H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 5 Forensische Psych...
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H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 5 Forensische Psychiatrie im Privatrecht und Öffentlichen Recht
H.-L. Kröber D. Dölling N. Leygraf H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 5 Forensische Psychiatrie im Privatrecht und Öffentlichen Recht
Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Limonenstraße 27 12203 Berlin
Prof. Dr. med. Norbert Leygraf Institut für Forensische Psychiatrie Rheinische Kliniken Essen Kliniken der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45174 Essen
Prof. Dr. jur. Dieter Dölling Institut für Kriminologie Juristische Fakultät Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg
Prof. Dr. med. Henning Saß Ärztlicher Direktor Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
ISBN 978-3-7985-1449-2 Steinkopff Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Steinkopff Verlag ein Unternehmen von Springer Science+Business Media www.steinkopff.com © Steinkopff Verlag 2009 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Redaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe Herstellung: Klemens Schwind Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Satz: K + V Fotosatz GmbH, Beerfelden SPIN 10932186
80/7231-5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Vorwort
In der Praxis der Forensischen Psychiatrie kommt Gutachten zu Fragen des Zivilrechts und des Öffentlichen Rechts erhebliche Bedeutung zu. Die teilweise sehr komplexen Probleme erfordern Spezialwissen über die jeweilige Materie und eine enge Zusammenarbeit von Psychiatern und Juristen. Der Band 5 des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie befasst sich mit diesen Gegenständen. Aus dem Bereich des Zivilrechts werden insbesondere behandelt: die Geschäftsfähigkeit und die Testierfähigkeit, die Einwilligungsfähigkeit, die Prozessfähigkeit und die Deliktsfähigkeit sowie Fragen des Familienrechts (z. B. Ehefähigkeit und elterliches Sorgerecht) und des Personenstandsrechts und das Betreuungsrecht. Erörtert wird auch die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die Beiträge zum Öffentlichen Recht befassen sich mit der öffentlich-rechtlichen Unterbringung, dem Straßenverkehrsrecht (insbesondere der Beurteilung der Fahreignung bei psychischen Störungen), dem Sozialrecht mit den Zweigen gesetzliche Krankenversicherung, Pflegeversicherung, gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung, soziales Entschädigungsrecht, Schwerbehindertenrecht, Sozialhilfe und Kinder- und Jugendhilferecht. Für die einzelnen Materien werden jeweils die juristischen Grundlagen sowie psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen erörtert. Hierdurch soll der interdisziplinäre Dialog und das wechselseitige Verständnis von Forensischer Psychiatrie und Rechtswissenschaft gefördert werden. August 2009
H.-L. Kröber, Berlin D. Dölling, Heidelberg N. Leygraf, Essen H. Sass, Aachen
Inhaltsverzeichnis
Forensische Psychiatrie im Privatrecht 1
Privatrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . .
3
B.-R. Kern 1.1
Geschäftsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.2
Testierfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
1.3
Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1.4
Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
1.5
Deliktsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
1.6 1.6.1 1.6.2
Eherecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeit, eine Lebenspartnerschaft zu begründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheidungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeit, die Aufhebung der Ehe oder der Lebenspartnerschaft zu beantragen
... ...
22 22
... ...
23 24
...
24
1.7 1.7.1 1.7.2 1.7.3 1.7.4 1.7.5 1.7.6 1.7.7
Sorgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träger des Sorgerechts . . . . . . . . . . . . Zeitlicher Umfang . . . . . . . . . . . . . . . . Umfang des Sorgerechts . . . . . . . . . . . Maßstab für das Sorgerecht . . . . . . . . . Ausüben der elterlichen Sorge . . . . . . . Einschränkungen der elterlichen Sorge
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
25 25 25 26 26 27 27 27
1.8 1.8.1 1.8.2 1.8.3 1.8.4
Betreuungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . Bedeutung für das Medizinrecht . . . . . Arzt und Betreuungsbedürftiger . . . . . Die Zuständigkeit für die Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
27 27 29 30
.......
30
1.6.3 1.6.4
VIII
z
Inhaltsverzeichnis
1.8.5 1.8.6 1.8.7
Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 35 36
1.9 1.9.1 1.9.2
Personenstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenstandsrecht im engeren Sinne . . . . . . . Transsexuellenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 36 38
1.10
Die Stellung des Sachverständigen im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit . . 1.10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.2 Aufbau des Gutachtens . . . . . . . . . 1.10.3 Zum Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . 1.10.4 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
40 40 40 41 45 46
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit und verwandter Themenbereiche . . . . . . . . . .
51
E. Habermeyer 2.1 2.1.1
.
51
.
51
.
52
. . . .
53 53 54 55
.
61
.
65
.
66
2.2
Testierfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2.3
Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
2.4
Deliktsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
2.5
Eherecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
2.6
Prüfung der Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . .
89
2.1.2.1 2.1.1.2 2.1.1.3 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.1.2.4
Geschäftsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen der Geschäftsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschäftsunfähigkeit/Nichtigkeit einer Willenserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkte Geschäftsfähigkeit des Minderjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis Betreuung/Geschäftsfähigkeit . . . . . Resultierende psychiatrische Fragestellungen . . Die „freie Willensbestimmung“ . . . . . . . . . . . . Symptome, die zum Ausschluss der freien Willensbestimmung führen können . Zur Bedeutung des Begriffs der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“ Zur Unterscheidung zwischen Geschäftsunfähigkeit und Nichtigkeit einer Willenserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhaltsverzeichnis
2.6.1 Grundsätzliches . . . . . 2.6.2 Praktisches Vorgehen 2.6.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Zusammenfassung . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
z
. . . . .
89 91 95 96 96
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht . .
101
H. Remschmidt, F. Mattejat 3.1
Kindeswohl und Elternrecht . . . . . . . . . . . . . . .
101
3.2
Gefährdungen des Kindeswohls . . . . . . . . . . . .
104
3.3
Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen . . . . Untersuchung des Kindes . . . . . . . . . . . . Untersuchung der Eltern/Bezugspersonen Gemeinsame Untersuchung von Eltern und Kind . . . . . . . . . . . . . . . .
..... ..... .....
105 105 108
.....
109
3.4
Begutachtung zur Regelung des Sorgerechts . . .
110
3.5
Begutachtung zur Regelung des Umgangsrechts
111
3.6
Begutachtung bei Gefährdungen des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB . . . . . . . . .
112
3.7 Begleiteter Umgang gemäß § 1684 BGB . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 115
3.3.1 3.3.2 3.3.3
4
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht . . .
117
K. von Oefele 4.1
Personensorge als sozialpsychiatrische Aufgabe . . . . . . . . . . . .
117
Medizinische Voraussetzungen einer Betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
4.3
Der Sachverständige im Betreuungsverfahren .
120
4.4
Das Gutachten im Betreuungsverfahren . . . . . .
121
4.5
Das ärztliche Zeugnis im Betreuungsverfahren
124
4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3
Besondere Gesichtspunkte Einwilligungsvorbehalt . . . Geschäftsfähigkeit . . . . . . . Einwilligungsfähigkeit . . . .
4.2
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
124 124 125 126
IX
X
z
Inhaltsverzeichnis
4.7
Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
4.8
Besondere Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
4.9 Entwicklung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 132
Forensische Psychiatrie im Öffentlichen Recht 5
Unterbringungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
5.1
Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung . . . . . D. Heckmann
137
5.1.1
Überblick – Voraussetzungen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung . . . . . . 5.1.1.1 Die öffentlich-rechtliche Unterbringung – Abgrenzung und Begriffsbestimmung . . . . . . . . 5.1.1.2 Der verfassungsrechtliche Rahmen – Unterbringung als Freiheitsentziehung . . . . . . . 5.1.1.3 Der Zweck der Unterbringung – Die Abgrenzung zwischen strafrechtlicher, zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Unterbringung . . . . . 5.1.1.4 Leitlinien der öffentlich-rechtlichen Unterbringung . . . . . . 5.1.2 Das Unterbringungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Der Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2 Die Verwaltungsunterbringung . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Die Kosten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.4 Freiwillige Unterbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Rechtsschutz im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung . . . . . . 5.1.3.1 Gerichtliche Kontrolle im Verwaltungsverfahren 5.1.3.2 Gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsunterbringung . . . . . . . . . . . . . 5.1.3.3 Gerichtliche Kontrolle des Vollzugs der Verwaltungsunterbringung . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 137 138 141 144 148 149 154 155 155 155 155 156 158 166
Inhaltsverzeichnis
5.2
5.2.1 5.2.2
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung . . . . . N. Leygraf
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . Eigen- und Fremdgefährdung bei psychischen Krankheiten . 5.2.3 Anwendungshäufigkeit . . . . . 5.2.4 Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . 5.2.5 Gutachterliche Erfordernisse . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
z
166
..............
166
. . . . .
. . . . .
167 169 170 172 177
6
Straßenverkehrsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
6.1
Verwaltungsrechtliche Normen des Straßenverkehrsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . H. Schöch
179
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
6.1.1
Erteilung und Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörden . . . . . . . . . . . 6.1.2 Punktekatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 6.2.8 6.2.9 6.2.10 6.2.11 6.2.12
Die Beurteilung der Fahreignung bei psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . M. Rösler Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . Die Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relevanz psychischer Krankheiten für die Verkehrssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fahrereignung bei organischen Störungen Fahrereignung bei psychischen Störungen und bei Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen . . . . . . . . . . . . Die Fahrereignung bei Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen . . . . . Die Fahrereignung bei affektiven Krankheiten . Die Fahrereignung bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen . . . Fahrereignung bei Persönlichkeitsstörungen . . Fahrereignung bei Intelligenzminderungen . . . Die Fahrereignungsvoraussetzungen bei Entwicklungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Die Fahrereignung bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) . . . . .
179 180 181 181
. .
181 183
. .
183 184
.
188
. .
193 194
. . .
196 198 200
.
201
.
203
XI
XII
z
Inhaltsverzeichnis
6.2.13 Behandlung mit psychoaktiven Medikamenten . 6.2.14 Polypharmazie und Komorbidität . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 212 213
7
Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
7.1
Grundlagen des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . . P. Udsching
219
7.1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.1 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) . . 7.1.2.2 Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.3 Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) . . . 7.1.2.4 Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) . . . . 7.1.3 Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung 7.1.4 Soziales Entschädigungsrecht . . . . . . . . . . 7.1.4.1 Allgemeine Leistungsvoraussetzungen . . . . 7.1.4.2 Grundlage der Begutachtung . . . . . . . . . . . 7.1.4.3 Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5 Schwerbehindertenrecht . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2
. . . . . . . . . . . . . .
219 220 221 223 226 229 233 234 234 236 237 237 239 239
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht . . . . . D. Seifert
240
7.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.1 Die gesetzliche Krankenversicherung . . . . 7.3.2.2 Private Krankenversicherungen . . . . . . . . 7.2.3 Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4.1 Die gesetzliche Rentenversicherung . . . . . 7.2.4.2 Einzelne Störungsbilder . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4.3 Private Berufsunfähigkeitsversicherung . . 7.2.4.4 Dienstfähigkeit bei Beamten . . . . . . . . . . 7.2.5 Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) 7.2.6 Soziales Entschädigungsrecht . . . . . . . . . 7.2.7 Schwerbehindertenrecht . . . . . . . . . . . . . 7.2.8 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
240 243 243 244 244 245 245 248 253 254 255 261 263 263 263
Inhaltsverzeichnis
z
8
Kinder- und Jugendhilferecht . . . . . . . . . . . . .
267
8.1
Juristische Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . D. Dölling
267
8.1.1 8.1.2
Überblick über das Kinder- und Jugendhilferecht Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und Hilfe für junge Volljährige . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2
Psychiatrisch-psychologische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Kinderund Jugendhilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wälte
Spezifische Begutachtungsfragen im Kinder- und Jugendhilferecht . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Psychologische und psychiatrische Gutachten im Kinder- und Jugendhilferecht . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 271 277
277
8.2.1
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277 281 290 291
XIII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. jur. Dieter Dölling Institut für Kriminologie Juristische Fakultät Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Lenggstraße 31 8032 Zürich, Schweiz Prof. Dr. jur. Dirk Heckmann Lehrstuhl für Öffentliches Recht Juristische Fakultät Universität Passau Gottfried-Schäffer-Straße 20 94030 Passau Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern Lehrstuhl f. Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte u. Arztrecht Juristenfakultät, Universität Leipzig Burgstraße 27 04109 Leipzig
Prof. Dr. med. Norbert Leygraf Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45147 Essen Prof. Dr. Fritz Mattejat Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Straße 4 35039 Marburg Dr. med. Konrad von Oefele Medizinaldirektor LG München I Nymphenburger Straße 16 80097 München Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Straße 4 35039 Marburg Prof. Dr. med. Michael Rösler Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Universitätsklinikum des Saarlandes 66421 Homburg/Saar
XVI
z
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Dieter Seifert Institut für Forensische Psychiatrie Rheinische Kliniken Essen Kliniken/Institut der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45174 Essen Prof. Dr. Heinz Schöch Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften LMU München Prof.-Huber-Platz 2 80539 München
Prof. Dr. Peter Udsching Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht Graf-Bernadotte-Platz 5 34119 Kassel Prof. Dr. phil. Dieter Wälte Hochschule Niederrhein Fachbereich Sozialwesen Richard-Wagner-Straße 101 41065 Mönchengladbach
Forensische Psychiatrie im Privatrecht
1 Privatrechtliche Grundlagen B.-R. Kern
1.1
Geschäftsfähigkeit
Unter Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Person zu verstehen, Rechtsgeschäfte wirksam selbst vornehmen zu können (Larenz u. Wolf 1997, S. 131 f.). Sie dient dazu, es dem Einzelnen zu ermöglichen, seine Lebensverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung freiverantwortlich zu gestalten (Privatautonomie). Grundsätzlich sieht das Gesetz alle Menschen als geschäftsfähig an. Ausnahmen enthalten die §§ 104 bis 113 BGB mit Regelungen zur Geschäftsunfähigkeit und der beschränkten Geschäftsfähigkeit, die den Schutz der Nichtgeschäftsfähigen bezwecken. Das Gesetz geht davon aus, dass Kinder ab Vollendung der Geburt bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres geschäftsunfähig sind, § 104 Nr. 1 BGB, da diesen Willenskraft und Beurteilungsvermögen fehlen (Motive zum BGB, S. 129). Aber auch nach Vollendung des siebten Lebensjahres bleiben Minderjährige noch schutzbedürftig. Zwar sind sie bereits „willenskräftig“, aber sie verfügen nicht über hinreichende geschäftliche Erfahrungen und handeln noch unüberlegt (Motive zum BGB, S. 149). Deshalb bestimmt § 106 BGB, dass sie, bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind. Ebenfalls schutzbedürftig sind Erwachsene, die aufgrund ihres dauerhaften psychischen Zustands nicht zur freien Willensbestimmung in der Lage sind. § 104 Nr. 2 BGB erklärt diese deshalb ebenfalls für geschäftsunfähig. Früher galt auch der Entmündigte gemäß § 104 Nr. 3 BGB aF als geschäftsunfähig. Dies hat sich durch das Betreuungsgesetz, das die Entmündigung zum 1. 1. 1992 abschaffte und die Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für Erwachsene durch die Betreuung ersetzte, geändert 1. Damit gibt es keinen rechtsgestaltenden Staatsakt mehr, der, wie die Entmündigung, die Geschäftsfähigkeit aufhebt. Es gibt aber auch Personen, die nur in bestimmten Lebensbereichen unfähig sind, ihren Willen frei und unbeeinflusst von einer krankhaften Störung zu bilden, während dies auf andere Lebensbereiche nicht zutrifft (sog. partielle oder gegenständliche Geschäftsunfähigkeit, Schmidt u. Böcker 1 Freud, S. (1877) Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln bei Ammocoetes planeri. Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Classe, Band LXXV/III, 15 ff.
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1 Privatrechtliche Grundlagen
1993 a, S. 7; Coester-Waltjen 1998, S. 332; Müller 1998 a, S. 17). Eine partielle Geschäftsunfähigkeit (bzw. Prozessunfähigkeit) kann nach der Rechtsprechung zum Beispiel bei Querulantenwahn für die Prozessführung (BVerwGE 30, 25) nur betreffend der Angelegenheiten der Ehe und des Scheidungsrechtsstreits (BGHZ 18, 186) oder für den Inhaber eines Einzelhandelsgeschäfts hinsichtlich der Erledigung seiner Steuerangelegenheiten (BayObLGZ 1965, 65 f.) gegeben sein. Von dieser allgemein anerkannten partiellen Geschäftsunfähigkeit ist die relative Geschäftsunfähigkeit zu unterscheiden. Diese bezieht sich auf die Erledigung unterschiedlich schwieriger Rechtsangelegenheiten. Ihre Anerkennung hätte zur Folge, dass eine Person für besonders schwierige wirtschaftliche Entscheidungen geschäftsunfähig, für einfachere jedoch geschäftsfähig wäre (BayObLG NJW 1989, 1679). Überwiegend wird diese Form der Geschäftsunfähigkeit zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt (BGH NJW 1961, 261; 1970, 1680; BayObLG NJW 1989, 1678; Hefermehl 2000, § 104 Rn 7; Schmitt 2001, § 104 Rn 18), „dass jede klare Abgrenzung unmöglich wäre, weil die Entscheidung über die Gültigkeit einer Erklärung oft davon abhängig ist, welches Maß von Schwierigkeiten dem einzelnen Geschäft beigemessen und welches Maß von Einsicht dem Erklärenden zugebilligt werden kann“ (BGH NJW 1953, 1342). Es bestünde die Gefahr, dass sich jeder darauf berufen könnte, dass seine geistigen Fähigkeiten gerade für das für ihn nachteilige Geschäft nicht ausgereicht hätten (Diederichsen 2000, S. 571). Rechtsunsicherheit wäre die Folge. Diese streng ablehnende Haltung lässt sich mit dem geltenden Betreuungsrecht nicht mehr vereinbaren, denn in § 1901 Abs. 2 BGB heißt es, dass „zum Wohl des Betreuten . . . auch die Möglichkeit [gehöre], im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten“. Sind bei einem geschäftsunfähigen Betreuten die Fähigkeiten gegeben, einfachere Geschäfte abzuschließen (z. B. Alltagsgeschäfte von geringem Umfang), so kann er diese demnach wirksam tätigen. § 1903 Abs. 3 S. 2 BGB weist dem Gericht die Kompetenz zu, auch die Wirksamkeit von Willenserklärungen über geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens von der Einwilligung des Betreuers abhängig zu machen, wenn dafür ein Bedürfnis besteht. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass das Rechtsgeschäft ohne Anordnung wirksam ist. Daraus ergibt sich in unmittelbarer Konsequenz die Einführung der relativen Geschäftsunfähigkeit durch den Gesetzgeber (Pawlowski 2003, S. 69). Dafür spricht auch der, allerdings überflüssige, § 105 a BGB. Im Ergebnis bedeutet das, dass jeder Volljährige, der ein Alltagsgeschäft tatsächlich abschließen kann, insoweit auch geschäftsfähig ist. Die Folge der Geschäftsunfähigkeit ist grundsätzlich die Nichtigkeit der abgegebenen Willenserklärung gemäß § 105 Abs. 1 BGB, mit der sich nun aber aus § 105 a BGB ergebenden Einschränkung für Alltagsgeschäfte. Liegt nur partielle Geschäftsunfähigkeit vor, ist allein die in diesen Lebensbereich fallende Willenserklärung nichtig (Müller 1998 a, S. 25; Schmidt u. Böcker 1993, S. 7).
1.2 Testierfähigkeit
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Für den geschäftsunfähigen Volljährigen enthält § 105 a BGB eine überflüssige (Pawlowski 2003, S. 66 ff.) Sonderregelung. Er bestimmt, dass ein Vertrag über ein Geschäft des täglichen Lebens, das mit geringwertigen Mitteln bewirkt wird, in Ansehung der Leistung und Gegenleistung wirksam abgeschlossen ist, sobald Leistung und Gegenleistung bewirkt sind – wenn das Geschäft nicht mit einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Geschäftsunfähigen verbunden ist. Dieser Regelungsinhalt ergibt sich allerdings bereits aus § 1903 Abs. 3 S. 2 BGB. Für beschränkt Geschäftsfähige ordnet § 106 BGB die Anwendung der §§ 107 bis 113 BGB an. Danach sind Willenserklärungen, die nicht nur einen rechtlichen Vorteil gewähren, grundsätzlich nur mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters wirksam. Einer solchen bedarf es nur im Fall des § 110 BGB nicht, wenn der Minderjährige die vertragsmäßige Leistung mit Mitteln bewirkt, die ihm zu diesem Zweck oder freier Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind („Taschengeldparagraf“). Die §§ 112 BGB und 113 BGB heben die Beschränkung sogar ganz auf, wenn der Minderjährige Willenserklärungen abgibt, die zum selbstständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts gehören oder in Ausübung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses erklärt werden. Die Anordnung der Betreuung hat keine direkten Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten. Liegen bei ihm die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB nicht vor, bleibt der Betreute grundsätzlich geschäftsfähig. Die Betreuung erfolgt dann lediglich, weil er seine Angelegenheiten wegen einer Behinderung nicht mehr in vollem Umfang erledigen kann (Schmidt u. Böcker 1993 a, S. 6). Besteht hingegen eine natürliche Geschäftsunfähigkeit, so kann für ihn nur sein Betreuer als gesetzlicher Vertreter handeln. Allerdings kann auch er nur im Rahmen seines Aufgabenkreises tätig werden (§ 1902 BGB), da ihm nur insofern Vertretungsmacht zukommt. Gemäß § 1903 BGB kann das Vormundschaftsgericht einen Einwilligungsvorbehalt anordnen. Der Betreute wird dadurch weitgehend einem beschränkt Geschäftsfähigen gleichgestellt, d. h. er bedarf, damit eine von ihm abgegebene Willenserklärung, die in den Aufgabenkreis des Betreuers fällt, wirksam wird, dessen Einwilligung. Das gilt allerdings gemäß § 1903 Abs. 2 BGB nicht für höchstpersönliche Rechtsgeschäfte (Kern 2006 a). Die rechtsgeschäftliche Handlungsfähigkeit des Betreuten wird also eingeschränkt, aber nicht so sehr beschnitten wie dies die früher geltende konstitutive Feststellung der Geschäftsunfähigkeit durch Entmündigung getan hat.
1.2
Testierfähigkeit
Bei der Testierfähigkeit handelt es sich um eine besondere Form der Geschäftsfähigkeit. Um ein wirksames Testament errichten, ändern und aufheben zu können, bedarf es der Testierfähigkeit (Hagena 2004, § 2229 Rn 2). Die Testierfähigkeit deckt sich insoweit mit der Geschäftsfähigkeit,
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1 Privatrechtliche Grundlagen
als jeder Geschäftsfähige auch testierfähig ist (Brox u. Walker 2007, S. 65). Darüber hinaus gibt es die Besonderheit, dass auch Minderjährige ab Vollendung des sechzehnten Lebensjahres testierfähig sind (§ 2229 Abs. 1 BGB). Allerdings kann der Minderjährige nur ein öffentliches, notarielles (§ 2233 Abs. 1 BGB), kein eigenhändiges (§ 2247 Abs. 4 BGB) Testament errichten. Für das gemeinschaftliche Testament gelten keine Besonderheiten. Einen Erbvertrag als Erblasser hingegen kann grundsätzlich nur ein voll Geschäftsfähiger schließen (§ 2275 Abs. 1 BGB). Als Ausnahme kann ein minderjähriger Ehegatte (§ 1303 Abs. 2 BGB) als Erblasser einen Erbvertrag mit seinem Ehegatten schließen (§ 2275 Abs. 2 BGB). Entsprechendes gilt für Verlobte und Lebenspartner (§ 2275 Abs. 3 BGB). Bei Fehlen der Testierfähigkeit kann kein Testament errichtet werden. Das Testament muss vom Erblasser persönlich abgefasst sein (§ 2064 BGB); jede Form von Stellvertretung (Eltern, Betreuer, gewillkürter Vertreter) ist unzulässig. Wird ein Testament im Zustand der Testierunfähigkeit errichtet, so ist es nichtig (§ 2229 Abs. 4 BGB). Folge der Nichtigkeit ist, dass ein früher errichtetes Testament wirksam bleibt oder anstelle der gewillkürten Erbfolge die gesetzliche Erbfolge eintritt. An der Testierfähigkeit fehlt es, wenn der Testator wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 2229 Abs. 4 BGB). Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift die Freiheit der Willensentschließung auch für die Testierfähigkeit vorausgesetzt. Eine bloß partielle Testierunfähigkeit gibt es im Gegensatz zur partiellen Geschäftsunfähigkeit nicht (BayOLG NJW 1992, 248). Denn die Fähigkeit zu testieren kann für ein Testament nur in vollem Umfang entweder gegeben oder ausgeschlossen sein. Wirken sich krankhafte Störungen nur in einzelnen Lebensbereichen aus, kann die Testierfähigkeit bei der Testamentserrichtung nur ganz, nicht aber nur teilweise fehlen (BayOLG NJW 1992, 248). Ein Erblasser ist so lange als testierfähig anzusehen, bis seine Testierunfähigkeit bewiesen ist (KG NJW 2001, 903). Trotz dieser Beweislastregelung gewinnt die Frage, ob der Erblasser zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung noch testierfähig war, zunehmend an Bedeutung. Grund dafür ist insbesondere die demografische Entwicklung in der Bundesrepublik. So wuchs die Quote der über 65-Jährigen von 9,4% (1950) auf 16,6% (2000) an (Statistisches Bundesamt 2005). Im Jahr 2050 wird jeder Dritte 60 Jahre oder älter sein (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002). Aber vor allem die Zahl der über 80-Jährigen steigt überproportional und mit fortschreitendem Alter nehmen die Fälle der Altersdemenz erheblich zu (Stoppe u. Lichtenwimmer 2005, S. 808; Wetterling et al. 1995, S. 46). So leiden 1,4% der 65- bis 69-Jährigen, aber 30% der über 90-Jährigen an demenziellen Erkrankungen (Stoppe u. Lichtenwimmer 2005, S. 808).
1.2 Testierfähigkeit
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Zudem ist auch, wegen der sich derzeit abzeichnenden ökonomischen sowie gesellschaftlichen Dynamik, mit einer Zunahme von Auseinandersetzungen um Testamente wohlhabender Erblasser zu rechnen (ebd., S. 806; Müller 1998 b, S. 219). Immer öfter wird sich daher die Frage stellen, ob der Erblasser zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung testierfähig war. Im Erbscheinverfahren wird die Testierfähigkeit von Amts wegen geprüft (§ 2358 Abs. 1 BGB, § 26 FamFG), wenn sich Anhaltspunkte für die Testierunfähigkeit ergeben. Erst zu diesem Zeitpunkt, also posthum, wird über das Vorliegen der Testierfähigkeit entschieden. Das ergibt sich aus der Rechtswirkung des Testamentes, die erst mit dem Eintritt des Erbfalles einsetzt. Deshalb ist auch eine prospektive oder konstitutive Feststellung der Testierunfähigkeit zu Lebzeiten nicht möglich. Ob Testierunfähigkeit vorliegt, wird nach der Rechtsprechung in einem zweistufigen Beurteilungsverfahren festgestellt. Zunächst wird geprüft, ob eine psychische Störung gegeben ist. Diese Prüfung ist auf der nosologischen Ebene vorzunehmen (Krankheit, Diagnose). Die Ursache der Störung ist unerheblich. Ausreichend ist eine irgendwie geartete psychische Störung, die grundsätzlich zum Ausschluss der freien Willensbestimmung führen kann. Auch die Dauer der Störung ist unerheblich. Entscheidend ist der Zustand im Zeitpunkt der Testamentserrichtung. Deshalb schließen Geistesschwäche, selbst Geisteskrankheit, die wirksame Testamentserrichtung dann nicht aus, wenn der Testierende in einem „lichten Moment“ testiert hat (BGHZ 30, 294; Hagena 2004, § 2229 Rn 26; Brox u. Walker 2007, S. 66; Eidenhofer 2007, § 2229 Rn 10), oder die Testierunfähigkeit erst nach Testamentserrichtung eingetreten ist (Eidenhofer 2007, § 2229 Rn 1). In einem zweiten Schritt sind die Auswirkungen dieser Störung auf die Freiheit der Willensbestimmung zu untersuchen (psychopathologische Ebene), denn nicht jede Geisteskrankheit führt zur Testierunfähigkeit (Wetterling et al. 1995, S. 46). Ausschlaggebend ist die Freiheit des Willensentschlusses, nicht so sehr die Fähigkeit des Verstandes. Der Erblasser muss die Fähigkeit zu kritischer Distanz gegenüber eigenen Vorstellungen und Emotionen und etwaigen Einflüssen Dritter haben. Er muss die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte erkennen und gewichten sowie in Beziehung zueinander und zu seiner eigenen Lebenserfahrung setzen können. Er muss auch in der Lage sein, eventuelle eigene Defizite und seine eigene Hilfsbedürftigkeit zu erkennen und zu beurteilen (Kloster-Harz 2005, S. 172). Dabei kommt es nicht darauf an, dass ein Dritter die jeweils getroffene Entscheidung im Testament nachvollziehen kann oder vernünftig findet. Von einer „objektiv unvernünftigen“ Testamentsausgestaltung darf nicht auf die Testierunfähigkeit rückgeschlossen werden. Die Testierfreiheit beinhaltet auch „das Recht auf unvernünftige Entscheidungen“. Bei der Beurteilung der Testierfähigkeit hat sich der Richter aus dem Gesamtverhalten ein Bild von der Persönlichkeit des Erblassers zu machen (Mayer 2003, § 2229 Rn 33). Dazu bedarf es umfangreicher Ermittlungen (Schmidt 1993, § 2229 Rn 9), die mit besonderer Sorgfalt zu führen sind.
