Delikte, sondern sie zeichneten sich auch dadurch aus, dass sie in vorbereiteten und vorangekündigten Aussagen seitenlang über relativ belanglose Themen berichteten. Im Übrigen neigten sie dazu, Kontakte zu bekannten Personen oder Unternehmen ins Spiel zu bringen. Im Fall primär histrionisch und narzisstisch konfigurierter Wirtschaftsdelinquenten wollen frühere Leistungen, aus denen sich das Selbstbild des Probanden speist, ausführlich dargestellt und Rechtfertigungen vorgebracht werden. Gutachtlich geht es hier vorrangig um die Haft- oder Verhandlungsfähigkeit; die geklagten Beschwerden sind oft dem Bereich belastungsreaktiver oder somatoformer Störungen zuzuordnen und gehen mit der Möglichkeit beziehungsweise Erwartung der Verschlimmerung in Stresssituationen einher. Bresser (1978) warnte in diesem Zusammenhang vor einer raschen Zubilligung der Haftunfähigkeit in der kritischen Umstellungsund Eingewöhnungsphase und plädierte stattdessen für eine konstruktive Rolle, die der Gutachter in solchen Konstellationen einnehmen könne, indem in ausführlichen Gesprächen der Boden für eine kritische Auseinan-
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dersetzung mit der Realität bereitet wird. Wenn unter Inkaufnahme des eingangs erwähnten Zeitaufwandes eine hinreichend positiv getönte Beziehung zu dem Probanden aufgebaut ist, kann die Anwesenheit des Gutachters im weiteren Verhandlungsverlauf eine entlastende und stabilisierende Funktion erhalten, Eskalationen im Verfahren vorbeugen oder sie mildern.
2.3.2.6 Verläufe, Haft und Therapieansätze Betrug ist ein Massendelikt, viele werden im Verlaufe eines sonst nicht kriminell geprägten Lebens vereinzelt in dieser Weise straffällig. Wiederholt rückfällige kriminelle Betrüger jedoch, in diesem Sinne „typische“ Betrüger, haben ein hohes Rückfallrisiko und sammeln im Laufe ihres Lebens eine hohe Zahl an in Haft verbüßten Jahren an. Gegenwärtig befinden sich 6352 Strafgefangene wegen Betrugs und Untreue (§ 263–266 b StGB) in Haft, davon 2065 im offenen Vollzug und immerhin 14 in Sicherungsverwahrung (Statistisches Bundesamt 2006). Im idealtypischen Verlauf wurde die oft überdurchschnittliche manipulative Begabung vom späteren Betrüger meist früh entdeckt und nutzbar gemacht. Die leichte Erreichbarkeit erheblicher, selbstwerterhöhender Gratifikationen ebenso wie die zunächst permissiven Reaktionen darauf führen zu ungünstigen Lernerfahrungen und der Einübung und Verfestigung problematischer Interaktionsstile und delinquenter Verhaltensweisen. Ein jetzt Zwanzigjähriger tat sich seit dem Alter von 18 Jahren dadurch hervor, dass er regelmäßig Autohändler dazu veranlasste, ihm Neu- und Gebrauchtwagen der Oberklasse ohne Vorlage irgendwelcher Papiere oder Sicherheiten für Probefahrten zu überlassen, nachdem er sie von seinem ernsthaften Kaufinteresse überzeugt hatte. Er fuhr mit den Fahrzeugen weite Strecken und nächtigte in Hotels, wo er die Zeche prellte. Derzeit in Haft, plant er zukünftig, bei seinem Bruder tätig zu werden, der Kapitalanlagenberater sei. Ein heute Mitte fünfzigjähriger Betrüger ohne abgeschlossene Berufsausbildung hatte bereits mit 17 Jahren einen eigenen Reitstall und beging erste Delikte noch als Rosstäuscher und Pferdehändler. Über Unterweltkontakte begann der hochgewachsene, eloquente Mann den Handel mit Aktiengesellschaften, entdeckte früh Gesetzeslücken unter anderem bei Leasinggeschäften und wusste sich zeitweise geschickt in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität zu halten. Diese finanziell und sozial erfolgreichste Zeit ist für ihn eng verknüpft mit dem Besitz eines Aston Martin, der auch heute noch immer wieder Erwähnung findet. In seinem Erwachsenenleben verbrachte er 22 Jahre in Haft und 14 Jahre in Freiheit. Inzwischen zu alt für das sich brutalisierende Milieu der Finanzunterwelt und erkennbar ohne finanzielle Rücklagen, sieht er seine Zukunft als Seelsorger und belegt in Haft Bibelkurse. Von den Praktikern im Strafvollzug wird herausgestellt, dass es sich bei kriminellen Betrügern um ein besonders schwieriges Klientel handelt, dessen Resozialisierbarkeit angezweifelt wird. Querulatorisches, agierendes
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oder hypochondrisches Verhalten ist nicht selten; als problematisch wird aber insbesondere die manipulative Begabung erachtet, die etwa Justizvollzugsangestellte rasch in Abhängigkeiten bringen und in betrügerische Machenschaften verstricken kann (Beier 1998). In einem eigenen Fall schaffte es ein auf einer geschlossenen psychiatrischen Station untergebrachter Betrüger binnen drei Tagen, einen Krankenpfleger dazu zu veranlassen, ihm den Generalschlüssel auszuhändigen. Gerade die kleine Gruppe immer wieder straffälliger Betrüger, die ihr Erwachsenenleben bei oft nicht einmal erheblichem finanziellen Nutzen aus der Delinquenz überwiegend in Strafhaft und Sicherungsverwahrung zubringen, wirkt in ihren Verhaltens- und Interaktionsmustern gefangen. Es erscheint in diesen Fällen fraglich, ob aus eigener Kraft andere Formen von Kommunikation und Beziehung entwickelt oder am Ende gar eine stabilere Form des Selbsterlebens gefunden und gelebt werden kann. Therapeutische Ansätze, etwa analog den Bemühungen bei Gewalt- und Sexualstraftätern insbesondere in den sozialtherapeutischen Anstalten, kommen hier kaum zum Einsatz. Überwiegend wird die Aufnahme dort unter Verweis auf die manipulativen Tendenzen von Betrügern von vornherein abgelehnt. Vor diesem Hintergrund ist ein Versuch des psychiatrisch-psychologischen Dienstes der Justizdirektion Zürich erwähnenswert, bei dem rückfällige Betrüger in einer ambulanten Gruppentherapie analog dem bereits bei Gewalt- und Sexualdelinquenz etablierten deliktzentrierten Ansatz behandelt wurden: Es handelte sich bei den Straftätern überwiegend um Mitglieder der so genannten Zürcher Finanzunterwelt, und es mutet heroisch an, sich dieser Gruppe von Betrügern, die einander aus zahllosen Zusammenhängen bekannt sind, therapeutisch zu stellen. Aus den Erfahrungen mit dem inzwischen aus Kapazitätsgründen vorerst sistierten Projekt, das mindestens in Einzelfällen durchaus positive Entwicklungen angestoßen haben soll, ist im Kern abzuleiten, dass im therapeutischen Kontakt mit Betrügern vom Therapeuten spezialisiertes Wissen, eine besonders hohe Konfrontationsbereitschaft, aber eben auch die kreative Nutzung eines breiten Spektrums von Interventionen gefordert sind. In der therapeutischen Arbeit sei es von besonderer Bedeutung gewesen, sich dreier häufig anzutreffender Phänomene bewusst zu sein: 1. Betrüger erspürten intuitiv – auch unbewusst vorhandene – Bedürfnisse des Gegenübers und richteten ihr Interaktionsverhalten danach aus. 2. Dieses Interaktionsverhalten werde automatisch abgerufen und sei durch den Betrüger zu Beginn kaum steuernd zu beeinflussen. Es bedürfe bei günstigem Verlauf einer mit der Entwöhnung von Suchtmitteln vergleichbaren Entwicklung, sich sukzessive von diesem Verhaltensmuster zu lösen. 3. Lügen würden aufgrund situationsbedingter emotionaler Evidenz innerlich nicht als „Lüge“, sondern als legitim erlebte Aussagen empfunden. Das erschwere die bewusste Wahrnehmung von Lügen und ein entsprechendes Gegensteuern, führe andererseits dazu, dass diese Lügen oft sehr authentisch präsentiert werden könnten.
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Für die Praxis folge hieraus, dass der Interaktions- und Kommunikationsprozess hochgradig von dem für Betrüger typischen Problemverhalten bestimmt sei und sich auch in der Gruppe permanent zeige – mit dem Vorteil, es dort unmittelbar bearbeiten zu können. Das Bewusstsein über die geschilderten Mechanismen, die in der Gruppe immer wieder explizit gemacht werden müssen, stelle die Basis der deliktorientierten, speziell auf Betrüger ausgerichteten therapeutischen Arbeit dar. Für die in Zürich nach diesen Grundzügen geführte Therapiegruppe wurde von einer hohen emotionalen Dichte der Kontakte sowohl zwischen Therapeuten und Klienten als auch der Klienten untereinander berichtet (mündliche Mitteilung Frank Urbaniok). Zusammenfassend ist ein Therapieangebot für die Subgruppe der immer wieder straffällig werdenden Betrüger – allein oder gar in der Gruppe – gewiss keine Aufgabe für Berufsanfänger, sondern eher eine Art sportliche Herausforderung an den ausgebufften Profi. Eine generelle Nichtbehandelbarkeit dieser häufig intelligenten und geistig beweglichen Klientel ist daraus aber nicht abzuleiten.
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2.4.1
Juristische Grundlagen zur Drogendelinquenz D. Dölling, C. Laue
2.4.1.1 Illegale Drogen und Strafrecht Der Umgang mit illegalen Drogen ist in mehrfacher Hinsicht strafrechtlich relevant. Der rechtswidrige Verkehr mit Drogen ist im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) 1 unter Strafe gestellt. Außerdem erfasst das Strafrecht die Vornahme besonders gefahrenträchtiger Tätigkeiten, z. B. Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr, unter Drogeneinfluss (s. § 316 StGB) sowie im Zustand rauschbedingter Steuerungsunfähigkeit begangene rechtswidrige Taten (Vollrausch gemäß § 323 a StGB). Schließlich kann Drogenkonsum die Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB beeinträchtigen. Im Folgenden werden die Straftaten nach dem BtMG behandelt. Straßenverkehrsdelikte im Zusammenhang mit Drogenkonsum werden in diesem Band in Abschnitt 2.5.1.1 erörtert, der Vollrausch und die Schuldfähigkeitsproblematik in Band 1, Kapitel 2.3.
2.4.1.2 Das Betäubungsmittelgesetz Das Betäubungsmittelgesetz ist zum einen ein verwaltungsrechtliches Gesetz über den legalen Verkehr mit Betäubungsmitteln und dessen Überwachung. Zum anderen enthält es in seinem sechsten und siebten Abschnitt (§§ 29 bis 38) einen umfangreichen Katalog von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten sowie besondere strafrechtliche Sanktions- und Verfahrensbestimmungen. Die große praktische Bedeutung der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zeigt sich daran, dass die Polizei im Jahr 2006 255 019 Rauschgiftdelikte nach dem BtMG registrierte (4% der in der Poli1
Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz – BtMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. 3. 1994 (BGBl. I, S. 358) zuletzt geändert durch Verordnung v. 18. 2. 2008 (BGBl. I, S. 246).
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Schwind HD (2005) Kriminologie, 15. Aufl. Kriminalistik Verlag, Heidelberg Statistisches Bundesamt (2006) Fachserie 10 Rechtspflege, Reihe 4.1 Strafvollzug – Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Sutherland EH (1983) White collar crime. Yale University Press, New Haven Suttinger G (1966) Diebstahl. In: Sieverts R (Hrsg) Handwörterbuch der Kriminologie, Bd 1, 2. Aufl. De Gruyter, Berlin, S 117–147 Wulffen E (1907) Georges Manolescu und seine Memoiren. Langenscheidt, Berlin Wulffen E (1923) Die Psychologie des Hochstaplers. Dürr & Weber, Leipzig Zimmermann CW (1847) Die Diebe in Berlin. Reichardt, Berlin. Reprint 1979: arani, Berlin
2.4
Drogendelinquenz
2.4.1
Juristische Grundlagen zur Drogendelinquenz D. Dölling, C. Laue
2.4.1.1 Illegale Drogen und Strafrecht Der Umgang mit illegalen Drogen ist in mehrfacher Hinsicht strafrechtlich relevant. Der rechtswidrige Verkehr mit Drogen ist im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) 1 unter Strafe gestellt. Außerdem erfasst das Strafrecht die Vornahme besonders gefahrenträchtiger Tätigkeiten, z. B. Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr, unter Drogeneinfluss (s. § 316 StGB) sowie im Zustand rauschbedingter Steuerungsunfähigkeit begangene rechtswidrige Taten (Vollrausch gemäß § 323 a StGB). Schließlich kann Drogenkonsum die Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB beeinträchtigen. Im Folgenden werden die Straftaten nach dem BtMG behandelt. Straßenverkehrsdelikte im Zusammenhang mit Drogenkonsum werden in diesem Band in Abschnitt 2.5.1.1 erörtert, der Vollrausch und die Schuldfähigkeitsproblematik in Band 1, Kapitel 2.3.
2.4.1.2 Das Betäubungsmittelgesetz Das Betäubungsmittelgesetz ist zum einen ein verwaltungsrechtliches Gesetz über den legalen Verkehr mit Betäubungsmitteln und dessen Überwachung. Zum anderen enthält es in seinem sechsten und siebten Abschnitt (§§ 29 bis 38) einen umfangreichen Katalog von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten sowie besondere strafrechtliche Sanktions- und Verfahrensbestimmungen. Die große praktische Bedeutung der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zeigt sich daran, dass die Polizei im Jahr 2006 255 019 Rauschgiftdelikte nach dem BtMG registrierte (4% der in der Poli1
Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz – BtMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. 3. 1994 (BGBl. I, S. 358) zuletzt geändert durch Verordnung v. 18. 2. 2008 (BGBl. I, S. 246).
497
498
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
zeilichen Kriminalstatistik registrierten Delinquenz, s. Bundeskriminalamt 2007, S. 30) und 2006 52 165 Personen nach dem BtMG verurteilt wurden (7% der Verurteilten, vgl. Statistisches Bundesamt 2007, S. 24 f.). Betäubungsmittel sind nach einer Definition des Bundesverfassungsgerichts „Stoffe, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis wegen ihrer Wirkungsweise eine Abhängigkeit hervorrufen können oder deren betäubende Wirkungen wegen des Ausmaßes einer missbräuchlichen Verwendung unmittelbar oder mittelbar Gefahren für die Gesundheit begründen oder die der Herstellung solcher Betäubungsmittel dienen“ (BVerfG NJW 1998, 669, 670). Das BtMG verwendet eine solche Definition mit abstrakten Merkmalen in § 1 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 nur mittelbar; die Bestimmung einer Substanz als Betäubungsmittel geschieht mit Hilfe von in den Anlagen I bis III des BtMG enthaltenen Positivlisten, in denen alle verbotenen Stoffe und Zubereitungen enumerativ aufgezählt werden. Anlage I enthält die nicht verkehrsfähigen Betäubungsmittel, Anlage II die verkehrsfähigen, aber nicht verschreibungsfähigen Betäubungsmittel und Anlage III die verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel. Zur Führung dieser Listen sind gemäß § 1 Abs. 2, 3 BtMG die Bundesregierung und das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt. Als durch das BtMG geschütztes Rechtsgut wird die „Volksgesundheit“ angesehen (BGHSt 31, 163, 168; BGH NJW 1998, 168, 170). Es soll „Schäden vorgebeugt werden, die sich für die Allgemeinheit aus dem verbreiteten Konsum vor allem harter Drogen und den daraus herrührenden Gesundheitsbeeinträchtigungen der einzelnen ergeben“ (BGH StV 1992, 272, 273; näher zur Rechtsgutsdiskussion Nestler 1998, S. 704 ff.). Das BtMG strebt den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung durch eine zurückhaltende strafrechtliche Reaktion bei Gelegenheitskonsumenten, eine nachdrückliche Sanktionierung des Drogenhandels und die Ermöglichung einer Therapie für Drogenabhängige an (Dölling 2004, S. 480). Das BtMG stellt in § 29 Abs. 1 eine Vielzahl von unerlaubten Handlungen mit Betäubungsmitteln als Vergehen unter Strafe, darunter Anbau, Herstellen, Handeltreiben, Ein- und Ausfuhr, Abgabe, Veräußerung und sonstiges In-Verkehr-Bringen, Erwerben und sonstiges Verschaffen (Abs. 1 Nr. 1), unerlaubtes Herstellen von Zubereitungen (Nr. 2), unerlaubter Besitz (Nr. 3), unerlaubte Durchfuhr (Nr. 5), unerlaubtes Verschreiben oder Verabreichen (Nr. 6), unerlaubtes Abgeben in einer Apotheke (Nr. 7) oder Werben (Nr. 8). Erfasst sind z. B. auch das öffentliche Auffordern zum Verbrauch von Betäubungsmitteln (Nr. 12) und die Bereitstellung von Geld oder Vermögensgegenständen zur Begehung von bestimmten Betäubungsmittelstraftaten (Nr. 13; zu den Tathandlungen des § 29 Abs. 1 im Einzelnen s. Körner 2007, § 29 BtMG Rn 22 ff.). Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Nach § 29 Abs. 4 BtMG sind manche Handlungen auch bei fahrlässiger Begehung strafbar. Der Konsum von Betäubungsmitteln steht als bloße Selbstgefährdung nicht unter Strafe. § 29 a BtMG enthält Verbrechenstatbestände mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe. Strafbar ist es danach, wenn eine Person über
2.4 Drogendelinquenz
z
21 Jahre einem Jugendlichen Betäubungsmittel abgibt, verabreicht oder zum unmittelbaren Verbrauch überlässt (Nr. 1) oder mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel treibt, sie herstellt oder abgibt oder sie besitzt. Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren droht § 30 BtMG für den bandenmäßigen und fortgesetzten oder bei Abgabe an Minderjährige gewerbsmäßigen unerlaubten Verkehr mit Betäubungsmitteln, für die leichtfertige Todesverursachung durch bestimmte Betäubungsmittelstraftaten beziehungsweise für ihre unerlaubte Einfuhr in nicht geringer Menge an. § 30 a Abs. 1 BtMG sieht eine Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren vor, wenn der Täter als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Betäubungsmittelstraftaten verbunden hat, Betäubungsmittel in nicht geringer Menge unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt oder sie ein- beziehungsweise ausführt. Die gleiche Strafe droht einem über 21 Jahre alten Täter, der einen Jugendlichen dazu bestimmt, mit Betäubungsmitteln Handel zu treiben, oder der selbst mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel treibt und dabei einen gefährlichen Gegenstand, wie eine Schusswaffe, bei sich führt. Nach § 31 a BtMG kann bei Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2 oder 4 BtMG von der Verfolgung abgesehen werden, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Tat lediglich zum Eigenverbrauch bezüglich einer geringen Menge von Betäubungsmitteln begangen hat. Außerdem eröffnet § 29 Abs. 5 BtMG bei Taten nach § 29 Abs. 1, 2 und 4 BtMG zum Eigenverbrauch und mit geringen Mengen von Betäubungsmitteln die Möglichkeit, von einer Bestrafung abzusehen. § 31 BtMG enthält eine spezielle Kronzeugenregelung für Betäubungsmitteltäter. Danach kann die Strafe gemildert oder bei Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2, 4 oder 6 BtMG ganz von Strafe abgesehen werden, wenn der Täter durch freiwillige Offenlegung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Straftat über den eigenen Tatbeitrag hinaus aufgeklärt werden konnte, oder freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass bestimmte schwere Betäubungsmittelstraftaten noch verhindert werden können. Die §§ 35 ff. BtMG ermöglichen bei drogenabhängigen Straftätern die Zurückstellung der Strafvollstreckung beziehungsweise das Absehen von der Anklageerhebung zugunsten einer Therapie. Die Einzelheiten sind in Band 1 in Abschnitt 2.6.5 dargestellt.
499
500
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Literatur Bundeskriminalamt (Hrsg) (2007) Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2006. Bundeskriminalamt, Wiesbaden Dölling D (2004) Straftaten gegen Rechtgüter der Allgemeinheit. In: Gössel KH, Dölling D: Strafrecht Besonderer Teil 1. Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 2. Aufl. Müller, Heidelberg, S 427–721 Körner HH (2007) Betäubungsmittelgesetz. Arzneimittelgesetz, 6. Aufl. Beck, München Nestler C (1998) Grundlagen und Kritik des Betäubungsmittelstrafrechts. In: Kreuzer A (Hrsg) Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts. Beck, München, S 697–860 Statistisches Bundesamt (2007) Fachserie 10 Rechtspflege, Reihe 3 Strafverfolgung. 2006. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
2.4.2
Kriminologische Grundlagen der Drogendelinquenz A. Kreuzer
2.4.2.1 Komplexität des Zusammenhangs von Drogenumgang, Drogenabhängigkeit und Delinquenz Eine Zentralfrage drogenkriminologischer Forschung ist auf das Verhältnis von Drogenumgang, Drogenabhängigkeit und Delinquenz gerichtet. Man spricht von „drugs-crime-link“ oder „-nexus“ oder „-relationship“ (Anglin u. Speckart 1988; Ball et al. 1983; Brochu 1995; Elliott et al. 1988; Hammersley et al. 1989; Huizinga et al. 2000; Johnson et al. 1988; Kreuzer 1975, 1998; Mason u. Windle 2002; Nurco 1987; Nurco et al. 1993; Übersichten: Egg 1999; Rautenberg 1998). Der Begriff der Delinquenz wird weitgehend deckungsgleich oder synonym mit dem der Kriminalität in der Forschung verwendet; Delinquenz meint vor allem sozial abweichendes Verhalten junger Menschen und bezieht Verhaltensweisen am Rande oder außerhalb des Strafbaren mit ein, beispielsweise Alkoholismus, Prostitution und Selbstmord.
2.4.2.1.1 Thesen zum Zusammenhang von Drogen und Delinquenz In sechs Thesen und einem Paradox sei die Komplexität möglicher Zusammenhänge von Drogenumgang und Delinquenz im weiteren, Kriminalität im engeren Sinn angedeutet: 1. Keine Droge führt an sich zu Kriminalität, heiße sie nun Alkohol, Nikotin, Valium, Cannabis, Kokain oder Heroin, sei sie dem BtMG unterstellt oder nicht. 2. Sucht- und Kriminalitätskarrieren sind nicht zwangsläufig. So gibt es Heroindauerkonsumenten, die nicht abhängig werden, weil sie sich niedrigdosiert halten; es gibt Gebraucher harter Drogen, die laufend die Drogenart wechseln, um nicht von einer Droge abhängig zu sein. Es gibt Spontanabbrüche von Karrieren, allmähliche Ausstiege oder Übergänge zu verwandten Lebensstilen mit Symptomverschiebungen, dies alles namentlich bei Überschreiten der für extreme Lebenshaltungen kennzeichnenden Altersstufe Jungerwachsener.
2.4 Drogendelinquenz
z
3. Aus der Jugendkriminologie ebenso wie der Suchtforschung wissen wir, dass sich Alltagstheorien über Karriereentwicklungen als trügerisch erweisen. Sie meinen, wer klein anfange als Ladendieb, als Haschischkonsument oder als vermummter Demonstrant, entwickele sich – werde nicht Einhalt geboten – zum Heroinabhängigen oder Berufskriminellen oder Terroristen. Tatsächlich aber hören die meisten, die jemals solche Verhaltensweisen in jungen Jahren zeigen, später wieder auf, und zwar ohne jede strafrechtliche oder therapeutische Intervention. Der Rückschluss vom extremen auf „normales“ Verhalten ist unzutreffend. Aus der Erfahrung des klinischen Psychiaters oder Strafrichters, die es im Allgemeinen eher mit extremen Verläufen und Rückfällen zu tun haben, darf nicht rückgeschlossen werden auf Normalverläufe, die in der Regel eben nicht zum Therapeuten oder Strafgericht, in die Klinik oder Haftanstalt führen. 4. In der Extremgruppe kriminell auffälliger Drogenabhängiger begegnen wir einer breiten Palette möglicher biografischer Verbindungen von Drogen- und Kriminalitätskarrieren. Am einen Pol dieser Bandbreite stößt man auf den Primärdrogenabhängigen; er kann im Laufe zunehmenden Drogenumgangs in sich festigende Kriminalität geraten. Am anderen Pol findet man den Sekundärdrogenabhängigen; er wird erst im Laufe schon verfestigter Kriminalität zusätzlich drogenabhängig. 5. Das Verhältnis von Drogenumgang und Delinquenz innerhalb einer „Karriere“ ist wesentlich von folgenden Faktoren bestimmt: Persönlichkeit des Drogenabhängigen, vorangehende und begleitende Sozialisationsbedingungen und -störungen, delinquente Vorerfahrungen, Alter und sozialer Kontext bei Beginn der Drogenkarriere, Eigendynamik einer Drogenabhängigkeit, Eigendynamik der Abhängigkeit von Orientierungsgruppen in der Freizeit, von Milieu und subkulturellem Lebensstil der Drogenszene, verstärkende oder abschwächende Einflüsse drogenpolitischer Kontrollstrategien und -taktiken. 6. Der enge, aber komplexe Zusammenhang zwischen Drogen einerseits, Kriminalität andererseits besteht grundsätzlich bezüglich legaler ebenso wie illegaler Drogen. Namentlich bei Alkohol ist er seit langem bekannt und stellt eine starke Herausforderung für Therapie und Strafjustiz dar (Inciardi 1986; Platz 1995). Bei illegalen Drogen – von Haschisch über Kokain bis zu Heroin – wird er jedoch seit einiger Zeit stärker diskutiert, erforscht, ja als selbstverständlich wahrgenommen. Wahrscheinlich ist er hier auch enger als etwa bei Alkohol aus folgenden Gründen: Illegale Drogen werden vorwiegend in Milieus gebraucht, die mit Kriminalität stark verwoben sind. Jedenfalls aber führt die illegale Beschaffung dieser Drogen in die Nähe solcher Milieus. Opiatkonsumenten weisen überdies nach Alter und Sozialisation eine größere Nähe zu und Erfahrung mit Delinquenz auf; es sind – jedenfalls zu Beginn des Drogenumgangs – überwiegend Menschen unterer Altersstufen, in welchen ohnehin Stimmungsschwankungen, Risikosuche, Experimentieren, Auflehnung und Delinquenz kulminieren; auch sind es oftmals junge Menschen mit erheblichen delinquenten Vorerfahrungen und Dispositionen zu entsprechenden Gruppen und Verhal-
501
502
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
tensweisen, sodass Hemmungen gegenüber Normbruch und delinquenter Drogenbeschaffung geringer sind; letztlich kann zusätzlich die von der Illegalität dieser Drogen ausgehende häufigere Verwicklung in Strafverfolgung eine Eigendynamik bewirken – „Kriminalisierung“. Zu den Paradoxien gehören folgende Beobachtungen: Von illegalen Drogen Abhängige können schon wegen der gesetzlichen Kriminalisierung des Drogenumgangs in erhebliche Beschaffungskriminalität geraten; Drogenabhängigkeit kann aber auch Kriminalität mindern, weil der Abhängige physisch und sozial unfähig wird, Kriminalitätsstrategien zu verfolgen. Drogenabhängige können Therapie anstreben, um vom Zwang der Kriminalität befreit zu werden; sie können umgekehrt bezwecken, gerade wieder fähig zu werden, Kriminalität oder Prostitution in attraktiveren Formen auszuüben, etwa in der Dealerrollenhierarchie wieder ernst genommen zu werden oder von der Straßen- zur Appartementprostitution aufzusteigen. Die Abbildung 2.4.1 zeigt schematisch wichtige Einflussfaktoren und Interaktionen im komplexen Bedingungsgefüge von Drogenumgang, Drogen-
Person • Aggressivität, Impulsivität vs. Depressivität • Introvertiertheit vs. Extravertiertheit • „Suchtpersönlichkeit“
Sozialisation • Erziehung, Sozialisation • familiäre Vorbilder • Wertorientierung • Medieneinflüsse • Einflüsse aus Moden und „Zeitgeist” • Idole
Gesellschaft und Recht • kulturelle Duldung oder Tabuisierung von Drogen, Gewalt usw. • sozialstrukturelle Störungen (z.B. Randgruppen, Arbeitslosigkeit, mangelnde sprachliche Integration) • Legalität vs. Illegalität von Drogen • Strafrechts- und Strafverfolgungsdichte
Situation • Peergroups und Freizeitwelt • Verfügbarkeit von Drogen, • Tatgelegenheit
Droge • aggressionssteigernd • euphorisierend • antriebs-, leistungssteigernd • sedierend • schmerzlindernd • abhängigkeitsbildend
Abb. 2.4.1. Drogen, Sucht und Kriminalität (Einflussfaktoren und Interaktionen, jeweils mit wichtigen Beispielen)
2.4 Drogendelinquenz
z
abhängigkeit und Delinquenz auf. Wurden in früheren vergleichbaren Darstellungen als entscheidende „Entstehungsursachen der Drogenabhängigkeit“ etwa „Persönlichkeit, Droge, soziales Milieu“ herausgearbeitet (Ladewig et al. 1971, S. 6), so werden hier nach Befunden empirischer Forschung zur Drogenkriminologie als weitere wichtige Bezugsgrößen „Gesellschaft und Recht“ sowie „Situation“ einbezogen.
2.4.2.1.2 „Normalität“ von Drogenumgang und Delinquenz Gelegentlicher Umgang mit legalen und illegalen Drogen gehört zu dem Erfahrungsbereich junger Menschen. Leichtere Formen jugendtypischer Delinquenz kommen ebenso wie Cannabisumgang bei vielen gelegentlich vor, sind aber periphere Erscheinungen in der Entwicklung. Tabelle 2.4.1 zeigt, exemplarisch, bei wie vielen Studienanfängern einige solcher Verhaltensweisen schon aufgetreten sind (Kreuzer et al. 1994). Auch werden Entwicklungen der Verbreitung in den letzten drei Jahrzehnten erkennbar. Nur bei illegalen Drogen – in der Regel Cannabis – zeichnet sich seit etwa 15 Jahren eine deutliche Zunahme der Erfahrung ab. Da es sich um weitgehend „normales“ und „ubiquitäres“ abweichendes Verhalten handelt, dürften sich diese Befragten von der altersgleichen Bevölkerung insoweit nur unwesentlich unterscheiden. Abbildung 2.4.2 gibt Daten wider zum Gebrauch von Cannabis als der zur Zeit am weitesten verbreiteten illegalen Droge. Die Befunde stammen aus einer Repräsentativerhebung im Jahr 2000 in den alten und neuen Bundesländern bei nach Einwohnerregistern ausgesuchten Personen (Kraus u. Augustin 2001). Die Daten differenzieren nach Altersgruppen zwischen 18 und 59 Jahren. Tabelle 2.4.2 gibt beispielhaft Daten wider zum Konsum von Alkohol als der am längsten und weitesten verbreiteten Droge aus derselben Erhebung. Tabelle 2.4.3 listet die Störungsbereiche der Klienten mit Hilfebedarf auf, unterteilt nach West- und Ostdeutschland sowie Geschlechtern für 2003 und 2004. Etwa zwei Drittel der Klienten haben mit Problemen legaler, gut ein Viertel mit solchen illegaler Substanzen zu tun, insgesamt über dreimal so viele Männer wie Frauen. Die Daten der Tabellen 2.4.4 bis 2.4.6 gehen über die „Normalität“ gelegentlichen Probierens hinaus. Sie deuten Größenordnungen problematischen und zu Abhängigkeit, Beratungs- und Behandlungsbedürftigkeit führenden Gebrauchs und Missbrauchs legaler und illegaler Substanzen an. Die Daten beruhen auf der „Deutschen Suchthilfestatistik 2003 für ambulante Einrichtungen“ für „Personen mit substanzbezogenen Störungen“. Erfasst wurden alle Klienten von 707 Einrichtungen (Sonntag u. Welsch 2004). Tabelle 2.4.4 führt die Hauptdiagnosen in gleicher Unterteilung der erfassten Klienten auf. Es zeigt sich, dass drei Fünftel auf Alkohol-, ein Fünftel auf Opiat- und schon ein Zehntel auf Cannabisprobleme entfallen. Probleme mit diesen drei legalen und illegalen Drogen machen also fast
503
45 * * 51
89 20
48
55
28 9
7
48 76 * 48
92 19
56
61
31 8
8
7
25 6
54
47
84 16
38 89 39 35
* Für diese Zeiträume liegen keine Daten vor
Ladendiebstahl irgendein Diebstahl Sachbeschädigung Schlägereibeteiligung schon betrunken schon mit 13 betrunken in den letzten 2 Monaten betrunken Drogenangebot erhalten Drogenkonsum Drogenkonsum in den letzten 2 Monaten Drogenabgabe
Frauen
12
35 13
72
41
88 11
39 88 46 46
20
48 16
81
52
88 7
38 77 46 40
17
48 17
83
57
89 12
36 76 41 39
4
28 9
52
23
69 9
29 47 * 15
3
23 4
50
19
67 11
40 * * 19
2
23 5
43
24
70 6
40 79 18 20
4
23 6
47
22
70 5
35 75 24 19
7
31 6
62
31
74 5
27 68 18 11
9
41 8
67
39
77 8
35 68 23 12
76–80 81–85 86–90 91–95 96–00 2001–04 76–80 81–85 86–90 91–95 96–00 2001–04 (N = 442) (N = 531) (N = 216) (N = 639) (N = 347) (N = 372) (N = 240) (N = 431) (N = 209) (N = 546) (N = 343) (N = 612)
Männer
Angaben in Prozent (gerundet) der Befragten
z
Art des Verhaltens
Tabelle 2.4.1. Lifetimeprävalenz ausgewählter delinquenter Verhaltensweisen. Zeitreihe Gießener Delinquenzbefragungen 1976–2004: Studienanfänger und -anfängerinnen der Rechtswissenschaften (Kreuzer et al. 1994, teils unveröffentlicht)
504 2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
2.4 Drogendelinquenz Westdeutschland
45 40
Cannabis 30 Tag 12 Monate Lebenszeit
40,4
35
(%)
30
29,5
27,7
25 20,4
19,8
20
14,0
15 10
8,4 4,8
5 0
18–29
a
30–39 40–49 Männer
40
50–59
18–29
30–39 40–49 Frauen
50–59
Ostdeutschland
45
Cannabis 30 Tag 12 Monate Lebenszeit
36,6
35 30
(%)
z
25 20,6
20 15
12,3
10 0
b
5,1
4,4
5
1,3
18–29
30–39 40–49 Männer
50–59
1,0
18–29
30–39 40–49 Frauen
50–59
Abb. 2.4.2. Lebenszeit-, 12-Monats- und 30-Tage-Prävalenz des Konsums von Cannabis (Kraus/ Augustin 2001)
das Gesamt der Hauptdiagnosen aus. Freilich ist der häufige Mischkonsum zu bedenken. Tabelle 2.4.5 zeigt das Durchschnittsalter der Klienten zur Zeit des Aufsuchens dieser ambulanten Hilfeeinrichtungen. Das Alter liegt mit rund 43 Jahren bei Klienten mit primären Alkoholproblemen am höchsten, mit rund 30 Jahren bei Opiaten und Kokain niedriger, mit rund 22 Jahren bei Cannabis am niedrigsten.
2.4.2.1.3 Risikokonstellationen Tabelle 2.4.6 führt nach kreuztabellarischen Befunden der Delinquenzbefragung bei Studienanfängern in Gießen ein in erste Annahmen über Entstehungsbedingungen von Drogengebrauch und Drogenabhängigkeit und anderem sozial abweichendem Verhalten. Es zeigt sich, dass Symptome abweichenden Verhaltens seltener isoliert auftreten, häufiger kumuliert. Die Befunde belegen, dass es Bündelungen riskanten Verhaltens gibt („multiple problem youth“, „youth at risk“). Dies gilt sowohl innerhalb der drei hier
505
506
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Tabelle 2.4.2. Alkoholkonsum in den letzten 12 Monaten in Deutschland (Kraus u. Augustin 2001) Geschlecht
Altersgruppen
Gesamt Männer Frauen 18–20 7143 3221 3922 338 abstinent
5,5 (400) risikoarmer 78,2 Konsum (5619) riskanter 11,7 Konsum (810) gefährlicher 3,9 Konsum (263) Hoch0,7 konsum (51)
21–24 505
25–29 686
30–39 2011
40–49 1805
50–59 1798
4,8
6,2
8,2
6,4
5,1
4,5
4,7
7,1
73,7
82,9
75,2
79,0
79,5
80,7
78,5
74,2
14,9
8,3
12,6
9,5
11,9
10,6
11,8
13,6
5,7
2,0
2,9
4,4
2,8
3,7
4,2
4,3
0,9
0,6
1,2
0,7
0,7
0,5
0,9
0,8
Tabelle 2.4.3. Primärer Hilfebedarf (Angaben in Prozent) (Sonntag u. Welsch 2004) Primärer West Ost Gesamt 2003 Gesamt Hilfebedarf 2002 Männer Frauen Gesamt Männer Frauen Gesamt Männer Frauen Gesamt legale 60,5 Substanzen illegale 35,3 Substanzen Essstörungen 0,1 patho2,8 logisches Glücksspiel andere 1,3 Störungsbereiche N
63,4
61,2
77,6
68,7
75,9
66,2
64,8
65,9
68,2
24,9
32,7
19,4
19,1
19,3
30,0
23,4
28,5
25,4
7,4 0,8
1,9 2,3
0,1 1,6
7,3 0,5
1,5 1,4
0,1 2,4
7,3 0,7
1,8 2,0
1,9 2,1
3,5
1,9
1,2
4,5
1,8
1,3
3,8
1,9
2,3
33 267 10 963 44 237 16 705 3815
20 521 49 972 14 778 64 758 59 840
Anmerkungen: 329 Einrichtungen; unbekannt: 0,8% der Betreuungen. Bezug: Bundesdatensatz; Bezugsgruppe: Zugänge; keine Diagnosen, sondern Angaben der Klienten
nebeneinander betrachteten Kategorien – des Suchtmittelumgangs, des Flucht- beziehungsweise Ausweichverhaltens und der Delinquenz – als auch für die drei Risikobereiche untereinander. Zunächst finden wir Häufungen des Umgangs mit unterschiedlichen Suchtmitteln, hier belegt für Alkohol, Nikotin und Rauschmittel wie Cannabis. Wer schon in früheren Jahren geringe Hemmungen gegenüber Alko-
63 925
1,5 2,2
5,7 0,9 84 349
0,9
0,8 0,1 1,8
0,7
77,9 3,7 10,6 0,3 1,2 3,0 0,2 0,4 0,0
18 125
7,9 1,0
0,5
66,5 6,2 8,8 2,2 1,1 4,2 0,1 1,5 0,0
Frauen
4119
1,6 1,7
0,7
75,8 4,1 10,3 0,7 1,2 3,2 0,1 0,6 0,0
Gesamt
22 244
0,1 2,5
0,9
59,9 20,1 10,5 0,5 2,6 2,2 0,1 0,5 0,0
Männer
82 050
6,0 0,9
0,7
59,2 18,8 6,3 2,3 1,6 2,4 0,1 1,4 0,0
Frauen
Gesamt 2003
24 486
1,5 2,1
0,8
59,8 19,8 9,5 0,9 2,4 2,3 0,1 0,7 0,0
Gesamt
1582 2254
900
63 714 21 127 10 169 1010 2524 2422 134 735 22
N
2002
Anmerkungen: 699 Einrichtungen; unbekannt: 18,3% der Betreuungen. Bezug: Deutscher Kerndatensatz; Bezugsgruppe: Zugänge
N
55,5 24,0 9,3 1,0 2,7 2,0 0,1 0,7 0,0
57,8 21,3 5,8 2,3 1,7 2,1 0,1 1,4 0,0
Männer
Gesamt
Männer
Frauen
Ost
West
Alkohol 54,8 Opiate 24,8 Cannabis 10,5 Sedativa/Hypnotika 0,6 Kokain 3,0 Stimulanzien 2,0 Halluzinogene 0,1 Tabak 0,5 flüchtige Lösungs0,0 mittel z andere psychotrope 0,9 Substanzen z Essstörungen 0,1 z pathologisches 2,6 Glücksspiel
z z z z z z z z z
Hauptdiagnose
Tabelle 2.4.4. Hauptdiagnosen und Geschlecht bei Klienten mit eigener Störung (Angaben in Prozent) (Sonntag u. Welsch 2004)
106 593
1,9 2,2
0,5
67,0 14,4 8,6 0,8 1,7 2,1 0,1 0,6 0,0
%
73 896
1433 1636
386
49 515 10 637 6368 626 1231 1541 87 423 13
N
2.4 Drogendelinquenz z
507
508
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Tabelle 2.4.5. Durchschnittliches Alter der Klienten mit substanzbezogener Hauptdiagnose (Sonntag u. Welsch 2004) Alter Mittelwert
Standardabweichung
N
z Alkohol
Männer Frauen Gesamt
42,3 44,8 42,9
10,5 10,1 10,5
48 035 14 465 63 531
z Opiate
Männer Frauen Gesamt
30,8 29,7 30,5
7,2 7,4 7,4
16 396 4562 20 968
z Cannabis
Männer Frauen Gesamt
22,0 23,3 22,2
5,9 8,0 6,5
8574 1542 10 124
z Kokain
Männer Frauen Gesamt
30,0 27,4 29,6
6,5 7,0 6,8
2108 397 2506
z Stimulanzien
Männer Frauen Gesamt
24,4 22,5 24,0
5,3 5,2 5,5
1823 591 2417
Anmerkungen: 699 Einrichtungen; unbekannt: 0,4% der Betreuungen. Bezug: Deutscher Kerndatensatz; Bezugsgruppe: Zugänge
hol und Nikotin aufbringt, wird geneigter sein, später illegale Rauschdrogen zu probieren. Dies wiederum sind risikobereitere Menschen, die öfter in ihren Primärgruppen – Familie, Freundeskreis, Freizeitgruppe (Peergroups) – entsprechende Vorbilder und Erfahrungen hatten. Sodann zeigt sich eine besondere Nähe zwischen Suchtmittelumgang und Ausweichhaltungen, hier belegt anhand der Symptome ernsthafte Selbstmordgedanken, häufiges Schulschwänzen und nächtliches unerlaubtes Fortbleiben in Kindheit und Jugend. Es sind Symptome, die für Tendenzen sprechen, Konflikten, unangenehmen Situationen, Misserfolgserlebnissen, Anforderungen, Primärgruppen auszuweichen. Solche Haltungen mag man mit Zivilisationsbedingungen – etwa Wohlstandsübersättigung, Beziehungsstörungen, Dauerarbeitslosigkeit und Zukunftsängste, Umbrüche in der Sozial- und Werteordnung – ebenso in Verbindung bringen, wie mit psychischen und sozialen Bedingungen des Einzelnen. Entweichen kann zur durchgängigen Daseinstechnik werden. Die Symptome erscheinen erneut weitgehend kumuliert und austauschbar. Schließlich lassen sich Zusammenhänge zwischen den aufgezeigten Sucht- und Fluchtsymptomen einerseits, Delinquenz unterschiedlichster Art andererseits belegen. Delinquenz wird hier nach den Befragungsbefunden
z starker Nikotinkonsum z mäßiger Nikotinkonsum
z starker Alkoholkonsum z mäßiger Alkoholkonsum z geringer Alkoholkonsum
91
41
9
231
53
68
227
106
67
69
4
40
70
–
364
90
–
180
124
z Drogen132 erfahrung z keine Dro153 generfahrung
32
74
10
42
66
–
–
w
m
m
w
Drogenerfahrung
Nm (= 288) Nw (= 554)
44
64
–
–
–
23
66
m
17
30
–
–
–
8
33
w
starker Alkoholkonsum
–
–
6
20
35
13
36
m
–
–
6
21
29
7
37
w
starker Nikotinkonsum
22
27
12
19
19
13
24
m
15
33
20
18
26
15
30
w
Suizidgedanken
56
67
18
45
52
29
58
m
54
57
24
43
64
31
57
w
häufiges Schuleschwänzen
Angaben in % gerundet, jeweils bezogen auf die männliche oder weibliche Teilstichprobe
50
53
19
38
47
26
50
m
37
53
13
34
45
20
43
w
22
31
9
14
28
10
29
m
8
14
3
4
15
3
9
w
56
59
17
31
60
23
62
m
17
28
6
17
44
8
35
w
unerlaubte Polizeistarke nächtliche auffälligkeit DelinquenzAbwesenheit belastung
Tabelle 2.4.6. Sucht-Flucht-Delinquenzsymptome. Gießener Delinquenzbefragung Wintersemester 1999/2000. Studienanfänger und -anfängerinnen aller Fachrichtungen (Kreuzer, unveröffentlicht)
2.4 Drogendelinquenz z
509
286
176
135
35
9
35
70
8
36
69
30
57
24
17
33
64
39
64
37
m
4
15
44
15
46
14
w
8
19
34
20
39
–
m
9
18
27
15
43
–
w
starker Nikotinkonsum
9
15
24
17
23
20
m
14
19
35
20
32
18
w
Suizidgedanken
12
39
55
38
62
34
m
23
38
69
36
75
33
w
häufiges Schuleschwänzen
6
35
50
34
56
31
m
14
29
47
26
57
21
w
0
14
28
–
–
15
m
1
5
13
–
–
3
w
–
–
–
36
64
34
m
–
–
–
15
43
14
w
starke unerlaubte Polizeiauffälligkeit Delinquenznächtliche belastung Abwesenheit
Aufgrund fehlender Angaben ergibt sich bei Addierung der einzelnen Untergruppen nicht immer die oben angegebene Anzahl (N) der Befragten
92
118
40
516
z starke Delinquenzbelastung z mäßige Delinquenzbelastung z geringe Delinquenzbelastung
71
28
z Polizeiauf52 fälligkeit z keine Polizei- 228 auffälligkeit
37
419
210
z geringer Nikotinkonsum
w
m
w
m
starker Alkoholkonsum
Angaben in % gerundet, jeweils bezogen auf die männliche oder weibliche Teilstichprobe
Drogenerfahrung
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Nm (= 288) Nw (= 554)
z
Tabelle 2.4.6 (Fortsetzung)
510
2.4 Drogendelinquenz
z
sowohl zum Dunkelfeld tatsächlicher als auch zum Hellfeld verfolgter Straftaten untersucht. Die Daten zum Dunkelfeld stellen Größenordnungen dar, in die nach „Delinquenzbelastungspunkten“ Häufigkeiten und Schwere aller erfragten und berichteten Delikte Eingang fanden; entsprechend den so gewichteten Delinquenzbelastungen jedes Befragten wurden drei Kategorien gering, mäßig und stark Belasteter gebildet. Die Daten zum Hellfeld stützen sich auf Angaben der Befragten zu etwaigen bisherigen Auffälligkeiten bei der Polizei wegen eigener Straftaten. Danach gilt: Je stärker die tatsächliche Delinquenz, um so wahrscheinlicher gehört jemand zu den Gruppen rauschmittelerfahrener, stark alkoholkonsumierender, rauchender und zu Ausweichhaltungen tendierender Befragter, um so wahrscheinlicher ist er auch schon wegen einer Straftat verfolgt worden. Zusammenhänge zwischen Rauschmittel- (hier nahezu gleichbedeutend mit Cannabis) Erfahrung sowie starkem Alkoholumgang einerseits, Delinquenz andererseits sind nahezu gleich stark bei jungen Leuten, bezüglich Alkohol etwas schwächer bei jungen Frauen. Ähnlich zeigt eine zehnjährige Verlaufsuntersuchung in den USA bei 4000 jungen Menschen in drei Großstädten häufig gleichzeitiges Auftreten und wechselseitige Bedingtheit von erheblicher Delinquenz, Drogenumgang, schulischen und psychischen Schwierigkeiten auf (Huizinger et al. 2000; vgl. in anderer Kombination untersuchter biopsychosozialer Risikofaktoren auch Bui et al. 2000; Sutherland u. Shepherd 2001). Wie Tabelle 2.4.6 andeutet und von uns in einer vorangegangenen Studie ausführlich untersucht wurde (Krämer 1992), neigen junge Frauen eher dazu, Konflikten introvertiert zu begegnen, Männer dazu, nach außen zu agieren. Alkoholumgang, Ausweichverhalten und Delinquenz – namentlich in gewaltsamen Formen – finden wir stärker bei jungen Männern. Gehäuft treten dagegen bei Frauen Medikamentenmissbrauch, Selbstmordgedanken, übrigens auch Essstörungen und psychische Leiden auf. Mädchen erhalten im Übrigen angesichts von Lebenskrisen mehr soziale Stützen im Nahraum, nehmen diese auch stärker an und entwickeln aktivere Strategien, Probleme zu bewältigen als Jungen. Insgesamt deuten diese Befunde an, dass Drogenumgang symptomatisch sein kann, in einem allgemeineren jugendkriminologisch-sozialtherapeutischen Bezugsrahmen zu sehen ist. Bei der Mehrheit drogenerfahrener junger Menschen bleibt er – wie auch sonst abweichendes Verhalten – von peripherer Bedeutung. Bei einer besonders risikobereiten Minderheit jedoch zeigt er eine Fehlentwicklung an.
2.4.2.1.4 Fehlannahmen über „Einstiegsdrogen“ Diese Befragungen in der Normalbevölkerung (u. a. Studentenbefragungen), zusätzlich unsere langjährigen, biografisch ausgerichteten Intensivinterviews bei intravenös Drogenabhängigen erlauben zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der in Politik, Massenmedien und Justiz, aber auch mitunter in der medizinischen Wissenschaft gern vertretenen so ge-
511
512
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
nannten Schrittmachertheorie („step-stone-theory“, „gateway drug“). Danach sei Haschisch Einstiegsdroge oder Wegbereiter für Heroinkarrieren. Entscheidend spricht gegen eine pauschale Schrittmachertheorie die Erkenntnis, dass Drogensequenzen nicht losgelöst gesehen werden dürfen vom psychosozialen Kontext, also von der Erfahrungs- und Problemwelt sowie den Bezugsgruppen junger Menschen. Außerdem ist auf Kumulation und Austauschbarkeit von Suchtmitteln hinzuweisen. Schließlich darf auf bemerkenswerte zeitliche Abfolgen der Drogenerfahrungen hingewiesen werden: Bei Normal- und Extremgruppen bestätigt sich, dass zeitlich dem Missbrauch illegaler Drogen Missbrauchserfahrungen mit legalen Drogen vorausgehen. Dies ist bei Männern und Frauen gleich. Die Überbetonung des Stellenwertes von Haschisch verdrängt die Bedeutung von Trunkenheits- und Nikotinerfahrungen. Sodann zeigt sich, dass gerade diejenigen, die später auch illegale Drogen nehmen oder sogar intravenös Drogenabhängige werden, umso früher Trunkenheits- und Raucherfahrungen hatten. In den Studentenbefragungen hatten durchaus nicht alle Studienanfänger Trunkenheitserfahrungen, und nur ein Teil gehörte zu Rauchern; doch berichteten nahezu alle rauschdrogenerfahrenen Befragten über derartige Verhaltensweisen. Deren „Trunkenheitsdebut“ lag mit 14 bis 15 Jahren durchschnittlich ein Jahr vor dem der Nichtrauschdrogenerfahrenen; regelmäßiges Rauchen setzte mit etwa 16 Jahren ein; erster Haschischkonsum fand durchschnittlich aber erst mit 17 bis 18 Jahren statt. In der Befragung i.v. Drogenabhängiger aus der Drogenszene gab es Totalwerte für Trunkenheits- und Raucher-„Debuts“, die dem Haschischkonsum vorausgegangen waren, mit 12 bis 14 Jahren, während erste illegale Drogen durchschnittlich mit etwa 15 Jahren, „harte Drogen“ erstmals mit etwa 18,5 Jahren genommen wurden (Kreuzer et al. 1981; Kreuzer u. Wille 1988; Kreuzer et al. 1991). Wenn man also schon – isoliert von sonstigen Entwicklungsbedingungen – Drogen als Schrittmacher oder Einstiegssuchtstoffe betrachten will, dann sollte man nicht blind sein gegenüber den bedeutsameren legalen, jedermann zugänglichen „Schrittmacherdrogen“. Exzessive Erfahrungen mit Alkohol und Nikotin, gelegentlich auch mit Schnüffelstoffen und missbräuchlich genommenen vergleichbaren Medikamenten liegen zeitlich gesehen vor etwaigem Ge- und Missbrauch von illegalen Drogen. Davor sollte man die Augen nicht verschließen und demgemäß Präventionsbemühungen auf alle Suchtstoffe richten, darüber hinaus auf Schwierigkeiten und Risiken junger Menschen in der Entwicklung, die problematischen Suchtmittelumgang begünstigen können.
2.4.2.2 Formen und Verläufe der Delinquenz Drogenabhängiger Art, Intensität und Verlauf der Delinquenz der von (illegalen) Drogen Abhängigen haben wir umfassend seit drei Jahrzehnten untersucht. Dazu dienten außer Studien zum Hellfeld verfolgter Delikte vor allem drei Wellen von Intensivinterviews mit i.v. Drogenabhängigen in therapeutischen und Justizeinrichtungen in den frühen und späten siebziger Jahren sowie Ende
2.4 Drogendelinquenz
z
der achtziger Jahre (Kreuzer 1975; Kreuzer et al. 1981; Kreuzer et al. 1991). 2002/03 ist eine Untersuchung im Rahmen der qualitativen kriminologischen Begleitforschung zum Bundesmodellprojekt heroingestützter Behandlung Opiatabhängiger mit Intensivinterviews bei 91 i.v. Drogenabhängigen zu Beginn und nach zwölf Monaten ihrer ambulanten Heroinversorgung hinzugekommen; erste Befunde aus den Erstinterviews können hier vergleichend einbezogen werden. Vergleichweise können außerdem US-amerikanische Studien berücksichtigt werden, die überwiegend mit standardisierten (Kurz-)Befragungen zur Delinquenz Drogenabhängiger in der Drogenszene oder in Kliniken arbeiten. Wurde bei uns die Delinquenz im Verlauf der gesamten Biografie und gesondert in den letzten zwölf Monaten gemessen, so waren es in den USA sogar die letzten 36 Stunden (Ball et al. 1983; ferner Anglin u. Speckart 1988; Johnson et al. 1988; Nurco 1987; Nurco et al. 1993; Wish u. Johnson 1986). Über diese Untersuchungen und den Forschungsstand soll nachfolgend berichtet werden. Grenzen und Selektivität der Befunde sind zu berücksichtigen: Möglicherweise stellen die in der Drogenszene oder in stationären Therapie- und Haftanstalten erreichbaren i. v. Drogenabhängigen einen stärker delinquenzbelasteten Ausschnitt aller von illegalen Drogen Abhängigen dar; sozial besser Situierte und Integrierte sowie Ältere und Drogenabhängige, die sich die Stoffe nicht injizieren oder die vorwiegend Kokain, Amphetamine oder neuerdings Ecstasy nehmen, sowie Drogendauerkonsumenten, die nicht abhängig werden, bleiben weitgehend außen vor. Zudem fehlen entsprechend eingehende Dunkelfeldstudien zur Delinquenz von primär Alkoholabhängigen. Insoweit muss auf weniger spezifische Arbeiten und die dort angegebene Literatur verwiesen werden (Hauge 1984; Platz 1995).
2.4.2.2.1 Delikttypen und Delinquenzbelastungen Tabelle 2.4.7 gibt die Befunde der Delinquenzbelastungen von 64 männlichen und 36 weiblichen Ende der achtziger Jahre intensiv interviewten i.v. Drogenabhängigen wieder, bezogen auf die letzten 12 Monate in Freiheit. Berücksichtigt wurden insgesamt 38 Delikttypen. In Tabelle 2.4.7 sind 18 der wichtigsten Delinquenztypen erfasst. Die Daten beziehen sich auf die Anteile derer, die in diesem Zeitraum das Delikt begangen zu haben angeben, auf die durchschnittliche Deliktzahl je Proband der männlichen und weiblichen Teilstichprobe, auf die Gesamtzahlen begangener Delikte und auf die angegebene Zahl verfolgter Delikte sowie die danach errechnete Aufklärungsquote. Vergleichsweise werden Befunde der intensiv interviewten 77 männlichen und 14 weiblichen i. v. Drogenabhängigen aus dem Bundesmodell heroingestützter Behandlung Opiatabhängiger von 2002/03 angefügt, soweit sie sich auf kompatible Delinquenztypen beziehen. Die Erhebung von 1988/89 macht deutlich, dass die Drogenabhängigen im Verlaufe ihrer Karriere und innerhalb des letzten Jahres eine Vielzahl unterschiedlicher Delikte verwirklicht hatten und – von Ausnahmen abgesehen – nicht dazu tendierten, sich auf eine einzelne Deliktart zu speziali-
513
z Drogenverkauf 100% und -vermittlung z Ladendiebstahl 77% z Prostitution 9% z Diebstahl aus Kfz 39% z Hehlerei 39% z sonstige Diebstähle 57% z Scheck-, Kreditkarten-, 30% Darlehensbetrug u. ä. z Gebäude- und Woh- 58% nungseinbruch z sonstige Betrüge 48% z Zuhälterei 24% z Drogenschmuggel 34% z Raub innerhalb 27% der Drogenszene z Diebstahl von Kfz 31% 624,0 326,0 368,0 34,0 11,0 17,0 17,0 3,0 16,0 0,0 5,0 2,7 0,0
744,0
234,0 5,5 125,0 77,0 25,0 25,0
31,0
17,0 18,0 8,0 9,0
8,0
0%
58% 0% 42% 3%
19%
67% 56% 19% 33% 53% 19%
92%
506
1674 1135 727 681
2047
27 324 14 250 9220 5328 2171 2276
70 091
4,53%
3,74% 0,9% 1,8% 0,15%
4,5%
1,0% – 1,27% 0,04% 0,14% 5,4%
0,53%
%-Anteile durchschn. durchschn. %-Anteile Anzahl Aufbetroffener Deliktzahl Deliktzahl betroffener der Delikte klärungsPersonen pro Person pro Person Personen quote
Frauen (N = 14)
*
17% 0% 25% 1%
4%
38% 0% 8% * 10% *
36%
*
0,9 * 8,6 0,1
0,1
11,7 * 1,6 * 1,1 *
26,1
*
0,0 * 17,4 0,0
0,0
3,8 * 0,0 * 1,5 *
32,2
*
0% 0% 21% 0%
0%
21% 14% 0% * 14% *
29%
%-Anteile durchschn. durchschn. %-Anteile betroffener Deliktzahl Deliktzahl betroffener Personen pro Person pro Person Personen
Männer (N = 77)
Gesamt (N = 100)
Männer (N = 64)
Frauen (N = 36)
2002/03
1988/89
z
Auswahl wichtigster Delinquenzmuster
Tabelle 2.4.7. Delinquenzbelastung bei Drogenabhängigen von zwei qualitativen Untersuchungen 1988/89 und 2002/03. Ausgewählte Delinquenzmuster – Vorkommen, Häufigkeit, Aufklärungsquoten innerhalb der letzten 12 Monate – einschließlich Versuch, Mittäterschaft und Teilnahme
514 2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
1,2 4,3 2,8 1,0
1,1
8% 52% 14% 11%
23%
0,1
8,8 0,7 3,0 0,3 11%
31% 19% 6% 8% 72
396 296 277 74 15,3%
1,01% 6,76% 4,33% 5,4%
%-Anteile durchschn. durchschn. %-Anteile Anzahl Aufbetroffener Deliktzahl Deliktzahl betroffener der Delikte klärungsPersonen pro Person pro Person Personen quote
Frauen (N = 14)
7%
* 8% 3% 1% 0,2
* 1,4 0,1 0,01
0,1
* 0,1 0,0 0,0
7%
* 7% 0% 0%
%-Anteile durchschn. durchschn. %-Anteile betroffener Deliktzahl Deliktzahl betroffener Personen pro Person pro Person Personen
Männer (N = 77)
Gesamt (N = 100)
Männer (N = 64)
Frauen (N = 36)
2002/03
1988/89
Quelle für die Angaben 1988/89: Kreuzer et al. 1991; für 2002/03: Köllisch/Kreuzer, in: Löbmann et al. 2007, S. 147 ff., 254 * in dieser Untersuchung nicht erhoben oder nicht vergleichbar
Beischlafdiebstahl Körperverletzung Rezeptfälschung Apothekeneinbruch u. ä. z Raub außerhalb der Drogenszene
z z z z
Auswahl wichtigster Delinquenzmuster
Tabelle 2.4.7 (Fortsetzung)
2.4 Drogendelinquenz z
515
516
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
sieren. Parallel zum „Vielfachdrogengebraucher“ ist der „Vielfachdelinquente“ der wohl am häufigsten anzutreffende Typus in der Drogenszene. Betrachtet man die Delinquenzbelastung der 1988/89 Befragten während der letzten zwölf Monate genauer, so zeigt sich, dass Delinquenz bei diesen Drogenabhängigen alltagsprägend und -ausfüllend war. Insgesamt wurden von den 100 Befragten 17 300 Delikte angegeben, wobei es sich jedoch zum größten Teil um direkte Beschaffungsdelikte beziehungsweise Delikte innerhalb der Drogenszene handelte (z. B. Erwerb, Diebstahl, Handel, Schmuggel von Drogen, Verschreibungserschleichen und Rezeptfälschungen). Die Anzahl indirekter Beschaffungsdelikte betrug 51 000. In über der Hälfte der Fälle (27 000) waren es Ladendiebstähle, ansonsten vor allem Hehlerei, Scheckkarten- und Kreditbetrüge bei beiden Geschlechtern, Prostitution bei Frauen, Diebstähle aus Kraftfahrzeugen und Wohnungseinbrüche bei Männern. „Ernsthafte Delikte“ wie Diebstahl unter erschwerten Umständen, Raub, Erpressung, Körperverletzung, Beischlafdiebstahl bilden nur den kleineren Teil der Kriminalität Drogenabhängiger. Insgesamt fielen zirka 13 000 Delikte unter diese Kategorie, wobei davon fast 10 000 Diebstähle rund um das Kraftfahrzeug betrafen. Drogenabhängige weisen zwar eine starke Delinquenzbelastung auf; alltagsbestimmend sind aber Delikte mit Bagatellcharakter wie kleine Drogengeschäfte, Ladendiebstähle und „Schwarzfahren“. Besonders erwähnenswert erscheint die Bedeutung des Arztes als zusätzlicher Versorger angesichts von Lücken im illegalen Markt und als bevorzugtes Ziel und Mittel delinquenten Verhaltens von Drogenabhängigen. So suchten 1988/89 55% der Befragten zeitweilig Ärzte auf, um Verschreibungen zu erschleichen und die Medikamente indikationswidrig einzunehmen, gegen andere zu tauschen, zu strecken oder im illegalen Markt abzusetzen. Über ein Drittel wandte sich an mehrere Ärzte, die als freizügige Verschreiber bekannt waren, zugleich, und ebenso viele wechselten häufig die Ärzte. Fast 50 derartiger Arztbesuche wurden durchschnittlich von diesen Drogenabhängigen für die letzten zwölf Monate angegeben. Fast die Hälfte täuschte Krankheitssymptome vor, die anderen gaben ihre Abhängigkeit an. Einige Ärzte lassen sich auf – überwiegend dilettantisch durchgeführte – Substitutionsbehandlungen mit dafür mehr oder weniger geeigneten Medikamenten ein. Sie verkennen oftmals, dass der Süchtige ein atypischer Patient ist, der sich auf vielerlei Täuschungen versteht, die geradezu zur Lebenstechnik werden. Solcherlei ärztliche „Zusatzversorgung“ – die offiziellen Prohibitionsbemühungen konterkarierend – dürfte vielleicht reduziert, aber keineswegs abgestellt werden, wo sich reguläre Methadonsubstitutionsprogramme etablieren, ganz abgesehen davon, dass auch Drogenabhängige in solchen Programmen oftmals noch „Beigebrauch“ anderer Drogen aufweisen und zusätzliche ärztliche Verschreibungen erwirken. Im Vergleich zu den USA zeigten sich ähnliche Delinquenzstrukturen und -ausmaße. Namentlich bestätigt sich auch dort die deutlich höhere Delinquenzbelastung und Gewaltkriminalität männlicher Drogenabhängiger in der „Drogenszene“; Raub gegenüber Fremden dürfte bei Drogenabhängi-
2.4 Drogendelinquenz
z
gen in amerikanischen Großstädten sogar deutlich höher liegen als bei uns; dies ist eines der vielen Indizien dafür, dass situative und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen mit das Ausmaß von Delinquenz und Gewalt Drogenabhängiger bestimmen. Als sehr unterschiedlich erweisen sich die Strukturen des Dunkelfeldes tatsächlicher und des Hellfeldes verfolgter und polizeilich aufgeklärter Kriminalität. So lagen die nach den Berichten der 1988/89 Befragten errechneten Aufklärungsquoten am höchsten bei Raub gegenüber Fremden außerhalb der Drogenszene (15,3%), ferner bei Scheckschwindeleien, Wohnungseinbrüchen, Apothekeneinbrüchen, Kraftfahrzeugdiebstählen, Körperverletzungen und Rezeptfälschungen (jeweils um 5%); die Aufklärungsquoten betrugen dagegen nahezu 0% etwa bei Arzneimittelerschleichen, Hehlerei oder Raub innerhalb der Drogenszene; bei den häufigsten Delikten – Drogendealerei, Ladendiebstahl und Diebstahl aus Kraftfahrzeugen – lag die Aufklärungsquote um 1%. Im Laufe der sich etablierenden Szene i.v. Drogenabhängiger haben sich durchaus Verschiebungen einzelner Delikttypen, aber auch der Kriminalitätsdichte ergeben. Im Selbstversorgermarkt der frühen Drogenabhängigen um 1970 dominierten noch Schmuggel, Kleinhandel, Apothekeneinbrüche und Rezeptdelikte. Die beiden letzteren Delikttypen haben an Bedeutung verloren wegen der Sicherungsmaßnahmen im Apotheken- und Verschreibungswesen, wegen der Verlagerung des Konsums von Opium und Morphium auf Heroin und Kokain, schließlich wegen des zunehmenden Organisationsgrades und der Internationalisierung im illegalen Handel und Markt.
2.4.2.2.2 Drogen- und Delinquenz-„Karrieren“ – Befunde nach früheren und neuen qualitativen Studien bei i.v. Drogenabhängigen Die Komplexität des Verhältnisses von Drogenabhängigkeit und Delinquenz lässt sich weiterhin dadurch aufzeigen, dass man in einem biografischen Längsschnitt den Verlauf von Drogenumgang und Delinquenz bei den untersuchten i.v. Drogenabhängigen parallelisiert. Zu fragen ist, ob der Drogenkarriere delinquente Entwicklungen nachfolgen oder vorausgehen. Sie müssten ihr nachfolgen, wären Drogenumgang und Drogenabhängigkeit sowie kriminalrechtliche Drogenprohibition entscheidende Bedingung der Delinquenzentwicklung. Tabelle 2.4.8 unterscheidet in vier Verlaufstypen das Verhältnis von Drogen- und Delinquenzkarrieren. Als biografische Zäsur wird hier der Zeitpunkt des ersten Konsums „harter Drogen“ wie Heroin und Kokain gewählt, wobei Alkohol außer Betracht bleibt. Diesen Zeitpunkt zu wählen, erscheint durch die Annahme begründet, dass erst hernach eine Drogenabhängigkeit einsetzen kann, die Beschaffungsdelinquenz fast zwangsläufig hervorruft. Als Delinquenz wird nur solche gewürdigt, die über „Normales“ hinausgeht und die nicht sozusagen definitionsgemäß für Drogenabhängige vorgegeben ist (z. B. also nicht Erwerb und Besitz illegaler Drogen). Die schematische Darstellung zeigt, dass beinahe bei jedem i.v. Dro-
517
518
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Tabelle 2.4.8. Drogen- und Delinquenzkarrieren. Schematische Darstellung aufgrund biografisch orientierter Intensivinterviews mit 100 intravenös Drogenabhängigen in Hessen 1988/89 sowie 91 intravenös Drogenabhängigen aus der qualitativen Begleitforschung zum Bundesdeutschen Modellprojekt „Heroinvergabe an Schwerstabhängige“ 2002/03 Typus Vorgeschichte Phase vor 1. harter Droge
DrogenBeschreibung phase nach 1. harter Droge
1988/89
2002/03
Männer Frauen Gesamt Männer Frauen Gesamt n = 64 n = 36 n = 100 n = 77 n = 14 n = 91
I
Drogenkarriere ohne vorangehende und ohne begleitende Delinquenzkarriere
II
Drogenkarriere 5% mit begleitender Delinquenzkarriere
III
IV
0%
12%
21%
13%
17%
9%
32%
29%
32%
Drogenkarriere 16% im Verlauf angebahnter mäßiger, durch die Drogenkarriere verstärkter Delinquenzkarriere
44%
26%
21%
29%
22%
Drogenkarriere 80% im späteren Verlauf einer bereits deutlich bestehenden Delinquenzkarriere
39%
65%
35%
21%
33%
Drogenkarriere
Delinquenzkarriere
Quelle für die Angaben 1988/89: Kreuzer et al. 1991; für 2002/03: Köllisch/Kreuzer, in: Löbmann et al. 2007, S. 256
genabhängigen mit der Drogenkarriere eine delinquente Entwicklung einhergeht. Sind die Typen III und IV stark besetzt, so ist dies bei einem Großteil vor allem männlicher Drogenabhängiger damit zu erklären, dass solche Drogenkarrieren einer bestehenden delinquenten Entwicklung sozusagen „aufgesetzt“ sind: Sie stellen ein weiteres, zuerst nahezu austauschbar erscheinendes, dann aber stark prägendes Symptom einer allgemeinen dissozialen Entwicklung dar. Drogenabhängigkeit ist dabei allenfalls Verstärker, nicht hingegen Auslöser einer Delinquenzentwicklung. Das schließt
2.4 Drogendelinquenz
z
freilich nicht aus, dass beide „Karrieren“ später mit Überwindung einer jugendtümlichen Sturm- und Drangphase wieder auslaufen, – wodurch auch immer bewirkt, ob nur durch Zeitablauf, durch Veränderungen der Lebensumstände, durch Therapie oder gar durch Strafe („maturing out“). Es zeigt sich zugleich der Widersinn undifferenzierter Forderungen, den Drogenabhängigen generell als krank, seine Delinquenz als zwangsläufig aus der Prohibition folgend, kriminalrechtliches Vorgehen als von vornherein ungeeignet anzusehen. Angesichts dieses Befundes nimmt es nicht wunder, wenn wir in allen Ländern, in denen vergleichbare Drogenprobleme bestehen, Drogenabhängige in großer Zahl in Haftanstalten finden, unabhängig davon, ob die jeweilige Drogenpolitik kriminalrechtliches oder sozialmedizinisches Reagieren favorisiert. Dieselbe Tabelle 2.4.8 weist vergleichend biografische Befunde der älteren Studie von 1988/89 (N = 100 Probanden) und der neuesten von 2002/03 (N = 91 Probanden) aus. Damit wird der schon in Tabelle 2.4.7 vorgenommene Vergleich beider Studien fortgeführt. Bemerkenswert sind die Unterschiede. Während die frühere Studie tendenziell gleiche Ergebnisse erbracht hat (Kreuzer et al. 1991) wie die vorangegangenen Studien zu Beginn und Ende der 70er Jahre (Kreuzer 1975, S. 414 f.; Kreuzer et al. 1981, S. 247 f.), so zeichnet die neueste ein im Detail deutlich abweichendes Bild. Jetzt finden sich beispielsweise immerhin einige i.v. Drogenabhängige, die keine beachtliche Delinquenzkarriere parallel zur Drogenabhängigkeit aufweisen. Zwar zeigen sich bei den früher und den neuerdings untersuchten i.v. Drogenabhängigen gleichermaßen mehrheitlich Delinquenzkarrieren, die sich bereits vor dem Umgang mit „harten Drogen“ und der Drogenabhängigkeit angebahnt hatten, also dem Grunde nach nicht auf Drogen und Drogenabhängigkeit zurückzuführen sind. Aber der Anteil dieser stark von primärer Delinquenz oder Dissozialität bestimmten Biografien ist doch wesentlich geringer als früher. Noch erheblicher ist der in Tabelle 2.4.7 zutage tretende Unterschied von Delinquenzbelastungen der Probanden dieser beiden Stichproben; die zuletzt in der Population des Modellprojekts heroingestützter Behandlung Opiatabhängiger qualitativ befragten 91 i.v. Drogenabhängigen geben drastisch weniger Delikte während der letzten zwölf Monate an als die 1988/89 befragten 100 Probanden. Da – im Blick auf alle Untersuchungen hierzulande und in anderen Ländern – nicht auf eine tatsächliche Änderung der Delinquenzdispositionen in der Gesamtpopulation extremer und i.v. Drogenabhängiger geschlossen werden kann, drängen sich andere Hypothesen auf, diese Unterschiede zu erklären. Sie hängen mit der jeweiligen Stichprobenbildung, dem Alter der Interviewten, der gewählten Methode und anderen Besonderheiten zusammen. Sie erlauben Rückschlüsse auf die Vielfalt und tatsächliche Beschaffenheit der Wirklichkeit eines gedachten Gesamts i.v. Drogenabhängiger in unserer Gesellschaft. Die folgenden Hypothesen zur Erklärung wesentlicher Unterschiede in den hier exemplarisch eingebrachten Untersuchungen bieten sich an:
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
z Die neue Stichprobe umfasst Probanden, die sich freiwillig in eine ambulante Behandlung mit legaler Heroinvergabe begeben. Damit stellt sie nach Delinquenzdispositionen eine eher positive Auswahl dar. Stark in Delinquenz und Drogenhandel Involvierte entziehen sich überwiegend solcher kontrollierten Behandlung. Oder sie scheiden für die Aufnahme in ein derartiges Programm von vornherein aus, weil sie sich in Haft oder Zwangsunterbringungen befinden. z Aber auch schwerst verwahrloste, zunächst stark delinquente, später wegen ihrer Depravation selbst zu erheblicher Delinquenz nicht mehr fähige Drogenabhängige dürften kaum willens und im Stande sein, in derartig anspruchsvolle Therapieprogramme zu gelangen. z Bedeutsam für die geringere Delinquenzbelastung der neueren Stichprobe ist vor allem das höhere Alter der Probanden. In den eigenen Untersuchungen stieg der Altersschnitt der Stichproben von 20 Jahren 1972 über 24 Jahre 1978/79 und 28 Jahre 1988/89 auf 36 Jahre 2002/03. In der Schweizer Begleitstudie zur Heroinvergabe lag der Altersschnitt 1994 bis 1996 bei 31 Jahren, in der niederländischen Heroinvergabestudie 1999 bis 2001 bei 38 Jahren (Kreuzer 1975; Kreuzer et al. 1981; Kreuzer et al. 1991; Uchtenhagen 1998, 2000; Central Committee of the Treatment of Heroin Addicts 2002). Der Altersanstieg ist teilweise dadurch bedingt, dass in den Heroinvergabeprogrammen ein Mindestalter von 20 in der Schweiz, 23 in Deutschland und 25 Jahren in den Niederlanden vorausgesetzt wird. Vor allem ist er indes zurückzuführen auf die Alterung der Drogenszene. Dieser Alterungsprozess unter Drogenabhängigen und in den Studien bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine günstigere Selektion und tendenziell geringere Delinquenz: Mit Überschreiten des zu extremem Verhalten disponierenden Jugendalters verringert sich Delinquenz allgemein und auch bei „Karrieretätern“ sowie in „Drogenkarrieren“. Dies wirkt sich namentlich bei der für die letzten zwölf Monate gemessenen Delinquenzbelastung aus. Unter den Älteren finden sich außerdem manche, die erst in vorgerücktem Alter in Drogenabhängigkeit geraten sind, vorher ein eher sozial stabiles Leben geführt haben. Überdies fehlen in Stichproben älterer Drogenabhängiger die in jüngeren Jahren zu besonders riskantem Verhalten im Sucht- und Delinquenzbereich Neigenden und deswegen früh wegen Überdosierungen, Aids, drogenbedingter organischer Leiden oder Selbstmords Verstorbenen. Ältere Drogenabhängige, die sich freiwillig in eine heroingestützte ambulante Therapie begeben, haben sich schließlich schon vorher überwiegend von der öffentlichen Drogenszene mit der dort verdichteten Delinquenz und von entsprechenden delinquenten Lebensstilen gelöst oder sich ihnen nie zugewandt und sich wiederholt verschiedenen Therapien wie Methadonsubstitution unterzogen. In gleicher Richtung günstigerer Zusammensetzung der Stichprobe dürfte es sich auswirken, dass einige Drogenabhängige aus bürgerlichen Milieus (Kemmesies 2004 a), die ohnehin kaum von Delinquenz geprägt sind, heroingestützte Behandlung suchen.