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1 Privatrechtliche Grundlagen
Wenngleich die Frage letztlich allein auf der Basis des Gutachtens eines Facharztes, nämlich eines Neurologen (Baumann 2003, § 2229 Rn 48), entschieden werden kann, hat der Richter die Vorgeschichte (OLG Frankfurt/M. FamRZ 1997, 1306), die äußeren Umstände und die Wahrnehmungen von Personen, die mit dem Erblasser zusammengetroffen sind, einzubeziehen. Erst dann kann ein endgültiges Urteil über die Testierfähigkeit des Verstorbenen ergehen. Um trotzdem bereits zu Lebzeiten des Erblassers eventuelle Zweifel hinsichtlich der Testierfähigkeit auszuräumen, werden in der Praxis mitunter Privatgutachten angefertigt. Ein solches Gutachten setzt genaue Kenntnis der Krankheitsgeschichte des Erblassers voraus. Eine zeitnahe Untersuchung ist unabdingbar. Eine nur kurze Untersuchung – etwa des Hausarztes – ist unzureichend und hält gegebenenfalls einer posthumen Sachverständigenüberprüfung nicht stand (ebd, S. 171 ff.). Es wird deshalb empfohlen, einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder einen Nervenarzt mit der Erstellung des Gutachtens zu beauftragen (ebd., S. 171). Dieser sollte über Erfahrungen in zivilrechtlichen Begutachtungen verfügen, nicht nur über strafrechtliche Gutachtererfahrung, weil hier unterschiedliche Kriterien zu berücksichtigen sind (ebd., S. 171). Des Weiteren wird für Personen mit einem erhöhten Risiko oder bei einem gezielten Verdacht vorgeschlagen, ein so genanntes Screeningverfahren zur Feststellung der Testierfähigkeit in die notarielle Praxis zu integrieren. Dabei muss der Erblasser bestimmte Untertests, zum Beispiel den MiniMental-Status-Test (MMSE) oder den Uhrenzeichentest lösen, um daran seine Testierfähigkeit zu erweisen (Stoppe u. Lichtenwimmer 2005, S. 809). Dadurch soll der Notar besser in die Lage versetzt werden, Aussagen zur Testierfähigkeit des Erblassers treffen zu können. Das Vorliegen eines Privatgutachtens oder Screeningtests schließt aber keineswegs aus, dass das Gericht posthum eine andere Entscheidung fällt. Erst dann wird die letzte Entscheidung über die Wirksamkeit eines Testaments und die Testierfähigkeit gefällt. Höchst strittig ist, inwieweit Ärzte und nichtärztliches Personal als Zeugen für das Vorliegen der Testierfähigkeit in Betracht kommen. Insoweit ist § 203 Abs. 4 StGB zu beachten, der den Geheimnisschutz auch auf die Zeit nach dem Tode des Betroffenen erstreckt. Einerseits wird vertreten, dass weder Erben noch nahe Angehörige den Arzt von der Schweigepflicht entbinden können (Lenckner 2006, § 203 Rn 25; Kern 2006 a, S. 206), andererseits wird das mit einer letztlich identischen Begründung bejaht (OLG Naumburg NJW 2005, 2018, 2019); ein Patient, der ein Testament errichtet, wünsche, dass Zweifel an seiner Testierfähigkeit zerstreut werden (Kern 2002, S. 911). Im Ergebnis dürfen Ärzte und Schwestern nicht als Zeugen über die Testierfähigkeit gehört werden, es sei denn, dass der Verstorbene sie ausdrücklich von der Schweigepflicht befreit hat (Kern 2006 a, S. 206). Erhöhte Zweifel an der Testierfähigkeit ergeben sich bei Nottestamenten, insbesondere, wenn sie in Kliniken aufgesetzt wurden. Insoweit empfehlen
1.3 Einwilligungsfähigkeit
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sich entsprechende Eintragungen der Ärzte und des nichtärztlichen Personals in die Krankenunterlagen (Kern 2002, S. 910, 911). Eine Person, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist testierfähig, wenn sie im Stande ist, den Inhalt ihres Testaments von sich aus zu bestimmen und auszudrücken. Sie muss also in der Lage sein, sich ein klares Urteil über die Tragweite ihrer Anordnungen zu bilden. Dies gilt auch für die Auswirkungen, die ihre Anordnungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen haben (Eichenhofer 2007, § 2229 Rn 1). Die Gründe, die für und gegen ihre sittliche Berechtigung hinsichtlich der Erbeinsetzung sprechen, müssen dem Erblasser klar sein (Hagena 2004, § 2229 Rn 2). Bei diesem Urteil muss er frei von Einflüssen etwaiger Dritter handeln können (BGH NJW 1959, 1822; BayObLG NJW-RR 1998, 870; Eichenhofer 2007, § 2229 Rn 1). Bei dem entsprechenden eigenen Entschluss kann der Erblasser durchaus die Anregungen Dritter aufnehmen (BayObLG FamRZ 1990, 318). Maßgeblich ist, dass es sich bei der Erbeinsetzung um seine eigene Entscheidung handelt. Eine eigene Entscheidung liegt nicht vor, wenn eine der in § 2229 Abs. 4 BGB aufgezählten Fallgruppen der Testierunfähigkeit vorliegt. Es fehlt dem Erblasser dann an der Freiheit der Willensentschließung. Die Tatsache allein, dass eine Betreuung nach den BGB vorliegt, hat keine rechtlichen Auswirkungen auf die Testierfähigkeit des Betreuten (Eichenhofer 2007, § 2229 Rn 5). Selbst die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts hat nicht die Testierunfähigkeit zur Folge. Das ergibt sich aus § 1903 Abs. 2, 2. Alt. BGB, der anordnet, dass sich ein Einwilligungsvorbehalt nicht auf Verfügungen von Todes wegen erstreckt. Die Testierunfähigkeit muss also auch bei Bestehen eines Betreuungsverhältnisses erst positiv festgestellt und darf nicht unterstellt werden. Bis zum Beweis des Gegenteils ist also von der Testierfähigkeit auszugehen.
1.3
Einwilligungsfähigkeit
Die Einwilligung (umfassend dazu Voll 1996) wird nicht als rechtsgeschäftliche Willenserklärung angesehen, sondern als Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen (BGHZ 29, 36). Die zur wirksamen Einwilligung erforderliche Einwilligungsfähigkeit (s. für eine moderne Definition Amelung 1995 a, S. 26 u. 1995 b, S. 11) fällt nicht mit der bürgerlich-rechtlichen Geschäftsfähigkeit (BGHZ 29, 36) oder strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit zusammen (BGHSt 4, 88, 90 f; Weitnauer 1961, S. 3). Sie bedeutet vielmehr die durch den Arzt in jedem Einzelfalle zu prüfende geistige und sittliche Reife und Fähigkeit, die Tragweite des ärztlichen Eingriffs für Körper, Beruf und Lebensglück sowie seiner Gestattung zu ermessen und danach selbstverantwortliche Entschlüsse zu fassen (BGHZ 29, 36; Laufs 1993, S. 113). Umgekehrt betrachtet liegt dann ein Ausschluss der freien Willensbestimmung vor, „wenn jemand nicht imstan-
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1 Privatrechtliche Grundlagen
de ist, seinen Willen frei und unbeeinflußt von einer vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln“ (BGH NJW 1996, 918, 919). Dem Urteil liegt zwar die Frage der Geschäftsfähigkeit zu Grunde, die Aussage lässt sich aber auf die Einwilligung in ärztliche Maßnahmen übertragen. Reife und Fertigkeit sind nicht generell festzustellen, sondern auf den Zeitpunkt der Einwilligung bezogen und im Hinblick auf den anstehenden Eingriff. So kann die Urteilskraft bei einem Angetrunkenen oder unter sonstigem Drogeneinfluss Stehenden fehlen, auch wenn er im Übrigen geschäftsund einwilligungsfähig ist (BGHSt 4, 88, 90 f.; Weitnauer 1961, S. 3). Das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit hat der Arzt zu beurteilen. Es empfiehlt sich – jedenfalls in Zweifelsfällen – die Dokumentation seiner Entscheidung und deren Gründe in der Krankenakte (so auch Ukena 1992, S. 203). Maßgeblich sind der konkrete Zeitpunkt der Einwilligung und die konkrete Behandlungsmaßnahme. Ob die betroffene Person als einwilligungsfähig anzusehen ist, wird also nicht an einem absoluten Maßstab gemessen, sondern richtet sich nach Art und Ausmaß der jeweiligen ärztlichen Maßnahme und den vorhersehbaren Konsequenzen. Der gleiche Patient kann bei leicht verständlichen Maßnahmen ausreichend einwilligungsfähig sein, bei anderen nicht. „Je komplexer und risikoreicher die Behandlung, desto höher sind die Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit zu stellen.“ (Damrau 1994, § 1904 Rn 2) „So mag Einwilligungsfähigkeit beispielsweise bezüglich der Behandlung durch den Zahnarzt vorliegen, demgegenüber für eine Nierensteinoperation zu verneinen sein“ (ebd.). z Beispiel. Die Ehefrau eines an krankhaftem Eifersuchtswahn leidenden Mannes beantragte die Pflegschaft (heute: Betreuung) für ihren Mann, weil er in eine Heilbehandlung nicht einwilligen wollte. Hinsichtlich seiner Krankheit und deren Behandlung war der Patient partiell nicht einwilligungsfähig (KG FamRZ 1976, 54). Es kennzeichnet den Eifersuchtswahn, dass „die Persönlichkeit im übrigen erhalten ist, so daß die sonstigen Angelegenheiten, die nicht mit dem Wahn zusammenhängen, besorgt werden können“ (Brandt 1976, S. 377). Bei Eifersuchtswahn ist die Betreuerbestellung generell erforderlich, weil der Kranke partiell nicht einwilligungsfähig ist (Brandt u. Göppinger 1976, S. 377 f.). Anders entschied allerdings das KG (FamRZ 1976, 54), weil es den Umfang der Pflegschaft (Betreuung) falsch auslegte. Die Einwilligungsfähigkeit kann auch bei Patienten fehlen, die unter einem erheblichen Einfluss schmerzstillender Substanzen stehen (OLG Frankfurt/M. VersR 1984, 289, 290; Nedopil 1990, S. 493) oder die unter starken Schmerzen leiden (OLG Frankfurt/M. VersR 1984, 289, 290). Schwierig zu beantworten ist dabei die Frage, welchen Grad die Schmerzen erreichen müssen, um vom Fehlen der Einwilligungsfähigkeit auszugehen. Allgemeine Aussagen, denen zufolge der „von Schmerz geplagte, der angstvolle, der hoffnungslose Patient . . . sich in der Regel nicht von vernünftigen, durch
1.3 Einwilligungsfähigkeit
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rationale Erwägungen gewonnenen Erkenntnissen leiten“ lässt (Nedopil 1990, S. 493), helfen nicht weiter. Vielmehr fehlt die Einwilligungsfähigkeit nur bei einem Kranken, „der so unter Schmerzen steht, dass er völlig auf diese fixiert ist, schwerstens unter ihnen leidet und gegenüber Umweltreizen in erheblichem Maße in der Aufnahmefähigkeit eingeschränkt erscheint“ (OLG Frankfurt/M. VersR 1984, 289, 290). Das gilt häufig auch für Frauen während der Geburt (BGH MedR 1993, 388, 389). Faustregeln, wie etwa – „Im Zweifel für die Einwilligungsfähigkeit“ – sind nicht anwendbar (Ukena 1992, S. 203). Andererseits dürfen aber auch keine übertriebenen Anforderungen an den Arzt gestellt werden. Spricht aus der Sicht des Arztes nichts für ein Fehlen der Einwilligungsfähigkeit, so kann er ohne weitere Untersuchung davon ausgehen, dass sie vorliegt. Erweist sich später das Gegenteil als richtig, so belastet das den Arzt haftungs- oder strafrechtlich nicht. Eine aus ärztlicher Sicht unvernünftige Behandlungsverweigerung kann ein Indiz für die fehlende Einsichtsfähigkeit sein, muss es aber nicht (ebd., S. 203 Anm. 13). An der Einwilligungsfähigkeit kann es bei psychisch Kranken fehlen. Nicht alle psychisch Kranken sind aber zugleich einwilligungsunfähig. Bei manchen psychischen Krankheiten vermag der Patient durchaus vor einem anstehenden Heileingriff einen eigenen Willensentschluss zu fassen und wirksam einzuwilligen. Ob ein psychisch Kranker in diesem Sinne einwilligungsfähig ist, kann in der Regel nur der Arzt feststellen. Auch hier empfehlen sich (in Zweifelsfällen) die Dokumentation der ärztlichen Entscheidung und deren Gründe in der Krankenakte (ebd., S. 203). Der Richter wird diese Frage nicht ohne ärztliches Zeugnis oder Gutachten entscheiden können (BGHZ 29, 46, 51). z Beispiele. Ein Patient litt an involutivendogenen Depressionszuständen und wurde daher in eine Nervenklinik eingewiesen. Der Arzt nahm eine Elektroschockbehandlung vor (OLG Bremen VersR 1954, 63; so auch OLG Frankfurt/M. VersR 1954, 180; BGH NJW 1956, 1106; ähnlich: BGH NJW 1966, 1855). Der Depressionszustand beeinträchtigte weder die Urteilsfähigkeit des Patienten, noch schloss er dessen freie Willensentschließung aus (BGHZ 29, 46, 51). Das gilt auch für die Entscheidung des OLG Frankfurt/M. VersR 1954, 180, in der das Gericht so entschieden von der Einwilligungsfähigkeit der Patientin ausging, dass es dazu nicht Stellung genommen hat. Daher oblag dem Arzt die Pflicht, den Patienten aufzuklären. Die Aufklärungspflicht entfiel nicht wegen der depressiven Anlage des Patienten (in mehreren der entschiedenen Fälle fehlte die Aufklärung ganz: BGH NJW 1956, 1106, 1107; BGH NJW 1966, 1855, 1856). In einem weiteren Fall handelte es sich ebenfalls um eine Elektroschockbehandlung (BGHZ 29, 46). Der Patient war chronischer Alkoholiker, dessen geistige Fähigkeiten fortschreitend verfielen. Nach erfolgloser Alkoholentziehungskur kam er in die Nervenklinik. Weil eine medikamentöse Behandlung nicht nachhaltig wirkte, entschlossen sich die Ärzte zur Elektroschocktherapie. Eine Ärztin besprach das Vorhaben mit den Geschwistern
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1 Privatrechtliche Grundlagen
und der Ehefrau des Patienten, die zustimmte. Nach fünf komplikationslos verlaufenen einzelnen Schockbehandlungen erlitt der Patient in der sechsten einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch. Auch in diesem Fall ging das Gericht von der Einwilligungsfähigkeit des Kranken aus (BGHZ 29, 46, 50). Hätte sie nicht vorgelegen, hätte die Information und Einwilligung der Angehörigen nicht ausgereicht, sondern die Ärzte hätten einen Betreuer (bzw. zum Zeitpunkt des Urteils BGHZ 29, 46, 51 f. einen Pfleger) bestellen lassen müssen. In einem dritten Fall (BGH VersR 1961, 632) ließ der BGH die Frage der Einwilligungsfähigkeit unbeantwortet, weil er die Sache an die Vorinstanz zurückverwies. Ein Gesundheitsamt hatte beim Amtsgericht die Unterbringung der Patientin als gemeingefährliche Geisteskranke beantragt, das Amtsgericht die vorläufige Unterbringung für eine Woche angeordnet. Die Patientin war sogleich in die Heilanstalt eingeliefert worden. Obwohl eine Entscheidung über die endgültige Unterbringung in der Folgezeit nicht erging, wurde die Kranke nach Ablauf der Wochenfrist nicht entlassen. Nach insgesamt zwölf Tagen Aufenthalt in der Heilanstalt unterschrieb sie einen Vordruck, in dem sie sich mit einem weiteren Aufenthalt in der Anstalt zur Behandlung oder Pflege einverstanden erklärte. Nach weiteren 24 Tagen kehrte sie von einem Tagesausflug nicht mehr in die Heilanstalt zurück. Obwohl die Patientin zum Zeitpunkt der Unterschrift geisteskrank und geschäftsunfähig war (BGH VersR 1961, 632), hielt der BGH es für möglich, dass die Patientin „nach ihrem psychischen Zustand in der Lage gewesen sei, eine solche Erklärung abzugeben“. Die Vorinstanz sollte feststellen, „ob die Belehrungen und Unterrichtungen durch die Bediensteten der Anstalt so vollständig waren, dass trotz des Zustandes der Kranken ein wirkliches Einverständnis, also eine echte Wahl zwischen mehreren erkannten Möglichkeiten, vorlag“ (BGH VersR 1961, 632, 633). Ist ein psychisch Kranker fähig, in seine Heilbehandlung einzuwilligen, so hat der Arzt ihn, keinesfalls seine Angehörigen, aufzuklären. Die Aufklärung muss dem Krankheitsbild angepasst sein. Besondere Probleme ergeben sich bei der Behandlung Minderjähriger. Sie sind bis zum Alter von sieben Jahren geschäftsunfähig (§ 104 Nr. 1 BGB) und bis zum Alter von 18 Jahren beschränkt geschäftsfähig (§ 106 iVm § 2 BGB). Da es bei der Einwilligung um die Disposition über ein höchstpersönliches Rechtsgut geht, hängt die Einwilligungsbefugnis aber gerade nicht von der Geschäftsfähigkeit ab, sondern entscheidend von der natürlichen Einsichts- und Entschlussfähigkeit. Seit der Entscheidung des BGH im 29. Band (BGHZ 29, 33) gilt die Einwilligung in Heileingriffe nicht (mehr) als Willenserklärung im Sinne von § 104 ff. BGB, sondern als „Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen“ (so auch Brandt u. Göppinger 1976, S. 377 f.). Demzufolge kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit an, sondern darauf, ob der Patient „nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffes und seiner Gestattung zu ermessen vermag“ (BGHZ 29, 33, 36).
1.3 Einwilligungsfähigkeit
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Bei diesem Urteil handelte es sich auf den ersten Blick lediglich um die Entscheidung eines in zweifacher Hinsicht extremen Einzelfalls. Zum einen stand der Minderjährige kurz vor der Vollendung des Volljährigkeitsalters, zum anderen waren seine Eltern faktisch nicht erreichbar. Ein kurz vor Vollendung des 21. Lebensjahres stehender Patient willigte in eine Schilddrüsenoperation ein. Die Einwilligung der Eltern holte der Arzt auf Wunsch des Patienten nicht ein, weil sie in der sowjetisch besetzten Zone lebten. Denn die dortigen Behörden sollten – im Interesse der Eltern – von der Flucht des Patienten in den Westen nichts erfahren. Der BGH ließ bei dieser Sachlage die Einwilligung des Minderjährigen ausreichen (so zuvor auch schon das OLG München, NJW 1958, 633, für einen knapp 19-Jährigen. Leider fehlt jeder Hinweis auf den Sachverhalt). Dabei entwickelte er die soeben genannten Grundsätze. Das elterliche Personensorgerecht stehe der Einwilligung dann nicht entgegen, wenn „die Einholung der elterlichen Zustimmung undurchführbar ist und der Minderjährige unmittelbar vor der Vollendung des 21. Lebensjahres steht“ (BGHZ 29, 33, 37). Auf der Grundlage dieser Entscheidung entwickelte sich eine umfangreiche Rechtsprechung. Auch die Literatur nahm sich dieses Themas immer wieder an. Das bedeutet keinesfalls, dass schon alle Probleme gelöst sind. Vielmehr ergeben sich neben den bereits erörterten praktischen Schwierigkeiten, wie der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit im Einzelfall, weitere Fragen, z. B. die, ob es Altersgrenzen gibt und ob ein einwilligungsfähiger Minderjähriger alleine einwilligen darf oder ob zu seiner Einwilligung noch die seiner Personensorgeberechtigten (Eltern) hinzukommen muss (vgl. dazu AG Medizinrecht 2003, S. 1111). Für die Einsichtsfähigkeit lässt sich keine feste Altersgrenze nennen (Eberbach 1986, S. 15; Lesch 1989, S. 2310; Belling 1990, S. 75). Generell lässt sich sagen, dass der Arzt bei Minderjährigen unter 14 Jahren grundsätzlich die Einwilligung der Personensorgeberechtigten, in der Regel die der Eltern, einholen soll. Problematisch erscheint die Altersstufe vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. In der rechtspolitischen Diskussion um die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters stand ein eigener Paragraf über die Einwilligung in Heileingriffe zur Diskussion: „Die Einwilligung in eine Heilbehandlung kann, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, das Kind nach Vollendung des 14. Lebensjahres selbst erteilen, wenn es fähig ist, Grund und Bedeutung der Heilbehandlung einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen; die Befugnis der Eltern, in eine Heilbehandlung des Kindes einzuwilligen, bleibt unberührt“ (Entwurf eines § 1626 a BGB: vgl. Uhlenbruck 1976, S. 307; Belling 1990, S. 74). Der Entwurf wurde zwar nicht Gesetz, sein erster Satzteil beschreibt indessen den heute geltenden Rechtszustand; der zweite Satzteil ist umstritten (vgl. dazu unten, S. 14 f.): Je stärker sich der Minderjährige der Volljährigkeit nähert, desto eher kann von einer Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden. Entscheidend ist, wie der Arzt die Persönlichkeit des Jugendlichen im Hinblick auf den geplanten Eingriff beurteilt. Um rechtswirksam einwilligen zu können, muss der Minderjährige über die Fähigkeit
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z zur Erkenntnis von Tatsachen und Kausalverläufen, z zur Bewertung des geplanten Eingriffs und z zur Steuerung nach seinen Einsichten (vgl. dazu detailliert Belling u. Eberl 1994, S. 294) verfügen. Erhebliches Gewicht kommt dabei Art, Umfang und Risiken des geplanten Eingriffs zu. Der einsichtsfähige Minderjährige wird normalerweise in geringfügige, banale Eingriffe (Zahnbehandlungen, diagnostische Blutentnahmen, Behandlungen von Erkältungskrankheiten oder das Entfernen vereiterter Nägel) selbst einwilligen können (BGH VersR 1972, 153, 155; Eser 1979, S. 213). Ein 17-Jähriger, der in einen geringfügigen Eingriff einwilligen kann, ist aber nicht auch unbedingt befähigt, rechtswirksam in eine schwere, lang andauernde, risikoreiche Behandlung einzuwilligen, die von erheblichem Einfluss auf sein weiteres Leben ist (vgl. dazu Uhlenbruck 1976; Belling u. Eberl 1994, S. 295). Einen Eindruck von der Einsichtsfähigkeit kann der Arzt während des Aufklärungsgespräches mit dem Minderjährigen gewinnen (Belling 1990, S. 75). In der Literatur wird ein vormundschaftsgerichtliches Verfahren (analog § 1628 BGB) vorgeschlagen, in dem festgestellt werden soll, ob den Eltern oder dem Minderjährigen die Entscheidungskompetenz zusteht (Belling u. Eberl 1994, S. 295). Ein derartiges Verfahren dürfte in der ärztlichen Praxis zu zeitaufwändig und demzufolge unpraktikabel sein. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn der Arzt Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen hat. Sind die Eltern leicht erreichbar oder sogar anwesend, so soll der Arzt sie mit dem Einverständnis des Minderjährigen informieren und ihre Zustimmung einholen (vgl. zur Schweigepflichtproblematik im Verhältnis Minderjährige–Eltern–Arzt, Jäger 1988, S. 150; AG Medizinrecht 2003, S. 1112 f.). Ansonsten hat er eine Entscheidung über das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit zu treffen, die stark von den genannten Einzelheiten des Falles (Alter, Art und Dringlichkeit der Erkrankung usw.) geprägt ist. Wenn der Arzt die Einwilligungsfähigkeit des Minderjährigen trotz Bemühens verkennt und deswegen nur das Einverständnis der Eltern einholt, wird ihm dies nicht zu rechtlichem Nachteil gereichen (BGH NJW 1971, 1887). Von besonderer Problematik ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Arzt neben der Einwilligung des einwilligungsfähigen Minderjährigen auch noch die der Personensorgeberechtigten benötigt. In seiner Leitentscheidung aus dem Jahre 1958 hat der BGH die Frage offen gelassen (BGHZ 29, 33, 37), weil im konkreten Fall das Einholen der elterlichen Zustimmung tatsächlich unmöglich war. Inzwischen ist die entscheidende Norm des § 1626 BGB neu gefasst worden. Nunmehr haben die Eltern von Gesetzes wegen „die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“ zu berücksichtigen (§ 1626 Abs. 2 BGB). Aufgrund dieser Gesetzeslage ist unter Berücksichtigung der Höchstpersönlichkeit der Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen und der Schweigepflicht davon auszugehen, dass
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die Einwilligung eines einwilligungsfähigen Minderjährigen allein ausreicht (so auch Reuter 1969, S. 625; Uhlenbruck 1976, S. 305; Belling 1990, S. 69, 71 f., 76). § 36 SGB I kann als zusätzliches Argument dafür herangezogen werden, wenn sich auch die Rechtsfolge nicht direkt daraus ergibt (Schellhorn 1981, § 36 Rn 12). Die Eltern sind daneben nicht einwilligungsberechtigt und -befugt (vgl. dazu BGH NJW 2007, 217; kritisch dazu Kern 2007). Dieses Ergebnis blieb allerdings in Lehre (Diederichsen 2007, § 1626 Rn 20; Franzki 1979, S. 640) und Rechtsprechung umstritten. Ein Teil der Lehre sieht die Einwilligung in die Heilbehandlung zu Recht als Ausfluss der Personensorge, die den Eltern zusteht. Dafür spricht der Wortlaut von § 1626 Abs. 1 BGB: „Die Eltern haben das Recht und die Pflicht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge)“. Diese grundrechtlich geschützte Position der Eltern gehe dem Selbstbestimmungsrecht der Minderjährigen vor (vgl. dazu auch Belling 1990, S. 71). Diese Wertung, die zur Alleinvertretung durch die Eltern führt (Bosch 1983, S. 744; Flume 1992, S. 219 f.), ist indessen höchst fragwürdig. Das Elternrecht auf Personensorge für ihre Kinder findet seine Grenze dort, wo das Kind nicht mehr hilfsbedürftig ist (vgl. dazu Belling 1990, S. 71 f.). Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von einem „pflichtgebundenen Recht“ (BVerfGE 59, 360, 387). Dogmatisch noch weniger haltbar, wiewohl praktisch weithin befriedender, ist eine vermittelnde Meinung, die das Vorliegen beider Einwilligungen verlangt (BGH NJW 2007, 217; vgl. auch Laufs 1993, S. 113 ff.). Problematisch ist zudem die Frage, ob dem nicht einwilligungsfähigen Minderjährigen ein Vetorecht zusteht (ohne Problembewusstsein bejahend: BGH NJW 2007, 217; vgl. dazu auch Amelung 1995b, S. 17 f.; AG Medizinrecht 2003, S. 1111). Auch diese Frage kann nur einzelfallbezogen beantwortet werden. Bei dringend indizierten Eingriffen verdrängt die Einwilligung der Personensorgeberechtigten den Widerspruch des Minderjährigen (vgl. dazu Deutsch 1978, S. 1660; Franzki 1979, S. 640). Von außerordentlicher praktischer Tragweite ist die Problematik, die das Verschreiben von Ovulationshemmern und die Abtreibung aufwirft. Das Muster einer Dienstanweisung der Deutschen Krankenhausgesellschaft geht für gynäkologische Eingriffe davon aus, dass schon Mädchen ab zwölf Jahren hinreichend verständig sein können, um allein einzuwilligen oder abzulehnen (Deutsche Krankenhausgesellschaft 1980, 11; Zweifel daran äußert Kleinewefers 1982, S. 56; ähnlich AG Medizinrecht 2003, S. 1113, wo selbst bei 14 - bis 16-Jährigen vom Arzt eine besonders sorgfältige Prüfung der Einwilligungsfähigkeit verlangt wird). Es kommt also allein auf die individuelle Einsichtsfähigkeit an. Da es sich hier überwiegend um medizinisch nicht indizierte Eingriffe handelt, können insoweit nur die einwilligungsfähigen Mädchen selbst einwilligen. Ihre Einwilligung kann nicht durch die der Eltern ersetzt werden (so aber eine verbreitete Praxis; in diesem Sinne auch Eser 2006, § 218 a Rn 58).
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Bei Jugendlichen über 16 Jahren ist die Einwilligungsfähigkeit für medizinische Verhütungsmethoden im Normalfall gegeben; den Eltern steht auch dann keinerlei Entscheidungsbefugnis zu (Laufs 1993, S. 201; AG Medizinrecht 2003, S. 1113). In jeder Altersstufe haben die Minderjährigen ein Vetorecht gegen die von den Eltern gewünschte Einnahme von Kontrazeptiva (Laufs 1993, S. 201). Beim Schwangerschaftsabbruch geht es nicht nur um die Rechtsgüter Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der minderjährigen Mutter, sondern wesentlich um das werdende Leben: „Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat . . .“ (§ 219 Abs. 1 S. 3 StGB; vgl. dazu auch LG Berlin FamRZ 1980, 285, 287). An der gesetzlich vorgeschriebenen Beratung sollten auch die Eltern teilnehmen (§ 6 Abs. 3 Nr. 3 Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung). Das setzt das Einvernehmen mit der Schwangeren voraus. Das Gesetz berücksichtigt freilich nicht die besondere Problematik der minderjährigen Schwangeren (so auch BVerfGE 88, 203, 271; Belling u. Eberl 1994, S. 29). Auch hier darf der Arzt bei entsprechender Einwilligung durch Eltern und Schwangere den Abbruch vornehmen. Allerdings ist er dazu – außer bei Lebensgefahr für die werdende Mutter – nicht verpflichtet, denn in § 12 Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung heißt es: „Weigerung. 1. Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. 2. Absatz 1 gilt nicht, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden“. Strittig ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob eine minderjährige Schwangere fähig ist, in den Schwangerschaftsabbruch einzuwilligen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Fähigkeit zur medizinischen Selbstbestimmung, sondern auch um das intellektuelle Vermögen, eine Rechtsgüterabwägung vorzunehmen. Minderjährigen fehlt in der Regel die Fähigkeit, zwischen eigenen und fremden Rechtsgütern (Kind) abzuwägen (so auch Belling 1990, S. 74). Sie sind daher generell nicht in der Lage, in den Schwangerschaftsabbruch einzuwilligen (AG Celle NJW 1987, 2308; dazu Anmerkung von Mittenzwei 1988, S. 43 f.; Belling 1990, S. 74 f.; OLG Hamm NJW 1998, 3424; differenzierend: Belling u. Eberl 1994, S. 296 f.; zur Gegenansicht vgl. Ulsenheimer 2002, S. 1333; Reiserer 1991, S. 1138; und Schwerdtner 1999, S. 1525). Das bedeutet entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht, dass es vorrangig auf die Einwilligung der Personensorgeberechtigten ankomme. Vielmehr kann dann niemand in den Schwangerschaftsabbruch einwilligen. Das gilt entsprechend, wenn die Schwangere nicht minderjährig, wohl aber betreuungsbedürftig ist (Kern 1991 a, S. 70). Die Diskussion wird noch dadurch erschwert, dass ältere Urteile, die das Vorliegen einer Notlagenindikation verneinen (LG München I FamRZ 1979, 850), nach der neuen Gesetzeslage nicht mehr aussagekräftig sind. Die Strafrechtsliteratur hat eigene, feste Altersstufen für die Einwilligung entwickelt; es sprechen aber keine zwingenden Gründe dafür, den Schwan-
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gerschaftsabbruch besonderen Regeln zu unterwerfen. Die von der Strafrechtsliteratur entwickelten Regeln beruhen auf dem verfehlten Ansatz, dass die Minderjährige allein und selbstständig einwilligen kann, wenn sie selbst die nötige Einsichts- und Urteilsfähigkeit über Bedeutung und Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs besitzt: Das soll bis zum 14. Lebensjahr in der Regel zu verneinen, bei über 16-jährigen Mädchen dagegen regelmäßig zu bejahen sein. In der Zwischenphase komme es entscheidend auf den individuellen Reifegrad an (Eser 2006, § 218 a Rn 58; vgl. auch Gropp 2005, S. 192). Diese recht starren Altersgrenzen entsprechen aber nicht der eher zögernden und zurückhaltenden allgemeinen Spruchpraxis zur Einwilligung der Minderjährigen, sodass die normalen Maßgaben gelten (so auch Mittenzwei 1988, S. 41, 43). Schwieriger liegt der Fall, wenn zwischen den Eltern und der minderjährigen Schwangeren Meinungsverschiedenheiten bestehen. Hier sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Die Bestimmungsberechtigten, wie die Eltern, der Personensorgeberechtigte, Betreuer der Schwangeren oder der Vater des Kindes (vgl. dazu Mittenzwei 1987, S. 247), können einen Schwangerschaftsabbruch, den die Schwangere wünscht, lediglich dann verhindern, wenn die Minderjährige selbst nicht einwilligungsfähig ist. Ihnen steht allerdings ein Vetorecht im Interesse des Ungeborenen zu (so schon Trockel 1972, S. 1496; LG Köln FamRZ 1987, 207; AG Celle MedR 1988, 41; Belling u. Eberl 1994, S. 296; Kern 1994, S. 754), das allerdings nicht sorgerechtsmissbräuchlich ausgeübt werden darf (LG Berlin FamRZ 1980, 285, 286; so auch Lüderitz 1978, S. 279; Mittenzwei 1988, S. 41, 44, bezüglich einer medizinischen Indikation). Liegt ein solcher Sorgerechtsmissbrauch vor, so hat nicht die Minderjährige die Alleinentscheidungskompetenz, sondern das Vormundschaftsgericht entscheidet gemäß § 1666 Abs. 3 BGB selbst (AG Celle MedR 1988, 41, 42; mit zustimmender Anmerkung von Mittenzwei 1988, S. 45), oder es ist gemäß § 1912 BGB analog ein Pfleger für das Ungeborene zu bestellen (LG Berlin FamRZ 1980, 285, 287; Belling u. Eberl 1994, S. 295 f.; Belling 1990, S. 75; Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Pflegerbestellung äußert die Redaktion der FamRZ im Anschluss an die Wiedergabe des Urteils vom LG Berlin FamRZ 1980, 287; ebenso Reiserer 1991, S. 1140 f.). Möchte hingegen die Schwangere das Kind austragen, während ihre Eltern das ablehnen, so geht der Wille, auch der natürliche Wille, der Schwangeren vor (Eser 2006, § 218 a Rn 58; Laufhütte u. Wilkitzki 1976, S. 331 f.; Mittenzwei 1988, S. 44; Belling 1990, S. 75; Amelung 1995 b, S. 18 f.; Reiserer 1991, S. 1140). In ihren Körper darf kein Zwangseingriff vorgenommen werden (OLG Celle MDR 1960, 136; so auch Hilgendorf 1993, S. 100 Anm. 62). Abweichendes mag allenfalls bei der medizinischen Indikation gelten (strittig, vgl. dazu Winkler-Wilfurth 1992, S. 142 mwN; Belling u. Eberl 1994, S. 293; gegen einen Zwangsabbruch selbst in dieser Konstellation Hilgendorf 1993, S. 100 Anm. 62). Sind sich alle Beteiligten pro oder contra Leben einig, bleibt für rechtliche Überlegungen praktisch kaum Raum. Die Probleme treten bis zu einem bestimmten Grade auch bei der Auswahl der Geburtsmethode auf. Die werdende Mutter könnte zwar für sich
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unter verschieden risikoreichen Geburtsmethoden auch eine risikoreichere auswählen, und der Arzt soll sie entsprechend aufklären; soweit aber eine Geburtsmethode, etwa die „programmierte Geburt“, zusätzliche Risiken für das Kind mit sich bringt, ist die Befugnis, darüber allein zu entscheiden, der Mutter weitgehend entzogen (vgl. dazu Kleinewefers u. Wagner 1981; das OLG Hamm VersR 1985, 598, 599, deutet dies an, wenn es von dem „anderen an dem Entscheidungsprozess beteiligten Elternteil“ spricht).
1.4
Prozessfähigkeit
Unter Prozessfähigkeit wird die Fähigkeit verstanden, vor Gericht Prozesshandlungen selbst beziehungsweise durch selbst bestellte Vertreter vornehmen und entgegennehmen zu können (Rosenberg et al. 2004, S. 262; Zeiss u. Schreiber 2003, S. 54). Sie ist in der Zivilprozessordnung in § 51 geregelt. Dieser bestimmt, dass hinsichtlich der Prozessfähigkeit die Vorschriften des bürgerlichen Rechts gelten, soweit nicht die §§ 52 ff. ZPO abweichende Regelungen enthalten. § 52 ZPO stellt die Prozessfähigkeit mit der Fähigkeit gleich, sich durch Verträge verpflichten zu können. Vertraglich verpflichten kann sich nur, wer voll geschäftsfähig ist. Der nur beschränkt Geschäftsfähige kann dies nicht, da er sich nicht selbst durch Vertrag verpflichten kann, sondern einen gesetzlichen Vertreter (§ 107 BGB) zum wirksamen Vertragsabschluss benötigt. Er ist deshalb prozessunfähig. Ausgenommen sind die Fälle der §§ 112, 113 BGB: Minderjährige, die mit Erlaubnis der Eltern in Dienst oder Arbeit treten oder mit Erlaubnis des Vormundschaftsgerichts selbstständig ein Geschäft betreiben, sind für diesen Lebensbereich geschäfts- und prozessfähig. Weitere Ausnahmen finden sich für den Ehe- und Kindschaftsprozess (§§ 607 Abs. 1, 640 b ZPO). Führen ein Pfleger oder ein Betreuer einen Prozess, so ergeben sich auch hier Besonderheiten. Der Betreute gilt stets als prozessunfähig, selbst dann, wenn er geschäftsfähig ist. § 53 ZPO legt die Prozessführung nämlich vollständig in die Hände des Betreuers oder Pflegers. Eine partielle Prozessunfähigkeit, also eine Prozessunfähigkeit, die sich nur auf bestimmte Lebensbereiche erstreckt, hält die Rechtsprechung für möglich (BGHZ 18, 184; BGH NJW 59, 1587). So kann Querulantenwahn oder krankhafte Eifersucht, verursacht durch ein Schlüsselerlebnis, für einen Eheprozess prozessunfähig machen (BGHZ 18, 184; RGZ 162, 223). Eine relative Prozessunfähigkeit, abhängig von der Schwierigkeit des Prozesses, gibt es hingegen nicht (BGHZ 18, 184; BGH NJW 53, 1342; 70, 1680). Verliert eine Partei die Prozessfähigkeit, so schadet das dann nicht, wenn sie noch im Zustand der Prozessfähigkeit einen Prozessbevollmächtigten bestellt hat (§§ 86, 241, 246 ZPO; BGHZ 86, 189). Die Prozessvollmacht, die ein Prozessunfähiger erteilt, ist hingegen unwirksam (BGHZ 86, 189).
1.4 Prozessfähigkeit
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Die Prozessfähigkeit ist eine Prozessvoraussetzung, auf die das Gericht in jeder Lage des Verfahrens von sich aus achten muss (§ 56 Abs. 1 ZPO; OLG Düsseldorf JuS 2000, 406). Anlass zur Prüfung besteht nach ständiger Rechtsprechung aber nur, wenn sich ernsthafte Zweifel an der Prozessfähigkeit ergeben. Das Gericht geht dabei von der allgemeinen Erfahrung aus, dass Störungen der Geistestätigkeit, die gemäß § 52 Abs. 1 ZPO, § 104 Nr. 2 BGB zur Prozessunfähigkeit führen, eine Ausnahmeerscheinung darstellen (BGHZ 18, 189 f.; BGHZ 86, 189). Erst wenn diese Vermutung offensichtlich oder durch substanziiertes Vorbringen erschüttert ist, hat das Gericht von Amts wegen die Prozessfähigkeit zu prüfen (Engelmann-Pilger 2005, S. 716) Nach bisher herrschender Meinung in der Rechtsprechung trägt der Kläger die Beweislast für die Prozessfähigkeit beider Parteien. Diese Beweislastregelung wird in der Literatur kritisiert, da es an einer plausiblen Begründung dafür fehlt. Die Beweislast des Klägers ist nur dann verständlich, wenn man darin eine positive Voraussetzung für das Sachurteil sieht (BGH NJW 1961, 2207). Die Beweislast wird aber dann zweifelhaft, wenn man am materiellen Recht anknüpft, wie es § 52 ZPO verlangt. Denn dort ist die Geschäftsfähigkeit des Volljährigen die Regel, die Geschäftsunfähigkeit die Ausnahme (§§ 104, 105 BGB). Die neuere Rechtsprechung weicht diesem Problem aus und meint, die Lebenserfahrung spreche zwar für die Prozessfähigkeit; sobald aber Umstände vorliegen, die an ihr zweifeln lassen, müsse der Kläger sie beweisen (BGHZ 86, 189; BGH NJW 1969, 1574; 1996, 1059). Dagegen wiederum lässt sich einwenden, dass nicht die Lebenserfahrung die Beweislast regelt, sondern das Gesetz (Schellhammer 2004, S. 561). Verbleiben nach Erschöpfen aller erschließbaren Erkenntnisquellen hinreichende Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit, so gehen etwa noch vorhandene Zweifel nach herrschender Meinung, insbesondere nach ständiger Rechtsprechung, zu Lasten der betroffenen Partei, d. h. es ist dann von ihrer Prozessunfähigkeit auszugehen (OLG Düsseldorf JuS 2000, 406; BGHZ 86, 189). Diese Zweifelsregelung widerspricht aber der durch die §§ 51 f. ZPO geschaffenen Verknüpfung mit dem bürgerlichen Recht (Musielak 1997, S. 1736). Hier gilt nämlich, nach fast ausnahmslos vertretener Ansicht, bei nicht klärbaren Zweifeln an der geistigen Gesundheit einer Person, diese als geschäftsfähig und die vorgenommenen rechtsgeschäftlichen Handlungen gelten als gültig (BGH NJW 1972, 683; 1983, 2019; Schmitt 2001, § 104 Rn 21; Jauernig 2004, § 104 Anm. 9; Heinrichs 2007, § 104 Rn 8). Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum die Beurteilung der Prozessfähigkeit, für die § 52 ZPO gerade auf die Fähigkeit, sich durch Verträge zu verpflichten, verweist, anders erfolgen sollte als bei der Geschäftsfähigkeit (Musielak 1997, S. 1736, 1741). Deshalb sollte auch im Zivilprozess eine Partei solange als prozessfähig behandelt werden, bis zweifelsfrei festgestellt wird, dass sie geistig krank und deshalb nicht in der Lage ist, den Prozess selbst zu führen (ebd., S. 1736, 1741). Die Klage ist bei Prozessunfähigkeit einer Partei wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung als unzulässig abzuweisen (BGHZ 86, 186).
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1 Privatrechtliche Grundlagen
Zudem sind alle Prozesshandlungen unwirksam, wenn sie von einem Prozessunfähigen vorgenommen wurden (BGHZ 86, 189). Prozessfähig müssen deshalb auch alle Prozessbevollmächtigten und der Anwalt sein (BGHZ 30, 118; BAG NJW 1964, 74). Wird eine Partei erst während des Prozesses prozessfähig, kann sie ihre unwirksame Prozessführung nun genehmigen (§§ 547 Nr. 4, 579 Nr. 4 ZPO). Das geschieht schlüssig, indem sie den Prozess fortsetzt (BGH NJW 1998, 384; 1998, 1646). Insoweit ist zu beachten, dass die betroffene Partei ihre Prozessführung nur im Ganzen genehmigen kann. Sie kann nicht einzelne Prozesshandlungen von ihrer Genehmigung ausnehmen (RGZ 110, 228). An Stelle der Partei kann aber auch ihr gesetzlicher Vertreter (BGHZ 41, 104; 106, 96) oder Prozessbevollmächtigter genehmigen. Die Prozessvollmacht deckt auch die Genehmigung (§ 81 ZPO; BGHZ 51, 27). Streiten die Parteien über die Prozessfähigkeit, so gilt die Partei bis zur endgültigen Klärung ihrer Prozessfähigkeit als prozessfähig, auch wenn sie es vielleicht nicht ist (BGHZ 35, 1; 52, 1; 86, 186). Sie kann zur Klärung dieser Frage auch wirksam Rechtsmittel einlegen (BGH NJW 1966, 2210; JuS 2000, 405; BGHZ 110, 295 f.; BGH NJW 1996, 1059).
1.5
Deliktsfähigkeit
Liegt eine rechtswidrige Verletzungshandlung vor, so können dem Schädiger die Rechtsfolgen deliktischer Haftung und sonstige auf Verschulden gründende Haftungstatbestände nur auferlegt werden, wenn ihm ein persönlicher Schuldvorwurf gemacht werden kann (Wagner 2004, § 827 Rn 4; Fuchs 2006, S. 73; Kupisch u. Krüger 1983, S. 7). Das ist dann nicht möglich, wenn der Handelnde verschuldens- beziehungsweise deliktsunfähig ist. Das Gesetz regelt in den §§ 827, 828 BGB, wann Deliktsunfähigkeit vorliegt. Minderjährige, die das siebte Lebensjahr nicht vollendet haben, sind deliktsunfähig und deshalb für Schäden, die sie verursachen, nicht verantwortlich (§ 828 Abs. 1 BGB). § 828 Abs. 1 BGB beinhaltet damit faktisch eine unwiderlegliche Vermutung, dass Kinder vor Vollendung des siebten Lebensjahres keine die deliktische Haftung rechtfertigende Einsichtsfähigkeit besitzen (Kilian 2003, S. 169). Ebenfalls verschuldensunfähig sind, seit dem Zweiten Schadensersatzrechtsänderungsgesetz zum 1. 8. 2002, Kinder bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres für Unfälle im Straßen- und Schienenverkehr, die sie nicht vorsätzlich herbeigeführt haben (§ 828 Abs. 2 BGB). Nach altem Recht hafteten minderjährige Schadensverursacher ab Vollendung des siebten Lebensjahres für von ihnen deliktisch verursachte Schäden, auch im Straßenund Schienenverkehr, in Abhängigkeit von ihrer Einsichtsfähigkeit. Gerichte bejahten oftmals, dass auch jüngere Kinder im Sinne eines intellektuellen Begreifens verstehen konnten, dass ihre Verhaltensweisen zu einem Schaden führen (LG Berlin NJW 1999, 2906; LG Bochum Schadenspraxis 1995, 73; AG Worms Schadenspraxis 1997, 463). Durch das SchadÄndG
1.5 Deliktsfähigkeit
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wurde nun die Zurechenbarkeitsgrenze auf zehn Jahre heraufgesetzt. Damit hat der Gesetzgeber die haftungsrechtlichen Konsequenzen aus der inzwischen als gesichert geltenden entwicklungspsychologischen Erkenntnis gezogen, dass Kinder regelmäßig erst nach der Vollendung des zehnten Lebensjahres dazu im Stande sind, die besonderen Gefahren des Straßenverkehrs zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten, insbesondere Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen (BT-Drs. 14/7752, S. 16, 26; Wagner 2004, § 828 Rn 4). Das Privileg gilt nicht bei vorsätzlichem Verhalten, wenn etwa neunjährige Kinder auf einer Brücke stehend Steine auf die Autobahn werfen (Wagner 2004, § 828 Rn 4). Die Privilegierung gilt gleichfalls nicht, wenn keine verkehrstypische Überforderungssituation vorliegt, z. B. bei einem Unfall mit einem parkenden PKW (BGH, NJW-RR 2005, 327). Ebenfalls deliktsunfähig sind Personen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit (§ 827 S. 1 BGB) oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit (§ 827 S. 1 BGB) einem anderen einen Schaden zufügen. Denn hier ist der Handelnde zur rationalen Wahl zwischen Verhaltensalternativen und zur Kontrolle des eigenen Verhaltens konstitutionell nicht in der Lage (ebd., § 827 Rn 1). Der Bewusstlosigkeit im engen Sinne werden auch Bewusstseinsstörungen gleichgestellt, sofern sie die freie Willensbildung nicht bloß einschränken, sondern aufheben (ebd., § 827 Rn 6), so etwa im Fall schwerer traumatischer Belastungsstörung (OLG München ZfS 2002, 171), bei äußerster Erregung oder Zornaufwallungen (BGH NJW 1958, 266), panischem Schrecken (OLG Nürnberg NJW 1965, 696) oder einem „durch eine kurzfristige Kreislaufschwäche ausgelösten Blackout“, sofern der Zustand eine erhebliche Schwere erreicht (OLG Köln ZfS 1997, 339). Eine allgemeine Erregung oder momentane Unfähigkeit zum vernünftigen Handeln reichen dagegen nicht aus (Teichmann 2004, § 827 Rn 1). Hochgradige Trunkenheit oder sonstige Berauschungszustände, Delirien, Halluzinationen sowie hypnotische Dämmerzustände fallen ebenfalls unter den Begriff der Bewusstlosigkeit beziehungsweise Bewusstseinsstörung (Wagner 2004, § 827 Rn 7). Eine Entlastung kommt aber dann nicht in Betracht, wenn sich die zur Selbststeuerung unfähige Person schuldhaft in den Zustand der Unfähigkeit versetzt hat, § 827 S. 2 BGB. Diese Person haftet dann wie ein fahrlässig Handelnder. Eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit und damit Deliktsunfähigkeit gemäß § 827 S. 1 BGB ist bei Geisteskrankheiten gegeben, die die Freiheit der Willens- und Selbstbestimmung ausschließen oder wesentlich beeinträchtigen (Deutsch 1996, S. 300), etwa bei Personen, die schizophren oder manisch-depressiv sind, sich im Wahnzustand (ebd.) oder in einem protrahierten Dämmerzustand (OLG Hamm v. 5. 11. 1986 – 20 U 107/86) befinden. Die bloße Minderung der Verstandes- und Willenskraft schließt die Zurechnungsfähigkeit hingegen ebenso wenig aus wie die Unfähigkeit zu ruhiger Überlegung (BGH VersR 1965, 950; 1977, 430 f.).
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1 Privatrechtliche Grundlagen
Die Anordnung einer Betreuung, selbst mit Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB), führt nicht zur Deliktsunfähigkeit. Vielmehr muss das Vorliegen einer solchen erst selbstständig festgestellt werden. Dabei kann die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes allenfalls ein Indiz zur Feststellung der Deliktsunfähigkeit sein (Wagner 2004, § 827 Rn 8). Eingeschränkte Deliktsfähigkeit besteht ab Vollendung des siebten (§ 828 Abs. 3 BGB) beziehungsweise bei Verkehrsunfällen im Sinne des § 828 Abs. 2 BGB ab dem zehnten Lebensjahr bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. In diesem Lebensabschnitt sind Kinder und Jugendliche nur haftbar, wenn sie bei Begehung der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis ihrer Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hatten. Dabei kommt es ausschließlich auf die intellektuelle Fähigkeit des Minderjährigen an. Er muss das Unrecht seiner Handlung und damit die Verpflichtung erkennen, für die Folgen seines Tuns einstehen zu müssen (BGH JR 2005, 421). Ob er hingegen auch in der Lage ist, seiner Einsicht entsprechend zu handeln, ist zu Recht nicht zu berücksichtigen (BGH NJW 1970, 1038 f.; BGH NJW 1984, 1958; Wagner 2004, § 828 Rn 7; Fuchs 2006, S. 74). Die Darlegung- und Beweislast für das Fehlen der Einsichtsfähigkeit trägt der in Anspruch genommene Minderjährige (BGH VersR 1970, 467). Ab dem Alter von sieben Jahren wird deren Vorliegen vom Gesetz widerlegbar vermutet (BGH VersR 1997, 834, 835; Fuchs 2006, S. 74). Liegt eine Unzurechnungsfähigkeit gemäß §§ 827 f. BGB vor, so entfällt unter den dort genannten Voraussetzungen die Verantwortlichkeit vollständig (Wagner 2004, § 828 Rn 2). Eine bloß partielle Haftung oder eine verminderte Zurechnungsfähigkeit kennt das BGB nicht. Es gilt das „Alles oder NichtsPrinzip“ (Deutsch 1996, S. 301 f.; Brüggemeier 1986, S. 39). Allein gemäß § 829 BGB kann es aus Billigkeitsgründen zu einer Durchsetzung der Ersatzinteressen des Geschädigten kommen (Wagner 2004, § 828 Rn 2). Eine partielle Deliktsunfähigkeit, beschränkt auf einen bestimmten Lebensbereich, gibt es hingegen (OLG Nürnberg NJW 1965, 696 – panischer Schrecken einer 72-Jährigen vor einem Dackel). § 827 BGB gilt dann nur für den Bereich, der von der Unzurechnungsfähigkeit erfasst wird. Zudem haften auch Deliktsunfähige für Taten, die sie im so genannten lucida intervalla begangen haben (RGZ 108, 89 f.; Deutsch 1996, S. 300).
1.6
Eherecht
1.6.1 Ehefähigkeit Die Ehefähigkeit ist in den §§ 1303 und 1304 BGB geregelt. Demnach kann niemand, der geschäftsunfähig ist, eine Ehe schließen (§ 1304 BGB). Für ihn kann auch gemäß § 1311 BGB kein Vertreter (Betreuer) handeln. Ist der Betreute geschäftsfähig, kann er ohne Vertreter die Ehe schließen. Ein Einwilligungsvorbehalt ist gemäß § 1903 Abs. 2 BGB unzulässig, das gilt allerdings nicht für vermögensrechtliche Regelungen im Zusammenhang mit der Eheschließung.
1.6 Eherecht
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Die Volljährigkeit soll gemäß § 1303 Abs. 1 BGB grundsätzlich bei beiden Ehepartnern vorliegen; einer muss jedenfalls volljährig sein (§ 1303 Abs. 2 BGB). Das dient nicht zuletzt der juristischen Handlungsfähigkeit in der Ehe, die nicht gegeben ist, wenn beide Eheleute minderjährig sind. Einer der Ehegatten kann ausnahmsweise minderjährig sein, muss jedoch das 16. Lebensjahr vollendet haben (§ 1303 Abs. 2 BGB). Allerdings setzt das voraus, dass das Familiengericht auf Antrag des Minderjährigen Befreiung von dem Erfordernis der Volljährigkeit erteilt (§ 1303 Abs. 2 BGB). Der Minderjährige hat einen Rechtsanspruch auf Befreiung, wenn die – im Gesetz nicht genannten (Strätz 2007, § 1303 Rn 14) – Voraussetzungen vorliegen. Demzufolge ist die Befreiung auszusprechen, wenn eine Gesamtbewertung aller für und gegen die Eheschließung sprechenden Umstände ergibt (ebd., § 1303 Rn 19), dass das Wohl des Antragstellers – in der Praxis häufig die Frau – durch die Eheschließung voraussichtlich nicht beeinträchtigt sein wird. Der Minderjährige muss über die erforderliche persönliche Reife verfügen. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob eine echte wechselseitige Bindung zwischen den Partnern besteht, sie die mit der Ehe verbundenen Pflichten übernehmen können und wollen und die notwendigen wirtschaftlichen Grundlagen für die Ehe gegeben sind. Der Heiratswunsch des Minderjährigen muss dem eigenen inneren Antrieb entspringen und darf nicht nur auf dem Einfluss der Umwelt oder wirtschaftlichen Überlegungen beruhen (Müller-Gindullis 2000, § 1303 Rn 6). Das gilt nicht zuletzt bei Eheschließungen mit Migrationshintergrund, insbesondere bei Zwangsehen (Saarl. OLG, Beschl. v. 24. 5. 2007 – 6 UF 106/06). Kein Befreiungsgrund ist darin zu sehen, dass durch die Eheschließung ein Bleiberecht für den volljährigen Ehegatten bezweckt wird. Ein gemeinsames Kind oder eine Schwangerschaft sind nicht ohne weiteres Gründe, die Befreiung zu erteilen. Andererseits muss der Minderjährige in der Lage sein, die Bedeutung einer Schwangerschaft und der Elternschaft für sein Leben zu erfassen (Saarl. OLG FamRZ 2008, 275). Auch die anstehende berufliche Ausbildung des Minderjährigen darf durch die Eheschließung nicht beeinträchtigt werden. Liegt die Befreiung durch das Familiengericht vor, bedarf es nicht der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen (§ 1303 Abs. 4 BGB). Bei Widerspruch der gesetzlichen Vertreter gegen den Antrag darf das Familiengericht die Befreiung nur erteilen, wenn der Widerspruch nicht auf triftigen Gründen beruht (§ 1303 Abs. 3 BGB).
1.6.2 Fähigkeit, eine Lebenspartnerschaft zu begründen Das LPartG enthält nahezu keine Vorschriften zu dieser Frage. Eine generelle Verweisung auf die §§ 1303 und 1304 BGB findet nicht statt. Abweichend von § 1303 Abs. 2 BGB dürfen nur Volljährige eine Lebenspart-
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nerschaft begründen (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 LPartG). Aber auch ohne Regelung gilt hier, dass Geschäftsunfähige keine Lebenspartnerschaft begründen können.
1.6.3 Scheidungsfähigkeit Die Scheidung, die eine zerrüttete Ehe in ihrem Bestand auflöst, ist in den §§ 1564 bis 1568 BGB geregelt. Sie erfolgt durch ein gerichtliches Urteil, das auf Antrag eines oder beider Ehegatten ergeht (§ 1564 S. 1 BGB). Aus dieser Formulierung ergibt sich – entsprechend wie bei der Eheschließung – die Vertretungsfeindlichkeit. Kann also ein Ehegatte den Antrag nicht selbst stellen, kann das auch kein Vertreter für ihn tun (Kern 2006 b, S. 138). Daraus kann wiederum gefolgert werden, dass ein Geschäftsunfähiger keinen Antrag stellen kann (Kern 2006 b, S. 143 f.). Eine positive Ausformung dieses Rechtssatzes im Gesetz findet sich nicht; weitere Regelungen über das Scheidungsverfahren enthält das BGB in diesem Zusammenhang nicht. Die §§ 1565 bis 1568 BGB beschäftigen sich mit den Voraussetzungen der Scheidung. Bei der Scheidung ist also darauf abzustellen, wer die Scheidung betreibt. Will sich ein geschäftsfähiger Ehegatte von seinem geschäftsunfähigen Partner scheiden lassen, so muss er die Möglichkeit dazu haben. Für diesen Fall muss für den Geschäftsunfähigen auch ein Betreuer mit dem Aufgabenbereich Scheidungsangelegenheiten bestellt werden (Kern 2006 b, S. 137). Hingegen kann ein geschäftsunfähiger Ehegatte die Scheidung weder selbst noch mit Hilfe eines Betreuers betreiben (ebd., S. 143 f.). Das wird allerdings in der Rechtsprechung weithin anders gesehen. Die abweichende Rechtsprechung gelangt indessen nicht zu anderen Ergebnissen, sondern verneint die Scheidungsvoraussetzungen. Es fehlt in derartigen Fällen regelmäßig an der Ablehnung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch den Geschäftsunfähigen. Diese Ablehnung ist nach § 1567 Abs. 1 S. 1 BGB Scheidungsvoraussetzung (BGH, NJW 2002, 671; OLG Frankfurt ZEV 2002, 516). Entsprechendes gilt gemäß § 15 Abs. 1 LPartG für die Aufhebung der Lebenspartnerschaft (so auch OLG Köln FamRZ 2004, 1724).
1.6.4 Fähigkeit, die Aufhebung der Ehe oder der Lebenspartnerschaft zu beantragen Gemäß den §§ 1313 bis 1318 BGB kann eine Ehe aufgehoben werden, wenn sie aus formalen (Verstoß gegen §§ 1303, 1304, 1306, 1307, 1311 BGB) oder sonstigen (§ 1314 BGB) Gründen gar nicht hätte geschlossen werden dürfen. Antragsberechtigt ist unter anderem der negativ betroffene Ehegatte (z. B. bei Verstoß gegen die Ehemündigkeit gemäß § 1303 BGB der Minderjährige). Der Minderjährige darf diesen Antrag nur selbst stellen. Er
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bedarf dazu nicht der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters (§ 1316 Abs. 2 S. 2 BGB). Für den geschäftsunfähigen Ehegatten darf ein gesetzlicher Vertreter (Betreuer) handeln (§ 1316 Abs. 2 S. 1 BGB). Die Aufhebung kann gemäß § 1314 Abs. 2 Nr. 1 BGB unter anderem verlangt werden, „wenn ein Ehegatte sich bei der Eheschließung im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befand“. Entsprechendes gilt gemäß § 15 Abs. 2 S. 2 und Abs. 4 LPartG.
1.7
Sorgerecht
1.7.1 Grundsätzliches Von Sorgerecht wird nur im Zusammenhang mit Minderjährigen gesprochen. Der Begriff als solcher ist dem Gesetz fremd. Im Betreuungsrecht findet er auch der Sache nach keine Verwendung. Die grundsätzliche Norm für die elterliche Sorge ist § 1626 Abs. 1 BGB. Schon der Gesetzestext macht deutlich, dass das „Sorgerecht“ vorrangig eine Pflicht der Eltern ist und nur in zweiter Linie ein Recht (Rauscher 2001, S. 651): „Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge)“. Im Vordergrund stehen also weder ein Machtanspruch der Eltern noch das Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder, sondern das Bedürfnis des Kindes nach Schutz und Hilfe, sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln (BVerfGE 24, 119). Diese Begründung für die elterliche Sorge findet Ausdruck in § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln.“
1.7.2 Träger des Sorgerechts Träger des Sorgerechts sind grundsätzlich die Eltern (§§1626 –1698 b BGB), ausnahmsweise, bei nichtehelichen Kindern, die Mutter (§ 1626 a Abs. 2 BGB). Für die Zeit nach der Scheidung der Eltern sieht das Gesetz als Regelfall vor, dass die gemeinsame elterliche Sorge fortbesteht (§ 1671 BGB). Jeder Elternteil kann allerdings gemäß § 1671 BGB beantragen, dass ihm die elterliche Sorge allein übertragen wird. Der minderjährigen Mutter steht die elterliche Sorge über ihr Kind zwar zu, aber sie ruht nach § 1673 Abs. 2 S. 1 BGB. Das gilt aber letztlich nur für die Vermögenssorge. Die Personensorge steht ihr neben dem gesetzlichen Vertreter des Kindes zu, allerdings ist sie nicht zur Vertretung des Kindes berechtigt (§ 1673 Abs. 2 S. 2 BGB). Handelt es sich bei dem gesetzlichen Vertreter um den Vater des Kindes, dem ein Sorgerecht allerdings nicht automatisch zusteht, so gilt § 1627 BGB, demzufolge beide Eltern die
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Sorge gleichrangig auszuüben haben. Ist der gesetzliche Vertreter ein Vormund oder Pfleger, so geht bei Meinungsverschiedenheiten die Meinung der Minderjährigen vor (§ 1673 Abs. 2 S. 3 BGB). Aus dem Umstand, dass sie nicht zur Vertretung des Kindes berechtigt ist, ergeben sich große dogmatische Probleme, die in der Praxis allerdings dahingehend gelöst werden, dass die Minderjährige doch ihr Kind vertritt (Kern 2005). Gibt es keine Eltern oder dürfen sie das Sorgerecht nicht ausüben oder ist der Personenstand des Minderjährigen nicht zu ermitteln, so erhält er einen Vormund (§ 1773 BGB), dem die elterliche Sorge in vollem Umfang zusteht (§ 1793 Abs. 1 BGB). Sind Eltern oder Vormund an der Besorgung einzelner Aufgaben verhindert, muss für diese Aufgaben ein Ergänzungspfleger bestellt werden (§ 1909 BGB). Das kann beispielsweise bei der Weigerung der Eltern, in einen indizierten Heileingriff bei ihrem Kind einzuwilligen, der Fall sein.
1.7.3 Zeitlicher Umfang Die elterliche Sorge besteht von der Vollendung der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Stirbt der Minderjährige vorher, so endet die elterliche Sorge mit seinem Tod. Die Heirat des Minderjährigen beendet hingegen die elterliche Sorge nicht (§ 1633 BGB). Strittig ist, ob die elterliche Sorge auch schon für den nasciturus besteht. Da das BVerfG die teilweise Grundrechtsfähigkeit des Ungeborenen bejaht hat (BVerfGE 39, 1, 35) und § 1912 BGB die Bestellung eines Pflegers für einen nasciturus vorsieht, wird die elterliche Sorge auch für das ungeborene Kind zu Recht in zunehmendem Maße bejaht (Geiger 1987, S. 1177; Kern 1994, S. 754 f.).
1.7.4 Umfang des Sorgerechts Der Umfang des Sorgerechts bestimmt sich nach § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB: „Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge)“. Die Vermögenssorge ist nicht eigens im Gesetz geregelt. Anderes gilt für die Personensorge. Gemäß § 1631 BGB umfasst die Personensorge „insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen“. Zur Pflege gehört nicht zuletzt die Aufrechterhaltung der Gesundheit des Kindes durch ärztliche Behandlung (Rauscher 2001, S. 709). Insoweit kann das Kindeswohl mit der ärztlichen Indikation gleichgesetzt werden. Eltern dürfen daher nur in indizierte Eingriffe einwilligen, müssen es andererseits jedenfalls bei absolut indizierten Heilmaßnahmen auch (Kern 1994, S. 756). Zu beachten ist insoweit aber auch die Zuständigkeit des einwilligungsfähigen Minderjährigen. In die Sterilisation des Minderjährigen dürfen weder die Eltern noch der Minderjährige selbst einwilligen (§ 1631 c BGB).
1.8 Betreuungsrecht
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1.7.5 Maßstab für das Sorgerecht Oberste Richtschnur für die Ausübung der elterlichen Sorge ist das Kindeswohl (BVerfGE 60, 79, 88). Im Gesetz ist das erst verhältnismäßig weit hinten und versteckt in § 1627 BGB geregelt: „Die Eltern haben die elterliche Sorge . . . zum Wohl des Kindes auszuüben.“ Die Konkretisierung dieses zentral wichtigen unbestimmten Rechtsbegriffes ist schwierig. § 1666 Abs. 1 BGB unterscheidet das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes, was aber nicht viel weiter hilft. An einer anderen Stelle wird das Gesetz deutlicher. § 1626 Abs. 3 BGB legt fest, dass „zum Wohl des Kindes . . . in der Regel der Umgang mit beiden Eltern“ sowie „mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt“, gehört.