2.4 Drogendelinquenz
z
z Tendenziell geringere Delinquenzbelastungen können sich ferner aus Strukturveränderungen der Drogenszenen ergeben. Wenn öffentliche Drogenszenen mit ihnen wesensgemäßer Straßenkriminalität durch polizeiliche Kontrollen aufgelöst werden oder sich sonst auflösen, dürfte sich das Delinquenzniveau in der Population Drogenabhängiger senken. Das schließt nicht aus, dass sich daraufhin der Drogenhandel in Milieus selbst nicht abhängiger am Handel Beteiligter in Richtung organisierter Kriminalität verdichtet und gegen Entdeckung abschottet. Veränderungen in Delinquenzbelastungen können sich daneben aus beobachteten Verlagerungen der Konsummuster vom Injizieren zum Rauchen und Inhalieren oder vom Heroin- zum Kokain- und Crackgebrauch ergeben (Kemmesies 2004 b). z Eine Reihe methodischer Besonderheiten könnte letztlich zu tendenziell verringert berichteter Delinquenz in der jetzigen Stichprobe i.v. Drogenabhängiger geführt haben, die zu Beginn ihrer Aufnahme in das Heroinvergabemodell interviewt wurden (näher dazu Köllisch/Kreuzer 2007, in: Löbmann et al., S. 254 ff., 260 ff.): Ältere verdrängen stärker oder vergessen frühe Delinquenz. Delinquenz aus letzter Zeit geben sie möglicherweise restriktiver an, weil mit dem Älterwerden allgemein Vorbehalte gegenüber solchen Interviews wachsen und weil Antwortverhalten im Sinne sozialer Erwünschtheit nahe liegt, wenn man davon – wenngleich objektiv unbegründet – Nachteile für die Aufnahme in das Programm oder die Kontrolle im Programm befürchtet. Auch sind ältere Drogenabhängige oftmals so sehr an Begutachtungen und Befragungen gewöhnt, dass sich ihr Berichtstil zu einer Art standardisierten oder fixierten Darstellens verfestigt hat und nur noch schwer mit spezifischen Ansätzen qualitativer Interviews überprüfbar ist. Zudem könnte die Neigung bestehen, das in den unmittelbar zeitlich vorausgegangenen quantitativen Interviews zur Delinquenz Berichtete in den qualitativen Interviews inhaltsgleich, „geglättet“ anzugeben und sich kritischem Nachfragen zu verschließen. Bemerkenswerterweise waren die qualitativen Interviews früherer Studien mit zwei bis fünf Stunden deutlich länger als die in der jüngsten Studie mit ein bis zwei Stunden; das könnte sowohl mit dem „standardisierten“, „fixierten“ Berichtverhalten zu tun haben als auch mit der spezifischen Befragungssituation im Heroinvergabemodell; die Situation war geprägt durch den Stress der Anfangsphase des Modells und nach der jeweiligen Aufnahme der Probanden; die Interviews waren zeitlich begrenzt wegen der täglich bis zu dreimaligen Aufenthalte der Probanden in der Einrichtung sowie durch Wirkungen der vorangegangenen und Erwartungen an die nächst folgende Heroineinnahme. Damit stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Befunde zur Delinquenzentstehung und -intensität bei i.v. Drogenabhängigen insgesamt zu interpretieren sind und was sie für die Wirklichkeit einer gedachten Gesamtheit Drogenabhängiger aussagen. Drogenabhängigkeit findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen. Die beiden Studien
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
dürften zwei große Ausschnitte der Gesamtheit Drogenabhängiger repräsentieren mit Überschneidungen. Ein Großteil Drogenabhängiger gelangt in Haft oder stationäre Einrichtungen des Maßregelvollzugs. Dieser Teil war dominant in der Studie von 1988/89 vertreten, nur schwach in der Studie von 2002/2003. Ein wohl etwas größerer Anteil Drogenabhängiger lebt entweder in bürgerlichen Milieus mit weniger Berührung zur öffentlichen Drogenszene und Strafjustiz oder er gehört zwar zu randständigen Milieus, gelangt aber nicht vorrangig über delinquente Peergroups zu Drogen, hält sich in der Delinquenz zurück und nimmt freiwillig diverse Therapieangebote wahr. In diesem Teil sind ältere Drogenabhängige stärker repräsentiert, die erst als Erwachsene in Drogenabhängigkeit geraten oder welche die Drogen- und Delinquenzphase ihrer Jugend tendenziell verlassen. Dieser Teil prägt offenkundig die Studie von 2002/2003. Nur periphere Gruppen Drogenabhängiger dürften weder in der einen noch in der anderen Stichprobe repräsentiert gewesen sein. Die keineswegs statische, vielmehr dauerhaft Veränderungen unterworfene, an den Randzonen diffuse gedachte Gesamtheit Drogenabhängiger dürfte somit nach Ausmaß und Entwicklung der Delinquenz durchschnittliche Werte aufweisen, die zwischen den für die beiden Stichproben und Studien aufgezeigten Werten liegen. In dem Vergleich älterer und neuerer qualitativ-kriminologischer Studien bei i.v. Drogenabhängigen mit ihren diskrepanten Befunden und mit den vergleichenden Interpretationen, die zu einer nur ungefähren Gesamteinschätzung führen können, teilt diese drogenkriminologische Forschung Möglichkeiten und Grenzen empirisch-kriminologischer Untersuchungen ganz allgemein. Befunde sind abhängig von theoretischen und methodischen Ansätzen, tatsächlichen Zugangsmöglichkeiten, Stichprobenbesonderheiten und laufenden Veränderungen des Untersuchungsgegenstandes. Gleichwohl wird es möglich, sich der Wirklichkeit eines Problemfeldes zu nähern, die Vielfalt des Bedingungsgefüges zu erkennen und Einsichten in die Komplexität des Zusammenhangs von Drogen und Delinquenz zu gewinnen.
2.4.2.2.3 Dispositionen, frühe Sozialisationsstörungen und spätere Delinquenz Nach den Befunden intensiv befragter i.v. Drogenabhängiger kann die Komplexität des Verhältnisses von Drogenumgang, Drogenabhängigkeit und Delinquenz auch im Blick auf Faktoren verdeutlicht werden, die mit Persönlichkeit und frühen Störungen der Sozialisation zu tun haben. Biografisch-retrospektive kriminologische Befragungen lassen indes genauere Einblicke in Persönlichkeitszüge und psychische Dispositionen kaum zu. Vielmehr stehen erinnerbare, abfragbare, objektivierbare Befunde zur Sozialisation im Vordergrund. Durch andersartig angelegte anamnesische und testpsychologische Untersuchungen könnten weitere Bedingungsfaktoren herausgearbeitet werden, die für späteren Suchtmittelumgang und Delinquenz mit prägend sein dürften, wie sich anlässlich der Interviews ansatzweise zeigte. So neigen junge Menschen aus Familien, in denen gehäuft psychische Krankheiten oder Suchtmittelmissbrauch vorkommen,
2.4 Drogendelinquenz
z
stärker zu eigenem späterem Suchtmittelumgang. Zudem haben Menschen mit primären psychischen Störungen eher die Tendenz, später – bewusst oder unbewusst – Suchtmittel zu nehmen, auch um entsprechenden psychosozialen Problemen zu entfliehen oder sich zu behandeln (Uchtenhagen u. Zimmer-Höfler 1985). Prämorbide, möglicherweise psychisch bereits kranke Persönlichkeiten werden in den USA sogar zu einem Fünftel unter i.v. Drogenabhängigen vermutet. In der Stichprobe von 100 i.v. Drogenabhängigen von 1988/89 zeigt sich ein starker Zusammenhang zwischen frühen Sozialisationsstörungen und späterer Delinquenz in der Drogenphase; dies sei exemplarisch für zwei Einflussgrößen aufgezeigt: Zum einen weisen diejenigen, die stark belastenden Erziehungssituationen in der Kindheit ausgesetzt waren, ein deutlich größeres Ausmaß an Delinquenz in der Drogenabhängigkeit auf. Bei 54% war die Herkunftsfamilie unvollständig. Nimmt man schwere funktionale Störungen wie Alkoholismus oder Medikamentenabhängigkeit von Eltern, häufiger Wechsel der Bezugspersonen und längere Heimaufenthalte hinzu, so weisen 72% familiäre Störfaktoren auf. Je stärker solche Familien- und Erziehungsbelastungen waren, umso größer fiel die Delinquenzbelastung in dem gemessenen Zeitraum der letzten zwölf Monate in Freiheit aus. Der Zusammenhang war umso stärker, je schwerer die Deliktkategorie war, am stärksten bei Gewaltdelikten. Zum anderen fanden wir unter denen, die erhebliche Gewaltkriminalität als Drogenabhängige aufwiesen, vor allem solche, die in der frühen Kindheit Opfer von Gewalt geworden waren. Hier bestätigt sich der in der Diskussion zur Kindesmisshandlung diskutierte „Zirkel der Gewalt“. Auch dies ist zugleich ein Beitrag dafür, dass Faktoren, die unabhängig von der Droge, ihrer Wirkung und der Art ihrer Kontrolle sind, Art und Ausmaß delinquenten Verhaltens Drogenabhängiger mit prägen.
2.4.2.2.4 Drogenbedarf und Finanzierung Der Finanzierungsbedarf im Leben i.v. Drogenabhängiger ist aus zwei Gründen weitaus größer als beispielsweise der von „nur“ Alkoholabhängigen. Einmal geht es um illegale Drogen, deren Beschaffung weitaus kostspieliger im illegalen Markt geschieht. Sodann handelt es sich zumeist um junge, noch nicht sozial integrierte und finanziell unabhängige Menschen. In doppelter Hinsicht besteht also auch von der Kostenseite aus ein Kriminalitätsdruck. Schon in einer früheren Untersuchung (Kreuzer et al. 1981) hatten wir versucht, den Drogenbedarf i.v. Drogenabhängiger mitsamt der Finanzierung einzuschätzen. Dabei stößt man auf erhebliche Einschätzungsschwierigkeiten. Die wichtigsten Faktoren der Einschätzung lassen sich jedoch herausarbeiten; den in der Öffentlichkeit oft vorherrschenden Fehlannahmen lassen sich dadurch realistische Größenordnungen gegenüberstellen. Wichtigste Unsicherheiten ergeben sich daraus, dass der Wirkstoffgehalt einzelner Drogen stark schwankt und schon objektiv, erst recht subjektiv schwer bestimmbar ist. So geben die Befragten tägliche Heroinbedarfsmen-
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
gen zwischen 0,5 und 2,5 Gramm der üblichen Straßenqualität an, ergänzt durch andere Drogen. Den finanziellen Aufwand schätzten die 1989/89 intensiv Interviewten – geschlechtergleich – mit durchschnittlich 250 DM (125 1) pro Tag ein. Doch bleiben hierbei etwa die vielen Perioden von Drogenfreiheit oder geringer Versorgung oder Ersatzstoffbeschaffung außer Betracht. Auch werden Drogen nicht nur gekauft, sondern oft durch Teilhabe am Handel, Diebstahl und anderen Verhaltensweisen ohne Geldaufwand erworben. Bezogen auf das letzte Jahr machten Phasen weitgehend drogenfreien Lebens bei männlichen Abhängigen durchschnittlich 18,8, bei weiblichen 13,5 Wochen aus. Dazu gehören Haft- und Therapieaufenthalte ebenso wie freiwillige Selbstentzüge oder Versorgungslücken. Tatsächlich dürfte der durchschnittliche Geldeinsatz für den täglichen Drogenbedarf unter Berücksichtigung dieser Faktoren damals 100 bis 150 DM (50–75 1) betragen haben. Weiterhin erlaubte die Studie von 1988/89 (Kreuzer et al. 1991), die Finanzierungsstruktur aufgrund der Probandenangaben ungefähr einzuschätzen. Danach entfallen etwa ein Fünftel auf legale Finanzierung, ein Neuntel auf Prostitution, ein gutes Drittel auf Drogenhandel, ein knappes Drittel auf sonstige Kriminalität, wovon nur ein – wenn auch größerer – Teil indirekte Beschaffungskriminalität darstellt. Geschlechterunterschiede ergeben sich vor allem insofern, als bei Männern Beschaffungskriminalität, bei Frauen Prostitution größeres Gewicht haben.
2.4.2.2.5 „Klassischer Morphinist“ und jüngerer „Junkie“ Um den begrenzten Einfluss von Droge und Drogenabhängigkeit auf Delinquenz plausibler zu machen, bietet sich zusätzlich ein Vergleich zwischen „klassischen Morphinisten“ – Angehörige von Medizinalberufen, Kriegsinvaliden und iatrogene Süchtige – einerseits, jungen i.v. Drogenabhängigen vom Erscheinungsbild des „Junkie“ oder „Fixers“ andererseits an. Der Vergleich geht von idealtypischen Konstellationen aus. Erkenntnisse über den „klassischen Morphinisten“ sind nicht systematisch-empirisch gewonnen, sondern beruhen auf vielfältigen literarischen Darstellungen und Aktenbefunden aus älterer Zeit. Systematische empirisch-kriminologische Lebenslaufanalysen, wie sie hier unter Einbeziehung des individuellen Dunkelfeldes vorliegen, gibt es auch nicht für den typischen „Alkoholiker“. Das Bild des klassischen Morphinisten unterscheidet sich in vieler Hinsicht von dem des „Fixers“: Der ehemalige Süchtige war in der Regel erwachsen, in seiner Persönlichkeit ausgeformt, sozial integriert, oft schon in einer eigenen Familie verwurzelt, später dann – meist schicksalhaft – aus der Bahn geworfen. Er kam ohne Gruppeneinflüsse zu den Drogen und zur Sucht, und er blieb als Süchtiger allein, wirkte in der Regel nicht „ansteckend“. Er versuchte sogar, seine Sucht geheim zu halten. Auch im Drogenumgang selbst war er vergleichsweise diszipliniert. Er injizierte Drogen mit sterilem Injektionsbesteck subkutan oder intramuskulär, nicht intravenös. Er beschränkte sich üblicherweise auf eine bestimmte Droge und Dosierung. Dabei war er
2.4 Drogendelinquenz
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bemüht, seinen Beruf weiterzuführen und die Sucht von seinen regulären Einkünften zu bestreiten. Weder hatte er erhebliche delinquente Vorerfahrungen, noch geriet er in eine delinquente Karriere durch die Sucht. Beschaffungsdelikte beschränkten sich auf Unregelmäßigkeiten im Umgang mit beruflich griffbereiten Drogen oder im Bezug von Verschreibungen. Er hielt insgesamt seinen Drogenumgang und entsprechende Delinquenz in einem für die Allgemeinheit erträglichen Maß. Daher war und sind für ihn Erhaltungstherapien nach Art der Methadonsubstitution oder legalisierten Morphinabgabe durchaus diskutabel und wohl auch in irgendeiner Form üblich. Tendenziell befanden sich einige Probanden solcher Ausrichtung auch in der dargestellten Untersuchung bei 91 Drogenabhängigen des Modellprojekts heroingestützter Behandlung Opiatabhängiger 2002/03. Der „Fixer“ oder „Junkie“ hingegen gelangt überwiegend in der peripubertären Lebensphase in die Drogenwelt. Das ist ein Alter mit starker Prägbarkeit, Risiko- und Experimentierbereitschaft, Irritierbarkeit, Peergrouporientierung und erfahrungsgemäß ohnehin verbunden mit Höhepunkten delinquenter Belastungen. Er befindet sich mitten in der Persönlichkeitsund Sozialentwicklung, hat noch keine berufliche, finanzielle und eigene familiäre Absicherung. Meist weist er schon im Einstiegsalter Sozialisationsstörungen, oft delinquente Vorerfahrungen, allgemein auch eine Suchtmittelnähe auf. Der Drogenumgang resultiert weniger aus einer ganz individuellen Problemlage, sondern ist ausgerichtet am Verhalten der Bezugsgruppen und Drogensubkultur. Der jüngere i.v. Drogenabhängige erlernt den Drogenumgang von anderen und gibt Erlerntes weiter; er wird verleitet, und er verleitet andere. Er ist im Drogenumgang maßloser, wahlloser, riskanter, neugieriger. Er experimentiert und renommiert. Er ist polytoxikoman und polytropdelinquent. Seine Delinquenz bezieht sich nicht nur auf Drogenbeschaffung, sondern zumeist auf die gesamte Lebensführung. Sie ist eingebettet in eine sich mit anderen kriminellen Milieus verquickende Subkultur und in einen organisierten illegalen Markt. In seiner Reifeentwicklung durch die Drogenphase weit zurückgeworfen, ausgesetzt auch Abhängigkeiten, Zwängen, Rollen und Einstellungen der Subkultur, sind freier Wille zur Therapie, Durchhaltekraft und alternative Lebensplanung bei ihm noch weit schwerer erreichbar. Noch nicht hinreichend erforscht ist, wieweit es einem Teil gegenwärtiger i.v. Drogenabhängiger mit wachsendem Alter und zunehmender Distanz zur Drogenszene gelingt, sich dem Typus des klassischen Morphinisten in der maßvolleren Art des Drogenumgangs und der Drogenbeschaffung anzunähern. Einem kleinen Teil dürfte der endgültige Ausstieg aus dem Drogenleben gelingen. Ein anderer Teil wird wahrscheinlich durch Substitutionsbemühungen einen Mittelweg zwischen Ausstieg und Suchtleben finden. Solche Drogenabhängigen fanden sich mit entsprechend geringerer Delinquenz stärker auch in der zuvor vergleichend herangezogenen Studie bei i.v. Drogenabhängigen im Bundesmodell heroingestützter Behandlung von 2002/03 (näher dazu: Köllisch/Kreuzer 2007, in: Löbmann et al., S. 147 ff.). Bei einigen wird man mit Suchtverschiebungen – etwa hin
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zum Alkoholiker am Rande der bürgerlichen Gesellschaft – zu rechnen haben. Wieder andere werden das bisherige Drogenleben – aber mit wachsendem Alter eher am Rande der Drogenszene – fortsetzen. Unberücksichtigt bleiben dabei die etwa 20%, die infolge der Drogen und Begleiterkrankungen, namentlich Aids, früher oder später sterben.
2.4.2.3 Drogen und Gewalt Angesichts allgemein als ansteigend und bedrohlich wahrgenommener Gewaltkriminalität liegt es nahe, besonderen Erscheinungsformen und Zusammenhängen von Gewalt und Drogenabhängigkeit nachzugehen. Zu Beginn der neueren kriminologischen Forschung über Drogen und Delinquenz wurde in ausländischen Studien die Meinung vertreten, Drogendelinquenz sei utilitaristisch, nicht mit Gewalt verbunden, im Gegensatz zu sonstiger Jugenddelinquenz (so neuestens wieder Killias u. Rabasa 1998, S. 19, 26). Drogenabhängigkeit fördere eher nach innen gerichtete Zerstörung; Opiatkonsum zumal mindere Gewalt („Aggressionsreduktionshypothese“). In eigenen und inzwischen auch amerikanischen Untersuchungen (Inciardi 1986; Inciardi u. Pottieger 1994; Johnson et al. 1988; Kreuzer 1975; Kreuzer et al. 1981; Kreuzer et al. 1991) konnte die Hypothese erschüttert werden. Sie beruhte auf theoretischen Fehlannahmen und methodischen Verzerrungen; sie missdeutete die vielfache Auslese der nur im Hellfeld zumeist inhaftierter Drogenabhängiger gewonnenen Befunde. Das Gros der Gewalt Drogenabhängiger findet innerhalb der Drogenszene statt in entsprechend mit Gewalt vertrauten Milieus und in enger Täter-OpferVerquickung, sodass nur wenig durch Anzeige bekannt und verfolgt, außerdem viel auch in standardisierten schriftlichen Befragungen verschwiegen wird. Freilich zeigt die berichtete neuere Studie bei 91 Drogenabhängigen im Modellprojekt heroingestützter Behandlung Opiatabhängiger von 2002/03 mit ihrer anders rekrutierten Stichprobe, dass die Gewaltaffinität in unterschiedlichen Milieus Drogenabhängiger ungleich stark sein dürfte (Köllisch/Kreuzer 2007, in: Löbmann et al., S. 240 ff.).
2.4.2.3.1 Situationen und Erscheinungsformen von Gewaltdelinquenz Zunächst seien mit Drogenumgang verbundene typische Situationen herausgestellt, die Gewalttätigkeit vorsätzlicher oder fahrlässiger Art stimulieren können, sodann typische aggressive Verhaltensweisen. Im akuten Rausch oder Delir kann die Kontrolle über das Verhalten beeinträchtigt sein. Fehlende Realitätskontrolle, Trugwahrnehmungen, Angstund Aufregungszustände sowie die allgemeine Enthemmung begünstigen aggressive Verhaltensweisen. Nicht jede Aggression darf indes auf die Intoxikation zurückgeführt werden. Befragte schilderten Situationen, in denen sie sich bewusst z. B. Weckmittel injizierten, um bei geplanten Gewalttaten nötige Selbstsicherheit zu gewinnen. Die Parallele zum „Mutantrinken“ mit Alkohol drängt sich auf.
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Gewalt auslösend sind weiter Situationen erzwungener Drogenabstinenz bei psychisch-physischer Abhängigkeit, vor allem bei Opiatentzug. Dazu gehören Symptome wie Schmerzen, Ängste, Depressionen, Schlaflosigkeit, Erbrechen, Kollaps. Schon vorangehende Phasen der Angst vor dem Entzug vermögen Aggressionen auszulösen. Gewaltsame Beschaffungsdelikte liegen dann nahe. In solchen Phasen haben Drogenabhängige voreinander Angst und trauen ihren besten Freunden rücksichtslosestes Vorgehen zu. In Amerika spricht man von dem „nervous junkie with an itchy trigger finger“. Insgesamt nehmen solche Situationen zu, wenn sich die Versorgungslage im Markt verschlechtert. Erfolgreiche polizeiliche Eingriffe gegen den Handel können sich also vorübergehend gewaltstimulierend, eine gleichbleibend gute Versorgungslage kann sich gewaltmindernd auswirken. Man stößt hier wie sonst auf ambivalente Wirkungen. Der Verfolgungswahn ist ein gelegentlich auftretendes Krankheitssymptom, welches in besonderer Weise geeignet ist, unberechenbare, unvorhersehbare Aggressionen auszulösen. Paranoische Zustände können sich vor allem bei Amphetamin- und Kokainmissbrauch – auch „Crack“ und „Ecstasy“ – einstellen. Solche Gewalt ist jedoch weitgehend von Persönlichkeit und Alltagssituationen des Lebens in der Drogenszene mitgeprägt. Dafür ist der so genannte „Polizeiverfolgungswahn“ kennzeichnend. Man meint, selbst in vertrauten Personen oder in irgendwelchen Passanten Zivilfahnder der Polizei oder V-Leute zu erkennen. Wahnbilder knüpfen durchaus an wirklichkeitsnahe Situationen an. Alltagsängste werden verstärkt in drogenbedingten paranoischen Zuständen. Der Abhängige kann in panische Fluchtstimmung geraten oder vermeintliche Verfolger unberechenbar angreifen. Eine besondere, aber eher seltene Situation der Intoxikation, die zu aggressivem Verhalten stimulieren kann, ist der so genannte „Horror-“ oder „bad trip“. Diese abnorme psychische Erlebnisreaktion tritt im Zusammenhang mit LSD, seltener mit Haschisch, wohl auch mit Amphetaminen auf und ist mit Angst und Panik verbunden. Weniger klar zu umreißen ist der Zustand chronischer Intoxikation mit starken Wesensveränderungen. Einerseits kann die Fähigkeit zu jeglicher Aktivität verloren gehen, andererseits sind spontane Gewaltausbrüche bei totaler Hemmungslosigkeit und fehlender Handlungskontrolle in diesem Stadium nicht auszuschließen. Zu den typischen Gewaltmustern gehören zunächst Formen gewaltsamer Drogen- und Geldbeschaffung. Diese Delinquenz richtet sich nur zum geringeren Teil gegen szeneunabhängige Personen. In der Szene können Aktionen dabei Kettenreaktionen mit sich steigernder Gewalt auslösen. Es geht um den Rückerwerb der Ware, des Geldes und um Vergeltung. Solche Taten werden indes nicht verfolgt. In der Drogenszene sind ferner wechselseitige Nötigungen und Bedrohungen an der Tagesordnung. Eines der Drohmittel ist die Selbstschädigung. Man droht dem Gegenüber für den Fall einer Weigerung an, sich eine Überdosis zu verabreichen, bei begonnener Entzugsbehandlung „einen Rückfall zu machen“ usw. Bedrohter kann der Intimpartner, Bruder,
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Freund, Amtsarzt, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Therapeut sein. Es mag darum gehen, eine Aussage, Krankenhauseinweisung, Verhaftung zu unterlassen, beim Injizieren zu helfen, selbst wieder Drogen zu nehmen, den Drohenden nicht zu verlassen usw. In engen Gemeinschaften von Drogenabhängigen setzt sich auf diese Weise der jeweils Schwächere durch. Aggressive Elemente enthalten ferner Vergeltungsmaßnahmen im Rahmen szeneüblicher Selbstjustiz. Allerdings dürften Androhungen häufiger sein als tatsächliche Racheaktionen. Wohl mitbedingt durch die Verquickung unterschiedlicher kriminogener Milieus wird über Misshandlungen durch gekaufte Schlägercliquen, Lokal- und Wohnungsdemolierungen, „Lokal- und Stadtverbote“, Messerstechereien, Schüsse in das Bein, gezielte Manipulationen an Autos, Geiselnahme, sogar Tötungen berichtet. Mord und Selbstmord liegen ohnehin nahe beieinander, und da Selbstmord sowie versehentliche Überdosierungen üblich sind, können gezielte Tötungen leicht kaschiert werden. Viele solcher Gewalthandlungen hängen weniger mit dem Drogenumgang selbst als mit dem organisierten illegalen Markt zusammen. Nicht selten führen Drogenabhängige und Drogenhändler zur Vorbeugung Waffen bei sich.
2.4.2.3.2 Gewaltpotenzial einzelner Drogen Wieweit einzelne Drogenarten Gewalttaten begünstigen können, lässt sich schwer wissenschaftlich detailliert feststellen. Die wichtigsten Forschungshindernisse sind: Vielfalt, Unberechenbarkeit, Veränderbarkeit der Wirkung einzelner Drogen, die unterschiedlichen Dosierungen und Kombinationen in der Drogenszene – insbesondere die Polytoxikomanie –, die schwere Trennbarkeit von Drogen- beziehungsweise Milieueinflüssen, personale, soziale und situative Sonderbedingungen. Als feststehend darf man jedenfalls einen negativen Befund hervorheben: Keine Droge führt an sich schon zu Gewalttätigkeit. Noch am ehesten lässt die bisherige Forschung Aussagen über einen beachtlichen Zusammenhang zwischen Alkohol und Aggressionstaten zu. Bei bestimmten Gewaltdelikten – Tötung, Raub, Vergewaltigung, Körperverletzung – dürfte auf der Täterseite zu über 50%, oft auch auf der Opferseite Alkohol mitwirken. Sicher führt Alkohol in größerer Dosierung zu Enthemmung und Kontrollverlust. Doch sind weitere Bedingungen in der Persönlichkeit, Umgebung und Situation erforderlich, damit jemand unter Alkoholeinfluss tätlich wird. Oft wirkt die Bezugsgruppe ähnlich enthemmend wie der Alkohol selbst. Nächst dem Alkohol werden Amphetaminen und Kokain – insbesondere „Crack“ – aggressionsfördernde Eigenschaften zugeschrieben. Zwar fehlt im Allgemeinen wegen der nicht eintretenden körperlichen Abhängigkeit der Drang zu gewaltsamer Beschaffungsdelinquenz. Hingegen scheinen bei extremen Missbrauchern um so stärker Aggressionen als Folge akuter oder chronischer Intoxikation aufzutreten. Die bei normalem Umgang eintretende leicht stimulierende Wirkung dürfte bei dauerhaftem Missbrauch in ext-
2.4 Drogendelinquenz
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reme Formen ausgeprägter Hyperaktivität, kritikloser Selbstüberschätzung und emotionaler Abreaktion, eventuell auch Gewalt umschlagen. Bekannt ist der „speed run“, eine psychotische Erscheinung des Aufputschmittelmissbrauchs, bei welcher Gewalt ausgelöst werden kann (z. B. „speed kills“). Aber selbst derartige Beobachtungen lassen noch Fragen danach unbeantwortet, wieweit sie sich auf bestimmte Personengruppen beziehen, die nach ihrer Primärpersönlichkeit und Gruppenzugehörigkeit ohnehin zu Aggressionen neigen, ob es sich also um besondere Syndrome personaler, sozialer, situativer und drogenbedingter Faktoren handelt. Barbiturate dürften ähnlich ambivalent zu beurteilen sein wie Alkohol. Insbesondere indikationsgemäßer Umgang wird Aktivität eher lähmen. Bei starkem Missbrauch kann jedoch eine Paradoxwirkung eintreten, latent vorhandene Aggressivität ausgelöst werden. Opiate, einschließlich Heroin, pflegen gemeinhin mit Kriminalität in Verbindung gebracht zu werden. Sie sind immerhin die Mittel, welche zu stärkster und schnellster körperlicher Abhängigkeit führen. Dies begünstigt zumindest, wie erwähnt, vor allem bei jüngeren Drogenabhängigen in öffentlichen Drogenszenen Beschaffungsdelinquenz auch in gewaltsamen Formen. Andere Gewaltdelinquenz dürfte möglicherweise geringer sein. So war bei „klassischen Morphinisten“ keine nennenswerte Aggressionsdelinquenz zu verzeichnen. Am weitesten gehen die Ansichten auseinander in der Beurteilung eines etwaigen Gewaltpotenzials von Halluzinogenen, einschließlich des Haschisch. Frühere Beobachtungen in anderen Kulturen und Zeiten entsprechen nicht ohne Weiteres heutigen wissenschaftlichen Maßstäben und sind auch sonst nicht leicht auf unsere Kultur übertragbar. In die Diskussion mischen sich zudem traditionelle Vorurteile. Neuere Untersuchungen lassen sich etwa so zusammenfassen: Es besteht keine direkte Beziehung zwischen Konsum und Delikten oder gar Gewalttaten. Mäßiger Konsum scheint latente Gewaltbereitschaft eher zu dämpfen. Jedoch lassen sich bei besonders Disponierten und in besonderen Situationen gegenteilige Wirkungen im Einzelfall nicht ausschließen. So werden gelegentlich psychotisch-paranoide Zustände beobachtet, in deren Verlauf Aggressionen und Autoaggressionen auftreten können.
2.4.2.3.3 Thesen zum Zusammenhang von Drogengebrauch, Drogenabhängigkeit und Gewalt 1. Gewaltkriminalität Drogenabhängiger ist in Kriminalstatistiken unterrepräsentiert; ausschlaggebend dafür sind die besondere Täter-Opfer-Beziehung und die geringe Anzeigebereitschaft in der Drogenszene. 2. Das Ausmaß der Beschaffungskriminalität suggeriert, Delinquenz Drogenabhängiger sei utilitaristisch ausgerichtet; doch umfassen viele Formen der Beschaffungs- und sonstigen Kriminalität Elemente der Gewalt. 3. Bei keiner Droge führt per se Missbrauch zu Gewalt. Aber der Missbrauch der meisten Drogen kann latente Aggressionsbereitschaft in be-
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stimmten Stadien und Situationen aktualisieren. Dieses Gewaltpotenzial ist bei verschiedenen Drogen unterschiedlich, bei Amphetaminen, Kokain – einschließlich Crack – und Alkohol am stärksten. 4. Extremen Drogen- und Alkoholmissbrauch treiben mitunter junge Menschen, die prädisponiert für und erfahren in Gewaltdelinquenz sind. Ihre Gewalt wird in der Drogenkarriere kaum geringer, passt sich dieser jedoch an. 5. Die Integration Drogenabhängiger in die Drogenszene, die Verschmelzung dieser mit anderen kriminogenen Subkulturen und die allgemeine Demoralisierung in diesem von Illegalität gekennzeichneten Milieu zeigen die Tendenz zunehmender Gewalt. 6. Zusätzliche Anstöße für Gewalt ergeben sich aus dem Wesen eines teilweise organisierten illegalen Marktes (Konkurrenz, Rivalität, Abschirmung, Selbstjustiz), aus in ihm typischen Lebensstilen sowie aus der Eskalation von Aktion und Reaktion zwischen Drogenmarkt und Drogenkontrolle.
2.4.2.4 Kriminologische Aspekte der Anwendung des Betäubungsmittelstrafrechts Unter dem Einfluss des kriminalsoziologischen Labelingansatzes befasst sich die neuere Kriminologie zunehmend auch mit Institutionen, Arbeitsweise, Entscheidungsstrategien und Sanktionsverhalten der am Strafgeschehen Beteiligten. Im Drogenbereich haben wir mehrere Studien der Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Drogenberatung gewidmet. Der Einfluss unterschiedlicher Wissensstandards, Erfahrungen, Einstellungen und Wertungen auf das Entscheidungsverhalten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten sollte untersucht werden (Stock u. Kreuzer 1996; Stock 1998). Standardisierte schriftliche Befragungen und mündliche Intensivinterviews mit jeweiligen Experten sowie Dokumentenauswertungen standen im Vordergrund. Gravierende Unterschiede sind erkennbar. Sie lassen sich vor allem zurückführen auf konträre Einschätzungen der Wirkungen und Gefährdungen von illegalen Drogen, aber auch der strafrechtlichen Intervention im Suchtbereich sowie auf regionale Traditionen. Lediglich mit zwei Beispielen seien solche Ungleichheiten im Entscheidungsverhalten angedeutet.
2.4.2.4.1 Zur Cannabisstrafverfolgung In den Befragungen wurde ein Fall mit ausführlicher Dokumentation aus einer Gerichtsakte vorgelegt. Stichwortartig ging es um einen Heranwachsenden, der aus einer Broken-home-Situation kam, zu früh selbstständig werden musste, in Alkoholprobleme und sodann in eine unglückliche Liebesaffäre während des Wehrdienstes geriet, schließlich für zwei Jahre als 19- bis 21-Jähriger Konsument von Haschisch an Wochenenden wurde. Mit 21 Jahren hörte er damit auf und stabilisierte sich in seiner Lebensführung.
2.4 Drogendelinquenz
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Nun wurde er wegen des vorangegangenen fortgesetzten Erwerbs und Besitzes von Haschisch zum eigenen Verbrauch strafverfolgt. Zwischen 1984 und 2001 wurden Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter in der Deutschen Richterakademie bei Fortbildungsveranstaltungen um Entscheidungsvorschläge schriftlich und anonym befragt. 1990 folgte eine schriftliche Befragung bei 321 Strafrichtern und Staatsanwälten in mehreren Bundesländern. Tabelle 2.4.9 fasst die Ergebnisse zusammen. Am einen Pol der konträren Entscheidungsvorschläge stehen Verfahrenseinstellungen ohne alles, gefolgt von etwa gleich vielen, die das Verfahren gegen Auflagen einstellen wollen. Das ist insgesamt über die Hälfte. Am anderen Pol finden sich wenige Prozent, die Freiheits- oder Jugendstrafen bis zu zwölf Monaten mit Bewährungsaussetzung fordern. Dazwischen liegen diverse Vorschläge zu milderen Verurteilungen, zumeist mit Geldsanktionen verknüpft. Diese Wertungsunsicherheit und Ungleichbehandlung veranlasst zu folgenden kriminalpolitischen Anmerkungen: Die Bestrafung von Besitz und Erwerb illegaler Drogen zum Eigenverbrauch ist wegen der grundsätzlichen Straflosigkeit eigenschädigenden Verhaltens und der Gefahr kriminalisierender Wirkung bekanntlich fragwürdig. Erst recht gilt das für eine nach ihren Risiken weniger gefährliche Droge wie Cannabis. Das Argument, es sei eine exotische Droge, die unvorbereitete junge Menschen besonders schädige, wird zunehmend brüchig: Ein erheblicher Teil der jüngeren Bevölkerung hat heute bereits Erfahrung mit dieser durchaus nicht zu verharmlosenden, aber im Vergleich zu vielen legalen Suchtmitteln und dem in der Regel vorangehenden Alkholmissbrauch auch nicht zu dramatisierenden Droge. Die weitere Argumentation, nur über die Verfolgung des Kleinkonsumenten gelange man an Dealer und Händler, eine Strafloslassung der Konsumenten verleite zum verfolgungsfreien abgeschirmten Ameisenhandel, außerdem ließen sich in der Regel nur Besitz, nicht Handelsabsicht nachweisen, überzeugt kaum: Kriminalistische Vorteile können nicht tragender Grund einer Strafbewehrung sein; ferner geben Kleinkonsumenten Hintermänner in aller Regel gerade nicht preis; auch legt man in den großen Zentren der Drogenszene seitens der Polizei angesichts kapazitärer Engpässe und entsprechender Wertung gerade kein Gewicht auf bloße Konsumentenverfolgung; schließlich ließe eine Abstufung des Cannabisbesitzes etwa zu einer Ordnungswidrigkeit – falls keine Indizien für Kleinhandel vorliegen – Kontrolle und Verfolgung durchaus zu. Im Sinne dieser gewachsenen Unsicherheit und Neubewertung von Cannabis hat das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 09. 03. 1994, BVerfGE 90, 145 ff.) zwar die Verfassungsmäßigkeit der Strafandrohungen für Cannabisumgang von Kleinkonsumenten festgestellt. Aber es verpflichtet zu verfassungskonformer restriktiver Auslegung. Das soll in der Weise geschehen, dass bei bloßen dem eigenen Konsum vorausgehenden Handlungen, die keine Fremdgefährdung enthalten, die vorhandenen Vorschriften zur Verfahrenseinstellung bundeseinheitlich im Regelfall anzuwenden sind. In solchen Fällen zu bestrafen, verstoße gegen das verfassungsrechtliche Ver-
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Tabelle 2.4.9. Entscheidungsvorschläge im Fall eines Haschischkonsumenten a. Befragungen bei Veranstaltungen über Jugendkriminalität der Deutschen Richterakademie 1984–1994, 2000 und 2001, ferner 1990 bei Strafrichtern/Staatsanwälten in Btm-Sachen in vier Bundesländern (Hessen, NRW, Baden-Württemberg, Berlin) (Kreuzer, teils unveröffentlicht, teils bei Stock u. Kreuzer 1996) Befragung in vier Bundesländern (Strafrichter/ Staatsanwälte, N = 321)
1984–1994
2000–2001
222 3
64 –
146 z ausdrückliche Stellungnahme zur Anwendung von Jugendstrafrecht § 105 JGG 54 z nein, weil schon selbstständig
44
Antwortblätter Ohne Angabe 72,5%
27,5%
29,4% 27,1%
Befragungen Deutsche Richterakademie Jugendrichter/Jugendstaatsanwälte
N= N=
z ausdrückliche Empfehlung zur Verfahrenseinstellung (§§ 45, 47 JGG, 153, 153 a StPO) z ohne Auflagen 61 z mit Auflagen 85
43,5% Verurteilung z Verwarnung z Verwarnung mit Strafvorbehalt z Verwarnung mit Geldauflage z Geldbuße z Strafbefehl z Absehen von Strafe z Betreuungsweisung z Arbeitsauflage z Schuldspruch § 27 JGG z Geldstrafe z Jugendarrest davon 2,3% z Jugendstrafe Jugendstrafe/ mit Bewährung z Freiheitsstrafe Freiheitsstrafe mit Bewährung mit Bewährung (∅ 7 Monate) a
17
16 30
1 5
3 –
22
–
30 1 4 4 5 7 8 3 6
25 – 2 – – 1 3 1 1
5
–
Haschischkonsum eines Heranwachsenden im Alter zwischen 19 und 21 Jahren. Gestörte Kindheit, „broken home“; Stiefvater wollte ihn loswerden; notgedrungen alleinlebend als 17-Jähriger; Lehre durchlaufen; Alkoholprobleme während der Bundeswehr; gescheiterte Liebe; Versuch, durch Haschischkonsum Alkoholprobleme zu überwinden; zweijähriger Haschischkonsum an Wochenenden; mit 21 Jahren aufgehört und beruflich integriert; will sich beruflich fortbilden und seine Freundin heiraten; nicht vorbestraft; Strafverfolgung wegen Haschischerwerbs zum eigenen Verbrauch
2.4 Drogendelinquenz
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bot übermäßiger Eingriffe. Dies läuft auf eine verfahrensrechtliche Entkriminalisierung von Besitz und Erwerb kleiner Mengen Cannabis zum eigenen Verbrauch hinaus. Es bedeutet nach deutschen Rechtsgrundsätzen eine obligatorische Verfahrenseinstellung auf der Verfolgungsstufe der Staatsanwaltschaft, wenn nicht erschwerende Umstände (z. B. Haschischbesitz eines Lehrers im Kreise von Schülern) vorliegen. Es ist zugleich ein erster Schritt, die strafrechtliche Drogenprohibition neu zu überdenken und zu mäßigen. Notwendig erscheint zumindest eine strafgesetzliche Frontbegradigung. Erwerb und Besitz kleiner Mengen namentlich von Cannabis sollten wenigstens nicht mehr mit Freiheitsstrafe geahndet werden können. So geschieht es auch überwiegend nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die Rechtsanwendung ist aber immer noch ungleich in den einzelnen Bundesländern. Dies zeigen auch die Ergebnisse der Befragungen in der Deutschen Richterakademie (Tabelle 2.4.9). Zwar sind strafjustizielle Reaktionen überwiegend maßvoll, durchaus aber nicht immer und überall. Ist die Strafbarkeit an sich schon problematisch, so wird sie zum Ärgernis angesichts erheblicher tatsächlicher Rechtsungleichheit. Es erscheint nicht hinnehmbar, wenn bei uns junge Menschen, denen einzig Haschischkonsum vorgeworfen wird, gelegentlich sogar in den Strafvollzug gelangen, zumindest mangels gesetzlich verbindlicher Differenzierung außerordentlich ungleiche Sanktionen erhalten. Noch gravierender wirken sich Ungleichheiten und Übermaße in der Ahndung von Cannabisvorfällen bei Strafgefangenen aus. Haschisch spielt in Haftanstalten schon deswegen eine größere Rolle, weil es sich leicht einschmuggeln lässt, weil die meisten Gefangenen bereits Erfahrung damit hatten oder hier erlangen, weil es eher „Ruhe“ gewährleistet im Gegensatz zum gelegentlich eingeschmuggelten oder hergestellten Alkohol, weil die Haftatmosphäre mit Passivität, Verwaltetsein, Langeweile und Subkultur traditionell zu künstlichen Mitteln der Alltagsflucht drängt und weil alle anderen Möglichkeiten der Abwechslung – unter anderem Sexualität, Alkohol – ebenfalls verboten sind. Reaktionen sind oft übertrieben: generelle kostspielige, personalintensive Urinkontrollen bei Aus- und Eingängen der Gefangenen, Unterbindung aller Lockerungen und Strafrestaussetzungen bei Positivbefunden, neue Strafverfahren mit teils rigiden Freiheitsstrafen. Bloße Ordnungswidrigkeiten ließen derartige unverhältnismäßige Konsequenzen nicht mehr zu.
2.4.2.4.2 Zur Verfolgung von Drogenabhängigen In Polizeibefragungen ging es um „harte Drogen“ und i.v. Drogenabhängige. Befragt wurden 465 Rauschgiftfahnder der Polizei 1992 in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Im Beispielfall sollten sie angeben, was sie üblicherweise unternehmen, wenn sie einen i.v. Drogenabhängigen mit Einwegspritze, aber ohne Drogen treffen. Abbildung 2.4.3 zeigt die Ergebnisse der schriftlichen Befragung. Es wird das bei uns allseits bekannte Nord-Süd-Gefälle erkennbar. Bayerische Be-
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Angaben, gerundet (%)
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68
61
61
60
(N = 114)
Bayern Baden-Württemberg Hessen Nordrhein-Westfalen
68 63
50 40
47 39 34
38
35
36
33
33
30
30 17 19
17 19
20
9
10 1
0 Strafanzeige
5
22
3
2
SicherDurchDurchstellung suchung ohne suchung Einweg- richterlichen anregen spritze Beschluss
15
Spritze abnehmen
6
3 4
4
8
8 2
Benach- Information keine Maßrichtigung des Gesund- nahmen der Drogen- heitsamtes beratungsstelle
Abb. 2.4.3. Maßnahmen beim Aufgriff eines intravenös Drogenabhängigen mit Einwegspritze. Befragung bei 465 Polizeibeamten in der Btm-Arbeit in vier Bundesländern 1992 (Stock u. Kreuzer 1996)
amte reagieren am strengsten: mehr Strafanzeigen, Sicherstellungen der Spritze, Wohnungsdurchsuchung ohne richterlichen Beschluss, Information des Gesundheitsamts; keinerlei oder aber nachsichtigere Maßnahmen dagegen im Norden. Dahinter verbergen sich natürlich ganz unterschiedliche Einschätzungen des strafrechtlichen Ansatzes, solche Probleme zu lösen. Trotz überall gleichermaßen geltenden Strafverfolgungszwangs wird dieser doch regional und von Beamten zu Beamten ungleich umgesetzt. Ergänzende mündliche Interviews unterstreichen solch unterschiedliche Bewertungen. Einige beriefen sich auf ihre Verfolgungspflicht nach dem Legalitätsprinzip; andere äußerten: „Ich finde keine Spritze“; „Wir gucken bei den Fixern erst gar nicht nach, wenn wir einen antreffen“, meinten also, aus Kapazitäts- und Fürsorgegründen oder wegen offensichtlicher Nutzlosigkeit nicht einschreiten zu sollen. Die einen nehmen wenigstens die Spritze ab, als Beweismittel oder um eine deutliche Reaktion und eine Negativbewertung zu demonstrieren oder eine weitere Drogeneinnahme zu verhindern, die anderen lehnen es ab, schon um Spritzentausch und HIVÜbertragung vorzubeugen. Das Handlungsrepertoire reicht vom schlichten „Übersehen“, also faktischer Entkriminalisierung bis zur vorläufigen Festnahme mit dem Ziel strafgerichtlicher Sanktionen. Der gleiche Beispielfall wurde inzwischen auch in Befragungen der Deutschen Richterakademie einbezogen. Es zeigte sich eine gleiche unsichere Einschätzung der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung mit entsprechend unterschiedlichem Entscheidungsverhalten. Diese Meinungs- und Entscheidungsdiskrepanzen dürften in der Anwendung des BtMG weitaus größer sein als in anderen Strafrechtsbereichen.
2.4 Drogendelinquenz
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2.4.2.5 Kriminologische Aspekte der Begutachtung Drogenabhängiger In vielfältiger Weise sind forensisch-psychiatrische oder suchttherapiespezifische Begutachtungen Drogenabhängiger in Strafverfahren möglich und oft unabdingbar: schon bei der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, dann im Hauptverfahren zur gerichtlichen Urteilsfindung, schließlich im Vollstreckungsverfahren der Staatsanwaltschaft und bei Strafrestaussetzungen durch Vollstreckungsgerichte. Es geht vor allem um Fragen der Schuldfähigkeit, des Zusammenhangs von Taten mit einer Sucht und Suchtmitteln, der Prognose und Therapiemöglichkeiten für die Anordnung von Unterbringungsmaßregeln oder für Therapieüberleitungen bei Verfahrensund Bewährungsaussetzungen. Nur in einer Minderzahl der Fälle – regional ungleich – werden aber Gutachter tatsächlich hinzugezogen. Die Begutachtungspraxis ist gleichfalls uneinheitlich (zum Ganzen Täschner 1998). In dem Bemühen, eine Art Systematik oder Kanon der Schuldfähigkeitsbegutachtung bei Drogenabhängigen zu entwickeln (z. B. Täschner 1983; Täschner u. Wanke 1973), tauchen in der Fachliteratur und in Gutachten immer wieder kriminologisch-phänomenologisch fragwürdige Beurteilungskriterien auf. Aus der Erkenntnis, ein Mangel an objektiven Befunden erschwere die Beurteilung der Sachverständigen, versucht man, wenigstens einige objektivierbare Kriterien zu umreißen. Lediglich einige solcher Kriterien können skizziert werden.
2.4.2.5.1 Funktionale Zuordnung der Delikte Von uns (Kreuzer 1975) wurde eine funktionale Systematik der Drogendelinquenz entwickelt. Es wurden unterschieden: 1. Verschaffungsdelikte: a) Schmuggel, Handel, Markt, b) Betrugshandlungen beim illegalen Drogenverkauf, c) Verleiten anderer zum Missbrauch, d) White-collar-crimes; 2. Beschaffungsdelikte: a) unmittelbare Beschaffungsdelikte nach dem Betäubungsmittelgesetz, b) unmittelbare Beschaffungsdelikte in Form herkömmlicher Verbrechen (Apothekeneinbrüche, Rezeptdelikte, sonstige Vermögensdelikte), c) mittelbare Beschaffungsdelikte; 3. Delikte unter Drogeneinfluss: unmittelbare Folgedelinquenz; 4. Verwahrlosungsdelinquenz: mittelbare Folgedelinquenz. Diese Systematik wurde weitgehend für kriminalistische und kriminalstatistische Zwecke übernommen. Sie fand allerdings auch Eingang in einen Kriterienkatalog für Begutachtungen. Bei einem direkten Beschaffungsdelikt – Besorgen des Stoffs für den Eigenbedarf durch eine Straftat – soll ein Indiz für verminderte Schuldfähigkeit gegeben sein; ein solches Delikt könne sogar Indiz für einen Schuldausschluss sein, wenn etwa durch einen unmittelbaren Zugriff in einer Apotheke Stoff beschafft und gleich darauf konsumiert werde; ein indirektes Beschaffungsdelikt oder z. B. auch eine Körperverletzung legten eher nahe, dass kein erkennbarer Zusammenhang
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zwischen Sucht und Delikt bestehe, dass es sich vielmehr um eine suchtunabhängige delinquente Lebenshaltung handele. Doch kommt einer solchen Systematik kein empirischer Erkenntniswert zu. Schwächen liegen schon darin, dass sich einzelne Kategorien überschneiden. Beispielsweise ist es einem Drogenabhängigen, der bei einem Bekannten stiehlt, ziemlich gleichgültig, ob er Drogen oder Geld findet, ob er gefundene Drogen selbst verbraucht, tauscht oder weiterverkauft, ob er gefundenes Geld zum Drogenkauf oder für allgemeinen Lebensbedarf verwendet, sodass Elemente unmittelbarer und mittelbarer Beschaffungsdelinquenz ebenso wie solche mittelbarer Folgedelinquenz gleichermaßen – empirisch nicht trennbar – gegeben sind. Es gibt Delikte, die kaum einer dieser Kategorien zuzuordnen sind wie Raub, Aggressionen (etwa Schlägereien), Erpressungen, Verführen anderer, Hilfen beim Injizieren usw. Das heißt: Die aufgeführten Kategorien decken nicht – wie es einem System entspräche – widerspruchsfrei und vollständig das gesamte Spektrum möglicher Erscheinungsformen ab. Vor allem zwingt der Systematisierungsversuch dazu, alle Erscheinungsformen von vornherein in einen implizite unterstellten bestimmten Zusammenhang mit Drogenumgang zu bringen. Gerade die Frage möglicher Zusammenhänge ist jedoch selten befriedigend zu klären. Eine dennoch vorgenommene Einordnung konkreter delinquenter Erscheinungsformen nach der dargestellten Kategorisierung wäre daher irreführend. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob eine Systematik möglich ist angesichts der fließenden Übergänge von drogenspezifischer Delinquenz zur allgemeinen Delinquenz. Verkannt werden zudem die Fluktuation sowie die Markt- und Subkulturabhängigkeit solcher Delikte. Je nach Bezugsgruppe, Marktsituation, Kontrolleinfluss und persönlichen Bedingungen wechseln die Delikttypen und Deliktintensitäten. Es gibt eine Art Konjunktur der Deliktmuster in der Entwicklung der gesamten Drogenszene ebenso wie in der Entwicklung des einzelnen Drogenabhängigen. Dabei kumulieren oder alternieren Muster der direkten und indirekten Beschaffung. Waren früher etwa Apothekeneinbrüche ergiebiger und kaprizierten sich einige Altfixer auf diese, so sind es heute mehr Einbrüche in Kraftfahrzeuge und Wohnungen sowie Kreditkartenbetrüge. Nur ganz selten ist vom einzelnen Delikt her – schon gar nicht vom Delikttyp – auf eine gezielte, ausschließliche Drogenbeschaffung für den Eigenbedarf zu schließen. Die geschilderte facettenreiche Delinquenz dient der gesamten Lebensführung, die bei dem Drogenabhängigen weitgehend subkulturell geprägt ist, nicht lediglich der Drogenbedarfsdeckung. So wurden früher üblicherweise gerade Apothekeneinbrüche besser vorbereitet, jedenfalls derart, dass sich der Täter bei der Begehung nicht im Entzugssyndrom befindet; die Beute des Apothekeneinbruchs wurde großenteils verkauft, für den Erlös wurden Stoffe der Wahl im Markt besorgt. Schließlich ist zu verweisen auf die dargestellte Prägung der „Beschaffungsdelikte“ durch delinquente und subkulturelle Vorerfahrungen Drogenabhängiger. Es ist also weniger die Sucht selbst, die Art und Ausmaß der
2.4 Drogendelinquenz
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Delinquenz bestimmt, vielmehr ist es der subkulturell geprägte Lebensstil des Drogenabhängigen.
2.4.2.5.2 Umfang der Delikte Als weiteres Kriterium wird die Beutehöhe beziehungsweise der Umfang des jeweiligen Beschaffungsdelikts für die Begutachtung vorgeschlagen. Je größer etwa die Drogen- oder Geldmenge eines Dealgeschäfts, um so eher sei mit einem vom Beschaffungsdruck, der aus der Sucht folge, unabhängigen Verhalten zu rechnen. Auch dieses Kriterium, das man nicht eben selten zugleich in strafzumessungsrelevanten richterlichen Äußerungen findet, erweist sich nach empirischen Befunden als brüchig: Das Handels- und Verteilsystem wandelt sich stetig und stützt sich weitgehend auf das Mitwirken von vor allem jüngeren Drogenkonsumenten und Drogenabhängigen. Innerhalb ihrer Drogenkarriere gelingt es vielen Abhängigen, gelegentlich auch größere Geschäfte zu tätigen, in Rollen größerer Dealer vorzustoßen. Nur ist es ein stetes, unberechenbares Auf und Ab. Zeitweilig kann ein Drogenabhängiger den aufwändigen Lebensstil eines größeren Dealers pflegen, dann kann er wieder abrutschen auf das Niveau der „ausgebrannten sozialen Existenz“. Selten gelingt es Drogenabhängigen, längere Zeit einträglichere Dealerrollen innezuhaben. Meist sind einträgliche Geschäfte episodenhaft. Gerade in fortgeschrittenen Phasen der Drogenabhängigkeit mit häufigen deprimierenden Erfahrungen unfreiwilligen Entzugs werden viele Drogenabhängige geizig und entwickeln eine Art Vorratshaltung, wenn dazu Gelegenheit besteht. Im Übrigen ist der Umfang eines Geschäfts weitgehend abhängig von Zufälligkeiten und konkreten Situationen. Ferner bestehen Fehlvorstellungen über eine Gleichförmigkeit des Drogen- und Geldbedarfs sowie entsprechender Beschaffungsdelinquenz Drogenabhängiger. Man findet selten auschließliche Heroinisten mit gleichbleibendem Bedarf. Mischkonsum und völlig schwankende Bedarfsmengen herrschen vor. Der Bedarf richtet sich vornehmlich nach der jeweiligen Verfügbarkeit an Stoff und Geld, nicht umgekehrt.
2.4.2.5.3 Tatabfolge und Tatplanung Zumindest in älterer Begutachtungs- und Rechtsprechungspraxis spielten zwei weitere objektivierbare Kriterien eine Rolle: die Schnelligkeit der Abfolge von Straftaten und Planungsmomente bei der Tat. Je schneller Taten aufeinander folgten, um so eher sollte auf verminderte Schuldfähigkeit infolge Beschaffungsdrucks geschlossen werden können. Diese Sicht verbietet sich schon angesichts der Diskrepanz von Hell- und Dunkelfeld. Richter und Gutachter kennen nicht das individuelle Dunkelfeld, also auch nicht die Abfolge von Taten. Sichtbar Gewordenes, Verfolgtes stellt nur einen winzigen Bruchteil tatsächlicher Delinquenz dar. Es würde sich aber dem Gutachter verbieten, sozusagen als Ermittlungsgehilfe in der Exploration
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das individuelle Dunkelfeld und damit die Geschwindigkeit von Tatabfolgen zu eruieren, ganz abgesehen davon, dass er kaum eine entsprechende Aussagebereitschaft erreichen würde. Im Übrigen zeigen biografische Analysen, dass mit zunehmender Depravation Häufigkeit und Intensität der Delikte nachlassen können, in einer Phase also, die weit eher den Schluss auf verminderte Schuldfähigkeit zuließe. Mit dem Kriterium der Tatplanung liegt es ähnlich. Gerade viele so genannte direkte Beschaffungsdelikte wie Apothekeneinbrüche sind in der Regel besser geplant und organisiert. Demnach müssten sie nach diesem Kriterium eher gegen verminderte Schuldfähigkeit sprechen. Wieweit Taten Drogenabhängiger planhaft ablaufen, ist wiederum von Erfahrungen, Situationen und Kontrollgegebenheiten abhängig. Zu Recht hebt der Bundesgerichtshof (StV 1990, 303) hervor: „Vernünftige Überlegungen (hier Vorratsbeschaffung) schließen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit Heroinabhängiger nicht aus, ebenso wie aus situationsangepasstem, folgerichtigem und planvollem Handeln des Täters nicht generell auf sein uneingeschränktes Hemmungsvermögen geschlossen werden kann.“ Insgesamt darf festgehalten werden, dass der weitgehend von Illegalität geprägte Alltag Drogenabhängiger vielfältige, variierende Delinquenz mit sich bringt: Sie geschieht unabhängig davon, wieweit das konkrete Delikt direkten Bezug zu Drogenbeschaffung und Eigenkonsum hat, durchaus regelmäßig in verminderter Verantwortlichkeit. Entscheidend ist, wieweit Drogen, Drogenabhängigkeit, Erfahrungen mit Entzügen und Ängste davor sowie Integration in das Drogenmilieu das Tatgeschehen prägen. Die Anpassung an Lebensstile in der Drogenszene samt ihrer Kriminalität wird für den Drogenabhängigen so sehr alltagsbestimmend, dass Handlungsalternativen immer mehr aus seiner Realität schwinden.
2.4.2.6 Kriminologische Analyse der Drogenpolitik 2.4.2.6.1 Das „Drogenproblemproblem“ und der Strafrechtseinsatz Das Schwierigste im Verstehen des Drogenproblems ist wohl zu definieren, was dieses Problem eigentlich sei. Dazu gehören Fragen danach, warum nur im Zusammenhang mit bestimmten – illegalen – Drogen und bestimmten Personengruppen – jüngeren Drogenkonsumenten, nicht etwa „klassischen Morphinisten“ oder Medikamentabhängigen – ein Problem geortet wird, warum im Kontext gegenwärtigen Problemverständnisses das Begriffspaar „Therapie und Strafe“ vorherrscht, warum man schließlich angesichts neuartiger Symptome sozialer Schwierigkeiten mit Krankheitswert manchmal vorschnell und unreflektiert nach Beiträgen des Strafrechts zu deren Bewältigung oder sogar Bekämpfung ruft. Die mit Drogenumgang einhergehenden Gefahren sind ebenso wie die Bewertungen vielschichtig, unsicher und stetem Wandel unterworfen. Durch Drogenumgang, -missbrauch und -abhängigkeit entstehende Schwierigkeiten lassen sich als Krankheit, abweichendes Verhalten, Verbrechen
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oder Ausdruck der Selbstbestimmung verstehen. Sie lassen sich gesundheits-, sozial-, kriminalpolitisch angehen oder aber übergehen. Welchen Weg auch immer eine Drogenpolitik einschlägt, sie bleibt ambivalent, steht vor einem Dilemma, wird nie ausschließlich günstige, erwünschte Wirkungen zeitigen, vielmehr zugleich Nachteile, neue Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Ein drogenpolitisches Gesamtkonzept wird sich dieser Ambivalenz bewusst sein, sie bei jeder Entscheidung abwägen müssen. Das Drogenrecht kann keine Totallösungen durchsetzen. Es kann nicht alle Gefahren, alle oder bestimmte Suchtmittel beseitigen, nicht sinnvoll einen Krieg oder Feldzug gegen Rauschgift führen oder gar gewinnen, bestimmte Therapievorstellungen durchsetzen und andere verhindern. Es muss entsprechend der Ambivalenz dieser Problematik und der sich ständig wandelnden Erkenntnisse und Anschauungen maßvoll, differenziert und flexibel sein. Strafrecht kann nur letztes und sehr begrenzt wirksames Mittel sein. Neben dem Nutzen einer Erschwerung des Angebots gefährlicher illegaler Drogen kann es auch Schäden bewirken; so kann es Kriminalität bei prohibitionsbedingter Verknappung verschärfen; es kann illegale Märkte und Verbrechensorganisationen einschließlich der von ihnen ausgehenden Gewalt stimulieren; es kann die Nachfrage auf andere riskante Drogen und Gebräuche verlagern; es kann die nötige Vertrauenssphäre im Behandlungsbereich stören; es kann gewaltige Kosten für den Kontrollapparat verursachen und rechtsstaatliches Bewusstsein durch außerordentliche Kontrollmethoden gefährden.
2.4.2.6.2 Drogenpolitische Strategien und Modelle Seit langer Zeit wird drogenpolitisch diskutiert über die Grundstrategien einer Kriminalisierung mit Ausweitung und Verschärfung des Strafrechts für den Umgang mit als illegal eingestuften Drogen – „war on drugs“ – einerseits, einer Legalisierung – Freigabe aller oder nur „weicher“ Drogen – andererseits. Erkennt man Grenzen, Ambivalenzen und Unwägbarkeiten beider Ansätze, verwundert es nicht, dass tatsächlich überwiegend ein mittlerer Weg zwischen den extremen Strategien gesucht und Elemente beider Strategien verbunden werden. Der mittlere Weg verfolgt Ziele einer Prävention – Aufklärung, Erziehung, Beratung –, der Drogenhilfe und -therapie sowie der Repression mit strafrechtlichen Mitteln. In den letzten Jahren hat sich ein weiteres Ziel hinzugesellt: die „harm reduction“ oder Überlebenshilfe für nicht oder nicht erfolgreich behandelbare Drogenabhängige. Sie geht davon aus, dass viele Drogenabhängige bis auf weiteres trotz der Drogenprohibition Drogen nehmen werden, sich und andere damit erheblich gefährden und einen Anspruch darauf haben, trotzdem menschenwürdiger leben zu können. Sie erkennt außerdem die Grenzen und mitunter kontraproduktive Wirkungen bloß strafenden und wegschließenden Vorgehens gegenüber drogenabhängigen Straftätern (MacCoun u. Reuter 2001; O’Hare et al. 1992). Wichtige Modelle und Programme dieser „harm reduction“ seien skizziert.