1.7.6 Ausüben der elterlichen Sorge Die Eltern haben die elterliche Sorge in gegenseitigem Einvernehmen auszuüben (§ 1627 BGB). Sie müssen versuchen, sich zu einigen. Gelingt das nicht, muss gemäß § 1628 BGB das Familiengericht angerufen werden. Grundsätzlich sind beide Elternteile gemeinschaftlich zur Vertretung des Kindes berechtigt (§ 1629 Abs. 1 BGB). Das wird im Außenverhältnis praktisch allerdings weithin nicht so gehandhabt, sondern ein Elternteil vertritt das Kind alleine. Für Eil- und Notmaßnahmen und für Geschäfte des Alltags und Besorgungen minderer Bedeutung kann die Entscheidungsbefugnis aufgrund einer entsprechenden elterlichen Aufgabenverteilung einem Elternteil allein zustehen (Kern 1994, S. 756). Darüber hinaus kann ein Elternteil den anderen ermächtigen, in Einzelfällen oder in bestimmten Fallgruppen für ihn mitzuhandeln.
1.7.7 Einschränkungen der elterlichen Sorge Bei Gefährdung des Kindeswohls hat das Familiengericht nach den §§ 1666 ff. BGB die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Das kann bis zum Entzug der elterlichen Sorge reichen. Verweigern die Eltern ihre Zustimmung zu einem indizierten Heileingriff bei ihren Kindern, hat der Arzt das Familiengericht einzuschalten. Verfährt der Arzt gegen die Weigerung der Eltern gemäß der Indikation, ohne das Familiengericht einzuschalten, so ist er gerechtfertigt, wenn feststeht, daß das Familiengericht die Zustimmung der Eltern ersetzt hätte (AG Nordenham, VersR 2007, 1418).
1.8
Betreuungsrecht
1.8.1 Rechtliche Begründung Am 1. Januar 1992 trat das Betreuungsgesetz in Kraft und hat Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für Volljährige gänzlich abgeschafft
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und durch die Betreuung ersetzt. Pflegschaft und Vormundschaft sind dadurch allerdings keineswegs aus dem deutschen Recht entfernt worden. Beide Rechtsinstitute gibt es weiterhin für Minderjährige. Die Entmündigung nach altem Recht nahm dem Betroffenen die Geschäftsfähigkeit, entrechtete ihn also, jedenfalls im rechtsgeschäftlichen Bereich, vollständig. Nur sein Vormund konnte für ihn Verträge abschließen. An den genannten Rechtsfolgen setzte die Kritik ein, die zu dieser Reform führte, die – nach Ansicht der damaligen Bundesministerin der Justiz – „zu den wichtigsten rechtspolitischen Vorhaben der letzten Jahre“ zählte (Leutheusser-Schnarrenberger 1992, S. 3 f.). Ziel der Reform war es, den Willen des Betroffenen möglichst weitgehend zu berücksichtigen, seine Angelegenheiten also nicht allein nach angeblichen oder wirklichen Sachzwängen zu entscheiden. Ganz konnte das Gesetz indessen nicht auf die Anknüpfung an Sachzwänge verzichten. Das zeigt sich etwa daran, dass der Betreuer – entsprechend der Regelung (§ 1627 BGB) zur elterlichen Sorge für Minderjährige – die Angelegenheiten des Patienten so zu besorgen hat, „wie es dessen Wohl entspricht“. Weiter heißt es in § 1901 Abs. 2 S. 2 BGB, dass zum „Wohl des Betreuten . . . auch die Möglichkeit [gehöre], im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten“. Demnach erkennt das Gesetz in § 1901 Abs. 2 BGB die Möglichkeit, dass sich Wohl und Wünsche des Patienten widersprechen können. Ist das der Fall, so gebührt – dem Gesetzestext zufolge – dem Wohl der Vorrang. Fraglich bleibt allerdings, ob das sowohl im vermögensrechtlichen als auch im gesundheitlichen Bereich von großer Bedeutung ist. Das Wohl kann letztlich nicht abstrakt bestimmt werden, sondern nur personal, d. h. unter Bezug auf die Wünsche des Betreuten. In Betracht kommt der Vorrang des Wohls nur bei krass vernunftwidrigen, schädlichen Wünschen. Diesen wird der Arzt aber schon nach allgemeinen ärztlichen Grundsätzen – nil nocere – nicht nachkommen. Zumindest neutrale Wünsche, deren Erfüllung zwar nicht ärztlich indiziert ist, jedoch auch nicht schadet, werden regelmäßig zugleich dem Wohl entsprechen oder ihm jedenfalls nicht widersprechen (s. § 1901 Abs. 2 Satz 1 BGB). Ein Indiz für das Wohl des Betreuten lässt sich aus den Materialien zur Frage der Organexplantation gewinnen. Organspenden dienen nämlich grundsätzlich nicht der Gesundheit des Spenders und damit auch nicht seinem Wohl. Dennoch sind Ausnahmefälle denkbar, „in denen die Organspende auch dem seelischen Wohl des Betreuten dient, etwa, wenn das Leben eines Kindes des Betreuten nur durch dessen Organspende gerettet werden kann“ (BT-Dr. 11/4528, S. 142; vgl. dazu auch Abschn. 1.8.4.2 u. Bienwald 1992, S. 1128 f.). Fehlt es allerdings an geäußerten Wünschen, ist der Betreuer an die Indikation gebunden und darf keine objektiv unvernünftigen Entscheidungen treffen (Kern 1994). Die Beseitigung der Gebrechlichkeitspflegschaft ist von der gesetzgeberischen Zielvorstellung her weitaus schwerer nachzuvollziehen. Der behaupteten Kritik an dem Begriff „Gebrechlichkeit“ (Schmidt 1992, S. 373) hätte auch durch eine kosmetische Maßnahme des Gesetzgebers abgeholfen wer-
1.8 Betreuungsrecht
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den können. Der Sache nach ist die gestrichene Norm des § 1910 BGB auch nicht obsolet (vgl. dazu Kern 1991 b, S. 146). Die Streichung der Erwachsenenpflegschaft beruht vielmehr darauf, dass sie mit der neuen Betreuung identisch ist. Die Betreuung „ist nichts anderes als die Gebrechlichkeitspflegschaft mit neuem Namen“ (Schmidt 1992, S. 374; Kern 1991 d, S. 67). Genauer gesagt handelt es sich bei der Betreuung um eine Pflegschaft bis hin zur Vormundschaft (so der Sache nach auch Helle 1991, B-2640). Denn „ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist“ (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB). Abzustellen ist also auf die Notwendigkeit der Betreuung im Einzelfall.
1.8.2 Bedeutung für das Medizinrecht Diese grundsätzlichen Änderungen allein wären für das Arztrecht nicht von besonderer Bedeutung, denn die Geschäftsfähigkeit war schon nach dem früheren Rechtszustand allenfalls für den auch heute noch konfliktträchtigen Bereich des rechtswirksamen Abschlusses des Behandlungsvertrages (vgl. dazu Uhlenbruck u. Laufs 2002 a, b, S. 395 ff., 425 ff.) erheblich. Bezüglich der weit wichtigeren Frage der Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff wurde schon seit langem (Kern u. Laufs 1983, S. 32) auf die Einwilligungsfähigkeit abgestellt, d. h. auf die Fähigkeit des Patienten, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu ermessen und seine Entscheidung danach zu bestimmen (Kern 1991 c, S. 40). Einwilligungsfähig konnte auch schon nach dem alten Rechtszustand ein Entmündigter sein. Diesem gewohnten Rechtszustand entspricht die neue Gesetzeslage weitgehend. Von der Einwilligungsfähigkeit zu unterscheiden ist die Fähigkeit, einen natürlichen Willen zu besitzen und zu artikulieren (das verkennen Ukena 1992, S. 203 u. Schmidt 1992, S. 380), so etwa in § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB (vgl. dazu Ukena 1992, S. 203 Anm. 13, 112) und in § 1906 BGB (vgl. dazu Schmidt 1992, S. 379). Da der natürliche Wille im Gesetz und bisher auch sonst nicht definiert und gegebenenfalls schwer von unerheblichen Willensäußerungen zu unterscheiden ist (sehr instruktiv dazu Schwab 2002, § 1904 Rn 9; vgl. auch das Beispiel Rn 18 Anm. 50), haben sich auch insoweit einige Probleme ergeben. Im Übrigen werden, wie die Diskussion während des 2. Vormundschaftsgerichtstages zeigte (Vormundschaftsgerichtstag e.V. 1991, S. 91–95), auch die Begriffe der Einwilligungs- und Geschäftsfähigkeit in der Praxis weithin nicht richtig definiert und angewendet. Der dort gezeigte Problemstand entspricht noch nicht einmal der älteren Rechtslage. Darüber hinaus bedarf es unter bestimmten Voraussetzungen der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung für die Einwilligung in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff, für die Einwilligung in eine Sterilisation und für die Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahmen. Überwiegend hier, aber auch bei der Betreuerbestellung, liegen die Probleme, die den Gerichten, aber nicht nur ihnen, erhebliche Schwierigkeiten bereiten (vgl. dazu
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Weizsäcker 1992; Pommerien u. Bettex 1992, S. 27; Holzhauer 1992, S. 54 These 1).
1.8.3 Arzt und Betreuungsbedürftiger Der Arzt und der Betreuungsbedürftige können sich grundsätzlich in zwei Konstellationen begegnen. Der Arzt kann als Gutachter in Betreuungs- oder Unterbringungssachen (§§ 271–311, 312–339, FamFG [Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit]) tätig werden, oder er hat den Betreuungsbedürftigen zu behandeln. Als Gutachter hat er zunächst darüber zu entscheiden, ob „ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann (§ 1896 Abs. 1 BGB). Die Begutachtung in den unterschiedlichen Verfahrensabschnitten (§§ 1896 Abs. 1 BGB, 280–284, 297 Abs. 6, 298 Abs. 2 und 321 f. FamFG) soll hier nicht weiter behandelt werden (vgl. dazu die Arbeit von Schmidt u. Böcker 1993 a und die Aufsätze von Foerster 1991 und Klemm 1991. Klemm hat einen Satz nützlicher Musterformulare entworfen, die allerdings nicht veröffentlicht sind). Im Folgenden geht es lediglich um die Behandlung Betreuungsbedürftiger oder Betreuter. Dabei ist eine erhebliche Anzahl von Möglichkeiten zu bedenken. Ein Patient, der keinen Betreuer hat, kommt zum Arzt, der feststellt, dass sein Patient entweder einwilligungsfähig ist oder nicht. Weiterhin kann für den Patienten ein Vermögens- oder ein Gesundheitsbetreuer bestellt worden sein. Letzterer kann beim Arztbesuch anwesend sein oder nicht.
1.8.4 Die Zuständigkeit für die Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen z Patienten, für die kein Betreuer bestellt ist Begibt sich ein solcher Patient in ärztliche Behandlung und stellt der Arzt fest, dass er einwilligungsfähig ist, so ergeben sich keinerlei Probleme. Das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit hat der Arzt zu beurteilen, wobei sich – jedenfalls in Zweifelfällen – die Dokumentation der ärztlichen Entscheidung und deren Gründe in der Krankenakte empfiehlt (so auch Ukena 1992, S. 203). Maßgeblich ist der konkrete Zeitpunkt der Einwilligung. Ob die betroffene Person als einwilligungsfähig anzusehen ist, richtet sich nach Art und Ausmaß der jeweiligen ärztlichen Maßnahme und den vorhersehbaren Konsequenzen. „Je komplexer und risikoreicher die Behandlung, desto höher sind die Anforderungen an die Einwilligungsfähigkeit zu stellen“ (Damrau 1994, § 1904 Rn 4; Schwab 2002, § 1904 Rn 11). „So mag Einwilligungsfähigkeit beispielsweise bezüglich der Behandlung durch den Zahn-
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arzt vorliegen, demgegenüber für eine Nierensteinoperation zu verneinen sein“ (Damrau 1994, § 1904 Rn 1, 2). Faustregeln – wie „Im Zweifel für die Einwilligungsfähigkeit“ – lassen sich nicht wohl bilden (Ukena 1992, S. 203). Andererseits dürfen aber auch keine übertriebenen Anforderungen an den Arzt gestellt werden. Spricht aus der Sicht des Arztes nichts für ein Fehlen der Einwilligungsfähigkeit, so kann er ohne weitere Untersuchung davon ausgehen, dass sie vorliegt. Erweist sich später das Gegenteil als richtig, so belastet das den Arzt haftungs- oder strafrechtlich nicht. Eine aus ärztlicher Sicht unvernünftige Behandlungsverweigerung kann ein Indiz für die fehlende Einsichtsfähigkeit sein, muss es aber nicht (vgl. ebd., S. 203 Anm. 13). Anderes gilt allerdings, wenn der Patient als Notfall – etwa unfallbedingt – im Zustand der Bewusstlosigkeit eingeliefert wird. In Eilfällen hilft und rechtfertigt die Geschäftsführung ohne Auftrag. Der Arzt hat die Behandlung durchzuführen, die dem mutmaßlichen Willen (Interesse) des Patienten entspricht. Weiteres hat er nicht zu veranlassen: „Nur kurzfristige Einschränkungen führen nicht zur Betreuerbestellung“ (Schmidt 1992, S. 374). Wird der Patient wieder hergestellt, ist auch nicht etwa eine nachträgliche Betreuerbestellung nötig. Der Patient kann nun für sich selbst entscheiden. Bleibt dem Arzt hingegen Zeit oder wird die Einwilligungsunfähigkeit vermutlich längere Zeit andauern, so hat er beim Familiengericht die Bestellung eines Betreuers durch einstweilige Anordnung gemäß § 300 f. Abs. 1 FamFG zu veranlassen. In dieser Situation kann ein Betreuer ausnahmsweise von Amts wegen bestellt werden, weil der Betreuungsbedürftige seinen Willen nicht äußern kann (§ 1896 Abs. 1 BGB). Persönliche Beziehungen des Betreuers zum Betreuten sind – gleichfalls ausnahmsweise – nicht erforderlich (§ 301 Abs. 2 FamFG). Dem Betreuer wird als Aufgabenkreis zugewiesen, die für die konkret anstehende Heilbehandlung notwendigen Einwilligungen zu erteilen (§ 1896 Abs. 2 BGB). Da in diesen Fällen immer „Gefahr im Verzug“ vorliegt, kann die Bestellung ohne Einhaltung von Formalitäten erfolgen. Bleibt die Bewusstlosigkeit bestehen – das Unfallopfer kommt nicht wieder zu Bewußtsein – so sind die Verfahrenshandlungen unverzüglich nachzuholen. In dem vielerörterten Fall der Erlanger hirntoten Schwangeren gelang die Betreuerbestellung innerhalb weniger Tage (AG Hersbruck, NJW 1992, 3245 mit Anmerkung von Kern MedR 1993, 112), in großen Vormundschaftsgerichten gelingt das sogar innerhalb von Stunden. Sind medizinische Maßnahmen vor der Betreuerbestellung erforderlich, müssen sie selbstverständlich sogleich durchgeführt werden. Findet sich in der Schnelle kein Betreuer, so kann das Familiengericht selbst entscheiden (§§ 1908 i, 1846 BGB – die Anwendung dieser Vorschrift auf die Betreuung ist freilich nicht ohne dogmatische Bedenken und daher in der Literatur umstritten). Weiterhin ist es möglich, dass ein Patient mit einer aktuell nicht notwendig behandlungsbedürftigen Krankheit oder mit einer Erkrankung zum Arzt kommt, deren Behandlung aufschiebbar ist. Stellt der Arzt in dieser Situation fest, dass der Patient nicht einwilligungsfähig ist, so hat er die
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Behandlung zu unterlassen, weil die Betreuerbestellung im normalen Verfahren möglich ist. Fraglich bleibt allerdings, ob und was gegebenenfalls der Arzt unternehmen soll. Er ist ja möglicherweise der einzige, der die Sachlage richtig beurteilen kann. Die Beratung des Patienten über die Notwendigkeit einer Betreuerbestellung dürfte krankheitsbedingt generell zwecklos sein. Zwar kann das Vormundschaftsgericht in dieser Situation von Amts wegen einen Betreuer bestellen (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB), aber es wird ja von sich aus nichts von dem Bedürfnis wissen. Fraglich ist also, ob der Arzt das Gericht oder andere Dritte informieren darf oder sogar muss (vgl. dazu allgemein Kern 1985, S. 54). Eine Hinweispflicht des Arztes ist wohl nicht anzunehmen, hingegen wird eine entsprechende Information von Angehörigen oder des Gerichts nicht als Schweigepflichtverletzung anzusehen sein (vgl. die Entscheidung des BGH, NJW 1968, 2268 zu der vergleichbaren Pflichtenkollision, in der sich ein Arzt befindet, der die Fahruntüchtigkeit seines Patienten erkennt, diesen aber nicht zu überzeugen vermag, nicht mehr mit dem PKW am Straßenverkehr teilzunehmen; s. auch Pardey 1991, Anm. 40, der insoweit von einer Grauzone spricht, S. 59). Die Entscheidung des Arztes wird – je nach den Umständen – stark einzelfallbezogen ausfallen. z Patienten, für die ein Betreuer bestellt ist Kommt ein Patient in ärztliche Behandlung, für den schon ein Betreuer bestellt ist, so sind mehrere Möglichkeiten zu unterscheiden. Ist nur ein Vermögensbetreuer bestellt, so gilt das soeben Gesagte. Ein solcher Betreuer wäre nicht berechtigt, in eine Heilbehandlung einzuwilligen. Von Bedeutung sind also nur Betreuer mit dem Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten des Betreuten“, „Bestimmung der ärztlichen Behandlung“ oder „Einwilligung in eine bestimmte Behandlung“. So kann es etwa ausreichend sein, einen Betreuer zu bestellen, der über die Behandlung einer bestimmten psychischen Erkrankung zu entscheiden hat, wenn der Betreute krankheitsbedingt die Erkrankung und ihre Behandlungsbedürftigkeit nicht erkennen kann, wohl aber in der Lage ist, in die Behandlungen sonstiger Erkrankungen einzuwilligen. Die Zuständigkeit des Betreuers reicht jeweils maximal nur so weit, so weit sie genannt ist. Ist das im Einzelfall unzureichend, so ist die Erweiterung des Aufgabenkreises zu beantragen. Schwierigkeiten ergeben sich aus der Pflicht des Arztes, auch dann nach der Einwilligungsfähigkeit des Patienten zu forschen, wenn ein Betreuer vorhanden ist. Verfügt der Patient selbst über die Einwilligungsfähigkeit, d. h. über die „Reife und Fähigkeit, die Tragweite des ärztlichen Eingriffs für Körper, Beruf und Lebensglück zu ermessen“ und danach selbstverantwortlich Entschlüsse zu fassen (Laufs 1993, S. 113), so ist allein seine Willensäußerung (Einwilligung, Verweigerung) rechtlich maßgeblich. Diese Rechtsregel ist zwar nicht positiv ausgedrückt worden, liegt dem Gesetz aber zu Grunde (so auch Schwab 1990, S. 686 und Coester 1991, S. 7 f.). Ein entsprechender Antrag der Grünen, welcher mit dem Verbot der
1.8 Betreuungsrecht
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Zwangsbehandlung begründet wurde, wurde nicht angenommen: „Der Beistand kann nicht anstelle der/des Beistandsberechtigten in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff einwilligen, wenn der/die Beistandsberechtigte selbst einwilligen kann“ (BT-Dr. 11/6949, S. 72). Fehlt die Einwilligungsfähigkeit, so hat der Arzt die Einwilligung des Betreuers einzuholen, in dessen Aufgabenkreis die ärztliche Behandlung fällt. Der Arzt hat den Betreuer gründlich aufzuklären, daneben aber auch den Patienten, soweit das möglich ist. Darüber hinaus ist § 1904 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen: „Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung (Begriffbestimmungen und Beispiele bei Schreiber 1991, S. 1015 f.) des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.“ Die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts benötigt der Betreuer; er hat sie einzuholen; sie rechtfertigt seine Einwilligung. Aber der Arzt hat sich letztlich davon zu überzeugen, dass sie vorliegt. Unterlässt er das, so kann dieses Unterlassen nicht ohne Einfluss auf die Wirksamkeit der erteilten Einwilligung sein. Es ist nämlich seine Pflicht, sich von dem Vorliegen aller Rechtsfertigungselemente zu überzeugen. Außerdem obliegt ihm gegenüber dem Betreuer (Oberloskamp et al. 1992, S. 118 erwarten vom Betreuer erhebliche medizinische Kenntnisse – es erscheint indessen zweifelhaft, ob hinreichend qualifizierte Betreuer zu finden sein werden) eine Beratungspflicht (so wohl auch Schmidt 1992, S. 380, vgl. dazu allgemein Kern 1991 e) hinsichtlich der Genehmigungsbedürftigkeit im Sinne von § 1904 BGB. Der Betreuer kann in einer solchen Situation aber auch die Beratung des Familiengerichts in Anspruch nehmen (§ 1837 Abs. 1 BGB). Der Formulierung des § 1904 BGB lässt sich jedoch nicht entnehmen, wie hoch die Schwelle liegt, die eine betreuungsgerichtliche Genehmigung nötig macht. Mit anderen Worten: Muss der Betreuer vorsorglich zumindest bei jeder Operation, aber wohl auch bei gewissen Medikationen, um die betreuungsgerichtliche Genehmigung nachsuchen? Für das Beenden lebenserhaltender Maßnahmen ist das Betreuungsgericht nur dann anzurufen, wenn Betreuer und Arzt unterschiedlicher Auffassung sind. Aus der Wortwahl „begründete Gefahr“ lässt sich ableiten, dass es nicht um subjektive Befürchtungen geht, sondern „um objektive – ernstliche und konkrete – Gefahren“ (ursprünglich sollte der Text lauten: „wenn zu befürchten ist“). Damit ist aber noch nicht viel gewonnen. Denn was als Gefahr im Sinne von § 1904 BGB anzusehen ist, bestimmt sich aus zwei Komponenten: zum einen aus der Folge und zum anderen aus dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der diese Folge eintreten wird. Der zur Stel-
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lungnahme aufgeforderte Bundesminister der Justiz (BT-Dr. 11/6949, S. 73, daraus auch zu den folgenden Ausführungen) beschränkte seine Antwort im Wesentlichen auf die Folgen, das heißt auf die Auslegung des Satzteiles „stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet“. „So bedeuten z. B. Risikooperationen, die an herzkranken und aus sonstigen Gründen durch die Operation besonders gefährdeten Patienten vorgenommen werden müssten, eine Lebensgefahr im Sinne der Vorschrift.“ Hingegen soll nicht jede Narkose genehmigungspflichtig sein (BT-Dr. 11/4528, S. 140). Die Gesetzesmaterialien nennen zudem noch „schwere nachteilige Nebenwirkungen von Medikamenten“ (BT-Dr. 11/4528, S. 140; vgl. dazu Schreiber 1991. Ob wirklich alle aufgezählten Medikamente genehmigungspflichtig sind, ist höchst fraglich). Die genannten Beispiele bereiten sicherlich dem Arzt keine Schwierigkeiten. Für ihn schwer zu beurteilen ist indessen die Frage, welcher Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts verlangt wird. Schließlich ist „eine Operation eben eine Operation“, und passieren kann immer etwas (BGH VersR 1980, 68, 70, bezüglich einer Blinddarmoperation; vgl. dazu Kern u. Laufs 1983, S. 118). Nach der Stellungnahme des Bundesministers der Justiz bedeutet „begründete Gefahr“ mehr als „bloße Gefahr“, aber weniger als „dringende Gefahr“ (BT-Dr. 11/6949, S. 73). Auch damit ist wenig gewonnen. Tatsächlich gibt es deutlich weniger Entscheidungen zu § 1904 BGB als angenommen werden sollte. Es besteht der Verdacht, dass häufig von der Genehmigung abgesehen wird, weil mit deren Aufschub Gefahr verbunden ist. Die Vorschrift, die „nur aus einem gewissen Misstrauen gegenüber dem unkontrollierten Zusammenwirken von Betreuer und Arzt zu erklären“ ist (Schwab 1992, § 1904 Rn 1), ist dieser Aufgabe von daher nicht gewachsen.
1.8.5 Vorsorgevollmacht War die Frage der Zulässigkeit der Vorsorgevollmacht nach der Einführung der Betreuung zunächst noch strittig, hat die erste Reform insoweit Klarheit gebracht. Klarheit bedeutet nicht, dass es einen überzeugenden Gesetzestext gibt. Ausgangspunkt für die Zulässigkeit der Vorsorgevollmacht, die vor 1992 in Deutschland jedenfalls verboten war, ist die Subsidiarität der Betreuung. Die Betreuerbestellung ist ultima ratio und nur zulässig, wenn dem Betroffenen nicht auf andere Weise geholfen werden kann. Gemäß § 1896 Abs. 2 BGB darf ein Betreuer „nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Die Betreuung ist nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten . . . ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können.“ Definiert ist die Vorsorgevollmacht damit aber nicht. Unter Vorsorgevollmacht wird die Bevollmächtigung einer Person mit der Erledigung von allen Angelegenheiten oder der von einzelnen Aufgaben verstanden. Proble-
1.8 Betreuungsrecht
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matisch zu entscheiden ist die Frage, ob diese Vorsorgevollmacht erst für den Fall gelten soll, dass der Betroffene „seine Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann“. Für diesen Fall nur ist sie ja gedacht. Dennoch wird allgemein empfohlen, eine unbedingte Vollmacht zu erteilen, weil es sonst schwer feststellbar ist, ob die Bedingung eingetreten ist oder nicht. Allerdings wird das der Arzt vor einer Behandlungsmaßnahme besser feststellen können als z. B. der Kundenberater einer Sparkasse oder einer Bank. Dass die Missbrauchsmöglichkeiten einer unbedingten Vorsorgevollmacht noch größer sind als das Risiko, das jeder Bevollmächtigung innewohnt, liegt auf der Hand. Rechtstatsächlich wird wohl eher wenig Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht. Die Vorsorgevollmacht muss schriftlich abgefasst sein und die genannten medizinischen Maßnahmen ausdrücklich nennen (§§ 1904 Abs. 2, 1906 Abs. 5 BGB). Das gilt sowohl für die Untersuchung des Gesundheitszustandes, für einen Heileingriff oder einen ärztlichen Eingriff (§ 1904 Abs. 1 BGB) als auch für die Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist (§ 1906 Abs. 1 BGB), und für unterbringungsähnliche Maßnahmen (§ 1906 Abs. 4 BGB). In eine Sterilisation darf der Bevollmächtigte nicht einwilligen (§ 1905 BGB). Insoweit ist ein Betreuer erforderlich.
1.8.6 Patientenverfügung Im Folgenden soll noch auf die Patientenverfügung eingegangen werden. Darunter wird eine schriftliche Erklärung mit dem Inhalt, bei einem bestimmten Krankheitsverlauf nicht mehr oder in festgelegter Art und Weise behandelt werden zu wollen, verstanden. Auch dabei handelt es sich um eine andere Hilfe im Sinne von § 1896 Abs. 2 BGB, die der Betreuerbestellung vorgeht. Als wesentliche Norm für die Patientenverfügung ist § 1901a BGB anzusehen. Diese gesetzgebungstechnisch höchst verunglückte Vorschrift legt leider nicht ausdrücklich fest, dass Patientenverfügungen („ein Schriftstück . . . , in dem jemand für den Fall seiner Betreuung Vorschläge zur Auswahl des Betreuers oder Wünsche zur Wahrnehmung der Betreuung geäußert hat“) gültig sind, sondern nur inzidenter, indem sie eine Ablieferungspflicht für derartige Schriftstücke statuiert. Die Vorschrift wird durch § 1901 Abs. 3 BGB ergänzt. Demzufolge hat der Betreuer auch den „Wünschen des Betreuten zu entsprechen“, die „der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat, es sei denn, dass er an diesen Wünschen erkennbar nicht festhalten will“. Ein Gesetzesentwurf für einen neu gefassten § 1901a BGB brächte größere Gewissheit. Absatz 1 des Entwurfs lautet: „Eine Patientenverfügung, in der der Betreute seinen Willen zu Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit geäußert hat, gilt bei Einwilligungsunfähigkeit fort, falls keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betreute
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die Patientenverfügung widerrufen hat.“ Absatz 2 Satz 3 lautet: „Eine vom Betreuten getroffene Entscheidung liegt vor, wenn die Patientenverfügung eine Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe enthält, die auf die konkrete Situation zutrifft.“ Störend an dem Entwurf ist die Verknüpfung zwischen Patientenverfügung und Betreuer, denn eigentlich soll ja die Patientenverfügung die Bestellung eines Betreuers überflüssig machen.
1.8.7 Schluss Die Betreuung entmündigt den Betroffenen nicht, auch wenn der Betreuer sein gesetzlicher Vertreter wird (§ 1902 BGB). Im Rahmen seiner Möglichkeiten bleibt der Betreute selbst entscheidungsbefugt. Im Bereich der Vermögenssorge führt das zu einer unschönen Doppelzuständigkeit zwischen Betreuer und Betreutem. Bei medizinischen Behandlungsmaßnahmen hingegen ist der einwilligungsfähige Betreute allein zuständig. Die Betreuung ist ultima ratio, soll also nur angewendet werden, wenn es keine anderen Hilfen gibt. Solche andere Hilfen sind die Vorsorgevollmacht und die Patientenverfügung. Bei ihrem Vorliegen verbietet sich insoweit eine Betreuerbestellung. Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung schließen sich nicht aus. Es spricht vielmehr alles dafür, beide Möglichkeiten nebeneinander zu ergreifen. So kann der Bevollmächtigte stärker an die geäußerten Wünsche des Betroffenen gebunden werden. Abgerundet wird die Vorsorge für den krankheitsbedingten Verlust der Einwilligungsfähigkeit durch den Vorschlag, eine gewünschte Person zum Betreuer zu bestellen (§ 1897 Abs. 4 BGB). Dabei ist darauf zu achten, dass als Wunschbetreuer und Bevollmächtigter unterschiedliche Personen genannt werden, denn der Wunschbetreuer wird ja nur für den Fall genannt, dass der Bevollmächtigte ausfällt.