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z Methadonsubstitution Methadonsubstitution ist inzwischen in Deutschland fast überall akzeptiert und praktiziert, in Süddeutschland allerdings noch sehr zögerlich. Nach der Idee werden Opiatabhängige umgestellt auf das kostenlos an sie täglich einmal ausgegebene künstliche Opiat Methadon oder Polamidon; sie erleben dann keinen Rausch und verlagern die Abhängigkeit auf eine andere Droge; sie werden aber von Entzugs- und Beschaffungsproblemen, außerdem von Gefahren unsauberer Drogen aus dem illegalen Markt befreit. Überwiegend sind Ärzteverbände und Krankenkassen in die Planung, Finanzierung und Versorgung einbezogen. Die Programme sind teilweise flächendeckend ausgeweitet worden und nicht mehr ausschließlich an öffentliche Gesundheitsdienste angebunden, sondern auch niedergelassenen Ärzten zugeordnet. Praktikabilität und Nutzen werden in Begleitforschungen fast durchweg positiv beurteilt, auch eine überwiegend rückläufige Delinquenz bei regelmäßiger Methadonbehandlung (z. B. Legge u. Bathsteen 2000; Lind et al. 2005). Gleichwohl bleiben einige Probleme, die nicht hinreichend geklärt erscheinen: theoretische Fundierung (Substitution der Prohibition? Medizinische oder soziale Indikation?), Selektions- und Alterungseffekte, mögliche Erschwernisse für spätere Drogenfreiheit, „Beikonsum“ und Konsequenzen für Regelverstöße, partielle Abzweigung von „take-home-dosages“ für den illegalen Markt, regelmäßiger Mischkonsum, womöglich Polytoxikomanie der i.v. Drogenabhängigen, Umstiege auf Kokain während der Substitution. Auch erscheint es denkbar, dass Erfolge nicht eigentlich auf Methadon, sondern vielmehr auch auf die Anbindung an soziale Dienste zurückzuführen sind (zum Ganzen Bühringer 1998). z Heroinvergabe an nicht- oder nichterfolgreich erreichte Drogenabhängige Angesichts einer schier immensen und kaum beeinflussbaren grauen Substitution mit Methadon, Kodein und vielerlei anderen Medikamenten nimmt sich die auf Heroinvergabemodelle konzentrierte politische Debatte merkwürdig einseitig und realitätsfremd aus. Diese in der Schweiz begonnenen Modelle haben dort inzwischen durch ein Plebiszit Rückendeckung und eine Variante in den Niederlanden erhalten. Sie knüpfen an das frühere freizügige Opiatverschreibungssystem Großbritanniens an. Letzteres ist allerdings inzwischen erheblich eingeschränkt worden wegen epidemischer Auswüchse durch missbräuchlichen Umgang mit Rezeptierungen. Deswegen werden in der Schweiz und in den niederländischen und deutschen Nachfolgeprojekten an Patienten keine Rezepte ausgegeben. Weiterer Anknüpfungsunkt ist die Erfahrung, dass viele Drogenabhängige Methadonsubstitution ablehnen oder durch Beikonsum verfälschen, weil sie den gesuchten Rausch nicht missen wollen. Anfänglich geäußerte grundsätzliche Bedenken sind inzwischen durch die Praxis und Begleitforschung jedenfalls teilweise entkräftet. So müssen
2.4 Drogendelinquenz
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Patienten nicht öfter als ein- bis dreimal täglich Vergabestellen aufsuchen. Andere Bedenken bleiben, stehen aber nicht prinzipiell einer kontrollierten, limitierten und wissenschaftlich sorgsam ausgewerteten versuchsweisen Übertragung auf Deutschland im Sinne des „trial and error“ entgegen. Beispielsweise sind folgende Fragen noch weiter zu klären: Wieweit wird die eigentliche Zielgruppe schwerst abhängiger, anders nicht erreichbarer Drogenabhängiger wirklich erreicht? Lassen sich zunächst positive Erfahrungen beibehalten, wenn solche Programme ausgeweitet werden? Sind sie der Methadonsubstitution überlegen? Erweist sich die in der Schweiz durch Begleitforschung gefundene beträchtliche Reduzierung der psychosozialen Misere von Abhängigen und von ihrer Kriminalität als realistisch bei methodisch verbessertem Forschungsansatz? (Zum Schweizer Modell: Uchtenhagen 2000; Uchtenhagen u. Zimmer-Höfler 1985; Westermann et al. 1999; zur externen Evaluation und Kritik: Ali et al. 1999; Kreuzer 1999, 2005; Rihs-Middel et al. 2005; zum niederländischen Modell: Central Committee of the Treatment of Heroin Addicts 2002; allgemein: Westermann et al. 1999). In Deutschland trat ein entsprechendes Modell als Arzneimittelprüfstudie nach jahrelanger Anlaufphase 2002 in die Feldphase (Krausz 2001; Verthein et al. 2007): 1120 Drogenabhängige, die bisher nicht erreicht oder nicht erfolgreich behandelt waren, erhielten in sieben Großstädten täglich Heroin oder – nach Zufall ausgelost – Methadon, jeweils eingebunden in eine von zwei Begleittherapieformen. Damit sollten die Wirksamkeit von Heroin im Vergleich zu Methadon und unterschiedliche Therapieformen in Kombination mit Heroin beziehungsweise Methadon untersucht werden. Die kriminologische Begleitforschung umfasste mehrere Wellen von standardisierten Delinquenzbefragungen bei den Probanden und zur Ergänzung, Vertiefung und Kontrolle Intensivinterviews bei einer Teilstichprobe mit Heroin Behandelter. Gesamtergebnisse wurden erst 2007 veröffentlicht (Bundesministerium für Gesundeit 2007, Bände 1–3), weil sich die Durchführung mancherorts außerordentlich verzögert hatte und das Angebot nur zögerlich in Anspruch genommen wurde, zumal es immer weniger vorrangig Heroin-Abhängige gibt. Die Begleitforschung bestätigt tendenziell eine psychisch-physische Besserung des Befindens, auch eine sozial stabilisierende und kriminalitätsmindernde Wirkung auf die dauerhaft am Programm teilnehmenden Probanden. Dabei zeigt sich bei dieser Auswahl von Behandelten die Substitution mit Heroin als derjenigen mit Methadon überlegen. Das darf freilich nicht verallgemeinert werden als generell bessere Erfolgsaussicht einer Heroinvergabe gegenüber einer Methadonsubstitution, denn in das Modellprojekt wurden überwiegend Opiatabhängige aufgenommen, die zuvor in Methadon-Programmen nicht erfolgreich behandelt werden konnten. Außerdem wird in der Heroinvergabe den Patienten in der Regel zusätzlich zur Überbrückung Methadon gegeben. Ein Vergleich mit erfolgreich Methadon-Substituierten außerhalb dieses Programms ist also nicht angestellt worden. Die in der facettenreichen Begleitforschung untersuchte Kriminalitätsminderung kann der Grundtendenz
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nach als gesichert gelten, wenngleich methodische Schwächen und Grenzen den mit Selbstbefragungsinstrumenten gemessenen erheblichen Umfang des Rückgangs als überzeichnet erscheinen lassen (ausführlich: Köllisch/ Kreuzer, in: Löbmann et al., 2007 S. 147 ff., 264 ff.). Nach Abschluss der Modellphase ist die gesetzliche Zulassung der kontrollierten und durch therapeutische Maßnahmen abgestützten Behandlung sonst nicht erfolgreich behandelbarer Opiatabhängiger mit Heroin als Möglichkeit der Regelversorgung wegen politischen Streits noch ausgeblieben. Man hat lediglich ermöglicht, die Behandlung der bereits in das Modellprojekt Aufgenommenen und in ihm Verbliebenen weiterzuführen. z Spritzenvergabe außerhalb der Haft Intravenös Drogenabhängige benutzen oft Spritzenutensilien mehrmals und gemeinsam („needle sharing“). Um die damit verbundenen Gefahren von HIV- und Hepatitisübertragung einzudämmen, wurden von Trägern der Drogenhilfe Spritzentauschprogramme eingeführt. Sie waren anfangs höchst umstritten und von strafjustiziellen Blockaden, ja Ignoranz bedroht. Sie haben sich dennoch in Deutschland rechtlich, überwiegend auch praktisch durchgesetzt. Erste vergleichende Befunde lassen auf rückläufige Infektionsraten infolge diverser Spritzenvergabemodelle schließen. Aber anhaltend spielen Detailprobleme eine Rolle: Wie lassen sich Gefährdungen, zumindest Belästigungen und Ängste in der betroffenen Bevölkerung mindern? Wie kann Spritzenentsorgung sinnvoll praktiziert werden? Gehen zusätzliche Anreizwirkungen für Drogeninteressenten von der Verfügbarkeit steriler Spritzen aus? (Zum Ganzen Bühringer 1998, S. 356 f.; Gebhardt 1998, S. 642 f.). z Spritzenvergabe in der Haft Wegen großer Infektionsgefahren gerade in Haftanstalten mit hohen Konzentrationen der Hochrisikogruppe drogenkonsumierender Inhaftierter und der Verdichtung subkultureller Lebensbedingungen stellt sich die Frage der Infektionsprävention durch staatlich geförderte Spritzenvergabe dort besonders dringlich. Etwa zehn bis 20% der zirka 80 000 Inhaftierten in deutschen Haftanstalten dürften i.v. Drogengebraucher sein; etwa die Hälfte von ihnen setzt i.v. Drogenkonsum fort; etwa 2% aller Inhaftierten und ein nicht unerheblicher Teil der inhaftierten i.v. Drogenabhängigen dürften HIV-infiziert sein. Zudem sind i.v. drogenabhängige Inhaftierte ganz überwiegend mit Hepatitis infiziert. Vor allem wegen gemeinsamen Benutzens nicht sterilen Injektionsgeräts sind HIV-Übertragungen in der Haft wahrscheinlich, aber kaum nachweisbar. Vergabe sterilen Injektionsgeräts über Spritzentauschautomaten ist in vielen Schweizer Haftanstalten seit 1994, in je zwei Modellanstalten Niedersachsens und Hamburgs seit 1996 und in Berlin seit 1998 erprobt worden. Außer in der Schweiz und in Berlin hat man die Programme inzwischen wieder eingestellt.
2.4 Drogendelinquenz
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Die Evaluation hatte ambivalente Ergebnisse erbracht: Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen nicht. Spritzenvergabe in der Haft ist verantwortbar. Ein gewisser „Verführungscharakter“ des freizügigen Angebots steriler Spritzen ist belegt; dem steht das Risiko gemeinsamen Spritzengebrauchs bei fehlender Spritzenverteilung gegenüber. Aber auch Spritzen aus Automaten werden gebraucht oder ungebraucht weitergereicht und haben einen schwankenden Wert im illegalen Markt. Notgedrungen werden Dichte und Ausgestaltung der Personen- und Zellkontrollen durch die geförderte Vergabe beeinflusst und dies schwankend zwischen nachsichtigerer oder gezielterer Kontrolle Betroffener. Bedienstete stehen der Vergabe überwiegend skeptisch gegenüber. Namentlich sehen sie sich in einem Konflikt zwischen Zielvorgaben möglichst drogenfreien Haftlebens einerseits, solcher Infektionsprophylaxe andererseits. Missbräuchliche Verwendung der Spritzen als Waffen ist nicht aufgetreten. Die Vergabe weicht ab von Bemühungen einer Risikominderung durch Verzicht auf das Injizieren zu Gunsten des Rauchens von Heroin. Technische Probleme mit und Zerstörungen von Automaten bringen zeitweilig erhöhte Risiken des „needle sharing“ mit sich. Auf jeden Fall muss die Einführung solcher Vergabe mit örtlichen Verantwortlichen und Bedingungen einzelner Anstalten abgestimmt sein, wenn sie gelingen soll. Vorerst sollte man eine Automatenvergabe (noch) nicht ausweiten, vielmehr Einzelvergabe von Spritzen durch medizinische Dienste – gegebenenfalls zum Gebrauch in einem Raum des Sanitätsdienstes – erproben; allerdings dürfte dann die Akzeptanz bei den Betroffenen wegen fehlender Anonymität deutlich sinken (zum Ganzen: Hoffmann et al. 2002; Kreuzer 1999 b; Stöver 1999). z Offene Drogenszenen und Schutzräume für intravenös Drogenabhängige In Deutschland standen sich längere Zeit zwei gegensätzliche polizeiliche Taktiken gegenüber: Drogenabhängige als solche in der Öffentlichkeit zu dulden und ihnen Hilfen anzubieten, statt sie zu verfolgen oder abzudrängen; andererseits gerade öffentliche Ansammlungen Drogenabhängiger aufzulösen wegen erheblicher Kriminalitätsverdichtung, öffentlichen Protestes und enttsprechender Reaktionen. Das Züricher Beispiel des Platzspitz, also geduldeter offener Drogenszenen, färbte auf deutsche Großstädte – Taunusanlage in Frankfurt/Main – ab. Auch die Umkehr der Taktik in Zürich – Auflösung der offenen Szenen durch Polizei – fand in Frankfurt ihre Entsprechung. Das war durchaus angemessen, zeigten sich doch zusätzliche Eskalationen in der Kriminalität dieser Drogenzentren und Anreiz- sowie Sogwirkungen für Drogeninteressierte aus dem Umland. In der Konsequenz dieser notwendigen Korrektur lag aber, dass Drogenabhängige verdrängt und in private Nischen abgedrängt wurden, ohne dort Hilfsangebote zu finden. Ebenso folgerichtig ist es daher, Schutzräume für i.v. Drogenabhängige in Zentren des Drogenumgangs zu schaffen, um Weiterungen öffentlicher Szenen zu vermeiden, andererseits vor allem auch bei ungünstiger Witterung obdachlosen Drogenabhängigen Möglichkeiten ste-
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riler Einnahme mitgebrachter Drogen, erste Hilfe bei Unfällen, allgemeine Versorgung und Kontakte zu therapeutischen Einrichtungen zu vermitteln (Kemmesies 2004 b; Schneider et al. 1997). Rechtlich und politisch kann man solche Einrichtungen als notwendige Kompensationen für unerwünschte Folgen der umfassenden strafrechtlichen Prohibition legitimieren. Der Gesetzgeber hat dem Bedarf durch eine neue, sehr detaillierte und kontrollaufwändige Regelung in § 10 a BtMG (Erlaubnis für den Betrieb von Drogenkonsumräumen) entsprochen. Doch stellen sich auch hier manche Detailprobleme; sie erscheinen eher lösbar, wenn an die Stelle oftmals polemischer politischer Verurteilung durch wenig Informierte weitab vom Problemfeld regional konkrete Diskussion der Sachverständigen aller strafjustiziellen, beratenden und therapeutischen Dienste tritt, wie das vorbildhaft in der „Frankfurter Montagsrunde“ und in der dortigen Stadtverordnetenversammlung geschieht (Homann et al. 2000; Körner 2007, S. 152 ff., 809 ff.; Renn 1999). Eine der bislang nicht befriedigend beantworteten Detailfragen ist die, ob in solchen Konsumräumen mitgebrachte Drogen der Benutzer auf deren Wunsch analysiert werden dürfen, um Risiken unbekannter Mischungen und Beimengungen zu mindern oder auch „Frühwarnsysteme“ zu fördern („drug checking“). Der Gesetzgeber lässt gegenwärtig lediglich Prüfungen über Apothekendienste zu; diese Einschränkung konterkariert Ziele der „Harm reduction“ oder Schadensminderung (dazu Körner 2007, S. 157 f., 795 ff.). Ein weiteres Problem ist die interne Kontrolle solcher Konsumräume gegenüber Möglichkeiten, sie als Orte illegaler Aktivitäten – etwa des Drogenhandels – zu missbrauchen.
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Die Delinquenz von Alkohol- und Drogenkonsumenten aus psychiatrischer Sicht M. Heilmann, N. Scherbaum
2.4.3.1 Einige statistische Angaben zur Delinquenz von Suchtmittelkonsumenten Die Verquickung von Delinquenz und Substanzabhängigkeit ist eine allgemein wahrgenommene Tatsache, deren Ausmaß jedoch schwer zu quantifizieren ist. Wie bei allen Delikten existiert auch hier neben dem Hellfeld bekannt gewordener Straftaten ein wohl immenses Dunkelfeld. Von insgesamt 6 633 156 im Jahre 2004 erfassten Straftaten in der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskriminalamt 2005, S. 23) entfielen 283 708 auf Rauschgiftdelikte (ebd. 2005, S. 223). Zum Zwecke der Übersichtgewinnung sind die Straftaten von Drogenkonsumenten pragmatisch differenzierbar in Beschaffungs- sowie in Handels- und Konsumentendelikte. Darüber hinaus können Alkohol- und Drogenabhängige natürlich alle denkbaren Delikte – sowohl ohne als auch im Zusammenhang mit ihrer Substanzabhängigkeit – begehen. Die Handels- und Konsumentendelikte werden juristisch dem Nebenstrafrecht und zwar dem Betäubungsmittelgesetz zugeordnet. Die Drogenhandelsdelikte betreffen den illegalen Handel, den Schmuggel und die illegale Einfuhr von Drogen und sind Verstöße gegen die §§ 29, 29 a, 30, 30 a BtmG. Die Anzahl der Drogenhandelsdelikte wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2004 mit 75 347 erfassten Delikten angegeben (ebd., S. 223). Sie spielen sich auf den Handelsebenen des Straßenhandels (durch so genannte „Drogendealer“) und der organisierten Kriminalität (durch so genannte „Gelddealer“) ab. Unter Konsumentendelikten werden allgemeine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (Besitz, Erwerb, Abgabe) zusammengefasst, die nach § 29 BtmG geahndet und für das Jahr 2004 mit 200 378 erfassten Delikten in Deutschland beziffert werden (ebd., S. 223). Die Beschaffungsdelikte lassen sich in direkte und indirekte unterteilen. Direkte Beschaffungsdelikte sind Rezeptfälschung, Rezeptdiebstahl und Diebstahl von Betäubungsmitteln aus Apotheken. Die Anzahl der direkten Beschaffungsdelikte lag 2004 bei 2206 erfassten Fällen (ebd., S. 223). Aus indirekten Beschaffungsdelikten wie Diebstahl von Konsumgütern resultieren finanzielle Mittel für den Drogenerwerb. Die Beschaffungs-, Handels- und Konsumentendelikte und die drogenbezogenen Straftaten der allgemeinen Kriminalität berühren das Nebenstrafrecht (Waffengesetz, BtmG) und das Strafrecht, weisen also eine hohe Deliktbreite auf. Auch können diese Straftaten zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Darüber hinaus vorkommende Delikte unter Einfluss einer oder mehrerer psychotroper Substanzen sind die Ordnungswidrigkeiten beziehungs-
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weise Straftaten beim Führen eines Kraftfahrzeuges. Für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wird im Jahre 2003 die Anzahl der Deliktmitteilungen von Ordnungswidrigkeiten beim Führen eines Kraftfahrzeuges unter Suchtmitteleinfluss mit 89 000, die von Straftaten beim Führen eines Kraftfahrzeuges unter Suchtmitteleinfluss mit 134 000 angegeben (Kraftfahrtbundesamt 2005, S. 16).
2.4.3.2 Jurisprudenz und Suchthilfesystem Der Umgang der Jurisprudenz als normative Wissenschaft mit dem Thema Suchtmittel und Delinquenz findet auf zwei Betrachtungsebenen statt: 1. auf der Betrachtungsebene des Drogenumlaufes (wie Anbau, Verkauf, Erwerb, Besitz), also der Drogenkriminalität im engeren Sinne (Foerster 2004 S. 211 f.): Die juristischen Konsequenzen dieser Straftaten werden durch das Strafrecht und das Nebenstrafrecht (und zwar das Betäubungsmittelgesetz) geregelt; 2. auf der Betrachtungsebene der Verquickung von Drogen und Delinquenz im Sinne von „drogenbezogenen Straftaten“ nach Foerster (ebd., S. 211 f.): Es handelt sich hierbei um Delikte der allgemeinen Kriminalität, bei denen ein Zusammenhang zwischen Straftat und Drogenabhängigkeit vorliegt. So ist beispielsweise ein Drogen- aber auch ein Alkoholabhängiger zu allen anderen Straftaten wie Totschlag, Mord, Verstößen gegen das Waffengesetz oder die sexuelle Selbstbestimmung etc. fähig. Die Notwendigkeit der Erweiterung des Begriffes der drogenbezogenen Straftaten unter Berücksichtigung der Alkoholabhängigkeit zum Begriff der suchtmittelbezogenen Straftaten drängt sich an dieser Stelle geradezu auf. Bei der suchtmittelbezogenen Kriminalität liegen die forensisch-psychiatrischen Aufgabenschwerpunkte auf der Begutachtung der Schuldfähigkeit, der Stellungnahme zur Erfolgsaussicht einer Maßregel gemäß § 64 StGB, ggf. der Prognosebegutachtung und der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher. Vom Standpunkt des Suchthilfesystems betrachtet, betrifft die Suchtmittelabhängigkeit die biopsychosoziale Einheit Mensch in einem kaum bei anderen Erkrankungen wiederzufindenen Ausmaß. Der einzelne Konsument kann an den sozialen (wie z. B. Schulden, Prostitution), den psychischen (wie Abhängigkeit, Psychosen) und somatischen (Hepatitis C, HIV-Infektion etc.) Folgen seines Konsumes leiden. Im Rahmen der notwendigen interdisziplinären Diskussion wurde in den letzten beiden Jahrzehnten die restriktive gesellschaftliche und juristische durch eine tolerantere, mehr therapeutische Sichtweise der Drogenproblematik modifiziert, um realistische gesellschafts- und gesundheitspolitische Ziele in der Drogenpolitik erreichen zu können. Es zeigte sich, dass eine akzeptierende Arbeit in der Suchthilfe am ehesten Berührungspunkte der Patienten mit dem Hilfesystem schafft und sich so Teilziele verwirklichen lassen („harm reduction“, funktionierende Bewährungshilfe).
2.4 Drogendelinquenz
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Vor diesem Hintergrund müssen die zum Teil neu geschaffenen juristischen Voraussetzungen einer annehmenden Arbeit in der Suchthilfe in Deutschland gesehen werden. Hier sind die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als bereits etablierte Behandlungsform, die Einrichtung von so genannten Drogenkonsumräumen („Druckräumen“) gemäß § 10 a BtmG und die ärztlich überwachte Abgabe von Heroin in einem vom Bundesgesundheitsministerium finanzierten Forschungsprojekt als neuere Maßnahmen zu nennen. Für die Zukunft ist abzusehen, dass die gesetzlichen Vorgaben bei dem Umgang mit dem Thema Suchtmittel und Delinquenz den aktuellen Entwicklungen folgend dynamisch erneuert, angepasst oder neu interpretiert werden müssen. Dabei wird aber bei der forensisch-psychiatrischen Suchthilfearbeit der politische Zeitgeist alternierend durch eine mehr therapeutische oder mehr restriktive Grundhaltung der Legislative mit einfließen. Zur Zeit ist in Deutschland in der forensischen Psychiatrie „eine deutliche Dominanz des Sicherheitsgedankens gegenüber dem Resozialisierungskonzept“ (Kröber 2005, S. 1376) zu erkennen. In diesem Spannungsfeld zwischen politischen Vorgaben der Legislative, der Jurisprudenz und dem Suchthilfesystem bewegt sich der forensische Psychiater mit seinen komplexen gutachterlichen, therapeutischen und wissenschaftlichen Aufgaben. Er befindet sich in dem Dilemma, einerseits allgemeingültige wissenschaftliche Aussagen über ein heterogenes Klientel zu treffen, andererseits höchst individuelle Schicksale zu begutachten und obendrein noch beide Aspekte z. B. bei der Prognosebegutachtung in Beziehung zu setzen. Zudem ist die Etablierung und Aufrechterhaltung einer therapeutischen Beziehung in der Behandlung gemäß §§ 35 BtmG oder 64 StGB recht diffizil. Zum einen gilt es, das Vertrauen des Patienten zu gewinnen und mit ihm ein tragfähiges Arbeitsbündnis aufzubauen und zu halten, zum anderen werden die Behandlungsergebnisse in für den Patienten unter Umständen konsequenzenreichen Reporten an die zuständigen Staatsanwaltschaften bzw. Strafvollstreckungskammern übermittelt und gedeutet.
2.4.3.3 Die Entstehung von stoffgebundenen Abhängigkeiten und Delinquenz Der (forensische) Psychiater ist bei der Beschäftigung mit Krankheitsbildern und Verhaltensweisen um Erklärung der Entstehungsbedingungen bemüht. Delinquenz ist in einer Gesellschaft ein statistisch zu erwartendes Phänomen und nicht an sich bereits Ausdruck einer psychischen Erkrankung (Rasch u. Konrad 2004, S. 143). Vor einer Pathologisierung von Delinquenz ist eindringlich zu warnen (Orlob 2000, S. 182). Gleichwohl gilt es aber anzuerkennen, dass auch Delinquenz mit psychisch auffälligem Verhalten einhergehen kann. Jegliches Verhalten entsteht aus der Interaktion von Individuum und Umwelt, sodass Delinquenz und Sucht soziale Phänomene darstellen. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Theorien zur Krimina-
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litätsentwicklung wider. Man unterscheidet Makro-, Meso- und Mikrotheorien, die die Entwicklung der Kriminalität von der gesellschaftlichen Ebene auf das Individuum herunterbrechen. So bilden Makrotheorien sozialstrukturelle Faktoren, Mesotheorien Gruppenaspekte und Mikrotheorien unter anderem auch täterindividuelle Faktoren ab (Schneider 1997, S. 306). Darüber hinaus existieren zwischen den verschiedenen und sich wohl ergänzenden Theorien zur Delinquenzentstehung und den Theorien zur Suchtentwicklung auch Überschneidungen. Dieser Sachverhalt wird in Tabelle 2.4.10 und in Abb. 2.4.4 verdeutlicht. Viele Autoren vermuten, dass Sucht und Delinquenz ähnliche Ursachen haben und Ausdruck eines an sich devianten Lebensstiles sind. Es scheint so, als ob der Faktor der Persönlichkeit ein Bindeglied zwischen Entstehung von Delinquenz und Suchtmittelabhängigkeit sein könnte (Rasch u. Konrad 2004, S. 148). So gelten bestimmte Persönlichkeitsdimensionen als für die Begehung von Straftaten relevant. Dies sind: Unreife, emotionale Labilität, Extraversion, Aggressivität und geringe Frustrationstoleranz (ebd., S. 148). Diese Persönlichkeitsdimensionen sind aber auch bei der Entstehung einer Sucht von Relevanz. Auffällige Persönlichkeitszüge werden auch von den aktuellen Theorien zur Entstehung einer stoffgebundenen Abhängigkeit aufgegriffen. Diese Theorien fokussieren auf ein komplexes Geschehen im Spannungsfeld zwischen Individuum, Umwelt und Droge. Das Individuum weist hierzu bestimmte Merkmale wie verringerte Frustrationstoleranz, Selbstunsicherheit, Persönlichkeitsstörungen (wie die „antisoziale Persönlichkeitsstörung“) oder gar eine psychiatrische Erkrankung im engeren Sinne auf. Das soziale Umfeld zeigt diverse Auffälligkeiten wie eine zerrüttete Familienstruktur Tabelle 2.4.10. Überschneidungen von theoretischen Konstrukten zur Kriminalitäts- (Schneider 1997, S. 306–318) und Suchtentstehung Kriminalitätstheorie
Kriminelle Phänomene darin
Überschneidung zur Suchtentstehung
z Theorie der sozialen Desorganisation
Anonymität, fehlende informelle Kontrolle, „Gangbildung“, Zerfall von Sozialstrukturen, soziale Segregation
„Peergroups“ soziale Segregation
z kognitiv-soziale Lerntheorie
„Nervenkitzel“ Lernen am kriminellen Erfolg („Bekräftigungslernen“), Lernen sozial-konformen Verhaltens misslingt
„sensation seeking“ verminderte Frustrationstoleranz, nicht aufschiebbare Bedürfnisbefriedigung, Aktivierung des Belohnungssystems
z Lebenslauftheorie
Schwächung der sozialen Bindungen zur konventionellen Gesellschaft
„broken home“ Idenfikation in (devianter) „Peergroup“
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soziale Randständigkeit
schwieriges Temperament
verminderte Konditionierbarkeit
fehlerhafte Informationsverarbeitung
schwierig zu Hause
schwierig in der Schule
schlechte Schulleistung
Ablehnung in der Schule
sitzen bleiben
Schule schwänzen
schlechte Ausbildung
keine Bindung an Schule
keine Perspektiven; keine Bindung an Gesellschaft
frustrierte Eltern
vorbelastetes familiäres Umfeld
inkonsistent punitive Erziehung: aufsässige Reaktionen Ablehnung emotionale des Kindes Deprivation keine Bindung an Eltern geringes Selbstwertgefühl
z
kein Internalisieren von Normen nichts zu verlieren haben Suche nach positiver Identität
ungünstige Peerkontakte
Erste delinquente Handlungen Bestrafung; einsetzende Labeling Prozesse
Abb. 2.4.4. Die Entstehung eines delinquenten Lebensstiles nach Rasch u. Konrad (2004, S. 151)
(„broken home“), negative Identifikationspersonen („trinkende“ Eltern) und defizitäre Sozialisationsstrukturen mit eigenen (devianten) Wertvorstellungen („Gangs“, Peergroups). Über das verfügbare Suchtmittel wird die gewünschte Wirkung wie etwa Angstlösung, Entspannung oder Selbstsicherheit erreicht. In der Gruppe werden die Suchtmittel genossen, schaffen Vertrautheit und festigen Gruppengemeinsamkeiten mit der Konsequenz der Entstehung einer Subkultur. Aus diesen nur zum Teil belegten Theorien einer devianten Sozialisation mit auffälligen Persönlichkeitszügen oder gar Persönlichkeitsstörungen fällt die Delinquenz psychisch Kranker (z. B. akut Schizophrener) heraus, bei denen eine etwaige Intoxikation nur einen konstellativen Faktor der Tat darstellt. Die eine, das Phänomen Suchtmittelabhängigkeit und Delinquenz erklärende Theorie ist also nicht bekannt.
2.4.3.4
Die Suchtmittelwirkung
2.4.3.4.1 Allgemeine suchtmedizinische Bemerkungen Der forensisch-psychiatrische Gutachter muss bei der Beurteilung von Straftaten durch Suchtmittelkonsumenten das Gericht mit seiner Sachkunde beraten. Eine Voraussetzung hierfür sind detaillierte Kenntnisse über
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die Wirkung von Suchtmitteln zur Einordnung des Verhaltens des Angeklagten bei Begehung der Anlasstat. Neben fundierten theoretischen Kenntnissen sollten auch praktische Erfahrungen in der Suchtmedizin bestehen. Der regelmäßige Konsum von Suchtmitteln führt zur Abhängigkeit, die sich als psychische und körperliche Abhängigkeit manifestieren kann. Die physische Abhängigkeit ist durch körperliche Entzugssymptome und Toleranzentwicklung charakterisiert. Bei Vorliegen einer Abhängigkeit kann durch Beendigung der Zufuhr eines Suchtmittels ein Entzugssyndrom auftreten, das mit vegetativen, somatischen und produktiv-psychotischen Symptomen einhergehen kann. Entzugssyndrome bzw. Entzugsdelirien können z. B. durch Sturzfolgen im Rahmen epileptischer Anfälle oder durch die kardiale Belastung tödlich verlaufen. Eine Toleranzentwicklung bedeutet eine Zufuhr von immer höheren Mengen des Suchtmittels zu Erzielung einer gewünschten Suchtmittelwirkung (Dilling et al. 2000, S. 92 f.). Bei fortschreitender Abhängigkeit kann die Suchtmitteltoleranz aber auch durch Suchtfolgeschäden, sei es nun durch hepatische und/oder zerebrale, absinken (z. B. beim Alkohol). Eine psychische Abhängigkeit ist durch ein erhebliches Suchtverlangen („Craving“), verminderte Kontrollfähigkeit beim Substanzkonsum sowie fortgesetztem Konsum trotz Wissens um die psychische und somatische Schädlichkeit der zugeführten Substanz gekennzeichnet (ebd., S. 92 f.). Eine langjährige Abhängigkeit kann auch zu einer Depravation, also Entdifferenzierung der Persönlichkeit führen. Abhängigkeit ist nach der ICD-10 auch durch ihre sozialen Auswirkungen definiert, nämlich durch eine zunehmende Einengung des Interesses auf die Droge und deren Beschaffung (ebd., S. 92 f.). Durch den Suchtmittelkonsum wird ein Rauschzustand angestrebt. Ein Teil des Klientels bevorzugt aktivierende Suchtmittel („uppers“), ein anderer Teil sedierende Suchtmittel („downers“). Der „einfache Rausch“ ist von der üblichen Wirkung des zugeführten Suchtmittels abhängig. Ein Suchtmittel kann aber auch anders als erwartet wirken. Es wird dann von einem „atypischen oder komplizierten Rausch“ gesprochen. Der Rausch kann dann z. B. mit Gereiztheit bis hin zur Gewalttätigkeit oder mit Euphorie einhergehen. Forensisch relevant können zudem berichtete Amnesien im Rausch sein. Die Wirkung von Suchtmitteln ist von „set“ (der aktuellen Befindlichkeit des Individuums) und „setting“ (der Umgebungssituation des Konsumes) abhängig. Besonders Mischintoxikationen bergen für den Betroffenen und dessen Umwelt schwer zu kalkulierende soziale und medizinische Risiken.
2.4.3.4.2 Die Suchtmittelwirkungen im Speziellen unter forensischen Gesichtspunkten z Alkohol Die Alkoholabhängigkeit tritt familiär gehäuft auf. Die Punktprävalenz unter den Erwachsenen in Deutschland beträgt 2 bis 7%, der Frauenanteil be-
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trägt 25 bis 30% (Burtscheidt 2002, S. 165). Religiöse Haltungen sind protektive Faktoren, labilisierend für eine Alkoholabhängigkeit ist z. B. Langzeitarbeitslosigkeit. Es besteht eine Komorbidität mit depressiven Störungen (Prävalenzen von 27–85%), mit Angststörungen (Prävalenzen von 1–69%), mit Borderlinestörungen (Prävalenzen von 17–28%), mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen (Prävalenzen von 34–52%) und schizophrenen Psychosen (Prävalenzen von 2–7%) (ebd., S. 166). Als prognostisch ungünstig zu bewerten sind eine komorbide Borderlinestörung und die antisoziale Persönlichkeitsstörung mit Gewalttätigkeit. Während alkoholkranke Frauen eher an Angststörungen und affektiven Störungen leiden, weisen alkoholkranke Männer eher eine antisoziale Persönlichkeitsstörung auf. Von forensisch-psychiatrischer Bedeutung sind im Wesentlichen zwei Erscheinungsformen eines missbräuchlichen oder abhängigen Alkoholkonsumes: z das Alkoholentzugssyndrom mit/ohne Delir. Das Alkoholentzugssyndrom entwickelt sich innerhalb weniger Stunden nach Beendigung der Alkoholzufuhr als absolutes oder nach Verminderung der Alkoholzufuhr als relatives Alkoholentzugssyndrom. Es ist körperlich durch vegetative Auffälligkeiten (wie z. B. Tachykardie, Schwitzen etc.), Tremor, Pollakisurie, Diarrhö, eventuell Kopf- und Rückenschmerzen gekennzeichnet. Es können epileptische Anfälle auftreten. An psychischen Symptomen imponieren Suchtmittelverlangen, Konzentrationsstörungen, Angst, psychomotorische Unruhe, Depressionen und Affektlabilität sowie Schlafstörungen. Darüber hinaus ist ein Alkoholentzugsdelir durch Bewusstseinsstörungen, Verwirrtheit, Sinnestäuschungen (szenisch-optisch), Wahn, vegetative Übererregbarkeit (Schreckhaftigkeit) und erhöhte Suggestibilität gekennzeichnet. Es ist lebensbedrohlich. z Die Alkoholintoxikation weist die in Tabelle 2.4.11 aufgeführten Symptome auf. Die den klinischen Symptomen zugeordneten Promillewerte sind nur Anhaltspunkte, da in der forensischen Psychiatrie die klinische Symptomatik einer Intoxikation zu bewerten ist. Ein Anhaltspunkt für die Schwere eines Alkoholrausches bieten die in Tabelle 2.4.12 aufgeführten, von Kröber aufgestellten klinischen VierAchsen-Syndrome. Ein Alkoholrausch gilt als signifikanter Prädiktor für Gewalttaten und Alkoholabhängigkeit als ein hochsignifikanter Prädiktor für „Rückfallkriminalität“ (Pillmann et al. 2000, S. 720). Beim Vergleich von Unterbringungsdelikten gemäß § 64 StGB fanden sich bei alkoholabhängigen Straftätern häufiger Straftaten gegen Leib und Leben sowie auch häufiger Verkehrs- und Sexualdelikte als bei drogenabhängigen Straftätern (Leygraf 1987, S. 233). In der Literatur finden sich einige tradierte Begriffe, deren Sinnhaftigkeit zu bezweifeln ist, die aber dennoch hier erläutert werden müssen, da sie weiterhin in Gebrauch sind: Der gewöhnliche Alkoholrausch soll durch Stimmungs- und Antriebsveränderungen gekennzeichnet sein. Beim komplizierten Alkoholrausch
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Tabelle 2.4.11. Die klinische Symptomatik einer Alkoholintoxikation (Ebert 1999, S. 134–135) und ihre juristische Bewertung (Spreng u. Kimmeskamp 2004, S. 161) a Promille
klinische Symptomatik
juristische Bewertung
ab 0,3
gesteigertes subjektives Leistungsgefühl, Euphorisierung, Enthemmung, Rededrang, Verminderung der Selbstkritik, Reaktionsverlangsamung, Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Konzentration
ab 0,5 Promille unabhängig von etwaigen alkohol-bedingten Fahrfehlern relative Fahruntüchtigkeit als Ordnungswidrigkeit, Konsequenzen: Bußgeld, Fahrverbot, Punkte im Verkehrszentralregister
zusätzlich erste Alterationen des Lage- bis 1,09 Promille unabhängig von gefühls, der Muskelfeinbewegungen etwaigen alkohol-bedingten Fahrund des Gleichgewichtssinnes fehlern relative Fahruntüchtigkeit als Ordnungswidrigkeit, Konsequenzen: Bußgeld, Fahrverbot, Punkte im Verkehrszentralregister ab 1,1 Promille unabhängig von etwaigen alkohol-bedingten Fahrfehlern absolute Fahruntüchtigkeit als Straftatbestand, Konsequenzen: Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr, Entzug der Fahrerlaubnis für 6 Monate bis 5 Jahre, Erhöhung der Punktzahl um 7 Punkte im Verkehrszentralregister 1,2 bis 1,6 ausgeprägte Enthemmung mit Situatileichter Rausch onsverkennung und Fehleinschätzung von Gefahrensituationen, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen erheblich reduziert, Gangunsicherheit und lallendes Sprechen
0,8 bis 1,2 Angetrunkenheit
1,6 bis 2,0 sukzessive Zunahme der erwähnten mittelschwerer Symptome Rausch
ab 1,6 Promille Konsequenzen: Geld- oder Freiheitsstrafe, Entzug der Fahrerlaubnis, zusätzlich medizinischpsychologische Untersuchung (MPU) vor Wiedererwerb der Fahrerlaubnis
> 2,0 schwerer Euphorie kann in depressive Stimmung Rausch umschlagen, zunehmende Schwerbesinnlichkeit, zunehmender Übergang in Somnolenz
mittlerweile überholte Lehrmeinung: über 2 Promille erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit, nun entscheidend: Leistungsvermögen i. R. der Intoxikation, mittlerweile überholte Lehrmeinung: ab 3 Promille aufgehobene Steuerungsfähigkeit, nun entscheidend: Leistungsvermögen i. R. der Intoxikation
4,0 bis 5,0 a
tödlicher Grenzwert
Die angegebenen Promillewerte sind nur grobe Anhaltspunkte, entscheidend in der forensischen Psychiatrie ist die klinische Symptomatik!
2.4 Drogendelinquenz
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Tabelle 2.4.12. Die von Kröber (2001, S. 341–349) angegebenen Vier-Achsensyndrome zur Beurteilung des Schweregrades einer Alkoholintoxikation bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit in Anlehnung an Foerster (2004, S. 201) Kriterium
klinische Symptome
z neurologischkörperliche Auffälligkeiten
Beeinträchtigung von Koordination und Motorik, wie Reaktionsverlangsamung, feinmotorische Beeinträchtigungen, Vergröberung und Ungenauigkeit der Bewegungsabläufe, verwaschenes undeutliches Sprechen, unsicherer Gang, Übelkeit oder Erbrechen, Kreislaufdysregulation, Schwindel
z kognitive Beeinträchtigungen
Störungen der Bewusstseinslage, des Gedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit, des Denkablaufes (Verlangsamung, Ungenauigkeit, thematische Einengung), der Denkinhalte (Entdifferenzierung, vermindertes Auffassungsvermögen, Selbstüberschätzung, Größenwahnideen, Abnahme der Kritikfähigkeit)
z affektive Veränderungen
euphorische Auflockerung oder depressiv-dysphorische Verstimmung, manchmal rasch wechselnd zwischen diesen Zuständen, aggressive Reizbarkeit, Affektlabilität
z Verhaltensänderung
Antriebsminderung oder -steigerung, Distanzminderung in der sozialen Interaktion, erhöhte Impulsivität, u. U. in Form des ungerichteten Handlungsdranges mit erhöhter Diskussions-, Streit- und Kampfbereitschaft
sollen die klinischen Symptome hingegen stärker ausgeprägt sein als beim gewöhnlichen Rausch. Ein pathologischer Alkoholrausch (auch idiosynkratische Alkoholintoxikation genannt) soll dagegen durch geringe Mengen Alkohol ausgelöst werden und klinisch mit Verwirrtheit, Realitätsverkennung und psychomotorischer Erregung einhergehen. Fremdaggressive und autoaggressive Verhaltensweisen sollen auftreten. Darüber hinaus soll das im intoxikierten Zustand gezeigte Verhalten für die Person untypisch sein. Berechtigterweise weist Rasch auf die Unschärfe der Definition des pathologischen Rausches in verschiedenen Schriften hin (Rasch 1999, S. 213). Winckler (1999, S. 807) wies mit einer an 338 psychiatrischen Kliniken durchgeführten Fragebogenaktion nach, dass der pathologische Rausch „keine einheitlich definierte diagnostische Entität“ ist und dessen Diagnose auf einem „heterogenen Kriterienspektrum“ fußt. Die ICD-10 jedoch führt unter der Kodierung F10.07 den nur auf den Alkoholkonsum anwendbaren pathologischen Rausch noch auf (Dilling et al. 2000, S. 91): „Kurz nach dem Trinken einer Menge, die bei den meisten Menschen keine Intoxikation hervorrufen würde, erfolgt ein plötzlicher Ausbruch von aggressivem, oft gewalttätigem Verhalten, das für den Betroffenen im nüchternen Zustand untypisch ist.“ Die zur Abschätzung des Intoxikationsgrades nach der Widmark-Formel zurückgerechneten Promillewerte lassen mit Einschränkung auf die aufgenommene Alkoholmenge schließen. Die zu berücksichtigenden, unter an-
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derem auch biologischen Unsicherheiten wie z. B. das Resorptionsdefizit relativieren den „zurückgerechneten Wert“. Die Alkoholeliminationsrate pro Stunde beträgt bei Männern zirka 0,15 Promille, bei Frauen etwas weniger, bei einem Alkoholabhängigen bis zu 0,35 Promille (Feuerlein et al. 1998, S. 29). Eine Alkoholabhängigkeit kann neben somatischen auch neurologischpsychiatrische Folgeerkrankungen bedingen und zwar: z alkoholinduzierte psychotische Störungen mit Sinnestäuschungen (Alkoholhalluzinose). Es treten akustische und/oder optische Halluzinationen bei Alkoholabhängigen auf. Die Erkrankung soll erst nach mindestens zehnjähriger Alkoholabhängigkeit vorkommen. Männer sollen im Vergleich zu Frauen viermal so häufig betroffen sein; z den Eifersuchtswahn des Alkoholikers. Diese Folgeerkrankung bildet sich zumeist langsam progredient bei zerebral Vorgeschädigten oder komorbid schizophren Erkrankten aus; z eine durch eine Leberzirrhose bedingte hepatische Enzephalopathie; z die Wernicke-Enzephalopathie (auch alkoholinduzierte Enzephalopathie), die durch einen Vitamin-B1-Mangel verursacht ist. Die Symptome sind Nystagmus, horizontale Blicklähmung mit internukleärer Ophthalmoplegie, Ataxie und Verwirrtheit. Darüber hinaus können auch akzessorische Symptome wie Konfabulationen, Lethargie, Indifferenz, leichtgradiges Delir, angstvolle Insomnien und auch Furcht vor Dunkelheit auftreten; z das Korsakow-Syndrom (auch Korsakow-Psychose). Es ist durch Desorientiertheit, schwere Beeinträchtigungen im Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis und Konfabulationen gekennzeichnet; z die alkoholtoxische Demenz. Die Diagnosestellung erfolgt als Ausschlussdiagnose in Abgrenzung zu Demenzen anderer Ätiologie. Die Untermauerung der klinischen Diagnose einer Alkoholabhängigkeit und deren Verlaufskontrolle kann über diverse Laborparameter erfolgen. Ein etablierter Alkoholmarker ist neben den Leberenzymen GOT, GPT und GGT sowie dem Blutbildparameter MCV mittlerweile auch das Carbohydrate-Deficient Transferrin (CDT). Bei einer zugeführten Alkoholmenge von 50 bis 80 g pro Tag für die Dauer von ein bis zwei Wochen reagiert es mit Erhöhung und normalisiert sich bei Alkoholkarenz mit einer Halbwertszeit von eineinhalb bis zwei Wochen (Helander 2001, S. 188). Falsch positive Ergebnisse bei hepatischen Erkrankungen wie chronischer Virushepatitis oder beim hepatozellulären Karzinom sind möglich (ebd., S. 189). Die Gruppe der alkoholabhängigen Straftäter im Maßregelvollzug nach § 64 StGB ist heterogen (Leygraf 1987, S. 235). Es zeigte sich eine frühkriminelle Gruppe mit mehr Haftstrafen und mehr Hafterfahrung (N = 350) als die spätkriminelle Vergleichsgruppe (N = 101). Letztere zeigte im Vergleich zur frühkriminellen Gruppe eine höhere soziale Herkunft sowie eine bessere schulische und berufliche Ausbildung.
2.4 Drogendelinquenz
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z Heroin Heroin ist gemäß Anlage I zu § 1 Absatz 1 BtmG ein nicht verkehrsfähiges Betäubungsmittel. Heroin (Diazetylmorphin, in der Szene „H“ oder „Braunes“) wird aus Opium gewonnen und besitzt unter den Opioiden das größte Suchtpotenzial. Es ist ein feinkörniges braunes Pulver mit unterschiedlichem Heroinanteil. Heroin wird intravenös, inhalativ und nasal konsumiert. In Europa beträgt die Lebenszeitprävalenzrate für den Heroingebrauch unter 1% (Ladewig 2001, S. 187). Bei intravenösem Konsum setzt die Drogenwirkung mit dem so genannten „Kick“ nach zehn bis 20 Sekunden ein (Soyka 2003, S. 1015), der als ein „warmes Gefühl“ beschrieben wird. Die Intoxikation setzt zwei bis fünf Minuten nach intravenöser Applikation ein (ebd., S. 1015). Die psychische Akutwirkung ist durch Euphorie, verminderte Aufmerksamkeit, Gedächtnisstörungen, Schläfrigkeit und psychomotorische Verlangsamung gekennzeichnet (Kaplan u. Sadock 2000, S. 81 f.). Die heroininduzierte Euphorie dauert zehn bis 30 Minuten an (Soyka 2003, S. 1015). Danach folgt ein Stadium, das durch Antriebslosigkeit, Schläfrigkeit und Lethargie geprägt ist. Ein Heroinrausch dauert anfänglich sechs bis acht Stunden (Köhler u. Poehlke 2000, S. 11). Bei Abhängigkeit sind später vier bis sechs intravenöse Applikationen pro Tag notwendig (ebd., S. 12). Eine reine Opiatintoxikation geht üblicherweise nicht mit aggressiven Verhaltensweisen einher. An somatischen Symptomen der Opiatintoxikation sind zu nennen: Miosis, verminderte Darmmotilität, Ateminsuffizienz, Hypotonie, Bradykardie, Dysarthrie, Analgesie, Übelkeit und Erbrechen (Kaplan u. Sadock 2000, S. 81 f.). Eine Überdosierung ist durch die klinische Trias Koma, Atemdepression und Miosis gekennzeichnet. Weitere Komplikationen können ein Lungenödem und eine Rhabdomyolyse sein. Im Vordergrund der Beschwerden beim Entzugssyndrom stehen Zeichen der sympathischen Hyperaktivierung wie Blutdruck- und Temperaturerhöhung, Rhinorrhö, Mydriasis und Piloerektion (Gänsehaut). Darüber hinaus sind als Symptome zu nennen: Craving („Opiathunger“), Angst, Unruhe, Tremor, Parästhesien, Hyperhidrosis, Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen, Abdominalkrämpfe, zerebrale Krämpfe, Muskelschmerzen, Gähnzwang, Schlafstörungen, (ebd., S. 81 f.). Beginn und Dauer des Opiatentzuges hängen von der Dosis und der Halbwertszeit des zuvor eingenommenen Opioides ab. Mit einer Prävalenz von 30 bis 90% besteht eine komorbide Persönlichkeitsstörung, mit einer Prävalenz von 20 bis 60% eine komorbide affektive Störung und Angststörung sowie mit einer Prävalenz von null bis 20% eine komorbide schizophreniforme Störung (Ladewig 2002, S. 187 f.). Der Nachweis von Heroin im Urin ist drei bis vier Tage nach der letzten Einnahme möglich.
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z Psychostimulantien z Amphetamine. Amphetamine gehören gemäß Anlage III zu § 1 Absatz 1 BtmG zu den verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen, Methamphetamine gemäß Anlage II zu § 1 Absatz 1 BtmG zu den verkehrsfähigen, aber nicht verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Amphetamine („Speed“) und Methamphetamine sind synthetische Drogen, die oral, nasal oder intravenös konsumiert werden. Es handelt sich hierbei um ein weißes bis leicht rosafarbenes Pulver. Die mittlere Rauschdosis liegt bei 15 bis 25 mg. Bei starkem Gebrauch kann die Tagesmenge 1 g erreichen (Köhler u. Poehlke 2000, S. 8). Die akute körperliche Wirkung ist gekennzeichnet durch Hypertonie, Tachykardie, Bronchodilatation, Tachypnoe und Erhöhung der Körpertemperatur. Bei chronischer Einnahme kann es zu stereotypen Verhaltensweisen kommen. Die psychische Akutwirkung nach oraler Einnahme setzt nach 30 bis 60 Minuten ein und dauert über Stunden; sie weist Symptome wie beschleunigter Gedankengang, Ideenflucht, vermehrter Antrieb, fehlende Müdigkeit, verminderte Selbstkritik, Euphorie und subjektiv empfundene Leistungssteigerung („Doping“) sowie meistens bei hohen Konsumdosen paranoidhalluzinatorische Phänomene auf. Das Schlafbedürfnis sowie das Hungerund Durstgefühl sind reduziert. Amphetamine und ihre Derivate verursachen eine mäßige körperliche jedoch eine starke psychische Abhängigkeit. Die chronische Einnahme von Amphetaminen kann paranoid-halluzinatorische Psychosen induzieren. Nach Beendigung der Amphetaminzufuhr fällt ein stark gesteigertes Schlafbedürfnis auf. z Ecstasy. Ecstasy (ein Sammelbegriff für Methylendioxymethylamphetamin (MDMA) und andere ringsubstituierte Amphetamine) ist gemäß Anlage I zum § 1 Absatz 1 BtmG ein nicht verkehrsfähiges Betäubungsmittel. Die in Tablettenform erhältliche und als Amphetaminabkömmling zu wertende Modedroge der Rave- und Technoszene wird überwiegend in illegalen Laboratorien hergestellt und unter diversen Namen wie „Eve“, „Adam“ etc. verkauft. Die Tabletten weisen auf ihrer Oberfläche Einprägungen verschiedener Logos auf. Die mittlere Konsumdosis beträgt 50 bis 100 mg (Köhler u. Poehlke 2000, S. 8). Bei der Wirkung von Ecstasy können folgende Phasen unterschieden werden (Freudenmann 2005, S. 563): 1. „rush/coming on“: intensiver Rauschbeginn, 2. „Plateau“ (Hauptwirkung): nach 30 Minuten einsetzend, Dauer der Hauptwirkung zirka fünf Stunden, mit angenehmen Gefühlen, tranceähnlicher Zustand, 3. „Coming down“: Nachlassen der Wirkung, unangenehme Gefühle, 4. „Mid-week low“ oder „Tuesday blues“: depressive Verstimmung zur Wochenmitte hin bei den Wochenendkonsumenten.
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Die körperliche Wirkung ist durch eine subjektiv gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Körperliche Komplikationen können vielgestaltig sein: Dehydratation, Hyperthermie, subakute Hepatitis, Blutdruckregulationsstörungen, Tachykardie, metabolische Azidose, disseminierte intravasale Gerinnung, Rhabdomyolyse, akutes Nierenversagen, akute respiatorische Insuffizienz, kardiovaskuläre Komplikationen (ebd., S. 566). Die akute psychische Wirkung lässt sich in erwünschte und unerwünschte Effekte einteilen (ebd., S. 562). Von den Konsumenten erwünschte psychische Effekte sind: die Wirkung auf Kommunikationsfähigkeit und -bedürfnis sowie auf die emotionale Berührbarkeit als so genannte entaktogene Wirkung, Euphorie, gesteigerte Wachheit, Intensivierung oder angenehme Veränderung der Wahrnehmung und sexuelle Erregung (ebd., S. 562). Unerwünschte Wirkungen sind dagegen: psychotische Phänomene, Erregung, Gereiztheit, Angst, Panik, Aggressivität, Impulsivität, Schlafstörungen (ebd., S. 562). Darüber hinaus kann Ecstasy auch paranoid-halluzintorische Psychosen induzieren. Ein unbekannter Anteil der Ecstasykonsumenten entwickelt anhaltende Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Depressionen, Angst, Irritabilität, gesteigerte Impulsivität, Schlaf-, Appetit- und Sexualstörungen (ebd., S. 570). Es ist unklar, ob diese Symptomatik auf die neurotoxische Wirkung der Droge auf das serotonerge System zurückgeführt werden kann (ebd., S. 570). z Kokain. Kokain ist gemäß Anlage III zu § 1 Absatz 1 BtmG ein verkehrsund verschreibungsfähiges Betäubungsmittel. Kokain („Schnee“, „Weißes“) wird aus den Blättern des Kokastrauches hergestellt und intravenös, inhalativ oder nasal konsumiert. Psychisch wirkt es energisierend, euphorisierend, sympathikoton, sexuell enthemmend/libidosteigernd, die Kritikfähigkeit und das Realitätsempfinden deutlich reduzierend. Es kommt zur Verminderung des Hunger- und Durstgefühles sowie des Schlafbedürfnisses. Die akute Intoxikation läuft in folgenden Rauschstadien ab: z dem durch das Anfluten der Droge gekennzeichneten „Kick“, z dem Minuten bis Stunden dauerndem euphorischen Rauschstadium (akut einsetzende ausgeprägte Euphorie, gesteigertes Selbstwertgefühl, Antriebssteigerung, taktile, optische oder akustische Halluzinationen, paranoide Gedanken) und z dem durch Angst und Depression gekennzeichneten dysphorischen Stadium („Blues“, „Kokainkater“) (Köhler u. Poehlke 2000, S. 10). Die durchschnittliche letale Kokaindosis liegt bei 1 bis 2 g (ebd., S. 10). Somatische Störungen in der Kokainintoxikation sind: Mydriasis, maligne Hyperthermie und epileptische Anfälle, Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen wie Tachyarrhythmien und Temperaturerhöhung. Komplikationen des chronischen Konsumes sind ein Nasenseptumdefekt (bei dem so genannten Kokainschnupfen) und Impotenz.
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Chronisch psychische Auswirkungen sind: ausgeprägte psychische Abhängigkeit ohne körperliche Entzugserscheinungen, kognitive Beeinträchtigung, Dysphorie, taktile, optische oder akustische Halluzinationen, paranoide Reaktionen bis hin zur chronischen Psychose, eine rasche Toleranzentwicklung, Kachexie. Eine spezielle Aufbereitung des Kokains ist das mit einem starken Suchtpotenzial behaftetete „Crack“, dessen Wirkung ausgeprägter als bei üblichem Kokain ist. Es handelt sich hierbei um mit Backpulver aufgekochtes Kokain. Viele Konsumenten bevorzugen ein Kokain-Heroin-Gemisch, das als „Speedball“ oder „Cocktail“ bezeichnet wird. Die akute Kokainintoxikation mit der damit einhergehenden Antriebssteigerung und Aufgekratztheit wird meistens durch Einnahme von Opiaten oder Benzodiazepinen durch den Konsumenten beendet (so genanntes „Runterkommen“). Kokain ist im Blut vier bis sechs Stunden (Köhler u. Poehlke 2000, S. 9), im Urin drei bis vier Tage nachweisbar. z Halluzinogene z LSD. LSD (Lysergsäurediäthylamid) gehört gemäß Anlage I zu § 1 Absatz 1 BtmG zu den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln. Die Wirkung von LSD verläuft in Stadien: z Initialstadium mit innerer Unruhe, Tachykardie, Schwindel, z Rauschstadium mit Intensivierung von Wahrnehmungen, szenischen und kaleidoskopartigen Halluzinationen, Farbhalluzinationen, verstärkten Assoziationen (sog. psychedelischen Effekten), z Erholungsstadium, z Nachwirkstadium mit Erschöpfung, massiven Angstzuständen und depressiven Verstimmungen. Die Wirkdauer beträgt bis zu 12 Stunden. Unter LSD kann es zu so genannten Horrortrips mit paranoider Angst und Wahrnehmungsstörungen und daraus resultierenden strafbaren Handlungen kommen (Köhler u. Poehlke 2000, S. 9). Es wird in dünnen Plättchen („Trips“) angeboten und oral konsumiert (ebd., S. 9). LSD kann (schizophrene) Psychosen induzieren. Mit einiger Latenz zur letzten Einnahme kann es zu Flashbacks (Echopsychosen) kommen, d. h. zum erneuten Auftreten paranoid-halluzinatorischen Erlebens ohne aktuellen Halluzinogenkonsum. Der LSD-Konsum führt zu keiner Abhängigkeit und das Absetzen der Droge daher zu keinen psychischen oder physischen Entzugssymptomen. z Cannabinoide. Cannabis und Cannabisharz gehören gemäß Anlage I zu § 1 Absatz 1 BtmG zu den nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln. Das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) als Hauptwirkstoff in Cannabis sativa
2.4 Drogendelinquenz
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ist gemäß Anlage II zu § 1 Absatz 1 BtmG ein verkehrsfähiges aber nicht verschreibungsfähiges Betäubungsmittel. Das trans-Isomer des Delta-9-Tetrahydrocannabinol (Freiname: Dronabinol) hingegen gehört zu den gemäß Anlage III zu § 1 Absatz 1 BtmG verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Zu den Cannabinoiden zählen Haschisch (Harz der Blütenstaude des weiblichen indischen Hanfes, „Piece“) und Marihuana (getrocknete Blüten und Blätter, „Gras“). Die Lebenszeitprävalenz des Cannabiskonsumes beträgt in Deutschland bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen 35%. Der Konsum erfolgt entweder durch Rauchen („joint“) oder seltener oral (z. B. als Kekse, „Cookies“). Unter über 60 psychoaktiven Substanzen in den Cannabinoiden ist das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) der Hauptwirkstoff. Die angestrebten psychischen Symptome der akuten Intoxikation sind vor allem Entspannung und Euphorie. Darüber hinaus können Erregung und Enthemmung, traumähnliche Zustände, Wahnerleben und Halluzinationen sowie Angst, Horrortrips, Bewegungs- und Rededrang und Hyperakusis auftreten. Das Urteils- und Kritikvermögen kann dabei erheblich beeinträchtigt sein. Auch bei Cannabiskonsum kann es zu Flashbacks, also kurzen Echopsychosen, kommen. Diese können mit einer Latenz von Tagen bis Monaten nach Absetzen auftreten. Bei chronischer Intoxikation (langjähriger und hochdosierter Konsum) ist ein Amotivationssyndrom mit Teilnahmslosigkeit, Passivität und Apathie eine Folgeerscheinung. Die Droge weist im Vergleich zu Opiaten eine geringere Tendenz zur Dosissteigerung und Toleranzentwicklung auf. Beim Absetzen resultiert ein psychischer, zum Teil auch körperlicher Entzug. Der Konsum von Cannabis ist ein eigenständiger Risikofaktor für die Entwicklung schizophrener Psychosen. Auch werden erhebliche kognitive Einbußen festgestellt mit zum Teil noch Wochen nach Absetzen reduzierter Merkfähigkeit. Kokain- und/oder Opiatabhängigkeit ist häufig mit Cannabiskonsum vergesellschaftet. Tetrahydrocannabinol ist im Blut fünf bis sechs Stunden, der Hauptmetabolit Tetrahydrocannabinolcarbonsäure mit einer mehr als 24-stündigen Plasmahalbwertszeit (Kumulation) bei häufigem Cannabiskonsum deutlich länger nachweisbar (Köhler u. Poehlke 2000, S. 7). z Benzodiazepine. Benzodiazepine unterliegen der Anlage III zu § 1 Absatz 1 BtmG als verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel genau dann, wenn die Benzodiazepinmenge pro „abgeteilter Form“ einen gesetzlich festgelegten Höchstwert überschreitet. Benzodiazepine (auch „Stadas“ für Diazepam oder „Oxas“ für Oxazepam) werden auf dem Schwarzmarkt in recht großen Mengen gehandelt. Bezugsquellen scheinen hierfür unreflektierte Rezeptierungen im ambulanten Versorgungsbereich zu sein. Eine Abhängigkeit kann sich als Niedrigdosis- („low dose dependency“) oder Hochdosisabhängigkeit („high dose
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dependency“) manifestieren. Ein chronischer Konsum führt zu Dysphorie, Gleichgültigkeit und Leistungsminderung. Insbesondere sind bei langfristigem Konsum Merkfähigkeitsstörungen und Gedächtnisstörungen auffallend. Die akute Intoxikation ist durch Dys- und Euphorie, Anxiolyse, Enthemmung, Sedierung, Antriebsminderung, affektive Nivellierung, Verminderung der Aufmerksamkeit, Verwirrtheit und Amnesie gekennzeichnet. Forensisch relevante Symptome können eine sexuelle und aggressive Enthemmung sowie eine Minderung der Kritikfähigkeit sein. Darüber hinaus gibt es amnestische Zustände mit erhaltener Handlungsfähigkeit. Eine akute Benzodiazepinintoxikation kann über das Stadium eines Komas tödlich verlaufen. Neurologische Symptome der Intoxikation sind Nystagmus, Dysarthrie, Ataxie und Muskelhypotonie. Neben älteren Menschen sollen insbesondere Opiatabhängige auf Benzodiazepine paradox reagieren können. Es kommt dann zu aggressiv-getönten Erregungszuständen mit retrograder Amnesie. Nach Absetzen von Benzodiazepinen können als Reboundphänomen diejenigen Symptome wieder auftreten, gegen die anfänglich Benzodiazepine eingesetzt wurden wie z. B. Angst, Unruhe und Schlafstörungen. Zirka zwei bis zehn Tage nach Absetzen von Benzodiazepinen kann es für die Dauer von fünf bis zehn Tagen zu einem dem Alkoholentzugssyndrom ähnelnden Entzugssyndrom mit Angst, Unruhe, Dysphorie, Irritierbarkeit, Übelkeit, Schwitzen, Tremor, Tachykardie, Kopf- und Muskelschmerzen kommen. Typisch für den Benzodiazepinentzug sollen so genannte perzeptuelle Störungen mit verzerrter Wahrnehmung von Gesichtern und Hyperakusis sein. Bei schweren Entzügen kann ein delirantes Syndrom auftreten. Komorbide Störungen bei Benzodiazepinabhängigkeit können sein: depressive Störungen, Angststörungen, Schmerzsyndrome, Insomnien, Alkoholabhängigkeit, Heroinabhängigkeit. Die früher leichter erhältlichen Barbiturate haben eine ähnliche Akutund Langzeitwirkung wie die Benzodiazepine. Sie weisen aber eine geringere therapeutische Breite bei höherer Toxizität, öfter paradoxe Wirkungen und häufiger Entzugskomplikationen auf als dies bei Benzodiazepinen der Fall ist. Benzodiazepine werden häufig dem Heroin als Streckmittel zugesetzt. Einige Konsumenten benutzen sie auch zur Intensivierung des „Opiatkickes“. Darüber hinaus werden Benzodiazepine auch zur Beendigung einer zunehmend als unangenehm empfundenen Kokainintoxikation benutzt (als „downer“). Die Nachweisbarkeitsdauer im Urin hängt von der Menge und der Halbwertszeit des konsumierten Benzodiazepines ab; z. B. weist Diazepam eine Eliminationshalbwertszeit bei einmaliger Einnahme von 33 und nach mehrmaliger Einnahme von 53 Stunden auf. Darüber hinaus resultieren aus dem Abbau von Diazepam die psychoaktiven Metaboliten N-Desmethyldiazepam mit einer Eliminationshalbwertszeit von 50 bis 99 und Oxazepam mit einer Eliminationshalbwertszeit von fünf bis zwölf Stunden.
2.4 Drogendelinquenz
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z Lösungsmittel Hierzu gehören Klebstoffe, Azeton, Äther, Lack-, Nitro-, Klebstoffverdünner und Butan. Die Gase werden inhaliert und führen zu Euphorie, Entspannung, Halluzinationen und Delir. Hervorzuheben ist ihre erhebliche Neurotoxizität bei längerfristigem Gebrauch mit zum Teil irreversiblen kognitiven Störungen. Der Gebrauch dieser Stoffe ist insbesondere in den GUS-Staaten unter Jugendlichen verbreitet und kann vor einem Migrationshintergrund auch in Deutschland auftreten.
2.4.3.5
Die forensisch-psychiatrische Relevanz der Delikte von Konsumenten psychotroper Substanzen
2.4.3.5.1 Begutachtung und Behandlungsmöglichkeiten nach dem Strafrecht z Die Maßregeln der Besserung und Sicherung Bei der strafrechtlichen Würdigung eines suchtmittelassoziierten Anlassdeliktes können die Maßregeln zur Besserung und Sicherung gemäß § 61 StGB Anwendung finden, und zwar: z die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), z die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), z die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB), z die Führungsaufsicht (§ 68 StGB), z der Entzug der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB), z das Berufsverbot (§ 70 StGB). Sie stellen auf die Besserung des psychosozialen Zustandes des Betroffenen und auf die Sicherung der Allgemeinheit vor dem Betroffenen ab. Häufig finden bei drogen- beziehungsweise alkoholassoziierten Delikten die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und/oder der Führerscheinentzug, seltener die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Anwendung. z Der Entzug der Fahrerlaubnis bei Alkohol- und Drogenkonsumenten Nach den „Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung“ (Bundesanstalt für Straßenwesen 2000, S. 40 ff.) sind Probanden, die an einem schädlichen Gebrauch oder einer Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen (Ausnahme: gelegentlicher alleiniger Cannabiskonsum) erkrankt sind, nicht geeignet, ein Kraftfahrzeug zu führen. Die Fahrerlaubnisbehörde kann bei Zweifeln an der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges die Beibringung eines verkehrsmedizinischen Gutachtens durch den Betroffenen verlangen. Eine relative Fahruntüchtigkeit wird bei gleichzeitigem Vorliegen von Blutalkoholkonzentrationen von 0,5 bis 1,09 Promille und verkehrsrelevanten alkoholbedingten Ausfallerscheinungen angenommen. Die Gerichte
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können im Fall des Führens eines Kraftfahrzeuges im Zustand der relativen Fahruntüchtigkeit eine Geldstrafe, ein ein- bis dreimonatiges Fahrverbot sowie Punkteeintragungen im Verkehrszentralregister anordnen. Die Fahrerlaubnis bleibt von dieser Sanktion unberührt. Eine absolute Fahruntüchtigkeit, wird ab Blutalkoholwerten von 1,1 Promille angenommen, Fahruntüchtigkeit kann aber auch schon bei Blutalkoholwerten unter 1,1 Promille genau dann angenommen werden, wenn neben der Alkoholintoxikation noch andere Zeichen der Fahruntüchtigkeit wie beispielsweise eine verkehrsgefährdende Fahrweise vorliegen (Spreng u. Kimmeskamp 2004, S. 142). Beim § 323 a StGB handelt es sich um den Vollrauschtatbestand (s. unten). Bei Drogenkonsumenten gibt es für die einzelnen Substanzen keine Grenzwerte bei der Blutuntersuchung, die den Juristen auf eine relative oder absolute Fahruntüchtigkeit hinweisen. Deshalb muss bei Nachweis von Drogen im Urin auch zusätzlich deren Auswirkung auf die Fahrtüchtigkeit zum Tatzeitpunkt bewertet werden (z. B. eine aggressiv-rücksichtslose Fahrweise im Kokainrausch). Die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB kann erfolgen, wenn die Straftatbestände gemäß §§ 142 (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort), 315 c (Gefährdung des Straßenverkehrs), 316 (Trunkenheit im Verkehr) oder 323 a (Vollrauschtat) StGB Anwendung finden (Spreng u. Kimmeskamp 2004, S. 249). Im § 315 c wird eine konkrete Gefährdung des Straßenverkehrs unter dem Einfluss berauschender Substanzen, im § 316 StGB wird als abstraktes Gefährdungsdelikt die bloße „Trunkenheit am Steuer“ (schließt auch den Drogenrausch ein) abgehandelt. Die Fahrerlaubnis kann gemäß § 69 StGB in der Regel für einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu fünf Jahren entzogen werden. Es ist aber auch der lebenslange Entzug der Fahrerlaubnis möglich. Die Maßregel des Entzuges der Fahrerlaubnis wird durch Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde ergänzt, wenn es um die erneute Erteilung der Fahrerlaubnis nach Entzug gemäß § 69 StGB geht. Die Fahrerlaubnisbehörde kann in diesem Falle ein Gutachten zur Frage der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges verlangen (medizinisch-psychologische Untersuchung, MPU). Nach Erfüllung bestimmter Auflagen wie Entwöhnungsbehandlung, mindestens einjährige durch entsprechende Laborwerte und ärztliche Untersuchungen nachgewiesene Abstinenz und erfolgter persönlicher Auseinandersetzung mit der Alkohol- oder Drogenproblematik sowie ausgeräumten Zweifeln an der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges mittels der MPU kann dann die Fahrerlaubnis erneut erteilt werden. Verkehrsdelikte können neben der Frage der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges auch Fragen zur Schuldfähigkeit des Probanden bei Begehung einer Straftat (z. B. einer fahrlässigen Tötung beim Führen eines Kraftfahrzeuges unter Rauschmitteleinfluss) aufwerfen und somit Begutachtungsgegenstand für den forensischen Psychiater werden.
2.4 Drogendelinquenz
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z Zur Begutachtung der Schuldfähigkeit von Konsumenten psychotroper Substanzen Der forensisch-psychiatrische Gutachter muss neben klinisch-psychiatrischer Berufserfahrung auch über eingehende kriminologische und juristische Kenntnisse verfügen, sich aber dennoch klar von diesen „Nachbarfächern“ abgrenzen, um seine Kompetenzen nicht zu überschreiten. Bei der Begutachtung geht es darum, einen individuellen Lebenssachverhalt forensisch-psychiatrisch zu erfassen und zu prüfen, ob zum Tatzeitpunkt eine psychiatrische Diagnose zu stellen und ob diese etwaige Diagnose dann auch einem der unbestimmten Rechtsbegriffe der vier juristischen Eingangskriterien zur Prüfung der Schuldfähigkeit zuzuordnen ist. Bei der Begutachtung eines (vermeintlich) suchtmittelkonsumierenden Probanden, der ein Delikt begangen hat oder haben soll und bei dem die Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB zu beurteilen ist, ist bei der gutachterlichen Exploration Wert auf folgende Details zu legen: z Der Vorbereitung der Begutachtung und der Gesamtwürdigung des Gutachtenfalles dient ein ausführliches Aktenstudium der Gerichtsakte, aber auch angeforderter medizinischer Unterlagen. Die vom Probanden gelieferten Informationen müssen mit denen aus der Gerichtsakte und eventuell vorhandenen Zeugenaussagen verglichen werden. Gerade in der „Drogenszene“ sind Zeugenaussagen aber aufgrund verschiedenster persönlicher Abhängigkeiten und Interessen mit Vorsicht zu werten. Bei etwaigen widersprüchlichen Schilderungen des „sucht- und kriminalitätserfahrenen“ Probanden kann die Konfrontation des Probanden mit Widersprüchen einen Zugewinn an Informationen für den Gutachter bedeuten. z Darüber hinaus erlauben Vorberichte aus früheren stationären oder teilstationären Entzugsbehandlungen auch die relativ objektive Abschätzung der Persönlichkeitsentdifferenzierung im Rahmen der Abhängigkeit, welche als Depravation bezeichnet wird und im Verfahren von Bedeutung sein kann. z Die Suchtmittelanamnese sollte detailliert erhoben werden. Dazu gehören das Konsummuster, die Dauer des Konsums, die Abstinenzzeiten, die Konsummengen im Verlaufe der Sucht und die Applikationsform der Droge. Darüber hinaus muss das Konsumverhalten unmittelbar vor der Anlasstat inklusive der damit einhergehenden psychischen Befindlichkeit eruiert werden. Hilfreich können auch hier herbeigezogene Unterlagen aus früheren qualifizierten stationären oder teilstationären Entzugsbehandlungen mit etwaigen Berichten über psychotische Episoden oder die Substanzabhängigkeit beweisende Entzugssyndrome sein. Aus der Summe der Informationen sollte sich dann gemäß ICD-1O die Diagnose einer Substanzabhängigkeit oder eines schädlichen Gebrauches stellen lassen. Eine Diagnosestellung sollte unterstützend durch eine Blut-, Urin- oder Haarprobe des Probanden (nach dessen Einwilligung in die Probengewinnung) erfolgen. Inwieweit ein bei der gutachterlichen Explo-
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ration kooperierender Drogenkonsument in seinen sozialen Aktivitäten durch den Suchtmittelerwerb eingeschränkt ist, kann durch die Frage nach dem Tagesablauf des Probanden abgeschätzt werden. Bei der Begutachtung ist gezielt nach komorbiden psychischen Störungen zu explorieren. In einer von Dittmann (1996, S. 3 ff.) durchgeführten Studie an 450 Gutachten zur Schuldfähigkeit wiesen 83% der Begutachteten eine Drogenproblematik auf. Unter diesen litten 64% an einer komorbiden Persönlichkeitsstörung, 15% an einer komorbiden Schizophrenie und 6% an einer anderen komorbiden psychischen Störung. In dieser Stichprobe ließen sich unter den Begutachteten bei 23% eine psychiatrische Diagnose, bei 38% zwei, bei 29% gar drei und bei 10% sogar mehr als drei psychiatrische Diagnosen stellen (ebd., S. 6). Bei der Erhebung der biografischen Anamnese ist es unerlässlich, die Sozialisation eines Probanden im kriminellen oder bürgerlichen Wertesystem und den Beginn des Suchtmittelkonsumes zu erfassen. Bei der Begutachtung ist Wert auf eine detaillierte Tatanamnese zu legen. Insbesondere bei der Frage nach der Schuldfähigkeit eines bei der Tatbegehung intoxikierten oder sich im Substanzentzug befindlichen Täters ist der zeitliche Ablauf einer Tat mit dem Vortatverhalten, dem Tatverhalten und dem Nachtatverhalten von forensisch-psychiatrischem Interesse, da hieraus gutachterliche Aussagen ableitbar sind (Tabelle 2.4.13). Entscheidend für die forensisch-psychiatrische Beurteilung einer Anlasstat ist neben der psychischen Befindlichkeit des Täters ihr Planungsgrad inklusive Planungsdauer (z. B. Anschaffung von Werkzeug, Waffen, Informationen), ihr Ablauf im Sinne intellektuell geordneter und erfolgsorientierter Handlungen und deren (fein-) motorische Umsetzung, die Flexibilität des Probanden, auf unerwartete Ereignisse adäquat zu reagieren und die Tat später zu verschleiern, um so juristische Sanktionen zu vermeiden. Die von vielen Probanden berichtete Amnesie zur Tatzeit sollte mit Vorsicht beurteilt werden. Bei der Erfassung des Nachtatverhaltens spielen die Gefühlslage nach Deliktbegehung, aber auch z. B. das Vernichten von Beweismitteln eine Rolle. Insgesamt gilt es, die Komplexität der Tat zu erfassen. Die von Glatzel (1996, S. 803 f.) vorgeschlagenen Beurteilungskriterien des Tatablaufes wie Vigilität, Adäquanz und Rationalität (s. Tabelle 2.4.13) sind bei der forensisch-psychiatrischen Tatanalyse hilfreich. Die bei der Begutachtung unverzichtbare internistische und klinischneurologische Untersuchung sollte auch auf forensisch-suchtmedizinische Details fokussieren wie z. B. das blasse Hautkolorit des Opiatabhängigen, eine Nasenseptumperforation bei Kokainabhängigkeit mit dem klinischen Bild eines so genannten „Kokainschnupfens“, den Zahnstatus (bei langjährig Opiatabhängigen in der Regel desaströs kariös), „frische“ oder „alte“ vernarbte „Spritzenstraßen“ oder Abszesse, Koordinationsstörungen als Ausdruck etwaiger alkoholischer Kleinhirnschädigungen. Diese Auffälligkeiten können als eine Art „Plausibitätskontrolle“ für die Ausführungen des Probanden dienen.