1.9
Personenstandsrecht
1.9.1 Personenstandsrecht im engeren Sinne z Gesetzliche Grundlage Das Personenstandsrecht beschäftigt sich mit dem Personenstand, d. h. dem familienrechtlichen, auf Abstammung oder Rechtsakt beruhenden Verhältnis zweier Personen zueinander, auch über den Tod hinaus. Der Personenstand umfasst gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 PStG „Daten über Geburt, Eheschließung, Begründung einer Lebenspartnerschaft und Tod sowie damit in Verbindung stehende familien- und namensrechtliche Tatsachen“. Rechtsgrundlage dafür
1.9 Personenstandsrecht
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ist das Personenstandsgesetz vom 19. 2. 2007, das endgültig zum 1. 1. 2009 in Kraft getreten ist und das PStG von 1875 in der Fassung vom 21. 8. 2002 abgelöst hat. z Personenstandsregister Der Personenstand und seine Veränderungen werden in Personenstandsregistern beurkundet, die vom Standesbeamten geführt werden. Personenstandsbücher werden nicht mehr geführt, sondern elektronische Register, die auch als zentrale Register geführt werden können. Personenstandsregister sind Ehe-, Lebenspartnerschafts-, Geburten- und Sterberegister. Bei ordnungsgemäßer Führung beweisen sie die in ihnen enthaltenen Angaben (§ 54 PStG) und bilden die Grundlage für die Ausstellung von Personenstandsurkunden (§ 55 PStG): Ehe-, Lebenspartnerschafts-, Geburts- und Sterbeurkunden. Berechtigte haben Anspruch auf Einsicht in die Personenstandsbücher (§ 62 Abs. 2 u. 3 PStG). Nach § 55 PStG werden Personenstandsurkunden aus allen Personenstandsregistern ausgestellt. Als wesentliche Neuerung im Zuge der Reform des Personenstandsrechts ist die Abschaffung des Familienbuches anzusehen, das für alle familienrechtlichen Fragen von größter Bedeutung war. Die Familienbücher werden ab dem 1. 1. 2009 gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 PStG als Heiratseinträge fortgeführt. Auch den weiteren Umgang mit den früheren Familienbüchern regelt § 77 PStG. Die Funktionen des Familienbuches haben weitgehend die Eheregister übernommen (§§ 15, 16 PStG). Gemäß § 15 Abs. 1 PStG sind alle für die Eheschließung relevanten Umstände zu beurkunden: Tag und Ort der Eheschließung, Vornamen und Familiennamen der Ehegatten, Ort und Tag ihrer Geburt und die nach der Eheschließung geführten Familiennamen der Ehegatten. Auf Wunsch eines Ehegatten kann seine rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die Körperschaft öffentlichen Rechts ist, beurkundet werden. Gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 2 PStG kann auf die Staatsangehörigkeit der Ehegatten hingewiesen werden, wenn sie nicht Deutsche sind. Zu diesem Eheeintrag werden nach § 16 PStG Folgebeurkundungen über den Tod der Ehegatten, ihre Todeserklärung oder die gerichtliche Feststellung der Todeszeit sowie die Aufhebung solcher Beschlüsse, die Aufhebung oder Scheidung der Ehe, die Feststellung des Nichtbestehens der Ehe, jede Namensänderung der Ehegatten, jede sonstige Änderung des Personenstandes und Berichtigungen aufgenommen Für das Lebenspartnerschaftsregister gelten nach § 17 PStG die Vorschriften über das Eheregister entsprechend. Weiterhin ist ein Geburtenregister zu führen. Die Geburt eines Kindes ist dem Standesbeamten, in dessen Zuständigkeitsbereich es geboren wurde, innerhalb einer Woche anzuzeigen (§ 18 Abs. 1 S. 1 PStG). Eine Totgeburt ist spätestens am dritten auf die Geburt folgenden Werktag anzuzei-
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gen (§ 18 Abs. 1 S. 2 PStG). Das Gesetz sieht strenge Anzeigepflichten vor (§§ 19, 20 PStG) und legt deren Reihenfolge fest (§ 19 PStG). In das Geburtenregister sind einzutragen: Vor- und Familienname des Kindes (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 PStG), Ort, Tag, Stunde und Minute der Geburt (Nr. 2), das Geschlecht des Kindes (Nr. 3), die Vornamen und der Familienname der Eltern (Nr. 4). Die §§ 22 bis 26 PStG regeln Sondersituationen wie fehlende Vornamen (§ 22 PStG), Zwillings- oder Mehrlingsgeburten (§ 23 PStG), Findelkinder (§§ 24, 26 PStG) und Personen mit ungewissem Personenstand (§§ 25, 26 PStG). Auch die Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft ist einzutragen (§ 297 Abs. 1 PStG). Außerdem sind nach § 27 Abs. 3 PStG Folgebeurkundungen, insbesondere über Änderungen des Personenstandes des Kindes aufzunehmen. Auch der Tod eines Menschen ist spätestens am dritten auf den Tod folgenden Werktag anzuzeigen (§ 28 PStG). Nach § 31 Abs. 1 PStG sind im Sterberegister die Vornamen und der Familienname des Verstorbenen, Ort und Tag seiner Geburt, der letzte Wohnsitz und der Familienstand des Verstorbenen sowie Ort, Tag, Stunde und Minute des Todes zu beurkunden.
1.9.2 Transsexuellenrecht z Gesetzliche Grundlage Große Bedeutung kommt dem Personenstandsrecht auch für das Transsexuellenrecht zu, das im „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG)“ vom 10. 9. 1980, zuletzt geändert durch das TSGÄndG vom 19. 6. 2009, geregelt ist. Das Gesetz beruht auf der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, dass die Geschlechtszugehörigkeit nicht allein nach den physischen Geschlechtsmerkmalen bestimmt werden kann, sondern vielmehr wesentlich auch von der psychischen Konstitution des Betroffenen und seiner selbst empfundenen Geschlechtlichkeit abhängt (BVerfG FamRZ 2006, 182). Das Gesetz unterscheidet zwischen einer kleinen (§§ 1–7 TSG) und einer großen Lösung (§§ 8–12 TSG). z Kleine Lösung – Namensänderung Die kleine Lösung besteht in einer Namensänderung. Die Voraussetzungen für die Änderung des Vornamens sind in § 1 TSG geregelt. Die Vornamen sind vom Gericht auf Antrag der betroffenen Person zu ändern, wenn „sie sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“ (§ 1 Abs. 1 TSG). Weiterhin muss mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, „dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“ (§ 1 Abs. 1
1.9 Personenstandsrecht
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Nr. 2 TSG). Die Person muss Deutscher sein oder als Staatenloser, heimatloser Ausländer, Asylberechtigter, ausländischer Flüchtling oder als Ausländer, dessen Heimatrecht keine diesem Gesetz vergleichbare Regelung kennt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz in Deutschland haben (§ 1 Nr. 3 a–d TSG). Die Ausländer, deren Heimatrecht keine vergleichbare Regelung kennt, müssen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht oder eine verlängerbare Aufenthaltserlaubnis besitzen und sich dauerhaft rechtmäßig in Deutschland aufhalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 d TSG). Für einen Geschäftsunfähigen führt der Vormund oder Betreuer das Verfahren. Er bedarf dazu der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts (sic!) (§ 3 Abs. 1 TSG). Die Entscheidung, einen neuen Vornamen zu führen, wird unwirksam, wenn nach Ablauf von 300 Tagen nach der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung ein Kind des Antragstellers geboren wird, er nach dem Ablauf von 300 Tagen die Vaterschaft anerkennt oder sie gerichtlich festgestellt wird (§ 7 Abs. 1 Nrn. 1 – 2 TSG). § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG, demzufolge das Führen des geänderten Vornamens unwirksam ist, wenn der Antragsteller eine Ehe schließt, ist verfassungswidrig (BVerfG FamRZ 2006, 182). Entweder muss dieser Teil der Vorschrift ersatzlos gestrichen werden oder das Lebenspartnerschaftsgesetz muss entsprechend geändert werden. Die letzte Reform des Jahres 2008 hat dieses Problem nicht gelöst. Fühlt sich der Antragsteller wieder dem Geschlecht zugehörig, das in seinem Geburtseintag angegeben ist, so hat das Gericht die Entscheidung, durch die der Vorname geändert worden ist, wieder aufzuheben (§ 6 Abs. 1 TSG). z Große Lösung – Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit Von der großen Lösung wird gesprochen, wenn der Antragsteller sich einem, die „äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“ (§ 8 Abs. 1 Nr. 4 TSG). In einem solchen Fall hat das Gericht festzustellen, dass eine Person als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nrn. 1–3 TSG vorliegen. Weitere Voraussetzungen ist, dass der Betroffene dauernd fortpflanzungsunfähig ist (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 TSG). Von der Rechtskraft der Entscheidung an richten sich die geschlechtsabhängigen Rechte des Antragstellers nach dem neuen Geschlecht (§ 10 Abs. 1 TSG). § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG war verfassungswidrig und nicht anwendbar (BVerfGE v. 27. 5. 2008–1 BvL 10/05). Der Bundestag hat diese Norm am 19. 6. 2009 gerade noch fristgerecht (1. 8. 2009) aufgehoben. Das bedeutet, dass es nach Geschlechtsumwandlungen in Zukunft gleichgeschlechtliche Ehen geben wird, obwohl § 1 Abs. 1 S. 1 LPartG vorsieht, dass gleichgeschlechtliche Partner eine Lebenspartnerschaft schließen können. Den logisch notwendigen Schluss, dass sich in den Fällen des § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG a. F. die bestehende Ehe in eine Lebenspartnerschaft umwandelt, hat das Gesetz nicht gezogen.
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1.10 Die Stellung des Sachverständigen im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit 1.10.1 Einleitung z Die Bedeutung des Gutachtens im Prozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Der gewöhnliche Zivilprozess steht und fällt mit dem Sachverständigengutachten. Nach ständiger Rechtsprechung darf beispielsweise kein Gericht einen Behandlungsfehlerprozess ohne ärztliches Gutachten entscheiden (zuletzt OLG Koblenz ArztR 2006, 137). Kein Jurist, und sei er noch so lange mit bestimmten Verfahren beschäftigt, hat hinreichende Sachkenntnis, um derartige Fragen ohne sachverständige Hilfe entscheiden zu können. Das gilt für das Verfahren in der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend. z Gesetzliche Grundlagen Gesetzliche Regeln zur Beweisführung durch den Sachverständigen finden sich in allen Gerichtsordnungen, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung. Den größten Normenbestand weisen ZPO (§§ 402–414) und StPO (§§ 72–84) auf. Hingegen verweisen VwGO (§ 98) und SGG (§ 118 Abs. 1) pauschal auf die Regelungen der ZPO, das FamFG (§ 29) teilweise. Die Unterschiede zwischen ZPO und StPO ergeben sich im Wesentlichen aus den unterschiedlichen Verfahrensgrundsätzen. Einzelne Vorschriften der ZPO, wie z. B. § 407 a, gelten sinngemäß auch im Strafprozess. z Pflicht zur Erstellung eines Gutachtens? Wird ein Sachverständiger von einem Gericht mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, ist er grundsätzlich verpflichtet, das Gutachten zu erstellen, wenn er im Sinne des § 407 ZPO zur Ausführung seines Berufes „öffentlich bestellt oder ermächtigt“ ist. Unter bestimmten Umständen kann der Gutachter von dieser Pflicht befreit werden; das gilt nicht nur bei Vorliegen eines Befangenheitsgrundes (§§ 406 Abs. 1, 42 Abs. 1 ZPO), sondern auch bei Überlastung (§ 408 ZPO).
1.10.2 Aufbau des Gutachtens 1. Auftrag z Prüfung der Kompetenz und Unbefangenheit z Bindung an die Beweisfrage z Kopf des Gutachtens und Wiedergabe der Beweisfrage
1.10 Sachverständige im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit
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2. Grundlagen der Begutachtung Gerichtsakten (nebst Beiakten) z Durchgeführte Untersuchungen z Sonstige Erkenntnisquellen z Stellungnahme der Parteien bei streitigem Sachverhalt z Anregungen zur Ergänzung der Beweisaufnahme 3. Sachverhalt z Beschreibung des Geschehens z Auffälligkeiten, Widersprüche und Lücken in den Unterlagen 4. Bewertung des Vorgehens z Standard – Übernahmeverschulden z Umgang mit DIN-Normen, Leitlinien, Empfehlungen und dergleichen z Kausalität des Geschehens für den eingetretenen Schaden z Beweislast und Umkehr der Beweislast z Umfang des Schadens und Prognose für die weitere Entwicklung 5. Zusammenfassung 6. Eidliche Versicherung 7. Unterschrift z Übernahme der vollen Verantwortung des Unterzeichnenden für das gesamte Gutachten z Kollegialgutachten z Namentliche Bezeichnung von Hilfspersonen unter Angabe von Art und Umfang ihrer Mitarbeit 8. Mündliche Verhandlung
1.10.3 Zum Gutachten z Aufbau und Inhalt des Gutachtens Es gibt keine gesetzlichen Vorschriften für Aufbau und Inhalt von Gerichtsgutachten. Oft wird die Gestaltung des Gutachtens von der Beweisfrage abhängen. In jedem Fall muss das Gutachten objektiv und ausgewogen, von der Fachkunde seines Verfassers getragen, in sich schlüssig und verständlich abgefasst sein. Unter keinen Umständen darf ein Gefälligkeitsgutachten erstattet werden, auch nicht in einem – durchaus nicht ehrenrührigen – Privatgutachten.
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z Obergutachter? Obergutachten gibt es nicht, auch wenn zuweilen sogar der BGH diesen Begriff verwendet. Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist nach § 412 ZPO erforderlich, wenn die Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn es Widersprüche enthält, wenn der neue Sachverständige über Forschungsmöglichkeiten verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen zu sein scheinen, oder wenn ein Gutachten für ein Strafverfahren nicht alle für den Zivilprozess entscheidungserheblichen Fragen klärt (KG ArztR 2006, 10). Die Beauftragung eines weiteren Gutachters steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Zunächst wird – bei Zweifeln – regelmäßig eine ergänzende Stellungnahme des Gutachters eingeholt. z Prüfung der Kompetenz Der Sachverständige hat gemäß § 407 a Abs. 1 ZPO unverzüglich nach Eingang seines Auftrages zu prüfen, ob er für dessen Erledigung die erforderliche Fachkunde und eigene Erfahrung besitzt. Auch das Alter beziehungsweise der Umstand, wie lange ein Gutachter nicht mehr praktisch tätig war, können insoweit eine Rolle spielen. Dabei kann nicht automatisch der schon längere Zeit im Ruhestand lebende Gutachter als ungeeignet angesehen werden. Handelt es sich z. B. um die Frage, wie eine standardmäßige ärztliche Behandlung vor 15 Jahren aussah, kann er geeigneter sein als ein jüngerer aktiver Kollege. In allen Verfahren trifft den Gutachter die Pflicht, auf seine fehlende Sachkunde hinzuweisen. Es schadet seinem Ansehen nicht im Geringsten, wenn er mitteilt, dass die Begutachtung ein Spezialwissen voraussetzt, das nicht zu seinem Fachgebiet gehört (BT-Drs. 11/3621, S. 40). Andererseits verliert der Gutachter seine Glaubwürdigkeit, wenn er mangelnde Kompetenz zu verbergen sucht (Ulrich 2007, S. 195 f.). Hält der Gutachter sich nicht für kompetent, darf er keinesfalls von sich aus den Auftrag ganz oder teilweise auf andere übertragen, also auch keine Zusatzgutachten eines anderen Faches einholen. Er hat vielmehr unverzüglich das Gericht zu verständigen und es diesem zu überlassen, einen anderen oder weiteren Gutachter zu bestellen (§ 407 a Abs.1 und 2 S. 1 ZPO). Dabei wird vom Gutachter nicht verlangt, dass er das andere Fachgebiet bezeichnet und dafür geeignete Sachverständige benennt. Ein solcher Hinweis kann aber eine wertvolle Anregung für das Gericht sein und zur Förderung und Beschleunigung des Verfahrens beitragen (Ulrich 2007, S. 195 f.; KG ArztR 2006, 102). Andererseits hat auch der Richter zu überprüfen, ob der Gutachter nicht die Grenzen seiner Fachkompetenz überschreitet (Schlund 2002, S. 1056).
1.10 Sachverständige im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit
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z Prüfung der Unbefangenheit Die Gerichte haben zu prüfen, ob der Sachverständige unbefangen ist. Die Gerichte neigen dazu, die Anforderungen an die Befangenheit eher sehr hoch zu veranschlagen und werden einen Gutachter demzufolge nur ausnahmsweise für befangen halten. Ebenso hat der Gutachter selbst stets gewissenhaft zu prüfen, ob er beiden Prozessparteien gegenüber die gebotene Unbefangenheit besitzt. Vorhandene Zweifel sind spontan dem Gericht mitzuteilen. Aber auch dann, wenn sich der Gutachter selbst für unbefangen hält, hieran aus der Sicht einer Partei aber Zweifel bestehen können, empfiehlt sich mit der Auftragsbestätigung eine Mitteilung an das Gericht etwa in folgender Form: „Ich bin zur Übernahme des Auftrags bereit, halte mich auch für unbefangen, mache aber vorsorglich darauf aufmerksam, dass (z. B.) z der Kläger früher in meiner Behandlung war, z ich für den Beklagten mehrfach Privatgutachten erstattet habe, z ich mit dem Beklagten bei der gemeinsamen Herausgabe von Fachliteratur zusammenarbeite, z im Studium/in der Weiterbildung zum Beklagten ein Lehrer-Schüler-Verhältnis bestanden hat, z der Beklagte bei mir einen Fortbildungskurs besucht, z der Beklagte regelmäßiger „Zulieferer“ meiner Klinik ist, z ich mich mit dem Beklagten seit meiner Weiterbildung duze, z dass eine intime Feindschaft gegenüber dem Beklagten besteht, z ich selbst zurzeit in einen Haftpflichtprozess verstrickt bin.“ Nach dieser Anzeige kann der Gutachter abwarten, ob hierauf erfolgreich ein Ablehnungsantrag gestützt wird, oder ob das Gericht ihm von Amts wegen den Auftrag entzieht. Ergibt sich der Ablehnungsgrund erst im Laufe des Verfahrens aus dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens, muss der Partei eine angemessene Zeit zur Überlegung und zur Einholung von rechtlichem Rat zur Verfügung stehen (BGH ArztR 2006, 102). Da der Gutachter als Gehilfe des Gerichts zur strengen Objektivität und Sachlichkeit verpflichtet ist, muss er auch auf Kritik an seinem Gutachten sachlich reagieren (OLG Zweibrücken NJW 1998, 912, 913). Verletzt ein Gutachter diese Pflicht, kann er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden (OLG Oldenburg ArztR 2006, 78; aA OLG Frankfurt/M. GesR 2006, 217). Weigert sich der Gutachter im Arzthaftpflichtprozess aus unsachlichen Gründen, die körperliche Untersuchung des zu Begutachtenden in Anwesenheit einer Vertrauensperson des zu Untersuchenden durchzuführen, begründet diese Weigerung seine Befangenheit (LSG Rheinland-Pfalz NJW 2006, 1547, 1548).
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z Bindung an die Beweisfrage Hat der Gutachter Zweifel an Inhalt und Umfang des Auftrages, soll er sich zur Klärung mit dem Gericht in Verbindung setzen und von diesem den Auftrag erläutern lassen (§ 407 a Abs. 3, § 404 a Abs. 2 ZPO). Gleiches gilt, wenn er eine Änderung oder Ergänzung der Beweisfrage anregen will. Insgesamt handelt es sich hier um eine schwierige Gratwanderung für den Gutachter. Er muss einerseits dafür sorgen, dass die Sachaufklärung gelingt, andererseits darf er nicht eine unschlüssige Klage zu einer schlüssigen machen. Ist die Beweisfrage entsprechend dem Klagevorwurf auf ein bestimmtes ärztliches Vorgehen (z. B. Fehler bei der Operation) gerichtet, sieht der Gutachter jedoch nicht hierin, sondern in einem anderen Verhalten (z. B. Diagnose, Indikation oder Nachsorge) einen möglichen Behandlungsfehler, soll er beim Gericht Rückfrage halten, ob und wie er das im Gutachten zum Ausdruck bringen soll. Richter und Gutachter haben gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Sachaufklärung „auf den Punkt“ kommt. Das OLG Frankfurt/M. hat einen Gutachter für befangen erklärt, der das Gericht auf von ihm behauptete, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ergründete Organisationsfehler hingewiesen hat (OLG Frankfurt/M. GesR 2006, 217; vgl. dazu Ratzel 2006, S. 384). z Auffälligkeiten, Widersprüche und Lücken in den Krankenpapieren Auffälligkeiten, Widersprüche oder Lücken in den Unterlagen sind im Gutachten hervorzuheben. In einem solchen Falle darf keinesfalls mit Unterstellungen gearbeitet werden. Keinesfalls darf der Gutachter Kontakt zu einer der Parteien aufnehmen, um derartige Umstände zu klären. z Verhalten bei streitigem Sachverhalt Liegen einander widersprechende Aussagen oder Erklärungen vor, muss der Gutachter – wie auch sonst bei streitigem Sachverhalt – den Richter fragen, welche Tatsachen er dem Gutachten zu Grunde legen soll (§ 404 a Abs. 3 ZPO). Findet diese Vorklärung zunächst nicht statt, ist im Gutachten mit Alternativaussagen zu arbeiten. z Anregungen zur Ergänzung der Beweisaufnahme Bestehen Unklarheiten, die sich möglicherweise durch informatorische Anhörung, Zeugen- oder Parteivernehmung beheben lassen, soll der Gutachter den Richter rechtzeitig darauf hinweisen, damit nach Möglichkeit die Grundlage seines Gutachtens verbessert werden kann. Er darf sich auch nicht scheuen, die nochmalige Vernehmung eines schon vernommenen Zeugen anzuregen, wenn diesem aus seiner Sicht noch Fragen zu stellen sind, die zur Sachaufklärung geboten sind.
1.10 Sachverständige im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit
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z Umgang mit anderen Gutachten Findet der Gutachter in den Gerichtsakten oder auch in Beiakten schon ein anderes Gerichts- oder Privatgutachten vor, so hat er sich sachlich damit auseinanderzusetzen. Gelangt er zu einem abweichenden Ergebnis, hat er es in Auseinandersetzung mit den anderen Gutachten zu begründen. z Stellungnahme zu Rechtsfragen Der Gutachter ist Gehilfe des Gerichts, nicht selbst entscheidender Richter. Er hat sich daher nicht zu Rechtsfragen zu äußern und damit auch nicht zur Haftungsfrage. Es gehört zum richterlichen Entscheidungsreservat, ob den Arzt der Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft. z Mündliche Verhandlung Wird der Gutachter zur mündlichen Verhandlung geladen, so soll er sich anhand des schriftlichen Gutachtens gut vorbereiten. Dazu gehört das nochmalige Anfordern der Gerichtsakten, wenn das Gericht sie nicht schon mit der Ladung von sich aus geschickt hat. Der Gutachter soll sich auf die zu erwartenden Einwendungen der Rechtsanwälte oder Parteien einstellen. Gutachter neigen dazu, Angriffe von Juristen als persönliche Kränkungen aufzufassen. Den Juristen sei daher etwas Mäßigung anempfohlen, den Medizinern die Kenntnis der Rechtsprechung des BVerfGs, derzufolge es Rechtsanwälten erlaubt ist, „die Sachkunde eines Sachverständigen zu kritisieren“ (BVerfGE 76, 171, 192), wobei sie durchaus polemisch sein dürfen. „Ein Rechtsanwalt darf im Rahmen seiner Berufsausübung . . . auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen und sogar ,ad personam‘ argumentieren“ (BVerfG NJW 2003, 3263). „Der Rechtsanwalt hat als Organ der Rechtspflege und als berufener Berater und Vertreter der Rechtsuchenden die Aufgabe, zum Finden einer sachgerechten Entscheidung beizutragen und die rechtsunkundige Partei vor der Gefahr eines Rechtsverlustes zu schützen. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben erlaubt es dem Anwalt, nicht immer schonend mit den Verfahrensbeteiligten umzugehen.“ Für den Gutachter gilt es, jeden Kontakt zu den Parteien vor, während und nach der mündlichen Verhandlung zu vermeiden. Auch das Duzen von Kollegen sollte unterbleiben.
1.10.4 Schluss Juristen müssen sich bei der Beurteilung von unterschiedlichen Sachverhalten auf Sachverständige verlassen (BGH NJW 2002, 2944). Sie können und dürfen nicht ohne sachverständigen Rat entscheiden, sollen aber andererseits den Gutachter auch nicht überfordern. Der Gutachter darf nicht zum
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Herrn des Verfahrens werden. Ihm muss klar sein, dass er fachliche Fragen beantworten soll, nicht juristische. Der Gutachter muss sich, wie der Richter, immer der Gefahr bewusst sein, dass er nicht nur einen konkreten Fall entscheidet, sondern möglicherweise Maßstäbe für die Zukunft setzt. Von daher ist es ebenso gefährlich, wenn der Gutachter nach der Krähentheorie seinen Kollegen aus falsch verstandener Kollegialität deckt, wovor der BGH noch im Jahre 1975 (BGH NJW 1975, 1463) warnte, wie wenn er übertrieben hohe Anforderungen stellt (OLG Hamm MedR 2006, 111).
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2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit und verwandter Themenbereiche E. Habermeyer Die gesetzlichen Bestimmungen zur Geschäftsunfähigkeit stellen einen zentralen Punkt der zivilrechtlichen Bestimmungen dar, deren Anwendung eine psychiatrische Begutachtung erforderlich machen kann. In den Bestimmungen zur Testier-, Delikts-, Prozess- und Ehefähigkeit wird Bezug auf die Geschäftsfähigkeit genommen. Es bietet sich daher an, zuerst diesen grundlegenden Themenbereich zu erörtern: Dabei wird zunächst ein gutachterlicher Ansatz zur Bearbeitung dieser zentralen Fragestellung entwickelt. Im Anschluss werden zugehörige gutachterliche Argumentationen bei unterschiedlichen psychischen Störungen beziehungsweise Störungsgruppen erörtert. Nachfolgend werden die erarbeiteten Grundlagen im Kontext der Testier-, Prozess- beziehungsweise Deliktsfähigkeit und des Eherechtes dargestellt. Dabei geht es weniger um das grundsätzliche Vorgehen als vielmehr um die Darstellung von Besonderheiten der jeweiligen Fragestellung. Die nachfolgenden Erörterungen zur Geschäftsfähigkeit sind daher als grundlegend für den gesamten Abschnitt anzusehen.
2.1
Geschäftsfähigkeit
2.1.1 Rechtliche Grundlagen der Geschäftsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht Unabhängig von ihrer psychischen und insbesondere intellektuellen Konstitution sind gesunde Personen über 18 Jahre voll geschäftsfähig (§ 2 BGB). Eine Abstufung der Geschäftsfähigkeit nach Durchschaubarkeit beziehungsweise Komplexität eines Rechtsgeschäftes oder des intellektuellen Leistungsvermögens der Geschäftspartner wird nicht vorgenommen (BGH NJW 1953, 1312; BGH NJW 1970, 1680). Der Gesetzgeber sieht also jeden Erwachsenen in der Pflicht, sich von Geschäften, deren Schwierigkeitsgrad den eigenen Wissenshorizont überschreitet, fernzuhalten oder die mit fehlender Vorsicht beziehungsweise Selbstbeschränkung verbundenen Risiken zu tragen. Ebenfalls nicht vorgesehen ist eine Abstufung der Geschäfts-
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2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit
fähigkeit entsprechend der verminderten Schuldfähigkeit des § 21 StGB. Es kann also bei der Beurteilung der Geschäftsfähigkeit nur um eine kategoriale (Alles-oder-Nichts-) Entscheidung gehen. Dies ist aus psychiatrischer Sicht nicht unproblematisch, da solche „Alles oder Nichts“ Entscheidungen in der Psychiatrie selten möglich sind. So ist z. B. mit der Aussage, dass eine Demenz besteht, noch keine eindeutige Festlegung bezüglich des Schweregrades dieser Störung und insbesondere deren Auswirkungen auf die Kritik- und Urteilsfähigkeit in einer bestimmten Situation getroffen. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass es bei der Begutachtung nicht nur auf die Beantwortung der Frage ankommen kann, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht. Erforderlich sind differenzierte Überlegungen zum Schweregrad der Störungen und zu ihren Auswirkungen auf das zur Verhandlung stehende Rechtsgeschäft. Diese komplexe Argumentation muss dann, um von Geschäftsunfähigkeit sprechen zu können, auf eine kategoriale Ja-oder-nein-Entscheidung verkürzt werden. Ist keine eindeutige Entscheidung möglich, besteht Geschäftsfähigkeit.
2.1.2.1 Geschäftsunfähigkeit/Nichtigkeit einer Willenserklärung § 104 BGB führt aus, dass lediglich derjenige geschäftsunfähig ist, der entweder das siebte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Die Fähigkeit zur Willensbestimmung muss aufgehoben sein, eine Beeinflussung oder Beeinträchtigung reicht zur Feststellung der Geschäftsunfähigkeit nicht aus. Darüber hinaus ist unter Ziffer 2 des § 104 BGB gefordert, dass der krankhafte Zustand, der zum Ausschluss der freien Willensbestimmung geführt hat, seiner Natur nach nicht „vorübergehend“ sein darf. Zur Annahme der Geschäftsunfähigkeit ist also das Vorliegen einer überdauernden Erkrankung mit Auswirkungen auf die voluntativen Fähigkeiten des Betroffenen erforderlich. Willenserklärungen eines Geschäftsunfähigen sind nichtig, das getätigte Rechtsgeschäft ist somit ungültig. Eine geschäftsunfähige Person ist vom Rechtsverkehr ausgeschlossen. Sie kann keine Geschäfte, also auch keine für sie positiven oder ertragbringenden, tätigen (RG JW 1937, 35). Streng genommen waren bis 2002 selbst Alltagsgeschäfte, wie z. B. der Kauf eines Brötchens, unwirksam. Mittlerweile sieht § 105 a BGB jedoch vor, dass ein volljähriger Geschäftsunfähiger ein Geschäft des täglichen Lebens rechtswirksam tätigen kann, wenn es nicht mit Gefahren für Person oder Vermögen des Betroffenen verbunden ist (Baldus 2005, § 105 a Rn 11, 24). Bis zum Beweis des Gegenteils gilt jeder Erwachsene als geschäftsfähig. Der Beweis der Geschäftsunfähigkeit muss von demjenigen geführt werden, der sie behauptet. Dazu wird in der Regel ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt, obwohl die Rechtsprechung auch Gutachter akzeptiert, die „aufgrund ihrer Ausbildung und praktischen Erfahrungen geistige Erkrankungen zu beurteilen vermögen“ (ebd., § 104 Rn 19). Der Beweis einer Geschäftsunfähigkeit im naturwissenschaftlichen Sinne ist für
2.1 Geschäftsfähigkeit
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den Psychiater jedoch schwierig umzusetzen. Schließlich lässt sich ein sicherer Nachweis für das Vorliegen einer psychischen Störung, z. B. über Laborkonstellationen oder mittels bildgebender Verfahren, nicht in jedem Fall führen. Außerdem geht es nicht um den Nachweis einer Organschädigung, sondern um die retrospektive Beurteilung psychischer Funktionseinbußen. Der Gutachter ist daher gezwungen, anhand der Aktenlage und Angaben der Probanden eine Rekonstruktion des psychopathologischen Befundes vorzunehmen und auf dieser Basis zu beurteilen, ob bei Abschluss des Rechtsgeschäftes eine psychische Störung vorlag und ob diese mit gravierenden Defiziten einherging. Vor diesem Hintergrund kann es nur um die an Sicherheit grenzende beziehungsweise hochgradige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer psychischen Störung mit Auswirkungen auf die freie Willensbestimmung gehen (RGZ 162, 223). Bei den gesetzlichen Bestimmungen zu den Folgen der Geschäftsunfähigkeit (§ 105 BGB) wird unter Ziffer 2 ausgeführt, dass auch eine „Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird“, nichtig ist. Letztendlich finden also auch vorübergehende Störungsbilder, die unter § 104 BGB ausgeschlossen werden mussten, Berücksichtigung. Die unter dem Begriff der vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit erfassten reversiblen psychischen Störungen müssen die freie Willensbestimmung ebenfalls in Gänze ausschließen. Auch hier ist die Minderung oder Schwächung der Willenskräfte nicht geeignet, zur Nichtigkeit einer Willenserklärung zu führen (RG JW 1936, 1205).
2.1.1.2 Beschränkte Geschäftsfähigkeit des Minderjährigen Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass sich in den gesetzlichen Bestimmungen zwischen dem vollendeten siebten und dem 18. Lebensjahr ein Bereich auftut, in dem Geschäftsfähigkeit nicht ausgeschlossen, aber auch nicht gänzlich bejaht wird. Minderjährige gelten in dieser Altersspanne als beschränkt geschäftsfähig. Sie können lediglich vorteilhafte Geschäfte wirksam eingehen. Mit Rechtsverpflichtungen verbundene Geschäfte sind jedoch an die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters gebunden (§ 107 BGB). Ausnahmen ergeben sich durch die Regelungen des § 110 BGB („Taschengeldparagraf“). Demnach können Minderjährige mit vom gesetzlichen Vertreter überlassenen Geldbeträgen rechtswirksam Käufe tätigen, wenn diese dem Willen des gesetzlichen Vertreters nicht entgegenstehen. Dabei muss die Kaufsumme direkt erstattet werden, wodurch Kreditgeschäfte ausgeschlossen werden (Heinrichs 2005, § 110 Rn 4).
2.1.1.3 Verhältnis Betreuung/Geschäftsfähigkeit Die für den Minderjährigen geltende Rechtsfigur der beschränkten Geschäftsfähigkeit zeigt Parallelen zu den Auswirkungen einer gesetzlichen Betreuung auf die Geschäftsfähigkeit. Im Unterschied zu den früheren ge-
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setzlichen Regelungen zur Vormundschaft hat die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers keinen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit (Flume 1992). Ein Geschäftsunfähiger bedarf jedoch einer Betreuung, damit in seinem Interesse rechtswirksame Handlungen vorgenommen werden können. Demgegenüber muss seit Reform des Betreuungsgesetzes 1992 im Betreuungsverfahren die Frage der Geschäftsfähigkeit nicht mehr geprüft werden (Klüsener u. Rausch 1993). Daher kann das Bestehen einer Betreuung, selbst wenn sie den Bereich der Vermögensangelegenheiten abdeckt, nicht als Beweis für die Geschäftsunfähigkeit eines Betreuten angesehen werden (Habermeyer u. Saß 2002 b). Dies gilt auch für den Einwilligungsvorbehalt, der zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für Person oder Vermögen des Betreuten und ausschließlich zu seinem Schutz dient (Zimmermann u. Damrau 1991). Während der Geschäftsunfähige vom Rechtsverkehr ausgeschlossen ist, kann der Betreute trotz Einwilligungsvorbehalt Alltagsgeschäfte regeln. Betreute benötigen für darüber hinausgehende Geschäfte, die den Aufgabenkreis der Betreuung betreffen, allerdings die Zustimmung des Betreuers. Diese Regelung ist jedoch nicht mit Geschäftsunfähigkeit gleichzusetzen. Vielmehr zeigt sie Ähnlichkeiten mit der beschränkten Geschäftsfähigkeit Minderjähriger (Bienwald 1992; Heinrichs 2005, Vor § 104 Rn 2 a): Von einem Betreuten getroffene Entscheidungen bleiben nämlich so lange schwebend ungültig, bis der Betreuer zustimmt oder sie ablehnt. Erst im Falle der Ablehnung ist das Geschäft nichtig.
2.1.2 Resultierende psychiatrische Fragestellungen In Zusammenhang mit der Geschäftsfähigkeit kommt dem Begriff „Wille“ entscheidende Bedeutung zu. Die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung soll nämlich sowohl für die krankhaften Störungen der Geistestätigkeit des § 104 BGB als auch für die Bewusstlosigkeit oder die vorübergehende Störung der Geistestätigkeit des § 105 BGB aufgehoben sein. Somit muss vor Erörterung der Fragen, welche psychischen Störungen als „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ verstanden werden können und welche davon den Voraussetzungen des § 104 BGB beziehungsweise 105 BGB zuzuordnen sind, eine Auseinandersetzung mit diesem komplexen und schwer zu definierenden Begriff erfolgen. Danach gilt es festzulegen, welche psychopathologischen Phänomene geeignet sind, die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Fähigkeit zur freien Willensbestimmung aufzuheben. Außerdem ist offen, was unter einer „krankhaften“ beziehungsweise „nicht vorübergehenden“ Störung der Geistestätigkeit zu verstehen ist. Insgesamt ergeben sich somit vier zentrale psychiatrische Fragestellungen: 1. Was ist aus psychiatrischer Sicht unter „freier Willensbestimmung“ zu verstehen und wie kann mit diesem juristischen Begriff umgegangen werden? 2. Welche Symptome psychischer Erkrankungen können zum Ausschluss der „freien Willensbestimmung“ führen?
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3. Welche Störungen werden durch den Begriff „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ erfasst? 4. Welche der unter 3. benannten Störungen können als „nicht vorübergehend“ beziehungsweise überdauernd im Sinne des § 104 BGB verstanden werden?
2.1.2.1 Die „freie Willensbestimmung“ Bislang wurden in den forensisch-psychiatrischen Lehrbüchern psychopathologische Phänomene diskutiert, die zu Geschäftsunfähigkeit führen können. Jedoch geschah dies nicht im Zusammenhang mit dem Begriff „Wille“ beziehungsweise der „freien Willensbestimmung“. Vielmehr gewinnt man bei der Lektüre einschlägiger Arbeiten den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit diesem komplexen und außerordentlich schwer zu definierenden Begriff vermieden wurde: Witter spricht z. B. in seinen Ausführungen zur Verantwortlichkeit im Zivilrecht nicht von der Willensbestimmung, sondern von der „sozialen Verantwortungsfähigkeit“ und stellt damit Parallelen zur Prüfung der Schuldfähigkeit her (Witter 1972 a). Als Gradmesser für den Schweregrad der diagnostizierten Störung gilt für ihn die Zerreißung oder der Verlust der sinngesetzlichen Zusammenhänge des Erlebens. Dass Witter bei seinen Ausführungen auf die Problematik des Willensbegriffes nicht eingeht, ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil er sich an anderer Stelle aus psychopathologischer Sicht mit dem Willen auseinandersetzt (Witter 1972 b). Auch Rasch geht auf den Begriff der Willensbestimmung nicht ein. Er stellt die gegebene beziehungsweise fehlende Intaktheit der psychischen Funktionen der Persönlichkeit in den Mittelpunkt seiner Erörterungen (Rasch 1999). Der Inhalt einer Entscheidung verdiene erst dann Berücksichtigung, wenn er Ausdruck eines „pathologischen Vorganges sei“. Leider bleibt offen, was unter diesem Begriff subsumiert werden kann. Wertvoller ist der Hinweis darauf, dass sich die Begutachtung auf die Frage konzentrieren solle, ob ein Betroffener „prinzipiell zu kritischen Reflexionen in der Lage“ gewesen sei, ob er seine Vernunft habe gebrauchen können oder durch eine „wie auch immer geartete psychische Störung daran gehindert“ gewesen sei. Rasch benennt intakte Gedächtnisleistungen, die Orientierung über die aktuellen und lebensgeschichtlichen Situationen und die Fähigkeit zur kritischen Distanzierung von bestimmten Vorstellungen als Voraussetzungen der freien Willensbestimmung. Für Foerster (2000) sind der Ausprägungsgrad der psychopathologischen Symptomatik zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäftes und seine Auswirkungen auf die „Handlungskompetenz“ entscheidend. Ähnlich wie Rasch sieht Foerster massive Einschränkungen der kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten beziehungsweise der persönlichen und/oder situativen Orientierung als bedeutsam an. Er führt aber auch den wichtigen Begriff der „affektiven Verfügbarkeit“ in die Diskussion ein. Zu den psychopathologischen Voraussetzungen der aufgehobenen freien Willensbestimmung haben sich von Oefele und Saß (1994) und von Oefele
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(1996) ausführlicher geäußert. In Anlehnung an Janzarik (1991, 1993) sehen sie steuerbare imaginativ-gedankliche Abläufe und das Wissen um Nebenwege, Vorentscheidungen und Lösungsmöglichkeiten als Vorbedingungen der freien Willensbestimmung. Bei der Begutachtung sei auf krankhafte Verzerrungen des Motivationsgefüges, Denk- beziehungsweise Wahrnehmungsstörungen, affektive Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Realitätskontrolle sowie Kritik- und Urteilsfähigkeit zu achten. Gedächtnis- und Orientierungsstörungen seien ebenfalls geeignet, die Grundlagen der Willensbildung zu gefährden. Da die Frage, wie der juristische Begriff der „freien Willensbestimmung“ psychiatrisch gefasst werden kann, offen geblieben war, haben sich Habermeyer und Saß (2002 a) um eine Begriffserklärung und einen psychopathologischen Arbeitsansatz zur Beurteilung der Willensbestimmung bemüht. Dabei ging es nicht darum, eine allgemeingültige Definition des Begriffs „Wille“ zu entwickeln. Abgesehen von einer sehr allgemein gehaltenen Definition, die ihn als zielgerichtetes Streben definiert (Brockhaus 1999), erscheint der Begriff auch nicht allgemeingültig definierbar. Ziel war es, psychopathologische Voraussetzungen der freien Willensbestimmung zu benennen. Die folgenden Ausführungen greifen auf diesen Arbeitsansatz zurück. Zunächst sollen jedoch einige kurze Bemerkungen dazu dienen, einen Einblick in die geisteswissenschaftlichen Hintergründe zu gewinnen: In der klassischen griechischen Philosophie wurde der Wille als vernünftiges, wohlbegründetes Streben verstanden. Augustinus entwickelte einen Willensbegriff, der unabhängig von der Vernunft als nicht rational verstehbares Vermögen zur Bestimmung des Handelns angesehen wird. Den dadurch entstandenen Dualismus zwischen Wille und Vernunft mühte sich Kant zu überwinden, indem er den Willen als Streben beschrieb, das durch ein Prinzip der praktischen Vernunft bestimmt werden kann. In der Fähigkeit zur vernunftbestimmten willentlichen Handlung sah Kant die Voraussetzung der individuellen moralischen Verantwortung. Schopenhauer fasste den Willen des Einzelnen als Manifestation eines höheren Weltwillens auf, dem alles Dasein in einem vernunftlosen Drang unterworfen sei. Die existenzialistischen Philosophen wiederum sahen durch die Möglichkeit willentlicher Handlungen den Nachweis erbracht, dass Handeln nicht allein durch Vernunft und insbesondere nicht durch den Weltwillen erklärbar sei. Hier wurden intentionale Aspekte des Willens betont, die für den Existenzialisten einen Schlüssel zur Selbsterfindung des Menschen darstellen. Dieser könne sich daran orientieren, was er nicht beziehungsweise noch nicht ist. G. Ryle hat als sprachanalytischer Philosoph die Verwendung des Begriffes Wille gänzlich abgelehnt, da die Beschreibung des Willensaktes unmöglich sei. Auch für die Behavioristen, wie z. B. Skinner, war der Begriff Wille untauglich, weil er ihrer Ansicht nach keinen mentalen Zustand, sondern lediglich potenzielles Verhalten beschreibt (Näheres bei Sturmheit 1990; Schwemmer 1997; Giedrys 1999). Der kurze Exkurs zur geisteswissenschaftlichen Perspektive sollte veranschaulichen, welch vielschichtiges Problemfeld sich bei der Auseinander-
2.1 Geschäftsfähigkeit
Bereitschaftspotenzial
-500
Abb. 2.1. Darstellung der Ergebnisse von Libet (2005)
Wunsch
Handlung
-200
0 ms
z
350 ms
setzung mit dem Willensbegriff eröffnet. Aus neurobiologischer Sicht akzentuiert sich diese Problematik, da EEG-Befunde über dem supplementär motorischen Kortex so genannte Bereitschaftspotenziale darstellen konnten, die einer Handlung um mehrere hundert Millisekunden vorausgehen (Kornhuber u. Deecke 1965). Zunächst ging man davon aus, dass diese Potenziale Resultate eines Willensentschlusses seien und die Ausführung der gewünschten Handlung vorbereiten. In einem berühmt gewordenen Experiment konnte Libet (1983) allerdings zeigen, dass das Bereitschaftspotenzial vor dem bewussten Willensentschluss auftritt. Demnach scheint es Instanzen in unserem Gehirn zu geben, die Handlungen anstoßen, bevor uns dies willentlich bewusst wird. Abbildung 2.1 stellt die Versuchsergebnisse dar und macht deutlich, dass in der Versuchsanordnung von Libet dem bewussten Wunsch (W), eine Bewegung auszuführen, um etwa 350 Millisekunden ein Bereitschaftspotenzial (BP) vorausgeht, das den Willensprozess sozusagen „unbewusst“ einleitet. Allerdings verbleibt zwischen dem „bewussten“ Wunsch, die Handlung auszuführen, und der Umsetzung dieses Wunsches ein Zeitraum von zirka 200 Millisekunden für ein „bewusstes Veto“ (Libet 2005). Willenshandlungen könnten demnach auf „unbewusste“ Initiativen gründen, die sozusagen aus dem Gehirn hervorsprudeln. Der „bewusste“ Wille würde dann eine Auswahl zwischen diesen Initiativen treffen und entscheiden, welche Handlungsanregung unterdrückt und angenommen werden soll (ebd.). Demgegenüber sieht Roth (2001) die Willensfreiheit auf der Basis der Libet-Versuche als Resultat einer Selbsttäuschung: Das Gefühl, etwas zu wollen, fuße auf der Aneignung von unbewussten Handlungsmotiven. Erst nachdem das Gehirn längst entschieden habe, was es im nächsten Augenblick tun werde, habe der Mensch das Gefühl, etwas in einem Willensakt zu verursachen. Diese Auslegung weist der „unbewussten“ Handlungsmotivation eine höhere Bedeutung für die Freiheitsfrage zu als der „bewussten“ Vetofunktion. Die Diskussion über die Berechtigung der vorgenannten Sichtweisen begann unmittelbar nach Veröffentlichung von Libets Untersuchungen (erste Diskussionsbeiträge bei Libet 1985) und ist bis heute nicht abgeschlossen (hierzu u. a. Cranach u. Foppa 1996; Libet 1997; Walter 1999; Pauen 2004; Kawohl u. Habermeyer 2007). Letztendlich führt sie im juristischen Kontext nicht weiter, da die Juristen die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung nicht im Hinblick auf die Freiheitsfrage an sich diskutieren. Ihnen geht es vielmehr um die Frage, inwieweit eine psychische Erkrankung Entscheidungs- und
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Handlungskompetenzen eines Menschen in einer bestimmten Situation beeinflusst hat und wenn ja, in welchem Ausmaß. Auch heutzutage kann, wie dies Luthe (1972) vor über dreißig Jahren getan hat, auf Gruhle verwiesen werden, der die Problematik prägnant wie folgt zusammengefasst hat: „Das Gesetz interessiert sich nicht für den Willen als leere Funktion, sondern es meint den Willen als Gewolltes . . . . Und das Gesetz weiß, dass die Wahl dieses gewollten Gegenstandes ihre Motive, Herkünfte, Beweggründe hat. Erfolgt das Spiel dieser Motive normal, das heißt tritt kein äußeres (Drohung oder Gewalt) oder inneres Moment (Geistesstörung) störend dazwischen, so nennt das Gesetz diese Willensbestimmung frei“ (Gruhle 1934). Gruhles pragmatischer Ansatz wird durch die zivilrechtliche Rechtsprechung gestützt. Hier ist die Rede davon, dass es zur Feststellung einer Geschäftsunfähigkeit darauf ankommt, „ob eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider, eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich“ ist. Umgekehrt könne von einer freien Willensbestimmung nicht mehr gesprochen werden, wenn der Betroffene fremden Willenseinflüssen unterliege oder die Willenserklärung durch unkontrollierbare Triebe und Vorstellungen ähnlich einer mechanischen Ursache und Wirkung ausgelöst werde (BGH NJW 1953, 1342). Der Begriff der freien Willensbestimmung bedeutet für die Rechtsprechung also weniger eine Entscheidung über die Willensfreiheit an sich, sondern eine Festlegung dazu, ob die „normale Bestimmbarkeit einer Person durch vernünftige Erwägung“ (RG JW 1937, 35) gegeben ist oder fehlt. Der Rechtsprechung geht es also vorwiegend um die Ungestörtheit beziehungsweise „Normalität“ der zu einer Entscheidung und zu deren Umsetzung führenden Abläufe. Entscheidend ist hier, was Grundlage der getroffenen Entscheidungen ist und durch welche Phänomene diese Grundlagen gestört wurden. Ähnlich wie bei der aus der Schuldfähigkeitsbeurteilung bekannten, letztlich „unlösbaren“ (Schreiber 2000) Determinismus-/Indeterminismusdebatte muss es daher auch im zivilrechtlichen Kontext darum gehen, einen pragmatischen Arbeitsansatz zu finden, der sich weniger an der Frage der sittlichen Wahlfreiheit als vielmehr am Grad der störungsbedingten Beeinträchtigung einer „vorausgesetzten normalen Bestimmbarkeit durch soziale Normen“ (ebd.) orientiert. Es geht darum zu ergründen, auf welchen Komponenten ein Willensentschluss und dessen Umsetzung beruhen. Dann können Aussagen dazu getroffen werden, wie diese Grundvoraussetzungen der Willensbestimmung durch psychopathologische Symptome beziehungsweise Symptomkonstellationen gestört werden können. Aus psychiatrisch-psychopathologischer Sicht bleibt hierzu zunächst festzuhalten, dass man es bei Willensentscheidungen mit Abläufen zu tun hat, die nicht unabhängig von Biografie und Lebenssituation gesehen werden können. Sturmheit (1990) spricht mit Recht davon, dass Entscheidungen das Resultat von Erfahrungen, Bedürfnissen, Kenntnissen, Fähigkeiten, Überzeugungen, Bildung und Erziehung sind, die wiederum von komplexen gesellschaftlichen Faktoren abhängig sind. Diese Einschätzung stimmt mit der Bedeutung überein, die der Biografie in psychiatrisch-psychopatho-
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logischen (Saß 2000) und forensisch-psychiatrischen (Saß 1987 b; Janzarik 1993) Konzeptbildungen beigemessen wird. Dementsprechend hat Janzarik (1988) bei seiner Beschreibung des Willens als Option, in der „Zukünftiges angestrebt wird“, betont, dass sich der Wille an Werten orientiere und sich durch Planungen, Reflexionen, Wahl und Entscheidungen von den Trieben abhebe. Janzarik sieht im persönlichen Wertgefüge mit seinen unterschiedlichen emotional-aktionalen dynamischen Betrachtungen von Handlungsbereitschaften und Gerichtetheiten eine wesentliche Vorbedingung der Willensleistung, da hierdurch eine Reduzierung der komplexen Aktualisierungsmöglichkeiten und deren Desaktualisierung nach persönlicher Präferenz möglich werde. Hier drängen sich Parallelen zur von Libet (2005) beschriebenen Vetofunktion auf. Auch Kurt Schneider (1992) entwickelte eine Umschreibung des Willens, die Libets Auffassung nahe kommt. Er sieht den Willen nämlich als Möglichkeit, zwischen „verschiedenen Strebungen zu entscheiden“, Handlungen freizugeben oder zu versagen. Grundlage dieser Entscheidung seien Gefühle, Wertungen, Gesinnungen. In Übereinstimmung damit definiert Peters (1990) den Willen als menschliche Fähigkeit, unter Beteiligung der Persönlichkeit ein bestimmtes Ziel zu intendieren und sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden. Hier und auch in den vorgenannten Ansätzen zeigen sich Parallelen zu Jaspers, nach dessen Definition der Wille den Menschen aus seiner Umwelt und sich selber machen lässt, was er wolle (Jaspers 1973). Scharfetter (1996) definiert den Willen als zielgerichtetes Streben aufgrund kognitiv verarbeiteter Motivation. Dabei versteht er die Motivation als eine Stimmung (Affekt), die zu bedürfnisbefriedigenden Handlungen bewegt. Der Begriff der Motivation taucht auch in Heckhausens Rubicon-Modell der Handlungsphasen auf (1989): Hier werden prädezisionale motivationale Prozesse, die über Abwägen und Wahl zur Intentionsbildung führen, von dem abschließenden Entschlussakt und nachfolgenden postdezisionalen volitionalen Phasen unterschieden, die der Intentionsinitiierung beziehungsweise -realisierung dienen (Abb. 2.2).
prädezisionale motivale Prozesse wählen abwägen
Intentionsbildung
Entschluss
Abb. 2.2. Das Rubicon-Modell von Heckhausen (1989)
postdezisionale volitionale Prozesse: Intentionsinitiierung, -realisierung
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kognitive Voraussetzungen der Intentionsbildung, Intentionsinitiierung und -realisierung
motivationale Voraussetzungen der Intentionsbildung: affektiv -emotionale Faktoren Entscheidung
Willensbestimmung
Abb. 2.3. Voraussetzungen der Willensbestimmung
Nach diesem Modell stellen kognitive Funktionen eine Grundbedingung der Willensbildung, d. h. der Fähigkeit, zu einem Entschluss zu kommen, dar. Sie ermöglichen das Abwägen verschiedener Entscheidungs- und Handlungsalternativen. Jedoch erfährt auch diese auf gedanklicher Ebene ablaufende Teilfunktion stets eine Einfärbung durch emotional-affektive, motivationale Elemente. Für unsere Überlegungen ist in Übereinstimmung mit Libet (2005) nachrangig, ob „unbewusste“ emotional-affektive Elemente, z. B. im limbischen System, Handlungsanreize setzen und damit Prozesse, die zu einer Willensentscheidung führen, in Gang bringen. Entscheidend bleibt, dass im Normalfall eine „bewusste“, z. B. kortikale Kontrolle besteht, die Planung und Reflexion gewährleistet. Es bleibt also dabei, dass Willensentscheidungen von kognitiven, aber auch emotional-affektiven Faktoren abhängig sind. Beide Voraussetzungen können nur modellhaft voneinander getrennt werden. Sie wirken miteinander auf Entscheidungsprozesse und nachfolgende Handlungen ein (Abb. 2.3). Auf den vorab dargestellten psychopathologischen und motivationspsychologischen Überlegungen aufbauend kann der Wille als eine menschliche Funktion beschrieben werden, die mittels kognitiver Fähigkeiten, auf der Grundlage von Werten, getragen von affektiven, dynamischen Elementen, über Reflexion, Planung und Wahl zunächst zielgerichtete Entscheidungen und dann auch deren Realisierung bewirkt (Habermeyer u. Saß 2002 a). Demnach muss bei der Begutachtung der Geschäftsunfähigkeit Stellung dazu genommen werden, ob die Möglichkeit zur kognitiven Kontrolle beziehungsweise Überformung von Handlungsimpulsen bestand. Wird dies verneint, besteht Geschäftsunfähigkeit. Außerdem ist zu prüfen, ob psychopathologische Symptome Handlungsimpulse in einer Weise hervorgerufen oder verstärkt haben, die das Hemmungsvermögen Betroffener aufgehoben hat. Dementsprechend kann von freier Willensbestimmung nicht die Rede sein, wenn eine Erkrankung die Umsetzung persönlicher Wertvorstellungen verhindert, indem sie z kognitive Voraussetzungen der Intentionsbildung und Prozesse der Intentionsinitiierung und -realisierung beeinträchtigt oder
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z motivationale Voraussetzung der Willensbildung verändert, indem sie den Zugang zu Wertvorstellungen verstellt beziehungsweise das Wertgefüge, affektive beziehungsweise dynamische Grundlagen von Entscheidungsprozessen verformt. Auf der Basis dieser allgemeinen Umschreibung von Voraussetzungen der Willensbestimmung werden nachfolgend Überlegungen dazu angestellt, welche psychopathologischen Symptome geeignet sind, die Fähigkeit aufzuheben, zielgerichtete Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.
2.1.2.2 Symptome, die zum Ausschluss der freien Willensbestimmung führen können Im Folgenden wird dabei in enger Anlehnung an das AMDP-System der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (1995) und die dort niedergelegten Definitionen einzelner psychopathologischer Phänomene vorgegangen. Um den Einfluss verschiedener Symptome auf die Willensbestimmung möglichst exakt umschreiben zu können, wird auf die modellhafte Unterscheidung zwischen ihren Auswirkungen auf kognitive Prozesse und auf das persönliche Wertesystem beziehungsweise die Handlungsmotivation zurückgegriffen. z Kognitive Funktionen Die intakte Bewusstseinslage stellt eine Grundvoraussetzung der Fähigkeit dar, sachgerecht zu planen, zu gestalten und Gedanken zielgerichtet auszurichten. Während quantitative Störungen der Bewusstseinslage in unserem Zusammenhang keine Rolle spielen, da stuporöse beziehungsweise komatöse Patienten keine Rechtsgeschäfte eingehen, ist ein besonderes Augenmerk auf qualitative Veränderungen der Bewusstseinslage zu legen. Diese können zum Beispiel im Fall der Bewusstseinstrübung die Fähigkeit stören, „verschiedene Aspekte von der eigenen Person und der Umwelt zu verstehen, sie sinnvoll miteinander zu verbinden und sinnvoll zu handeln“ (AMDP 1995). Dadurch wird die freie Willensbestimmung verhindert. Schwere Beeinträchtigungen mit Situationsverkennungen und Auflösungen des sinnhaften Erlebniszusammenhanges, wie sie zum Beispiel beim Delir auftreten, schließen die freie Willensbestimmung ebenfalls aus. Gleiches gilt für Orientierungsstörungen zur Person beziehungsweise Situation, da diese der Entscheidungsbildung durch das fehlende Wissen um persönliche beziehungsweise situative Gegebenheiten die Basis entziehen. Die zeitliche Orientierung spielt hier eine geringere Rolle. Jedoch ist zu beachten, dass solche Defizite im Allgemeinen auf stärkere kognitive Beeinträchtigungen rückschließen lassen. Offensichtlich ist die Bedeutung intakter Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen. Eine zielgerichtete Entscheidung ist nur dann möglich, wenn der zu Grunde liegende Sachverhalt bekannt ist. Außerdem erfordert eine geordnete Entscheidungsbildung, dass
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das Für und Wider einer Entscheidung vergegenwärtigt werden kann. Es kommt also darauf an, Denkprozesse zielgerichtet durchführen zu können. Dazu ist es im Sinne Beringers (1924) erforderlich, einen „intentionalen Bogen“ zu spannen. Intentionales perspektivisches Denken wird durch formale Denkstörungen, wie Gedankenabreißen, Ideenflucht und Zerfahrenheit, verhindert. Letztgenannte Symptome stören sowohl die Intentionsbildung als auch deren Realisierung und führen zum Ausschluss der freien Willensbildung. Demgegenüber ist die Denkhemmung des depressiven Patienten Ausdruck einer dynamischen Restriktion (Janzarik 1988) mit fehlender Kraft zur Zielbestimmung. Hier ist die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung erheblich gefährdet, jedoch nicht in jedem Fall aufgehoben. Gleiches gilt für die gedankliche Einengung des depressiven, aber auch des unter Zwangsgedanken leidenden Menschen, bei der vorwiegend die inhaltliche Variabilität und weniger die Intentionalität des Denkens betroffen ist. In diesem Zusammenhang sind nicht nur das psychopathologische Phänomen und sein Ausprägungsgrad von Bedeutung. Vielmehr ist zu prüfen, ob die bestehenden Defizite durch Beeinflussungen Dritter verstärkt wurden. Es ist zum Beispiel durchaus denkbar, dass ein denkgehemmter Depressiver geschäftliche Entscheidungen als Resultat einer freien Willensbestimmung trifft, wenn er ausreichend Zeit zur Überlegung hatte. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass derselbe Patient unter dem Einfluss Dritter, in Verbindung mit der oftmals reduzierten Durchsetzungsfähigkeit des Depressiven, eine Entscheidung trifft, die eher den Zwischenstand als das Endprodukt seiner gedanklichen Auseinandersetzung mit der zu Grunde liegenden Thematik darstellt. In letztgenanntem Fall könnte dann auch von einer aufgehobenen Fähigkeit zur freien Willensbestimmung gesprochen werden. Das oben genannte Beispiel verdeutlicht, dass bei abnehmender Aussagekraft einzelner Symptome Überlegungen zu situativen Faktoren beziehungsweise Einflüssen Dritter angestellt werden müssen. Hierbei ist wiederum zu bedenken, dass die Rechtsprechung bezüglich der Einflüsse Dritter fordert, dass diese das Denken und Handeln Betroffener völlig beherrschen sollen (BGH NJW 1996, 918). Außerdem zeigen sich hier Grenzen der wissenschaftlich fundierten Gutachtenerstellung, da nicht nur auf den psychopathologischen Befund eines Probanden, sondern auch auf Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion und auf Verhaltensweisen Dritter abgehoben wird. Hier besteht die Gefahr, ins Spekulative abzugleiten. Man sollte sich daher darauf beschränken, Auswirkungen eines psychopathologischen Symptoms auf die Fähigkeit, sich gegenüber Außeneinflüssen abzugrenzen, zu skizzieren. Auf diese Weise kann dem Gericht eine fachlich fundierte Basis für die normative Entscheidung gegeben werden, ob in der Tat eine Beeinflussung stattgefunden hat. Bezüglich Zwangsphänomenen und Phobien gilt, dass diese Symptome die kritische Reflexion eigener Positionen nicht verhindern. Realitätskontrolle und „Überstiegsfähigkeit“ (Conrad 1958) sind trotz angstbesetzter Denkinhalte gegeben. Dies grenzt Zwangs- und Angstsymptome vom Wahn
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ab, der mit subjektiver Gewissheit besteht, unkorrigierbar ist und nicht hinterfragt werden kann (Jaspers 1973). Aber selbst bei Wahnsymptomen betrifft keinesfalls jede Willensentscheidung das Wahnthema beziehungsweise wird vom Wahn determiniert. Ein Wahnkranker kann sich zum Beispiel von der Steuerbehörde verfolgt sehen, die ihn beobachte und regelmäßig sein häusliches Arbeitszimmer durchsuche. Trotzdem kann der Patient in der Lage sein, aufgrund einer freien Willensbestimmung ein Auto zu kaufen. Einen direkten Bezug zur Wahnsymptomatik hätte es jedoch, wenn er sein Haus verkaufen würde, um den Nachstellungen der Steuerbehörde entgehen zu können. Ähnliche Überlegungen können für halluzinatorische Erlebnisweisen angestellt werden. Auch hier ist die Bezugnahme auf das konkrete Rechtsgeschäft erforderlich: Unter dem Einfluss imperativer Stimmen getroffene Entscheidungen sollten dabei nicht als Ausdruck einer freien Willensbestimmung angesehen werden. Überhaupt kann jedes Symptom, das die adäquate Wahrnehmung und Verarbeitung von Umwelteinflüssen beeinträchtigt oder Betroffene in einer sozialen unverbundenen und unverbindlichen psychotischen Eigenwelt (Mundt 1985) isoliert, als Ausschlussfaktor der freien Willensbestimmung gelten. Der hier erstmals angerissene Gesichtspunkt der sozialen Unverbundenheit beziehungsweise Eigenweltlichkeit (ebd.) des psychotisch Kranken führt zur Frage nach der Integration eigener Wertvorstellungen in Entscheidungsprozesse und der Verformung von persönlichen Werten durch Krankheitssymptome, die im Folgenden zu vertiefen sein wird. z Persönlichkeit und Wertgefüge Janzarik (1988) sieht im Wertgefüge einen Komplex dauerhafter Bereitschaften und Gerichtetheiten. Es versetzt den Menschen im Zusammenspiel mit der Persönlichkeitsstruktur, die als Gefüge psychischer Dispositionen aus dem überdauernden Niederschlag der individuellen Lebensgeschichte in Materialien von unterschiedlichem Gewicht resultiert, in die Lage, nach eigenen Maßstäben und aus eigener Initiative zwischen biologisch begründeten Bedürfnissen, sozialen Erwartungen und situativen Anforderungen zu vermitteln. Handlungsleitende Kraft resultiert dabei nur bei dynamischer, letztlich affektiv-emotionaler Befrachtung des Wertgefüges. Die Bedeutung emotionaler Prozesse für das Denken und Handeln des Menschen wurde über den geisteswissenschaftlich fundierten psychopathologischen Ansatz von Janzarik hinausgehend in den letzten Jahren insbesondere von Damasio (2001) neurobiologisch fundiert. Festzuhalten bleibt, dass die an persönlichen Werten ausgerichtete Willensbildung neben der Verfügbarkeit eigener Werte, Haltungen und Strebungen auch auf biografischen und insbesondere emotional-aktionalen Aspekten beruht. Vor diesem Hintergrund schließt die fehlende Orientierung zur Person und Situation die freie Willensbildung aus, da der Zugriff auf Inhalte des biografischen Gedächtnisses fehlt. Die entscheidende Rolle des biografi-
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schen Gedächtnisses für die Umsetzung persönlicher Werte kann nicht stark genug betont werden. Im Fall der situativen Desorientierung kann eine konkrete Situation nicht adäquat mit dem Wertesystem in Verbindung gebracht werden, was in starker Abhängigkeit vom vorherrschenden Affekt zu kurzschlüssigen, wenig fundierten Entscheidungen führen kann. Da persönliche Werte verinnerlichte, strukturell gebundene und somit überdauernde Bestandteile der Persönlichkeit darstellen, die den Entscheidungsprozess vorwiegend durch Desaktualisierung (Janzarik 1988) konkurrierender Gerichtetheiten bestimmen, sind Kurzzeitgedächtnisstörungen in diesem Kontext von nachrangiger Bedeutung. Störungen des biografischen Gedächtnisses sind demgegenüber als deutlicher Hinweis auf signifikante Leistungseinbußen zu werten. Auch ausgeprägte formale Denkstörungen spielen eine bedeutsame Rolle, da sie im Falle der Denkzerfahrenheit die planende und gestaltende Umsetzung eigener Wertvorstellungen verhindern beziehungsweise bei Ideenflucht das Versagen der Desaktualisierungskräfte anzeigen. Daraus resultierende desorganisierte Handlungen und Entscheidungen sind nicht das Resultat einer freien Willensbestimmung. Hinweise auf kognitive Leistungseinbußen ergeben sich in Übereinstimmung mit von Oefele und Saß (1994) und von Oefele (1996) durch wechselnde und widersprüchliche Entscheidungen. Dabei kommen oftmals Einflüsse Dritter zum Tragen. Allein die Tatsache, dass widersprüchliche Entscheidungen getroffen wurden, ermöglicht jedoch keine Aussage über die Geschäftsfähigkeit, da jeder Mensch ein Recht auf wechselhafte oder irrationale Entscheidungen hat. Lassen sich keine Symptome einer psychischen Erkrankung feststellen, besteht Geschäftsfähigkeit. Einflüsse Dritter sind nur dann von Bedeutung, wenn sie in Verbindung mit einer Geistesstörung den Willen Betroffener übermäßig beherrschen (BGH NJW 1996, 918). Beeinflussbarkeit oder Kritikschwäche reicht also nicht aus. Wahnphänomene verzerren die persönlichen Grundlagen der Entscheidungsbildung durch Fehlinterpretation der Realität. Außerdem kommt es zum Beispiel beim depressiven Schuld- beziehungsweise dem manischen Größenwahn zu krankhaft veränderten Bewertungen des Selbst. Bei der manischen Expansion (Janzarik 1988) lässt die Wahnsymptomatik Bereitschaften, die sonst durch Desaktualisierung nicht zur Handlungsebene vordringen, in den Vordergrund treten. Im Gegensatz dazu kommt es während der dynamischen Restriktion der depressiven Episode zur thematischen Einengung auf Themen wie Schuld, Verarmung und Krankheit. Die Entscheidungsspielräume Betroffener können dadurch erheblich einschränkt werden. Wie bereits vorab dargestellt, ist jedoch nicht jede Handlung oder Entscheidung von der Wahnthematik betroffen. Auch Halluzinationen können entscheidungs- oder handlungsbestimmend werden. Allerdings verändern sie die Bewertung der eigenen Person oder der Umwelt nicht in jedem Fall. Relevante Einbußen können keinesfalls vorausgesetzt werden. Ein schizophrener Patient mit imperativen akustischen Halluzinationen kann nämlich in Abhängigkeit von Floridität der
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Erkrankung, Krankheitsdauer, fehlender beziehungsweise gegebener Krankheitseinsicht und Copingstrategien durchaus in der Lage sein, einen freien Willen zu bilden. Entscheidend ist hier im Sinne Mundts (1985) die Fähigkeit, Wahrnehmung, Wollen, Denken und Handeln verfügbar halten zu können. Ist diese Selbstverfügbarkeit gestört, resultieren Störungen der sozialen Interaktion und der Sinnkonstituierung, die Betroffene in einer psychotischen Eigenwelt gefangen halten, ihre Willensentscheidungen entscheidend beeinflussen und rationalen Kontrollmechanismen entziehen. Auch hier gilt, dass diese Phänomene erst Bedeutung gewinnen, wenn Betroffene in dieser psychotischen Eigenwelt gebunden sind oder Bezüge zur Umwelt verkümmert sind. Die Ich-Störungen schizophrener Psychosen (Scharfetter 1996) heben die Gewissheit der eigenen Aktivität auf. Betroffene erleben sich nicht mehr als Wollende, sondern infolge von Phänomenen, wie z. B. Willensbeeinflussungen und Gedankeneingebung, als ausführende Organe eines fremden Willens. Auch die Ambivalenz (Bleuler 1983) des schizophrenen Patienten kann zum Ausschluss der freien Willensbestimmung führen. Soweit zur psychopathologischen Analyse, die sich weniger an umschriebenen Störungsbildern als vielmehr an einzelnen Symptomen orientiert. Bevor nämlich auf die Bedeutung einzelner Störungen für unsere Fragestellung eingegangen werden kann, bleibt zu klären, was der Gesetzgeber unter dem Begriff der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“ versteht und ob mit dieser Formulierung der Ausschluss bestimmter Störungen verbunden ist.