2.4 Drogendelinquenz
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Tabelle 2.4.13. Die von Glatzel (1996, S. 803–804) vorgeschlagenen Kriterien zur Einordnung einer Straftat Kriterium
Spezifizierung
z Vigilität
Grad der Wachheit (Schnelligkeit und Bereitschaft zur Reizzuwendung), Grad des Umstellungsvermögens (Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse), zielgerichtetes Handeln
z Rationalität
geordnete erfolgsorientierte Handlungssequenz, Vermeidung von Sanktionen durch Verschleierung und andere Vorkehrungen, geplante oder improvisierte Handlungsflexibilität mit Zielorientierung des Handelns
z Adäquanz
personenzentrierte Determinierung des Handelns, stabile Einstellungen des Täters, stabile Wertvorstellungen des Täters
z Zu der in der gutachterlichen Bewertung durchzuführenden Tatanalyse gehört neben der Würdigung der Komplexität der Tat auch der Vergleich der Anlasstat(en) mit etwaigen früheren Delikten und deren Motivation und Ausführung, die möglicherweise auf eine gewisse eher kriminelle Grundhaltung/Lebenseinstellung schließen lassen könnten. Ein Überblick über die vorausgegangenen Straftaten kann aus dem sich als erstes Blatt in der Gerichtsakte befindlichen Auszug aus dem Bundeszentralregister gewonnen werden. Die entsprechenden Gerichtsakten aus vorausgegangenen Verfahren können dann über das zuständige Gericht zur Einsichtnahme angefordert werden. Die Beurteilung der Anlasstat erfolgt zweistufig, wobei die erste Stufe die diagnostische (oder auch psychiatrische) Ebene darstellt. Hierbei muss der forensisch-psychiatrische Sachverständige in seiner Begutachtung zunächst das Vorliegen einer Verhaltensauffälligkeit von Krankheitswert zum Tatzeitpunkt prüfen. Bejahendenfalls muss er eine Diagnose nach ICD-1O oder DSM-IV stellen. Diese operationalisierte Diagnostik macht die psychiatrische Diagnosestellung nachvollziehbar und somit zumindest durch einen etwaigen anderen Gutachter überprüfbar. (In der Vergangenheit gab es diverse kaum nachvollziehbare gutachterliche Diagnosekonstrukte!) Danach muss die psychiatrische Diagnose einem der vier juristischen Eingangskriterien (krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn oder schwere andere seelische Abartigkeit) zugeordnet werden. Es ist zu betonen, dass nicht jede psychiatrische Erkrankung nach ICD-1O einem juristischen Eingangskriterium zugeordnet werden kann. So kann beispielsweise nur unter bestimmten Bedingungen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung dem unbestimmten Rechtsbegriff einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden. Im Falle des Vorliegens einer schizophrenen Psychose oder einer Intoxikation mit einer Droge sowie bei Vorliegen einer drogeninduzierten psychotischen Störung bei Begehung der Straftat können diese Zustände unter
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das Eingangskriterium der „krankhaften seelischen Störung“ subsummiert werden. Ein nicht seltener Fall ist die unter die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ zu subsummierende Affektat unter Rauschmitteleinfluss, klassischerweise als Tötung des Intimpartners unter Alkoholeinfluss (Maatz 2005, S. 1389 ff.). Bei diesem Eingangskriterium sind einige juristische Details zu beachten, die der Prävention von Straftaten dienen, indem eine De- oder Exkulpation verworfen werden kann. Die umstrittene Rechtsfigur der actio libera in causa besagt, dass ein Täter noch vor Herbeiführung eines Rausches den Entschluss zur Begehung einer bestimmten Straftat im Rausch fällt. Diese Rechtsfigur fokussiert auf die Planungsebene und ist zeitlich vor der Herbeiführung eines Rausches angesiedelt, dem dann die Deliktbegehung im Rausch folgt (ebd., S. 1395 f.). Bei der auf den Affektaufbau fokussierenden Rechtsfigur des Vorverschuldens wird das „vorwerfbare Herbeiführen“ eines tatauslösenden Affektes bei entsprechend vorbestehender Affektlage unter enthemmender Alkoholeinwirkung bei für den Täter vorhersehbarer Tat juristisch gewürdigt (ebd., S. 1395 ff.). Der Tatbestand des Vollrausches (§ 323 a StGB) hebt dezidiert auf das Wechselspiel von Intoxikation und Affekt ab. Er stellt einen so genannten Auffangstatbestand dar, d. h. er wird angewandt, wenn die Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist und weder die actio libera in causa noch das Vorverschulden Anwendung finden können (ebd., S. 1398). Beim Eingangskriterium des Schwachsinnes, das alle Intelligenzminderungen ohne nachweisbare organische Veränderungen abdeckt, kann durchaus eine Intoxikation bei geringer Rauschmitteltoleranz ein Triggerfaktor im Sinne eines konstellativen Faktors für die Tatbegehung sein. Im seltenen Falle eines schweren Substanzentzugssyndroms bei der Begehung einer Straftat kann dieses unter das Eingangskriterium der „krankhaften seelischen Störung“ subsummiert werden. Darüber hinaus kann die Angst vor einem Entzugssyndrom unter die „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ subsummiert werden. Dies kann genau dann erfolgen, wenn die Angst des chronisch Suchtmittelabhängigen vor einem Entzugssyndrom, auch als „Ahnung des beginnenden Entzuges“ (Täschner 1987, S. 330) beschrieben, mit einer suchtmittelbedingten Persönlichkeitsentdifferenzierung, einer so genannten Depravation, einhergeht. Die zweite Stufe ist die normative Ebene, in der die Einsichtsfähigkeit und die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zu prüfen sind. Kann ein Proband das Unrecht der Tat im Zustand der Intoxikation nicht mehr vollends einsehen oder gar nicht mehr einsehen, so ist die Einsichtsfähigkeit gemindert oder aufgehoben. Einsichtsfähigkeit ist nach Glatzel (1996, S. 799) wie folgt definiert: „Einsicht bezeichnet das unmittelbare Verstehen eines Sachverhaltes, das Erkennen der Zusammenhänge, der Ursachen und Wirkungen eines Geschehens und einer Handlung. Einsichtiges Verhalten ist also das einer Aufgabe angepasste und insoweit normgemäße Verhalten.“ Bei einer Substanzabhängigkeit kann die Einsichtsfähigkeit bei
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Vorliegen einer schweren Intoxikation oder substanzinduzierten psychotischen Störung aufgehoben sein. Es ist aber durchaus nicht so, dass jede Intoxikation zum Zeitpunkt einer Straftat die Einsichtsfähigkeit aufhebt. So kann im Falle des Vorliegens einer Substanzabhängigkeit infolge der damit einhergehenden Toleranzentwicklung ein Proband auch nach Substanzzufuhr einsichtsfähig zum Tatzeitpunkt handeln. Bei Vorliegen einer drogeninduzierten psychotischen Störung zum Tatzeitpunkt spielt die Tatanalyse eine wesentliche Rolle zur Beurteilung der Einsichtsfähigkeit. Ein akutes Entzugssyndrom ist ebenfalls abgestuft von leicht ausgeprägt bis hin zum Delir quantifizierbar. Die Einsichtsfähigkeit kann also auch in einem unterschiedlichen Maße bei der Tatbegehung tangiert sein. Um diese richtig zu beurteilen, ist eine detaillierte Tatanalyse von erheblicher Bedeutung. Konnte der Proband bei erhaltener Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat nicht nach dieser Einsicht handeln, so war seine Steuerungsfähigkeit gemindert oder aufgehoben. Die Steuerungsfähigkeit ist eine quantifizierbare Größe, d. h. sie greift eine Handlungsbreite auf einem Kontinuum ab, das von steuerungsfähig über vermindert steuerungsfähig bis hin zu nicht steuerungsfähig reicht. Zur Einschätzung der Steuerungsfähigkeit eines zum Tatzeitpunkt intoxikierten Täters sollte ein die Psychopathologie veranschaulichender deskriptiv-phänomenologischer Ansatz (ebd., S. 802) gewählt werden. Bei ihrer Beurteilung sollte gutachterlich immer Bezug auf das anzuwendende diagnostische Eingangskriterium genommen werden. Bei der unter die „krankhaften seelischen Störungen“ fallenden Intoxikation ist der Grad der Intoxikation zu quantifizieren. Hier kann es relevant werden, dass ein Suchtmittelabhängiger mehr Suchtmittel als üblich beziehungsweise mehr als lediglich zur Milderung seiner Entzugssymptome notwendig, eingenommen hat (Schramm u. Kröber 1994, S. 206). Eine schwere Entzugssymptomatik kann nur dann unter die „krankhaften seelischen Störungen“ und eine Angst vor einer Entzugssymptomatik nur dann unter die „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ subsummiert werden, wenn zum Zeitpunkt der Anlasstat beim Täter eine durch die Suchtmittelabhängigkeit eingeschränkte Lebensführung mit Persönlichkeitsentdifferenzierung (Depravation) gutachterlich festgestellt werden kann. Eine solche Depravation gilt als reversible Störung. Deshalb sollte eine Begutachtung des Probanden tatzeitnah erfolgen. Die hieraus resultierenden Straftaten sind, der Wahrscheinlichkeit nach, nicht komplex und nicht von hohem Planungsgrad, sondern entstehen aus einer alltäglichen „günstigen“ Gelegenheit (ebd., S. 206 ff.). Bei der unter die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ fallenden Affekttat unter dem konstellativen Faktor einer Intoxikation ist der rasche Affektaufbau und -abbau mit nachfolgender Reue nachzuzeichnen. Kann die zum Tatzeitpunkt vorliegende psychische Störung auf der psychiatrischen Stufe einem der Eingangsmerkmale zugeordnet werden, und bestand auf der normativen Stufe zum Tatzeitpunkt eine verminderte bzw. aufgehobene Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit, so ist vom Gericht die
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Dekulpation gemäß § 21 StGB oder die Exkulpation gemäß § 20 StGB festzustellen. Im Falle des Vorliegens einer verminderten bzw. aufgehobenen Schuldfähigkeit ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Maßregel gemäß § 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (Maßregel gemäß § 64 StGB) vom Gericht zu prüfen. z Die Maßregeln gemäß §§ 63 und 64 StGB bei alkohol- und drogenkonsumierenden Rechtsbrechern Zeichnet sich im Ermittlungsverfahren bereits ab, dass nach Verhandlung des Sachverhaltes eine Unterbringung des Angeklagten gemäß den Maßregeln nach den §§ 63 (Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik) oder 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) wahrscheinlich ist, so kann dieser nach § 126 a StPO bis zur Hauptverhandlung in einer psychiatrischen Klinik oder einer Entziehungsanstalt untergebracht werden, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. (Im zweigleisigen juristischen System der Bundesrepublik ist diese Unterbringungsform für psychisch kranke Straftäter das Äquivalent zur Untersuchungshaft der psychisch gesunden Straftäter.) Zwangsmaßnahmen sind bei dieser Rechtsgrundlage nur in Notfällen erlaubt. Es soll ein Therapieangebot aufgezeigt werden. Während der Unterbringung sind keine Lockerungen durchzuführen. Die Anwendung der Maßregeln nach § 63 oder § 64 StGB ist vom Gericht (gegeneinander) abzuwägen. Ist die Delinquenz Folge einer Suchterkrankung, ist die Maßregel nach § 64, ist sie Folge einer (auch drogeninduzierten) Psychose, ist die Maßregel nach § 63 StGB zu diskutieren (Hollweg et al. 1995, S. 200). Gelangt man also gutachterlich zu der Einschätzung, dass beim Probanden eine psychische Erkrankung, die weder ein Entzugssyndrom noch eine Intoxikation ist, die Hauptdiagnose stellt und eine Intoxikation lediglich als konstellativer Faktor vorliegt, so wird eine Maßregel nach § 63 StGB vom Gericht zu prüfen sein. Eine Maßregel gemäß § 63 StGB wird vom Gericht genau dann angeordnet, wenn die Erwartung besteht, dass der Proband aufgrund seiner psychischen Störung erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Maßregel nach § 63 StGB ist zeitlich nicht begrenzt. In ihrem Verlauf müssen jährlich gemäß § 67e StPO Stellungnahmen der behandelnden Einrichtung der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorgelegt werden, damit diese prüfen kann, ob die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt oder für erledigt erklärt werden kann. Vor Aussetzung einer Maßregel nach §§ 63, 64 und 66 StGB zur Bewährung erfolgt eine Prognosebegutachtung durch einen externen Sachverständigen. Ist ein Delikt bei manifester Substanzabhängigkeit oder im Substanzentzug, im drohenden Substanzentzug oder im Rahmen einer Intoxikation bei einer Substanzabhängigkeit begangen worden und besteht die Gefahr der erneuten Begehung „erheblicher rechtswidriger Taten“ so kann vom Gericht eine Maßregel nach § 64 StGB angeordnet werden. Es kann also ne-
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ben einer Haftstrafe auch eine maximal zweijährige Unterbringung in einer Maßregelvollzugseinrichtung nach § 64 StGB (Entziehungsanstalt) angeordnet werden und zwar auch unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen nach §§ 20 und 21 StGB! Bei dieser Maßregel sind analog zum Procedere bei einer Unterbringung gemäß § 63 StGB allerdings in halbjährlichen Abständen Stellungnahmen gemäß § 67e StPO der zuständigen Strafvollstreckungskammer vorzulegen. Zur Notwendigkeit einer Maßregel nach § 64 StGB bei abhängigen Probanden müssen vom forensischen Psychiater folgende wesentliche Punkte beleuchtet werden: z Es ist zu erläutern, ob ein „Hang“ besteht, berauschende Mittel „im Übermaß“ zu sich zu nehmen, was dem suchtmedizinischen Begriff des Suchtverlangens (Cravings) als Ausdruck der psychischen Abhängigkeit entspricht. Körperliche Entzugssymptome werden dagegen nicht gefordert (Schalast u. Leygraf 1994, S. 2). z Es ist darzulegen, ob die Anlasstaten auf den Hang zurückgehen, also symptomatischen Charakter für die Suchterkrankung haben. Der Hang wird definiert als „eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder lebensgeschichtlich erworbene den Täter treibende oder beherrschende Neigung“ (Nedopil 2000, S. 27). Das heißt, es ist abzuschätzen, inwieweit die Straftaten durch die Sucht oder den durch sie bedingten sozialen Verfall bedingt sind (Schalast u. Leygraf 1994, S. 2). z Es ist darzulegen, ob die Gefahr der Begehung erneuter erheblicher rechtswidriger Taten besteht. Dies ist bei abhängigen Straftätern bei entsprechender suchtbedingter Vordelinquenz oftmals zu bejahen (ebd., S. 2). z Darüber hinaus muss der Sachverständige in der Hauptverhandlung gemäß § 246 a StPO Stellung zum psychischen Zustand des Angeklagten und zur Erfolgsaussicht einer Behandlung gemäß §§ 63 oder 64 StGB beziehen. Eine Unterbringung gemäß § 64 StGB ist nach der Gesetzesnovelle 2007 nur bei „hinreichend konkreter Aussicht auf Heilung oder Erzielung einer längerfristigen Abstinenz“ mit positiver Auswirkung auf die Legalprognose anzuordnen. Von einer fehlenden Erfolgsaussicht kann auch nach der Gesetzesnovelle nur bei einer massiven Ablehnung der Behandlung durch den Probanden, bei schon vorbekannter Therapieresistenz (zahllose erfolglose Aufenthalte in Einrichtungen zur qualifizierten Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung) und bei ausgeprägtem kriminellem Selbstkonzept ausgegangen werden (ebd., S. 3). Dieser Begutachtungsschritt entspricht de facto auch einer Überprüfung der psychiatrischen Indikation zur Einweisung in eine Entziehungsanstalt und ist somit auch psychiatrisch sinnvoll, um die von den Maßregeleinrichtungen vielbeklagten Fehlzuweisungen zu vermeiden. Leygraf (1987, S. 234) ermittelte, dass bei jedem vierten nach § 64 StGB Untergebrachten die Maßregel ohne Sachverständigengutachten vom Gericht angeordnet wurde. Die Wertigkeit der prognostischen Einordnung im Rahmen des Gerichtsverfahrens als „erster Filter“ ist nach Leygraf (1995, S. 213) jedoch
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Tabelle 2.4.14. Qualität von 104 Gutachten zur Unterbringung von alkoholabhängigen Straftätern gemäß § 64 StGB nach Schalast und Leygraf (1994, S. 1–12) Keine Stellungnahme „Hang zum Übermaß“ 1 Symptomcharakter der Tat 9 Legalprognose 19 Behandlungsprognose 29
Aspekt erwähnt Aspekt erörtert 12 49 51 37
91 46 34 37
nicht zu hoch zu bewerten. Er verweist auf die höhere Wertigkeit der Prognose des „zweiten Filters“ im Rahmen der Unterbringung in der Maßregel als Resultat einer Verlaufsbeobachtung. Schalast und Leygraf (1994, S. 1 ff.) kommen bei Durchsicht von 104 Gutachten zur Unterbringung von alkoholabhängigen Straftätern zu einem ernüchternden Ergebnis zur Qualität der Gutachten zur Unterbringung gemäß § 64 StGB (s. Tabelle 2.4.14). Diese Studie lässt die später einsetzenden Bemühungen der Verbesserung der fachlichen Qualifikation der forensischen Gutachter durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde im Rahmen der gesellschaftsinternen Zertifizierung oder durch die Landesärztekammern im Rahmen des Erreichens einer Schwerpunktbezeichnung als äußerst sinnvoll erscheinen. Vor einer Unterbringung in einer Maßregelvollzugseinrichtung hat nach Leygraf die Überprüfung der Prognose für den Erfolg der Maßnahme auch den Sinn, dem Verurteilten gegebenfalls ein weiteres Misserfolgserlebnis mit der Konsequenz der Verfestigung krimineller Werte zu ersparen. Die gerichtlich verfügte Unterbringung nach § 64 StGB ist bei Aussichtslosigkeit eines Behandlungserfolges nach § 67 d Abs. 5 StGB zu beenden. In der Regel wird zunächst die Maßregel gemäß § 64 StGB und erst dann die zusätzliche Haftstrafe vollstreckt (Vollstreckungsreihenfolge gemäß § 67 Abs. 1 StGB). In begründeten Ausnahmefällen kann eine Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge vom Gericht angeordnet werden und zwar: z wenn die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge eine Verbesserung der Perspektive im Sinne der Resozialisierung erwarten lässt, z wenn eine Entlassung aus der Maßregel selbst erfolgen soll, und ein anderes Prozedere den Therapieerfolg gefährden könnte. Die Behandlungs-, Lockerungs- und Urlaubsbedingungen in den Maßregeln nach §§ 63 oder 64 StGB werden durch die Maßregelvollzugsgesetze der Länder geregelt. Eine Entlassung aus der Unterbringung nach § 64 StGB kann aus folgenden Gründen erfolgen: z Es kann vor Ablauf der Maßregel eine günstige Sozialprognose gestellt werden und die Maßregel wird zur Bewährung ausgesetzt. Es tritt damit Führungsaufsicht ein.
2.4 Drogendelinquenz
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z Die Maßregel wird regulär nach der Maximaldauer von zwei Jahren beendet. z Die Behandlung erscheint aussichtslos. In diesem Fall muss die Freiheitsstrafe verbüßt werden. Über die vorzeitige Beendigung der Behandlung entscheidet die zuständige Strafvollstreckungskammer. Nach der Beendigung einer Maßregel kann Führungsaufsicht eintreten. Diese kann mit Weisungen verknüpft werden, so z. B. die Teilnahme an Therapien oder die Neuroleptikadepotgabe, die Gabe von Anticravingsubstanzen, Anbindung an Suchthilfeorganisationen in der Heimatstadt. Dem Probanden wird ein Bewährungshelfer beigeordnet. Pfaff (1998, S. 572) berichtete anhand von 41 bedingt aus der Maßregel nach § 64 StGB entlassenen alkoholabhängigen Patienten von einer Legalbewährung von 63% und einer Abstinenzquote von 37% nach durchschnittlich 25,3 Monaten. Bei der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB handelt es sich um eine Maßnahme, die ohne jedweden psychiatrischen Behandlungsauftrag lediglich zum Schutz der Allgemeinheit gegen den Verurteilten angeordnet werden kann (Nedopil 2000, S. 26 f.). Zudem müssen infolge des Hanges des Täters zu erheblichen Straftaten Gefahren für potenzielle Opfer in einer körperlichen und/oder seelischen Schädigung oder in einer potenziellen schweren wirtschaftlichen Schädigung bestehen und somit eine Gefährdung der Allgemeinheit vom Täter ausgehen (ebd., S. 27). Wenn die zuständige Staatsanwaltschaft eine Sicherungsverwahrung beantragt, ist ein forensisch-psychiatrisches Gutachten anzufertigen, das den „Hang“ zu erheblichen Straftaten sowie die Kriminalprognose des Probanden wertet (ebd., S. 27). Die Anordnung dieser Maßregel ist nach zehn Jahren für erledigt zu erklären, wenn keine Straftaten mit schwerer körperlicher oder seelischer Schädigung des Opfers mehr drohen. Bei entsprechend negativer Prognose ist die Verlängerung möglich. Die Sicherungsverwahrung kann auch angeordnet werden, wenn die Bedingungen für eine Maßregel nach §§ 63 und 64 nicht erfüllt sind (Kröber 2005, S. 54 f.).
z Prognosegutachten bei alkohol- und drogenkonsumierenden Rechtsbrechern Forensisch-psychiatrische Prognosegutachten werden in den folgenden Fällen vom Gericht angefordert: z vor Anordnung einer Maßregel gemäß §§ 63, 64 und 66 StGB, z vor Entlassung aus den Maßregeln gemäß §§ 63 und 66 StGB, z während des Vollzuges einer Maßregel (Überprüfung der Maßregel gemäß § 67e StGB) und einer Freiheitsstrafe, z vor Lockerungen bei Unterbringungen nach den Maßregeln und bei Verbüßung einer Freiheitsstrafe, z vor Entlassung aus lebenslanger bzw. zeitiger Freiheitsstrafe.
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Es werden hierbei drei Prognosemöglichkeiten unterschieden. Zum einen ist dies die intuitive Prognose, welche gewissermaßen „aus dem Bauch heraus“ gestellt wird, aber den Anforderungen an ein Gutachten mit solcher Tragweite nicht gerecht wird. Die statistische Prognose bedient sich statistischer Prognosetafeln. Hierbei verliert das Individualschicksal des Probanden an Bedeutung für das Gutachten. Die klinische Prognose bedient sich der klassischen psychiatrischen Untersuchungen und Verhaltensbeobachtungen im Längs- und Querschnitt. In ihrem Mittelpunkt steht das Individuum. Ein pragmatisches Prognosegutachten bedient sich sowohl der statistischen als auch der klinischen Prognose (Leygraf u. Nowara 1992, S. 46). Die folgende Übersicht führt die wesentlichen Diskussionspunkte bei der Erstellung eines Prognosegutachtens auf. Es ist zu betonen, dass eine bloße Abarbeitung von Checklisten für ein Prognosegutachten nicht ausreicht. Es ist vielmehr die Diskussion der Checklistenitems und das gewonnene Gesamtbild für den betreffenden Prognosefall notwendig. z Einige Kriterien zur Prognosebeurteilung angelehnt an Leygraf u. Nowara (1992, S. 47–52) Anamnestische Befunde z Herkunftsfamilie z biografische Entwicklung z Täter-Opfer-Beziehung z konstellative Faktoren der Tat z Alkohol- und/oder Drogeneinfluss zum Tatzeitpunkt Persönlichkeitsmerkmale/Krankheitsmerkmale z Persönlichkeitsfaktoren z Suchtpotenzial z andere psychiatrische Erkrankungen Verlaufsbefunde z persönliche Eigenschaften (Frustrationstoleranz, Impulskontrolle, Kooperation, Motivation, Antrieb) z Reflektionsfähigkeit (Krankheitseinsicht, Auseinandersetzung mit der eigenen Delinquenz) z Wirken spezifisch-psychiatrischer Medikation und therapeutischer Prozesse z soziale Fähigkeiten (Bindung an Therapeuten, Familie, Patientengruppe) z Umgang mit Suchtmitteln z realistische Zukunftsplanung z Entweichungen Perspektiven z sozialer Empfangsraum z Berufstätigkeit und Durchhalten von Berufstätigkeit z ambulante Nachsorge.
2.4 Drogendelinquenz
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Für einen drogenkonsumierenden Delinquenten teilt sich die klinische Prognose in drei wesentliche Bereiche: z Prognose der Suchterkrankung. Hierbei ist ein Rückfall bei Drogenabhängigkeit stets ein erneuter Straftatbestand, da er den Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln voraussetzt. Im Falle eines Rückfalles bei alleiniger Alkoholabhängigkeit liegt kein erneuter Straftatbestand vor; z Prognose einer etwaigen komorbiden psychischen Störung; z Prognose des Selbstkonzeptes als Teil der Persönlichkeit des Probanden, der entweder im bürgerlichen oder im kriminellen Wertesystem sozialisiert ist.
2.4.3.5.2 Alternative Behandlungsmaßnahmen nach dem Betäubungsmittelgesetz Lässt sich eine Straftat auf eine Drogenabhängigkeit zurückführen und wird eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren angeordnet, kann die zuständige Staatsanwaltschaft die Strafe oder eine Maßregel gemäß § 64 StGB unter Zustimmung des Gerichtes gemäß § 35 BtmG zurückstellen. In gleicher Weise kann auch mit Strafresten gemäß § 35 BtmG verfahren werden. Bei der Strafzurückstellung gemäß § 35 BtmG wird gemäß § 36 BtmG die Behandlungszeit bis zu zwei Dritteln auf die Freiheitsstrafe angerechnet. Der dann noch bestehende Strafrest kann zur Bewährung ausgesetzt werden (näher dazu Jehle in Band 1 des Handbuchs, S. 349 ff.). Dies bedeutet für den Verurteilten entweder eine ambulante oder stationäre Therapie der Suchterkrankung. Die ambulanten Therapien bei dieser Rechtsgrundlage können abstinenzorientiert (z. B. durch den Opiatantagonisten Nemexin® gestützt) oder bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß den Richtlinien über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (BUB-Richtlinien) (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen 2001) und der Bundesärztekammer substitutionsorientiert erfolgen. Als Voraussetzung einer Substitution nach den BUB-Richtlinien sind zu nennen: z Mindestalter von 18 Jahren und z mindestens zwei Jahre bestehende Opiatabhängigkeit und z die Substitutionsbehandlung muss als die derzeit chancenreichste Behandlungsform in Abwägung zu anderen Therapieoptionen angesehen werden. Bei der ambulanten Form der Behandlung nach § 35 BtmG müssen in der Regel in monatlichen Abständen Bewertungen der Therapeuten über den Probanden an die zuständige Staatsanwaltschaft versandt werden. Darin sind auch die Ergebnisse der begleitenden Urinkontrollen auf Suchtmittel anzugeben. Bei Therapieabbruch ist die zuständige Staatsanwaltschaft umgehend zu informieren.
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Die stationären Entwöhnungsmaßnahmen sind allesamt abstinenzorientiert und langfristig (sechs bis zwölf Monate) angelegt und schließen auch Nachsorgephasen ein (so genannte Adaptationsphasen). Eine dem § 35 BtmG entsprechende Maßnahme gibt es nicht für Alkoholabhängige, obschon eine solche auch für das Klientel der alkoholabhängigen Rechtsbrecher sinnvoll wäre (Schalast u. Leygraf 1999, S. 490).
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2.4 Drogendelinquenz
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
2.5
Straßenverkehrsdelinquenz
2.5.1
Juristische und kriminologische Grundlagen zur Straßenverkehrsdelinquenz H. Schöch
2.5.1.1
Juristische Grundlagen
2.5.1.1.1 Begriff des Straßenverkehrsrechts Zum Straßenverkehrsrecht gehören alle Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die der Erhaltung der Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Straßenverkehr dienen. Die Normen des Straßenverkehrsrechts gehören teils zum Verwaltungsrecht, insbesondere das Straßenverkehrsgesetz (StVG), die Straßenverkehrsordnung (StVO) und die Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO). Teilweise handelt es sich auch um zivilrechtliche Regelungen (z. B. die Haftungstatbestände gemäß §§ 7 ff. StVG und das Pflichtversicherungsgesetz). Für den forensischen Bereich stehen im Mittelpunkt die straf- und bußgeldrechtlichen Vorschriften, also die Verkehrsstraftaten nach dem Strafgesetzbuch (StGB) und die Ordnungswidrigkeiten nach dem StVG. Diese werden im Folgenden dargestellt. Die verwaltungsrechtlichen Normen werden in Band 5 behandelt.
2.5.1.1.2 Verkehrsstrafrecht z Die Unterscheidung zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) definiert eine Ordnungswidrigkeit als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die mit Geldbuße sanktioniert ist; daher wird häufig auch der Begriff Bußgeldtatbestand verwendet. Als Straftat hingegen wird eine Handlung bezeichnet, die gesetzlich mit Strafe (Freiheitsstrafe und Geldstrafe) bedroht ist. Diese formellen Definitionen zeigen, dass Geldbußen einerseits und Strafen andererseits Sanktionen für das Zuwiderhandeln gegen staatliche Ge- und Verbote und damit staatliche Reaktionen auf begangenes Unrecht darstellen. Sie sagen aber noch nichts darüber aus, wann der Gesetzgeber für unrechtes Handeln lediglich eine Geldbuße vorsieht und wann er zur Strafe greift. Bei einem gravierenden Angriff auf ein Rechtsgut und bei hoher Sozialschädlichkeit der Tätergesinnung ist ein schweres sozialethisches Unwerturteil und damit die Einstufung des unrechten Handelns als Straftat geboten (Jescheck u. Weigend 1996, S. 58 f.). Die Geldbuße als Folge einer begangenen Ordnungswidrigkeit hat hingegen den Charakter eines bloßen „Denkzettels“ beziehungsweise eines „Ordnungsrufes“. Bei der Beantwortung der Frage, ob begangenes Unrecht strafwürdig ist, oder die mildere
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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Ahndung als Ordnungswidrigkeit ausreicht (Subsidiarität des Strafrechts), hat der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum, dessen Ausnutzung maßgeblich durch gesellschaftliche Anschauungen über die Sozialschädlichkeit des Verhaltens geprägt wird. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten besteht zudem in der Sanktionierungskompetenz; während für die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten die Verwaltungsbehörden zuständig sind, können Strafen nur von Gerichten verhängt werden. Auch gilt eine wegen Verstoßes gegen einen Bußgeldtatbestand belangte Person nicht als vorbestraft, da kein Eintrag ins Bundeszentralregister erfolgt. z Straftatbestände Während die breite Masse der straßenverkehrsrechtlichen Normverstöße als bloße Ordnungswidrigkeit nach der Straßenverkehrsordnung (StVO), der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) und dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) geahndet wird (s. 2.5.1.1.3), hat der Gesetzgeber einige wenige verkehrsrechtliche Normverstöße als Straftaten in das StGB aufgenommen. Einige weniger gewichtige verkehrsrechtliche Straftatbestände ergeben sich aus dem StVG, dem Pflichtversicherungsgesetz (PflVersG) sowie dem Kraftfahrzeugsteuergesetz (in Verbindung mit der Abgabenordnung). z Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB). § 316 StGB bestraft das Fahren im Zustand der alkohol- oder rauschmittelbedingten Fahrunsicherheit. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist, dass der Fahrer infolge des Genusses von Alkohol oder anderer berauschender Mittel „nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen.“ Unter den Begriff der anderen berauschenden Mittel fallen alle auf das zentrale Nervensystem wirkenden Substanzen, insbesondere alle Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtmG) und auch die auf das zentrale Nervensystem einwirkenden Medikamente, vor allem Morphinderivate, Neuroleptika und Psychopharmaka, insbesondere Benzodiazepine (Schöch 1996, S. 452 ff.; Kauert 1996, S. 447 ff.). Als fahrunsicher gilt ein Kraftfahrzeugfahrer nach der gängigen Definition in Rechtsprechung und Literatur dann, wenn „seine Gesamtleistungsfähigkeit, besonders infolge Enthemmung sowie geistig-seelischer und körperlicher Leistungsausfälle, soweit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, und zwar auch bei plötzlichem Auftreten schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern“ (BGHSt 13, 83, 90). Dabei ist zu unterscheiden zwischen absoluter und relativer Fahrunsicherheit. Absolute Fahrunsicherheit liegt vor, wenn der Fahrer eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,1 Promille und mehr aufweist. Ab diesem Grenzwert wird die Fahrunsicherheit unwiderleglich vermutet. Bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,3 bis 1,1 Promille bedarf es zum Nachweis der (relativen) Fahrunsicherheit zusätzlich alkoholbedingter Ausfallerschei-
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nungen, welche die Fahrunsicherheit indizieren (z. B. Fahren in Schlangenlinien). Bei Drogen und Medikamenten gibt es bislang keine wissenschaftlich anerkannten Grenzwerte für die absolute Fahrunsicherheit, sodass es hier in jedem Fall des Nachweises relativer Fahrunsicherheit aufgrund eines Fahrfehlers oder sonstiger Ausfallerscheinungen bedarf. z Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c StGB). § 315 c StGB bestraft Gefährdungen, die sich allein aus der Missachtung von Verkehrsvorschriften ergeben („verkehrsinterne Pflichtverstöße“). Dabei enthält § 315 c Abs. 1 StGB zwei unterschiedliche Typen von Tathandlungen: Paragraf 315 c Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst das Fahren trotz bestehender Fahrunsicherheit, und zwar entweder aufgrund des Konsums von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln (Nr. 1 a) oder infolge geistiger oder körperlicher Mängel (Nr. 1 b). Bezüglich der Voraussetzungen einer alkohol- oder rauschmittelbedingten Fahrunsicherheit (Nr. 1 a) wird auf die Ausführungen zu § 316 StGB verwiesen. Nr. 1 b betrifft vor allem Fälle von Übermüdung, aber auch die Fahrsicherheit beeinträchtigende Krankheitsbilder wie z. B. Fieber, starke Schmerzen, Epilepsie und Sehschwäche (vgl. Jagusch u. Hentschel 2001, § 315 c StGB Rn 14). In § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB werden einige typische, besonders gefahrenträchtige Verkehrsverstöße (die sog. „sieben Todsünden“ im Straßenverkehr, z. B. Nichtbeachtung der Vorfahrt, falsches Überholen, falsches Fahren an Fußgängerüberwegen, Wenden, rückwärts oder entgegen der Fahrtrichtung Fahren auf Autobahnen) zu strafwürdigen Vergehen – im Unterschied zu den sonstigen Ordnungswidrigkeiten – hochgestuft. Diese begründen die Strafbarkeit jedoch nur, wenn sie in grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Weise begangen werden. Als rücksichtslos gilt derjenige Fahrer, der die Verkehrsregeln aus eigensüchtigen Motiven und Gleichgültigkeit gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern, allein um seines schnelleren Fortkommens willen, verletzt (vgl. BGHSt 5, 392; OLG Düsseldorf NJW 1989, 2764; Jagusch u. Hentschel 2001, § 315 c StGB Rn 21). Beiden Vorschriften gemeinsam ist die Voraussetzung einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert (mind. 750 bis 1000 1). Diese konkrete Gefährdung ist zu bejahen, wenn es zu einem Unfall oder zu einem so genannten Beinaheunfall kommt, bei dem der Schadenseintritt nur noch vom Zufall abhängt (Janiszewski 2004, S. 135). z Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315 b StGB). Zu unterscheiden ist bei dieser Vorschrift zwischen „Eingriffen von außen“ (z. B. das Werfen eines Steins von einer Autobahnbrücke auf ein Fahrzeug) und „verkehrsfeindlichen Inneneingriffen“ (z. B. gezielter zweckwidriger Einsatz des PKW als Waffe).
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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Obwohl § 315 b StGB in erster Linie verkehrsfremde, d. h. von außen auf den Straßenverkehr einwirkende Eingriffe betrifft, können auch gewisse Verkehrsvorgänge selbst von der Vorschrift erfasst sein. Voraussetzung ist allerdings, dass der Verkehrsteilnehmer sich im fließenden Verkehr gezielt verkehrsfeindlich verhält und den Verkehrsvorgang „zu einem Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315 b Abs. 1 StGB pervertiert“ (BGHSt 48, 233, 236 f.). Bloßes vorschriftswidriges Verkehrsverhalten erfüllt dagegen nicht den Tatbestand, auch dann nicht, wenn es zu einer starken Beeinträchtigung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer führt, wie z. B. beim Wenden auf der Autobahn oder wenn sich der Fahrer durch gefährliche Fahrmanöver einer Polizeikontrolle zu entziehen versucht (vgl. zum Ganzen Janiszewski 2004, S. 120; Lackner u. Kühl 2007, § 315 b Rn 4). Auch § 315 b Abs. 1 StGB setzt voraus, dass es durch die oben genannten Verhaltensweisen zu einer Gefährdung von Leib und Leben anderer Menschen oder von fremden Sachen von bedeutendem Wert kommt. z Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB). Bei der fahrlässigen Tötung muss der Täter fahrlässig den Tod einer anderen Person verursacht haben. Zur Aufklärung des genauen Unfallherganges und insbesondere der Ursächlichkeit zwischen Unfall und Todeseintritt wird bei tödlichen Verkehrsunfällen häufig eine Obduktion angeordnet (§ 87 StPO, Nr. 33 RiStBV). Der Straftatbestand der Körperverletzung setzt gemäß § 223 StGB eine „Gesundheitsschädigung“ oder „körperliche Misshandlung“ zulasten des Geschädigten voraus. Dies ist auch bei vergleichsweise geringfügigen Verletzungen infolge des Unfallgeschehens wie etwa leichten Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden, Prellungen oder Schnittwunden erfüllt. Bei einer in erster Linie psychischen Beeinträchtigung wie z. B. einem Schock kann der Tatbestand erfüllt sein, wenn zugleich körperlich spürbare Beeinträchtigungen auftreten (Janiszewski 2004, S. 196; Lackner u. Kühl 2007, § 223 Rn 4 f.). Weiterhin muss der Täter fahrlässig gehandelt haben. Der Fahrlässigkeitsvorwurf setzt voraus, dass der Täter gegen Sorgfaltspflichten verstoßen hat und den Unfall bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte voraussehen und vermeiden können. Die im Verkehr maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen ergeben sich aus den Verhaltensnormen der StVO und des StVG (z. B. Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäß § 3 StVO). Schließlich muss der Verletzungserfolg durch das pflichtwidrige Verhalten des Täters verursacht worden und diesem zuzurechnen sein. z Nötigung (§ 240 StGB). Bei der Nötigung handelt es sich nicht um ein Straßenverkehrsdelikt im engeren Sinne, sie kommt aber im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr nicht ganz selten vor. Der Tatbestand ist z. B. im Falle einer besonders behindernden oder bedrängenden Fahrweise erfüllt, wie etwa bei längerem dichtem Auffahren unter Betätigung von Blinker und (Licht-)Hupe, um den Vordermann zum
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Wechsel der Fahrspur zu bewegen (BGHSt 19, 263), beim absichtlichen Ausbremsen des Hintermannes (BGH NJW 1995, 3131, 3133; NStZ 1996, 83, 85) oder durch das gezielte Zufahren auf einen Menschen, um ihn zum Platzmachen zu veranlassen (etwa bei einem Parkplatzstreit; BayObLG NJW 1971, 768; NJW 1995, 2646). Die für den Tatbestand erforderliche Gewalt liegt nur dann vor, wenn es zu einer mittelbaren körperlichen Zwangswirkung von gewisser Intensität (hinsichtlich Art und Dauer) gekommen ist, z. B. zu Schweißausbruch, Herzschmerzen oder starkem Zittern. Eine bloß versuchte Nötigung (§ 240 Abs. 3 StGB) liegt hingegen vor, wenn sich der Vordermann durch dieses Verhalten nicht „beeindrucken“ lässt – es fehlt dann am erforderlichen Nötigungserfolg. z Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. § 142 Abs. 1 StGB verlangt von jedem Unfallbeteiligten (vgl. § 142 Abs. 5 StGB) zunächst das Verweilen am Unfallort. Dies gilt gemäß § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB grundsätzlich auch dann, wenn zunächst keine anderen feststellungsbereiten Personen vor Ort sind, wie es z. B. bei der (nächtlichen) Beschädigung eines parkenden Fahrzeugs am Fahrbahnrand häufig der Fall sein wird. Was unter einer „nach den Umständen angemessenen Zeit“ zu verstehen ist, ist einzelfallabhängig aufgrund einer Abwägung zwischen Art und Schwere des Schadens und der Zumutbarkeit des Wartens zu entscheiden (jedoch mind. 10 bis 15 Minuten; vgl. Jagusch u. Hentschel 2001, § 142 StGB Rn 39 ff.). Wer sich nach erfolglosem Ablauf der Wartezeit entfernt, hat die notwendigen Feststellungen gemäß § 142 Abs. 2 Nr. 1 StGB unverzüglich nachträglich zu ermöglichen, und zwar durch sofortige Benachrichtigung des Betroffenen oder Meldung des Unfalls bei der nächsten Polizeidienststelle (s. § 142 Abs. 3 StGB). Das bloße Hinterlassen der Personalien am Unfallort (etwa durch Anbringen einer Visitenkarte unter dem Scheibenwischer des beschädigten Fahrzeugs) genügt den Anforderungen des § 142 StGB – entgegen einer in der Bevölkerung weit verbreiteten Meinung – nicht. § 34 Abs. 1 Nr. 6 b StVO sieht zwar vor, dass ein Unfallbeteiligter Namen und Anschrift zu hinterlassen hat, wenn er sich vom Unfallort entfernt. Dies gilt aber erst nach angemessener Wartezeit. Unter einem „Unfall“ im Sinne des § 142 StGB versteht die Rechtsprechung ein plötzliches Ereignis, das zu einem nicht völlig belanglosen Personen- oder Sachschaden (mind. 25 1; vgl. Fischer 2008, § 142 Rn 7 mwN) geführt hat und mit den typischen Gefahren des Straßenverkehrs in Zusammenhang steht (BGHSt 8, 263; 24, 382). Es bedarf jedoch keines Zusammenstoßes zwischen zwei Fahrzeugen. Auch die einseitige Beschädigung z. B. eines fremden Zaunes genügt. z Fahren ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahrverbots (§ 21 StVG). Der wichtigste der im StVG enthaltenen Straftatbestände (§§ 21 bis 22 a StVG) ist das Fahren ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 StVG. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer (vorsätzlich oder fahrlässig) ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm diese entzogen
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worden ist, gegen ihn ein Fahrverbot nach § 44 StGB oder nach § 25 StVG verhängt wurde, oder obwohl der Führerschein nach § 94 StPO sichergestellt wurde. Darüber hinaus trifft die Strafbarkeit auch denjenigen, der als Kraftfahrzeughalter (vorsätzlich oder fahrlässig) zulässt, dass eine Person sein Fahrzeug in den oben genannten Fällen führt. z Sonstige Straftatbestände im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Hinzuweisen ist weiterhin auf den Straftatbestand des Kennzeichenmissbrauchs gemäß § 22 StVG (z. B. bei gezieltem Unkenntlichmachen des Kennzeichens, etwa zur Vereitelung polizeilicher Geschwindigkeitskontrollen), den Straftatbestand gemäß § 6 PflVersG (bei Gebrauch eines Fahrzeugs ohne die erforderliche Haftpflichtversicherung) sowie die Kraftfahrzeugsteuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung in Verbindung mit dem Kraftfahrzeugsteuergesetz. z Strafen und Sanktionspraxis Für die im Abschnitt „Straftatbestände“ beschriebenen Straftaten sieht das Gesetz eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe vor. Da die jeweiligen Straftatbestände nur die Obergrenze für die Freiheitsstrafe (z. B. ein Jahr bei § 316 StGB, fünf Jahre bei § 315 b Abs. 1 und § 315 c StGB) bestimmen, jedoch keine Eingrenzung des Strafrahmens nach unten vornehmen (Ausnahme § 315 b Abs. 3 StGB [Mindeststrafe von sechs Monaten]), ist hierfür auf die allgemeine Norm des § 38 Abs. 2 StGB zurückzugreifen. Danach beträgt das Mindestmaß der Freiheitsstrafe einen Monat. Allerdings ist § 47 Abs. 1 StGB zu beachten, wonach Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur in Ausnahmefällen zu verhängen sind, weshalb es in den meisten Fällen bei Geldstrafen bleibt. Diese Vorschrift beruht auf der Erkenntnis, dass der Täter durch eine kurze Freiheitsstrafe in der Regel nicht wirksam beeinflusst werden kann, gleichwohl jedoch aus seinen sozialen Verflechtungen herausgerissen und krimineller Ansteckung ausgesetzt wird (Fischer 2008, § 47 Rn 2; zum kriminologischen Hintergrund Kaiser 1996, S. 998 ff.). Für Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren sieht das Gesetz gemäß § 56 StGB die Möglichkeit der Aussetzung zur Bewährung vor, „wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“, d. h. wenn eine günstige Sozialprognose besteht. Gemäß § 56 Abs. 3 StGB wird jedoch (bei Freiheitsstrafen ab sechs Monaten) auch bei einer günstigen Sozialprognose gemäß Absatz 1 dann keine Bewährung mehr ausgesprochen, wenn die „Verteidigung der Rechtsordnung“ die Vollstreckung gebietet, d. h. wenn eine Bewährungsstrafe sich mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Allgemeinheit nicht vereinbaren ließe. Im Bereich des Verkehrsstrafrechts ist dieser Aspekt insbesondere bei den fahrlässigen Tötungen infolge Alkohol- oder Drogengenusses zu beachten (BGHSt 24, 64 ff.; BGH NJW 1990, 193; BayObLG NStZ 2005, 272; Fischer
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2008, § 56 Rn 14). Bei Ersttätern werden im Bereich des Verkehrsstrafrechts in aller Regel nur Geldstrafen verhängt. So wurden nach der Strafverfolgungsstatistik 2004 bei 180.986 Urteilen wegen Straßenverkehrsstraftaten 165.404 (91,4%) Geldstrafen ausgesprochen (Statistisches Bundesamt 2004 a, S. 104). Aufschlussreich ist zudem ein abschließender Blick auf die Sanktionspraxis bei der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) und der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB). Gesetzlich vorgesehen ist für die fahrlässige Körperverletzung ein Strafrahmen von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Die fahrlässige Tötung ist in § 222 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht. Besonders im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung machen Staatsanwaltschaften und Gerichte häufig von der Möglichkeit der ermessensabhängigen Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO Gebrauch. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bereits ein geringfügiger Verstoß gegen Regeln des Straßenverkehrs in einer unglücklichen Verkehrssituation zu einem Unfall mit Personenschaden führen kann. In solchen Fällen bietet die Anwendung der §§ 153, 153 a StPO die Möglichkeit, eine Kriminalisierung und Stigmatisierung des Fahrers zu vermeiden. z Entziehung der Fahrerlaubnis und Fahrverbot Bei Verurteilungen wegen einer Verkehrsstraftat wird neben einer Geldoder Freiheitsstrafe in der Regel auch die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß §§ 69, 69 a StGB oder ein Fahrverbot gemäß § 44 StGB ausgesprochen. Diese „Führerscheinmaßnahmen“, die den Täter in seiner Mobilität beschränken, werden von diesem häufig als viel einschneidender empfunden als die verhängte Strafe. Beim Fahrverbot handelt es sich um eine so genannte Nebenstrafe, der eine Denkzettel- und Besinnungsfunktion zukommt. Während der Dauer des Fahrverbots (§ 44 Abs. 1 StGB sieht eine Dauer von einem bis drei Monaten vor) wird der Führerschein amtlich verwahrt (§ 44 Abs. 2 S. 2 StGB). Die Verbotsfrist beginnt in Strafsachen mit der Rechtskraft des Urteils (Fischer 2008, § 44 Rn 17 a). Einen Aufschub der Wirksamkeit gibt es – im Gegensatz zum Bußgeldverfahren (vgl. § 25 Abs. 2 a StVG) – beim strafrechtlichen Fahrverbot nicht. Beim strafrechtlichen Fahrverbot gibt es auch keine Möglichkeit, dieses durch eine höhere Geldstrafe abzuwenden, selbst wenn der Führerschein für die Ausübung des Berufs benötigt wird (anders beim Fahrverbot wegen Ordnungswidrigkeiten für Ersttäter, § 25 Abs. 2 a StVG). Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis handelt es sich um eine Maßregel der Besserung und Sicherung, mit der ungeeignete Verkehrsteilnehmer für einen gewissen Zeitraum von der Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen werden sollen. Im Unterschied zum Fahrverbot, das die Wirksamkeit der Fahrerlaubnis nicht berührt, führt die Entziehung der Fahrerlaubnis zu einem Erlöschen derselben, § 69 Abs. 3 StGB. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Gericht den Täter mit der Entscheidung über die
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Entziehung der Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen qualifiziert, § 69 Abs. 1 S. 1 StGB. Im Fall eines Fahrerlaubnisentzuges ordnet das Gericht im Urteil zugleich eine Sperrfrist an, für deren Dauer der Täter keine neue Fahrerlaubnis erwerben darf. Die Sperrfrist beträgt im Regelfall zwischen sechs Monaten und fünf Jahren, § 69 a Abs. 1; in seltenen Fällen kann sie „für immer“ angeordnet werden. Nach Ablauf der Sperrfrist erhält der Täter die Fahrerlaubnis nicht automatisch zurück, sondern muss diese neu erwerben. Ob und unter welchen Voraussetzungen die Führerscheinbehörde dem Täter die Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist wieder erteilt, richtet sich nach der Fahrerlaubnisverordnung (FeV, s. dazu das Kapitel über die verwaltungsrechtlichen Normen des Straßenverkehrsrechts in Bd. 5). In dieser Verordnung ist insbesondere geregelt, ob der Täter zum Wiedererwerb seiner Fahrerlaubnis eine medizinisch-psychologische Untersuchung durchlaufen muss. Beispielsweise ist eine solche nach § 13 Nr. 2 c FeV zwingend vorgeschrieben, wenn der Täter wegen eines Trunkenheitsvergehens (§ 316 oder § 315 c Nr. 1a StGB) mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,6 Promille verurteilt wurde. Sowohl das Fahrverbot als auch die Entziehung der Fahrerlaubnis setzen dem gesetzlichen Wortlaut nach die Verurteilung wegen einer Straftat voraus, die „bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen“ wurde. Dies ist bei den oben beschriebenen Verkehrsstraftaten der Fall (s. § 69 Abs. 2 StGB). Aber auch sonstige Straftaten, die nicht dem engeren Bereich der Straßenverkehrsdelinquenz zuzuordnen sind, können Führerscheinmaßnahmen nach §§ 69, 69 a oder 44 StGB zur Folge haben. z Strafverfahren z Ermittlungsverfahren Es wird von der Staatsanwaltschaft geleitet, die sich hierfür weitgehend der Polizei bedient, und dient der Feststellung, ob ein hinreichender Verdacht dafür besteht, dass ein bestimmter Beschuldigter eine strafbare Handlung begangen hat. Es findet seinen Abschluss mit der Erhebung der öffentlichen Klage durch Einreichung einer Anklageschrift beim zuständigen Gericht (§ 170 Abs. 1 StPO) oder mit der Einstellung des Verfahrens aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bei unzureichendem Tatverdacht (§ 170 Abs. 2 StPO) beziehungsweise wegen Geringfügigkeit (§§ 153 ff. StPO). Unter der Vielzahl der Ermittlungen sind für die Straßenverkehrsdelinquenz insbesondere die beiden folgenden strafprozessualen Zwangsmaßnahmen relevant. z Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und Sicherstellung des Führerscheins. Paragraf 111 a StPO ermöglicht die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch gerichtlichen Beschluss in Erwartung einer Entscheidung nach §§ 69, 69 a StGB. Dadurch wird sichergestellt, dass beispielsweise ein Trunkenheitsfahrer bereits für die Dauer des Strafverfahrens von der Ver-
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kehrsteilnahme ausgeschlossen wird und andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr (durch erneute Verkehrsdelikte) gefährden kann. § 94 Abs. 3 StPO ermöglicht die Beschlagnahme des Führerscheins zur Vorbereitung einer vorläufigen Entziehung nach § 111 a StPO (vgl. Meyer-Goßner 2007, § 111a Rn 15). Gemäß § 98 Abs. 1 StPO kann die Beschlagnahme nicht nur durch den Richter, sondern bei „Gefahr im Verzug“ auch durch die Staatsanwaltschaft oder Polizei angeordnet werden. Dies bedeutet, dass bereits der kontrollierende Polizeibeamte vor Ort dem Verkehrsdelinquenten, der aufgrund seiner Straftat mit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis rechnen muss (z. B. einem Trunkenheitsfahrer), den Führerschein abnehmen und somit die von diesem Verkehrsteilnehmer ausgehende Gefahr für die Verkehrssicherheit beenden kann. Wird gegenüber einem Verkehrsteilnehmer fälschlicherweise eine Maßnahme nach § 94 Abs. 3 oder § 111 a StPO verhängt, etwa weil der Polizeibeamte irrtümlich von den Voraussetzungen einer Verkehrsstraftat ausgeht (z. B. weil er trotz nur vager Indizien für eine Drogenbeeinflussung des Fahrers von einer Straftat nach § 316 StGB ausgeht und der anschließende Bluttest keinen Drogennachweis erbringt), so kann dies in bestimmten Fällen Entschädigungsansprüche nach dem StrEG (Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen) auslösen. z Blutentnahme nach § 81 a StPO. Danach ist – auch ohne Einwilligung des Beschuldigten – die Entnahme von Blutproben zulässig. Dies ist insbesondere zur Feststellung einer Alkohol- oder Drogenbeeinflussung von Bedeutung. Für die von der Polizei als Vortest verwendeten Atemalkohol- und Drogenschnelltestverfahren (letztere in der Regel auf Speichelbasis) fehlt dagegen bislang eine gesetzliche Regelung, weshalb diese Tests nur mit Einwilligung des Beschuldigten durchgeführt werden können. z Zwischenverfahren. Es beginnt mit der Einreichung der Anklageschrift bei dem für die spätere Hauptverhandlung zuständigen Gericht, das in diesem Verfahrensstadium prüft, ob der Beschuldigte hinreichend verdächtig ist, die in der Anklage vorgeworfene Tat begangen zu haben. Wird dies – wie im Regelfall – bejaht, so erlässt das Gericht den Eröffnungsbeschluss (§§ 203, 207 StPO), mit dem das Hauptverfahren eröffnet wird. z Hauptverfahren. Dessen Höhepunkt ist die öffentliche Hauptverhandlung (§§ 226 ff. StPO), in der sich das Gericht nach eingehender Vernehmung des Beschuldigten und unmittelbarer Beweisaufnahme die Überzeugung verschafft, ob der Beschuldigte zu verurteilen oder freizusprechen ist oder ob das Verfahren einzustellen ist. Die meisten Verkehrsstrafsachen werden in kürzeren Hauptverhandlungen beim Einzelrichter eines Amtsgerichts verhandelt, jedoch gibt es – insbesondere bei fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr – auch längere Verhandlungen beim Schöffengericht oder – ausnahmsweise bei besonders schweren Taten oder komplizierten Verfahren – bei einer Strafkammer des Landgerichts.
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z Strafbefehl. Sofern das Verfahren in hierfür geeigneten Fällen nicht bereits durch eine Ermessensentscheidung gemäß §§ 153 a, 153 StPO zur Einstellung führt, wird in der Praxis – vor allem bei Ersttätern, die keine Freiheitsstrafen zu erwarten haben – häufig ein Strafbefehl erlassen. Dieser wird dem Täter auf dem Postwege zugestellt (§§ 407 ff. StPO). Akzeptiert der Täter die im Strafbefehl festgesetzte Strafe (§ 407 Abs. 1 und 2 StPO), so wird der Strafbefehl ohne Hauptverhandlung rechtskräftig. In diesem Fall steht der Strafbefehl einem Urteil gleich, § 410 Abs. 3 StPO. Andernfalls kann der Täter gegen den Strafbefehl Einspruch einlegen mit der Folge, dass es – wie auch nach einer staatsanwaltschaftlichen Anklageschrift – zu einer öffentlichen Hauptverhandlung kommt, §§ 410 Abs. 1, 411 Abs. 1 StPO. Das Strafbefehlsverfahren dient der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung und erspart dem Täter die Belastungen einer öffentlichen Hauptverhandlung.
2.5.1.1.3 Verkehrsordnungswidrigkeiten z Allgemeines Die breite Masse der Normverstöße im Straßenverkehr wird nicht straf-, sondern ordnungswidrigkeitenrechtlich geahndet. Das dem Strafrecht innewohnende sozialethische Unwerturteil greift hier nicht (Schöch 1993, S. 578). Die Grundlage für die Ahndung der Verkehrsordnungswidrigkeiten bildet § 24 StVG. Danach kann jeder Verstoß gegen eine Vorschrift einer auf Grundlage des StVG erlassenen Rechtsverordnung (z. B. der StVO oder StVZO) beziehungsweise gegen eine darauf basierende Anordnung als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße geahndet werden, sofern die Rechtsverordnung insoweit ausdrücklich auf § 24 StVG verweist. Ein Überblick über die wichtigsten Tatbestände, das Bußgeldverfahren und die Sanktionen findet sich bei Schöch und Mettke-Lenz (2008). Hier kann aus Platzgründen nur die verkehrspolitisch und forensisch bedeutsamste Vorschrift behandelt werden. z § 24 a StVG Diese Norm erfasst das Fahren unter dem Einfluss von Alkohol (Abs. 1) oder bestimmten Drogen (Abs. 2) in den Fällen, in denen noch keine Straftat nach §§ 316, 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB (zu den einschlägigen Straftatbeständen s. Abschn. „Straftatbestände“) vorliegt. Nach § 24 a Abs. 1 StVG handelt ordnungswidrig, wer mit 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in der Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr Alkohol im Blut (oder einer Alkoholmenge im Körper, die zu einer solchen Atem- oder Blutalkoholkonzentration führt) ein Kraftfahrzeug führt. Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen schon Blutalkoholkonzentrationen zwischen 0,5 und 1,0 Promille in der Regel (im statistischen Durchschnitt) erhebliche Verkehrsgefahren infolge Enthemmung
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und erhöhter Risikobereitschaft bewirken, auch wenn sich noch keine konkreten Ausfallerscheinungen, wie sie für die Fahrunsicherheit im Sinne von §§ 316, 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB erforderlich sind, nachweisen lassen (Jagusch u. Hentschel 2001, § 24 a StVG Rn 7). Die Vorschrift hat in den letzten Jahren wesentliche Änderungen erfahren. So galt bis zum Jahr 1998 ein Grenzwert von 0,8 Promille Blutalkoholkonzentration. Zum 1. 8. 1998 wurde ein zusätzlicher Grenzwert von 0,5 Promille mit unterschiedlichen Rechtsfolgen (bei 0,5-Promille-Verstößen nur Geldbuße, bei 0,8-Promille-Verstößen höhere Geldbuße und Fahrverbot) eingeführt (zum Zustandkommen des 0,5 Promille Grenzwerts s. Jagusch u. Hentschel 2001, § 24 a StVG Rn 1 ff.). Mit der Änderung zum 1. 8. 1998 wurden außerdem erstmals Atemalkoholgrenzwerte eingeführt. Da das Nebeneinander der beiden Grenzwerte mit unterschiedlichen Rechtsfolgen jedoch nicht zur Rechtsklarheit beitrug, wurde zum 1. 4. 2001 ein einheitlicher Grenzwert von 0,5 Promille BAK beziehungsweise der entsprechenden Atemalkoholkonzentration eingeführt. Verstöße dagegen werden nach § 24 a Abs. 4 StVG mit einer Geldbuße bis zu 1500 1 und mit einem Regelfahrverbot nach § 25 Abs. 1 S. 2 StVG geahndet. Die Atemalkoholbestimmung hat gegenüber der Blutentnahme den Vorteil, dass sie einfacher ist und keines körperlichen Eingriffs bedarf. Bei der Bestimmung der Atemalkoholkonzentration im Sinne von § 24 a Abs. 1 StVG sind die zugelassenen Atemalkoholgeräte auch beweiskräftig (BGHSt 46, 358 ff.). Die Blutentnahme ist jedoch nach wie vor notwendig bei fehlender Mitwirkung des Betroffenen, beim Verdacht auf (zusätzliche) Medikamenten- oder Drogenbeeinflussung sowie generell beim Verdacht einer Straftat nach §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 316 StGB, da im Strafverfahren lediglich die Blutalkoholbestimmung als hinreichend sicheres Beweismittel anerkannt ist (Fischer 2008, § 316 Rn 23; BGHSt 46, 358 ff., 373 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung [zuletzt OLG Zweibrücken NStZ 2002, 269; OLG Naumburg NStZ-RR 2001, 105]). § 24 a Abs. 2 StVG, der ebenfalls zum 1. 8. 1998 in Kraft getretenen ist, ahndet das Fahren unter der Wirkung einiger besonders verbreiteter und für die Verkehrssicherheit gefährlicher Drogen, welche in der Anlage zu § 24 a StVG spezifiziert sind. Es handelt sich dabei um Cannabis, Heroin, Morphin, Kokain, Amphetamin und so genannte Designeramphetamine. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn eine der entsprechenden Substanzen im Blut nachgewiesen wird (Abs. 2 S. 2), ebenso wie bei § 24 a Abs. 1 StVG unabhängig vom Nachweis konkreter Ausfallerscheinungen im Einzelfall. Auf die Festlegung von Grenzwerten wurde wegen der allgemeinen Schwierigkeiten der Grenzwertbestimmung im Drogenbereich (vgl. Abschn. „Straftatbestände“ sowie Mettke 2001, S. 96 mwN; auch Jagusch u. Hentschel 2001, § 24 a StVG Rn 5 f.) verzichtet, sodass § 24 a Abs. 2 StVG faktisch eine „Nullgrenze“ darstellt (einschränkend aber BVerfG NJW 2005, 349: bei THC [Cannabis] erst ab Konzentrationen von über 1 ng/ml). Die Ahndung richtet sich nach § 24 a Abs. 4 und § 25 Abs. 1 S. 2 StVG (Geldbuße bis 1500 1 und Regelfahrverbot von einem Monat bis zu drei Monaten). Im Unter-
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schied zu den Strafvorschriften (§§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 316 StGB), die auf das Führen von Fahrzeugen abstellen, erfasst § 24 a StVG nur das Führen von Kraftfahrzeugen. Er gilt daher insbesondere nicht für Fahrradfahrer.
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Kriminologische Grundlagen
2.5.1.2.1 Begriff und Bedeutung der Straßenverkehrsdelinquenz Unter den Begriff der Straßenverkehrsdelinquenz fallen alle Verstöße gegen Bestimmungen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, die dem Schutz des Straßenverkehrs dienen, sowie die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) und die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB; vgl. Kaiser 1996, S. 906 f.). Die letzten beiden Tatbestände wurden zwar nicht eigens zum Schutz des Straßenverkehrs geschaffen, sie haben in diesem Zusammenhang aber große Bedeutung. Obwohl Normverstöße im Straßenverkehr oft strafrechtlichen Charakter haben, wird der Ausdruck Verkehrskriminalität häufig vermieden und durch Verkehrsdelinquenz ersetzt. Ebenso spricht man meist von Verkehrssündern statt von Verkehrskriminellen (Schöch 1993, S. 577). Dies liegt in der besonderen Struktur der Verkehrsdelinquenz begründet. Die Verkehrsdelinquenz zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass grundsätzlich jeder Verkehrsteilnehmer Gefahr läuft, Normverstöße zu begehen, und sich somit während der Teilnahme am motorisierten Verkehr fast ständig in einer potenziellen Deliktsituation befindet (Göppinger 1997, S. 596). Auch ein völlig unauffälliger Bürger kann in einer bestimmten Verkehrssituation von heute auf morgen zum Vorbestraften werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Straftatbestände, bei denen bereits leichte Normverstöße schwere Folgen haben können, wie bei der fahrlässigen Körperverletzung und der fahrlässigen Tötung. Trotz des im Verkehr allgegenwärtigen potenziellen Risikos der Straffälligkeit kommt es jedoch, wie in der verkehrskriminologischen Forschung bereits mehrfach nachgewiesen wurde, bei der Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer selten oder nie, bei einer Minderheit aber überzufällig häufig zu einer Verurteilung. Angesichts dessen lässt sich die Sonderstellung der Verkehrsdelikte am besten wie folgt beschreiben: Versteht man die gesamte Strafrechtsordnung (einschließlich Nebenstrafrecht und Ordnungswidrigkeiten) als Kontinuum von schwereren zu leichteren oder von seltenen zu häufigen Normverstößen, so stehen die Verkehrsdelikte an der Stelle der Normenskala, an der entsprechend der Verteilung einer so genannten J-Kurve die leichtesten und häufigsten Verletzungen vorkommen (Schöch 1993, S. 577). Aufgrund ihrer oft schweren Folgen (hohe Sachschäden, Verletzungen oder gar Tod von Personen) belasten die Verkehrsstraftaten die Rechtsgemeinschaft in erheblichem Maße. Hinsichtlich ihres Schadens übersteigt die registrierte Verkehrskriminalität die (registrierte) allgemeine Kriminalität um ein Mehrfaches (Eisenberg 2005, S. 709; vgl. auch Göppinger 1997, S. 596). Das Verkehrsstrafrecht soll die durch den Straßenverkehr gefährdeten Rechtsgüter der Gesellschaft (Universalrechtsgüter) und die je-
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des einzelnen Individuums (Individualrechtsgüter) schützen (Einzelheiten s. 2.5.1.1).
2.5.1.2.2 Umfang und Entwicklung der Straßenverkehrsdelinquenz Die Straßenverkehrsdelikte machen im Verhältnis zur allgemeinen Kriminalitätsbelastung einen erheblichen Anteil aus. Von den 775.802 strafrechtlichen Verurteilungen im Jahr 2004 (im früheren Bundesgebiet einschl. Gesamt-Berlin) betrafen 196.484 solche im Straßenverkehr (25,3%; Statistisches Bundesamt 2004 a, S. 24 f., Tab. 2.1). Wie auch bei der allgemeinen Kriminalität ist hierbei jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da nur ein Bruchteil der tatsächlich begangenen Rechtsverstöße in einer strafrechtlichen Verurteilung resultiert. Viele Verstöße werden von der Polizei erst gar nicht entdeckt. Selbst wenn ein Verstoß entdeckt und polizeilich verfolgt wird, kommt es jedoch angesichts der Möglichkeiten einer Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153 a StPO nicht notwendig zu einer Verurteilung. Die statistischen Angaben werden somit maßgeblich durch die jeweilige polizeiliche Verfolgungsintensität und -kapazität sowie durch die unterschiedliche Praxis der Staatsanwaltschaften und Gerichte geprägt (Schöch 1993, S. 579; Eisenberg 2005, S. 710). Ein wichtiger Indikator für das Ausmaß und die Entwicklung der Verkehrsdelinquenz sind die statistischen Unfallzahlen, insbesondere die Angaben über Unfälle mit Schwerverletzten und Getöteten. Solch schwerwiegende Unfälle werden in aller Regel polizeilich registriert und, wenn strafbares Verhalten zugrunde liegt, auch entsprechend verfolgt, sodass sich die Dunkelzifferproblematik hier kaum stellt (Schöch 1993, S. 579). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Unfälle auf Straftaten (oder Ordnungswidrigkeiten) beruhen und umgekehrt nicht alle straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Normverstöße zu Unfällen führen, sodass die Unfallzahlen zwar ein wichtiger, jedoch kein allein maßgeblicher Indikator für Ausmaß und Entwicklung der Verkehrsdelinquenz sind (vgl. auch Kaiser 1996, S. 902 ff.). Zur Unfallentwicklung in den letzten Jahrzehnten lässt sich Folgendes feststellen: In absoluten Zahlen haben die polizeilich erfassten Unfälle in den letzten Jahrzehnten fast stetig zugenommen (1950 waren es 260 761 erfasste Unfälle, 1998 bereits 1 718 178 im früheren Bundesgebiet [Statistisches Bundesamt 2004 b, S. 45]; im Jahr 2004 waren es 2 261 689 Unfälle im gesamten Bundesgebiet [ebd., S. 45]. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch die Verkehrsdichte stetig angestiegen ist, was sich am besten anhand der zugelassenen Pkw feststellen lässt (gegenüber 539 853 im Jahr 1950 waren es 34 237 110 im Jahr 1997 im früheren Bundesgebiet und 55 744 934 im Jahr 2004 im gesamten Bundesgebiet [ebd., S. 45; vgl. auch Schöch 1993, S. 579]). Demgegenüber ist die Anzahl der bei einem Straßenverkehrsunfall Getöteten seit Anfang der 70er Jahre kontinuierlich zurückgegangen (7408 im Jahr 1950, Höchststand von 21 332 im Jahr 1970 und nunmehr 5842 im Jahr 2004; [ebd., S. 45]).
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Diese insgesamt erfreuliche Entwicklung dürfte neben spezial- und generalpräventiv sinnvollen Sanktionsstrategien (u. a. Führerscheinmaßnahmen, Punktekatalog) auf eine Vielzahl von Umständen zurückzuführen sein, insbesondere sicherere Fahrzeuge, besondere Schutzvorkehrungen (Helm, Gurt, Airbag), Unfallrettungsdienste, öffentliche Aufklärungskampagnen (z. B. Alkohol und Drogen, Gurtpflicht), steigende Benzinkosten mit der Folge geringerer Geschwindigkeiten und reduzierter Fahrleistung, bessere Straßen und Verkehrszeichen sowie Beruhigungseffekte durch größere Verkehrsdichte (Schöch 1993, S. 580). Speziell zu den Alkoholunfällen (Unfälle, bei denen mindestens ein Beteiligter alkoholisiert war) lässt sich Folgendes feststellen: Von den 2 261 689 im gesamten Bundesgebiet polizeilich erfassten Unfällen im Jahr 2004 (s. oben) waren 55 992 Alkoholunfälle. Dies entspricht 2,5% aller Unfälle. Die Zahl der Alkoholunfälle mit Personenschaden ist von 1975 (erst in diesem Jahr hat die diesbezügliche Datenerfassung begonnen) bis 1987 – mit einigen Schwankungen – gefallen. Von 1987 bis 1990 sind die Alkoholunfälle zunächst leicht und 1991 deutlich angestiegen. Nach der Wiedervereinigung verlief die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands sehr unterschiedlich: Während sich im früheren Bundesgebiet die Zahl der Alkoholunfälle geringfügig verringerte, kam es in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost zu einem deutlichen Anstieg, der wesentlich stärker war als bei der Unfallentwicklung insgesamt (dazu Schöch 1998, S. 174 f.). Seit 1993 sind die Alkoholunfälle mit Personenschaden in Deutschland von 40 999 (10,6% aller Personenschadensunfälle) kontinuierlich zurückgegangen auf 21 238 (5,1%) im Jahr 2004, den niedrigsten Stand seit 1975 (Statistisches Bundesamt 2004 b, Tab. 4.1).