2.1.2.3 Zur Bedeutung des Begriffs der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“ Witter (1972 a) hat eine sehr enge Auslegung des Begriffes der „krankhaften“ Störung der Geistestätigkeit vorgenommen, indem er lediglich organisch begründete psychische Störungen und die endogenen Psychosen als krankhaft ansah. Der Gesetzgeber hat eine solch enge Auslegung jedoch nicht im Sinn gehabt: Unabhängig von der Ätiologie ist im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches jeder abnorme geistig-seelische Zustand krankhaft (Schumann u. Lenkner 1972). Für die Zuordnung zum § 104 BGB ist letztendlich nicht die Ätiologie der diagnostizierten Störung, sondern der Ausprägungsgrad der mit ihr verbundenen Leistungseinbußen, nämlich die Aufhebung der Fähigkeit zur freien Willensäußerung entscheidend (Baldus 2005, § 104 Rn 15). Wie zur Beantwortung dieser Frage vorgegangen werden kann, wurde vorab erörtert. Allerdings ist für die Zuordnung zu den Voraussetzungen der §§ 104 beziehungsweise 105 BGB von Bedeutung, ob es sich um eine vorübergehende oder überdauernde Störung handelt. Dieser Aspekt ist von hoher praktischer Relevanz und wird daher im folgenden Abschnitt gesondert dargestellt.
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2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit
2.1.2.4 Zur Unterscheidung zwischen Geschäftsunfähigkeit und Nichtigkeit einer Willenserklärung z Historische Grundlagen Wie bereits ausgeführt, unterscheiden § 104 beziehungsweise § 105 Abs. 2 BGB zwischen zeitlich überdauernden krankhaften Störungen der Geistestätigkeit, die zu Geschäftsunfähigkeit führen, und vorübergehenden Störungen der Geistestätigkeit oder der Bewusstlosigkeit, die lediglich zu Nichtigkeit einer Willenserklärung führen. Im Grunde genommen ergänzt die in Abs. 2 des § 105 BGB erwähnte vorübergehende Störung beziehungsweise Bewusstlosigkeit die als überdauernde Persönlichkeitseigenschaft eingeschätzte Geschäftsunfähigkeit des § 104 BGB. Dies verdeutlicht, dass die gesetzlichen Bestimmungen zur Geschäftsunfähigkeit wesentlich von der Vorstellung beeinflusst wurden, dass es sich bei Geisteskrankheiten um zeitlich überdauernde Prozesse handelt. Das BGB wurde Ende des 19. Jahrhunderts erarbeitet und trat 1900 in Kraft. Die enthaltenen Bestimmungen können nicht unabhängig von dem damals vorherrschenden Bild psychischer Erkrankungen verstanden werden. Anfang des 19. Jahrhunderts galten Geisteskrankheiten als irreversibel, symptomfreie Zeiträume lediglich als „luzide Intervalle“, in denen Betroffene Symptome der Erkrankung unterdrücken können (Haslam 1809). Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah zum Beispiel Griesinger (1861) in seiner Konzeption der Einheitspsychose einen steten Verlauf psychischer Störungen in Richtung eines Zerfalls des psychischen Lebens. Parallel dazu kamen Einflüsse der Degenerationslehre (Hermle 1986) zum Tragen. Vorübergehende psychische Störungen mussten vor diesem Hintergrund ihrer „Natur nach“ (so die Formulierung des § 104 BGB) als Ausnahme von der Regel gelten. Diese Vorstellungen wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Einflüsse Kahlbaums (1878) und insbesondere durch die Arbeiten Kraepelins (1899) abgelöst, die zur differenzierten Betrachtung der Krankheitsverläufe und zur Unterscheidung zwischen reversiblen und chronischen Erkrankungen führten. Eine detaillierte Übersicht über die historische Entwicklung des Faches findet sich bei Janzarik (1972) bzw. Berrios (1999). Die Problematik dieser am medizinischen Sachstand des vorletzten Jahrhunderts orientierten juristischen Sichtweise lässt sich an der Beziehung zwischen Geschäftsfähigkeit und gesetzlicher Betreuung gut darstellen: Die enge Kopplung von Geschäftsfähigkeit an das damals bestehende Rechtsinstrument der Entmündigung wurde durch die Reform des Betreuungsrechtes aus dem Jahr 1992 aufgehoben. In der Zwischenzeit hatte sich nämlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Unfähigkeit, eigene Angelegenheiten zu besorgen, keinesfalls deckungsgleich mit der Geschäftsunfähigkeit nach § 104 BGB sein muss (Klüsener u. Rausch 1993). Es war ein Bewusstsein dafür entstanden, dass das Rechtsinstrument der Entmündigung erhaltene Fähigkeiten Betroffener nicht angemessen berücksichtigt hatte (Zimmermann u. Damrau 1991). Eine ähnliche Sichtweise wäre auch im Kontext
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der Geschäftsfähigkeit angezeigt. Da viele psychische Störungen effektiv behandelt werden können, haben wir es nur noch selten mit naturgegebenen Verlaufsgestalten psychischer Störungen zu tun. Betroffene verfügen oftmals nicht nur über die von Zimmermann und Damrau erwähnten „Restfähigkeiten“, sondern erreichen eine befriedigende bis gute Leistungsfähigkeit. Die überdauernden krankhaften Störungen der Geistestätigkeit, wie sie der § 104 BGB ursprünglich verstanden hat, sind heutzutage seltener geworden. Aus juristischer Sicht ergibt sich allein wegen der verbesserten Behandlungsmöglichkeiten psychischer Störungen aber keine Notwendigkeit, die gesetzlichen Bestimmungen zu verändern. Die Vorschriften der §§ 104, 105 BGB haben die Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches ohne Modifikation überstanden. Aus psychiatrischer Sicht ist es jedoch nicht zuletzt im Interesse eines besseren Verständnisses der juristischen Adressaten für die gutachterlichen Überlegungen ausgesprochen sinnvoll, wenn bei der Begutachtung auch dazu Stellung genommen wird, ob Auswirkungen einer Störung auf die freie Willensbestimmung vorübergehend geblieben sind oder ob sie dauerhaft Bestand haben. Es handelt sich hierbei keinesfalls um eine „eher akademische“ (Schmudlach 1992) Frage: Die Unterscheidung hat zwar für das zur Verhandlung stehende Rechtsgeschäft keine unterschiedlichen Folgen, weil es sowohl bei Annahme der Voraussetzungen des § 104 als auch des Abs. 2 des § 105 BGB nichtig ist. Jedoch sollten die mittlerweile erreichten Behandlungsfortschritte Anlass geben, auch im öffentlichen Raum der Gerichtsverhandlung aktuelle Krankheits- und Verlaufskonzepte psychischer Störungen zu vermitteln und die Fähigkeiten Betroffener adäquat zu würdigen. Aus heutiger Sicht erscheint es zum Beispiel wenig sinnvoll, von der Schizophrenie als überdauernde krankhafte Störung der Geistestätigkeit mit durchgängigen Auswirkungen auf die Willenstätigkeit auszugehen. Schon vor über 25 Jahren konnte in Verlaufsstudien (Huber u. ZerbinRüdin 1979; Huber et al. 1979) gezeigt werden, dass ein Drittel der Betroffenen beruflich reintegriert werden kann. Ein weiteres Drittel zeigt zwar Defizite, ist aber in der Lage, sich Alltagsanforderungen zu stellen. Ein weiteres Drittel der Patienten benötigt wiederholte Krankenhausaufenthalte und intensive Unterstützung bei der Lebensgestaltung. Ähnliche Resultate lieferten auch neuere Erhebungen, die bei 20 bis 43% der Patienten kontinuierliche psychotische Symptome und/oder zunehmende soziale Behinderungen feststellten (Shepherd et al. 1989). Letztendlich bleiben lediglich für diese Gruppe überdauernde Defizite zu diskutieren, während sich für die anderen Betroffenen ausschließlich in der Akutphase der Erkrankung die Frage einer vorübergehenden Aufhebung der Willenskräfte stellt. Die umfassende Darstellung solcher Verlaufsgestalten und ihre Diskussion anhand des Einzelfalls tragen zu einer differenzierten Betrachtung psychischer Erkrankungen in der Öffentlichkeit bei und unterstützen die Informationsveranstaltungen und Antistigmakampagnen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Berufsverbände, die auf ein öffentliches Bewusstsein
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für Behandlungsmöglichkeiten und rehabilitative Chancen psychischer Erkrankungen abzielen. Bislang konzentrierten sich die Überlegungen auf das historische und aktuelle Verständnis von psychischen Störungen und deren Behandlungschancen. Darüber hinaus gibt es aber auch praktische Gründe für eine Unterscheidung zwischen den Voraussetzungen der § 104 und 105 BGB: Allein die Formulierung des § 104 BGB, nach der ein zur Geschäftsunfähigkeit führender Zustand nicht nur vorübergehend sein darf, zwingt den Gutachter zur Betrachtung der Zeitachse und damit des Verlaufes. Außerdem wird diese Betrachtungsweise dadurch erforderlich, dass sich bis zum Zeitpunkt der Begutachtung in einem Großteil der Fälle erhebliche Abweichungen zur Befundlage bei Abwicklung des zur Verhandlung stehenden Rechtsgeschäftes ergeben haben. Um die im Gutachten gezogenen Schlussfolgerungen transparent zu machen, ist es daher unverzichtbar, eine Unterscheidung zwischen den erheblichen Leistungsminderungen während akuter psychotischer Krankheitsphasen und dezenten kognitiven Leistungseinbußen nach Abklingen der Akutphase zu erörtern. Man ist daher nahezu regelhaft gezwungen, Veränderungen des psychopathologischen Befundes sachverständig zu erörtern. Wie erwähnt, sind Geschäftsunfähige so lange sie sich im Zustand der Geschäftsunfähigkeit befinden, vom rechtsgeschäftlichen Verkehr ausgeschlossen (Larenz u. Wolf 1997; Diederichsen u. Dröge 2000). Sie benötigen selbst zur rechtsgültigen Abwicklung vorteilhafter Geschäfte einen gesetzlichen Vertreter (Bienwald 1992; Larenz u. Wolf 1997). Auch dadurch ergibt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den Bestimmungen der §§ 104 und 105 BGB. Von Hübner (1914) wurde der Vorschlag gemacht, den § 104 BGB anzuwenden, wenn damit Schaden von Betroffenen abgewandt werden könne. Wenn es sich um ein weit zurückliegendes, einzelnes Vorkommnis handele und weitere Nachteile nicht zu erwarten seien, genüge die Anwendung des § 105 BGB. Diese Vorgehensweise wirkt auf den ersten Blick überzeugend, entspricht aber nicht den Vorgaben des Gesetzgebers beziehungsweise der Rechtsprechung. Von deren Seite wurde nämlich nicht die Frage möglicher nachteiliger Folgen für Betroffene, die z. B. im Betreuungsrecht für die Anwendung des Einwilligungsvorbehaltes entscheidend ist, sondern einzig und allein die Krankheitsdauer als Unterscheidungskriterium vorgegeben. Ein weiteres Argument für die sorgfältige Trennung von vorübergehenden und überdauernden Störungen ergibt sich durch die Figur des luziden Intervalls. Das luzide Intervall soll bei bestehender Geschäftsunfähigkeit zur Anerkennung eines Rechtsgeschäftes führen, wenn hochwahrscheinliche Zweifel (RGZ 162, 223) an der fortbestehenden Geistesstörung bestehen. An dieser Sichtweise wurde von Seiten der Psychiatrie mehrfach fundiert Kritik geübt (genaueres im Abschnitt zur Testierfähigkeit): Rasch (1999) sprach mit Recht davon, dass es mit dem psychiatrischen Erfahrungsschatz nicht vereinbar ist, wenn über eine in ihren psychischen Funktionen gestörte Persönlichkeit plötzlich Erleuchtung und Klarheit des Den-
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kens hereinbreche. Angesichts der Tatsache, dass Geschäftsunfähigkeit für den Juristen als fortbestehendes persönliches Merkmal gilt, sahen bereits Langelüddeke und Bresser (1976) in konsequenter Auslegung der gesetzlichen Vorgaben bei Feststellung eines oder mehrerer lichter Momente keine Geschäftsunfähigkeit gegeben. Störungen mit der Möglichkeit luzider Intervalle seien daher als vorübergehend einzustufen. Ein solches Vorgehen würde die Figur des luziden Intervalls überflüssig machen und die juristische Entscheidungspraxis an den psychiatrischen Sachstand heranführen (Rasch u. Bayerl 1985; Binder 1998; Saß u. Kröber 1999). Soweit zur Bedeutung einer sorgfältigen Differenzierung zwischen den gesetzlichen Bestimmungen des § 104 beziehungsweise § 105 BGB. Jedoch ist bislang ungeklärt, auf welcher Basis die vorab angemahnte Unterscheidung getroffen werden soll. Aus juristischer Sicht besteht ein dauerhafter Zustand, wenn die Behandlung einer Störung längere Zeit erfordert (OLG München MDR 1989, 361; Heinrichs 2005, § 104 Rn 4; Baldus 2005, § 104 Rn 17). Diese Position ist aus medizinischer Sicht problematisch: Schließlich soll es bei Begutachtung der Geschäftsfähigkeit darum gehen, Auswirkungen einer Störung auf die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung zu beurteilen. Bei einer Vielzahl von Erkrankungen besteht aber gerade durch langfristige medikamentöse Behandlungsmaßnahmen die Möglichkeit, das Auftreten schwerwiegender Symptomenbilder zu verhindern. Zum Beispiel kann ein schizophrener Patient ähnlich wie ein effektiv diätetisch oder medikamentös eingestellter Diabetiker weitgehend symptomfrei und vor Folgeschäden seiner Erkrankung geschützt sein. Warum gerade diese effektive Interventionsmöglichkeit als Unterscheidungsmerkmal zwischen vorübergehender und dauerhafter Störung herangezogen werden sollte, ist aus medizinischer Sicht unlogisch. Es ist daher nicht sinnvoll, die gutachterlichen Überlegungen an der medikamentösen Behandlungsbedürftigkeit beziehungsweise -dauer auszurichten. Auf der Suche nach einem psychiatrischen Lösungsansatz ist zu klären, ob das Adjektiv „überdauernd“ auf die Möglichkeit einer erneuten Ausbildung von Symptomen oder auf deren reale Existenz bezogen werden soll. Für den Fall, dass ein Gutachter die überdauernde Bereitschaft zur Ausbildung von Symptomen als Unterscheidungsmerkmal zu Grunde legt, ergeben sich schwerwiegende Probleme: Bei verschiedenen chronischen Erkrankungen bestehen nämlich entweder infolge natürlicher Verlaufseigenschaften oder wegen geeigneter Therapiemaßnahmen symptomarme beziehungsweise symptomfreie Intervalle. Außerdem fällt bei Prüfung der Frage, ob die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben ist, die ubiquitär vorhandene, individuell aber unterschiedlich stark ausgeprägte Möglichkeit einer Exazerbation von Krankheitssymptomen weniger stark ins Gewicht als das Vorhandensein konkreter Symptome. Dass die Rechtsprechung dies ähnlich sieht, beweist die Figur des luziden Intervalls. Aus psychiatrisch-medizinischer Perspektive kann daher nur das Vorhandensein oder Fehlen von überdauernden Krankheitssymptomen und das daraus resultierende psychopathologische Funktionsniveau ent-
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scheidend sein (Habermeyer u. Saß 2002 d). An diesem Grundsatz werden sich die folgenden Überlegungen zur Geschäftsfähigkeit bei einzelnen psychischen Störungen orientieren. z Geschäftsfähigkeit bei einzelnen Störungen Im Folgenden werden in Anlehnung an die diagnostischen Merkmale der ICD-10-Forschungskriterien (WHO 1994) Störungen eingegrenzt, deren Symptomenbilder die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung über dauerhafte oder vorübergehende Veränderungen des psychopathologischen Funktionsniveaus aufheben können (hierzu auch Habermeyer u. Saß 2002 c). Die Kategorie der organischen psychischen Störungen ist für die Frage der freien Willensbestimmung von herausragender Bedeutung, da sie den Bereich demenzieller Erkrankungen abdeckt. Hierbei ist weniger die Ätiologie eines Demenzprozesses, also die Frage, ob ein Morbus Alzheimer, eine vaskuläre Demenz oder eine Mischform vorliegt, bedeutsam. Entscheidend ist die möglichst genaue Abklärung der Symptomatik und resultierender Leistungseinbußen. Auf dieser Basis kann dann eine Einschätzung über den Ausprägungsgrad des demenziellen Prozesses abgegeben werden. Hierbei wird schon bei mittelgradigen Beeinträchtigungen der Gedächtnis- und anderer kognitiver Funktionen Geschäftsunfähigkeit im Sinne einer überdauernden Persönlichkeitseigenschaft anzunehmen sein. Jedoch können in Anlehnung an Arbeiten von Oefele und Saß (1994) sowie von Oefele (1996) bereits leichtere Gedächtnisstörungen beziehungsweise kognitive Schwierigkeiten zur Aufhebung der freien Willensbestimmung führen, wenn sie von Störungen der Affektkontrolle und des Antriebes begleitet werden. Unter psychosozialen Belastungen, z. B. einem Umgebungswechsel oder dem Verlust von Vertrauenspersonen, können die vorgenannten Faktoren zu erheblichen Störungen imaginativ gedanklicher Abläufe führen und dadurch Klarheit und Konstanz der Zielvorstellungen gefährden. Resultierende kurzschlüssige und oftmals auch widersprüchliche Entscheidungen können nicht als Ausdruck einer freien Willensentscheidung gelten. Außerdem ist auf Störungen des Sozialverhaltens mit z. B. übermäßiger Vertraulichkeit oder Kritikminderung gegenüber äußeren Einflüssen zu achten. Bei der Begutachtung demenzieller Syndrome sind darüber hinaus potenziell reversible, komplizierende Faktoren, wie z. B. Fieber, Exsikkose oder Medikamenteneinflüsse zu berücksichtigen (Wetterling et al. 1996). Solche Einflussgrößen können schon bei geringen Gedächtnisstörungen zu erheblichen Einbußen von Kritikvermögen und Willenstätigkeit führen. Im Unterschied zur mittelgradig ausgeprägten Demenz wäre im Fall einer leichtgradigen Demenz mit komplizierenden gesundheitlichen oder emotionalen Faktoren und/oder einer Einflussnahme Dritter die Nichtigkeit einer Willenserklärung gemäß § 105 BGB gegeben. Das organische amnestische Syndrom geht mit ausgeprägten Kurzzeitgedächtnisstörungen einher, daher kann nicht von einer freien Willensbestimmung gesprochen werden. Unabhängig von der zu Grunde liegenden
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Ätiologie hebt ein Delir die freie Willensbestimmung durch die charakteristische Kombination von Bewusstseinsstörungen und Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen auf. Hierbei handelt es sich aber um ein reversibles Ereignis, das dem § 105 BGB zuzuordnen ist. Bei den sonstigen organischen Störungen muss anhand der vorherrschenden Wahn- bzw. halluzinatorischen Symptomatik geprüft werden, ob die Willensbildung in relevanter Weise beeinträchtigt wurde. Hierbei kann auf die vorab angestellten psychopathologischen Überlegungen zurückgegriffen werden. Bei Rückbildung der Symptome sollte von einer Nichtigkeit der Willensklärung und nicht von Geschäftsunfähigkeit gesprochen werden. Bei den organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen handelt es sich um zeitlich überdauernde Störungen, die trotz Fehlens ausgeprägter Gedächtnisstörungen zu affektiven Veränderungen, Störungen der Impulskontrolle und mangelnder gedanklicher Flexibilität führen. Hier kann die vom Juristen geforderte Fähigkeit zur Einsicht und zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln zeitlich überdauernd und massiv gestört sein. Auch die Fähigkeit, eigene Wertvorstellungen umzusetzen bzw. perspektivisch und kritisch zu denken, kann aufgehoben sein. Da das postenzephalitische Syndrom definitionsgemäß reversibel ist, erfüllen akute Bilder lediglich die Voraussetzungen des § 105 BGB. Für Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen gilt, dass sowohl Intoxikations- als auch Entzugssyndrome dem § 105 BGB zuzuordnen sind. Sie entsprechen in beispielhafter Weise dem juristischen Begriff der Bewusstlosigkeit, wenn Betroffene nicht mehr in der Lage sind, Inhalt und Wesen ihrer Handlungen zu erfassen (Heinrichs 2005). Die Rechtsprechung tendiert dazu, bei einer Alkoholisierung von über drei Promille von der Nichtigkeit einer Willenserklärung auszugehen (BGH NJW 1991, 852). Diese Einschätzung mag in den meisten Fällen zutreffend sein. Jedoch muss man solchen Schwellenwerten aus psychiatrischer Sicht erhebliche Skepsis entgegenbringen, da sie die klinisch bedeutsamen und zum Teil gravierenden Gewöhnungseffekte zu Gunsten eines statischen Richtwertes außer Acht lassen (Kröber 1996). Die gutachterliche Entscheidung sollte sich bei Fragen der Alkoholisierung weniger auf den Promillewert als vielmehr auf die Erfassung und Beschreibung konkreter psychopathologischer Auffälligkeiten stützen. Auch bei Intoxikationen mit illegalen Substanzen sind gravierende Gewöhnungseffekte zu berücksichtigen, so dass auch hier nicht der im Drogenscreening gesicherte Nachweis der Substanzeinnahme, sondern der psychopathologische Funktionszustand entscheidend ist. Bei den Intoxikationen kommt in exemplarischer Weise das Problem des zeitlichen Abstandes zwischen Rechtsgeschäft und Begutachtung zum Tragen: Der Rausch ist zum Zeitpunkt der Untersuchung abgeklungen, weshalb auf Zeugenaussagen und ärztliche Befundberichte zurückgegriffen werden muss. Hierbei geht es um eine möglichst exakte Rekonstruktion des psychopathologischen Befundes bei Abschluss des Rechtsgeschäftes. Die gewonnenen Informationen sind unter Berücksichtigung der Drogen-
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anamnese kritisch zu diskutieren. Dabei sollten insbesondere Hinweise auf einen psychotischen Rauschverlauf mit erheblichen Orientierungsstörungen, Situationsverkennungen oder Halluzinationen beachtet werden. Außerdem sind affektive Auslenkungen und psychomotorische Auffälligkeiten von Relevanz. Fehlen schwerwiegende Rauschsymptome, ist von der Gültigkeit der abgegebenen Willenserklärung auszugehen. Bezüglich der Intoxikation ist weiterhin von Bedeutung, dass § 105 BGB lediglich abgegebene Willenserklärungen erfasst. Betrunkenen Personen können also rechtswirksam Dokumente zugestellt werden (Baldus 2005, § 105 Rn 6). Die diagnostischen Kriterien der Abhängigkeitssyndrome umfassen die Einengung der Lebensführung auf Beschaffung und Konsum abhängigkeitserzeugender Substanzen, eine zunehmende Toleranz gegenüber Substanzeinflüssen und die Entwicklung körperlicher Entzugssymptome. Die Einengung der Lebensführung kann zwar die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung einschränken. Es ist jedoch fraglich, ob sie beim Fehlen akuter Entzugserscheinungen geeignet ist, die freie Willensbestimmung in Gänze aufzuheben. Eindeutig negative Einflüsse auf die Geschäftsfähigkeit können sich aber aus Folgeschäden eines langjährigen und intensiven Substanzkonsums, z. B. aus amnestischen Syndromen und aus überdauernden Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen ergeben. Psychotische Störungen im Zusammenhang mit Substanzkonsum wurden bereits anlässlich der Überlegungen zur Alkoholisierung erwähnt. Sie sind definitionsgemäß reversibel, erfordern also die Anwendung des § 105 BGB. Die Schizophrenie und schizotype beziehungsweise wahnhafte Störungen erhalten über Störungen der Realitätskontrolle, affektive Veränderungen und formale Denkstörungen Relevanz. Jedoch sollte die klinische Diagnose einer Schizophrenie keinesfalls mit dem juristischen Begriff Geschäftsunfähigkeit gleichgesetzt werden. Gerade hier muss im Interesse einer großen und mit Vorurteilen belasteten Patientengruppe eine sorgfältige Zuordnung zu den überdauernden oder vorübergehenden Störungen vorgenommen werden. Die als allgemeine Kriterien der Diagnose definierten Ich-Störungen, wie Gedankeneingebung, Gedankenentzug mit dem Gefühl des Gemachten, Wahnphänomene und Halluzinationen verzerren das persönliche Wertgefüge und können die freie Willensbildung ausschließen. Außerdem bestehen insbesondere in akuten Krankheitsstadien formale Denkstörungen, wie Gedankenabreißen und Denkzerfahrenheit. Durch das alleinige Auftreten oder die Kombination solcher Krankheitssymptome ist die Fähigkeit zur freien Willensbildung aufgehoben. Akute schizophrene Krankheitsphasen sind daher wie auch die akuten vorübergehenden psychotischen Störungen geeignet, die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung aufzuheben. Wenn die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung zum Zeitpunkt des Rechtsgeschäftes aufgehoben war, sollte anhand des psychopathologischen Befundes bei der gutachterlichen Untersuchung und nach Analyse der Vorgeschichte eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob von überdauernden oder vorübergehenden Symptomen auszugehen ist. Fehlen schwer-
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wiegende schizophrene Residualsymptome mit psychomotorischer Verlangsamung, Affektverflachung, Passivität, Initiativemangel, kognitiven Defiziten und Kommunikationsstörungen und ist eine ausreichende soziale Leistungsfähigkeit gegeben, ist die schizophrene Akutsymptomatik als vorübergehend im Sinne des § 105 BGB zu klassifizieren. Dieses differenzierte Vorgehen trägt der Tatsache Rechnung, dass schizophrene Krankheitsprozesse die Gedanken, Vorstellungen und Handlungen Betroffener nicht zwangsläufig überdauernd in gravierender Weise beeinflussen. Der Bereich der anhaltenden wahnhaften Störung führt zum Sondertatbestand (BGH NJW 1953, 1342) der partiellen Geschäftsunfähigkeit. Hier sollen die Auswirkungen einer Erkrankung auf ein bestimmtes Lebensgebiet beschränkt sein (Heinrichs 2005, § 104 Rn 6), wobei der Querulantenwahn als Beispiel angeführt wird. Die partiellen Ausfälle betreffen also einen umschriebenen Kreis von Angelegenheiten, z. B. die Prozessführung oder Eheangelegenheiten. Auch hier wird keine Abstufung nach der Komplexität des Rechtsgeschäftes oder nach den durch die Angelegenheit hervorgerufenen Belastungen für Betroffene vorgenommen. Die Frage, ob ein bestimmter Themenbereich die intellektuellen Kapazitäten Betroffener überfordert, ist ebenfalls nicht von Relevanz. Es geht vorwiegend darum, ob bezüglich eines begrenzten Themenbereiches ein Ausschluss der freien Willensbestimmung besteht. Dieser soll dann für alle Aktivitäten, die in diesem Bereich entfaltet werden, zum Tragen kommen. Hier ist also zu prüfen, ob das Rechtsgeschäft in Zusammenhang mit der Wahnentwicklung gestanden hat. Außerdem gilt es, wahnhafte Entwicklungen von übernachhaltigen Verhaltensweisen im Rahmen einer querulatorischen Entwicklung zu unterscheiden, ein Aspekt, auf den bei den Ausführungen zur Prozessfähigkeit zurückzukommen sein wird. Affektive Störungen wurden bereits von Langelüddeke und Bresser (1976) als Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen vorübergehenden und überdauernden Störungen angeführt. Sie verlaufen, ebenso wie schizoaffektive Störungen, in der Regel episodisch, sind jedoch durch eine überdauernde Vulnerabilität gegenüber dem Wiederauftreten von Symptomen gekennzeichnet. Ähnlich wie bei den schizophrenen Erkrankungen gilt auch hier, dass weniger die persönliche Vulnerabilität als vielmehr der Ausprägungsgrad der Symptomatik und deren Auswirkungen auf die Fähigkeit, den Willen frei zu bestimmen, entscheidend sein sollte. Insbesondere schizomanische Episoden sind durch die Kombination von Wahn, Ich-Störungen, Halluzinationen, formalen Denkstörungen und erhöhter Risikobereitschaft beziehungsweise Kritikminderung geeignet, die freie Willensbestimmung auszuschließen. Dies ist jedoch im Großteil der Fälle nur für einen begrenzten Zeitraum der Fall. Daher sollte in der Regel § 105 BGB zur Anwendung kommen. Die Anwendung des § 104 BGB kommt bei schizoaffektiven Psychosen mit ausgeprägten Residuen oder persistierender schizophrener Symptomatik in Betracht. Hypomane Episoden lassen sich durch eine weniger deutlich ausgeprägte Expansion, die fehlende Ideenflucht, das Ausbleiben eines Hemmungsver-