2.5.1.2.3 Persönliche und soziale Merkmale registrierter Verkehrstäter Aussagen über persönliche und soziale Merkmale von Verkehrsstraftätern lassen sich zunächst aus der allgemeinen Strafverfolgungsstatistik entnehmen. Die meisten verurteilten Verkehrsstraftäter pro Altersjahrgang (Zahlen aus 2004) befinden sich in der Altersgruppe der 21- bis 25-Jährigen (6601), gefolgt von derjenigen der 18- bis 21-Jährigen (5891), der 25- bis 30-Jährigen (4789) und schließlich der 30- bis 40-Jährigen (4592; Statistisches Bundesamt 2004 a, S. 24 f.). Diese Verteilung trifft auch auf die einzelnen verkehrsstrafrechtlichen Tatbestände zu (ebd., S. 24 f.). Damit entspricht die altersmäßige Verteilung derjenigen bei der allgemeinen Kriminalität (berechnet nach Statistisches Bundesamt 2004 a, S. 24 f.). Die altersmäßige Belastung verschiebt sich etwas, wenn man die Unfallbeteiligungsquote betrachtet (vgl. Eisenberg 2005, S. 723). Nach der Verkehrsunfallstatistik (Zahlen für 2004 pro Altersjahrgang) sind die 18- bis 21-jährigen Fahrer am häufigsten Verursacher von Unfällen mit Personenschaden (12 344), gefolgt von den 21- bis 25-Jährigen (9385), dann den 35- bis 45-Jährigen (6517) und den 25- bis 35-Jährigen (6336). Bei den 45- bis 55-Jährigen lag die (mit zunehmendem Alter tendenziell immer weiter rückläufige) Anzahl der Ver-
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ursacher dagegen nur noch bei 4418 pro Altersjahrgang (berechnet nach Statistisches Bundesamt 2004 b, Tab. 2.2). Diese Erkenntnisse waren der Grund für die Einführung der Fahrerlaubnis auf Probe gemäß § 2 a StVG im Jahr 1986 (Jagusch u. Hentschel 2001, § 2 a StVG Rn 1). Was das Geschlechterverhältnis betrifft, so ist der Anteil der Frauen an den verurteilten Verkehrsdelinquenten noch geringer als bei der allgemeinen Kriminalität (2004: Verurteilte bei allgemeinen Straftaten: 489 293 Männer [79,9%], 98 295 Frauen [20,1%]; Verurteilungszahlen bei Straftaten im Straßenverkehr: 154 794 Männer [85,5%], 26 192 Frauen [14,5%]; Statistisches Bundesamt 2004 a, S. 84, 104). Die kriminologische Forschung zur Verkehrsdelinquenz hat sich insbesondere mit der Frage befasst, ob es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gibt, die den besonders belasteten Verkehrstäter, den so genannten „Verkehrsrowdy“, auszeichnen. Erkenntnisse hierzu lassen sich aus den statistischen Angaben über die Vorstrafenbelastung der abgeurteilten Verkehrsstraftäter gewinnen. Danach weist immerhin zirka ein Drittel der abgeurteilten Verkehrsstraftäter mindestens eine frühere (einschlägige oder allgemeine) Vorstrafe auf (von 180 986 Verurteilten im Jahr 2004 eine Anzahl von 61 212), von denen wiederum ein gutes Drittel (im Jahr 2004 waren es 18 872) fünf und mehr Vorstrafen aufweist (ebd., S. 388 f.). Insgesamt gilt es als empirisch gesichert, dass mehrfach Straffällige auch häufiger mit Verkehrsdelikten auffallen (Göppinger 1997, S. 597; Schöch 1993, S. 580). Des Weiteren ist seit langem der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Verkehrsdelinquenz bekannt. Die Trunkenheitsdelikte (§§ 316, 315 c Abs. 1 Nr. 1 a StGB) werden zu einem großen Teil nicht von „trinkenden Fahrern“, also Gelegenheitstrinkern, sondern von „fahrenden Trinkern“ begangen, was sich insbesondere anhand des großen Anteils höherer Blutalkoholkonzentrationswerte nachweisen lässt (über 2,0 Promille bei jeder dritten Probe, vgl. Göppinger 1997, S. 597 mwN). Ein entsprechender Schluss lässt sich auch aus der Verkehrsunfallstatistik ziehen: Von den 25 644 nachweisbar alkoholisierten Beteiligten an Unfällen mit Personenschaden im Jahr 2002 wies der größte Anteil (nämlich 4513) eine Blutalkoholkonzentration von 2,0–2,5 Promille (bzw. eine entsprechende Atemalkoholkonzentration) auf, gefolgt von 3924 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,7 bis 2,0 Promille, 3898 mit 1,4 bis 1,7 Promille, 3424 mit 1,1 bis 1,4 Promille, danach 2820 mit 0,8 bis 1,1 Promille und 2101 mit 0,5 bis 0,8 Promille, während „nur“ 1520 unter 0,5 Promille lagen (Statistisches Bundesamt 2002, Tab. 3.9). Über die Vorstrafenbelastung und das Alkoholkonsumverhalten hinaus wurden bislang jedoch keine typischen Tätermerkmale von so genannten „Verkehrsrowdys“ empirisch nachgewiesen (vgl. auch Eisenberg 2005, S. 722).
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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2.5.1.2.4 Forschungsergebnisse zur Fahrunsicherheit unter Alkohol- und Drogeneinfluss Während es zu den Auswirkungen von Alkohol auf das Fahrverhalten zahlreiche empirische Untersuchungen gibt (umfassend dazu Krüger 1998; zu den rechtsmedizinischen und toxikologischen Grundlagen BGHSt 37, 89 ff. mwN) – teils im Labor, teils auf eigens dafür eingerichteten Teststrecken oder vereinzelt sogar im realen Straßenverkehr – ist die Anzahl entsprechender Untersuchungen im Bereich der Drogen gering. Dies liegt daran, dass es aus ethischen Gesichtspunkten in vielen Ländern, so auch in Deutschland, als unzulässig erachtet wird, Versuchsteilnehmern zu Testzwecken Drogen zu verabreichen. Hervorzuheben ist daher ein im Jahr 1998 in Deutschland durchgeführtes Feldexperiment.1 In drei bayerischen Städten (Würzburg, Nürnberg und München) wurden zunächst Veranstaltungsorte (vorwiegend Nachtlokale und Diskotheken) ausgewählt, bei denen mit einem erhöhten Drogenkonsum zu rechnen war. Von zuvor ausführlich geschulten Untersucherteams wurden die Besucher vor dem Eingang angesprochen und über ihr Drogenkonsumverhalten befragt. Sodann wurden akut unter Drogen stehende Personen um die Abgabe einer Blut-, Speichelund Urinprobe gebeten. Außerdem wurden die Personen zur Teilnahme an einem Fahrsimulationstest aufgefordert, mit welchem sich typische für das Fahrverhalten entscheidende Verhaltensparameter wie z. B. Reaktionsfähigkeit, Entfernungs- und Geschwindigkeitseinschätzung, Risikobereitschaft, Ablenkbarkeit etc. überprüfen ließen. Zum Vergleich wurden nicht nur drogenbeeinflusste Personen untersucht, sondern auch solche, die entweder gar keine Rauschmittel oder nur Alkohol zu sich genommen hatten. Insgesamt wurden von 341 Personen verwertbare Testergebnisse am Fahrsimulator gewonnen (Vollrath et al. 2001, S. 64). Die Untersuchungsergebnisse lassen Aussagen über die fahrrelevanten Wirkungen von Cannabis, Ecstasy und Amphetaminen zu. Hinsichtlich anderer vereinzelt vorgefundener Drogen (Kokain, Heroin) sind keine Aussagen möglich, da hierfür die Stichprobe zu klein war. Zusammenfassend konnte Folgendes festgestellt werden (zum Ganzen ebd., S. 56 ff., 156 ff.): Bei alleinigem Konsum (Monokonsum) einer Substanz ließen sich bei Alkohol und bei hoher Konzentration von Amphetaminen/Ecstasy (für die Auswertung wurden Amphetamine und Ecstasy zusammengefasst) deutliche Beeinträchtigungen nachweisen. Hingegen ergab sich bei alleinigem Konsum von Cannabis bei den gemessenen Konzentrationen im Anschluss an den Diskothekenbesuch sowie bei niedriger Konzentration von Amphe1
Im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen durchgeführt vom Interdisziplinären Zentrum für Verkehrswissenschaft in Würzburg (Leitung: Prof. Dr. Hans-Peter Krüger) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Strafrechtswissenschaften/Abteilung Kriminologie der Universität München (Leitung: Prof. Dr. Heinz Schöch) unter Mitarbeit von Rechtsmedizinern; eine vollständige Darstellung von Untersuchungsvorgehen und -ergebnissen findet sich bei Vollrath et al. 2001, S. 1 ff.; speziell zu den aus der Studie gewonnen Erkenntnissen über die Möglichkeiten zur Prävention von Drogenfahrten s. Mettke 2001, S. 71 ff.
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taminen/Ecstasy sogar eine leichte Verbesserung der Leistung am Fahrsimulator als bei der nüchternen Vergleichsgruppe. Offenbar konnten die postakuten Beeinträchtigungen geringer Dosierungen durch vorsichtigen Fahrstil – jedenfalls vorübergehend – kompensiert werden. Die deutlichsten Beeinträchtigungen wurden jedoch bei den Personen festgestellt, die eine Kombination der Drogen mit Alkohol oder eine Kombination mehrerer Drogen aufwiesen. So ergaben sich bei der Kombination von Cannabis und Amphetamin/Ecstasy in hoher Konzentration Beeinträchtigungen, die über die Wirkung von Amphetamin/Ecstasy allein hinausgehen. Kommt dann noch Alkohol hinzu, verschlechtert sich die Leistung zusätzlich. Zusammenfassend lässt sich daraus schließen, dass die große Gefährdung nicht vom Monokonsum von Cannabis beziehungsweise Amphetamin/Ecstasy ausgeht, sondern vom Mischkonsum dieser Drogen sowie von Drogen und Alkohol. Ein solcher Mischkonsum wurde aber bei weit über der Hälfte der untersuchten Drogenkonsumenten festgestellt. Damit ist jedenfalls hinsichtlich der untersuchten Personengruppe, nämlich der am Nachtleben teilnehmenden Drogenkonsumenten, von einem erheblichen Gefahrenpotenzial für den Straßenverkehr auszugehen.
2.5.1.2.5 Beiträge der Kriminologie zur Verkehrssicherheit Neben der kriminologischen Grundlagenforschung spielt die angewandte Kriminologie, die sich mit der Umsetzung ihrer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Rechtspolitik und der Sanktionspraxis beschäftigt, eine immer größere Rolle. Auf die Problematik der Verkehrsdelinquenz bezogen bedeutet dies, dass die Kriminologie Antworten auf die Frage sucht, was zu tun ist, um Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Verkehr zu reduzieren und damit die Verkehrssicherheit langfristig zu erhöhen. Was können staatliche Organe (sowohl im Bereich der Exekutive als auch der Legislative und Judikative) tun, um die Straßen sicherer zu machen? Was kann einen Verkehrsteilnehmer davon abhalten, Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr zu begehen? Die juristisch-kriminologische Betrachtung unterscheidet dabei zwischen general- und spezialpräventiven Aspekten, wobei in der Verkehrssicherheitsbetrachtung hauptsächlich generalpräventive Aspekte relevant sind. Es ist also zu fragen, ob und inwiefern die Änderung gesetzlicher Regelungen (z. B. die Absenkung der Promillegrenzen), die Verschärfung gesetzlicher Strafandrohungen (z. B. hinsichtlich der Art der angedrohten Strafe und des Strafrahmens) oder die richterliche Sanktionspraxis zu einer Änderung des Legalverhaltens der Bürger führt (s. dazu 2.5.1.2.6). Gegenstand zahlreicher Untersuchungen ist auch die Frage, welche Auswirkungen polizeiliche Überwachungsmaßnahmen auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern haben. So führte z. B. eine im Zeitraum von über 40 Monaten in der kalifornischen Stadt Stockton (USA) durchgeführte Untersuchung zum Ergebnis, dass zusätzliche Polizeistreifen (nachts an Wochenenden) zu einer Reduktion der nächtlichen Unfälle um zehn bis 15%
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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führten. Der Anteil der Fahrer mit einer Blutalkoholkonzentration von über 1,0 Promille verringerte sich sogar um 43% (Schöch 1998, S. 165). Ähnlich positive Ergebnisse erzielte eine in Wales (Großbritannien) durchgeführte Maßnahme. Dort führte die Erhöhung der polizeilichen Kontrolldichte in der Weihnachtszeit (1350 Atemtests täglich) zu einer Reduktion der tödlichen Unfälle im Monat Dezember um 21,1% (ebd., S. 166). Derartige Untersuchungen stützen die These, dass verstärkte polizeiliche Kontrollmaßnahmen, die zu einer Erhöhung der Aufklärungswahrscheinlichkeit und des Entdeckungsrisikos führen, oft signifikante generalpräventive Wirkungen haben – in der Regel aber nur kurzfristig, solange sie aufrecht erhalten werden. Ein weiteres Forschungsfeld ist der Beitrag öffentlicher Informationsund Aufklärungskampagnen zur Senkung der Verkehrsdelinquenz. Im Mittelpunkt steht hierbei vornehmlich die gezielte Einwirkung auf besondere Gefahrengruppen, nämlich stark trinkende Fahrer, junge Fahrer zwischen 18 und 25 Jahren und die Mehrfachkonsumenten von Alkohol, Drogen und Medikamenten, die gleichzeitig mehrere psychotrope Substanzen einnehmen (Schöch 1996, S. 48). Auch die Verdeutlichung des Gefahrengrenzwertes ab 0,3 Promille für die relative Fahrunsicherheit – ein Gesichtspunkt, der einem Großteil der Bevölkerung unbekannt ist, da die öffentliche Diskussion meist um die Promillegrenze des § 24 a StVG (0,5 Promille) kreist – wird von der Kriminologie gefordert. Als Ergebnis kriminologischer Studien kann festgehalten werden, dass sich eine koordinierte Strategie von öffentlicher Aufklärung, gesetzgeberischer Stützung durch Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, Steigerung der polizeilichen Kontrollintensität und transparenter Sanktionspraxis im Kampf gegen die Verkehrsdelinquenz durchaus als erfolgreich erwiesen hat (ebd., S. 47).
2.5.1.2.6 Spezial- und generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der Verkehrsdelinquenz Inwieweit das Verkehrsstrafrecht und das Ordnungswidrigkeitenrecht dazu beitragen können, die Verkehrsdelinquenz zu reduzieren, hängt maßgeblich von der spezial- und generalpräventiven Wirkung der Sanktionen ab. z Zur Theorie der Spezial- und Generalprävention Die Theorien der Spezial- und Generalprävention gehen auf die Aufklärungszeit zurück und bilden die Gegenposition zur Vergeltungstheorie, der zufolge der Sinn und Zweck staatlichen Strafens allein im Schuldausgleich und in der Sühne für das begangene Unrecht liegen sollte (daher auch „absolute“ Straftheorie; hierzu und zum Folgenden Roxin 2006, S. 70 ff.). Nach dem spezial- und generalpräventiven Ansatz liegt die Zielrichtung staatlicher Strafen hingegen darin, weitere Straftaten zu verhindern. Bei der Spezialprävention geht es darum, den individuellen (speziellen) Täter von künftigen Straftaten abzuhalten. Dies geschieht in dreierlei Form: indem man den Täter einsperrt und so die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten
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schützt (Sicherung), indem man den Täter durch die Strafe von der Begehung weiterer Straftaten abhält (Abschreckung) und indem man ihn durch die Strafe erzieht und so vor weiterer Straffälligkeit bewahrt (Besserung, Resozialisierung; vgl. Roxin 2006, S. 74). Während die Spezialprävention somit auf Rückfallverhinderung beim konkreten Täter abzielt, geht es bei der Generalprävention um die straftatenverhindernde Einwirkung auf die Allgemeinheit, und zwar in zweierlei Form: Nach der Theorie der negativen Generalprävention soll staatliches Strafen auf die Allgemeinheit abschreckend wirken und so potenzielle Straftäter von vornherein von der Straftatenbegehung abhalten (ebd., S. 78 ff.). Nach der Theorie der positiven Generalprävention hat die Strafe die Aufgabe, die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens geht es um die Einübung von Rechtstreue (sog. Lerneffekt), zweitens um das Vertrauen in die Durchsetzungskraft der Rechtsordnung (Vertrauenseffekt) und drittens um die Beruhigung des durch die Straftat aufgewühlten Rechtsbewusstseins (Befriedungseffekt; vgl. ebd., S. 80 f.). Nach der heute herrschenden Vereinigungstheorie sollen staatliche Sanktionen sowohl dem Schuldausgleich dienen als auch spezial- und generalpräventive Zwecke verfolgen (ebd., S. 83 ff.). Dem entspricht auch die Grundnorm der Strafzumessung, § 46 StGB, wonach im Rahmen des Schuldausgleichs auch die Wirkungen der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu berücksichtigen sind. In diesem Rahmen kommen auch generalpräventive Strafschärfungen in Betracht. z Spezialpräventive Aspekte, insbesondere Nachschulung Der Sicherungsaspekt der Spezialprävention wird im Verkehrsstrafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht insbesondere durch die so genannten Führerscheinmaßnahmen, nämlich Fahrverbot (§ 44 StGB und § 25 StVG) und Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69, 69 a StGB) gewährleistet. Diese Maßnahmen ermöglichen es, den Delinquenten für einige Zeit von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen und so die Allgemeinheit vor weiteren Verstößen zu schützen. Der Abschreckungsgedanke spiegelt sich insbesondere in der dem Fahrverbot innewohnenden Denkzettelwirkung wider. Der Besserungsaspekt kommt vor allem bei den verwaltungsbehördlichen Voraussetzungen für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach vorangegangenem Fahrerlaubnisentzug, etwa der Pflicht zur Teilnahme an einer medizinisch-psychologischen Untersuchung, zum Tragen. Zur Rückfallverhinderung speziell bei Mehrfachtätern trägt das Punktesystem nach § 4 StVG bei (dazu Schöch in Bd. 5). Eine erhebliche spezialpräventive Bedeutung in Form des Erziehungseffektes hat auch die sog. Nachschulung. Gemäß § 4 Abs. 4 StVG in Verbindung mit § 45 FeV können Verkehrsdelinquenten ihr Punktekonto (dazu Schöch in Bd 5) durch die Teilnahme an einem Aufbauseminar oder an einer verkehrspsychologischen Beratung reduzieren. Nach bisherigen Er-
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
fahrungen lässt sich dadurch neben einer geringfügigen Reduzierung der Rückfallquote jedenfalls auch eine Rückfallverzögerung bei den Kursteilnehmern erreichen (Schöch 1993, S. 581; Kaiser 1996, S. 915 f., jeweils mwN). In der gerichtlichen Praxis wird die Teilnahme an entsprechenden Kursen zumindest insoweit berücksichtigt, als dies nach erfolgter Fahrerlaubnisentziehung gemäß §§ 69, 69 a StGB häufig zu einer nachträglichen Verkürzung der Sperrfrist gemäß § 69 a Abs. 7 StGB führt (Schöch 1993, S. 581). z Generalpräventive Aspekte Nach den bisherigen Erkenntnissen der Generalpräventionsforschung ist die verhaltensbeeinflussende Kraft staatlicher Sanktionen begrenzt. Als Ergebnis kriminologischer Forschungen lässt sich in diesem Zusammenhang festhalten, dass die moralische Verbindlichkeit der Norm, die soziale Ablehnung des Abweichers und das Entdeckungsrisiko für normkonformes Verhalten wichtiger sind als die Härte der Bestrafung (vgl. Schöch 1996, S. 47). Dies gilt auch für den Bereich der Verkehrsdelinquenz. So belegen zahlreiche internationale Befragungsstudien zum Thema „Fahren unter Alkohol“, dass die Gründe für konformes beziehungsweise nonkonformes Verhalten primär in der Normakzeptanz, d. h. in der Verinnerlichung moralischer Standards, und im sozialen Umfeld zu suchen sind (Schöch 1998, S. 161 ff.). Die generalpräventiven Wirkungsfaktoren des Rechts, wie die subjektive Einschätzung des Entdeckungsrisikos, das Rechtswissen und die subjektiv empfundene Sanktionsschwere haben im Entscheidungskonflikt „Trinken und Fahren“ geringere Bedeutung (Mettke 2001, S. 71), stehen jedoch in interessanter Wechselwirkung mit der Normakzeptanz, die der kriminologischen Kontrolltheorie in der Variante der so genannten Halttheorie entspricht: Je schwächer der innere Halt (Selbstkonzept bzw. moralische Verbindlichkeit einer Norm) ist, desto stärker muss der äußere Halt (Aufklärungswahrscheinlichkeit, Bestrafungsrisiko) sein, um konformes Verhalten zu gewährleisten (vgl. Reckless 1961, S. 1 ff.; Schöch 1998, S. 179). Die entscheidende Bedeutung der individuellen Normakzeptanz und des sozialen Umfelds wurde durch eine aktuelle Untersuchung zum Thema „Fahren unter Drogen“ erneut bestätigt (Mettke 2001, S. 90 f.). Aus diesen Erkenntnissen zu folgern, dass rechtliche Maßnahmen, insbesondere staatliche Sanktionen, bei der Bekämpfung der Verkehrsdelinquenz eine untergeordnete Rolle spielen, wäre jedoch verfehlt; denn dabei bliebe unberücksichtigt, dass Rechtsnormen die Moralvorstellungen und Verhaltensmaximen in der Bevölkerung entscheidend prägen können (Dölling 1990, S. 12, 18; Mettke 2001, S. 91). Für die gerichtliche Sanktionspraxis ist von Bedeutung, dass nach Erkenntnissen der Generalpräventionsforschung Geldstrafen und kurze Freiheitsstrafen hinsichtlich ihrer generalpräventiven Wirkung gleichwertig erscheinen (Schöch 1973, S. 197 ff.).
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Literatur Berghaus G, Krüger HP (1998) Cannabis im Straßenverkehr. Gustav Fischer, Stuttgart Dölling D (1990) Generalprävention durch Strafrecht. Realität oder Illusion? Zeitschrift für die gesamten Strafrechtswissenschaften 102:1–20 Eisenberg U (2005) Kriminologie, 6. Aufl. Beck, München Fischer T (2008) Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. Beck, München Göppinger H (1997) Kriminologie, 5. Aufl. Beck, München Jagusch H, Hentschel P (2001) Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. Beck, München Janiszewski H (2004) Verkehrsstrafrecht, 5. Aufl. Beck, München Jescheck HH, Weigend T (1996) Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. Duncker & Humblot, Berlin Kaiser G (1996) Kriminologie, 3. Aufl. Müller, Heidelberg Kauert G (1996) Toxikologisch-medizinische Aspekte des Medikamenteneinflusses auf die Fahrtüchtigkeit. Deutsches Autorecht 65:447–451 Krüger HP (1998) Fahren unter Alkohol in Deutschland. Fischer, Stuttgart Lackner K, Kühl K (2007) Strafgesetzbuch. Kommentar, 26. Aufl. Beck, München Meier BD (2001) Strafrechtliche Sanktionen. Springer, Berlin Mettke M (2001) Drogen im Straßenverkehr. Fink, München Meyer-Goßner L (2007) Strafprozessordnung. Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen, 50. Aufl. Beck, München Reckless WC (1961) Halttheorie. MschrKrim 44:1–14 Roxin C (2006) Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd 1, 4. Aufl. Beck, München Schneider HJ (1993) Einführung in die Kriminologie, 3. Aufl. De Gruyter, Berlin Schöch H (1973) Strafzumessung und Verkehrsdelinquenz. Enke, Stuttgart Schöch H (1993) Verkehrsdelikte. In: Kaiser G, Kerner HJ, Sack F, Schellhoss H (Hrsg) Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. Müller, Heidelberg, S 577–581 Schöch H (1996) Verdachtlose Atemalkoholkontrolle und Grenzwertdiskussion. Deutsches Autorecht 65:44–50 Schöch H (1998) Generalprävention und Fahren unter Alkohol. In: Krüger HP (Hrsg) Fahren unter Alkohol in Deutschland. Fischer, Stuttgart, S 161–185 Schöch H (2001) Rechtliche Aspekte zur Bußgeld- und Strafbewehrung der Teilnahme am Straßenverkehr unter dem Einfluss von Benzodiazepinen. In: Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg) Verkehrssicherheit nach Einnahme psychotroper Substanzen. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 127. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, S 73–77 Schöch H, Mettke-Lenz M (2008) Rechtliche und kriminologische Aspekte der Verkehrsdelinquenz. In: Krüger HP (Hrsg) Verkehrspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie, Praxisgebiet 6. Hogrefe, Göttingen Statistisches Bundesamt (2002) Verkehrsunfälle 2002. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2004 a) Strafverfolgung 2004. Fachserie 10 Rechtspflege, Reihe 3. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden [Online, Format: .pdf]. Verfügbar: https://www-ec. destatis.de [01. 12. 2006] Statistisches Bundesamt (2004 b) Verkehrsunfälle 2004. Fachserie 8 Verkehr, Reihe 7. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden [Online, Format: .pdf]. Verfügbar: https://www-ec.destatis.de [01. 12. 2006] Vollrath M, Löbmann R, Krüger HP, Schöch H, Widera T, Mettke M (2001) Fahrten unter Drogeneinfluss – Einflussfaktoren und Gefährdungspotenzial. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 132. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
2.5.2
z
Verkehrsdelinquenz aus psychiatrischer und psychologischer Sicht G. Laux, A. Brunnauer
2.5.2.1 Einleitung Innerhalb der Kriminologie und Rechtswissenschaft kommt der Verkehrsdelinquenz in Deutschland eine Sonderstellung zu: Einerseits findet sie innerhalb der Gesamtkriminalität nur relativ geringe Beachtung, wird als Rechtsgebiet sui generis angesehen und in Kriminalstatistiken separat ausgewiesen, andererseits ist der enge Zusammenhang zwischen kriminellen Delikten und Verkehrsdelikten empirisch abgesichert, betreffen die Deliktbereiche Verhaltensgewohnheiten einer gesamten Gesellschaft, besteht hohes Medieninteresse vor dem Hintergrund der großen Bedeutung von Verkehrsdelinquenz für Individuum und Volkswirtschaft (Kunkel 1975; Undeutsch 1977; Brandenstein u. Kury 2005). „Verkehrsdelinquenz“ bezieht sich zumeist auf Eintragungen im Verkehrszentralregister, somit auf Entscheidungen der Instanzen zu schwerwiegenden Verkehrsverstößen sowie die Fahrerlaubnis betreffenden Entscheidungen. Dieser Beitrag soll über die streng juristische Definition hinausgehen und Aspekte thematisieren, die die Wahrscheinlichkeit zu verkehrsauffälligem Verhalten erhöhen können. In Industrieländern zählen Verkehrsunfälle zu den Haupttodesursachen, bei einer hohen Dunkelziffer von Straftaten – Experten vermuten, dass von 600 Alkoholfahrten in Deutschland im Durchschnitt nur eine entdeckt wird (Krüger 1995) – besteht offenbar eine „eher gleichmütige Einstellung gegenüber Verkehrssündern“, und Verkehrsdelinquenz wird allenfalls quantitativ von eigenen Verhaltensnormen abweichend gesehen (Brandenstein u. Kury 2005). Analog zu der Annahme, es handle sich bei Verkehrsdelinquenten weithin um Durchschnittsbürger, wird in der – bei diesen Delikten besonders schwierigen – Strafzumessung meist allenfalls auf das Vorliegen fahrlässigen Handelns entschieden, vorsätzliches Handeln beschränkt sich weitestgehend auf das Fahren ohne Fahrerlaubnis, Verkehrsunfallflucht sowie Trunkenheit am Steuer. Freiheitsstrafen ohne Bewährung gibt es fast ausschließlich nur bei tödlichen Unfällen durch alkoholisierte Fahrer. Hier sei erwähnt, dass die Strafzumessung stark von (sozial)psychologischen Faktoren abhängig sein dürfte. Beispiele hierfür sind Urteile bei so genannten „Geisterfahrern“ oder beim mit massiver Medienberichterstattung einhergehenden so genannten „Autobahnraserfall“, bei dem wie niemals zuvor in Deutschland ein Verkehrssünder ins Zentrum des öffentlichen Strafbedürfnisses rückte (ebd.). Nach einer epidemiologisch-statistischen Datenzusammenfassung wird im Folgenden auf die Themenbereiche eingegangen, die für Verkehrsdelikte von besonderer Relevanz sind:
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2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
z Bedingungsfaktoren (z. B. Persönlichkeitseigenschaften), z Einfluss psychotroper Substanzen auf die Verkehrssicherheit (Alkohol, Drogen, Psychopharmaka) und z Einfluss psychischer Störungen/Krankheiten auf die Verkehrssicherheit.
2.5.2.2 Epidemiologie, Statistik Die steigenden Mobilitätsanforderungen und -bedürfnisse in der Gesellschaft sowie der demografische Wandel in den westlichen Industrienationen implizieren die immense Bedeutung der Fahrerlaubnis für alle Bevölkerungsgruppen. In den letzten Jahren haben „Senioren“ im Straßenverkehr besondere Beachtung gefunden, sind doch bereits jetzt 25% der Fahrzeugnutzer 60 Jahre und älter und der Anteil der Senioren wird in den nächsten Jahren stetig zunehmen (Schönharting 2001).
2.5.2.2.1 Unfallstatistiken Unfallstatistiken stellen die Basis für Unfallforschung und gesetzliche Regelungen dar. Kerndaten zum Unfallgeschehen und zu Verkehrsunfällen lassen sich anhand der Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes aktuell wie folgt zusammenfassen (Statistisches Bundesamt 2005): Im Jahre 2004 wurden von der Polizei insgesamt 2,26 Millionen Unfälle aufgenommen, dabei verunglückten zirka 446 000 Personen mit 5842 Verkehrstoten. Ergänzend sei hier angemerkt, dass der Rückgang von „Unfällen mit Todesopfern“ im Vergleich zu den Vorjahren eher auf der verbesserten Sicherheitstechnik der Fahrzeuge beruhen dürfte als auf einer disziplinierteren Fahrweise (s. unten). Ein besonders hohes Unfallrisiko wiesen 18- bis 24-jährige Verkehrsteilnehmer auf, ältere Menschen waren zwar weniger häufig an Unfällen beteiligt, erlitten aber deutlich schwerere Unfallfolgen. Abbildungen 2.5.1 a und b geben die Verteilung von Pkw-Fahrern an Unfällen mit Personenschaden nach Altersgruppen und Geschlecht beziehungsweise nach Hauptverursacheranteil wieder. Den Abbildungen ist zu entnehmen, dass das Unfallrisiko von Senioren im Vergleich zum Durchschnitt der Gesamtbevölkerung nur etwa halb so hoch ist, die Pkw-Fahrer dieser Altersgruppe trugen aber mit zirka zwei Dritteln sehr häufig die Hauptschuld am Zustandekommen eines Unfalls. Von den Unfallursachen lagen 85% im Fehlverhalten der Fahrzeugführer: Die häufigsten Unfallursachen waren nicht angepasste Geschwindigkeit, Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren, Nichtbeachten der Vorfahrt sowie Abstandsfehler. Bei den Senioren waren „Vorfahrtsfehler“ die häufigste Unfallursache, gefolgt von „Abbiegfehlern“ und „Abstandsfehlern“. Im Vergleich zu allen Altersklassen spielten „nicht angepasste Geschwindigkeit“ und „Alkoholeinfluss“ bei den Senioren eine geringere Rolle, die Unfallursachen deuten damit eher auf Wahrnehmungsprobleme hin als auf leichtsinniges Verhalten (Abb. 2.5.2).
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
80 000 Männer Frauen
70 000 60 000
Anzahl
50 000 40 000 30 000 20 000 10 000 0
18–25
25–35
a
35–45
45–55
55–65
>75
Alter (Jahre) 100 90
Männer Frauen
80 70
(%)
60 50 40 30 20 10 0
b
18–21
21–25
25–35
35–45
45–55
55–65
65–75
>75
Alter (Jahre)
Abb. 2.5.1 a, b. Beteiligte PKW-Fahrer an Unfällen mit Personenschaden 2004 nach Altersgruppen und Geschlecht beziehungsweise Hauptverursacher (Quelle: Statistisches Bundesamt 2005 b)
Über alle Altersgruppen hinweg haben Frauen ein deutlich niedrigeres Unfallverursachungsrisiko als männliche Pkw-Fahrer. Obwohl Alkohol- und Drogendelikte in den Unfallstatistiken als Unfallursache weit nach „nicht angepasster Geschwindigkeit“ oder „Nichtbeachtung der Vorfahrt“ rangieren, gilt der Gruppe der Alkohol- und Drogenkonsumenten als Risikogruppe das besondere Augenmerk des Gesetzgebers. Epidemiologische Anhaltspunkte lieferte die „Roadside-Survey-Studie“ (Krüger et al. 1996), in der die Zahl der Medikamenten- und Alkoholfahrten unter 3%, die Zahl der Fahrten unter Drogen unter 1% lag. Insgesamt ereigneten sich im Jahre 2004 knapp 56 000 Alkoholunfälle, ein Rückgang gegenüber 2003 um 6,3%. Trotz dieses Rückganges starben 2004 in Deutschland immer noch 12% aller Verkehrstoten an den Folgen eines Alkoholunfalls, des Weiteren ist bei der Bewertung der Daten über Alkoholunfälle von einer Dunkelziffer auszugehen. Der Rückgang der Unfälle unter Alkohol dürfte mit der Herabstufung der Promillegrenze und der Aufarbeitung der Problematik in den Medien mit konsekutiver Änderung des Konsumverhaltens zusammenhängen. Am häufigsten tritt bei Pkw-Fahrern Alkohol als Unfallursache in der Altersgruppe der 21- bis 24-jährigen Männer
601
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen 300
Ordnungswidrigkeiten (× 1000)
602
Geschwindigkeit Vorfahrt/Vorrang Abbiegen Alkohol/Drogen
250 200 150 100 50 0 18–21
21–25
25–35
35–45
45–55
55–65
65–75
>75
Alter (Jahre)
Abb. 2.5.2. Fehlverhalten der Fahrzeugführer von Personenkraftwagen nach Altersgruppen je 1000 Fahrer (Statistisches Bundesamt 2005 b)
auf, gefolgt von den Gruppen der männlichen 18- bis 20-Jährigen und der 25- bis 34-Jährigen. Der Anteil der an Unfällen mit Personenschaden beteiligten alkoholisierten männlichen Pkw-Fahrer fällt zirka achtmal so hoch aus wie der der weiblichen (Albrecht et al. 2006). Da Alkohol von jungen Erwachsenen sehr häufig außer Haus getrunken wird, sind junge Fahrer oft dem Trink-Fahr-Konflikt ausgesetzt. Die Verteilung der Alkoholunfälle nach Wochentagen und Tageszeiten verdeutlichen die Einbettung des Trink-FahrProblems in das Freizeitverhalten: Zwischen 20:00 Uhr und 4:00 Uhr morgens verunglückt über die Hälfte aller alkoholisierten Pkw-Fahrer, davon mehr als die Hälfte in den Nächten von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag. Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Personenschaden und der Unfallursache „andere berauschende Mittel“ steigt ab 1998 deutlich an. Dies ist zum einen auf legislative Veränderungen zurückzuführen (Ordnungswidrigkeit der Fahrt unter Drogen), zum anderen auf Schulungsmaßnahmen der Polizei.
2.5.2.2.2 Verkehrszentralregister Von den Verwaltungsbehörden und Gerichten gehen dem Kraftfahrtbundesamt (KBA) jährlich zirka fünf Millionen Entscheidungen zur Eintragung im Verkehrszentralregister (VZR) zu. Den Hauptanteil nehmen mit zirka drei Viertel die Bußgeldentscheidungen der Bußgeldbehörden ein. 2005 kam es im Vergleich zum Vorjahr zu einem deutlichen Anstieg der Bußgeldentscheidungen; mehr als die Hälfte der dem Verkehrszentralregister zugegangenen Mitteilungen sind Ersterfassungen. Derzeit sind knapp acht Millionen Personen im Verkehrszentralregister erfasst. Männer sind über viermal häufiger im VZR-Bestand als Frauen. Senioren sind um ein Vielfaches seltener im Verkehrszentralregister eingetragen.
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
In Abbildung 2.5.3 sind die im ersten Halbjahr 2005 im Verkehrszentralregister erfassten Personen nach dem Lebensalter im Vergleich zur Altersstruktur der Kraftfahrzeughalter und der strafmündigen Bevölkerung wiedergegeben. Bei den gerichtlichen Entscheidungen zu einer Straftat stehen Fahren ohne Fahrerlaubnis und Alkoholdelikte an der Spitze, bei verwaltungsbehördlichen Bescheiden zu einer Ordnungswidrigkeit weit überwiegend Geschwindigkeitsübertretung, Vorfahrtmissachtung und Unfalldelikte. Bei den gerichtlichen Fahrerlaubnismaßnahmen steht die Trunkenheit im Straßenverkehr – oft in Verbindung mit Verkehrsunfall, Unfallflucht und Fahren ohne Fahrerlaubnis – an der Spitze: 90% der Entziehungen und 82% der Aberkennungen sind auf Verkehrszuwiderhandlungen wegen Trunkenheit zurückzuführen. Gegenüber Vorjahren zeigte sich für Fahrverbote eine deutliche Zunahme. Abbildung 2.5.4 gibt eine Übersicht nach Altersgruppen und Verursachung. Charakterliche Mängel, wozu insbesondere schwere und wiederholte Verstöße gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen zählen, sind in über 30% der Entscheidungen der Verwaltungsbehörden ausschlaggebend für den Entzug der Fahrerlaubnis, körperliche oder geistige Mängel machen dagegen nur knapp 5% dieser Fälle aus. 60% entfallen auf unter 40 Jahre alte Personen. Über 90% der ausgesprochenen Fahrverbote werden unter Bezug auf § 25 StVG im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens verhängt, der Frauenanteil beläuft sich hier auf zirka 15%. Bei den Entscheidungsgründen dominieren Geschwindigkeitsüberschreitungen mit zirka zwei Drittel vor dem „Führen eines Kraftfahrzeuges unter Alkohol- oder Drogenein-
30 25
(%)
20 15 10 5 0
<18
18–21
21–25
25–30
30–40 40–50 Alter (Jahre)
50–60
60–70
≥70
im VZR erfasste Personen Halter von Krafträdern und Personenkraftwagen (Stand: 1. Januar 2005) strafmündige Bevölkerung (Stand: 31.12.2003)
Abb. 2.5.3. Im Verkehrszentralregister erfasste Personen nach Lebensalter im Vergleich zur Altersstruktur der Kraftfahrzeughalter und der strafmündigen Bevölkerung (Quelle: Statistisches Bundesamt 2005 a)
603
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen 30 25 20
(%)
604
wegen Zuwiderhandlung ininVerbindung wegen Zuwiederhandlung Verbindung mit mit insgesamt Alkohol und andere Drogen Verkehrsunfall Wohnbevölkerung (ab 14 Jahre), Stand: 21.12.2002
15 10 5 0
<18
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25–30
30–40 40–50 Alter (Jahre)
50–60
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≥70
Abb. 2.5.4. Entziehungen, Sperren, Aberkennungen und Fahrverbote nach § 25 StVG und § 44 StGB durch Gericht (Quelle: Statistisches Bundesamt 2005 a)
fluss“ mit knapp 20%. Die meisten Fahrverbote richten sich gegen die 18bis 40-Jährigen, in allen Altersklassen hat die Zahl der Fahrverbote zugenommen, am stärksten bei den über 70-Jährigen. Für die Versagung der Erteilung einer allgemeinen Fahrerlaubnis sind in 30% der Fälle charakterliche Mängel, überwiegend vor allem Neigungen zur Trunk- oder Rauschgiftsucht ausschlaggebend. Tabelle 2.5.1 fasst Entziehungen, Sperren und Aberkennungen von Fahrerlaubnissen nach hauptsächlichen Entscheidungsgründen zusammen. Bei den körperlichen Mängeln macht die Kategorie Hirnverletzung, Nervenerkrankung ein Drittel aus, bei den geistigen Mängeln „Geisteskrankheit“ zirka zwei Drittel.
2.5.2.2.3 Medizinisch-psychologische Untersuchung Zur Wiedererlangung der verlorenen Fahrerlaubnis ist in der Regel das Bestehen der „medizinisch-psychologischen Untersuchung“ (MPU) erforderlich. Den MPU-Statistiken ist zu entnehmen, dass jährlich etwa 120 000 medizinisch-psychologische Untersuchungen in Deutschland durchgeführt werden, hierbei überwiegen mit zirka drei Vierteln alkoholbezogene Fragestellungen, drogen- und medikamentenbezogene Begutachtungen machen nur etwa 5% der Fälle aus (Grotenhermen u. Karus 2002). Die Ergebnisse der Begutachtungen für verschiedene Anlässe lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass Tatauffällige mit Alkohol mit etwa einem Drittel den geringsten Anteil positiver Gutachten aufweisen, die positiven Begutachtungen bei „sonstige Drogen und Medikamente“ fallen mit fast 45% deutlich höher aus. Neurologisch-psychiatrische Auffälligkeit ohne Alkohol wird in über 50% der Fälle als „geeignet“ begutachtet.
109 739 43 745
z Entscheidungen der Gerichte z Entscheidungen der Verwaltungsbehörden –1,8 + 28,0
Veränderungen in Prozent * 34 699 X
Anzahl der isolierten Sperren –1,7 X
Veränderung in Prozent * 4 934 503
Anzahl der Aberkennungen
99 521 10 187 31 109 739
z z z z –1,0 –9,4 –21 –1,8
Veränderung in Prozent *
–4,5 + 44,1
Veränderung in Prozent *
1 839 16 585 10 835 14 182 4 051 304 43 745
z z z z z z z
+ 15,7 + 53,0 + 8,4 + 26,1 X –41,2 + 28,0
Veränderung in Prozent *
z
* Jahr 2004 gegenüber Jahr 2003
körperliche und geistige Mängel charakterliche Mängel Anordnungen zum Aufbauseminar nicht nachgekommen andere Entscheidungsgründe darunter: Überschreiten der 18-Punkte-Schwelle ohne Angabe des Entscheidungsgrundes Entziehungen durch Verwaltungsbehörden zusammen
Anzahl
Entscheidungsgrund
Entziehungen von Fahrerlaubnissen durch die Verwaltungsbehörden nach hauptsächlichen Entscheidungsgründen im Jahr 2004
Verkehrszuwiderhandlung in Trunkenheit Verkehrszuwiderhandlung ohne Trunkenheit ohne Angabe zum Regelverstoß Entziehungen durch Gerichte zusammen
Anzahl
Entscheidungsgrund
Entziehungen von Fahrerlaubnissen durch die Gerichte nach hauptsächlichen Entscheidungsgründen im Jahr 2004
Anzahl der Entziehungen
Entscheidungsgrund
Entziehungen von Fahrerlaubnissen, Anordnungen von isolierten Sperren und Aberkennungen im Jahr 2004
Tabelle 2.5.1. Entziehungen, Anordnungen von isolierten Sperren und Aberkennungen von Fahrerlaubnissen nach hauptsächlichen Entscheidungsgründen im Jahr 2004
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
605
606
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
2.5.2.3 Bedingungsfaktoren Verkehrsordnungswidriges Verhalten kann als Risikofaktor für Verkehrsunfälle angesehen werden. Die Unfall- und Sicherheitsforschung beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Unfallursachenanalyse, verkehrspsychologische Untersuchungen beschäftigten sich unter anderem mit den Hintergründen des Autofahrens. Im Jahre 1997 wurde eine Repräsentativbefragung von über 1.600 deutschen Autofahrern auch mit dem Ziel durchgeführt, verschiedene Autofahrertypen empirisch zu beschreiben (Adelt et al. 1999). Die Ergebnisse zeigen die enorme emotionale Bedeutung des Fahrzeuges: Über zwei Drittel der deutschen Autofahrer verbinden mit dem Fahren ein Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit, für gut die Hälfte hat Autofahren eine Entspannungsfunktion zum Abschalten von Ärger und Stress. Für über ein Viertel der Auto fahrenden Bevölkerung bietet Autofahren dagegen eher Aufregung, „sportliche Herausforderung“, „Nervenkitzel“, auch der Konkurrenzaspekt sowie das Auto als Statussymbol spielen eine Rolle. Zirka ein Viertel zählt sich zu den „eher ängstlichen Autofahrern“, fast ein Drittel fühlt sich von dicht auffahrenden „Dränglern“ ernsthaft bedroht, mehr als die Hälfte im hektischen Straßen(berufs)verkehr sehr unwohl. Regelmäßig und bewusst überschreiten 60% Geschwindigkeitsbeschränkungen, aggressives und rücksichtsloses Verhalten ist keineswegs eine Ausnahme. Jüngere und männliche Fahrer haben häufiger einen riskant-aggressiven Fahrstil, Vielfahrer zeigen ein rücksichtsloseres Fahrverhalten. Auf der Basis dieser Repräsentativerhebung wurden sechs Typen von Autofahrern in Deutschland identifiziert, von denen zwei sicher stark durch Risikolust und Selbstbestätigung motiviert sind. Diese „Raser“ und „Frustrierten“ stellen das größte Gefahrenpotenzial im Straßenverkehr dar, die Gruppe von „Rowdies“ rekrutiert sich aus diesen beiden Typen und zeigt in Punkto Aggressivität und Rücksichtslosigkeit extreme Verhaltensweisen. Allgemein lassen sich für Unfall auslösendes Fehlverhalten folgende übergeordnete Ursachengruppen unterscheiden: z Ausbildungslücken, z ZNS-Störungen und -Krankheiten (Hirnfunktionsstörungen wie Ermüdung, Begrenztheit der Verarbeitungskapazität u. a.), z Persönlichkeitszüge (Disposition, „Trait“), z aktuelle persönliche Bedingungen und z situative Faktoren. In der empirischen Forschung haben die Themenkreise „Täterpersönlichkeit“ im Sinne von Persönlichkeitseigenschaften sowie „Aggression“ zentrale Bedeutung. Es wurde hypostasiert, dass Personen mit bestimmten Eigenschaften eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, aggressives Fahrverhalten zu zeigen. Zu diesen werden vor allem gerechnet z Frustrationstoleranz, z Geltungsbedürfnis,
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
z „sensation seeking“ (Suche nach Stimulation), z Typ-A-Verhalten, z Extraversion.
2.5.2.3.1 Aggressives Fahren Aggressives Fahren wird als störendes, Norm verletztendes Verhalten definiert, das sich als „rücksichtslos-egoistisch und instrumentell-aggressiv“ beschreiben lässt (Maag u. Krüger 2003). Aggressives Fahren ist häufig und nimmt offenbar mit Verkehrsstärke und -dichte zu; es dominieren jüngere Männer und hochmotorisierte Fahrzeuge. Es existieren verschiedene Erklärungsansätze, von denen der revidierten Frustrations-Aggressions-Hypothese besondere Bedeutung zukommt. Hiernach führen Frustrationen zu Ärger und Wut, resultierend in aggressivem Verhalten. Entscheidende Variablen und Faktoren sind Situations- und Personenmerkmale: Vermittelt über eine Veränderung des affektiven, kognitiven und/oder Erregungszustandes der betroffenen Person, basierend auf der „dyadischen“ Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern, werden Bewertungsprozesse in Gang gesetzt, die dann zu Verhaltenskonsequenzen führen (ebd.). Nach o. g. Autoren ist eine frustrierende Situation wie zum Beispiel ein Stau der Ausgangspunkt der Entstehung von Aggressionen. Aus dieser Situation entsteht in Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Fahrers sowie den speziellen Umgebungsfaktoren eine Bereitschaft, sich aggressiv zu verhalten. Neben situativen und Umgebungsfaktoren spielen individuelle Dispositionen eine beträchtliche Rolle. Lernpsychologisch bedeutsam im Sinne der operanten Konditionierung aber auch des Modelllernens ist, dass aggressive Fahrweise häufig mit positiven Konsequenzen und nicht mit kontinuierlicher negativer Verstärkung einhergeht. Aus psychodynamischer Sicht sind Abwehrmechanismen von Bedeutung; vor allem jüngere und männliche Drängler leugnen zum Beispiel zum großen Teil ihr verkehrswidriges Verhalten. Als zentrales Verkehrssicherheitsproblem wurde in den letzten Jahren Aggressivität und Wut am Steuer angesehen. In einer großen prospektiven französischen Kohortenstudie konnte gezeigt werden, dass Typ-A-Verhalten mit einem erhöhten Verkehrsunfallrisiko assoziiert war, aggressiv-feindselige Persönlichkeitszüge aber nicht mit einem erhöhten Risiko für Verkehrsunfallverletzungen (Nabi et al. 2005 a, b). Bei Jugendlichen waren Verkehrsverstöße mit den Persönlichkeitszügen Extraversion und Risikolust verknüpft (Renner u. Anderle 2000). Fahrer mit hohen Ärgerscores neigten zu Geschwindigkeitsüberschreitungen und waren häufiger in Unfälle verwickelt (Deffenbacher et al. 2003). Fast alle Autoren gehen davon aus, dass bei jungen Fahrern die willentliche Risikobereitschaft für die Unfallhäufung verantwortlich ist, weniger Fähigkeitsdefizite (Clarke et al. 2005). Fahrer mit Verstößen gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen wiesen ein erhöhtes Risiko für Unfälle mit Verletzungen auf, ebenso wie Fahren ohne Fahrerlaubnis (Blows et al. 2005 a, b).
607
608
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
Kontrovers wird diskutiert, ob „road rage“ ein psychiatrisches Phänomen ist: Fong et al. (2001) bejahten den Zusammenhang mit psychiatrischer Morbidität, Smart et al. (2003) mit psychiatrischem Distress, andere Autoren fanden außer bei Alkoholabhängigen keine psychopathologische Deviation (Renner u. Anderle 2000). Zur Vorhersage aggressiven Verhaltens wurden verschiedene Ratingskalen entwickelt, z. B. die Driving Anger Scale (DAS) oder die Propensity for Angry Driving Scale (PADS) (Dahlen u. Ragan 2004).
2.5.2.3.2 „Unfällerpersönlichkeit“ Bereits in den 20er Jahren wurde eine „Unfällerpersönlichkeit“ postuliert im Sinne eines „geborenen Unfällertyps“ mit einer dispositionellen Neigung zu Fehlhandlungen mit Unfallfolgen. Arbeitspsychologische Untersuchungen konnten dies nicht eindeutig beweisen; zwar entfällt innerhalb eines Zeitraums eine unverhältnismäßig große Zahl von Unfällen auf eine kleine Personenzahl und umgekehrt, diese lassen sich aber nicht allein auf Persönlichkeitsdispositionen reduzieren. Die ersten Ansätze persönlichkeitspsychologischer Erklärungen versuchten einfache Bezüge zwischen Persönlichkeitszügen und Fahrverhalten herzustellen („Unfallpersönlichkeit“). Sozialisationsdefizite führen hiernach zu „rücksichtslosem, soziopathischem“ oder „depressiv-destruktivem“ Verhalten. Empirische Untersuchungen kamen in der Folgezeit aber zu dem Ergebnis, dass Persönlichkeitsmerkmale zur Erklärung von Unfallverursachungen nicht ausreichen. Moderne Konzepte basieren auf Interaktionsprozessen zwischen Personbedingungen und objektiven sowie subjektiven Situationsbedingungen (Anderson u. Bushman 2002) sowie Lernprozessen. So lernten zum Beispiel Verkehrsteilnehmer mit zunehmender Erfahrung Unfällen auszuweichen. Wie erwähnt verursachen jüngere Fahrer überproportional viele Unfälle, was auf höhere Risikobereitschaft und Unerfahrenheit zurückgeführt wurde. Untersuchungen sprechen dafür, dass es in den Altersgruppen der 18bis 34-Jährigen ein besonderes Risikokollektiv gibt im Sinne eines „Actiontypus“ und „Kick suchenden Typus“ („Jugendlichkeitsrisiko und Anfängerrisiko“). Weitere Faktoren sind dyadische Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern, zu denen Attributionen des Verhaltens anderer Verkehrsteilnehmer im Sinne der sozialen Wahrnehmung zählen sowie die Beurteilung aktueller Situationen wie zum Beispiel Fahrzeugabstände (Maag u. Krüger 2003).
2.5.2.3.3 Einstellung Ein weiterer wichtiger Faktor für Verkehrsvergehen und -unfälle ist der Faktor Einstellung: Studien zeigten, dass bei schweren Unfällen die Verantwortung eher anderen Fahrern oder Wetter-/Straßenbedingungen zugeschrieben wurde, dass generell eine hohe Korrelation zwischen Attitüden und Verhalten besteht. Personen mit niedriger Bestrafungs- und hoher Be-
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
lohnungssensitivität begingen häufiger Verkehrsdelikte (Stewart 2005; Castella u. Perez 2004). In einer großen europaweiten Befragung waren Fahrer, die sich als risikoreicher und Schnellerfahrer schilderten (überwiegend junge Männer) mehr in Verkehrsunfälle involviert (Karlaftis et al. 2003).
2.5.2.3.4 Der abgelenkte Fahrer Als wichtiges Sicherheitsproblem hat angesichts der zunehmenden elektronischen Ausstattung von Fahrzeugen jüngst der „abgelenkte Fahrer“ Beachtung gefunden. Für Mobiltelefone liegen inzwischen epidemiologische Daten vor, nach denen bei Handybenutzung das Unfallrisiko sich um den Faktor vier bis neun erhöht (Redelmeier u. Tibshirani 1997; Violanti 1998). Wenig erforscht sind andere zur Ablenkung des Fahrers führende Faktoren wie etwa Rauchen oder Streit mit Fahrzeuginsassen.
2.5.2.4 Psychotrope Substanzen und Verkehrssicherheit Die epidemiologische Literatur zu Fahrten unter psychotropen Substanzen weist auf Prävalenzraten von bis zu 25% hin. Cannabis ist nach Alkohol die mit am häufigsten bei Unfallfahrten beteiligte Substanz, gefolgt von Benzodiazepinen, Kokain, Amphetaminen und Opioiden. Ein Mischkonsum ist häufig und Analysen zum Verursacherrisiko belegen, dass sowohl Alkohol alleine als auch die Kombination mit Cannabis, Benzodiazepinen und Stimulanzien das Unfallrisiko drastisch erhöhen (Kelly et al. 2004; Vollrath u. Krüger 2002). Verursacheranalysen untersuchen, inwieweit die verunfallten Fahrer schuldhaft am Unfall beteiligt waren. Zum Unfallrisiko unter Alkohol, Drogen und Medikamenten (insbesondere Psychopharmaka) liegen zahlreiche Untersuchungsdaten vor. Eine große Studie mit 2500 Fahrern von Longo et al. (2000) kam zu dem Ergebnis, dass Fahrer ohne den Einfluss von psychotropen Substanzen den Unfall in rund 53% der Fälle verursachten, FahAlkohol > 0,08% multiple Drogen Alkohol < 0,08% Benzodiazepine Opiate Amphetamine Kokain Cannabis 0
5
10
15
Verkehrsunfallrisiko (%)
Abb. 2.5.5. Verkehrsunfallrisiko und psychoaktive Substanzen (nach Movig et al. 2004)
20
609
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
rer mit Blutalkoholkonzentrationen über 0,5 Promille in 90% der Fälle, Fahrer mit Spuren von Tranquilizern in nahezu 70%, Fahrer mit alleinigem Nachweis von Cannabis (THC im Blut) wiesen eine Verursacherrate von 50% auf. Bei den Ursachen für ungenügende Verkehrstüchtigkeit dominiert Alkohol in über 80% der Fälle, gefolgt von „sonstige körperliche und geistige Mängel“, Übermüdung und Drogeneinfluss. Movig et al. (2004) gaben in ihrer Übersichtsarbeit zum Zusammenhang zwischen Verkehrsunfallrisiko und psychoaktiven Substanzen die in Abbildung 2.5.5 dargestellte Risikoerhöhung an.
2.5.2.4.1 Alkohol Die Auswirkungen von Alkohol auf die Fahrtüchtigkeit sind weitgehend bekannt und in einer Vielzahl von Untersuchungen beschrieben worden. Bereits bei Blutalkoholwerten unter 0,3 Promille kann es zu Ausfallerscheinungen kommen (Krüger et al. 1990). Bei etwa 20 bis 40% der bei Verkehrsunfällen tödlich Verunglückten stellt Alkohol einen ursächlichen Faktor dar (de Gier 1999). Im fortgeschrittenen Stadium kann Alkoholabhängigkeit zudem zu schwerwiegenden neuropsychologischen Funktionseinbußen führen, die von sich aus die Fahreignung aufheben (Kopelmann 1995). Abbildung 2.5.6 zeigt das relative Unfallrisiko in Abhängigkeit von der Alkoholkonzentration (adaptiert nach Vollrath u. Krüger 2002). Mit Hilfe dieser Unfallrisikofunktionen lässt sich sowohl die aktuelle Promillegrenze von 0,5 Promille begründen – ab hier der Nachweis einer Risikoerhöhung – als auch die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit bei 1,1 Promille – ab hier extremes Unfallrisiko (Vollrath u. Krüger 2002). In Abhängigkeit von der Blutalkoholkonzentration nimmt das Unfallrisiko unter Alkohol also um den Faktor fünf bis 30 zu, das Verursacherrisiko weist eine Odds Ratio von zirka fünf auf (Bundesanstalt für Straßenwesen 2001; Vollrath u. Krüger 2002). Tabelle 2.5.2 gibt die Änderung spezifischer 35 30
xfaches Unfallrisiko
610
Krüger Borkenstein
25 20 15 10 5 0 nüchtern
<0,2
<0,4
<0,6
<0,8
<1,0
<1,4
<1,6
<1,8
BAK-Klassen
Abb. 2.5.6. Relatives Unfallrisiko in Abhängigkeit von der Alkoholkonzentration – adaptiert nach Vollrath u. Krüger, 2002
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
Tabelle 2.5.2. Änderung der spezifischen Unfallrisiken alkoholisierter Pkw-Fahrer (BAK ≥ 0,30 g/kg, BAK < 1,10 g/kg) bei Unterstellung eines um das 3,8fache erhöhten allgemeinen Unfallrisikos unter Alkoholeinfluss (nach Haffner et al. 1996) Unfallursachen
z z z z z z z z z
Rangierunfälle Parallelverkehrsunfälle Vorfahrtunfälle Auffahrunfälle Überholunfälle Abkommen aus der Fahrspur Geschwindigkeitsunfälle Fußgängerunfälle sonstige Unfälle
Spezifisches Unfallrisiko nüchtern
alkoholisiert
0,0384/X 0,0230/X 0,0384/X 0,0519/X 0,0192/X 0,0173/X 0,0442/X 0,0019/X 0,0288/X
0,0292/X 0,0803/X 0,1679/X 0,0438/X 0,0365/X 0,0876/X 0,4088/X 0,0365/X 0,1095/X
Änderung um Faktor
0,8 3,5 4,4 0,8 1,9 5,1 9,2 19,2 3,8
Unfallrisiken alkoholisierter Pkw-Fahrer bei Unterstellung eines um das 3,8fache erhöhten allgemeinen Unfallrisikos unter Alkoholeinfluss wieder. Wie erwähnt zeigen die Daten des Statistischen Bundesamtes, dass bei den Ursachen für ungenügende Verkehrstüchtigkeit Alkoholeinfluss mit weitem Abstand dominiert. Gemäß den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung besteht bei Alkoholmissbrauch sowie bei Alkoholabhängigkeit keine Fahreignung. Alkoholmissbrauch ist vor allem dann anzunehmen, wenn wiederholt ein Fahrzeug unter unzulässig hoher Alkoholwirkung geführt wurde; die Definition bezieht sich auf Rechtsverstöße und nicht auf die medizinisch-psychologischen Kriterien eines Missbrauchs. Die Fahreignung kann wiederhergestellt sein, wenn das Trinkverhalten ausreichend geändert wurde, die Änderung im Umgang mit Alkohol stabil und motivational gefestigt ist, sich keine alkoholtoxischen körperlichen Befunde erheben lassen und keine verkehrsrelevanten Leistungs- und Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen sowie ein anerkannter Rehabilitationskurs durchgeführt wurde. Die Alkoholabhängigkeit ist demgegenüber medizinisch definiert (psychische und körperliche Abhängigkeit – Kriterien nach ICD-10). Nach internationalen Empfehlungen gelten Blutalkoholkonzentrationswerte ab 1,5 Promille als Hinweis auf eine Abhängigkeit. Eine positive Begutachtung setzt unter anderem eine mindestens einjährige Abstinenz nach einer Entwöhnungsbehandlung voraus (Übersichten: Brunnauer et al. 2004; Laux 2002). Eine Studie zum prädiktiven Wert verschiedener Parameter für Trunkenheitsfahrten kam jüngst zu folgenden Faktoren: Benutzung gebührenpflichtiger Parkplätze, dysfunktionale Impulsivität einhergehend mit erhöhter MAO-Aktivität (Eensoo et al. 2005). Demnach sind also Trunkenheitsfahrten das Ergebnis einer Kombination verschiedener Verhaltens-, Persönlichkeits- und biologisch assoziierter Risikofaktoren.
611
612
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
2.5.2.4.2 Drogen Zu den die Verkehrssicherheit potenziell beeinflussenden illegalen Drogen zählt man vor allem Cannabis, Opioide, Kokain und Amphetamine. Die Prävalenzraten von Autofahrten unter illegalen Drogen liegen bei 1 bis 5%, bei den an Unfällen beteiligten Autofahrern sind es sogar 10 bis 25%. Untersuchungen in so genannten Freizeitszenen zeigen, dass Fahrten unter illegalen Drogen ebenso häufig vorkommen wie Alkoholfahrten über 0,5 Promille. Oft liegt zusätzlich eine Alkoholisierung vor und es werden häufig verschiedene Drogen miteinander kombiniert (Vollrath et al. 2001). Eine Studie im Raum Würzburg an 483 Diskothekbesuchern im Alter zwischen 18 und 30 Jahren ergab eine deutliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit unter Alkohol und Ecstasy. z Cannabis Die epidemiologische Datenlage weist darauf hin, dass etwa 4 bis 12% der Kraftfahrer, die bei einem Verkehrsunfall verletzt oder getötet werden, unter Cannabiswirkung standen (de Gier 1999). Bei Cannabis unter niedrigen Konzentrationen (< 2 ng/ml) zeigt sich kein erhöhtes Unfallrisiko. Bei hohen Konzentrationen sowie Kombination mit Alkohol steigt das Verursacherrisiko deutlich an (Vollrath u. Krüger 2002). Schwerer, längerfristiger Konsum kann zu subtilen Leistungsbeeinträchtigungen führen, die auch nach Beendigung des chronischen Konsums fortbestehen (Kannheiser 2000). Verursacheranalysen kommen zu dem Ergebnis, dass das Risiko für THC-positive Fahrer sich nicht signifikant von drogenfreien, nüchternen Fahrern unterscheidet. Nur im akuten Rauschzustand (für ca. zwei bis drei Stunden) sind die psychomotorischen Fähigkeiten relevant beeinträchtigt (Grothenhermen u. Karus 2002). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass nicht selten keine isolierte Cannabisabhängigkeit vorliegt („Beikonsum“). z Opiate Die epidemiologische Datenlage bezüglich des Risikos von Opiatkonsumenten, in Kraftfahrzeugunfälle verwickelt zu werden, ist nicht eindeutig (Zacny 1995). Prävalenzraten bei verkehrsunauffälligen Fahrern in Deutschland liegen bei etwa 0,6% (Krüger et al. 1998). Opioidabhängige sind zum Führen von Kraftfahrzeugen generell nicht geeignet, da aufgrund des sehr hohen Suchtpotenzials praktisch immer von einer schweren Abhängigkeit mit einer Abstinenzunfähigkeit auszugehen ist. Einen Sonderfall stellt die Schmerzbehandlung mit Opioidanalgetika dar. Zu Beginn der Behandlung kann es zu einer Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit kommen. Die längerfristige Therapie unter stabiler Dosierung scheint allgemein keine negativen Auswirkungen auf das Fahrverhalten oder das Unfallrisiko von Patienten zu haben (Vainio et al. 1995; Lakemeyer 1998; Sabatowski et al. 2003; Byas-Smith et al. 2005), sollte jedoch
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
z
aufgrund der hohen interindividuellen Variabilität stets im Einzelfall überprüft werden (Kress u. Kraft 2005; Strumpf et al. 2005). Verschiedene Studien der letzten Jahre kamen zu dem Ergebnis, dass Methadoneinnahme nicht grundsätzlich mit einer mangelnden Fahrtüchtigkeit gleichzusetzen ist. Allerdings zeigten sich in fahrrelevanten psychophysischen Leistungstests bei Methadonsubstituierten im Mittel schlechtere Resultate in den Bereichen Reaktionsvermögen, Konzentration und Daueraufmerksamkeit (Hauri-Bionda et al. 1998; Dittert et al. 1999; Specka u. Finkbeiner 2000). Einen gewissen Vorteil in Bezug auf verkehrsrelevante Leistungsparameter scheint der partielle Opiatantagonist Buprenorphin beim Vergleich mit Methadon aufzuweisen (Soyka et al. 2005 a). Berücksichtigt man das Problem des nicht seltenen Beikonsums sowie die oftmals fehlende Krankheitseinsicht, dürfte jedoch bei einer großen Zahl substituierter Patienten von einer Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeuges auszugehen sein (Berghaus 2002). z Amphetamine Die Vorkommensraten von Amphetaminen bei Autofahrern sind im Vergleich zu den Opiaten deutlich geringer und liegen in Deutschland bei verkehrsunauffälligen Fahrern bei 0,08% (Krüger et al. 1998). Nur wenige Untersuchungen haben sich der Auswirkung von Amphetaminen auf psychomotorische Funktionen gewidmet. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Akuteffekte der Substanz nur geringe Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit haben, teilweise sogar zu einer Verbesserung führen (Vollrath u. Krüger 2002). Einschränkend ist zu bemerken, dass gerade die stimulierende Wirkung der Substanz zu erhöhter Risikobereitschaft und Selbstüberschätzung führt. Meist sind es nicht die Akuteffekte einer Substanz, sondern die mit der stimulierenden Wirkung verbundene Überanstrengung und Erschöpfung, die ausschlaggebend bei der Risikobewertung einer Substanz sind (Schulz et al. 1997).
2.5.2.4.3 Medikamente/Psychopharmaka In den letzten Jahren sind vermehrt Fragen der Verkehrssicherheit bei Arzneimitteleinnahme in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Von den in Deutschland verfügbaren Medikamenten können 15 bis 20% die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen. Nach Schätzungen der Deutschen Verkehrswacht wird etwa jeder vierte Verkehrsunfall direkt oder indirekt durch Wirkungen und/oder Nebenwirkungen von Medikamenten mit beeinflusst. Mindestens 10% der bei Unfällen Verletzten oder Getöteten standen unter dem Einfluss von Psychopharmaka (van Laar u. Volkerts 1998; de Gier 1999). Systematische Studien zur Frage der Auswirkungen von Psychopharmaka auf psychomotorische und kognitive Leistungen in klinischen Populationen existieren nur vereinzelt; bezogen auf die Frage der Fahrtüchtigkeit stellt sich die Datenlage als noch unbefriedigender dar (Laux 1995 a; Berghaus
613
614
z
2 Kriminologie und Psychopathologie wichtiger Delinquenzformen
1997; Laux 2002; Brunnauer et al. 2004 a; Laux u. Brunnauer 2004, 2005). Die meisten Untersuchungen wurden an gesunden Probanden unter Einmaldosierungen durchgeführt und sind somit nur begrenzt auf klinische Alltagsbedingungen übertragbar. In Deutschland wurde vom TÜV Rheinland, basierend auf den Studienergebnissen der Arbeitsgruppe um Wolshrijn (1991) zum Themenbereich Medikamente und Verkehrssicherheit, eine Einzelbewertung verschiedener Medikamenten- und Substanzgruppen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Dosierungsvarianten errechnet. Diese Einteilung gibt ein Maß der Gefährdung der Verkehrssicherheit bei den verschiedenen Medikamentengruppen, stellt jedoch keine abschließende Bewertung dar (s. Tabelle 2.5.3). Eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln schließt die Teilnahme am Straßenverkehr nicht automatisch aus. Dies wird explizit in der neuen Auflage der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung der Bundesanstalt für Straßenwesen formuliert (Lewrenz 2000). Erst durch die Medikamenteneinnahme sind bei einer Reihe psychiatrischer Erkrankungen die Voraussetzungen zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen geschaffen. Stabilisierende Wirkungen von Arzneimitteln einerseits sowie mögliche Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit andererseits sind differenziert zu bewerten. Eine Grenzwertfestlegung analog zum Alkohol kann es aus pharmakologischen Gründen nicht geben. Die arzneimittelbedingte FahrunTabelle 2.5.3. Kategorisierungssystem für den Einfluss von Pharmaka auf die Fahrtauglichkeit
z Benzodiazepine z Barbiturate z Antihistaminika z Antikonvulsiva z Analgetika – Nonopioide – Opioide z Anticholinergika z Neuroleptika z H2-Antagonisten z Muskelrelaxanzien z Koronartherapeutika z Betablocker z Stimulanzien
mittlerer Gefährdungsindex 1
Variation 2
3,45 3,55 2,60 2,38
* * ** ***
2,17 2,51 3,62 2,86 1,33 1,75 2,76 1,34 2,45
**** *** ** ** ** **** *** ** ***
Bewertung: 1 = keine, 2 = leichte, 3 = deutliche, 4 = ernsthafte Beeinträchtigung Variation: * geringe bis **** große Variation, d. h. es gibt bei größerer Variation zunehmend alternative Medikamente ohne negative Einflusse auf das Leistungsverhalten; nach: Wolschrijn et al. (1991), Prüfstelle für Medikamenteneinflusse auf Verkehrs- und Arbeitssicherheit (PMWA), TÜV Rheinland
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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tüchtigkeit im medizinisch-juristischen Zusammenhang ist im Einzelfall zu beurteilen. Der Psychopharmaka verordnende Arzt ist dazu verpflichtet, den Patienten über möglicherweise die Verkehrssicherheit beeinträchtigende Nebenwirkungen zu informieren und sollte dies entsprechend dokumentieren (Laux 2002). z Tranquilizer und Hypnotika Eine Einnahme von Benzodiazepinen wird in Abhängigkeit von der Dosierung, der Anzahl der eingenommenen Präparate und der Dauer der Behandlung mit einem um den Faktor 1,5 bis 5,5 erhöhten relativen Verkehrsunfallrisiko bewertet. Vor allem zur Anxiolyse eingesetzte Benzodiazepine mit einer langen Halbwertszeit stellen eine deutliche Gefährdung der Verkehrssicherheit dar (Barbone et al. 1998; van Laar u. Volkerts 1998). Bei Verunfallten fanden sich in bis zu 13% der Fälle Benzodiazepine, vor allem bei den Unfallverursachern (Currie et al. 1995) In Fahrproben wurden für verschiedene Benzodiazepintranquilizer akute Beeinträchtigungen vergleichbar mit Blutalkoholkonzentrationen über 0,8 Promille nachgewiesen. Verschiedene Benzodiazepinhypnotika haben Residualeffekte, die zu ähnlichen Auffälligkeiten im Fahrverhalten führen wie Alkoholfahrten mit über 0,5 Promille und dies auch noch 16 bis 17 Stunden nach Einnahme des Medikaments (Verster et al. 2004). Auch nach einjähriger Einnahme war das Unfallrisiko unter Benzodiazepinen mit langer Halbwertszeit noch signifikant erhöht (Hemmelgarn et al. 1997). Die Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen scheint zudem zu generellen Einbußen in unterschiedlichen kognitiven Bereichen zu führen, die sich auch nach Absetzen des Medikaments nicht vollständig bessern (Barker et al. 2004). Experimentelle Untersuchungen belegen eindeutig eine dosisabhängige Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit durch Benzodiazepine. Metaanalysen weisen auf die Abhängigkeiten von Wirkdauer und Dosierung hin. Je kürzer die Wirkzeit desto schneller ist die Adaptation des Organismus an die Substanz erreicht (Laux 1995 b). So sind bei den kurz wirksamen Benzodiazepinen bereits in der ersten Applikationswoche nur mehr geringe Leistungseinbußen zu verzeichnen, während bei den lang wirksamen Benzodiazepinen auch nach diesem Zeitraum noch von einer erheblichen Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit auszugehen ist (Berghaus 1997; O’Hanlon et al. 1995). Von Kauert wurde folgendes FPAT-Schema zur Feststellung einer Fahruntüchtigkeit für Benzodiazepine aufgestellt: z Fahrauffälligkeiten, z Polizeiliche Beobachtungen am Fahrer, z Arztbefunde (motorisch/vegetativ/psychisch), z Toxikologie (Blut). (Bundesanstalt für Straßenwesen 2001). Zuletzt sei noch auf die Problematik der pharmakologisch ähnlichen Hypnotika Zopiclon und Zolpidem hingewiesen. Nach neueren Erkenntnissen
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kann es bei diesen Stoffen ebenfalls zu einem ausgeprägten Missbrauchsverhalten und einer Abhängigkeit kommen, wenn bisher auch nur wenig Fälle bekannt wurden. Selbst der bestimmungsgemäße Gebrauch dieser Substanzen führt zu einer erheblichen Einschränkung der Fahrtüchtigkeit (Volkerts u. O’Hanlon 1988; Logan u. Couper 2001). z Antipsychotika/Neuroleptika Daten zu Prävalenzraten neuroleptischer/antipsychotischer Medikation bei Autofahrern liegen bis jetzt nicht vor. Atypische Antipsychotika wirken sich im Behandlungsverlauf meist günstiger auf psychomotorische und kognitive Funktionen aus als konventionelle Neuroleptika, vor allem aufgrund der geringeren extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen. Eine Normalisierung attentionaler oder kognitiver Funktionen wird jedoch meist nicht erreicht (Keefe et al. 1999). Zur Frage der Beeinträchtigung verkehrsrelevanter Leistungen bei Patienten liegen bislang nur wenige Daten vor. Verallgemeinerbare Aussagen zu unterschiedlichen pharmakologischen Effekten auf die Verkehrssicherheit sind aufgrund dieser dünnen Datenbasis nur unter Vorbehalt möglich. Untersuchungen der eigenen Arbeitsgruppe kamen zu dem Ergebnis, dass nur etwa ein Drittel der schizophrenen Patienten zum Zeitpunkt der Entlassung aus stationärer psychiatrischer Behandlung die Anforderungen des Gesetzgebers an die Fahrtauglichkeit/psychomotorische Leistungsfähigkeit erfüllten. Tendenziell wiesen Patienten unter atypischen Antipsychotika bessere Ergebnisse als unter konventionellen Neuroleptika auf – sowohl in Laboruntersuchungen (Grabe et al. 1999; Kagerer et al. 2003; Brunnauer et al. 2004; Soyka et al. 2005 b) als auch in der Risikosimulation am Fahrsimulator (Brunnauer et al. 2005). Die große interindividuelle Variabilität von Testleistungen schizophrener Patienten im Hinblick auf kognitive und psychomotorische Leistungen weist auf die Notwendigkeit einer individuellen Bewertung der Verkehrssicherheit unter Berücksichtigung der psychopathologischen Leitsymptomatik sowie möglicher Kompensationsfaktoren hin. z Antidepressiva Unter trizyklischen Antidepressiva zeigt sich je nach Dosierung eine 2,2 bis fast sechsfach erhöhte Wahrscheinlichkeit, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden (Ray et al. 1992). Vor allem die Akuteffekte sedierender Antidepressiva wirkten sich bei realen Fahrproben mit Gesunden negativ auf das Fahrverhalten aus; nach einwöchiger Einnahme gab es aber gegenüber der Plazebogruppe keine Unterschiede mehr. Laboruntersuchungen zu Fragen der Verkehrssicherheit depressiver Patienten belegen, dass sich kognitive und psychomotorische Defizite im Rahmen der Response beziehungsweise Remission unter Antidepressivatherapie im Allgemeinen bessern. Akuteffekte von – insbesondere sedierenden – Antidepressiva können das Unfallrisiko erhöhten; dieses verschwindet aber im Allgemeinen relativ
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rasch unter remissionstabilisierender Medikation. Wichtig ist der Hinweis, dass die Fahrtüchtigkeit eines mit Antidepressiva (erfolgreich) behandelten Patienten günstiger einzuschätzen ist als die eines unbehandelten Patienten (Grabe et al. 1998; Laux et al. 2002; Brunnauer u. Laux 2003; Brunnauer et al. 2006).
2.5.2.5
Psychische Störungen/psychiatrische Erkrankungen
2.5.2.5.1 Altersbedingte Veränderungen Alterungsprozesse gehen oft mit Beeinträchtigungen in Bereichen der Informationsverarbeitung einher, die zu Einschränkungen der Verkehrssicherheit führen können. Von besonderer Relevanz für die Fahrtüchtigkeit sind vor allem Funktionen der visuellen/visuell-räumlichen Wahrnehmung (Owsley u. McGwin 1999) und visuellen Aufmerksamkeit, wie selektive, geteilte Aufmerksamkeit und Vigilanz (Marotolli et al. 1998). In verschiedenen Untersuchungen wurde zudem die Bedeutung exekutiver Funktionen, die unter anderem mit Informationsintegration, Handlungsplanung und Reaktionsauswahl in Verbindung gebracht werden, für eine sichere Verkehrsteilnahme herausgestellt (Daigneult et al. 2002). In einer Literaturübersicht zur Fahrtüchtigkeit Älterer weisen Anstey et al. (2005) darauf hin, dass neben Wahrnehmung, Kognition und allgemeinem Gesundheitszustand vor allem die Einsichtsfähigkeit in bestehende Beeinträchtigungen ein wichtiger Faktor für sicheres Fahrverhalten ist. Die Datenlage zu Risiken des Autofahrens im Alter ist uneinheitlich. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Risikoabschätzungen oftmals von divergierenden Grundlagen und Bezugsgrößen aus getroffen werden (Kaiser u. Oswald 2000). Von einigen Autoren wird vor allem in der Gruppe der über 75-Jährigen ein erhöhtes Unfallrisiko berichtet (Preusser et al. 1998; Guerrier et al. 1999) sowie ein deutlicher Anstieg der Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall getötet oder verletzt zu werden (Hautzinger et al. 1996; Preusser et al. 1998; Ritz 1999). Wie in Abschnitt 2.5.2.2 ausgeführt, weisen aufgrund der geringeren Fahrleistung Ältere im Vergleich zu Jüngeren zwar eine geringere Unfallbeteiligung auf, an einem Zustandekommen eines Unfalls trug diese Altersgruppe aber mit einem Anteil von 66% sehr häufig die Hauptschuld. Bei den mindestens 75-Jährigen wurde sogar 76% die Hauptschuld an einem Unfall mit Personenschaden zugewiesen.
2.5.2.5.2 Verkehrssicherheit bei demenziellem Syndrom In den Industriestaaten leiden zirka 10% der über 65-Jährigen unter mittelschweren bis schweren Demenzformen und schätzungsweise etwa 6 bis 8% der älteren Personen befinden sich in fraglichen oder leichten Stadien der Demenz (Hampel et al. 2003). Prospektive Analysen weisen darauf hin, dass die Zahl der von einer demenziellen Erkrankung betroffenen Personen in Deutschland von derzeit etwa 900 000 bis zum Jahr 2050 auf etwa zwei
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Millionen ansteigen wird (Bickel 2002). Demenzielle Erkrankungen gehen meist mit einem Leistungsabbau in unterschiedlichen Funktionsbereichen einher, die komplexe Anforderungen, wie das Autofahren, beeinträchtigen können. In kürzlich veröffentlichten Metaanalysen konnte gezeigt werden, dass vor allem visuell-räumliche und exekutive Leistungen kritische Leistungsfunktionen bei der Bewertung der Fahrtüchtigkeit von Personen mit demenziellem Syndrom darstellen (Reger et al. 2004; Brown u. Ott 2004). Die Diagnose einer Demenz oder organischen Persönlichkeitsveränderung alleine rechtfertigt jedoch den Entzug der Fahrerlaubnis nicht (Trobe et al. 1996; Brown u. Ott 2004; Hopkins et al. 2004). Die Beurteilung der Verkehrssicherheit in dieser Patientengruppe muss individuell erfolgen, anhand des Ausmaßes und des Schweregrads der Symptomatik sowie Kompensationsstrategien und Ressourceneinsatz (Laux 2002). Untersuchungen auf der Basis realer Fahrverhaltensproben belegen ein niedrigeres Leistungsniveau demenzieller Patienten im Vergleich zur gesunden Altersgruppe (Hunt et al. 1993; Fitten et al. 1995). Einige Autoren gehen von einem mehr als zweifach erhöhten Unfallrisiko bei Autofahrern mit einer demenziellen Erkrankung aus; dabei steigt das Risiko eines Unfalls mit der Dauer und dem Schweregrad der Erkrankung signifikant an (Friedland et al. 1988; Cooper et al. 1993). Auch wenn anzunehmen ist, dass in Anfangsstadien einer demenziellen Erkrankung Verhaltensumstellungen wie etwa Reduzierung der Fahrtätigkeit, Umkreisbeschränkungen etc. von den Erkrankten vorgenommen werden, wird die eigene Fahrtüchtigkeit von den Betroffenen oft falsch eingeschätzt und das Kraftfahrzeug, auch nachdem es bereits Empfehlungen gab, das Autofahren einzustellen, weiter genutzt (Wild u. Cotrell 2003). Insgesamt weisen aktuelle Forschungsergebnisse zur Fahrtüchtigkeit bei demenziellem Syndrom darauf hin, dass nur in sehr frühen Stadien der Demenz, entsprechend einem Wert von 0,5 auf dem „Clinical Dementia Rating“ (CDR; Hughes et al. 1982), von keinen Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit auszugehen ist. Bereits im leichtgradigen Stadium (CDR = 1) steigt das Risiko für Fehlleistungen deutlich an. Bei mittel- und schwergradigen Demenzen besteht keine Fahreignung mehr (Dubinsky et al. 2000; Mix et al. 2004).
2.5.2.5.3 Verkehrssicherheit bei schizophrenen und affektiven Störungen Schizophrene und affektive Psychosen gehen mit einer Vielzahl kognitiver Auffälligkeiten einher, die oftmals auch nach weitgehender Remission der psychopathologischen Symptomatik bestehen bleiben (Veiel 1997; Christensen et al. 1997; Heinrichs u. Zakzanis 1998; Heaton et al. 2001; Hoff u. Kremen 2003). Laboruntersuchungen zu Fragen der Fahrtüchtigkeit belegen, dass je nach Medikamentengruppe etwa 60 bis 70% der Patienten mit depressiven oder schizophrenen Erkrankungen kurz vor der Entlassung aus stationärer Behandlung und unter pharmakologischen Steady-state-Bedingungen nicht die in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung der Bundesanstalt für Straßenwesen (bast) geforderten Mindestleistungen an
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die psychomotorische Leistungsfähigkeit erfüllen (Grabe et al. 1998, 1999; Laux et al. 2002; Brunnauer u. Laux 2003; Kagerer et al. 2003; Brunnauer et al. 2004, 2005; Soyka et al. 2005 b). Verlaufsuntersuchungen bei schizophrenen Patienten weisen allerdings darauf hin, dass es über den stationären Behandlungszeitraum hinaus in vielen Fällen zu einer Verbesserung und Stabilisierung in verkehrsrelevanten Leistungsparametern kommt. Bei etwa 25% der Patienten sind jedoch auch nach mehr als sechs Monaten nach der Entlassung aus stationärer Behandlung deutliche Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit festzustellen (Geiger et al. 2004). Trotz der oben beschriebenen Auffälligkeiten in psychomotorischen Leistungsfunktionen treten diese Patientengruppen in der Verkehrsdelinquenz kaum in Erscheinung. Verursacheranalysen liegen nicht vor und die epidemiologische Datenlage bezüglich Unfallrisiken depressiver oder schizophrener Patienten ist insgesamt dünn und von einer Reihe von methodischen Problemen gekennzeichnet. Einige Studien belegen kein erhöhtes Verkehrsunfallrisiko für schizophrene Patienten (Crancer u. Quiring 1969; Kastrup et al. 1978) oder auch ein bis zu zweifach erhöhtes Unfallrisiko im Vergleich zu Kontrollpersonen (Waller 1965; Eelkema et al. 1970; Edlund et al. 1989). Die Evidenz für ein erhöhtes Verkehrsrisiko als Folge suizidaler Intentionen im Rahmen depressiver Erkrankungen scheint eher gering zu sein (Tsuang et al. 1985; Silverstone 1988). Immerhin weisen Ergebnisse einer finnischen Kohortenstudie, die in den Jahren von 1974 bis 1992 durchgeführt wurde, auf eine Zunahme suizidal motivierter tödlicher Unfälle im Rahmen depressiver Zustände hin (Hernetkoshki u. Keskinen 1992). Insgesamt scheinen psychiatrische Patienten ein erhöhtes Unfallrisiko zu haben. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass vor allem komorbide Persönlichkeitsstörungen, Alkoholismus und paranoide Symptomatik kritische Faktoren für die Verkehrssicherheit in dieser Gruppe darstellen (Tsuang et al. 1985; Silverstone 1988; Menedez 1994).
2.5.2.6 Begutachtung der Verkehrssicherheit In Deutschland besteht keine Meldepflicht für Erkrankungen, die die Fahrtüchtigkeit einschränken können. Der Verkehrsteilnehmer hat jedoch die Pflicht zur Vorsorge, dass er nicht aufgrund physischer oder psychischer Erkrankungen beeinträchtigt ist, sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen (§ 2 Fahrerlaubnisverordnung – FeV). Der Behandelnde wiederum hat Aufklärungspflichten gegenüber dem Patienten; er muss ihn über Risiken der Erkrankung, der Therapie und eventuelle Konsequenzen für den Alltag informieren. In bestimmten Krankheits- und medikamentösen Behandlungsphasen kann die Fahrtüchtigkeit aufgehoben sein. Erst wenn die Response auf die medikamentöse Behandlung einschätzbar ist und keine verkehrsrelevanten Einschränkungen beobachtbar sind, kann eine aktive Verkehrsteilnahme verantwortet werden. Abbildung 2.5.7 gibt eine schematische Übersicht zur Vorgehensweise bei der Beurteilung der Verkehrssicherheit.
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Beurteilung des klinischen Bildes unter pharmakologischen Steady-stateBedingungen gemäß Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung
negativ nicht fahrtüchtig
positiv nein Hinweise auf Leistungseinbußen?
fahrtüchtig
ja Leistungsdiagnostik unter Berücksichtigung von Kompensationsmöglichkeiten, Fahrerfahrung etc. gemäß Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung
positiv
fahrtüchtig (evtl. bedingte Eignung §11 Abs. 2 FeV)
positiv
fahrtüchtig (evtl. bedingte Eignung §11 Abs. 2 FeV)
negativ fakultativ praktische Fahrverhaltensprobe
negativ nicht fahrtüchtig
Überprüfung der medikamentösen Behandlung - eventuell Neueinstellung oder Umstellung der Medikamente Verlaufsuntersuchung nach weiterer klinischer Stabilisierung
Abb. 2.5.7. Beurteilung der Verkehrssicherheit unter Medikamenteneinnahme
Da bei einer informellen Abklärung der Fahrtüchtigkeit der Untersucher oft auch Behandelnder ist, kann es zu Pflichtenkollisionen kommen. Als Arzt oder Psychologe ist man jedoch vorrangig nicht der Verkehrssicherheit, sondern dem Patienten verpflichtet. Grundsätzlich gilt zunächst die Schweigepflicht nach § 203 StGB. Auch im Falle von Gutachtenaufträgen zur Vorlage bei der Straßenverkehrsbehörde hat der Patient und nicht die Behörde Anspruch auf Aushändigung des Gutachtens; dieses darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Betroffenen an Dritte weitergeleitet werden. In Ausnahmefällen ist denkbar, dass ein Recht zur Durchbrechung der Schweigepflicht besteht, wenn kein anderes Mittel mehr gegeben ist, um die von einem verkehrsuntüchtigen Patienten ausgehende Gefahr abzuwenden. Dies setzt voraus, dass der Arzt oder Psychologe zunächst versucht hat, durch Aufklärung über Risiken und eventuell Einbeziehung von Angehörigen die Teilnahme des Patienten am Kraftverkehr zu verhindern. Eine wesentliche Pflicht des Behandelnden ist, den Patienten über Einschränkungen der Fahrtüchtigkeit aufzuklären, gegebenenfalls auf mögliche Gefahren hinzuweisen und rechtliche Rahmenbedingungen zu erörtern.
2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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Ziel der Beratung ist eine individuelle Abschätzung eines möglichen Gefährdungspotenzials für die Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr unter Berücksichtigung der persönlichen Krankheitsgeschichte, der medikamentösen Behandlung und Compliance, der Einschätzung von Leistungseinschränkungen sowie von Kompensationsmöglichkeiten. Wichtig ist hierbei die Dokumentation des Beratungsgesprächs und schriftliche Bestätigung der Aufklärung durch den Patienten (Laux 2002). Psychische Störungen/psychiatrische Erkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheiten, Psychopharmaka gehören zu den meistverordneten Medikamenten. Für den Themenkreis Verkehrsdelinquenz stellen sie den inhaltlichen Schwerpunkt dar, aufgrund der Komplexität der Materie mit hoher individueller Varianz bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Schwierigkeiten der Materie werden unter anderem daran deutlich, dass auch in der neuen Auflage der Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung keine Ausführungen zu Persönlichkeitsstörungen enthalten sind. Im Sinne der Prävention von Verkehrsdelinquenz muss es das Ziel sein, Einfluss auf empirisch gesicherte Risikofaktoren zu nehmen. Dies scheint – wenn auch in begrenztem Maße – möglich zu sein: Am Beispiel der Gurtpflicht mit konsekutiver signifikanter Reduktion von Unfallverletzungen und Verkehrstoten, aber auch Effizienzstudien zur Dichte von Verkehrskontrollen hat sich gezeigt, dass das Regulierungsinstrumentarium des Staates erheblichen Einfluss auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern ausüben kann.
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2.5 Straßenverkehrsdelinquenz
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2.6
Politisch motivierte Delinquenz
2.6.1
Juristische und kriminologische Grundlagen zur politisch motivierten Delinquenz D. Dölling, C. Laue
2.6.1.1 Juristische Grundlagen Ein Konnex zum Politischen kann im Strafrecht auf zwei Weisen bestehen: Zum einen schützt das Strafrecht bestimmte politische Rechtsgüter. Diese Tatbestände werden unter 2.6.1.1.1 dargestellt. Zum anderen können an sich politisch neutrale Tatbestände aus politischen Motiven heraus verwirklicht werden, z. B. durch einen politisch motivierten Mord. Die strafrechtliche Bedeutung dieser besonderen Motivation wird unter 2.6.1.1.2 beispielhaft behandelt.
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Politisch motivierte Delinquenz
2.6.1
Juristische und kriminologische Grundlagen zur politisch motivierten Delinquenz D. Dölling, C. Laue
2.6.1.1 Juristische Grundlagen Ein Konnex zum Politischen kann im Strafrecht auf zwei Weisen bestehen: Zum einen schützt das Strafrecht bestimmte politische Rechtsgüter. Diese Tatbestände werden unter 2.6.1.1.1 dargestellt. Zum anderen können an sich politisch neutrale Tatbestände aus politischen Motiven heraus verwirklicht werden, z. B. durch einen politisch motivierten Mord. Die strafrechtliche Bedeutung dieser besonderen Motivation wird unter 2.6.1.1.2 beispielhaft behandelt.
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2.6.1.1.1 Schutz von politischen Rechtsgütern z Überblick Das so genannte Staatsschutzstrafrecht des ersten und zweiten Abschnitts des Besonderen Teils des StGB (§§ 80–101 a) schützt den durch das Grundgesetz konkretisierten demokratischen Rechtsstaat. Im Einzelnen werden dabei folgende Rechtsgüter durch das StGB erfasst (Laufhütte u. Kuschel 2007, Vor § 80 Rn 20): z der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder, d. h. die Freiheit von fremder Botmäßigkeit und die staatliche Einheit und Integrität des Staatsgebiets, z die äußere und innere Sicherheit, d. h. ein Zustand relativer Ungefährdetheit gegenüber fremden Staaten und gegenüber gewaltsamen Aktionen innerstaatlicher Kräfte, z der Schutz der Verfassungsgrundsätze nach § 92 Abs. 2 StGB, unter anderem das Demokratieprinzip, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft. Im dritten Abschnitt des StGB (§§ 102–104 a StGB) werden ausländische Staaten sowie ihre Organe und Hoheitszeichen geschützt. Geschützte Rechtsgüter des vierten Abschnitts (§§ 105–108 e StGB) sind die Freiheit und Integrität der demokratischen Willensbildung und Willensäußerung. Der fünfte Abschnitt (§§ 109–109 k StGB) schützt die Landesverteidigung. Außerdem enthält der sechste Abschnitt über Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (§§ 123–145 d StGB) einige Strafvorschriften zum Schutz politischer Werte. Dem Schutz vor politischer Verfolgung dienen die §§ 234 a und 241 a StGB. Straftaten gegen das Völkerrecht sind im Völkerstrafgesetzbuch geregelt. z Straftaten gegen Bestand, Grundordnung und Sicherheit des Staates Der erste Abschnitt des Besonderen Teils des StGB umfasst Friedensverrat, Hochverrat und die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats. Friedensverrat wird durch Vorbereitung eines Angriffskriegs (§ 80 StGB) oder durch Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) begangen. Geschützt werden der Frieden der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Völkern und die äußere Sicherheit (Lackner u. Kühl 2007, § 80 Rn 1). Hochverrat begeht, wer es unternimmt, den Bestand oder die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu beeinträchtigen (§§ 81, 82 StGB). Bereits die Vorbereitung ist strafbar (§ 83 StGB). § 84 StGB stellt die Betätigung in einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder deren Unterstützung unter Strafe. Das Gleiche gilt auch für die Ersatzorganisation einer solchen Partei. Nach Art. 21 Abs. 2 GG ist eine Partei verfassungswidrig, die nach ih-
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ren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden. Über die Verfassungswidrigkeit hat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden; eine Strafbarkeit nach § 84 StGB kommt daher nur im Zusammenhang mit einer Partei in Frage, über die eine solche Entscheidung gefällt wurde. Bisher gab es lediglich zwei solche Entscheidungen: 1952 gegen die Sozialistische Reichspartei, eine Nachfolgepartei der NSDAP, und 1956 gegen die Kommunistische Partei Deutschlands. Praktisch etwas bedeutender ist § 85 StGB, wonach sich derjenige strafbar macht, der sich in einer Vereinigung betätigt, die nach dem Parteiengesetz als Ersatzorganisation einer verbotenen Partei eingestuft wurde oder die nach dem Vereinsgesetz verboten wurde, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. § 86 StGB stellt das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen unter Strafe. Zu den verfassungswidrigen Organisationen gehören die aus den bereits genannten Gründen verbotenen Parteien oder Vereinigungen beziehungsweise deren Ersatzorganisationen sowie Regierungen und Vereinigungen, die von außerhalb der Bundesrepublik für die Zwecke einer verbotenen Partei oder Vereinigung tätig sind. Propagandamittel sind Schriften oder andere Darstellungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind (§ 86 Abs. 2 StGB). Erfasst sind auch Darstellungen, die dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzuführen. Die Propagandamittel müssen „nachkonstitutionell“, d. h. nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hergestellt sein, denn die Vorschrift schützt den demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Fischer 2008, § 86 Rn 4; BGHSt 29, 73: Hitlers „Mein Kampf“ darf antiquarisch vertrieben werden, auch der Besitz ist nicht strafbar). Gemäß § 86 Abs. 3 StGB liegt keine Strafbarkeit vor, wenn das Propagandamittel oder die tatbestandliche Handlung sozialadäquaten Zwecken dienen; darunter fallen staatsbürgerliche Aufklärung, Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, Kunst, Wissenschaft und Lehre sowie die Berichterstattung über (zeit)geschichtliche Vorgänge. Nach § 86 a StGB steht die Verbreitung oder öffentliche Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, das sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen oder Grußformen, unter Strafe. Durch diese Vorschrift soll auch der politische Frieden geschützt werden, der durch die Wiederbelebung verfassungswidriger Organisationen gestört werden könnte. Unter die erfassten Kennzeichen fallen insbesondere das Hakenkreuz, SS-Runen und der Hitlergruß (Laufhütte u. Kuschel 2007, § 86 a Rn 6). Die Verwendung muss öffentlich geschehen; das ist gegeben, wenn das Kennzeichen selbst oder eine Abbildung davon für jedermann erkennbar offen ausliegt (BGHSt 29, 73, 83). Der BGH hat entschieden, dass der Tatbestand dann nicht erfüllt ist, wenn bereits der Inhalt der Darstel-
2.6 Politisch motivierte Delinquenz
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lung in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt, so etwa bei einem als antifaschistischem Symbol erkennbaren durchgestrichenen Hakenkreuz (BGHSt 51, 244). Dies gilt selbst dann, wenn solche Artikel aus kommerziellen Interessen massenhaft vertrieben werden. Auch bei § 86 a StGB gilt die Sozialadäquanzklausel des § 86 Abs. 3 StGB. Die §§ 87 und 88 StGB stellen bestimmte Sabotagehandlungen unter Strafe. Nach § 89 StGB macht sich strafbar, wer auf Angehörige der Bundeswehr oder eines öffentlichen Sicherheitsorgans planmäßig einwirkt, um deren Bereitschaft zum Schutz der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder der verfassungsmäßigen Ordnung zu untergraben. Gemäß §§ 90 bis 90 b StGB sind Verunglimpfungen des Staates, seiner Symbole und von Verfassungsorganen strafbar. Der zweite Abschnitt des Besonderen Teils des StGB behandelt den Verrat von Staatsgeheimnissen. Staatsgeheimnisse sind nach der Legaldefinition des § 93 Abs. 1 StGB „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheim gehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden“. Landesverrat begeht nach § 94 Abs. 1 StGB, wer ein Staatsgeheimnis einer fremden Macht mitteilt oder sonst an einen Unbefugten gelangen lässt oder öffentlich bekannt macht, um die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen. Hierdurch muss die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik herbeigeführt werden. Die Vorbereitung des Landesverrats durch das Ausspähen und Auskundschaften von Staatsgeheimnissen steht nach § 96 StGB unter Strafe. Keine Staatsgeheimnisse sind Tatsachen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder unter Geheimhaltung gegenüber Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen (so genannte illegale Geheimnisse). Diese Tatsachen dürfen grundsätzlich straffrei offenbart werden. Ihr Verrat unmittelbar an eine fremde Macht oder einen ihrer Mittelsmänner ist aber nach § 97 a StGB unter Strafe gestellt. Agententätigkeit ist nach den §§ 98, 99 StGB strafbar. Darunter fällt nach § 98 StGB die Ausübung einer Tätigkeit für eine fremde Macht, die auf die Erlangung oder Mitteilung von Staatsgeheimnissen gerichtet ist, oder die Bereiterklärung dazu. Erfolgt eine Agententätigkeit für den Geheimdienst einer fremden Macht, ergibt sich die Strafbarkeit aus § 99 StGB. Dem Schutz von Organen und Vertretern ausländischer Staaten gegen körperliche Angriffe und Beleidigungen und von ausländischen Flaggen und Hoheitszeichen dienen die §§ 102 bis 104 a StGB. Der vierte Abschnitt des Besonderen Teils des StGB behandelt Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen. Die §§ 105 und 106 StGB stellen bestimmte Nötigungen von Verfassungsorganen und von deren Mitgliedern unter Strafe. Wahlen und Abstimmungen werden in den §§ 107 bis 108 e StGB gegen Behinderung, Fälschung, Verletzung des
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Wahlgeheimnisses, Wählernötigung, Wählertäuschung und Bestechung von Wählern und Abgeordneten geschützt. Die §§ 109 bis 109 h StGB betreffen Straftaten gegen die Landesverteidigung, z. B. die Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung nach § 109. z Straftaten gegen die öffentliche Ordnung Im siebenten Abschnitt des Besonderen Teils des StGB finden sich einige Vorschriften, die sich gegen extremistische politische Tätigkeiten wenden. Dieser Abschnitt umfasst sensible Regelungsbereiche, die in einem ausgeprägten politischen Spannungsfeld angesiedelt sind. Im Vordergrund steht dabei die Bekämpfung von (auch terroristischer) Gewalt, daneben sind aber noch andere Aspekte erfasst, unter anderem der Schutz der Menschenwürde und die Sicherheit von Bevölkerungsgruppen, so bei der Volksverhetzung. § 129 a StGB stellt die Bildung terroristischer Vereinigungen unter Strafe. Strafbar nach Absatz 1 ist, wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder erpresserischen Menschenraub beziehungsweise Geiselnahme zu begehen. Nach Absatz 2 ist strafbar, wer eine Vereinigung gründet, die darauf gerichtet ist, bestimmte Straftaten zu begehen, um die Bevölkerung erheblich einzuschüchtern, eine Behörde oder internationale Organisation rechtswidrig durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen, wenn durch die Begehung oder Auswirkungen einer solchen Tat ein Staat oder eine internationale Organisation erheblich geschädigt werden kann. Die Vorschrift bildet einen Qualifikationstatbestand zur Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 StGB und schützt wie dieser den öffentlichen Frieden, der die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit umfasst (Lenckner u. Sternberg-Lieben 2006, § 129 Rn 1). Strafbar ist auch die Beteiligung an einer solchen Vereinigung als Mitglied und nach § 129 a Abs. 5 StGB die Unterstützung sowie die Werbung um Mitglieder oder Unterstützer. Die Volksverhetzung ist in § 130 StGB geregelt. Nach Absatz 1 der Vorschrift macht sich strafbar, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder wer die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet. Nach Absatz 2 ist strafbar, wer Schriften oder andere Darstellungen, die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstacheln oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer angreifen, verbreitet, in bestimmter Weise zugänglich macht oder herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ein- oder auszuführen unternimmt oder wer eine solche Darstellung über Massenmedien verbreitet.
2.6 Politisch motivierte Delinquenz
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In § 130 Abs. 3 StGB ist die so genannte Auschwitz-Lüge unter Strafe gestellt. Danach macht sich strafbar, wer den nationalsozialistischen Holocaust in einer Art, die den öffentlichen Frieden zu stören geeignet ist, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost. Geschützt werden soll durch diese Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers das Allgemeininteresse, dass das politische Klima nicht vergiftet wird (BGHSt 46, 36, 40). Teile der Literatur sehen den öffentlichen Frieden und daneben die persönliche Würde der Betroffenen als geschütztes Rechtsgut an (Miebach u. Schäfer 2005, § 130 Rn 5). z Schutz vor politischer Verfolgung Die Tatbestände der Verschleppung nach § 234 a StGB und der politischen Verdächtigung nach § 241 a StGB sollen die Freiheit des einzelnen vor politischer Verfolgung schützen. Beide Vorschriften sind konkrete Gefährdungsdelikte. Das Opfer muss der Gefahr ausgesetzt werden, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden. Nach § 234 a StGB ist notwendig, dass der Täter einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb der Bundesrepublik Deutschland verbringt oder veranlasst, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren. Tathandlung nach § 241 a StGB ist eine Anzeige oder Verdächtigung (Abs. 1) oder das Machen oder Übermitteln einer Mitteilung über einen anderen (Abs. 2). Auf den Wahrheitsgehalt der Anzeige, Verdächtigung oder Mitteilung kommt es nicht an. z Straftaten gegen das Völkerrecht Als Straftaten gegen das Völkerrecht stellt das Völkerstrafgesetzbuch den Völkermord (§ 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7) und Kriegsverbrechen (§§ 8 bis 12) unter Strafe (s. dazu Werle 2007, S. 261 ff., 304 ff., 374 ff.).
2.6.1.1.2 Sonstige politisch motivierte Delikte Als Beispiele für Straftatbestände, die aus politischen Motiven verwirklicht werden können, seien der Mord und die Nötigung angesprochen. z Mord, § 211 Aufgrund einer politischen Motivation kann ein vorsätzliches Tötungsdelikt wegen niedriger Beweggründe als Mord zu bewerten sein. Dies ist regelmäßig der Fall bei einer Tötung aus rassistischen Motiven (BGH NStZ 1994, 124), bei Ausländerhass (BGH NJW 2000, 1583, 1584) oder bei einer
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Tötung zur „ethnischen Säuberung“ (Jähnke 2001, § 211 Rn 27). Politisch motivierte Tötungen zeichnen sich häufig durch eine eklatante Missachtung des Persönlichkeitswerts des Opfers aus. Dies spricht für die Annahme eines niedrigen Beweggrundes, wenn die mit der Tat verfolgten politischen Interessen nicht mit der Wahrung der Menschenrechte vereinbar sind (Fischer 2008, § 211 Rn 21). Allerdings sind auch Fälle denkbar, in denen ein Handeln im Allgemeininteresse zu einer milderen Bewertung der Tat führen könnte. Inwieweit dies der Fall ist, ist sehr umstritten (s. dazu v. Selle 2000). Auch bei Verneinung eines niedrigen Beweggrundes bleibt das vorsätzliche Tötungsdelikt als Totschlag nach § 212 StGB strafbar. z Nötigung, § 240 Die Bedeutung politischer Motivationen und Fernziele bei der Begehung von Straftaten wurde insbesondere beim Tatbestand der Nötigung und hier insbesondere im Zusammenhang mit den so genannte Sitzdemonstrationen diskutiert. Hierbei sind zwei Problemkreise zu unterscheiden: zum einen die Entwicklung des Gewaltbegriffs im Rahmen des § 240 StGB, zum anderen die Frage, ob die von § 240 Abs. 2 StGB vorausgesetzte besondere Verwerflichkeit der Tat zu bejahen ist. Der Tatbestand der Nötigung setzt nach § 240 Abs. 1 StGB voraus, dass der Täter einen anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zwingt. Höchst umstritten war die Frage, ob Demonstranten durch das Sitzen auf Zufahrtswegen (etwa zur Baustelle der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf) Gewalt gegenüber denjenigen üben, denen die Zufahrt zu einem Objekt verwehrt wird (Sitzblockade). Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG ist Gewalt bei Blockadeaktionen anzunehmen, wenn die Demonstranten „über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten“ (BVerfGE 104, 92, 101). Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist die Nötigung rechtswidrig, wenn die Androhung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Es ist umstritten, ob die politischen Fernziele des Täters – sein Eintreten z. B. für Abrüstung oder Umweltschutz – bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen sind oder erst in die Strafzumessung einfließen. Die überwiegende Meinung geht davon aus, dass eine politische Motivation des Täters mangels objektiver Bewertbarkeit nicht in die Verwerflichkeitsprüfung eingeht (BGHSt 35, 270, 279 f.; Fischer 2008, § 240 Rn 44, a.A. Rengier 2008, S. 172). Als bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigender Zweck der Nötigung bleibt daher nur der Nötigungserfolg als Nahziel. Unumstritten ist dagegen, dass die Fernziele des Täters bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden.
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2.6.1.2 Kriminologische Grundlagen Politisch motivierte Kriminalität weist unterschiedliche Erscheinungsformen auf. Die Delikte können sowohl von Trägern staatlicher Ämter und damit durch den Staat als auch gegen den Staat begangen werden (Schneider 2007, S. 741 ff., 747 f.). Die Straftaten können unterschiedliche Schwere aufweisen. Die Skala reicht von in ihren Auswirkungen begrenzten Delikten wie z. B. der Verwendung des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation bis zur Makrokriminalität, etwa Völkermord. In Deutschland werden aus politisch-extremistischen Gründen begangene Straftaten seit 2001 durch den Kriminalpolizeilichen Meldedienst „Politisch motivierte Kriminalität“ erfasst. Dieses Meldesystem hat den früheren, als defizitär angesehenen Kriminalpolizeilichen Meldedienst Staatsschutz abgelöst. Wegen der unterschiedlichen Gestaltung der Meldesysteme sind Langzeitvergleiche für die Zeit vor und nach 2001 nicht möglich (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 135). Im Folgenden wird die Entwicklung der politisch motivierten Kriminalität seit 2001 dargestellt (zur Entwicklung bis 2001 s. Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 283 ff., 296 ff. und 302 f.). Der Meldedienst „Politisch motivierte Kriminalität“ differenziert zwischen „politisch motivierter Kriminalität – rechts“, „politisch motivierter Kriminalität – links“ und politisch motivierter Ausländerkriminalität. Die Zahl der „politisch rechts motivierten“ Straftaten betrug 2001 14 725, 2003 11 576 und 2005 15 914. Es überwiegen Propagandadelikte (2005: 10 905) und Volksverhetzung (2350). Die Zahl der Gewaltdelikte belief sich 2001 auf 980, 2003 auf 845 und 2005 auf 1034. Bei den meisten Gewaltstraftaten handelt es sich um Körperverletzungen (2005: 802), gefolgt von Widerstandsdelikten (50). Der „politisch motivierten Kriminalität – rechts“ werden auch fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten zugeordnet. Die Zahl der fremdenfeindlichen Delikte betrug 2001 3391, 2003 2431 und 2005 2493. Die Zahl der Straftaten mit antisemitischem Hintergrund lag 2001 bei 1629, 2003 bei 1226 und 2005 bei 1682 (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 150 ff.). Die ermittelten Täter sind überwiegend unter 25 Jahre alte Männer, die häufig auch mit anderen Straftaten in Erscheinung getreten sind. Sie verfügen über einen einfachen bis mittleren Bildungsabschluss, die Arbeitslosigkeit ist überproportional hoch. Knapp die Hälfte ist der Skinheadbewegung zuzurechnen (ebd., S. 154 f.). Die Skinheadgruppen werden in diesem Band in Abschnitt 1.5.4.4 behandelt. In der Kategorie der „politisch links motivierten“ Straftaten wurden 2001 1895 Delikte erfasst, 2003 3614 und 2005 4898. Die meisten Straftaten waren Sachbeschädigungen (2005: 1639). Die Zahl der Gewaltdelikte betrug 2005 896, wobei es sich überwiegend um Körperverletzungen handelte (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 165 ff.). Die meisten Gewalttaten gehen von den autonomen Szenen aus (ebd., S. 163). Auch bei der linksextremistischen Kriminalität sind die Täter überwiegend junge Männer. Der Frauenanteil ist allerdings höher als
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bei der rechtsextremistischen Delinquenz. 2004 waren im Bereich der „politisch motivierten Kriminalität – links“ 20% der Täter Frauen; demgegenüber betrug der Frauenanteil bei der „politisch motivierten Kriminalität – rechts“ 8% (ebd., S. 166). Als politisch motivierte Kriminalität ausländischer Gruppen wurden insbesondere Delikte linksextremistischer, separatistischer und islamistischer ausländischer Organisationen registriert (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2006, S. 168 ff.). Die Fallzahl für die politisch motivierte Ausländerkriminalität betrug 2001 511, 2003 1743 und 2005 771. Die hohe Zahl für das Jahr 2003 beruht auf zahlreichen Straftaten, die im Zusammenhang mit dem damaligen Verbot des „Kalifatstaates“ aufgedeckt wurden. Bei den Straftaten handelt es sich insbesondere um Verstöße gegen Vereinigungsverbote (§ 85 StGB, § 20 Vereinsgesetz). 2005 wurden 71 politisch motivierte Gewalttaten gezählt, darunter 40 Körperverletzungen. Die Täter sind überwiegend über 25 Jahre alt (ebd., S. 172 ff.). Unter den Verurteilungen wegen Straftaten gegen Bestand, Grundordnung und Sicherheit des Staates (erster bis fünfter Abschnitt des Besonderen Teils des StGB) überwiegen Verurteilungen wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a StGB) und wegen Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 StGB). 2006 wurden – bezogen auf die alten Bundesländer einschließlich Gesamt-Berlin – 681 Personen nach § 86 a StGB und 554 gemäß § 86 StGB verurteilt. Wegen anderer Straftaten der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats (§§ 84, 85, 87 bis 90 b StGB) erfolgten 107 Verurteilungen. 42 Personen wurden wegen Straftaten gegen Verfassungsorgane oder bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 105 bis 108 e StGB) verurteilt, 30 wegen Landesverrats oder sonstiger Gefährdungen der äußeren Sicherheit. Jeweils eine Person wurde wegen Friedensverrats (§§ 80, 80 a StGB) und wegen einer Straftat gegen ausländische Staaten (§§ 102 bis 104 a StGB) verurteilt (Statistisches Bundesamt 2007, S. 26 f.) Zu den Erscheinungsformen politisch motivierter Kriminalität gehören auch Attentate, also Angriffe gegen Leib und Leben von Persönlichkeiten des politischen Lebens. Hinsichtlich der Person der Attentäter wird zwischen folgenden Typen unterschieden: politische Überzeugungstäter; pseudopolitische, egozentrische Attentäter, die aus persönlichem Geltungsbedürfnis handeln und politische Motive vorgeben; in ihrer persönlichen Entwicklung gestörte Attentäter mit Kontaktproblemen und Hass auf die Gesellschaft; geisteskranke Attentäter; gedungene Attentäter, die zum Zweck einer Belohnung handeln (Schneider 2007, S. 755). Eine weitere Erscheinungsform der politischen Kriminalität ist der Terrorismus. Er wird in diesem Band in Abschnitt 1.5.6 erörtert. Wie die Geschichte gezeigt hat, können auch Staatsapparate zur Begehung von Straftaten eingesetzt werden. Dies hat unter anderem zu Verbrechen des Völkermordes geführt (dazu ebd., S. 761 ff.). Sie werden möglich, wenn Täter an die Macht gelangen, die eine menschenrechtswidrige Ideologie vertreten, nach der bestimmte Gruppen von Menschen als minderwertig anzusehen
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sind und nicht den Status gleichberechtigter Menschen haben. Die Ausführung der Taten durch die Befehlsempfänger wird dadurch erleichtert, dass diese sich wegen einer vermeintlichen Gehorsamspflicht und ihrer Stellung als „kleines Rad im Getriebe“ von Verantwortung entlastet fühlen (vgl. zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität Jäger 1967).
Literatur Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz (Hrsg) (2001) Erster Periodischer Sicherheitsbericht. Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz, Berlin Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz (Hrsg) (2006) Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht. Bundesministerium des Innern, Bundesministerium der Justiz, Berlin Fischer T (2008) Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. Beck, München Jäger H (1967) Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität. Olten, Freiburg i Br Jähnke (2001) Kommentierung des § 211 StGB. In: Jähnke B, Laufhütte HW, Odensky W (Hrsg) Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Großkommentar, Bd 5, 11. Aufl. De Gruyter, Berlin New York Lackner K, Kühl K (2007) Strafgesetzbuch. Kommentar, 26. Aufl. Beck, München Laufhütte HW, Kuschel A (2007) Kommentierung der §§ 80 bis 90 b. In: Laufhütte HW, Rissing-van Saan R, Tiedemann K (Hrsg) Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Großkommentar, Bd 4, 12. Aufl. De Gruyter, Berlin, S 1–175 Lenckner T, Sternberg-Lieben D (2006) Kommentierung des § 129. In: Schönke A, Schröder H: Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl. Beck, München, S 1276–1289 Miebach K, Schäfer J (2005) Kommentierung des § 130. In: Joecks W, Niebach K (Hrsg) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd 2/2. Beck, München, S 530–561 Rengier R (2008) Strafrecht Besonderer Teil II. Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit, 9. Aufl. Beck, München Schneider H (2007) Politische Kriminalität. Dimensionen, Typologien, Verhaltenssysteme. In: Schneider HJ (Hrsg) Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd 1: Grundlagen der Kriminologie. De Gruyter, Berlin, S 739–792 Selle D von (2000) Zur Strafbarkeit des politisch motivierten Tötungsverbrechens. NJW 53: 992–996 Statistisches Bundesamt (2007) Fachserie 10 Rechtspflege. Reihe 3 Strafverfolgung. 2006. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Werle G (2007) Völkerstrafrecht, 2. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen
2.6.2 Forensisch-psychiatrische Aspekte zur politisch motivierten Delinquenz H. Saß Im Beitrag von Dölling und Laue (Abschn. 2.6.1) ist ausgeführt, dass ein Konnex zum Politischen im Strafrecht einerseits den Schutz politischer Rechtsgüter betreffen kann, andererseits geht es um an sich politisch neutrale Straftaten, die aus politischen Motiven heraus begangen werden. Einige der Fallgestaltungen sind von Dölling und Laue (2.6.1.1.2) aufgeführt,
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etwa aus politischen Motiven begangene vorsätzliche Tötungsdelikte, so bei Handlungen aus rassistischen Motiven oder Tötungen im Kontext einer so genannten ethnischen Säuberung. Zu einigen der Problemkreise sollen hier Gesichtspunkte aus psychopathologischer Perspektive genannt werden. Eine frühe Darstellung der politischen Kriminalität in Deutschland am Beispiel des Terrorismus noch aus der Zeit vor dem 11. September 2001 und den gegenwärtigen Bedrohungen aus der arabischen Welt findet sich bei Middendorf (1981), eine aktuelle und höchst informative Aufarbeitung legte Aust (2007) mit „Der Baader-Meinhof-Komplex“ vor. Bei terroristischen Aktionen geht es in der Regel darum, dass eine Rechtfertigung des Verhaltens in der tatsächlichen, geglaubten oder nur vorgeschobenen Notwendigkeit gesehen wird, sich gegen Gewalt von oben wehren zu müssen. In diesem Zusammenhang wurde in den politischen Diskussionen auch gern von institutioneller oder struktureller Gewalt gesprochen (Galtung 1975). Wichtige Gruppierungen, die sich der Mittel terroristischer Gewaltanwendung bedienen, waren seinerzeit z. B. die irische IRA, die verschiedenen Palästinenserorganisationen, die ETA im Baskenland und die RAF in Deutschland. Die Anfänge der RAF gehen bis auf die so genannten 68erJahre zurück. Viele spätere Gewalttäter gehörten dem „Sozialistischen Patientenkollektiv“ in Heidelberg an. Vor allem im „Deutschen Herbst“, der im Jahr 1977 das Land besonders stark erschütterte, kulminierten die terroristischen Aktionen. In jüngster Zeit kommen vorwiegend aus Afghanistan, dem Irak und den umliegenden arabischen Ländern die verschiedensten terroristischen Untergrundaktivitäten, die teilweise auf den europäischen oder den nordamerikanischen Kontinent getragen werden. Eine frühe Symbolfigur für die Internationalität des Terrorismus war der Venezuelaner Ilich Ramirez Sanchez, bekannt als „Carlos the Killer“ (vgl. Middendorf 1981). Heute wären Osama Bin Laden oder die verschiedenen Warlords in Afghanistan zu nennen, wobei der jeweilige Anteil von machtpolitischen, finanziellen und religiösen Anteilen im Motivationshintergrund der terroristischen Anführer und ihrer Gefolgschaft durchaus variieren kann. Unterschieden werden zwei Haupttypen der Motivierung bei Terrororganisationen. Auf der einen Seite sind es utopisch-sozialrevolutionäre Gruppierungen, auf der anderen Seite nationale, religiöse, ethnische oder regional-separatistische Bewegungen (Johnson 1978; Lösche 1978). In Deutschland spielte in den vergangenen Jahrzehnten der aus der Studentenrevolte hervorgegangene Typus utopisch-sozialrevolutionärer Prägung eine wichtige Rolle. Er entstammte der seinerzeitigen außerparlamentarischen Opposition und der studentischen Revolte der so genannten 68erGeneration. Auf der einen Seite sollten verkrustete politisch-soziale Strukturen der Bundesrepublik angegriffen werden, auf der anderen Seite bezogen die vorwiegend jungen Menschen ihre Motivation aus dem internationalen Widerstand gegen den Vietnam-Krieg. Beispielhaft sei darauf verwiesen, dass sich in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt die Angeklagten zur Rechtfertigung einer Kaufhausbrandstiftung am 2. 4. 1968
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in Frankfurt auf den „Völkermord der USA in Vietnam“ beriefen, gegen den sie Widerstand hätten leisten müssen, auch wollten sie die bestehende Gesellschaftsordnung, den Kapitalismus und die Rechtsordnung radikal umstürzen (Rauball 1973). Im Übrigen entstammten viele der späteren Mitglieder von terroristischen Vereinigungen bestimmten studentischen Organisationen, vor allem dem SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Eine besondere Rolle spielte das Sozialistische Parteienkollektiv in Heidelberg, das sich um den damaligen Assistenz- und späteren Oberarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik und zuletzt Leiter der Poliklinik gebildet hatte. Dort wurde Krankheit nicht als individuelles Geschehen verstanden, sondern als Reaktion der Betroffenen auf gesellschaftliche Missstände und Unterdrückung. Psychische Krankheit bekam so eine Detektorfunktion für Ungerechtigkeiten des politischen Regimes. Ausgedrückt wurde dies in Parolen wie: „Das System hat uns ,krank‘ gemacht, wir geben dem System den Todesstoß“, „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ oder „Aus der Krankheit eine Waffe machen“ (Krohn 2007). Aus den Aktivitäten der etwa Anfang 1971 formierten „Baader-MeinhofBande“, die sich später „Rote-Armee-Fraktion“ nannte, entstammten zahlreiche Gewalthandlungen und Terrorakte, die im Jahr 1972 durch Bombenanschläge vier Tote und 18 Verletzte verursachten. Eine weitere Gruppe war die „Bewegung 2. Juni“ in Berlin, die unter anderem den Präsidenten des Berliner Kammergerichtes durch einen so genannten „Fememord“ tötete, den Berliner CDU-Politiker Lorenz entführte und mehrere Banküberfälle durchführte, bis die Aktivitäten ihren Höhepunkt mit dem Überfall samt Geiselnahme auf die deutsche Botschaft in Stockholm im April 1975 fanden. Dabei wurde unter anderem der Diplomat von Maibach erschossen, zwei Kommandomitglieder der RAF kamen ums Leben. Die im März 1975 in Erscheinung getretenen „Revolutionären Zellen“ bekannten sich zu 27 Anschlägen in verschiedenen deutschen Städten, wobei 1977 zehn Menschen ermordet und bei weiteren fünf Mordversuchen eine Vielzahl von Menschen bedroht wurden. Auch konnten bei großen Banküberfällen erhebliche Summen erbeutet werden. Herausragende Ereignisse im Jahr 1977 waren der Anschlag gegen Generalbundesanwalt Buback, der mit zwei Begleitern erschossen wurde, was in den Äußerungen der Täter als „Hinrichtung“ gerechtfertigt werden sollte. Im September 1977 wurde der Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt, vier der Begleiter wurden erschossen, auch Schleyer später getötet. Am 13. 10. 1977 wurde die Lufthansa Maschine „Landshut“ von Palästinensern entführt und schließlich bis Mogadischu geleitet, wo sie von einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes (GSG 9) gestürmt und befreit wurde, nachdem es vorher in Dubai zur Ermordung eines Piloten gekommen war. Insgesamt wurden in der damaligen Zeit von der RAF und ihren Umfeldorganisationen 36 Menschen getötet (Dokumentation der Bundesregierung 1977). Über die Ursachen des Terrorismus gibt es wenig zuverlässige Kenntnisse aus der Kriminologie (s. Abschn. 1.5.6). Hingewiesen wird darauf, dass üblicherweise Terroristen in der Untersuchungshaft nicht exploriert
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werden können, sodass auf diesem Wege keine kriminologischen Erkenntnisse zu gewinnen sind (Middendorf 1981). Von Soziologen und Politikwissenschaftlern wird unter anderem auf gesellschaftliche Einflüsse abgehoben, während Psychiater und Psychologen eher die Anlagen und die Entwicklung des einzelnen Menschen betrachten (Schwind 1978). Im Umfeld der Psychoanalyse wurden für derartige Rechtsbrüche neurosepsychologische Konzepte entwickelt (Laqueur 1977). Eher anekdotisch und aus forensischer Sicht mit Zurückhaltung zu bewerten sind Vermutungen über eine hirnorganische Genese aggressiver und terroristischer Handlungen, wie sie Bogerts (2006) aufgrund postoperativer Hirnbefunde bei Ulrike Meinhof geäußert hat. Unter psychopathologischem Aspekt hat de Boor (1978) den Terrorismus als „Wahn der Gesunden“ gesehen und den Begriff der „Monoperzeptose“ geprägt. Gemeint ist damit eine überwertige Idee, die nicht der Verwirklichung objektiver Werte dient, sondern bei zunehmendem Realitätsverlust und steigender affektiver Spannung zur Realisierung von „Antiwerten“ beziehungsweise Gewalttaten und somit auch zum Terrorismus führt. Wohl nur in Ausnahmefällen wird eine derartige psychopathologische Wahnhypothese ernsthaft zu diskutieren sein, eher ist auf starke religiöse Überzeugungen hinzuweisen, die etwa bei den Selbstmordattentätern der al Qa’ida beschrieben werden (Salib 2003). Im Falle der Suizidterroristen wird der Tod in Kauf genommen für die Bekämpfung der Feinde der eigenen Religion und Gesellschaft, aber wohl auch für das persönliche Wohl im Jenseits (Colvard 2002). Auch hier wird aus psychiatrischer Sicht Zurückhaltung gegenüber Pathologisierungstendenzen zu üben sein, selbst wenn im Persönlichkeitsbereich derartiger fanatischer Täter sicherlich Besonderheiten häufiger vorkommen können. Bislang wird keine Möglichkeit gesehen, verlässlich zu prognostizieren, ob etwa ein junger Mensch, der jahrzehntelang demonstriert hat, danach ein friedlicher Bürger wird oder ob er sich konsequent weiter zum Terroristen entwickelt (Middendorf 1967). Interessant ist eine Studie von Grossarth-Maticek (1978), der 1971 in Heidelberg 84 linksradikale, den bewaffneten Kampf befürwortende Studenten mit 84 rechtsradikalen Studenten verglich, die sich für die gewaltsame Machtübernahme und ein Einparteiensystem von rechts einsetzten. Die Linksradikalen stammten aus einer Bildungsmittelschicht mit liberalen Werten und Normen, hatten häufiger das Verlassen durch einen Elternteil erlebt, fühlten sich ausgeschlossen und waren von Hochschullehrern und Repräsentanten des Systems enttäuscht, auch zeigten sie ein ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit. Die Rechtsradikalen stammten nach Grossarth-Maticek dagegen eher aus einem ökonomisch verunsicherten Kleinbürgertum. Es wurde eine Neigung zur Idealisierung der Mutter gesehen und außerdem das Bedürfnis nach einer hierarchisch gegliederten Ordnung. Zusätzlich zu den dargelegten soziokulturellen und historischen Bedingungen politisch motivierter Gewaltdelinquenz sind in den letzten Jahren andere Gefährdungsszenarien und Fragestellungen hinzugetreten, etwa Ta-
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ten aus rechtsradikalem Milieu oder terroristische Übergriffe bei Kriegshandlungen (vgl. Wendt et al. 2002; Soyka 2002). Für die Rechtsprechung werden durch den internationalen Terrorismus interessante und schwierige Fragen aufgeworfen (Smith et al. 2002). Darüber hinaus hat sich in psychiatrischen Untersuchungen ein starkes Interesse an den Folgen terroristischer Handlungen und Katastrophen für die psychische Gesundheit entwickelt, dies insbesondere in der PTSD-Forschung (Cassese 2001; Verger et al. 2004; Levav 2006) In der forensisch-psychiatrischen Praxis ist es in der Bundesrepublik Deutschland in den 70er und frühen 80er Jahren zunächst zu Begutachtungsfragen vorwiegend hinsichtlich der Schuldfähigkeit gekommen. Während der 90er Jahre ging es dann um Fragen der Haftumstände und Haftfähigkeit, etwa in Zusammenhang mit Hungerstreiks und Isolationsmaßnahmen. Die praktische Durchführung der Untersuchungen war in der Regel durch eine äußerst konsequente Verweigerungshaltung der Probanden gegenüber Psychiatern als Vertretern des politischen Systems und der „herrschenden Klasse“ gekennzeichnet, sodass es kaum möglich war, eine den üblichen Regeln entsprechende Exploration durchzuführen. Neben passiver Verweigerung konnte es aber auch zu aktiven, kämpferischen Aktionen gegen potenzielle Gutachter und zuweilen ihr Umfeld kommen. So hatte der Homburger Psychiater Witter bei der Begutachtung von Frau Meinhof wegen der Möglichkeit hirnorganischer Veränderungen bei Zustand nach operativer Behandlung von Fehlbildungen der Hirnarterien (Bogerts 2006) neuroradiologische Zusatzuntersuchungen veranlasst und musste in diesem Zusammenhang über längere Zeit wegen persönlicher Bedrohung mitsamt Familienangehörigen unter Polizeischutz gestellt werden. Ähnliche Bedrohungsszenarien sind in anderen Begutachtungszusammenhängen aufgetreten. Der Aufbau eines gewissen Vertrauensverhältnisses bei der Untersuchung mit Gelegenheit zu vertiefter Erörterung von Biografie, Persönlichkeitsentwicklung und Motivationshintergrund war im Rahmen solcher Konstellationen aus Gründen ideologisch motivierter Ablehnung nicht möglich. In der Regel hatte sich daher die Begutachtung unter Nutzung von Fremdinformationen, Aktenmaterial und Beobachtungen in der Hauptverhandlung auf die Frage zu konzentrieren, ob Hinweise für ernsthafte psychische Erkrankungen zu finden waren. In allen bekannt gewordenen Fällen wurde auf diese Weise festgestellt, dass positive Anhaltspunkte für eine wesentliche psychische Erkrankung und Auswirkungen auf das Einsichts- und/oder Steuerungsvermögen nicht erkennbar waren. Der subtileren Frage, ob akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale etwa aus dem Cluster A von DSM-IV mit schizoiden, paranoiden oder fanatischen Zügen vorlagen oder inwieweit daraus pathologische Fehlentwicklungen resultierten, konnte bei Tätern aus diesem Umfeld mangels Mitwirkung nicht näher nachgegangen werden. Es gibt auch in der Literatur keine verlässlichen kriminologischen oder psychopathologischen Daten hierzu und auch keine Erkenntnisse aus Studien der differenziellen Persönlichkeitspsychologie.
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Im Übrigen gelten für die Schuldfähigkeit bei terroristischen Überzeugungstätern analoge Überlegungen, wie sie bei Erörterung der so genannte „Ehrenmorde“ angestellt wurden (dazu Abschn. 2.1.3.1.5). Ohne weitere psychopathologische Auffälligkeiten ist ein Handeln aus abweichendem, gegen die soziale Umwelt „quer stehenden“ Wertgefüge heraus nicht geeignet, die Schuldfähigkeit in Frage zu stellen. Allenfalls könnten eigenweltliche beziehungsweise in enger Gruppenkohärenz entstandene Fehlentwicklungen paranoider oder fanatischer Art in Betracht kommen, doch sind üblicherweise soziale Kompetenz, intelligentes und abgestimmtes Zusammenwirken mit anderen sowie übersichtliche und zielgerichtete Verhaltensweisen vorhanden, die Zweifel an einer psychischen Störung mit Relevanz für die Schuldfähigkeit ausschließen lassen. Ende der 90er Jahre des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts waren dann nicht mehr Fragestellungen zur Schuldfähigkeit oder der Haftbedingungen und ihrer Folgen relevant, vielmehr ging es um die Beurteilung der Persönlichkeitsentwicklung nach langer Haftzeit und die prognostische Einschätzung der künftigen Gefährlichkeit. Auch hier waren in den meisten Fällen die Probanden nicht zur persönlichen Mitwirkung an psychiatrischen Begutachtungen bereit. Zuweilen wurde im Sinne des Selbstverständnisses der Straftäter unter Verweis auf die sozialen und politischen Motivationen statt einer psychiatrischen oder psychologischen eine kriminologische oder politologische Begutachtung gefordert und gelegentlich auch – bei genehmen Untersuchern – unter Mitwirkung des Probanden durchgeführt. Forensisch-psychiatrische oder forensisch-psychologische Stellungnahmen mussten sich dagegen in aller Regel auf die Feststellungen in den Straf- und Vollstreckungsakten beziehungsweise auf Informationen aus der Vollzugszeit stützen. Eigene Erfahrungen zu diesem Themenkreis wurden Mitte der 90er Jahre anlässlich verschiedener Begutachtungen von Akteuren des StockholmAttentates aus dem Jahre 1975 nach langer Zeit der Haftverbüßung gesammelt. In einem ersten Fall war es nach langjähriger Strafverbüßung in verschiedenen Haftanstalten, zuletzt in Bayern, zu Zweifeln an der psychischen Gesundheit gekommen. Der Proband hatte in der Haft auffällige Verhaltensweisen entwickelt, die den Verdacht auf psychotische Störungen begründeten. Psychopathologisch bestand ein atypisches Mischbild mit inhaltlichen und formalen Denkstörungen, deutlichen kognitiven Einbußen in den Bereichen von Gedächtnis, Merkfähigkeit, Konzentration sowie Einund Umstellungsfähigkeit, fraglichen halluzinatorischen Phänomenen und einer affektive Verflachung. Die Haltung gegenüber der Einrichtung und dem Untersucher, aber auch gegenüber Mithäftlingen in der Gefangenengruppe war gekennzeichnet durch Rückzugstendenzen, Misstrauen, Feindseligkeit und einen angedeuteten systematisierten Wahn, der allerdings weitgehend verdeckt wurde. Differenzialdiagnostisch war schwer zu entscheiden, ob es sich um ein autochthon psychotisches Geschehen oder um ein organisch unterlegtes Zustandsbild handelte.
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Es waren verschiedene ätiologische Faktoren zu diskutieren, die möglicherweise in ihrem Zusammenwirken für das vorliegende, insgesamt erhebliche Störungsbild verantwortlich waren. Neben prämorbiden Auffälligkeiten in Persönlichkeit und Entwicklung von zumindest sehr dezidierten, wenn nicht fanatischen Einstellungen in der Zeit der Zugehörigkeit zur terroristischen Gruppierung war das sehr einschneidende Erleben im Vorfeld und während der Besetzung der Botschaft im Jahre 1975 zu berücksichtigen. Diese Ereignisse waren sicherlich mit herausragenden Stressbelastungen verbunden, etwa beim gewaltsamen Eindringen, bei der Verteidigung des Gebäudes gegenüber der Polizei, bei der Tötung eines Botschaftsattacheés und bei der gewaltsamen Beendigung der Aktion durch schwere Sprengstoffexplosionen, die unter anderem beim Probanden Splitterverletzungen verursachten und mit dem Tod von Gruppenmitgliedern einhergingen. Auch während der folgenden Haftjahre dauerten erhebliche Stressbelastungen von zum Teil chronischem Charakter an. Nach der Prozessphase gab es keinen Kontakt zu Gruppenmitgliedern mehr, vielmehr folgten lange Zeiten der Isolierung, in den damaligen Auseinandersetzungen als „Isolationsfolter“ bezeichnet. Im Zusammenhang damit und mit Forderungen der Gefangenen nach Änderung der Haftbedingungen, Gruppenzusammenlegungen etc. gab es abgestimmte Perioden zum Teil massiven Hungerstreiks, die über viele Wochen durchgehalten wurden und trotz zeitweiser Zwangsernährung sehr nahe an die Grenze vitaler Bedrohung führten. Insofern war eine mögliche hirnorganische Schädigung durch schwere Mangelernährung zu erwägen. Schließlich waren auch gewichtige situative Faktoren mit erheblicher psychischer Belastungswirkung zu berücksichtigen, etwa durch feindselige Reaktionen in der Haft, Abschottung von Gefangenen und Personal und Verfestigung einer Vorstellungswelt mit den Elementen der Bedrohung, Verfolgung, Schädigung und Misshandlung. Die Begutachtung kam zu dem – später von einem Kollegialgutachten mehrerer forensischer Psychiater bestätigten – Ergebnis einer krankhaften psychischen Störung, die einen Verbleib in der damaligen Umgebung mit ihren auf beiden Seiten über Jahre zunehmend verhärteten Einstellungen nicht sinnvoll erscheinen ließ. Wegen der psychotischen Phänomene musste die Gefährlichkeitsprognose skeptisch gestellt werden. Es wurde die Verlegung in eine andere Haftanstalt in einem anderen Bundesland empfohlen und auch durchgeführt. Hierunter sowie unter spezifischen Behandlungsmaßnahmen kam es in mehrjährigem Verlauf mit rehabilitativen Bemühungen zu einer Stabilisierung des psychischen Zustandes, sodass nach gestuften Lockerungsmaßnahmen die Prognose günstig gestellt wurde und schließlich die Entlassung erfolgte. Über spätere Zwischenfälle ist nichts bekannt geworden. Bei mehreren anderen der Stockholmer Attentäter waren nach langer Strafverbüßung Begutachtungen zur Entwicklung während der Haftzeit, zur Vertretbarkeit von Lockerungen und zur künftigen Gefährlichkeitsprognose durchzuführen. Hinsichtlich der Mitwirkung an den Untersuchungen war das Verhalten in eigentümlicher Weise zwiespältig. Auf einer äußeren, offi-
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ziellen Kommunikationsebene wurde über die Rechtsvertreter erklärt, dass eine Mitwirkung an der psychiatrischen Begutachtung angesichts der politischen Dimension der damaligen Handlungen und der gegenwärtigen Fragestellung nicht erfolge. Allerdings hatte es während der letzten Haftjahre in den jeweiligen Haftanstalten durchaus eine Reihe von Einzel- und Gruppenaktivitäten, Gesprächen und Erklärungen gegeben, die entweder eine vorsichtige und verhüllte Distanzierung von dem damaligen Vorgehen enthielten oder aber zumindest für die Zukunft die Wahl gewaltsamer Mittel zur Veränderung der Gesellschaft verwarfen. Darüber hinaus lehnten die Probanden, die sämtlich in der Haftanstalt aufgesucht wurden, zwar eine regelrechte Untersuchung und Exploration ab, doch ließen sie unterschiedlich ausgedehnte Kontakte mit mehr oder weniger detaillierten Gesprächen geschehen, die eine gewisse Beurteilung der gegenwärtigen Verfassung erlaubten. Mehr oder weniger deutlich wurde auch die Erklärung der RAF von 1998 von den Gefangenen eingebracht oder gegenüber dem Gutachter bestätigt, wonach der bewaffnetet Kampf aufgegeben werde. Hinzu kamen recht umfangreiche Informationen aus den Akten und vor allem eine Reihe von eingehenden Gesprächen mit Vollzugsbediensteten, die in den letzten Jahren Kontakt mit den Probanden gehabt hatten. Zum Teil hatte es Gesprächsgruppen mit recht freimütiger Diskussion über gesellschaftspolitische und soziale Fragestellungen gegeben, über die Auskünfte erhältlich waren. Auch über sonstige Beobachtungen des Verhaltens in der Einrichtung bei soziotherapeutischen Aktivitäten oder im Gruppenkontext konnten Mitglieder des Personals ausführlich exploriert werden. In der Summe entstand eine Informationsdichte, die nicht nur mit weitgehender Sicherheit den Ausschluss einer relevanten psychischen Erkrankung erlaubte, sondern auch eine vorsichtige Abschätzung der Persönlichkeitsentwicklung in den letzten Jahren und möglicher Gefährdungsaspekte. Im Verein mit den bei Anhörungen durch die OLG-Senate gewonnenen Eindrücken waren so Voraussetzungen geschaffen, die eine vorsichtige gutachtliche Stellungnahme erlaubten, aufgrund derer es zu Entscheidungen über stufenweise Lockerungen und später die Entlassung gekommen ist. Rückschauend kann für das gutachtliche Vorgehen bei politisch motivierten Tätern aus dieser besonderen Periode der Bundesrepublik gefolgert werden, dass auch bei äußerem Festhalten der Täter an wesentlichen Elementen früherer Positionen implizite Änderungen des Verhaltens und der inneren Einstellung mit positiver Veränderung der Gefährlichkeitsprognose möglich sind. Dabei müssen aus gutachterlicher Sicht auch fortdauernde Bindungen der Gruppensolidarität und subjektive Bedürfnisse nach Schutz der eigenen Identität berücksichtigt werden, die durch das öffentliche Eingeständnis eines Bruches mit einer ursprünglich von Idealismus und hohen Zielen geprägten Lebensperiode erheblich gefährdet wären. Dem psychopathologischen Betrachter werden neben der offiziösen Außendarstellung die vielschichtigen verbalen wie nonverbalen Hinweise bei der Beurteilung helfen, da er aus vielerlei Situationen weiß, wie wichtig neben dem gesprochenen Wort die Begleitinformationen sind, etwa über das allgemeine Ver-
2.6 Politisch motivierte Delinquenz
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halten, die Psychomotorik etc. Auch wenn es innerhalb der Standards eines gerichtlichen Verfahren fast paradox klingen mag, kommt es gelegentlich eher auf das an, was nicht gesagt wurde, und wie dies geschah. Dabei ist die moralische Bewertung dessen, dass die meisten Täter bis heute jede Schuld von sich weghalten, zu trennen von der Frage nach der Gefahr, dass es künftig zu ähnlichen Fällen kommen wird. Eine derartige Betrachtungsweise ist zwar im strafrechtlichen Kontext nicht immer leicht zu vermitteln, doch kann dies bei Dialogbereitschaft zwischen Gutachter und den verschiedenen anderen Akteuren im Verfahren gelingen.
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3 Soziologie und Psychologie des Strafverfahrens
3.1
Soziologie des Strafverfahrens D. Hermann
3.1.1 Einleitung Unter „Soziologie“ versteht man eine wissenschaftliche Disziplin, die Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen, Organisationen, Institutionen und Gesellschaften sowie deren Veränderungen beschreibt und erklärt (Reinhold et al. 1991, S. 562). Nach Max Weber kommt als wichtiger Aspekt der Soziologie noch hinzu, dass soziales Handeln, also Handlungen unter Einbeziehung von mindestens zwei Individuen, nicht nur erklärt, sondern auch verstehend interpretiert werden soll. Somit gehört zu einer soziologischen Analyse die Beschreibung sozialer Sachverhalte und deren Veränderungen, die Untersuchung von Handlungsursachen und die deutende Erfassung des subjektiv gemeinten Sinnes von Handlungen (Weber 1972, S. 4; Schneider 2002, S. 23). Ein Strafverfahren ist ein arbeitsteiliger Prozess zur Verhängung von Strafen und zur Herstellung des Rechtsfriedens durch staatlich legitimierte Institutionen. Unter einer „Soziologie des Strafverfahrens“ kann somit ein Arbeitsprogramm verstanden werden, das erstens die normativ vorgegebenen Aufgaben und die tatsächlich durchgeführten Handlungen der beteiligten Organisationen – das sind insbesondere Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichte – sowie Veränderungsprozesse beschreibt und zweitens Entscheidungen dieser Einrichtungen erklärt und verstehend interpretiert. Die Umsetzung dieser Aufgaben soll in diesem Beitrag auf Deutschland beschränkt sein, denn aufgrund nationaler Unterschiede im Strafprozessrecht sind die Ergebnisse empirischer Untersuchungen aus verschiedenen Ländern nur bedingt vergleichbar. Zuerst wird im nachfolgenden Kapitel der Gang des Strafverfahrens beschrieben, wobei die normative und die rechtstatsächliche Ebene berücksichtigt werden. Anschließend werden die Veränderungen im Output der Strafverfolgungsinstanzen aufgezeigt und schließlich empirische Studien über deren Entscheidungsverhalten diskutiert.
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3.1.2 Überblick über den Gang der Strafverfolgung – normative und rechtstatsächliche Aspekte In der Regel steht die Polizei – sie wird meist durch Opfer oder Anzeigeerstatter über mögliche Straftaten informiert – am Beginn des Strafverfolgungsprozesses. Das polizeiliche Ermittlungsresultat ist jedoch nur ein vorläufiges Ergebnis; die abschließende rechtliche Bewertung ist Aufgabe der Justiz. Nach Abschluss der Ermittlungen leitet die Polizei die Fälle an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese ist nach dem Strafprozessrecht für das gesamte Ermittlungsverfahren zuständig und wird dabei von der Polizei unterstützt. Die Staatsanwaltschaft hat die polizeilichen Ermittlungsergebnisse tatsächlich sowie rechtlich zu bewerten und zu prüfen, ob nach der Beweislage die Voraussetzungen für eine Verurteilung vorliegen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, wenn kein hinreichender Tatverdacht besteht oder kein Tatverdächtiger ermittelt werden kann. Daneben stehen der Staatsanwaltschaft weitere Möglichkeiten zur Verfügung, das Verfahren einzustellen, beispielsweise bei geringer Schuld oder bei fehlendem öffentlichem Interesse. Stellt die Staatsanwaltschaft ein Verfahren nicht ein, verweist nicht auf das Privatklageverfahren und gibt den Fall nicht an eine andere Behörde ab, wird sie Anklage erheben oder den Erlass eines Strafbefehls beantragen. Bei Strafverfahren nach dem Jugendstrafrecht gelten zudem einige Besonderheiten. Das Strafgericht prüft, ob die Strafbarkeitsvoraussetzungen vorliegen und ob eine Verurteilung erforderlich ist. Diese Instanz legt im Falle der Verurteilung die Art und Höhe der Strafe fest. Auch das Gericht hat die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung, nämlich wegen geringer Schuld des Angeklagten oder bei fehlendem öffentlichen Interesse. Die weiteren Entscheidungsmöglichkeiten sind Verurteilung und Freispruch. Als Strafe ist bei Erwachsenen die Geld- und Freiheitsstrafe möglich, bei Jugendlichen und Heranwachsenden steht ein umfangreicher Reaktionenkatalog zur Verfügung (s. Brunner u. Dölling 2002). In bestimmten Fällen kann das Gericht eine Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen und zudem den Verurteilten unter die Aufsicht der Bewährungshilfe stellen. Diese Beschreibung über den Gang des Strafverfahrens ist idealtypisch vereinfacht; es gibt zahlreiche Sonderregelungen, die aber in der Praxis meist eine geringere Bedeutung haben. Eine differenziertere Darstellung ist bei Streng (2002, 2003), Beulke (2006) und Schäfer (2000) zu finden. Aber bereits diese vereinfachte Darstellung zeigt, dass während eines Strafverfahrens eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden muss, die alle als Gegenstand einer Soziologie des Strafverfahrens gelten können. Angesichts dieses komplexen mehrstufigen Bewertungs- und damit verbundenen Ausfilterungsprozesses ist es geboten, sämtliche Entscheidungsebenen getrennt zu betrachten. Der In- und Output auf den verschiedenen Ebenen des Strafverfolgungsprozesses ist in Tabelle 3.1.1 quantitativ beschrieben. Die Zahlen in der Tabelle stammen aus dem Jahr 2003 und beziehen sich auf die alten Bundes-
3.1 Soziologie des Strafverfahrens
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Tabelle 3.1.1. Überblick über den Gang der Strafverfolgung Ebenen des Strafverfahrens
Anzahl a Nicht berücksichtigte Verfahren
z Polizei
polizeilich registrierte Straftaten
5390
polizeilich aufgeklärte Fälle Tatverdächtige
2930 1910
Straftat wurde nicht entdeckt oder angezeigt kein Tatverdächtiger ermittelt
z Staatsan- Abgeurteilte waltschaft
690
Einstellung durch die Staatsanwaltschaft
z Strafgerichte
Verurteilte
540
Verhängung einer Freiheitsoder Jugendstrafe Verhängung einer Freiheitsstrafe oder einer Jugendstrafe ohne Bewährung
130
Einstellung durch das Gericht oder Freispruch Verurteilung zu einer Geldstrafe
40
Strafaussetzung zur Bewährung
Quellen: Bundeskriminalamt (2004), Statistisches Bundesamt (2004), Jehle (2005, S. 9) a Zahlen in tausend, gerundet
länder und Gesamt-Berlin, denn die neuen Bundesländer sind in der Strafverfolgungsstatistik nur unvollständig erfasst. Zudem sind nur Delikte ohne Verkehrsdelikte gezählt worden, denn diese werden zwar in der Strafverfolgungsstatistik, aber nicht in der Polizeilichen Kriminalstatistik berücksichtigt. Die in Tabelle 3.1.1 beschriebenen Ebenen des Strafverfahrens sind nur bedingt miteinander vergleichbar, denn sie beziehen sich auf unterschiedliche Objekte, entweder auf Taten oder auf Personen. Eine Person kann mehrere Taten verüben und eine Tat kann von mehreren Personen verübt werden – folglich kann es zu quantitativen Differenzen kommen. Zudem beziehen sich die Zahlenangaben zumindest teilweise auf unterschiedliche Personengruppen, denn sowohl die Polizeiliche Kriminalstatistik als auch die Strafverfolgungsstatistik erfassen ausschließlich die im Berichtjahr erledigten Fälle. Diese können jedoch instanzenabhängig aus verschiedenen Personen und Fällen bestehen – beispielsweise werden die im Jahr 2003 polizeilich aufgeklärten Fälle nur teilweise mit den Erledigungen seitens Staatsanwaltschaft und Gerichten in diesem Zeitraum identisch sein. Trotz dieser Einschränkungen sind die Zahlenangaben näherungsweise interpretierbar – sie belegen einen Filterprozess von erheblichem Ausmaß. Fast zwei Millionen Tatverdächtige stehen einer halben Million Verurteilungen gegenüber, und „nur“ etwa sieben Prozent der Verurteilungen führen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe.1 1
Ältere Angaben über die Größenordnungen des Ausfilterungsprozesses sind im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht (Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 345) zu finden.
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Dieser Selektionsprozess ist erklärungsbedürftig. Hinweise dazu liefern empirische Untersuchungen über die Entscheidungsmechanismen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichten. Diese werden ab Abschnitt 3.1.4 diskutiert. Zuvor soll noch die Veränderung von Kriminalität im Spiegel der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik beschrieben werden.
3.1.3 Die Veränderung von Kriminalität im Hellfeld Die erledigten Verfahren seitens Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichten haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in quantitativer Hinsicht verändert. In den Abbildungen 3.1.1 bis 3.1.3 sind die Entwicklungen für ausgewählte, zentrale Indikatoren von Ver6000000 5500000 5000 000
Anzahl
4500000 4000000 3500000 3000 000 2500000 2000 000 1500 000 1964 1968 1972 1976 1980 1987 1988 1992 1996 2000 2004
Abb. 3.1.1. Entwicklung der Anzahl polizeilich registrierter Straftaten 1963–2003 für die alten Bundesländer und Berlin. Daten aus Jehle (2005, S. 55) 1100000 Abgeurteilte Verurteilte
1000000 900000
Anzahl
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800000 700000 600000 500000 1962
1968
1974
1980
1986
1992
1998
2004
Abb. 3.1.2. Entwicklungen der Anzahl der Abgeurteilten und Verurteilten 1963–2003 für die alten Bundesländer und Berlin. Daten aus Jehle (2005, S. 58)
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140000 120000
Anzahl
100000 80000
Freiheitsstrafe Freiheitsstrafe ohne Bewährung
60000 40000 20000 0 1972
1976
1980
1984
1988
1992
1996
2000
2004
Abb. 3.1.3. Entwicklungen der Anzahl der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe und Anzahl der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung 1970–2003 für die alten Bundesländer und Berlin. Daten aus Jehle (2005, S. 59)
fahrenserledigungen seitens der genannten Institutionen aufgeführt. Die Daten dazu stammen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik (Jehle 2005, S. 55, 58,59). Bei der Interpretation ist zu beachten, dass sich immer wieder die Richtlinien für die Erstellung der Statistiken geändert haben, sodass die Zahlen für verschiedene Zeitintervalle nur bedingt vergleichbar sind. Eine größere Umstellung war die 1984 in Kraft gesetzte „echte Tatverdächtigenzählung“: Ab diesem Zeitpunkt wird eine Person im Berichtjahr je Land bei jedem betroffenen Straftatenschlüssel nur einmal gezählt, auch wenn sie mehrmals als Tatverdächtiger auftrat. Vorher wurde sie mehrfach gezählt, und dies führte zu überhöhten Tatverdächtigenzahlen (Bundeskriminalamt 2004, S. III; Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 15–22). Die Erfassung polizeilich registrierter Straftaten (Abb. 3.1.1) wurde von dieser Änderung jedoch nicht beeinflusst. Trotz aller methodischen Einschränkungen des Datenmaterials ist eine weitgehend parallele Entwicklung der Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten, der Anzahl der Abgeurteilten und der Anzahl der Verurteilten erkennbar. Nach einer Zunahme bis in die 1980er Jahre stagnierten die Zahlen in den nachfolgenden Jahren. Auch die Grafik über die Veränderung der Verurteilungen zu einer Haftstrafe hat zumindest eine Ähnlichkeit zu den erwähnten Verlaufskurven; tendenziell ist bis 1980 eine Zunahme erkennbar. Dies trifft jedoch nicht für die Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung zu: In diesem Bereich sind die Zahlen weitgehend konstant. Die relativ hohe Parallelität der Verlaufskurven ist anhand der einschlägigen Pearson-Korrelationskoeffizienten erkennbar, die mit den Daten aus den oben dargestellten Schaubildern bestimmt wurden. Die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten korreliert mit der Anzahl der Abgeurteilten mit r = 0,88, diese korreliert mit der Anzahl der Verurteilten mit r = 0,97, und diese korreliert mit der Anzahl der verhängten Freiheits-
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strafen mit r = 0,75. Verhältnismäßig geringe Korrelationen liegen hingegen mit der Anzahl der Freiheitsstrafen ohne Bewährung vor. Der Koeffizient beträgt für die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten r = 0,02, für die Anzahl der Abgeurteilten r = 0,02 und für die Anzahl der Verurteilten r = 0,22. Insgesamt gesehen zeigen die Ergebnisse, dass die registrierte Kriminalität quantitativ an Bedeutung gewonnen hat und der Output von Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichten ähnliche Entwicklungslinien zeigt, wobei die Verhängung von unbedingten Freiheitsstrafen eine Ausnahme bildet, denn sie folgt nicht den Trends bei ambulanten Sanktionen und Geldstrafen. Dies weist auf eine Änderung in der Sanktionspraxis hin. Im Jahr 1973 beispielsweise betrug die Relation zwischen der Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten und der Anzahl der Verurteilungen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe 63 zu eins; 20 Jahre später war das Verhältnis 158 zu eins. Die Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen zeigt sich im Erwachsenen- und im Jugendstrafrecht. Somit ist die Rechtspraxis dem Ultima ratio-Prinzip zur Vermeidung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe in beachtlichem Maße näher gekommen (Heinz 1999).
3.1.4 Anzeigeverhalten Die Strafanzeige ist zwar kein Bestandteil des eigentlichen Strafverfahrens, aber ein wichtiger Faktor, der den Input der Polizei bestimmt, denn das, was den offiziellen Stellen zur Kenntnis kommt, ist weitgehend vom Anzeigeverhalten Privater abhängig (Heinz 1993, S. 28). Die Polizei ist meist reaktiv tätig; eine proaktive Tätigkeit der Polizei im Sinne der eigenen Entdeckung von Straftaten ist in erster Linie bei Rauschgift- und Verkehrsdelikten sowie bei Umweltstraftaten quantitativ bedeutsam. In den meisten empirischen Untersuchungen zum Anzeigeverhalten werden in der Regel nur die subjektiven Gründe für eine Anzeige beziehungsweise Nichtanzeige abgefragt (z. B. Schwind et al. 1989; Voß 1989). Als Hauptgründe für die Anzeige von Straftaten werden materielle Gründe und Schadenswiedergutmachung sowie die Bestrafung und Ermittlung des Täters genannt, als Motive für eine Nichtanzeige von Straftaten werden meist fehlende Beweise, die Geringfügigkeit des Schadens und vermeintlich geringe Erfolgsaussichten eines Strafverfahrens aufgeführt. Bei Raubdelikten wird zudem relativ häufig erwähnt, dass die Opfer die Angelegenheit selbst regeln wollen (Schwind et al. 1989, S. 225, Heinz u. Spieß 1995, S. 102–108; Heinz 1993, S. 30 f.; Richter 1997, S. 53; Kilchling 1995, S. 253; Bundesministerium des Innern u. Bundesministerium der Justiz 2001, S. 72). Mit einer Erfassung der Anzeigemotive werden aber die Ursachen des Anzeigeverhaltens nur unzureichend abgedeckt. Die wenigen empirischen Untersuchungen zur Erfassung von Determinanten des Anzeigeverhaltens konzentrieren sich auf Faktoren wie soziodemografische Merkmale, Persön-
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lichkeitsmerkmale, Deliktstruktur, Kosten und Nutzen einer Anzeige, auf die Beziehung des Anzeigeerstatters zum Täter und zu Instanzen sozialer Kontrolle, die Vorstrafenbelastung, die Delinquenz im Freundeskreis sowie auf Werte, Lebensstile und Normakzeptanz und belegen einen Einfluss dieser Merkmale (Stephan 1976; Kürzinger 1978; Rosellen 1980; Reuband 1981; Bilsky et al. 1995; Greve et al. 1996; Hermann 2003). Auf jeden Fall wird deutlich, dass die angezeigten Straftaten kein repräsentatives Abbild aller Straftaten sind. Die Anzeigeerstattung ist selektiv, und die Entscheidung, ob eine Straftat der Polizei gemeldet wird oder nicht, ist von Merkmalen der Tat, des Anzeigeerstatters und des Täters abhängig.
3.1.5 Polizei Die empirischen Untersuchungen zu Erledigungsstrategien der Polizei basieren sowohl auf qualitativen als auch auf quantitativen Studien. In beiden Fällen wird versucht, Ursachen von erkennbaren Entscheidungsmustern aufzudecken. Feest und Blankenburg (1972) haben an Streifenfahrten der Polizei teilgenommen und interpretieren ihre Beobachtungen so, dass insbesondere kriminologische Alltagstheorien der Polizistinnen und Polizisten für deren Handeln relevant sind. Solche Theorien sind Vorstellungen und Begründungen von Erscheinungsformen und Ursachen krimineller Handlungen und somit geeignet, Situationen zu interpretieren und Personen zu bewerten. Nur selten würden Polizistinnen und Polizisten in eine Situation kommen, in der eine Straftat offensichtlich zu erkennen ist und Straftäterinnen oder -täter als solche eindeutig identifiziert werden können. In der Regel ist die Erkenntnis darüber unvollständig und wird nach Ansicht der beiden Autoren durch Alltagswissen über die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung von Orten („verdächtige“ Gegenden) und durch Alltagtheorien über das Aussehen und Verhalten von Kriminellen ergänzt (verdächtige Personen). Savelsberg (1994) hat ebenfalls eine Untersuchung zu dieser Thematik in Form einer teilnehmenden Beobachtung in zwei Polizeirevieren durchgeführt. Seiner Ansicht nach ist der Entscheidungsprozess von Polizistinnen und Polizisten in erster Linie durch ein Bearbeitungsschema gekennzeichnet, das ein schnelles und strukturiertes Handeln ermöglicht. Polizeiliches Handeln wäre demnach von ökonomischer Rationalität unter der Bedingung knapper Ressourcen gekennzeichnet. Dölling (1987) hat einen anderen Zugang zu dieser Thematik gewählt: Er hat anhand von 247 Experteninterviews zur Relevanz verschiedener Informationen für die Tataufklärung und anhand einer Analyse von 1.414 in Strafverfahrensakten beschriebenen Fällen Determinanten der Tataufklärung ermittelt. Bei den Fällen handelte es sich um Einbruchdiebstähle, Raubtaten, Vergewaltigungen und Betrugstaten. Zu jeder Deliktart wurden etwa gleich viele Fälle berücksichtigt, wobei etwa jeweils die Hälfte auf-
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geklärt wurde. Das Ergebnis der Untersuchung ist, dass für die Aufklärung eines Falles in erster Linie die Wahrnehmung von Tat und Täter durch Opfer oder Zeugen relevant ist. Kriminalistische Techniken wie Spurensicherung und -auswertung sind in den untersuchten Fällen von untergeordneter Bedeutung. Die Anzahl der Fälle, bei denen die Polizei in detektivischer Kleinarbeit einen Täter oder eine Täterin ermittelt, ist gering. In der Regel werden die Fälle aufgeklärt, in denen günstige Ansatzpunkte für die weitere Ermittlung bestehen oder gar konkrete Hinweise auf die Person des Täters oder der Täterin vorliegen. Insgesamt gesehen kann das Handeln der Polizei bei der Suche nach Tatverdächtigen und Beweismitteln als ökonomisch interpretiert werden. Bei der Materialsammlung orientiert sich die Polizei an dem Verhältnis von Ermittlungsaufwand zu dem erwarteten Ertrag in Form des Ermittlungserfolges. Ein weiteres Kriterium für die Tataufklärung ist die Tatschwere, das heißt, dass bei polizeilichem Handeln die erwartete Entscheidung der Justiz mitberücksichtigt wird. Auch dieses Verhaltensmuster kann als rational-utilitaristisch interpretiert werden. Insgesamt gesehen lassen die empirischen Untersuchungen zu Erledigungsstrategien der Polizei zwei Gesetzmäßigkeiten erkennen. Zum einen befindet sich die Institution in einem Ziel-Mittel-Konflikt, der die Anwendung ökonomischer Erledigungsstrategien nahe legt, sodass erstens Fälle mit geringem Ermittlungsaufwand bevorzugt abgearbeitet werden und zweitens polizeiliche Erkenntnisse über Tatorte, Täterpersönlichkeit und Tathergang zu einer schnellen Aufklärung genutzt werden. Zum anderen sind polizeiliche Entscheidungen von der Schwere der Schuld von Täter oder Täterin abhängig. Die Erledigungsstrategie der Polizei ist somit einerseits durch eine normative Orientierung und andererseits durch eine systemimmanent-rationale Vorgehensweise gekennzeichnet. Normativ gesehen ist die Polizei an das Legalitätsprinzip gebunden: Sie ist verpflichtet, wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Diese Vorgabe des Gesetzgebers steht in einem Spannungsverhältnis zu den materiellen und personellen Ressourcen. Die limitierten Kapazitäten zwingen zu einer Selektion und zu einer Entwicklung arbeitsentlastender Erledigungsstrategien.
3.1.6 Staatsanwaltschaft Nach der Aktenanalyse von Blankenburg et al. (1978) über die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft führt diese Institution nur bei wenigen Delikten eigene Ermittlungen durch. In der Regel würdigt sie lediglich die von der Polizei erarbeitete Beweislage. Diese Informationen sind meist die Grundlage für die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft: Einstellung, Einstellung gegen Auflage, Antrag auf Strafbefehl oder Anklage. Auch die Staatsanwaltschaft ist wie die Polizei verpflichtet, alle Straftaten zu verfolgen, und die personellen Ressourcen sind zunehmend knapp bemessen – dies bedingt, so Blankenburg et al., eine selektive Vorgehensweise. Die wichtigsten Ent-
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scheidungsgrundlagen sind nach den Autoren Rechtsregeln, die Eindeutigkeit der Beweislage und die Kenntnis des oder der konkreten Tatverdächtigen. Fälle mit eindeutiger Beweislage und Kenntnis des oder der konkreten Tatverdächtigen werden mit relativ großer Wahrscheinlichkeit angeklagt, wobei die Entscheidung außerdem noch von der Schwere der Schuld von Täter oder Täterin abhängig ist. Wird kein Tatverdächtiger ermittelt, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren als „Unbekanntsache“ ein. Von den Tat- und Tätermerkmalen sind vor allem Höhe und Art des verursachten Schadens, Delikthäufigkeit und Vorstrafen von Bedeutung. Die Informationen über Tat und Täter entnimmt der Staatsanwalt in der Regel den Ermittlungsakten. Somit weiß er wenig über den Verdächtigen und entsprechend einfach ist meist das Entscheidungsprogramm, das Sessar (1979, S. 132 f.) als „routinemäßig oder bürokratisch“ beschreibt und das die „Schonung seiner Kapazitäten“ berücksichtigt – letztlich spiegelt diese Darstellung eine normativ orientierte und utilitaristisch-prozessökonomische Erledigungsstruktur wider.
3.1.7 Strafgerichte Die meisten empirischen Studien zu Erledigungsstrategien im Strafverfahren gibt es zum strafrichterlichen Entscheidungsverhalten. Die empirischen Untersuchungen dazu können aufgrund der verschiedenen Untersuchungsmethoden in drei Gruppen aufgeteilt werden. Neben der Analyse von Strafakten wird als Erhebungsmethode die Beobachtung im Gerichtssaal und die Befragung von Strafrichtern mittels fiktiver Fälle verwendet. Durch Aktenanalysen (z. B. Albrecht 1990, 1994; Dölling 1991, 1999; Hoppenworth 1991; Meier 1983) können Tat- und Tätermerkmale erfasst werden sowie die tatsächliche justizielle Reaktion auf eine Tat. Nicht sichtbare Merkmale des Richters, insbesondere seine Einstellungen zu Strafzwecken, können mit dieser Erhebungsmethode nicht erfasst werden und bleiben unbekannt. Dies gilt auch für die Methode der Beobachtung (z. B. Schumann u. Winter 1971; Lautmann 1972; Boy 1984). Damit können zwar Zusammenhänge zwischen den Interaktionen der Verfahrensbeteiligten und dem Ergebnis der Hauptverhandlung nachgewiesen werden, ein Einfluss nicht unmittelbar erkennbarer Richtermerkmale auf das Entscheidungsverhalten hingegen ist nicht ermittelbar. Bei der Methode der fiktiven Fälle werden Richter nach der Strafzumessung in konstruierten Fällen schriftlich befragt (Opp u. Peuckert 1971; Streng 1984). Dabei können Tat- und Tätermerkmale durch eine Modifikation der Fallbeschreibungen in begrenztem Umfang variiert werden, sodass der Einfluss dieser Merkmale auf die Strafzumessung nur bedingt untersucht werden kann. Allerdings ist es möglich, in der Befragung beispielsweise Wertorientierungen, Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen des Richters zu erfassen und somit den Einfluss dieser Merkmale auf das Strafzumessungsverhalten zu untersuchen. Die Methode der fiktiven Fälle ist zwar nicht unumstritten, aber empirische Vergleiche von
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Entscheidungen in fiktiven Fällen und in der Realität führten bisher zu keiner Ablehnung dieses Verfahrens (Hood 1972; Hornthal 1975). Insgesamt gesehen korrespondiert also die Wahl der Erhebungsmethode mit den Erkenntnismöglichkeiten einer Untersuchung. Von besonderem Interesse sind somit Untersuchungen, die mehrere Erhebungsmethoden einsetzen. Nur auf diese Art und Weise kann die Relation der Einflüsse von Tat-, Täter- und Richtermerkmalen auf die Strafzumessung bestimmt werden.
3.1.7.1 Beobachtungen Boy (1984) hat in einer Untersuchung 401 Hauptverhandlungen von Strafverfahren in drei Landgerichtsbezirken beobachten lassen und zum Teil noch Interviews mit Richtern und Angeklagten durchgeführt. In einem Pfadmodell zur Erklärung der Sanktionshöhe, das ein normatives Entscheidungsmodell abbildet, haben die Tat- und die Tätermerkmale, insbesondere die Anzahl der Vorstrafen und die Deliktschwere, die größten Einflüsse. Im Vergleich dazu sind alle anderen Einflussfaktoren irrelevant. Die Ergebnisse sprechen für ein Entscheidungsverhalten, das stark an Rechtsnormen orientiert ist. Im Vergleich dazu haben Schumann und Winter (1971) durch Beobachtungen von Hauptverhandlungen in Verkehrssachen eine relativ große Anzahl von Determinanten für die Strafhöhe ermittelt: die Schichtzugehörigkeit des Angeklagten, seine Ausdrucksfähigkeit und Aktivität in der Hauptverhandlung, die Verhaltenskritik und der Autoritarismusgrad des Richters. Allerdings basiert die Untersuchung nur auf 30 beobachteten Verhandlungen, sodass die Ergebnisse nur unter Einschränkungen verallgemeinerbar sind.
3.1.7.2 Aktenanalysen Mittels einer Analyse von Verkehrszentralregisterauszügen und Strafakten zu 300 Fällen hat Schöch (1973) Strafzumessungsdeterminanten von Entscheidungen nach dem Erwachsenenstrafrecht zu Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr untersucht. Die ausgewählten Fälle können als quotierte Zufallsstichprobe betrachtet werden. 200 Fälle behandeln Verurteilungen wegen Trunkenheit im Straßenverkehr und 100 Fälle Verurteilungen wegen Gefährdung des Straßenverkehrs. Die Bestimmung von strafzumessungrelevanten Faktoren erfolgte in erster Linie durch eine Berechnung von Korrelationen möglicher Determinanten mit dem Strafmaß. Dabei zeigte sich, dass das Vorhandensein einschlägiger Vorstrafen alle anderen Strafzumessungsfaktoren in den Hintergrund drängt. Je größer die Anzahl der einschlägigen Vorstrafen ist, desto schwerer war das Strafmaß bei verhängten Freiheitsstrafen und desto länger dauerte das Fahrverbot. Strafmildernd wirkte sich ein langer Führerscheinbesitz aus. Die berufliche Stellung und der Familienstand hingegen standen in keinem Zusammenhang mit der Strafzumessung.
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In einer Analyse von Strafakten hat Albrecht (1994) die Akten von 1.283 erwachsenen rechtskräftig Verurteilten untersucht. Die Verurteilung erfolgte wegen eines Raubes, einer Vergewaltigung oder eines Einbruchdiebstahls. Es handelte sich um eine Zufallsstichprobe rechtskräftiger Verurteilungen aus fünf Landgerichtsbezirken Baden-Württembergs. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Strafzumessung in erster Linie von den im Strafgesetz vorgegebenen Faktoren für die Strafzumessung abhängig ist. Die Anzahl der bei der Verurteilung berücksichtigten Delikte, die Schadenshöhe und die Vorstrafenbelastung erklären 52% der Varianz der Strafzumessung beim Einbruchdiebstahl. Beim einfachen Raub liegt der Wert bei 43%; die dabei berücksichtigten unabhängigen Variablen sind die Einstufung eines Falls nach seiner Schwere, die Schadenshöhe, die Drohungsintensität und die Vorstrafenbelastung. Beim schweren Raub erklären die Kategorisierung als minder schwerer Fall, die Einstufung als vollendete oder versuchte Tat, der Grad der Schuldfähigkeit und die Schadenshöhe 62%. Bei der Vergewaltigung können durch die Bewertung als minder schwerer Fall, durch den Verletzungsgrad des Opfers und durch die Vorstrafenbelastung 45% der Varianz der Strafzumessung erklärt werden. Insgesamt gesehen bestätigt diese Untersuchung die Ergebnisse anderer Forschungen. Es sind meist nur wenige und immer dieselben Variablen, die bei der Erklärung der Variation im Strafmaß herausragen: die Vorstrafenbelastung und die Tatschwere. Demgegenüber treten im Vergleich andere personenbezogene Merkmale von Täter und Richter in den Hintergrund. Eine weitere Aktenanalyse zur Strafzumessung beim Raub wurde von Hoppenworth (1991) und Dölling (1999) durchgeführt. Beide Untersuchungen greifen auf denselben Datensatz zurück, auf eine Analyse von 385 Strafakten, in denen Anklage wegen Raubes, räuberischer Erpressung oder räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer erhoben worden war, wobei sowohl Verfahren nach dem Erwachsenen- als auch nach dem Jugendstrafrecht berücksichtigt wurden. Die Stichprobe ist eine Totalerhebung aller relevanten Fälle der Jahre 1977 bis 1982 aus drei Landgerichtsbezirken. Das Ergebnis der Untersuchung von Hoppenworth ist, dass bei erwachsenen Tätern durch sechs Merkmale 61% der Variation der Strafzumessung erklärt werden können, nämlich die rechtliche Einordnung der Tat als einfacher oder schwerer Raub sowie als schwerer oder minder schwerer Fall, die Schadenshöhe, die Charakterisierung des Angeklagten als überörtlich oder örtlich agierender Täter, seine Vorbelastung und das Vorliegen eines Haftbefehls. Bis auf die letztgenannte Variable sind alle anderen offensichtlich Faktoren, die auf die Unrechts- und Schulddimension Bezug nehmen. Die Verhängung eines Haftbefehls hingegen ist ein Verfahrensmerkmal und kein Schuldindikator, aber in der Praxis ist diese Entscheidung in erster Linie von der Tatschwere abhängig. Somit können alle Determinanten als Indikatoren von Unrechtsgehalt und Höhe der Schuld gesehen werden. Die Resultate von Korrelations- und multiplen Regressionsanalysen Döllings (1999) entsprechen weitgehend den oben beschriebenen Ergebnissen. Bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht können durch fünf Merk-
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male 49% der Variation der Strafzumessung erklärt werden: die rechtliche Einordnung der Tat als einfacher oder schwerer Raub, die Dauer der Untersuchungshaft, die Vorstrafenbelastung, die Art der Tatplanung und die Bildung einer Gesamtstrafe. Diese wird verhängt, wenn in Tatmehrheit verübte Delikte abgeurteilt werden, wenn der Täter also nicht nur wegen einer Raubtat, sondern auch noch wegen weiterer Delikte verurteilt wurde. Dieses Merkmal ist somit eine Kontrollvariable, die eine statistische Homogenisierung der Untersuchungsgruppe ermöglicht. Die Dauer der U-Haft ist formal gesehen ein Verfahrensmerkmal – allerdings kann dieses Merkmal auch als Indikator der Tatschwere gesehen werden, denn sie wird insbesondere in Fällen mit hohen Beutewerten verhängt. Insgesamt gesehen wird auch in dieser Analyse die Strafzumessung vor allem durch tatbezogene Faktoren und durch die strafrechtliche Vorbelastung des Täters beeinflusst. Bei Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht kann Hoppenworth 72% der Varianz erklären, und zwar in erster Linie durch Tatschweremerkmale: Schadenshöhe, Einheitsstrafenbildung, Zahl der Beweismittel, Dauer der U-Haft, Art des Opfers und rechtliche Einordnung nach den oben genannten Kategorien. Zudem sind noch die Vorverurteilungen des Täters und das Mitverschulden des Opfers relevante Determinanten der Strafzumessung (Hoppenworth 1991, S. 263 f.). Nach der Analyse von Dölling (1999, S. 193) können zu dieser Fragestellung 53% der Varianz der Strafzumessung erklärt werden. Die relevanten Merkmale sind: Dauer der U-Haft, Anzahl der Vorahndungen und einschlägige Vorbelastungen des Täters, Bildung einer Einheitsstrafe, ein körperlicher Schaden und ein Dauerschaden beim Opfer sowie die Tatplanung. Auch diese Merkmale können als tatbezogene Faktoren und strafrechtliche Vorbelastungen des Täters interpretiert werden. Mittels einer Analyse von Jugendgericht- und Jugendamtakten haben Hermann und Wild (1989) das Entscheidungsverhalten von Jugendrichtern untersucht. Dabei wurden 180 Fälle, die von sechs Jugendrichtern in den Jahren 1976 und 1977 bearbeitet wurden, berücksichtigt. Es zeigte sich, dass die Entscheidung, ob die Verhandlung vor dem Jugendgericht oder vor dem Jugendschöffengericht stattfindet, von der Tatschwere und den Vorverurteilungen abhängig ist. Dies entspricht den gesetzlichen Vorgaben: Erwartet die Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Jugendstrafe, muss vor dem Jugendschöffengericht oder der Jugendkammer angeklagt werden. Bei leichteren Rechtsfolgen hingegen ist der Jugendrichter zuständig. Die Höhe der Sanktion, so das Ergebnis der empirischen Analyse, wird nur von der Tatschwere und der Wahl des Spruchkörpers beeinflusst. Bei der Sanktionsentscheidung des Jugendrichters spielen soziale Auffälligkeiten nur dann eine Rolle, wenn sie durch die Tatschwere vermittelt werden. Defizite in Persönlichkeit oder Sozialisation haben unabhängig von der Tat keinen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Jugendrichtern. Ein solches Entscheidungsverhalten entspricht aufgrund der Bindung an Tatschwere und Tatschuld bei der Sanktionsbemessung dem normativen Programm des Erwachsenenstrafrechts. Jugendliche und Erwachsene werden
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somit weitgehend nach den gleichen Entscheidungsmustern verurteilt, obwohl nach dem Jugendstrafrecht die richterliche Reaktion auf Normverstöße nach anderen Kriterien erfolgen müsste als nach dem Erwachsenenstrafrecht. Zu der Untersuchung von Hermann und Wild (1989) haben LudwigMayerhofer und Rzepka (1998) eine Replikationsstudie durchgeführt. Sie haben dabei die Akten von 430 Prozessen, die von elf Jugendrichtern bearbeitet wurden, analysiert. Dabei wurden nur Verfahren von Jugendrichtern und Jugendschöffengerichten aus den Jahren 1990 und 1991 berücksichtigt. In den durchgeführten Analysen konnten die Autoren einen signifikanten, wenn auch geringen und nicht in allen untersuchten Landgerichtsbezirken vorhandenen Einfluss von sozialbiografischen Auffälligkeiten auf die Sanktionsentscheidung nachweisen, der unabhängig von der Tatschwere war. Dies unterscheidet die Studie von der Untersuchung von Hermann und Wild. Allerdings zeigt auch die Arbeit von Ludwig-Mayerhofer und Rzepka, dass die Tatschwere den größten Effekt auf das Entscheidungsverhalten von Jugendrichtern hat. Die beiden Untersuchungen greifen auf Daten zurück, die etwa 15 Jahre auseinander liegen. Dies weist auf eine geringfügige Veränderung des Entscheidungsverhaltens von Jugendrichtern in diesem Zeitraum hin, nämlich auf eine verstärkte Berücksichtigung von Sozialisationsdefiziten des Angeklagten bei der Rechtsfolgenbestimmung. Insgesamt gesehen sprechen die Ergebnisse von Aktenanalysen für ein Entscheidungsverhalten von Richtern, das weitgehend an Rechtsnormen gebunden ist.
3.1.7.3 Methode der fiktiven Fälle Opp und Peuckert (1971) haben in einer schriftlichen Befragung von 274 bayerischen Strafrichtern Unterschiede in der Strafzumessung mittels der Methode der fiktiven Fälle untersucht. Dabei wurde systematisch die Beschreibung der Täter variiert, sodass nicht nur der Einfluss von Richtermerkmalen auf die Strafzumessung untersucht wurde, sondern in geringem Umfang auch Tätereffekte berücksichtigt werden konnten. Das Ergebnis der Untersuchung ist, dass sich autoritäre und liberale Einstellungen der Richter nicht direkt auf die Strafzumessung auswirken, sondern nur in Verbindung mit Tätermerkmalen. Konservative Richter bestrafen Personen aus der Unterschicht härter als Angehörige der Oberschicht, während dies bei liberalen Richtern umgekehrt ist: Sie bestrafen Täter aus der Oberschicht härter als Täter aus der Unterschicht. Es gibt zahlreiche Einwände gegen diese Untersuchung. Hassemer (1983) kritisiert die Realitätsferne der Fälle, Brusten und Peters (1969) sowie Oswald und Langer (1989) stellen die Validität der Operationalisierung der Strafschwere in Frage und Streng (1984) konstatiert eine Verwechslung von Sühne und Vergeltung bei der Erfassung der Strafzweckpräferenzen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Inkonsistenz des Entscheidungsverhaltens der untersuchten Richter. Beim Vergleich von Urteilen eines Richters zu
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verschiedenen Taten urteilen etwa 50% der Befragten inkonsistent: Während sie sich in einem Fall für eine harte Sanktion aussprechen, plädieren sie in einem anderen Fall für eine milde Strafe. Ein solches Ergebnis legt die Vermutung nahe, dass die Messung der Strafschwere Validitäts- oder Reliabilitätsdefizite aufweist. Eine weitere Untersuchung mit der Methode der fiktiven Fälle stammt von Streng (1984). Er hat 525 Personen, die als Strafrichter oder Staatsanwalt in Niedersachsen tätig waren, schriftlich befragt. Das ist eine Ausschöpfung von 64% aller in diesem Bundesland tätigen Strafrichter und Staatsanwälte. Ein Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Determinanten für die Entscheidungen über die Sanktionsart und über die Sanktionshöhe weitgehend identisch sind. In beiden Fällen sind Strafzweckpräferenzen von entscheidender Bedeutung. Je wichtiger für einen Richter die Vergeltung, die negative Generalprävention sowie der Sicherungsaspekt der Strafe sind, desto seltener werden Geldstrafen verhängt und stattdessen hohe Strafen befürwortet, insbesondere Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Neben der vertretenen Strafphilosophie, die als Entscheidungskriterium für die Strafzumessung rechtlich legitimiert ist, sind insbesondere der Tätigkeitsbereich und der berufliche Status der Herkunftsfamilie des Richters als außerrechtliche Faktoren entscheidungsrelevant. Im Vergleich zu den Aktenanalysen ist die erklärte Varianz in der Strafzumessung relativ gering. Für die Strafhöhe kann immerhin 18% der Varianz erklärt werden, für die Wahl einer Geldstrafe im Vergleich zu anderen Sanktionen sind es nur 5%, wobei der größte Teil des Erklärungspotenzials auf der Einstellung gegenüber Straftheorien basiert. Die Ergebnisse der Richterbefragungen mit fiktiven Fällen lassen vermuten, dass in relativ geringem Umfang auch außerrechtliche Faktoren in das Entscheidungsverhalten von Richtern einfließen, die richterliche Entscheidungen in erster Linie von Rechtsnormen abhängig sind und Freiräume durch soziale Normen ausgefüllt werden.
3.1.7.4 Kombinierte Methoden Oswald (1994) hat in einer Studie zur Psychologie richterlichen Strafens das Strafzumessungsverhalten und seine Determinanten für Verurteilungen wegen einfachen Diebstahls untersucht. Die Analyse basierte auf Bundeszentralregisterauszügen und auf den Antworten in einer Richterbefragung, wobei die Studie auf wenige Amtsgerichte mit insgesamt 56 Strafrichtern beschränkt war. Das Strafzumessungsverhalten wurde anhand von Bundeszentralregisterauszügen bestimmt. Dabei wurden nur die Verurteilungen wegen einfachen Diebstahls der letzten zwei Jahre vor der Durchführung der Richterbefragung berücksichtigt; zu Kontrollzwecken wurden zusätzlich zwei weitere Jahre einbezogen. Die Richterbefragung diente insbesondere der Messung von Strafeinstellungen. Allerdings waren nur 34 der 56 befragten Richter im gesamten zweijährigen Untersuchungszeitraum in ein und derselben Gerichtsabteilung, sodass nur für sie das tatsächliche Straf-
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zumessungsverhalten mit den Befragungsdaten in Verbindung gesetzt werden konnte. Insgesamt gesehen waren die Strafzumessungsunterschiede zwischen den Richtern gering; die Differenzen sind in erster Linie von Tätermerkmalen und nur in geringem Umfang von Richtermerkmalen abhängig. Die Vorstrafenbelastung als wichtigstes Tätermerkmal erklärt etwa 28% der Varianz der Strafhöhe, durch die Person des Richters können weniger als 4% erklärt werden und durch regionale Unterschiede etwa 1%. Für Diebstahldelikte erwiesen sich in erster Linie legale Merkmale wie Vorstrafenbelastung und Tatmerkmale sowie die Art der Anklageerhebung (Staatsanwalt oder Amtsanwalt) als strafzumessungsrelevant, während für extralegale Merkmale wie Nationalität, Geschlecht, Einkommen und Alter kein Einfluss nachgewiesen werden konnte. Bei massenhaft auftretenden Bagatelldelikten wie dem einfachen Diebstahl zeigen bundesdeutsche Strafrichter ein nahezu standardisiertes Entscheidungsverhalten, das weitgehend unabhängig von der Person des Richters ist und in erster Linie von normativ relevanten Tat- und Tätermerkmalen abhängt.
3.1.8 Zusammenfassung Eine Soziologie des Strafverfahrens sollte die Tätigkeiten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafjustiz sowie Veränderungen in deren Output beschreiben und Entscheidungsprozesse dieser Einrichtungen erklären und verstehend interpretieren. Die Selektionsprozesse im Strafverfahren können durch ein „Trichtermodell“ charakterisiert werden, das für die genannten Institutionen die Anzahl der erledigten Verfahren pro Jahr angibt. Die Zahlen belegen einen erheblichen Auswahlprozess durch das Strafverfahren. Die Mechanismen der Selektion durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafjustiz können durch empirische Untersuchungen über Erledigungsstrategien der genannten Einrichtungen aufgezeigt werden. Diese Institutionen orientieren sich bei Entscheidungen über die Erstellung einer Strafanzeige, Anklageerhebung, Verurteilung und Strafzumessung an kodifizierten Normen und an rationalen Prinzipien. Die vorgegebenen Rechtsnormen determinieren das Verhalten zwar weitgehend, aber nicht vollständig. Sie enthalten einen Entscheidungsspielraum, der durch lokale und individuelle Normen ausgefüllt wird. Institutionen strukturieren durch Normen Handlungskontexte und bestimmen Verhaltenserwartungen – und das Individuum orientiert sich an diesem spezifisch definierten Rahmen (Lepsius 1999, S. 113). Die Ressourcenknappheit und die Komplexität der zu entscheidenden Fälle zwingen die Vertreter von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten zu einer Reduzierung der Komplexität. Sie müssen Entscheidungen treffen, welche Personen- und Situationsmerkmale sie als relevant ansehen und welche nicht. So sind für den Strafrichter vor allem Tatschwere und Tatschuld entscheidungsrelevante Faktoren, für die
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Polizei ist es die Beweisbarkeit des Tatverdachts. Das Strafverfahren kann somit als Prozess der stufenweisen Reduzierung von Komplexität gesehen werden, der von normativer Rationalität geprägt wird.
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Psychologie des Strafverfahrens S. Niehaus, B. Englich, R. Volbert
3.2.1 Einleitung Im Rahmen von Strafverfahren wird verhandelt, begutachtet, befragt, überzeugt, gelogen und entschieden. Verlauf und Ausgang des Verfahrens haben unmittelbare Bedeutung für die von den beteiligten Parteien empfundene Verfahrensgerechtigkeit. All dies sind Themen der Psychologie des Strafverfahrens: Wahrnehmung, Eindrucksbildung, Persuasion, Glaubwürdigkeitsattribution und die mentalen Prozesse, die richterlichen Entscheidungen, Urteilen und Bewertungen zu Grunde liegen, sind wichtige psychologische Themen, zu denen die sozial- und rechtspsychologische Forschung umfangreiches Wissen bereitstellt, welches allerdings in der juristischen Praxis in der Regel weniger aufgegriffen wird als beispielsweise Befunde der Forschung zur Kriminalprognose oder Schuldfähigkeitsdiagnostik. Für diesen Beitrag wurden exemplarisch drei Bereiche ausgewählt, die sich aus psychologischer Perspektive mit dem Strafverfahren beschäftigen. Zunächst werden Einflüsse auf die richterliche Urteilsfindung vorgestellt,
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Schäfer G (2000) Die Praxis des Strafverfahrens an Hand einer Akte, 6. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Schneider WL (2002) Grundlagen der soziologischen Theorie, Bd 1: Weber – Parsons – Mead – Schütz. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden Schöch H (1973) Strafzumessung und Verkehrsdelinquenz. Kriminologische Aspekte der Strafzumessung am Beispiel einer empirischen Untersuchung zur Trunkenheit im Verkehr. Enke, Stuttgart Schumann KF, Winter G (1971) Zur Analyse des Strafverfahrens. Kriminologisches Journal 3:136–166 Schwind HD, Ahlborn W, Weiß K (1989) Dunkelfeldforschung in Bochum 1986/87. Eine Replikationsstudie. Bundeskriminalamt, Wiesbaden Sessar K (1979) Ein bürokratischer Faktor im Prozeß der Verbrechenskontrolle: Der Staatsanwalt. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 62:129–139 Statistisches Bundesamt (2004) (Hrsg) Fachserie 10 Rechtspflege. Reihe 3 Strafverfolgung 2004. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Stephan E (1976) Die Stuttgarter Opferbefragung. Bundeskriminalamt, Wiesbaden Streng F (1984) Strafzumessung und relative Gerechtigkeit. Eine Untersuchung zu rechtlichen, psychologischen und soziologischen Aspekten ungleicher Strafzumessung. v. Decker, Heidelberg Streng F (2002) Strafrechtliche Sanktionen. Die Strafzumessung und ihre Grundlagen, 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Streng F (2003) Jugendstrafrecht. Müller, Heidelberg Voß M (1989) Anzeigemotive, Verhaltenserwartungen und die Bereitschaft von Geschädigten zur informellen Konfliktregelung. Erste Ergebnisse einer Opferbefragung. Monatsschrift für Krimi nologie und Strafrechtsreform 72:34–51 Weber M (1972) Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Mohr, Tübingen
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Psychologie des Strafverfahrens S. Niehaus, B. Englich, R. Volbert
3.2.1 Einleitung Im Rahmen von Strafverfahren wird verhandelt, begutachtet, befragt, überzeugt, gelogen und entschieden. Verlauf und Ausgang des Verfahrens haben unmittelbare Bedeutung für die von den beteiligten Parteien empfundene Verfahrensgerechtigkeit. All dies sind Themen der Psychologie des Strafverfahrens: Wahrnehmung, Eindrucksbildung, Persuasion, Glaubwürdigkeitsattribution und die mentalen Prozesse, die richterlichen Entscheidungen, Urteilen und Bewertungen zu Grunde liegen, sind wichtige psychologische Themen, zu denen die sozial- und rechtspsychologische Forschung umfangreiches Wissen bereitstellt, welches allerdings in der juristischen Praxis in der Regel weniger aufgegriffen wird als beispielsweise Befunde der Forschung zur Kriminalprognose oder Schuldfähigkeitsdiagnostik. Für diesen Beitrag wurden exemplarisch drei Bereiche ausgewählt, die sich aus psychologischer Perspektive mit dem Strafverfahren beschäftigen. Zunächst werden Einflüsse auf die richterliche Urteilsfindung vorgestellt,
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anschließend wird dargelegt, welche Prozesse der richterlichen Glaubhaftigkeitseinschätzung zu Grunde liegen, und abschließend wird das Problem sekundärer Viktimisierung von Opferzeugen im Zusammenhang mit der empfundenen Verfahrensgerechtigkeit diskutiert.
3.2.2 Psychologische Einflüsse
auf die Entscheidungsfindung vor Gericht Gerade im strafrechtlichen Kontext müssen Entscheidungen mit schwer wiegenden Konsequenzen für die Prozessbeteiligten getroffen werden. Zahlreiche Untersuchungen belegen hierbei, dass richterliche Strafurteile eine hohe Disparität aufweisen können (z. B. Diamond 1981; Oswald 1994, S. 24 ff.; Partridge u. Eldridge 1974; für eine Diskussion s. Oswald 1997, S. 254 ff.): Juristen kommen bei identischen Fallinformationen zum Teil zu deutlich unterschiedlichen Strafzumessungen. Vor allem dann, wenn es sich um komplexere Sachverhalte handelt und wenn die Strafzumessung wesentlich von der Bewertung des Vergehens abhängt, wirken psychologische Prozesse in die richterliche Urteilsfindung mit hinein. Entsprechend findet man in der Literatur zahlreiche Determinanten richterlicher Entscheidungen, die nicht juristischer, sondern psychologischer oder auch soziodemografischer Art sind (für einen Überblick s. z. B. Englich 2001, S. 22 ff.). Neben lokalen Gepflogenheiten und informellen Normen im Sinne einer regionalen Justizkultur (s. hierzu z. B. Oswald 1994; Streng 1984) scheinen vor allem die folgenden Einflüsse die richterliche Urteilsdisparität zu erklären.
3.2.2.1 Einflüsse von Richtermerkmalen Eine nahe liegende Quelle von Urteilsdisparität stellen Unterschiede in den urteilenden Personen dar. Einstellungen von Richtern, ihre politische Zugehörigkeit, Kriminalitäts- und Strafzwecktheorien, Strafzielpräferenzen sowie ihr Kontrollbedürfnis zeigen systematische Einflüsse auf richterliche Entscheidungen. Hierbei kann man grundsätzlich sagen, dass konservative Richter mit hohem Kontrollbedürfnis in der Regel strenger strafen als ihre liberalen Kollegen mit geringerem Kontrollbedürfnis. Vor allem auf die Strafe bezogene Einstellungsvariablen haben eine besonders hohe Vorhersagekraft für Strafentscheidungen (s. hierzu z. B. Oswald 1994, 1997).
3.2.2.2 Einflüsse von Tätermerkmalen Grundsätzlich erweist sich in der Strafzumessungsforschung das Vorstrafenregister als sichere Determinante der Höhe von Strafzumessungen (s. Oswald 1997; Devine et al. 2001). Aber auch bestimmte Tätermerkmale beziehungsweise Merkmale der Angeklagten in Gerichtsverfahren können zu unterschiedlichen Urteilen führen. So belegen beispielsweise zahlreiche
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amerikanische Studien, dass schwarze Angeklagte mit strengeren Strafen zu rechnen haben als weiße Angeklagte (z. B. Pruitt u. Wilson 1983; Sorensen u. Wallace 1995). Dies gilt nach der Längsschnittstudie von Pruitt und Wilson auch bei Konstanthaltung des Vorstrafenregisters. Zwar bemühen sich die amerikanischen Gerichte, diese rassistische Urteilstendenz durch verschiedene Maßnahmen zu korrigieren. Zum Teil wirken diese Urteilstendenzen jedoch deutlich subtiler als einfach über die Hautfarbe, sodass eine Korrektur mehr oder weniger unmöglich wird: Eine Studie von Blair, Judd und Chapleau (2004) zeigt beispielsweise anhand von realen Strafverfahren, dass das Vorhandensein ausgeprägter afrozentrischer Gesichtsmerkmale bei Angeklagten unabhängig von der Hautfarbe zu deutlich höheren Strafzumessungen führt, als wenn weniger afrozentrische Merkmale bei einem Gesicht vorhanden sind. Urteilsirrelevante Merkmale von Angeklagten wie z. B. deren Hautfarbe können sich auch auf die Informationsverarbeitung der Urteiler auswirken: So werden beispielsweise in einer weiteren amerikanischen Simulationsstudie nicht zulässige Beweise vor Gericht („inadmissible evidence“) je nach Hautfarbe des Angeklagten unterschiedlich von Urteilern verwertet: Belastende Informationen über den Angeklagten, die nachträglich als unzulässig erklärt werden und entsprechend nicht beachtet werden sollen, können von den Urteilern bei schwarzen Angeklagten schlechter aus dem Urteil ausgeschlossen werden als bei weißen Angeklagten. Gleichzeitig unterschätzen die Urteiler den Einfluss nicht zulässiger Informationen auf ihr eigenes Urteil besonders dann, wenn sie über einen schwarzen Angeklagten urteilen sollten (Johnson et al. 1995). Vermutlich ermöglicht gerade diese Unterschätzung der eigenen Beeinflussbarkeit die negative Verzerrung von Urteilen über Schwarze durch die stärkere Beachtung unzulässiger belastender Informationen. Diese neueren Studien belegen, dass die Benachteiligung von Schwarzen vor amerikanischen Gerichten über subtile Mechanismen funktioniert, die den Urteilern selbst nicht zugänglich sind. Insgesamt belegen diese Studien die Bedeutsamkeit von Stereotypen für Informationssuche sowie Urteilsbildung. Die Möglichkeit eines bewussten Gegensteuerns gegen Stereotype und ihre Wirkung auf Urteile vor Gericht erweist sich hier als äußerst begrenzt. Eine Übertragbarkeit dieser Befunde auch auf andere Stereotype in anderen Rechtssystemen liegt nahe.
3.2.2.3 Einflüsse der Art der Präsentation von Informationen Neben den Einflüssen von Tätermerkmalen, von denen hier nur einige wenige exemplarisch besprochen wurden, stellt auch die Art der Präsentation von Informationen vor Gericht eine wichtige Determinante richterlicher Entscheidungen dar. Sogar die rhetorische Schulung des Rechtsanwaltes (Englich 2001) oder einfach die Attraktivität des Täters (z. B. Lieberman 2002) wirken als potenzielle Einflussfaktoren auf Schuldzuschreibungen und Strafzumessungen. Aber auch die Sprache, die verwendet wird, um
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das Verhalten der Täter sowie der Opfer zu beschreiben (z. B. Schmid et al. 1996), zeigt einen subtilen Einfluss auf Strafurteile. Hierbei erweisen sich eine möglichst konkrete Sprache bei der Beschreibung von belastendem Täterverhalten und eine möglichst abstrakte Sprache bei Beschreibungen von positivem Täterverhalten, eine fundierte rhetorische Schulung des Rechtsanwaltes und hohe Attraktivität des Täters als gute Prädiktoren für vergleichsweise milde Strafzumessungen. Selbst die Kameraperspektive, in der ein Geständnis aufgenommen wird, kann das Ausmaß von Schuldzuweisungen beeinflussen: Videoaufnahmen von Geständnissen, die Frontalaufnahmen des Angeklagten zeigen, führen in einer amerikanischen Studie zu stärkeren Schuldzuweisungen als Kameraeinstellungen, die abwechselnd den Interviewer und den Angeklagten bei der Aussage zeigen. Auch traditionellere Präsentationsformate wie Aussageprotokolle und Tonbandaufnahmen führen hier zu vergleichsweise geringeren Schuldzuweisungen als Frontalaufnahmen (Lassiter et al. 2002). Zwar sind diese Befunde nicht direkt auf das deutsche Rechtssystem übertragbar, in dem der Angeklagte in einem Prozess persönlich anwesend ist. Trotzdem veranschaulicht diese Studie eindrucksvoll die potenzielle Bedeutsamkeit reiner Präsentationsformen und -formate.
3.2.2.3.1 Ankereffekte im juristischen Kontext Juristische Urteile sollten grundsätzlich von Fakten und Argumenten, nicht vom Zufall bestimmt sein. Dennoch konnte in Simulationsstudien im deutschen Rechtskontext gezeigt werden, dass zufällige, zum Teil von den Untersuchungsteilnehmern selbst erwürfelte Staatsanwaltforderungen deren Strafzumessungen deutlich beeinflussen (Englich et al. 2006). Dies gilt unabhängig von der juristischen Expertise der richterlichen Urteiler (z. B. Englich u. Mussweiler 2001). Das heißt, auch erfahrene Strafrichter haben als Untersuchungsteilnehmer ihre Urteile an offensichtlich zufallsgenerierte Staatsanwaltsforderungen gleichermaßen assimiliert wie an offensichtlich parteiische Zwischenruferforderungen im Gerichtssaal (Englich 2005) oder an Strafmaßvorschläge, die im Rahmen einer Journalistenfrage präsentiert wurden (Englich et al. 2006; für einen Überblick siehe Englich 2005). Sogar die Verteidigung passt sich in ihrer Gegenforderung der erstgenannten Staatsanwaltsforderung im Sinne eines Ankereffektes an (Englich et al. 2005). Auch im zivilrechtlichen Kontext zeigen verschiedene Simulationsstudien übereinstimmend dasselbe Datenmuster. Hier gilt: Je höher die Forderung der klagenden Partei, desto höher fallen die zu leistenden Schadenersatzzahlungen aus (z. B. Hastie et al. 1999; Malouff u. Schutte 1989; Marti u. Wissler 2000). Bei Körperverletzungen beeinflusst das von der Klägerpartei geforderte Schmerzensgeld systematisch Juryentscheidungen über angemessene Kompensationszahlungen sowie die geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass der Beklagte tatsächlich die Verletzungen des Klägers verursacht hat (Chapman u. Bornstein 1996). Ironischerweise wirken sogar gesetzlich fest-
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gelegte Obergrenzen für Schadenersatzzahlungen als Anker. Sie führen zu höheren Schadenersatzurteilen (Hinsz u. Indahl 1995; Robbenolt u. Studebaker 1999). Ebenso wie in den oben genannten Simulationsstudien scheint die Staatsanwaltsforderung auch bei realen Gerichtsprozessen einen starken Einfluss auf die richterliche Urteilsfindung zu haben: Aktenanalysen an realen Gerichtsakten zeigen deutliche Korrelationen zwischen Staatsanwaltforderung und Richterurteil (z. B. Englich et al. 2005; Martin u. Alonso 1997). In einer britischen Studie, in der reale Verhandlungen nach verschiedenen urteilsrelevanten Kriterien beobachtet und ausgewertet wurden, lässt sich ebenfalls ein hoher Einfluss der Staatsanwaltsforderung auf die Entscheidung für oder gegen eine Bewährungsstrafe belegen (Dhami 2003). Offensichtlich ist der oben beschriebene Effekt der Staatsanwaltforderung somit nicht nur auf Simulationsstudien beschränkt, sondern lässt sich auch in Analysen von realen Gerichtsverfahren abbilden. Hinter diesen Forschungsergebnissen steht ein besonders robuster Urteilseinfluss, der so genannte Ankereffekt. Hierbei handelt es sich um eine Urteilsverzerrung, die den Urteilsheuristiken zugeordnet wird, und dessen zu Grunde liegende kognitive Prozesse als besonders gut erforscht gelten (für einen Überblick s. z. B. Chapman u. Johnson 2002; Mussweiler u. Strack 1999). Am Beispiel dieses Urteilseffektes lässt sich veranschaulichen, wie vor allem die sozialpsychologische Grundlagenforschung Einblicke in die kognitiven Prozesse ermöglicht, die auch richterlichen Entscheidungen zu Grunde liegen.
3.2.2.3.2 Ankereffekten zu Grunde liegende kognitive Prozesse Ankereffekte sind definiert als die Assimilation von numerischen Urteilen unter Unsicherheit an eine Zahlenvorgabe. Es handelt sich hierbei um Urteilsverzerrungen, die unter den verschiedensten Randbedingungen und in einer Vielzahl von Urteilsbereichen gezeigt werden konnten. So wurde in einer klassischen Untersuchung von Tversky und Kahneman (1974) die Schätzung des Prozentsatzes afrikanischer Staaten in der UNO durch eine Zahlenvorgabe, die offensichtlich durch ein Glücksrad generiert wurde, systematisch beeinflusst: Zeigte das Glücksrad eine hohe Zahl, so fielen die Schätzungen deutlich höher aus, als wenn das Glücksrad eine niedrige Zahl zeigte. Solche Ankereffekte konnten in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen nachgewiesen werden. So lassen sich Immobilienmakler bei der Bestimmung von Hauspreisen ebenso durch Ankervorgaben leiten (Northcraft u. Neale 1987) wie erfahrene Automechaniker in ihren Schätzungen des Wertes eines Gebrauchtwagens (Mussweiler et al. 2000). Sogar die Einschätzung der eigenen Intelligenz sowie das tatsächliche Abschneiden in Intelligenzaufgaben lassen sich durch Ankervorgaben beeinflussen (Cervone u. Peake 1986). Ankereffekte erweisen sich somit als äußerst robuste Verzerrungen numerischer Urteile (für einen Überblick s. Mussweiler u. Strack 1999).
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Wie aber kommt es zu derart systematischen Urteilsverzerrungen? Was für kognitive Mechanismen sind hierfür verantwortlich? Nach dem Modell selektiver Zugänglichkeit (ebd.) wird davon ausgegangen, dass Ankereffekte auf einer selektiv erhöhten Zugänglichkeit ankerkonsistenten Wissens zum Urteilszeitpunkt beruhen. Diese selektive Zugänglichkeit wird wiederum durch eine allgemeine Verarbeitungstendenz bedingt, die sich in den verschiedensten Urteilsbereichen durchgängig zeigt: das so genannte hypothesenkonsistente Testen (s. Trope u. Liberman 1996). Anstatt mögliche Alternativhypothesen zu prüfen, suchen wir primär nach Informationen, die eine Hypothese bestätigen. Wird ein Richter zum Beispiel mit einer hohen Staatsanwaltsforderung konfrontiert, so dient diese als eine Art Hypothese. Der Richter überprüft nun die Angemessenheit dieser Forderung, indem er sich vor allem auf Informationen konzentriert, die mit dieser hohen Strafmaßforderung konsistent sind (positives Hypothesentesten). Als Folge werden vor allem belastende Informationen leichter zugänglich (selektive Zugänglichkeit ankerkonsistenter Informationen) und beeinflussen das anschließende Strafurteil in besonderer Weise.
3.2.2.3.3 Korrekturansätze für Ankereffekte im juristischen Kontext Das Wissen über die dem Ankereffekt zu Grunde liegenden kognitiven Prozesse hat unmittelbare Implikationen für die Korrektur von Ankereffekten. Schließlich stellt sich die Frage, was dem Ankereffekt im juristischen Kontext entgegenwirken könnte. Die deutsche Strafprozessordnung sieht nach dem Plädoyer der Anklage ein Plädoyer der Verteidigung vor. Die Idee des Gesetzgebers ist hierbei, dass der Strafmaßvorschlag der Verteidigung der Forderung der Staatsanwaltschaft entgegenwirkt. Nach eigenen Forschungsergebnissen von Englich et al. (2005) ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Die Verteidigung setzt hohen Strafmaßforderungen der Staatsanwaltschaft nicht etwa eine besonders niedrige Forderung entgegen, sondern passt sich der Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft im Sinne des Ankereffektes an. Die Strafmaßforderung der Staatsanwaltschaft beeinflusst also nicht nur das richterliche Urteil, sondern bereits die Verteidigung. Befragt man die Verteidiger anschließend bezüglich ihrer im vorliegenden Fall gewählten Verteidigungsstrategie, so nennen die Verteidiger Strategien wie das Erreichen einer Strafaussetzung zur Bewährung, die Erzielung einer möglichst milden Strafe oder das Setzen eines deutlichen Gegengewichtes zur Staatsanwaltsforderung. Keiner der Verteidiger nennt hier die Anpassung an die Staatsanwaltsforderung als gewählte Verteidigungsstrategie. Grundsätzlich ist es für Urteiler tatsächlich sehr schwierig, Urteilseinflüsse wie die oben dargestellten aus ihrem Urteil auszublenden beziehungsweise erfolgreich zu korrigieren. Dies gilt nach Wilson und Brekke (1994) aus verschiedenen Gründen: Urteiler müssen sich zunächst darüber bewusst sein, dass ihr Urteil überhaupt verzerrt sein könnte, und sollten wissen, wodurch ihr Urteil beeinflusst sein könnte. Sie brauchen für eine
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erfolgreiche Korrektur unbedingt Informationen über die Richtung der Verzerrung. Außerdem sollte Urteilern das genaue Ausmaß der Urteilsverzerrung bekannt sein, um Überkorrekturen oder unzureichende Korrekturen zu vermeiden. In der Regel fehlen jedoch genau diese kritischen Informationen, sodass Urteilseinflüsse auch vor Gericht nur schwer erfolgreich korrigiert werden können. Hinzu kommt, dass Urteiler sowohl motiviert sein müssen als auch ausreichend freie Kapazitäten besitzen müssen, um Urteilskorrekturen durchführen zu können. Steigende Fallzahlen und der damit einhergehende Erledigungsdruck stellen sicher suboptimale Rahmenbedingungen für erfolgreiche Urteilskorrekturen gegenüber vielfältigen potenziellen Urteilseinflüssen dar. Somit dürften juristische Urteile nur unzureichend geschützt sein vor unerwünschten Urteilseinflüssen. Trotzdem: Je mehr und je genauer Rechtspraktiker über mögliche Urteilseinflüsse auf ihre Entscheidungen informiert sind, umso größer ist ihre Chance, sich vor allzu starken Urteilsverzerrungen zu schützen. Das gezielte Generieren von Gegenargumenten durch die Urteiler selbst („considering the opposite“; Lord et al. 1984) erweist sich in der Grundlagenforschung als ein Mittel, den Ankereffekt zumindest zu reduzieren, wenn auch nicht gänzlich zu eliminieren (Mussweiler et al. 2000). Geeignete Verfahrensweisen, die Spielräume für unerwünschte Urteilseinflüsse reduzieren könnten, sollten konsequent eingesetzt beziehungsweise neu entwickelt werden. Allein das Wissen über die Möglichkeit von unerwünschten Urteilseinflüssen auf das eigene Urteilen ermöglicht Rechtspraktikern selbstkritisches Entscheiden und das Bewusstsein von nur begrenzt möglicher Objektivität und damit Gerechtigkeit.
3.2.3 Glaubwürdigkeitsattribution Ein Aspekt, der die Entscheidungsfindung im Strafprozess ganz wesentlich beeinflusst und das Gerechtigkeitsempfinden der Beteiligten in besonderer Weise berührt, ist die wahrgenommene Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder Angeklagten. Während wir im Alltag der Aussage unseres Gegenübers vertrauen, solange keine Hinweise auftauchen, die unser Misstrauen wecken (Fiedler u. Schmid 1998), stellen sich die Beteiligten in Gerichtsverfahren aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen von Beginn an auf die Möglichkeit nicht wahrheitsgemäßer Äußerungen ein. In kaum einer anderen Situation ist das Thema der Glaubwürdigkeit so salient und erscheint das offene Hinterfragen derselben so legitim wie im Gerichtssaal. In den meisten Verfahren verfolgen die Verfahrensbeteiligten das Ziel, den Richter von ihrer Version des Tatgeschehens zu überzeugen. Inwieweit ihnen dies gelingt und wovon es abhängt, ob der Richter sich überzeugen lässt, soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.
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Glaubwürdigkeitsattribution Ein Prozess der Eindrucksbildung, bei dem eine subjektive Zuschreibung von Glaubwürdigkeit der Aussage eines Senders durch einen Empfänger erfolgt, welche nicht auf einer systematischen Verhaltensanalyse beruht, wird als Glaubwürdigkeitsattribution bezeichnet (Köhnken 1990). Von der Glaubwürdigkeitsattribution wird die von psychologischen Sachverständigen vorgenommene Glaubhaftigkeitsdiagnostik abgegrenzt, bei der die Beurteilung Ergebnis eines systematischen, hypothesengeleiteten Prozesses unter Berücksichtigung der Aussagequalität sowie individueller Kompetenzen und Persönlichkeitsspezifika ist (Köhnken 2003; Niehaus 2008; Steller 2007; Volbert 2005; Volbert u. Steller 2004; Volbert et al. im Druck). Im Gegensatz zu dieser kognitiv aufwändigen Glaubhaftigkeitsdiagnostik ermöglichen die im Alltag zur Glaubwürdigkeitsattribution verwendeten einfachen Entscheidungsregeln (Urteilsheuristiken) schnelle, kognitiv relativ wenig aufwändige und meist angemessene Entscheidungen. Die Vielfalt mehr oder weniger eindeutiger Informationen führt dabei zu einer einfachen Entscheidungsregeln folgenden Informationsverarbeitung, welche die Komplexität des Beurteilungsprozesses reduziert (Bodenhausen u. Lichtenstein 1987). Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage im Rahmen einer Gerichtsverhandlung kann dieses an einfachen Entscheidungsregeln orientierte Vorgehen jedoch schnell zu folgenschweren Fehlurteilen führen.
3.2.3.1 Schwerpunkte der Forschung zur Glaubwürdigkeitsattribution Die forensisch relevante Glaubwürdigkeitsattributionsforschung lässt zwei Schwerpunkte erkennen: Prozessorientierte Studien zur Glaubwürdigkeitsattribution gehen der Frage nach, welche Verhaltensmerkmale Laien für ihr Glaubwürdigkeitsurteil heranziehen. Ergebnisorientierte Studien überprüfen, wie gut Laien dazu in der Lage sind, den Wahrheitsgehalt einer Aussage einzuschätzen. Aussagepsychologisch ungeschulte Personen werden in diesem Zusammenhang als Laien bezeichnet. Auch Personen, die im Berufsalltag zwar häufig mit glaubwürdigkeitsrelevanten Situationen konfrontiert sind, aber dennoch eher intuitiv und unsystematisch zu ihrem Urteil gelangen, wie beispielsweise Polizeibeamte und Richter, sind in diesem Sinne Laien, weil sie zur Verarbeitung komplexer Informationen („Ist die Aussage wahr oder gelogen?“) häufig auf Urteilsheuristiken zurückgreifen. Für einige Untersuchungen wurden Juristen, für die meisten Untersuchungen Probanden ohne juristische Vorbildung (in der Regel Studierende) herangezogen. Da sich jedoch weder Berufsgruppenzugehörigkeit noch Dauer der Berufstätigkeit in bedeutsamer Weise auf Prozess und Ergebnis der Glaubwürdigkeitsattribution auszuwirken scheinen (Akehurst et al. 1996; Strömwall et al. 2004; Vrij 2004), ist davon auszugehen, dass sich auch die Befunde letzterer Untersuchungen auf die richterliche Eindrucksbildung übertragen lassen.
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3.2.3.2 Der prozessorientierte Zugang Wie kommen Laien zu einem Eindruck von der Glaubwürdigkeit einer Aussage? Glaubwürdigkeitsattribution im Gerichtssaal ist das Ergebnis einer komplexen Interaktion von Ausdrucks- und Eindrucksprozessen. Hier soll auf die Eindrucksprozesse des Empfängers fokussiert und eher am Rande auf Ausdrucksprozesse eingegangen werden. Für nähere Ausführungen zu Ausdrucksprozessen beziehungsweise non- und paraverbalen Merkmalen sei auf Sporer und Köhnken (2007) verwiesen. Ausgehend vom Brunswik-Linsenmodell (Abb. 3.2.1) nimmt Köhnken (1990) an, dass vom Sender – vermittelt über psychische Prozesse (z. B. Anstrengung) – distale Verhaltensindikatoren ausgehen, die vom Empfänger als proximale Perzepte verarbeitet und für die Beurteilung genutzt werden (vgl. Fiedler 1989). Die Wahrnehmung und Verarbeitung der Informationen durch den Empfänger erfolgt durch Person-Situation-Schemata allgemeiner Glaubwürdigkeit. Diese enthalten umfassende Lügenschemata zu Kontexten, in denen gelogen wird, sowie stereotype Annahmen über stabile Merkmale von Personen, die generell eher zu wahren oder falschen Darstellungen neigen, und über Verhaltensbesonderheiten, die mit aufrichtigen oder unaufrichtigen Aussagen assoziiert werden. Nach Köhnken (1990) zieht ein Empfänger die im Folgenden aufgeführten Aspekte als Informationen heran, um zu einer Einschätzung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage zu gelangen: Kenntnisse der Situation (Kontextinformationen), in der eine Aussage erfolgt, geben dem Empfänger Hinweise darauf, welche Motivation der Aussage des Senders zu Grunde liegen könnte. Je weniger der Sender beispielsweise im eigenen Interesse zu handeln scheint, umso eher wird Glaubwürdigkeit attribuiert (Fiedler 1989). Auch konnte nachgewiesen werden, dass Sender
Empfänger distale Indikatoren
Wahrheitsgehalt
vermittelnde psychologische Prozesse
Ausdrucksprozesse
proximale Perzepte
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P1
I2
P2
I3
P3
I4
P4
I5
P5
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Wahrnehmungsprozesse
Informationsverarbeitung (Stereotype, Erfahrungen etc.)
attribuierte Glaubwürdigkeit
Eindrucksprozesse
Abb. 3.2.1. Übertragung des Brunswik-Linsenmodells auf den Bereich der Ausdrucks- und Eindrucksprozesse bei der Glaubwürdigkeitsattribution (in Anlehnung an Köhnken 1990)
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ein im Kontext einer polizeilichen Vernehmung vorgetragenes Alibi eines Beschuldigten für überzeugender gehalten wird als ein im Kontext einer Hauptverhandlung vorgetragenes Alibi eines Angeklagten (Sommers u. Bradfield Douglas 2007). Die äußere Erscheinung des Senders (z. B. Kleidung) wird vom Empfänger als Hinweis auf Werthaltung, sozialen Status und sogar Charakter interpretiert und dient diesem zur Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Informationsquelle. Beispielsweise kann ein Sender, der dem Empfänger sympathisch ist oder ähnliche Einstellungen aufzuweisen scheint wie er selbst, den Empfänger leichter überzeugen (Nawratil 1997). Auch das Alter eines Zeugen kann die Glaubwürdigkeitsattribution beeinflussen; so wurden ältere Zeugen in einem Experiment von MüllerJohnson et al. (2007) für ehrlicher gehalten. Vorinformationen über die Reputation des Senders können vom Empfänger bereits im Vorfeld der Kommunikation zur Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit herangezogen werden und den anschließenden Informationsverarbeitungsprozess lenken (Granhag u. Strömwall 2000; O’Sullivan 2003). Selbstbeschreibende Äußerungen des Senders vermitteln dem Empfänger einen Eindruck von dessen (vermeintlicher) Kompetenz, Ehrlichkeit und aktueller Motivation. Nonverbale Verhaltensmerkmale wie das Vermeiden des Blickkontaktes oder Anzeichen von Nervosität wie wechselnde Körperhaltung oder Kratzen sowie paraverbale Verhaltensmerkmale wie zögerndes Sprechverhalten wirken sich negativ auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit aus (The Global Deception Research Team 2006). O’Barr (1982) konnte experimentell nachweisen, dass insbesondere ein kraftloser Sprachstil unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt einer Aussage zu einer geringeren Glaubwürdigkeitsattribution führte. Dieses Ergebnis erscheint unter anderem deshalb von Bedeutung, weil Frauen zu einem kraftloseren Sprachstil tendieren und somit bei Aussagen vor Gericht systematisch im Nachteil sind. Auch introvertierte und sozial ängstliche Personen werden von ihrem Gegenüber als weniger glaubwürdig wahrgenommen (Vrij 2004). Bezogen auf den Sachverhalt kommt der Plausibilität des Geschilderten zentrale Bedeutung zu (Schmid 2000). Bei der verbalen Sachverhaltsdarstellung achten Empfänger insbesondere auf logische Konsistenz und Widerspruchsfreiheit (Niehaus 2001). Zudem werden potenziell selbstschädigende Äußerungen mit Ehrlichkeit assoziiert (Fiedler 1989). Negativ beeinflusst wird die Glaubwürdigkeitsattribution durch ausgefallene Details und Ereignisse, welche einer hohen Plausibilität im Sinne der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses abträglich wären. Die Intimität einer Schilderung, gemessen an offenbarten Emotionen und Gedanken, erscheint dagegen hervorragend geeignet, den Empfänger von der Glaubwürdigkeit zu überzeugen (Panhey et al. 2006). Panhey et al. (2003) haben in diesem Zusammenhang den Begriff des emotionalen Wahrheitsbias gewählt. Gemeint ist hiermit eine systematisch positive Verzerrung der Glaubwürdigkeitsattribution des Empfängers durch den Emotionsausdruck des Senders. Auch Kaufmann et al. (2003) konnten nachweisen, dass der Emotionsgehalt einer Vergewaltigungsschilderung sich deutlich auf die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes
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auswirkt. Dies erscheint aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen kann der bewusste Einsatz von Emotionen Bestandteil von Täuschungsstrategien sein (Niehaus et al. 2005), zum anderen sind Opferzeugen, deren Emotionsausdruck nicht den stereotypen Erwartungen entspricht, unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussage systematisch im Nachteil (Greuel 1992). Insgesamt sprechen die vorliegenden empirischen Befunde für die Existenz eines allgemeinen Lügenstereotyps, welches sowohl Merkmale des Senders als auch des Verhaltens und des Inhalts umfasst und die Glaubwürdigkeitsattribution wesentlich bestimmt (Vrij 2004). Hinsichtlich einiger Merkmale konnte sogar ein pankulturelles Lügenstereotyp nachgewiesen werden, welches an erster Stelle die Vermeidung des Blickkontakts beinhaltet (The Global Deception Research Team 2006). Der Zusammenhang zwischen Lügenstereotyp und Glaubwürdigkeitsattribution konnte für inhaltliche (Akehurst et al. 1996; Fiedler 1989; Strömwall u. Granhag 2003) wie für verbale (O’Barr 1982), nonverbale und paraverbale Merkmale (Zuckerman et al. 1981) aufgezeigt werden. Menschen haben also relativ einheitliche Vorstellungen über vermeintliche Täuschungsmerkmale und ziehen diese Kriterien auch zur Glaubwürdigkeitseinschätzung heran.
3.2.3.3 Der ergebnisorientierte Zugang Wie gut können Empfänger unter Anwendung ihrer stereotypen Annahmen nun die Glaubwürdigkeit von Aussagen einschätzen? Das erfolgreiche Täuschen und richtige Beurteilen des Wahrheitsgehaltes von Aussagen stellt eine Entwicklungsaufgabe im Laufe der Ontogenese dar. Täuschungsstrategien erfolgreich einzusetzen, lernen wir rasch, die Entwicklung unserer Möglichkeiten, den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu erkennen, stagniert hingegen auf einem relativ niedrigen Niveau (Niehaus 2005). Die Güte der Glaubwürdigkeitsattribution von Laien wird in empirischen Studien meist mittels erzielter Trefferquoten erfasst. Diese Studien zeigen übereinstimmend, dass die diesbezüglichen Leistungen unabhängig von Berufsgruppe und Dauer der Berufstätigkeit den Bereich der Ratewahrscheinlichkeit nicht wesentlich übersteigen (Bond u. DePaulo 2006). Dieses Phänomen ist für eine gerechte Entscheidungsfindung im Rahmen eines Strafverfahrens äußerst hinderlich. Auch wenn eine Arbeitsgruppe um Ekman auf das Phänomen der sporadisch zu beobachtenden so genannten „wizards“ hinweist, die intuitiv deutlich bessere Einschätzungsleistungen erreichen sollen (O’Sullivan 2007; O’Sullivan u. Ekman 2004), gilt die Existenz dieses Phänomens nach wie vor als nicht hinreichend belegt (Bond u. Uysal 2007). Das ist eigentlich bedauerlich, böte die Existenz einiger weniger „Hexenmeister“ dem Leser doch die Möglichkeit, sich persönlich von den desillusionierenden Forschungsergebnissen zu distanzieren und von eigener Höchstleistung auszugehen. Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass vermeintliche oder tatsächliche Belege einer Existenz von Ausnahmetalenten keine notwendige Voraussetzung für derlei unberechtigte Hoffnun-
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gen sind: Der Mensch scheint aller ernüchternden Empirie zum Trotz von seiner vermeintlichen Begabung sehr überzeugt. Hier zeigt sich ein zweites Hindernis für eine gerechte Entscheidungsfindung: Die menschliche Unfähigkeit, korrekte Glaubwürdigkeitsattributionen vorzunehmen, geht offenbar mit der unberechtigten Überzeugung einher, diesbezüglich deutlich überdurchschnittliche Fähigkeiten zu besitzen. Diese realitätsferne Selbstüberschätzung ist inzwischen vielfach belegt (Vrij 2004). Sie lässt sich dadurch erklären, dass Empfänger nur selten korrigierende Rückmeldung erhalten (gute Lügen bleiben unentdeckt) und Situationen, in denen sie besonders plumpe Täuschungsversuche aufdeckten, leichter abrufen können, was nach der Verfügbarkeitsheuristik (Tversky u. Kahneman 1973) zu einer Übergeneralisierung von Urteilserfolgen führt. Wie kommt es nun aber, dass wir selbst dann schlechte Beurteilungsleistungen zeigen, wenn die korrekte Beurteilung außerordentlich große Bedeutung hat? Mittels einer Verknüpfung und Gewichtung subjektiver (proximaler Perzepte) und objektiver (distaler) Indikatoren nach dem Brunswik-Linsenmodell lassen sich der Prozess der Eindrucksbildung nachvollziehen und die Güte des Attributionsergebnisses erklären (s. Abb. 3.2.1). Dabei erweist sich als ein wesentlicher Grund für schlechte Leistungen, dass die Überschneidungen zwischen distalen Indikatoren und proximalen Perzepten gering sind. Ein Grundproblem ist, dass Sender und Empfänger sich auf die gleichen Stereotype stützen. Der Sender bezieht die Stereotype des Empfängers in seine Überlegungen mit ein (Schmid 2000), der Empfänger durchschaut diese Strategie der zielorientierten Selbstpräsentation des Senders jedoch nicht, in der Folge sind objektive Täuschungskorrelate den stereotypen Überzeugungen des Empfängers häufig sogar genau entgegengesetzt. Taktisch geschickt eingesetzt, kann der Sender die Glaubwürdigkeitsattribution so z. B. über selbstbeschreibende Äußerungen gezielt steuern. Beobachtete Verhaltensweisen (z. B. betont sicheres Auftreten) werden internen Verhaltensursachen zugeschrieben („Wer die Wahrheit sagt, braucht nicht verunsichert zu sein.“). Angesichts der strategischen Präsentation des Senders wäre der Empfänger jedoch besser beraten, nach Verhaltenszielen (überzeugend wirken durch sicheres Auftreten) und nicht nach Verhaltensursachen zu suchen (Köhnken 1990). Zudem kommt Verhaltensmerkmalen (als Resultat von Ausdrucksprozessen) auch objektiv kaum ein Hinweiswert zu, der für Einzelfallentscheidungen hilfreich wäre. Es gibt kein universell gültiges „Lügensyndrom“, aus dem man unabhängig von Person und Umstand den Wahrheitsgehalt einer Darstellung erschließen könnte (Köhnken et al. 2007; Sporer u. Köhnken 2008). Dennoch nutzen Empfänger vermeintliche Hinweise offenbar so schablonenhaft, als seien sie personen- und situationsunabhängig einsetzbar (Oswald 2002). Dabei führen gerade vielfach zur Beurteilung herangezogene Aspekte wie Mimik und Blickverhalten entgegen pankultureller Stereotype eher in die Irre, als dass sie hilfreich wären (The Global Deception Research Team 2006). Aber auch eine Plausibilitätsbeurteilung, der in komplexen Beurteilungssituationen oft entscheidende Bedeutung zukommt, sagt letztlich mehr über den
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Erfahrungshintergrund des Empfängers als über den Wahrheitsgehalt einer Aussage aus (Bender u. Nack 1995; Schmid 2000). Ob der für den deutschen Strafprozess geltende Unmittelbarkeitsgrundsatz tatsächlich zu einer besseren Einschätzung durch den Richter beiträgt, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest fraglich, da diese Einschätzung wesentlich durch Erscheinungsbild und Verhaltensmerkmale des Aussagenden sowie wahrgenommene Plausibilität der Aussage beeinflusst sein dürfte. Auch eine Anwendung der in einigen Veröffentlichungen als viel versprechend bewerteten Analysen von Mikrobewegungen der Gesichtsmuskulatur (z. B. Frank u. Ekman 1997) mag in einer Laborsituation Effekte zeigen, dürfte im Gerichtssaal jedoch kaum praktikabel sein; Entsprechendes gilt etwa für eine Veränderung der Pupillengröße, deren zuverlässige Beurteilung in diesem Kontext überhaupt nicht leistbar ist (Köhnken et al. 2007; Sporer u. Köhnken 2008). Einige Autoren lassen es sich dennoch nicht nehmen, eine Veränderung der Pupillengröße als praktikablen Täuschungsindikator zu verkaufen (z. B. Hermanutz et al. 2005). Damit wird ein weiteres Problem deutlich: Die verbreitete Orientierung an Stereotypen und die gefährliche Selbstüberschätzung werden durch einschlägige Veröffentlichungen noch verstärkt. Zum einen suggerieren diese durch das Anbieten eines einfachen „Rezeptes“, dass die Einschätzung des Wahrheitsgehaltes von Aussagen auf diese Weise relativ problemlos von jedem Vernehmungserfahrenen vorgenommen werden kann. Zum anderen sind die Hinweise zum Teil inhaltlich falsch, vermitteln zugleich aber eine auf irreführenden Hinweisen basierende Scheinsicherheit. Bei den im Folgenden zitierten Quellen handelt es sich überwiegend um Lehrbücher der Polizeiliteratur, welche jedoch auch von vernehmungsinteressierten Juristen zurate gezogen werden dürften. Auch einschlägige juristische Werke enthielten unlängst noch ähnliche Hinweise. Beispielsweise verwiesen Bender und Nack (1995) auf „Warnsymptome“ der Körpersprache (u. a. Vermeidung des Blickkontaktes, Schwitzen, Berühren der Nase), wenngleich diese Autoren bereits zum damaligen Zeitpunkt einschränkend zu bedenken gaben, dass diese Hinweise mit Vorsicht zu verwenden seien. In der Neuauflage (Bender et al. 2007) wurde eine Korrektur vorgenommen und verstärkt auf aussagepsychologische Erkenntnisse Bezug genommen. In polizeiwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist eine solche Entwicklung hingegen nicht festzustellen. Beispielsweise findet man im Kriminalistenfachbuch (Jäger 2002) zehn Warnsymptome der Körpersprache, deren Auftreten darauf hinweisen solle, dass die aussagende Person die Unwahrheit sage (Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht, trockener Mund, erhöhter Puls, Atemnot, Blickkontaktvermeidung, Fingertrommeln etc.). Ähnliches führt Krauthan (2004) aus: Der Vernehmungsbeamte solle eine gewisse Skepsis gegenüber einer Aussage entwickeln, wenn das Gegenüber beispielsweise körperliche und physiologische Reaktionen wie Erröten, Erblassen, Schweißausbrüche, trockenes Schlucken oder Gespanntheit zeige, wenn die aussagende Person den Blickkontakt vermeide, andere Personen der Lüge bezichtige oder betone, dass sie die Wahrheit sage.
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Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter behauptet in seinen „Pocket Tipps“ (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2001, 2004), Falschaussagen könne man bei ausreichender Vernehmungskompetenz an der Körpersprache erkennen. Als Lügensymptome werden unter anderem Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht, Kopfsenken, Fingertrommeln und eine Zunahme der Selbstkontakte des Gesichts mit den Händen aufgelistet – Symptome, die nachgewiesenermaßen keinerlei Hinweiswert haben und zum Teil sogar negativ mit Täuschungsverhalten korreliert sind, d. h. für die eine Zunahme vorhergesagt wird, obwohl tatsächlich eine Abnahme der jeweiligen Verhaltensweise beim Lügen zu beobachten ist (Sporer u. Köhnken 2008). Im zweiten Band (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2004) findet man zudem unter Bezugnahme auf das neurolinguistische Programmieren (NLP) Ausführungen zur Bedeutung von Augenbewegungsmustern, anhand derer man erkennen könne, ob ein Aussagender lüge. Die Datenlage hierzu ist eindeutig: Keine der zahlreichen empirischen Studien zum neurolinguistischen Programmieren konnte einen Beleg für die Bedeutung von Augenbewegungsmustern erbringen, Lügen anhand der Augenbewegungen zu identifizieren, ist zweifelsohne unmöglich. NLP-Theoretiker haben dies auch nie behauptet; umso hartnäckiger scheint sich diese Fehlinformation vor allem in Polizeikreisen zu halten (zum Ganzen Vrij u. Lochun 1997). Lehrbücher und Leitfäden, die solche Hinweise enthalten, führen in die Irre. Welch fatale Auswirkungen diese Art der Fehlinformation haben kann, wird deutlich, wenn man sich das spezifische Anwendungsfeld vor Augen führt. Eine Veröffentlichung derartiger Handanweisungen im rechtlichen Kontext ist nicht allein aus wissenschaftlicher Sicht als höchst problematisch anzusehen (vgl. Köhnken et al. 2007; Sporer u. Köhnken 2008), sondern ist darüber hinaus mit Blick auf die zu befürchtenden Auswirkungen auf die Polizei- und Rechtspraxis als ethisch bedenklich zu bewerten. Eine besondere Gefahr der daraus folgenden falschen Einschätzungen in Verbindung mit der festen Überzeugung, mit der eigenen Einschätzung richtig zu liegen, besteht bei diesem Anwendungsfeld schließlich darin, dass sich falsche Überzeugungen (z. B. „Der Aussagende vermeidet den Blickkontakt, also wird er wohl lügen.“) auf die Art der Befragung auswirken (z. B. Signalisieren von Misstrauen und Erhöhen des Vernehmungsdrucks) und diese wiederum das Verhalten des Aussagenden beeinflussen kann (Bond u. DePaulo 2006; Kelly et al. 2005). Signalisiert der Empfänger dem Sender beispielsweise seine Skepsis, dann gerät der Sender zunehmend unter Druck, sein Gegenüber überzeugen zu müssen. Lässt sich der Sender dies anmerken (etwa durch zunehmende Nervosität), und orientiert sich der Empfänger an Täuschungsstereotypen, dann droht der Othello-Fehler.
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Othello-Fehler Wenn ein Aussagender durch signalisiertes Misstrauen seines Gegenübers Verhaltensweisen zeigt, die vom Gegenüber wiederum fälschlicherweise als Beleg für eine Falschaussage interpretiert werden, ist der Empfänger dem so genannten Othello-Fehler erlegen (Ekman 1985). Dass eine Erhöhung des Vernehmungsdruckes bei subjektiven Zweifeln am Wahrheitsgehalt einer Aussage tatsächlich zu den bevorzugten Vernehmungsstrategien von Juristen gehört, konnte wiederum durch Untersuchungen von Köhnken (1990) belegt werden. Angesichts der Empfehlungen, die der Vernehmungsliteratur zu entnehmen sind, erscheint dies wenig erstaunlich. Auf die besondere Problematik und Gefährlichkeit der auch in Deutschland immer stärker Verbreitung findenden REID-Technik (Inbau et al. 2004) kann hier nicht im Detail eingegangen werden, für eine ausführliche Darstellung der Problematik sei auf Weber und Berresheim (2001) verwiesen. Im Zusammenhang mit der Thematik der Glaubwürdigkeitsattribution sei jedoch Folgendes angemerkt: Lehrbücher, in denen empfohlen wird, bei Vorliegen vermeintlicher Lügensymptome den Vernehmungsdruck etwa durch die so genannte Zickzackmethode (z. B. Bund Deutscher Kriminalbeamter 2001; Hermanutz et al. 2005; Jäger 2002; Weihmann 2005) oder gar die REID-Technik (z. B. Bund Deutscher Kriminalbeamter 2004) zu erhöhen, leisten neben einer Zerstörung der Aussagequalität dem Othello-Fehler Vorschub und stellen somit eine deutliche Gefahr für die Wahrheitsfindung und Verfahrensgerechtigkeit dar (Niehaus 2007).
3.2.3.4 Schlussfolgerungen für die Rechtspraxis Richterliche Urteilsbildung folgt trotz deliktspezifischer Kenntnisse den gleichen Attributionsprozessen wie die alltagspsychologische Eindrucksbildung und unterliegt damit auch vergleichbaren Verzerrungen. Dass dieser Umstand eine Manipulationsmöglichkeit für Verfahrensbeteiligte eröffnet, spiegelt sich in Veröffentlichungen wider, denen Tipps zu entnehmen sind, wie beim Richter der Eindruck von Glaubwürdigkeit erzeugt werden kann (z. B. Englich 2001; Linz u. Penrod 1984). Möchte man diesen Beeinflussungen im Sinne einer größeren Verfahrensgerechtigkeit entgegenwirken, wäre zunächst an Fortbildungsmaßnahmen für Richter zu denken. In diesem Rahmen könnten Richter über valide und weniger valide Merkmale und nicht zuletzt über geeignete Befragungstechniken informiert werden, um eine systematische Zerstörung der Aussagequalität und damit des Beweiswertes von Aussagen zu verhindern (Niehaus 2007). Allerdings scheinen stereotype Vorstellungen recht änderungsresistent zu sein, da auch Trainingsmaßnahmen bislang nur mäßigen Erfolg hatten. So führten Trainingsmaßnahmen mit Polizisten gelegentlich sogar zu einer anschließend schlechteren Leistung bei der Einschätzung von Aussagen (Köhnken 1987;
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Köhnken et al. 2007). Wesentlich erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem die Selbstüberschätzung eigener Fähigkeiten sowie die Schwierigkeit, von einmal gelernten falschen Überzeugungen abzurücken. Über eine bloße Informationsvermittlung hinaus ist daher die Reflexion der Fehleranfälligkeit der eigenen Informationsverarbeitung notwendig. Hierfür ist ein anwendungsnahes Selbsterfahrungselement unumgänglich (Oswald 2002). Auf diese Weise sollte – vergleichbar dem Vorschlag zur Korrektur des im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Ankereffektes – die Erkenntnis vermittelt werden, dass der eigene Eindruck und die eigene Sicherheit trügerisch sind. Ziel dieser Maßnahme soll es nicht sein, eine Verunsicherung herbeizuführen. Es soll vielmehr die Selbstreflexion gefördert und vermittelt werden, wie wichtig es ist, sich nicht frühzeitig auf eine Hypothese festzulegen, sondern bewusst ergebnisoffen vorzugehen, um beispielsweise keine relevanten Hinweise zu übersehen, die nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Zu einer solchen Selbstreflexion gehört auch die Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen etwa hinsichtlich des zu erwartenden Auftretens eines Vergewaltigungsopfers. Untersuchungen zur Wahrnehmung von Vergewaltigungsopfern durch Polizeibeamte kamen beispielsweise zu dem Ergebnis, dass die wahrgenommene Glaubwürdigkeit der Aussagen deutlich durch stereotype Vorstellungen bezüglich des Opfers und der Tathergänge beeinflusst wird (Greuel 1992). Eine Reihe von Experimenten zu Interviewervoreinstellungen hat darüber hinaus eindrucksvoll demonstrieren können, wie verheerend sich die eigene Voreinstellung auf Prozess und Ergebnis der sozialen Informationsverarbeitung auswirken kann. Vorannahmen beeinflussen die Wahrnehmung und Interpretation von Informationen im Sinne einer Bestätigung dieser Vorannahmen (Schulz-Hardt u. Köhnken 2000; vom Schemm u. Köhnken 2008). Zudem beeinflussen diese Annahmen das eigene Befragungsverhalten (Semin u. De Poot 1997). Das Bewusstmachen eigener Einstellungen und der Fehlerhaftigkeit eigener Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse kann die Gefahr der Eingleisigkeit des Denkens und Handelns reduzieren und somit einen wesentlichen Beitrag zur Verfahrensgerechtigkeit leisten. Es ist daher zu fordern, dass entsprechende Trainingsmaßnahmen wichtiger Bestandteil der juristischen Ausbildung werden. Solche Maßnahmen werden nur dann Erfolg haben, wenn die kritische Beobachtung eigener Überzeugungen und Handlungsweisen sich nicht auf den Trainingszeitraum beschränkt, sondern Teil des alltäglichen Handelns wird, von dessen Sinnhaftigkeit der Anwender selbst überzeugt ist. Eine systematische Durchführung und Evaluation solcher Trainingsmaßnahmen, welche nach Möglichkeit als Aus- und Fortbildung angeboten werden sollten, erscheint aus rechtspsychologischer Sicht wünschenswert und notwendig. Eine Verbesserung der Situation kann langfristig jedoch nur erreicht werden, wenn auch die Verfasser kommender Auflagen von Vernehmungshandbüchern bereit sind, auf eine Verbreitung irreführender Fehlinformationen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen zuwiderlaufen, zu verzichten.
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3.2.4 Sekundäre Viktimisierung Neben Fragen der richterlichen Glaubwürdigkeitsattribution und Urteilsbildung ist in der rechtspsychologischen Forschung, die sich mit dem Strafverfahren befasst, auch untersucht worden, welche Folgen die Beteiligung an einem Strafverfahren für Geschädigte hat und ob diese durch Strafverfahren sekundär viktimisiert werden. Während unter „primärer Viktimisierung“ alle Schädigungen durch eine Straftat selbst subsumiert werden, versteht man unter „sekundärer Viktimisierung“ Reaktionen, aus denen zusätzliche Schädigungen des Opfers sowie eine Festschreibung seiner Opferrolle resultieren. Ein solches Fehlverhalten kann dabei sowohl durch den sozialen Nahraum des Opfers als auch durch formelle Kontrollinstanzen erfolgen, in der Regel sind vor allem Fehlreaktionen der Strafverfolgungsinstanzen angesprochen. Bei dieser Definition bleibt zunächst offen, welche konkreten Fehlreaktionen gemeint sind, ob es sich hierbei um dem Rechtssystem immanente Reaktionen oder vermeidbare Fehler handelt und welche Art von Schädigungen hervorgerufen werden können.
3.2.4.1 Empirische Studien zu Auswirkungen von Strafverfahren auf Opfer Untersuchungen zu möglichen sekundären Viktimisierungseffekten sind mit zahlreichen methodischen Schwierigkeiten verbunden. Die Hauptschwierigkeit besteht in der Trennung der Störungen, die durch das Delikt (oder durch weitere Belastungsfaktoren) verursacht werden, von solchen, die durch die gerichtlichen Verfahren selbst ausgelöst werden. Um die Wirkungen einer Aussage in einer Hauptverhandlung isoliert zu bestimmen, ist ein Vergleich mit einer Kontrollgruppe nichtaussagender Opferzeugen notwendig. Da eine Zufallszuweisung ausgeschlossen ist, muss eine Vielzahl von Moderatorvariablen berücksichtigt werden: Die Bewertung von Belastung ist unter anderem von der Einschätzung der verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten abhängig. Dazu zählen z. B. Vertrauen in die persönliche Leistungsfähigkeit, Optimismus, körperliche Gesundheit und soziale Unterstützungssysteme. Im gegebenen Zusammenhang sind zudem deliktbezogene Einflüsse zu berücksichtigen, namentlich Art und Schwere des Delikts sowie die Täter-Opfer-Beziehung (vgl. Busse et al. 1996). So liegen insgesamt nur wenige systematische Untersuchungen zu dieser Fragestellung vor, die zudem unterschiedliche abhängige Variablen erfassen. Vorhandene Untersuchungen berücksichtigen mehrheitlich minderjährige Zeugen und konzentrieren sich stark auf Opfer von Sexualdelikten. Darüber hinaus stammen die vorhandenen Studien größtenteils aus dem englischsprachigen Raum; da sich das angloamerikanische adversarische Strafprozessrecht jedoch deutlich von der deutschen strafprozessualen Situation unterscheidet, sind die Ergebnisse nur bedingt übertragbar.
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3.2.4.1.1 Retraumatisierung Unter Retraumatisierung wird eine verfahrensverursachte vorübergehende oder langfristige Exazerbation einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) verstanden. Es wird argumentiert, dass durch eine Zeugenaussage ein etwaiges posttraumatisches Vermeidungsverhalten, welches kurzfristig eine positive adaptive Funktion haben kann, drastisch reduziert wird, was eine vorübergehende Zunahme von posttraumatischen Belastungsreaktionen nach sich ziehen kann (Orth u. Maercker 2004). Die wenigen zu dieser Frage vorliegenden Studien demonstrieren allerdings überwiegend keine Retraumatisierungseffekte, wenn die Deliktschwere kontrolliert wird (Frazier u. Haney 1996; Epstein et al. 1997). In einer Studie mit deutschen erwachsenen Opfern von Gewaltdelikten fanden Orth und Maercker (2004), dass verfahrensbezogene Variablen wie Zufriedenheit mit dem Verfahrensausgang, erlebte Belastung während der Vernehmung, wahrgenommene Schuldzuweisungen durch den Angeklagten oder den Verteidiger oder wahrgenommene prozedurale Gerechtigkeit zur Vorhersage des Ausmaßes posttraumatischer Belastungsreaktionen nicht beitrugen. Lediglich die Wahrnehmung des Urteils als moralische Genugtuung hatte einen Effekt: Opfer mit einem hohen Wert auf dieser Skala berichten über weniger PTBS-Symptome als Opfer mit niedrigen Werten. In einer anschließenden Längsschnittuntersuchung wurden posttraumatische Belastungsreaktionen von erwachsenen Opfern von Gewaltdelikten etwa vier Monate vor und einen Monat nach der Verhandlung erhoben. Die posttraumatischen Belastungsreaktionen nahmen vom ersten zum zweiten Zeitpunkt ab, eine Zunahme von Symptomen fand sich also auch nicht relativ kurz nach der gerichtlichen Vernehmung.
3.2.4.1.2 Verfahrensverursachte langfristige Schädigungen Fragt man Opfer nach ihrer subjektiven Einschätzung, ob sich das Strafverfahren positiv oder negativ auf ihr weiteres Wohlbefinden ausgewirkt hat, finden sich allerdings vielfach negative Beurteilungen. Orth (2002) stellte fest, dass zwei Drittel von 137 befragten deutschen Opfern von Sexual- und Gewaltdelikten angaben, das Strafverfahren habe eher negative Effekte auf ihr weiteres Wohlbefinden gehabt. Als signifikanter Prädiktor für diese Einschätzung erwies sich vor allem die Unzufriedenheit mit dem Verfahrensausgang. Eine der wenigen Untersuchungen, in denen das Auftreten von verfahrensinduzierten Schädigungen prospektiv und im Kontrollgruppendesign untersucht wurde, wurde von Goodman et al. (1992) in Denver, Colorado, mit einer größeren Stichprobe von Kindern durchgeführt. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass negative Effekte durch das Verfahren für die meisten Kinder eher gering blieben. Einige Kinder, die ausgesagt hatten, zeigten jedoch im Vergleich zu vorher erhöhte Verhaltensauffälligkeiten. Insbesondere Kinder, die wiederholt aussagen mussten, zeigten eine gerin-
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gere Stabilisierung als die, die nur einmal oder gar nicht aussagen mussten. Zwölf bis vierzehn Jahre später wurde ein Teil dieser Probanden erneut befragt. Insgesamt verweisen die Ergebnisse darauf, dass sich keine generellen verfahrensinduzierten langfristigen Erhöhungen von psychopathologischen Symptomen finden lassen. Allerdings kommt es möglicherweise bei einer Untergruppe von kindlichen Opfern vor allem nach wiederholten und sehr konfliktbeladenden gerichtlichen Vernehmungen zu negativen langfristigen Effekten. Andererseits sind bei einer Teilgruppe von kindlichen Opfern auch negative Konsequenzen festzustellen, wenn diese nicht aussagen (Quas et al. 2005).
3.2.4.1.3 Passagere Belastung Schließlich besteht die Möglichkeit von vorübergehenden Belastungen während des Verfahrens. Diese können Folge einer Fehlreaktion der Strafverfolgungsbehörden sein, sind es jedoch nicht zwingend. Eine vorübergehende Zunahme an Belastung ist auch bei Verfahrensverläufen denkbar, in denen es langfristig zu positiven Effekten kommt. So weist Pfäfflin (1997) darauf hin, dass die Wiederholung des Affektes bei der Aussage im Gerichtssaal für ein Opfer zwar schmerzhaft sei, der mögliche therapeutische Effekt aber darin bestehen könne, dass die ursprüngliche Situation sich nicht wiederhole, sondern einem anderen Ausgang zugeführt werde. Das Opfer erlebe, dass es vor dem Angeklagten geschützt werde und dass sein eigener Affekt wahrgenommen und respektiert werde. Im Idealfall kann also durch eine Aussage die Selbstwirksamkeitserwartung vergrößert und durch die Wiedererlangung von Kontrolle eine Traumatisierung unter Umständen sogar reduziert werden. Retrospektive Befragungen erwachsener Zeugen unterstreichen die Deliktspezifität des Belastungserlebens, die Strafverfolgungsprozedur scheint besonders Opfer von Sexualdelikten zu belasten (z. B. Richter 2004). Baurmann und Schädler (1999) hatten bereits auf der Basis einer etwas älteren Opferbefragung vermutet, dass die Bewertung der polizeilichen Tätigkeit sich im Laufe der zurückliegenden Jahre verbessert hatte. Diese Annahme wird unterstützt durch eine aktuelle umfangreiche Repräsentativuntersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland (Müller u. Schöttle 2004), bei der festgestellt wurde, dass die Zufriedenheit mit der polizeilichen Tätigkeit innerhalb der letzten 15 Jahre zugenommen hat, wohingegen die Zufriedenheit mit der Tätigkeit der Gerichte deutlich schlechter ausfiel; ein Drittel der Befragten erklärten, sie seien unzufrieden oder sehr unzufrieden mit dem Gerichtsprozess gewesen. Auch amerikanische Studien haben gezeigt, dass die Bewertungen der polizeilichen Tätigkeit durch die Opfer deutlich positiver sind als die Bewertung des Strafrechtssystems im Allgemeinen. Bemängelt wurde in allen Untersuchungen insbesondere die fehlende Information über den Fortgang des Verfahrens (zusammenfassend Frazier u. Haney 1996), Opfer fühlen sich dadurch häufig unzureichend wahrgenommen und übergangen (Shapland et al. 1985), und dies
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führt zu negativen Auswirkungen im Hinblick auf die wahrgenommene Fairness des Verfahrens (Wemmers 1996). Zum Belastungserleben und der Zufriedenheit mit Hauptverhandlungen von minderjährigen, in der Mehrzahl selbst geschädigten Zeugen wurde eine Untersuchung von Busse et al. (1996) vorgelegt. Der überwiegende Teil der befragten geschädigten Zeugen schilderte eine mäßig oder stark ausgeprägte Belastung während der Aussage. Das Belastungserleben war in hohem Maß durch die erneute Erinnerung an das Deliktgeschehen bestimmt und wurde kaum durch äußere Einflüsse wie Maßnahmen der Verfahrensausgestaltung oder auch durch eine nichtgerichtliche soziale Unterstützung beeinflusst. Trotz der wahrgenommenen hohen Belastung während der Aussage bewerteten die minderjährigen geschädigten Zeugen ihre Gerichtserfahrung dennoch mehrheitlich als positiv und fühlten sich fair behandelt. Bei der Einschätzung der Gesamtzufriedenheit spielten Aspekte der Verfahrensausgestaltung eine wichtige Rolle. Die Zufriedenheit mit der Gerichtsverhandlung war höher, wenn insgesamt mehr zeugenschonende Maßnahmen angewandt wurden, isolierte Schutzmaßnahmen hatten keinen signifikanten Effekt auf die Zufriedenheitseinschätzungen. Besondere Bedeutung kam dem Richterverhalten zu; ein als unterstützend eingeschätztes Richterverhalten trug in hohem Maße dazu bei, dass Kinder eine Gerichtserfahrung trotz erlebter Belastung während der Aussage insgesamt als positiv bewerteten. Von den Minderjährigen, auf deren Aussage am Tag der Hauptverhandlung letztlich verzichtet wurde, reagierten fast alle erleichtert über diese Entscheidung. Trotzdem äußerte ein substanzieller Teil der Befragten, dass es ihnen eigentlich doch wichtig gewesen wäre, dem Gericht selbst ihre Erlebnisse zu schildern. Dies betraf insbesondere Minderjährige, die mit dem Urteil nicht zufrieden waren und annahmen, dass ihre Aussage zu einem anderen Strafmaß geführt hätte, wenn sie selbst hätten berichten können, wie schlimm die Erlebnisse gewesen seien. Die Diskrepanz zwischen Belastungs- und Zufriedenheitseinschätzungen lässt sich verstehen vor dem Hintergrund von Überlegungen zur subjektiven Wahrnehmung von Verfahrensgerechtigkeit. Danach spielt die Möglichkeit, seinen eigenen Standpunkt darzustellen und in gewissem Maß Einfluss auszuüben, für die Wahrnehmung von Verfahrensgerechtigkeit eine große Rolle (Lind u. Tyler 1988). Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, erfolgen auch nach einer vorübergehenden Belastung in Form erhöhter Ängstlichkeit positive Bewertungen.
3.2.4.2 Schlussfolgerungen für die Praxis z Dauer des Verfahrens. Analysen von Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs haben gezeigt, dass zwischen Anzeige und Hauptverhandlung teilweise Jahre vergehen (zusammenfassend Volbert 2002). Es ist offensichtlich, dass sich Belastung reduzieren lässt, wenn die Zeitspanne, in der Belastung auftreten kann, möglichst kurz gehalten wird. In amerikanischen Untersuchungen finden sich zudem teilweise explizite Hinweise dafür, dass
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Opfer sich von deliktverursachten Schäden schlechter erholen können, solange das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen ist (z. B. Runyan et al. 1988). z Antizipation der Vernehmung. In der Praxis werden vielfach Bemühungen unternommen, insbesondere minderjährigen Opfern eine Aussage in einer Hauptverhandlung zu ersparen, um hierdurch verfahrensbezogene Belastung zu reduzieren. In der deutschen Strafrechtspraxis führt ein Geständnis – auch wenn es erst in der Hauptverhandlung erfolgt – zu einer oft nicht unerheblichen Strafmilderung. Wenig gewürdigt wird dabei allerdings, dass ein erheblicher Teil der Belastung bereits im Vorfeld durch die Antizipation der Aussage entsteht. Beispielsweise zeigten Berliner und Conte (1995), dass vor allem die Annahme, aussagen zu müssen, mit Angaben über erhöhte Belastung verbunden war, unabhängig davon, ob es tatsächlich zu einer Aussage kam oder nicht. Dies korrespondiert mit den Ergebnissen von Goodman et al. (1992) und Busse et al. (1996), wonach viele der befragten Minderjährigen erhebliche Ängste vor einer Aussage äußerten, im Anschluss daran aber erklärten, es sei weniger schlimm gewesen, eine solche Aussage zu machen, als zuvor befürchtet. Wird ein Zeuge zur Hauptverhandlung geladen, erlebt er die der Verhandlung vorausgehenden Befürchtungen und die Angst und Aufregung am Tag der Verhandlung, unabhängig davon, ob er schließlich aussagen muss oder nicht. Die vergleichsweise milden Strafen in Fällen, in denen wegen eines Geständnisses in der Hauptverhandlung auf die Vernehmung des Zeugen verzichtet wird, werden von einem Teil der Opfer als inadäquat empfunden, da eine erhebliche Belastungsreduktion subjektiv nicht empfunden wird und teilweise der Eindruck entsteht, die niedrige Strafe sei darauf zurückzuführen, dass das Opfer nicht gehört wurde. In der Untersuchung von Busse et al. (1996) wurde immerhin ein Drittel der geladenen minderjährigen Zeugen nicht in der Hauptverhandlung gehört. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Problem zu benennen. Neben der Frage, ob eine Aussage in der Hauptverhandlung überhaupt notwendig ist, wird auch über die Anwendung von Schutzmaßnahmen, die bei minderjährigen Zeugen nach dem deutschen Strafprozessrecht unter bestimmten Bedingungen möglich sind (z. B. Ausschluss des Angeklagten, Ausschluss der Öffentlichkeit), erst am Tag der Hauptverhandlung entschieden. Ein Kind muss sich deswegen auf die ungünstigste Verfahrensgestaltung einstellen. Da die Antizipation einer ungünstigen Befragungssituation bereits einen erheblichen Teil der Belastung ausmacht, wird die potenzielle Belastungsreduktion einer Schutzmaßnahme nicht ausgeschöpft, wenn sie erst unmittelbar vor der Vernehmung beschlossen wird. z Unzureichendes rechtliches Wissen. In verschiedenen Untersuchungen ist gezeigt worden, dass Zeugen über unzureichende und zum Teil falsche Informationen über den Ablauf einer Gerichtsverhandlung und die konkreten Anforderungen an Zeugen verfügen (zusammenfassend Rohmann 2005),
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was zu Verunsicherung und zu einem Erleben von Unkontrollierbarkeit führt, welche wiederum die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens von Stress und Ängstlichkeit erhöhen. In den vergangenen Jahren hat es aber eine Reihe von Initiativen gegeben, bei denen auf der Basis einer Vermittlung von rechtlichem Wissen und Bewältigungskompetenzen kognitive Kontrolle erhöht und so zu einer Reduzierung von Belastungserleben beigetragen werden soll (z. B. Köhnken u. Dannenberg 1997). Generell gilt, dass die Wahrnehmung von Kontrollmöglichkeiten über aversive Ereignisse geeignet ist, den durch das Ereignis hervorgerufenen Stress zu reduzieren (z. B. Osnabrügge et al. 1985). z Mangelnde Einbeziehung in das Verfahren. Abgesehen davon, dass oft nur unzureichende Informationen über rechtliche Abläufe im Allgemeinen vorliegen, wird häufig auch nur in geringem Maße über den Fortgang des spezifischen Verfahrens informiert. Bereits Shapland et al. (1985) haben darauf hingewiesen, dass Opfer sich dadurch übergangen fühlen und den Eindruck gewinnen, sie seien bedeutungslos im Verfahren. Opfer haben in der Regel den Wunsch, am Verfahren zumindest soweit beteiligt zu sein, dass sie informiert werden und dass ihre Meinung eingeholt wird, wenn Entscheidungsspielräume bestehen und ihre Interessen tangiert sind (z. B. Kilchling 1995). Unterschiedliche Positionen existieren zu der Frage, ob eine aktive Beteiligung von Opfern an Entscheidungen positive Effekte hat, weil diese dazu beiträgt, Kontrolle und persönliche Autonomie zurückzugewinnen, oder ob eine Übertragung von (Teil-)Verantwortung für die rechtliche Reaktion eine zusätzliche Last für Opfer darstellt. In jedem Fall wird aber eine Anwendung von Schutzmaßnahmen über den Kopf von Opfern hinweg ihre Wirkung verfehlen. Maßnahmen zur Belastungsreduktion haben keinen Effekt, wenn Zeugen das Gefühl vermittelt wird, an dem Geschehen ausschließlich passiv erduldend teilnehmen zu müssen (zum Ganzen Volbert 2008).
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Sachverzeichnis
A Abhängigkeit – körperliche 552 – psychische 552 Actio libera in causa 568 Adoptionsstudien 290 Affektdelikt 383, 568 f – Verhältnis zu § 213 StGB 379–381 Affektive Psychose – Fahrtüchtigkeit 618 f – Risiko von Gewaltkriminalität 327 f Age-crime-Debatte 135, 141 Agententätigkeit 629 Aggression 368 f Aggressivität 144 Agoraphobie 280 Akute Belastungsstörung 268 Alexithymie 276 Alkohol – Fahrtüchtigkeit 579 f, 587–589, 593 f, 601 f, 609–611 – und Gewalt 528 – und Kriminalität 81 Alkoholabhängigkeit 372, 374, 377, 552–556 – Delinquenzrisiko 326, 332 Alkoholdelinquenz – Begutachtung 565–575 – Entziehung der Fahrerlaubnis 563 f – Prognosegutachten 573–575 – Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 573 – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 570 – Unterbringung in einer Entziehungsanstalt 570–573 Alkoholentzugsdelir 553 Alkoholentzugssyndrom 553 Alkoholhalluzinose 556 Alkoholintoxikation 553–556 Alkoholismus 390–394 Alkoholkonsum – Kriminalität 180 f, 184
Alkoholmissbrauch 372 f, 377, 370 f – und Vergewaltigung 432 Alkoholrausch 553–556 – gewöhnlicher 552 f – komplizierter 552 f, 355 – pathologischer 555 Alkoholtoxische Demenz 556 Alter s. Lebensalter und Kriminalität Alterskurve 67 Alterungsprozesse, Fahrtüchtigkeit 617–618 Amphetamine 558 – Fahrtüchtigkeit 613 Angststörung 279 Ankereffekt 665–668 Anklageerhebung 11, 14 Anomietheorie 153 f, 156, 157, 177, 197, 202 f, 210, 287, 291 f Antidepressiva, Fahrtüchtigkeit 616 f Antipsychotika, Fahrtüchtigkeit 616 f Antisoziale Persönlichkeitsstörung 377 f Anzeigeverhalten 7, 17 f, 24, 28, 31 f, 34, 37, 52, 71, 87, 126 f, 191,193, 202, 245, 360, 362, 371, 414 f, 650 f Ärztlicher Heileingriff 346 Attentäter 634 Aufklärung von Straftaten 11, 66 Aufklärungsquote 66, 85, 127, 357, 413 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 151, 372 Aufmerksamkeitsdefizit 144, 378 Ausbeutung von Prostitution 407–408 Auschwitz-Lüge 631 Ausländer s. Nationalität und Kriminalität Ausländische Staaten, Straftaten gegen 629, 634 Aussetzung 344 f Aussiedler 80 f, 129, 187 f, 190 f, 200–202 Autonome 215, 633 B Bagatellkriminalität 27, 67 Banden 217–223
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Sachverzeichnis
Barbiturate 562 Bedrohung 353 Begünstigung 462 Beleidigung auf sexueller Grundlage 412 Benzodiazepine 561 f – Fahrtüchtigkeit 615 f Beschaffungskriminalität 82 Beteiligung an einer Schlägerei 348 Betrug 7, 45, 196, 460 , 464 f Betrugsdelinquenten 482–486, 489–493 – Therapie 491–493 Bindungen, soziale 156–161 Bindungsstörung 382 Bindungstheorie 179, 204 f, 277–279, 303, 329–330 Blutentnahme 586 Borderlinepersönlichkeitsstörung 371, 377 Brandstiftung 388–394, 460 – und Sexualität 391 f Bremer Panelstudie 163–165 British Crime Survey 246 Broken-Home-Familie 371f Broken-windows-Theorie 302 C Cambridge Study in Delinquent Development 143, 473 f Cannabinoide 560 f – Fahrtüchtigkeit 612 Chicago-Schule 210, 293, 300–302 chronic offender 137 Copingtheorie 167 Crack 560 Cruising 430, 436 D Delinquente Subkultur 205 Demenz 394 – Fahrtüchtigkeit 617 f Denver Youth Study 159, 164 Depression 280 f, 371, 382, 390 f Desaktualisierung 330 f Developmental Criminology s. Entwicklungskriminologie Devianz – primäre 299 – sekundäre 299 Diazepam 561 f Diebstahl 28, 45, 175, 196, 458 f, 462–464 Diebstahlsdelinquenten 470–482 Differentielle Assoziation 154, 202 f, 210, 294 Dissoziation 268, 276, 281 f
Diversion 100, 104,106,137,164 f Drogen – Fahrtüchtigkeit 579, 580, 587–589, 593–594, 601 f, 612 f – und Delinquenz 184, 500–503, 512–530, 547–548 – und Gewalt 526–530 Drogenabhängigkeit 374, 377 – Delinquenzrisiko 332 Drogendelinquenz 67, 70, 81 f, 175, 196, 212, 214, 223, 225, 497–577 – Begutachtung 535–538, 565–575 – „Einstiegsdrogen“ 511 f – Entziehung der Fahrerlaubnis 563 f – Finanzierung des Drogenbedarfs 523 f – forensisch-psychiatrische Aspekte 547–577 – juristische Grundlagen 497–500 – Kriminalpolitik 538–544 – kriminologische Grundlagen 500–546 – „Normalität“ von Drogenumgang 503 – Prognosegutachten 573–575 – Strafverfolgung 530–534 – Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 573 – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 570 – Unterbringung in einer Entziehungsanstalt 570–573 Drogenkonsumräume 543 f, 549 Drogenmissbrauch 373, 370–372, 377 Dunedin Multidisciplinary Study 143, 144–147, 150, 295, 371 f, Dunkelfeld 1 f, 17 f – doppeltes 248 – Gewaltdelinquenz 360–363 – Sexualdelinquenz 415–417 Dunkelfeldforschung 21 Dunkelfeldkriminalität 21–37, 71 – Deliktsstruktur 23–26 – Entwicklung 28–38 E Echopsychose 560 f Ecstasy 558 f Ehrenmord 376 f Eifersuchtswahn 556 Eigentums- und Vermögensdelinquenz 23–26, 38 f, 45, 87, 127, 457–497 – Begriff 457 – forensisch-psychiatrische Aspekte 470–493 – juristische Grundlagen 457–462 – kriminologische Grundlagen 462–469 – Phänomenologie 464 f
Sachverzeichnis – Strafverfolgungspraxis 465–469 Eigentumsdelikte 458–460 Einstellung des Strafverfahrens 11, 14, 93–97, 129 Einwilligung 346, 348 Elterntötung 375 Empathie 370, 374 Entdeckungsrisiko 2, 27, 165 Entdeckungswahrscheinlichkeit 27 Entkriminalisierung 5 f, 93–97 Entwicklungsdefizite 144 Entwicklungskriminologie 136, 143 f, 153–154, 157, 166 f, 306 f, 333 Entwicklungspsychologie 368 Entziehung der Fahrerlaubnis 122, 124, 130, 584 f, 596 f, 603–605 – bei Alkohol- und Drogenkonsumenten 563 f – vorläufige 585 f Entziehung Minderjähriger 351 f Entziehungsanstalt 109–122, 570–573 Epilepsie 377 Epileptische Wesensänderung 391 Episodenhaftigkeit s . Jugendkriminalität Erpresserischer Menschenraub 350 Erpressung 461, 350 f Erregung öffentlichen Ärgernisses 410, 412 Erzieherprivileg 406, 409 Erziehungsdefizite 145 Erziehungsmaßregeln 105 f Erziehungsstil 158, 372 Eskalation 138 f, 142 f Ethnomethodologie 287, 297–299 Etikettierungstheorie s. Labeling approach Exhibitionismus 410, 412, 414 f, 445–452 – Rückfall 418, 451 – Schäden bei den Opfern 452 – Therapie 451 Extraversion 158, 291, 606 f F Fahren ohne Fahrerlaubnis 582 f Fahrlässige Körperverletzung 348 – im Straßenverkehr 581, 584 Fahrlässige Tötung 344 – im Straßenverkehr 581, 583 f Fahrtüchtigkeit – affektive Psychosen 618 f – Alkohol 579 f, 583 f, 593–595, 601 f, 609–611 – Alterungsprozesse 617 f – Amphetamine 613 – Antidepressiva 616 f – Antipsychotika 616 f
– – – – –
Begutachtung 619–621 Benzodiazepine 615 f Cannabis 612 Demenz 617 f Drogen 579 f, 587, 588 f, 593 f, 601 f, 612 f – Hypnotica 615 f – Medikamente 613–617 – Methadon 613 – Neuroleptika 616 f – Opiate 612 f – psychiatrische Erkrankungen 617–619 – Psychopharmaka 613–617 – Schizophrenie 616–619 – Tranquilizer 615 f – Zolpidem 615 f – Zopiclon 615 f Fahrunsicherheit s. Fahruntüchtigkeit Fahruntüchtigkeit – absolute 564, 579 f – relative 563 f, 579 f Fahrverbot 122, 124, 584 f, 596, 603 f Familiäre Störungen 144 f, 165 f Feministische Kriminologie 178 Flashback 560 f Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger 406 f Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei 627 f Frauenkriminalität s. Geschlecht und Kriminalität 26 Freiheitsberaubung 349 f Freiheitsdelikte 348–353 Freiheitsstrafe 104, 126, 130 – lebenslange 104 – mit Aussetzung zur Bewährung 104, 130 Fremdenfeindliche Kriminalität 221 Friedensverrat 627, 634 Frontalhirnschädigung 377 Frühkindliche Hirnschädigung 393 Frustrations-Aggressions-Hypothese 607 Frustrationstoleranz 606 Führerscheinbeschlagnahme 586 G Geborener Verbrecher 289 Gefährdung des Straßenverkehrs 580 Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr 580 f Geiselnahme 351 Geldstrafe 104, 130 Geldwäsche 462 Geltungsbedürfnis 606 Generalprävention 595, 596, 597
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Sachverzeichnis
Geschlecht und Delinquenz 26, 67, 71–75, 82, 98, 128, 175–186, 211, 309–311, 357, 370 f, 413, 592, 601, 633 f Gesetz der konstanten Verhältnisse 4 f, 17 f Gewaltbegriff 339–342, 368 f Gewaltdelinquenz 7, 8–38, 41, 45–55, 60–62, 67, 70, 78, 80, 82, 84 f, 87, 126 f, 175 f, 179–183, 195–199, 201 f, 211, 214, 244–247, 322, 325–328, 339–399 – Dunkelfeld 360–363 – Entwicklung 358–360 – forensisch-psychiatrische Aspekte 367–399 – fremdenfeindliche 190 f, 633 – häusliche 191, 197, 199, 204, 250, 252, 256–259, 360, 375 – in der Schule 32 f, 37 f, 179 – in psychiatrischen Einrichtungen 363–365 – juristische Grundlagen 339–356 – kriminologische Grundlagen 356–367 – Polizeiliche Kriminalstatistik 357 f Gewalttransmission 272–279 Glaubwürdigkeitsattribution 668–677 Glücksspiel, illegales 212, 225 Graffiti 460 Grausamkeit 388 Gruppendelinquenz 209–235 Gruppenvergewaltigung 428
I Impulskontrolle, Störung der 389, 392, 394, 477 Impulsivität 144, 369 f, 374, 378, 611 Intelligenz 144 , 145, 158 Intelligenzminderung 390–394 Intensivtäter 26, 30–32, 34, 37, 82–85, 136–140, 144–153, 194 interactional theory 156 f, 161 International Crime Victim Survey 247 Intoxikation, Delinquenzrisiko 331 f Inzest 437 f Inzidenzrate 140 J Jugendbanden 218–220 Jugenddelinquenz 26–28, 60, 67–70, 85, 87, 90, 128, 158, 333 f, 362, 371, 466 f, 472–475, 503 – Episodenhaftigkeit 28, 90, 128 – Gruppendelinquenz 211–214, 218–220 – Normalität 26–28 – Ubiquität 27 f, 137, 140 Jugendstrafe 105, 106, 109, 130 – mit Aussetzung zur Bewährung 105 f, 109, 130 K
H Habgier 384 f Halttheorie 204 f Harm reduction 539, 548 Haschisch 561 Hasskriminalität 359 Hassverbrechen 226, 237, 242 Haustyrannenfälle 344 Hehlerei 462 Heimtücke 343 f, 385–387 Hellfeld 1 f, 17 f Hepatische Enzephalopathie 556 Heroin 557 Heroinvergabeprogramm 540–542, 549 Hirnfunktionsstörung 373 Hochverrat 627 Hooligans 216 f Hot spot 242 Hyperaktivität 144 f, 151, 378 Hyperästhesie 425 Hypnotica, Fahrtüchtigkeit 615 f
Kapitalanlagebetrug 488 Kennzeichen verfassungswidrig zu Organisationen, Verwendung 628 f, 634 Kinderdelinquenz 471–473 Kinderhandel 352 Kinderpornografie 409, 412 Kindestötung 343, 371, 381 f Kleptomanie 476–482 Kohortenstudien 84, 90, 134–174 Kokain 559 f Konsumenten harter Drogen 81 f Kontrolltheorie 153 f, 156–161, 287, 303–307 Körperverletzung 7, 28, 41, 45 f, 52, 56–61, 63, 65, 67, 85–87, 35, 175, 179, 181–183, 196–197, 345–348, 359 f – mit Todesfolge 347 – schwere 346 f – vorsätzliche 345 f Korruption 70 Korruptionsdelinquenten 488 f Korsakow-Syndrom 556 Krankheitsbegriff 328 Kriegsverbrechen 631 Kriminalbiologie 176
Sachverzeichnis Kriminalisierung 5 f, 177 f Kriminalität, registrierte 4–18, 126 – Entwicklung 42–55, 648–650 – Umfang und Struktur 38–42 Kriminalitätsbelastungsziffer 140 Kriminalitätsfurcht 3 f, 302 f, 254 f Kriminalitätskontrolle 1–3 Kriminalstatistik 7, 10–21 Kriminalitätstheorien 176–184, 202, 286–320 – Anomietheorie 153 f, 156 f, 177, 197, 202 f, 210, 287, 291 f – Begriff 286 – Bindungstheorie 179, 204 f, 303, 329 f – biologische 289–291 – Broken-windows-Theorie 302 – delinquente Subkultur 205 – Differentielle Assoziation 154, 202 f, 210, 294, 306 f – Entwicklungskriminologie 306 f – Ethnomethodologie 297–299 – feministische 309–311 – Halttheorie 204 f – interactional theory 156–157, 161 – konstruktivistische 307–308 – Kontrolltheorie 153 f, 156–161, 287, 303–307 – kritische Kriminologie 310 – Kulturkonflikttheorie 204–206, 210, 294, 376 f – Labelingtheorien 160, 161–166, 167 f, 177 f, 203, 287, 297–300, 309 – Lerntheorie 156, 179, 287, 294 f – Mehrfaktorenansatz 134, 136, 143, 153, 154, 167 – ökologische 300–303 – ökonomische 288 f – Sozialisationstheorie 287, 295–297, 304, 309 – Strain theory 179 f – Subkulturtheorie 210, 287, 293 f – utilitaristische 288–289 – voluntaristische 312–315 Kriminalprognose 135, 139, 146, 149, 151 f Kriminelle Karriere 83–85, 90, 128, 141, 159, 167, 299, 305, 308, 312 Kriminelle Vereinigung 630 Kritische Kriminologie 310 Kulturkonflikttheorie 204–206, 210, 294, 376 f L Labelingtheorien 160, 161–166, 167 f, 177 f, 203, 287, 297–300, 309
Ladendiebstahl 458, 464, 471 Landesverrat 629, 634 Landesverteidigung, Straftaten gegen die 630 Landfriedensbruch 355 Längsschnittforschung, kriminologische 134–174 Lebensalter – und Delinquenz 66–70, 134–174, 148, 357 f, 471–475, 591 f, 600, 602 f, 608 Lebensstilansätze 242 Left realism 241 Legalitätsprinzip 652 Lernen am Erfolg 294 Lernen am Modell 294 f Lerntheorie 156, 179, 287, 294 f Linksradikalismus und Delinquenz 228, 633 f Lösungsmittel 563 LSD 560 M Mafia 224 f Makrokriminalität 70, 633–635 Manie 377 Marihuana 561 Massenmedien 3 f Maßregeln der Besserung und Sicherung 109–124, 130, – mit Freiheitsentzug 109–122, 130 – ohne Freiheitsentzug 122–124, 130 Matrizid 375 Medien 310, 373 Medikamente, Fahrtüchtigkeit 613–617 Medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) 564, 585, 596, 604 Mehrfachtäter s. Intensivtäter Mehrfaktorenansatz 134, 136, 143, 153, 154, 167 Menschenhandel 353 f Menschenraub 351 Methadon, Fahrtüchtigkeit 613 Methadonsubstitution 540 Methamphetamine 558 Migranten s. Zuwanderer Misshandlung von Schutzbefohlenen 347 f Monomanienlehre 388 f, 394, 476 Moralentwicklung 296 Mord 343 f, 382–388 – aus politischen Motiven 631 f Mordlust 384 Multifaktorieller Ansatz s. Mehrfaktorenansatz
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Sachverzeichnis
N Nachschulung 596 f Nachstellung 352 f National Crime Victimization Survey 245 f Nationalität und Delinquenz 20, 75–81, 128 f, 186–209 Nekrophilie 445 Netzwerk, kriminelles 224 f, 227 f Neurokognitive Defizite 144 f, 153 Neuroleptika, Fahrtüchtigkeit 616 f Neurotizismus 291 Niedriger Beweggrund 343, 631 f Normakzeptanz 156, 167, 181–184 Normalität s. Jugendkriminalität Nötigung 348 f – aus politischen Motiven 632 – im Straßenverkehr 581 O Operante Konditionierung 294 Operative Fallanalyse 428 Opfer 236–265, 265–286 – Begriff 236 – mehrfache 252 f – Mitverursachung der Tat 240 Opferbefragung 21–23, 28 f, 126, 245–249 Opferentschädigung 255, 256 Opfergefährdung 55–65, 127 f, 243–253 – Geschlecht 250 – Lebensalter 249 f – räumliche Faktoren 250 – soziale Schicht 250 Opferhilfe 239, 255–258 Opfermerkmale 413 Opferrechte 255–258 Opferschäden 253 f – psychische 265–286 Opfertypen 238 Opiate, Fahrtüchtigkeit 612 f Opportunitätseinstellung 93–98, 100, 129 Organische Psychose, Risiko von Gewaltdelinquenz 327 f Organisierte Kriminalität 70, 81, 198, 223–225 Othello-Fehler 675 f Oxazepam 561–562 P Pädophile Altersdelikte 439 Pädophilie 439–444 Panel on Criminal Careers 135, 138 f Paraphilie 434, 445
Patrizid 375 Peergruppe 156–158, 164 f, 167, 213, 305–307, 313, 372, 508, 550 f Perseveranz 83 Persistenz 141, 146, 157, 159 Persönlichkeitsänderung, andauernde – nach Extrembelastung 265, 266 f, 269 Persönlichkeitsstörung 390, 393 f – Delinquenzrisiko 332, 334 f – dissoziale 332 Philadelphia-Geburtskohortenstudie 136–138, 175 Pittsburgh Youth Study 143, 149, 151 f, 159 Politisch motivierte Ausländerkriminalität 634 Politisch motivierte Delinquenz 198, 359, 626–644 – forensisch-psychiatrische Aspekte 635–643 – juristische Grundlagen 626–632 – kriminologische Grundlagen 633–635 – links 633 f – rechts 633 Politische Verdächtigung 631 Polizeiliche Ermittlungstätigkeit 651 f Polizeiliche Kriminalstatistik 7, 10–21 Pornografie, Begriff 409 Pornografiedelikte 408–410, 412 Positivismus 134 Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) 265–272, 376, 639, 679 – Diagnose 265 f – Ereignisfaktoren 269–271 – komorbide Störungen 268 – komplexe PTSD 269 – Remission 268 – Risikofaktoren 269 – Schutzfaktoren 271 – subsyndromale Störungen 267–269 Prävalenzrate 140 Prognose 85 Prognosegutachten, bei alkohol- und drogenkonsumierenden Tätern 573–575 Progredienz 443 Prostitution, Straftatbestände 407 f Prostitutionsgesetz 408 Protektive Faktoren 373 Pseudologia phantastica 483 f Psychiatrisches Krankenhaus 109–122, 570 Psychische Erkrankung – Fahrtüchtigkeit 617–619 – Risiko von Gewaltdelinquenz 377 f Psychische Störung als Delinquenzursache 321–337 Psychomotorische Aura 391 Psychopharmaka, Fahrtüchtigkeit 613–617
Sachverzeichnis Psychotizismus 291 Punker 216 Pyromanie 389, 392, 394 R Rational-choice-Theorie 153, 304 Raub 7, 41, 45, 48, 53, 56, 61, 63, 67, 70, 127, 175, 196 f, 220, 359, 458 f Räuberische Erpressung 41, 45, 56, 127, 461 – Räuberischer Diebstahl 458 f Rausch, Delinquenzrisiko 331 f Rauschgiftkriminalität s. Drogenkriminalität Rechtsradikalismus und Delinquenz 221–222, 228, 633 Reifungslücke 145 Religiös motivierte Delinquenz 198, 227 Risikoneigung 606, 608, 609 Rochester Youth Development Study 147 f, 152, 154, 156 f, 159, 163, 259 Rocker 223 Rote-Armee-Fraktion 636–643 Routine-activities-Ansätze 242 Rückfälligkeit, nach Maßregelvollzug 326 S Sabotage 629 Sachbeschädigung 175, 460, 465 Sadismus 432–437 Sadomasochismus 434 Sanktionierungspraxis 98–124, 130, 166 – im allgemeinen Strafrecht 104 – im Jugendstrafrecht 104–109 Sanktionseskalation 166 Schizophrenie 377, 382, 390 f, 393 f, 481 f – Fahrtüchtigkeit 616–619 – Risiko von Gewaltdelinquenz 322, 325–331, 364 Schusswaffengebrauch 54 f Schutzgelderpressung 223, 225 Schwachsinn, Delinquenzrisiko 326 Schwangerschaftsabbruch 342, 345 Sekundäre Devianz 162–166 Selbstgefährdung 344 Selbstkontrolle 145, 158, 179, 184, 304–306 Selbstmord s. Suizid Selbstmordattentäter 638 Selective incapacitation 84, 138 f Selektionsprozess 178, 203 Self-fulfilling prophecy 162, 203, 299 Sensation seeking 327, 606 f Serotonin 291, 373 f, 392 Sexualdelinquenz 41, 60 f, 399–456 – Dunkelfeld 415–417
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– Entwicklung 413–415 – forensisch-psychiatrische Aspekte 420–456 – juristische Grundlagen 399–411 – kriminologische Grundlagen 411–420 – Polizeiliche Kriminalstatistik 411–413, 421 – Progredienz 424–427 – Rückfälligkeit 417–419 – und psychische Störung 421–424 Sexualmord 48, 127 Sexualpräferenz, Störung der 434, 445 Sexuelle Gewaltdelikte 7, 41, 45, 48, 127, 400 f, 413–417, 427–437 – Rückfall 418 Sexuelle Handlung 399 f Sexuelle Nötigung 41, 45, 127, 400 f, 413 f, 427–432 – Rückfall 418 Sexueller Missbrauch – unter Ausnutzung einer Amtsstellung 402 – unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses 402 – von Gefangenen 402 – von Jugendlichen 404 – von Kindern 402 f, 412, 414, 437–445 – – Rückfall 418 f, 444 f – von Schutzbefohlenen 404–406 – widerstandsunfähiger Personen 401, 428 f Sicherheitsgefühl s. Kriminalitätsfurcht Sicherungsverwahrung 109, 573 Situative Tätergemeinschaft 212–217 Skinheads 221–223, 633 Soziale Kontrolle 177–179, 184 Soziale Phobie 280 Soziale Schicht und Delinquenz 312 Sozialisation 144, 158, 165, 177, 184 Sozialisationstheorie 287, 304, 295–297, 309 Spätaussiedler s. Aussiedler Spezialisierung 83, 137, 139, 141 f Spezialprävention 595–597 Spontanbewährung 28, 84, 90, 128, 137, 140 Spontangruppe s. situative Tätergemeinschaft Spritzenvergabe 542 f Staatsangehörigkeit s. Nationalität und Delinquenz Staatsanwaltschaft, Entscheidungsverhalten 93–97, 129 f, 652 f Staatsanwaltschaftsstatistik 7, 10–21 Staatschutzstrafrecht 627 Staatsverbrechen 633–635
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Sachverzeichnis
Stalking 250, 352 f Sterbehilfe 343 Stigmatisierung 297–299 Strafbefehl 93, 129 f Strafgefangene 124–126 Strafgerichte, Entscheidungsverhalten 653–659, 663–668 Strafrechtliche Sozialkontrolle 1–3, 167 f – formelle 1 – informelle 1 Strafrechtspflegestatistiken 7, 10–21 Strafverfahren – Ablauf 646–648, 659 f – Anzeigeverhalten 650 f – polizeiliche Ermittlungstätigkeit 651 f – psychologische Aspekte 662–683 – sekundäre Viktimisierung 678–683 – soziologische Aspekte 645–662 – staatsanwaltliches Entscheidungsverhalten 93–97, 129 f, 652 f – strafgerichtliches Entscheidungsverhalten 653–659, 663–668 Strafverfolgungsstatistik 7, 10–21 Strafzumessungspraxis 100–109, 130, 653–659, 663–665 Strain theory 179 f Straßenkriminalität 357 Straßenverkehrsdelinquenz 578–626 – abgelenkter Fahrer 609 – aggressives Fahren 607 f – Aufklärungskampagnen 595 – Epidemiologie 590 f, 600–605 – forensisch-psychiatrische Aspekte 599–626 – generalpräventive Aspekte 597 – juristische Grundlagen 578–589 – kriminologische Grundlagen 589–597 – Merkmale registrierter Verkehrstäter 591 – polizeiliche Überwachungsmaßnahmen 594 f – spezialpräventive Aspekte 596 f Subkulturtheorie 210, 287, 293 f Substanzabhängigkeit 374, 377, 391 – Delinquenzrisiko 332 Substanzmissbrauch 370–373, 377 Substitution 516, 525, 540, 549, 575 Suchtmittelabhängigkeit, Entstehung 549–551 Suchtmittelwirkungen 552–563 Suizid 325, 332, 343, 374, 378, 382, 483 f, 508, 520, 528, 619, 638 – erweiterter 382, 390 f
T Täterbefragung 21f, 29–37, 126 Tätergruppen s. Gruppendelinquenz Täter-Opfer-Affinität 251 f Täter-Opfer-Ausgleich 256 f Täter-Opfer-Beziehung 55–61 Tatverdächtige 66–92 – Geschlecht 71–75 – Nationalität 75 Tatverdächtigenbelastungszahl 20, 140 Tatverdächtigenzählung, echte 193 f, 649 Temporallappenanfälle 391 Terrorismus 225–230, 636–643 – Begutachtung 639–643 Terroristische Vereinigung 630 Testosteron 290 f, 373 Threat-control-override (TCO) 329 Three-strike-policy 139 Totschlag 342 f – in einem minder schweren Fall 343, 379–382 Tötung – auf Verlangen 343 – zur Befriedigung des Geschlechtstriebs 384 – zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat 388 Tötungsdelikte 367 f, 370 f, 375–377, 379–388 – fahrlässige 344 – vorsätzliche 14–17, 41, 45, 48, 55 f, 60, 62 f, 65, 127, 175, 342–344 Trajektorie 144, 158 Tranquilizer, Fahrtüchtigkeit 615 f Transgenerationale Traumatransmission 272 Traumatisierung – Begriff 265 – Bewältigungsmechanismen 274 Triaden 225 Trunkenheit im Verkehr 592 – § 24 a StVG 587–589 – § 316 StGB 579 f Tübinger Jungtätervergleichsuntersuchung 134, 149, 154, 160 f, 165 f, 474–475 U Überbewertungstendenz in der Polizeilichen Kriminalstatistik 14–17, 21, 127 Überzeugungstäter 640 Ubiquität s. Jugendkriminalität Umweltkriminalität 70 Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort 582 „Unfällerpersönlichkeit“ 608
Sachverzeichnis Unterschlagung 459 Untreue 462 V Vandalismus 393 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 631 Verbrechensbegriff, formeller 5 Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen 628, 634 Verdeckungsmord 432f, 437 Vereinigungstheorie 596 Vereinigungsverbot, Verstoß gegen 628 Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Sicherheitsorgane 629 Verfassungsorgane, Straftaten gegen 629, 634 Vergewaltigung 7, 41, 45, 48, 127, 400 f, 413 f, 427–432 – Rückfall 418 Verhaltensforschung 372 Verkehrsdelinquenz s. Straßenverkehrsdelinquenz Verkehrsordnungswidrigkeiten 587–589 Verkehrsstrafrecht 578–587 – Sanktionen 583–585 – Straftatbestände 579–583 – Strafverfahren 585–587 Vermögensdelikte 460–462 Verschleppung 351, 631 Verunglimpfung des Staates 629 Verurteiltenbelastungszahl 20 Victim survey s. Opferbefragung Viktimisierung – Bewältigungsmechanismen 274 – primäre 236 – sekundäre 236, 678–683 Viktimisierungsrisiko s. Opfergefährdung Viktimisierungstheorie 241 f
Viktimologie 236–265 – „positivistische“ 239 f – „radikale“ 240 f – Begriff 236 – Entwicklung 237–239 – feministische 241 – kritische 241 Völkermord 631, 633–635 Völkerstrafgesetzbuch 631 Volksverhetzung 630 f Vollrausch 568 Voyeurismus 431 f W Wahlen und Abstimmungen, Straftaten bei 629 f, 634 Wernicke-Enzephalopathie 556 Wertorientierungen 156, 177, 181–184 White-Collar-Delinquent 486–489 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte 354 f Wirtschaftsdelinquent 486–489 Wirtschaftskriminalität 41, 67, 70 Z Zolpidem, Fahrtüchtigkeit 615 f Zopiclon, Fahrtüchtigkeit 615 f Zuchtmittel 106 Zuhälterei 407 f Zurückstellung der Strafvollstreckung bei Drogenabhängigkeit 575 Zuwanderer 78–81, 129, 186–209 – Begriff 189 – Delinquenz 191–200, 376 f, 634 – Viktimisierung 190 f Zwillingsforschung 289 f
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