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lustes beziehungsweise Risikoverhalten und Größenwahn von manischen Episoden unterscheiden. Sie sind gekennzeichnet durch Überaktivität, Konzentrationsschwierigkeiten, Ablenkbarkeit und übermäßige Vertraulichkeit. Diese Aspekte können die freie Willensbestimmung gefährden, sie führen jedoch keinesfalls zwangsläufig zur völligen Aufhebung der Willenskräfte. Bei einer manischen Episode sind die vorab erwähnten klinischen Merkmale gegeben, daher ist sie in der Regel mit relevanten Einbußen verbunden. Im Falle einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen ist zu prüfen, ob das Rechtsgeschäft in Verbindung zur Symptomatik steht. Hier ist ein Ausschluss der freien Willensbestimmung möglich. Leichtere depressive Episoden werden aber in der Regel ebenso wenig wie mittelgradig ausgeprägte Episoden zu relevanten Einbußen führen. Die Zyklothymia und Dysthymia sind zwar zeitlich überdauernd, erreichen jedoch nicht den Schweregrad depressiver beziehungsweise hypomaner Episoden, sodass nicht von einer aufgehobenen Fähigkeit zur freien Willensbestimmung gesprochen werden kann. Gleiches gilt für neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. Diese können die freie Willensbestimmung zwar beeinträchtigen, im Regelfall aber nicht in Gänze aufheben (Witter 1972 a; von Oefele u. Saß 1994; Foerster 2000). Laut Beschluss des Bundesgerichtshofes soll der Ausschluss der freien Willensbestimmung aber die ganze Persönlichkeit und ihr gesamtes Handeln betreffen (BGH NJW 1953, 1342). Geschäftsunfähige sollen nicht in der Lage sein, frei und unbeeinflusst von einer Geistesstörung, einen Willen „zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln“ (BGH NJW 1996, 918). Solch schwerwiegende Einbußen der Realitätskontrolle sind bei den in dieser Störungsgruppe zusammengefassten Angst-, Zwangs-, Anpassungs-, Konversions- und somatoformen Störungen kaum denkbar. Wenn überhaupt, könnte es kurzzeitig bei dissoziativen Bewusstseinsstörungen zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Realitätskontrolle kommen. Die Kategorie der Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren umfasst Störungsbilder, die im Kontext der §§ 104 und 105 BGB keine Relevanz haben. Jedoch kann die Anorexia nervosa über erhebliche Gewichtsverluste zu deutlichen kognitiven Einbußen beziehungsweise organischen Psychosen führen. Diese Veränderungen sind jedoch im Großteil der Fälle reversibel und führen daher zur Nichtigkeit einer Willenserklärung. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt noch nichts über den Ausprägungsgrad der mit ihr einhergehenden psychopathologischen Funktionseinbußen aus. Ähnlich wie bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung empfiehlt sich hier der Rückgriff auf das von Saß entwickelte psychopathologische Referenzsystem (Saß 1985, 1991), somit der Vergleich mit den durch psychiatrische Erkrankungen oder hirnorganische Prozesse hervorgerufenen Funktionseinbußen. Wenn man die diagnostischen Kriterien der einzelnen Störungsbilder zu Grunde legt, sind störungsbedingte Einflüsse auf die Willensbildung bei paranoiden und dependenten Persönlichkeitsstörun-
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gen sowie bei impulsgetragenen Reaktionen von Patienten mit emotionalinstabiler Persönlichkeitsstörung denkbar. Es sei allerdings daran erinnert, dass die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung in Gänze aufgehoben sein soll. Zwar handelt es sich bei den Persönlichkeitsstörungen um stabile maladaptive Verhaltens- und Denkmuster. Dass diese aber auch zeitlich überdauernd die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung ausschließen, dürfte, ähnlich wie die Annahme einer aufgehobenen Schuldfähigkeit (Boetticher et al. 2005) bei Persönlichkeitsstörungen, kaum möglich sein. Diese Problematik soll anhand eines Fallbeispiels kurz dargestellt und diskutiert werden: Die 30-jährige Probandin hatte mit ihrem Freund in gemeinsamer Wohnung gelebt. Der Mietvertrag war von beiden unterzeichnet worden. Man hatte sich geeinigt, die Kosten für die Wohnung zu teilen. Die Probandin kam dieser Verpflichtung nicht nach, wodurch Schulden in Höhe von 15 000,– DM aufgelaufen waren. Als es zur Trennung der Partner kam, unterzeichnete die Probandin einen Schuldschein in dieser Höhe. Ihr ehemaliger Lebensgefährte klagte einige Monate nach Unterzeichnung des Schuldscheines auf Zahlung des Betrages, woraufhin die Probandin erklärte, dass sie bei Unterzeichnung des Schuldscheines krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, einen freien Willen zu bilden. Wegen ihrer Borderlinepersönlichkeitsstörung neige sie – unter Druck gesetzt – zu Handlungen, die irrational seien und dem Zustand einer Geschäftsunfähigkeit gleichkämen. In der Tat handelte es sich um eine Borderlinepersönlichkeitsstörung mit Stimmungsschwankungen, emotionaler Instabilität, Rückzugstendenzen und Angstsymptomen, die zusätzlich auch die Diagnose einer Panikstörung mit Agoraphobie ermöglichten. Während die bestehende Angststörung bestimmte Teilbereiche des täglichen Lebens betraf, wurde die Persönlichkeitsstörung als tiefgreifend und zeitlich überdauernd angesehen. Bei der Begutachtung war zu beachten, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichung des Schuldscheines eine angespannte partnerschaftliche Situation bestand, die gerade bei Borderlinepatienten zu erheblichen Schwierigkeiten führen kann. Jedoch hatte die Probandin gegenüber unbeteiligten Zeugen bei Unterzeichnung des Schuldscheines ruhig und bestimmt gewirkt. Noch wenige Tage vor Unterzeichnung des Schuldscheines war sie aus einer Klinik entlassen worden, ohne dass schwerwiegende psychopathologische Auffälligkeiten skizziert worden waren. Im Nachhinein entsprach die Unterschrift unter dem Darlehensvertrag einem Vermeidungsverhalten, mit dessen Hilfe die Probandin einen Konflikt mit dem ehemaligen Partner vermieden hatte. Hierbei war sie im Interesse einer kurzfristigen Lösung bereit, eine langfristig nachteilige Regelung zu treffen. Diese Vorgehensweise begründet jedoch keine Nichtigkeit einer Willenserklärung. Entscheidend für die Beantwortung der gutachterlichen Fragestellung ist nämlich, ob die Probandin zum Zeitpunkt der Unterschrift in der Lage war, ihre Entscheidung von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dies hätte z. B. im Rahmen eines affektiven Erregungszustandes nicht mehr der Fall sein
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können. Hinweise auf solch schwerwiegende Beeinträchtigungen des Urteilsvermögens und der Willensbildung hatten sich jedoch nicht ergeben. Daher lagen die Voraussetzungen des § 105 BGB nicht vor. Aus forensischer Sicht wurde wiederholt Kritik an der Störungskategorie der abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle geübt (Hoff 1992; Saß u. Kröber 1999; Habermeyer u. Heekeren 2004). Erfasst werden eng umschriebene problematische Verhaltensweisen, denen ein gewisser Suchtcharakter zugeschrieben wird. Da der Gesetzgeber aber eine durchgreifende, das gesamte Handeln betreffende Störung fordert, kommt diese Störungsgruppe – ähnlich wie der Bereich der neurotischen Störungen – zum Ausschluss der Geschäftsfähigkeit nicht in Betracht. Ein Aspekt, der insbesondere den pathologischen Spieler nicht vor den nachteiligen finanziellen Folgen seiner „Spielsucht“ schützen sollte, obwohl es laut Baldus (2005, § 104 Rn 16) auch schon Gerichte gegeben hat, die § 105 Abs. 2 BGB zu Gunsten eines Spielsüchtigen bejaht haben. Wie hierbei allerdings Schweregrade, wie sie für Entzugserscheinungen im Rahmen von Alkoholbeziehungsweise Opiatabhängigkeiten bekannt sind, erreicht werden können, bleibt aus Sicht des Referenten rätselhaft. Der Bereich der Intelligenzminderung ist für die Frage der Geschäftsfähigkeit bedeutsam. Hier geht die Rechtsprechung, ähnlich wie bei der Alkoholintoxikation, von einem Richtwert aus: Bei einem IQ unter 60 soll demnach Geschäftsunfähigkeit bestehen (Heinrichs 2005, § 104 Rn 5). Ähnlich wie bei der Alkoholintoxikation gilt auch hier, dass nicht anhand von Richtwerten, sondern aufgrund konkreter psychopathologischer Auffälligkeiten zu entscheiden ist. Dies betrifft weniger den Bereich von Intelligenzminderungen mit Intelligenzquotienten kleiner oder gleich 60 als vielmehr den Bereich leichterer geistiger Behinderungen beziehungsweise den Übergangsbereich zwischen geistiger Behinderung und Normbegabung. Auch hier kann es nämlich zu relevanten Ausfällen kommen, wenn das Wissen um Inhalt, Tragweite und Bedeutung des eingegangenen Rechtsgeschäftes nicht vorhanden war. Außerdem müssen hier die oftmals mangelhaften sozialen Kompetenzen Betroffener unter besonderer Berücksichtigung ihrer Kritik- und Widerstandsfähigkeit gegenüber Dritten geprüft werden. Komplizierende Faktoren, wie Substanz- oder Medikamenteneinflüsse, psychotische Phänomene, Persönlichkeitsauffälligkeiten und Belastungsfaktoren, wie z. B. der Verlust von Bezugspersonen oder ein Umgebungswechsel, können nachteilig zum Tragen kommen und die eng gesteckten Belastungsgrenzen geistig behinderter Personen überfordern. In diesem Fall wäre von einer kurzzeitigen Aufhebung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung auszugehen, während die geistige Behinderung für sich genommen einen zeitlich überdauernden Charakter hat und damit die Anwendung des § 104 BGB gebietet. Dieser Aspekt sei am Beispiel eines Gutachtenfalles erörtert: Der 47-jährige Proband hatte sein Grundstück an einen Bekannten verkauft. Nachdem der Grundstücksverkauf wenige Monate später einem
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größeren Personenkreis bekannt geworden war, wurde ein Betreuungsverfahren eingeleitet, das zur Bestellung eines Betreuers für Vermögensangelegenheiten führte. Der Verkauf wurde vom Betreuer im Namen des Probanden angefochten, da er in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit getätigt worden sei. Verwiesen wurde auf eine frühkindliche Hirnschädigung des Probanden, die zu einer körperlichen Behinderung, aber auch zu einer Intelligenzminderung geführt habe. Bei Begutachtung zeigte sich ein Gesamt-IQ von 71, eine ausgeprägt niedrige mentale Flexibilität mit mangelnder Fähigkeit zur Entwicklung eigenständiger Problemlösungen, eine geringe Vorstellungs- und Kombinationsfähigkeit und eine verlangsamte Wahrnehmung, Bearbeitung und Umsetzung von auftretenden Informationen. Die testpsychologisch fassbaren Defizite konnten auch im persönlichen Kontakt zum Probanden wahrgenommen werden. Er verhielt sich im Gesprächsverlauf durchgehend passiv und zeigte sich in auffälliger Weise angepasst und lenkbar. Darüber hinaus bestand eine kindlich-freundliche und zutrauliche Gemütsausstattung mit einer Tendenz, sich selbst und eigene Interessen zu Gunsten anderer zurückzunehmen, um auf diese Weise soziale Interaktionen möglichst reibungslos ablaufen zu lassen. Aufgrund seiner intellektuellen Defizite war der Proband auf eine überschaubare, vertraute und rücksichtvolle Umgebung angewiesen. Er wies ein begrenztes Verhaltensrepertoire auf. Vor diesem Hintergrund hatte der Tod beider Eltern dazu geführt, dass wesentliche unterstützende und die soziale Leistungsfähigkeit auf niedrigem Niveau stabilisierende Mechanismen entfallen waren. In der Folgezeit hatte der Proband Kontakt zu dem Käufer des Grundstückes bekommen und mit diesem bereits in der Vorzeit zahlreiche Geschäfte abgeschlossen. Während sich die Kontakte des Probanden zu der Familie lockerten, gewann der spätere Grundstückskäufer an Bedeutung. Durch unkritische Geldausgaben geriet der Proband schließlich in einen finanziellen Engpass, der ihn in zunehmende Verzweiflung stürzte. Bei Begutachtung berichtete er darüber, dass er Sorgen gehabt habe, dass die Familie seine Schulden bemerke. Er sei ängstlich, unruhig und nervös gewesen und habe an Suizid gedacht. Vor diesem Hintergrund habe er den Vorschlag seines Bekannten, ihm das Grundstück für den Gegenwert seiner Schulden zu verkaufen, gerne angenommen. Aus gutachterlicher Sicht ergab sich durch die Verschuldung eine für den Probanden unübersichtliche und nicht alltägliche Situation, in der er nicht auf seine eingeübten Fähigkeiten zurückgreifen konnte. Er war deswegen in kindlich anmutender Weise kritiklos an der sofortigen Behebung des Schuldenproblems interessiert. Aufgrund der eingeschränkten Verhaltensspielräume des Probanden und seiner deutlich verminderten Fähigkeit, sich auf neue Situationen einzustellen, war in der zugespitzten Krisensituation der Verschuldung eine Konstellation erreicht, in der die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung aufgehoben war. Im Verfahren war diese Aufhebung der freien Willensbestimmung jedoch dem § 104 BGB zugeordnet
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worden, was zu erheblichen Argumentationsschwierigkeiten führte. Das Gericht war nach Anhörung des Probanden nämlich nicht davon überzeugt, dass Defizite bestehen, die eine Geschäftsunfähigkeit begründen könnten. Es wäre in diesem Fall angemessener gewesen, die Aufhebung der freien Willensbestimmung eng an die Krisensituation der Verschuldung zu koppeln, in der die unterdurchschnittlich ausgeprägten Problemlösefähigkeiten des Probanden überfordert waren. In alltäglichen Situationen und ohne schwerwiegende emotionale Belastungen bestand nämlich in der Tat Geschäftsfähigkeit. Das Beispiel zeigt, dass auch bei Intelligenzminderungen situative Einflüsse berücksichtigt werden müssen. Außerdem macht es deutlich, dass auch im Bereich der Minderbegabungen vorübergehende Befundverschlechterungen hinsichtlich einer differenzierten Zuordnung zu den gesetzlichen Bestimmungen der §§ 104 und 105 BGB berücksichtigt werden sollten. Soweit zu den Bestimmungen der Geschäftsfähigkeit. Nachfolgend wird der vorgestellte Arbeitsansatz auf andere in enger Beziehung zur Geschäftsfähigkeit stehende zivilrechtliche Themenbereiche angewandt. Hierbei soll es zunächst um die Testierfähigkeit gehen, bei der sich die Problematik der nachträglichen Befunderhebung in der Regel dadurch akzentuiert, dass die testierende Person nicht mehr zu ihren Motiven befragt werden kann.
2.2
Testierfähigkeit
Nach § 2229 Abs. 4 BGB ist derjenige testierunfähig, der wegen einer „krankhaften Störung der Geistestätigkeit“, einer „Geistesschwäche“ oder einer „Bewusstseinsstörung“ nicht mehr in der Lage ist, „die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“. Ähnlich wie bei Feststellung der Geschäftsunfähigkeit muss also eine psychische Störung bestehen, die Auswirkungen auf die Willenskräfte Betroffener hat. Auch hier gilt, dass die Bezeichnung „krankhaft“ nicht mit dem klinisch-psychiatrischen Krankheitsbegriff gleichzusetzen ist. Krankhafte Störungen der Geistestätigkeit im Sinne des § 2229 Abs. 4 BGB sind im Wesentlichen akute psychotische Störungen, Manien, schwere depressive Episoden und Demenzen (Habermeyer u. Saß 2002 a; Cording 2004). Als Geistesschwäche gelten bislang leichtere Formen psychischer Erkrankungen (Baumann 2003, § 2229 Rn 17), laut Cording sollten jedoch auch Residualzustände beziehungsweise deutliche Wesensänderungen aufgrund der als krankhafte Störungen geltenden Psychosen, nicht psychotische organische Psychosyndrome und schwere Persönlichkeitsveränderungen im Verlauf von Abhängigkeitserkrankungen, Oligophrenien, in seltenen Fällen auch extrem zugespitzte neurotische Störungsbilder und Persönlichkeitsstörungen als Geistesschwäche bezeichnet werden. Im Sinne einer größtmöglichen begrifflichen Klarheit erscheint es jedoch empfehlenswert,
2.2 Testierfähigkeit
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lediglich die geistigen Behinderungen unter dem Begriff der „Geistesschwäche“ einzuordnen und die anderen von Cording genannten Störungsbilder unter dem Begriff der krankhaften Störung der Geistestätigkeit zusammenzufassen. In nachvollziehbarer Weise hat Cording in seiner Arbeit zur Testierfähigkeit (2004) die Rauschzustände dem Begriff der „Bewusstseinsstörung“ zugeordnet. Diesbezüglich zeigen sich Parallelen zu dem für die Anwendung des § 105 BGB vorgeschlagenen Vorgehen (Habermeyer u. Saß 2002 c). Letztendlich ist auch für die Frage der Testierunfähigkeit nicht die Diagnose entscheidend. Nach Feststellung einer psychischen Störung muss der Ausprägungsgrad der psychopathologischen Symptomatik und insbesondere deren Auswirkungen auf die Fähigkeit, einen Willen einsichtsgemäß zu bekunden, geprüft werden. Ähnlich wie bei der Geschäftsfähigkeit geht es auch bei der Testierfähigkeit nicht um die intellektuellen Fähigkeiten Betroffener, sondern darum, ob die Fähigkeit zur Entscheidungsbildung beziehungsweise zur Umsetzung von Entscheidungen gestört ist. Dies kann über Störungen der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, Intelligenzdefizite, formale Denkstörungen, Wahn, wahnartige Realitätsverkennungen sowie Sinnestäuschungen geschehen. Die Anordnung der Betreuung hat keine Auswirkungen auf die Testierfähigkeit. Obwohl bei Geschäftsunfähigkeit im Regelfall auch Testierunfähigkeit besteht, ergibt sich durch den Gesichtspunkt, dass hier eine stark lebensgeschichtlich geprägte Entscheidung zu bewerten ist, Bedarf für eine differenzierte Sichtweise. Das folgende Fallbeispiel soll darstellen, dass eine automatische Gleichsetzung von Geschäfts- und Testierfähigkeit, wie sie Cording (2004) vorgenommen hat, problematisch sein kann: Der 70-jährige Proband war zweimal begutachtet worden. Zunächst ging es um die Frage der Geschäftsfähigkeit. Der Proband hatte während eines Krankenhausaufenthaltes, der wegen einer Wernicke-Enzephalopathie bei Alkoholabhängigkeit erforderlich geworden war, seinem Bruder eine Vollmacht unterzeichnet, die dieser zur Überweisung eines größeren Geldbetrages auf sein Konto genutzt hatte. In diesem ersten Verfahren wurde von der Nichtigkeit dieser Willenserklärung ausgegangen. Eine überdauernde Störung bestand jedoch nicht. Der Proband war nach Abklingen der Enzephalopathie wieder in der Lage, seine Angelegenheiten zu besorgen. Zwischenzeitlich hatte sich der Befund jedoch weiter verschlechtert. Ein zweites Gutachten sollte daher Stellung zur Notwendigkeit einer Betreuung nehmen. Der Proband war zwei Jahre nach der Erstbegutachtung nicht mehr in der Lage, sich an das Vorgutachten zu erinnern. Es bestand ein mittelgradig ausgeprägtes demenzielles Bild mit ausgeprägten Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, aber auch der Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit. Der Antrieb war deutlich reduziert. Der Proband war matt bis apathisch und kaum in der Lage, auf Anforderungen zu reagieren. Vor dem Hintergrund dieses Bildes war von Geschäftsunfähigkeit auszugehen. Jedoch ergab sich im Gespräch mit dem Probanden ein interessanter Aspekt: Eigeninitiative und emotionale Beteiligung am Gespräch war nämlich lediglich bei einem The-
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ma zu erreichen. Auf seinen Bruder angesprochen, äußerte der Proband, dass dieser ihn um Geld betrogen habe. Er spielte damit auf den zur ersten Begutachtung führenden Sachverhalt an und äußerte wiederholt, dass sein Bruder von ihm nie wieder Geld erhalten werde. Darauf angesprochen, wie er dies denn verhindern wolle, kündigte der Proband an, dass er sein Testament ändern wolle, um den Bruder zu enterben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob hier nicht bei bestehender Geschäftsunfähigkeit bezüglich des letzten Willens des Probanden von Testierfähigkeit auszugehen ist. Schließlich zeigte sich ein in der Lebensgeschichte des Probanden fundierter Wunsch mit hoher affektiver Besetzung. Außerdem war der Proband in der Lage, die Konsequenzen seiner Entscheidung für die in der gesetzlichen Erbfolge stehenden Personen zu erkennen. Bezüglich der Testierunfähigkeit akzentuiert sich die schon in den Ausführungen zur Geschäftsfähigkeit gewürdigte Problematik der retrospektiven Begutachtung eines psychischen Störungsbildes und seiner Auswirkungen auf Entscheidungsprozesse beziehungsweise auf die Umsetzung getroffener Entscheidungen. Obwohl auch eine Begutachtung zu Lebzeiten möglich ist, stellt sich die Frage der Testierfähigkeit in der Regel erst nach Eröffnung des Testaments. Dadurch entzieht sie sich einer persönlichen Untersuchung. Hieraus jedoch den resignativen Schluss zu ziehen, dass die vom Gesetzgeber geforderte an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit gutachterlicher Schlussfolgerungen bei der retrospektiven Begutachtung ohne persönliche Untersuchung nicht möglich sei, ist voreilig. Cording (2004) weist zu Recht auf die „meist beachtliche Zahl von ärztlichen Befunden und pflegerischen Verhaltensbeobachtungen“ hin und sieht die Nachteile der Post-mortem-Begutachtung durch die in der Regel umfassend zugängliche Tatsachengrundlage ausgeglichen. Ärztliche und pflegerische Dokumente sollten daher vom Sachverständigen möglichst vollständig eingesehen werden. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass vor der Anforderung relevanter Krankenhausentlassungsberichte, Befundberichte oder Atteste die Zustimmung des Gerichtes einzuholen ist, um sich nicht dem Verdacht der Befangenheit auszusetzen. Nach Genehmigung des Gerichtes können die medizinischen Unterlagen jedoch ohne Bruch der ärztlichen Schweigepflicht in Gerichtsverfahren verwandt werden. Mittlerweile hat sich nämlich die Auffassung durchgesetzt, dass die Offenbarung der zur Klärung der Frage nach Testierfähigkeit relevanten Informationen dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht und damit keinen Bruch der Verschwiegenheitspflicht darstellt (Bartsch 2001). Krankenunterlagen sind dahingehend zu prüfen, ob psychopathologische Phänomene bestanden, die den Testierenden an der Vorstellung, ein Testament zu errichten, hätten hindern können. Außerdem soll der Testierende sich über den Inhalt und die Tragweite seiner Anordnungen, insbesondere von ihrer Auswirkung auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der davon Betroffenen, im Klaren gewesen sein (BayObLG v. 27. 7. 2001, 1 ZBR 84/00). Darüber hinaus ist darauf zu achten, ob die Motive für die Errichtung der testamentarischen Verfügung durch psychopathologische
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Phänomene beeinflusst wurden. In dem oben erwähnten Urteil wird aber auch mehrfach auf die Befähigung, frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritter ein klares Urteil zu bilden und nach diesem Urteil zu handeln, abgehoben. Es geht also auch um die Urteilsfähigkeit (BayObLG v. 6. 5. 2002, 1 ZBR 25/02; Baumann 2003, § 2229 Rn 11). Diese kann bei Bewusstseins- und Orientierungsstörungen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Intelligenzdefiziten, formalen Denkstörungen, Wahn, Ich-Störungen und Störungen der Affektivität eingeschränkt sein. Im Grunde genommen gelten die unter 2.1.2.2 und 2.1.2.4 angestellten psychopathologischen und diagnostischen Überlegungen auch im Kontext der Testierfähigkeit. Defizite der Fähigkeit, biografisch gewachsene Überzeugungen und persönliche Wertvorstellungen verfügbar zu halten, können insbesondere unter dem Einfluss interessierter Dritter dazu führen, dass kein eigenständiges Urteil über die Folgen einer Verfügung mehr möglich ist. Die Rechtsprechung hat aber gefordert, dass ein testierfähiger Mensch frei von Einflüssen etwaiger Interessierter handeln können soll (Baumann 2003, § 2229 Rn 11). Ob von dieser Fähigkeit dann in der Tat Gebrauch gemacht wurde, ist wieder nachrangig. Ähnlich wie bei Prüfung der Geschäftsfähigkeit geht es darum, ob Einflüsse Dritter eine pathologische Determinante (Cording 2004) werden, die gegenüber eigenen Konzeptbildungen und kritischen Reserven sowie der Fähigkeit zum kritischen Abwägen verschiedener Vorschläge und Handlungsalternativen eindeutig überwiegt. Hier geht es also um Urteilsund Kritikschwäche beziehungsweise um eine krankheitsbedingt erhöhte Beeinflussbarkeit. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass die mit dem Begriff des Altersstarrsinns prägnant beschriebene fehlende Beeinflussbarkeit eines dementen Menschen ebenfalls Ausdruck einer relevanten Kritikminderung und damit Grundlage der Testierunfähigkeit sein kann. Alle Erwägungen zur Beeinflussbarkeit durch Außenstehende sollten jedoch mit äußerster Vorsicht angestellt werden. Es steht dem Gutachter nicht zu, ein Urteil über die Motive Dritter zu fällen. Der Nachweis einer unzulässigen Beeinflussung fällt nicht in seinen Aufgabenbereich. Der Gutachter hat lediglich auf der Basis des psychopathologischen Befundes und der nachgewiesenen Funktionsbeeinträchtigungen zu beurteilen, ob ein Betroffener in der Lage war, Sachverhalte kritisch zu hinterfragen und seine Entscheidungen auf der Basis vernünftiger Abwägungen zu treffen. Gegen die Fähigkeit zum kritischen Infragestellen und vernünftigen Abwägen spricht eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit bei reduziertem kognitiven Kontrollvermögen. Dieses Ungleichgewicht kann zu disproportional überschießender Dankbarkeit für kleinere Gefälligkeiten und Vertrauensseligkeit führen. Oftmals besteht die Tendenz, rasch pseudofamiliäre Beziehungskonstellationen herzustellen (ebd.). Nachfolgend kommt es dazu, dass die konventionelle soziale Distanz, nicht zuletzt auch gegenüber Pflegepersonen oder Fremden, nicht mehr eingehalten wird. Auch dieser Aspekt soll anhand eines Fallbeispiels erörtert werden:
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Der 92-jährige Proband hatte kurz vor seinem Tod eine handschriftliche Testamentsänderung vorgenommen und seine Haushälterin zur Alleinerbin bestimmt. Zuvor hatte er in mehreren Testamenten Verwandte zu den Erben bestimmt gehabt. Von Angehörigen wurde die Testamentserrichtung mit dem Argument angefochten, dass der Proband bei der letzten Testamentsänderung dement gewesen sei. Er habe zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung die in einem Heim lebende geistig behinderte Tochter vergessen gehabt. Aufgrund seines stark eingeschränkten Lebensraumes habe er unter dem Einfluss der ihn versorgenden Personen gestanden und sich diesen Einflüssen unkritisch unterworfen. Vor diesem Hintergrund sei es zu einem Bruch in der Sinnkontinuität früherer Bestimmungen gekommen, der dem demenziellen Abbauprozess geschuldet sei. Von den Testamentsbegünstigten wurde jedoch angegeben, dass der Proband bis wenige Wochen vor seinem Tod in einer guten geistigen Verfassung gewesen sei. Er sei in der Lage gewesen, Unterhaltungen zu führen. Von nachlassenden Gedächtnisleistungen oder Störungen der Urteilsfähigkeit sei nichts zu bemerken gewesen. Angesichts der deutlich divergierenden Einschätzungen war besonderer Wert auf die Aussagen unbeteiligter Personen und Krankenunterlagen zu legen. Hierbei war zunächst auffällig, dass der Proband schon zwei Jahre vor Testamentsänderung von der gesetzlichen Betreuung seiner behinderten Tochter zurückgetreten war, da ihn die Regelung seiner finanziellen Angelegenheiten sowie die Aufstellung über das Vermögen der Tochter überfordert hatte. Dieser Vorgang gab einen deutlichen Hinweis auf einen Abbau der Leistungsfähigkeit des Probanden. Außerdem waren ein Jahr vor der Testamentsänderung während eines Krankenhausaufenthaltes erhebliche und zeitlich überdauernde Orientierungsstörungen aufgefallen. Hier wurde von den ärztlichen Kollegen auch über eine intakte äußere Fassade berichtet. Bei kritischen Nachfragen seien jedoch erhebliche Gedächtniseinbußen und Leistungsdefizite aufgefallen. Nun hatte der Notar, der das Testament beglaubigt hatte, darauf hingewiesen, dass der Proband geordnete Angaben zur Motivation seiner Testamentsänderung gemacht habe. Er habe dabei unter anderem ausgeführt, dass er seine Haushälterin begünstigen wolle, um eine Überstellung ins Altersheim zu vermeiden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Proband mit Hilfe der Testamentsänderung sozusagen aus vorauseilendem Gehorsam und Willensschwäche versucht haben könnte, sich seine Umgebung gewogen zu halten. Er litt an kognitiven Beeinträchtigungen, die Begünstigten standen ihm nahe, er befand sich in einer gewissen Abhängigkeit von ihnen und hatte seine Einstellungen gegenüber den Angehörigen innerhalb der letzten Monate vor Testamentserrichtung deutlich verändert. Somit bestanden wesentliche Kriterien, die von Foerster (2000) für eine solche krankhaft bedingte Willensschwäche benannt wurden. Die Angst davor, in ein Altenheim überstellt zu werden, kann aus psychiatrischer Sicht nicht als sachgerechte Entscheidungsgrundlage eines Testaments gelten. Dies insbesondere dann, wenn die Testamentsänderung unzweifelhaft im Kontrast
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zu denjenigen Bestimmungen steht, die noch vor Auftreten erster Krankheitssymptome über Jahre hinweg Bestand gehabt haben. Vor diesem Hintergrund war von Testierunfähigkeit auszugehen. Das Fallbeispiel zeigt, dass man bei Begutachtung der Testierfähigkeit oft auf Zeugenaussagen trifft, die sich angesichts des diskursiven Charakters der gerichtlichen Auseinandersetzung erheblich unterscheiden oder sogar widersprechen. Von der begünstigten Seite werden die erhaltenen Fähigkeiten des Probanden betont, während die Gegenseite vielfältige Beispiele inadäquaten und auffälligen Verhaltens anführt. Auch hier sollte der Gutachter größtmögliche Distanz halten und sich nicht einseitig einer Seite des Rechtsstreites zuneigen. Es geht entscheidend darum, die Qualität einzelner Zeugenaussagen vor dem Hintergrund der üblichen Verlaufsgestalten der diagnostizierten psychischen Erkrankung zu würdigen. Man sollte sich dabei vor Augen führen, dass selbst stärkste kognitive Defizite, zum Beispiel bei Demenzerkrankungen, hinter einer Fassade verborgen sein können, die sich im Rahmen alltäglicher Kontakte in ihrer Brüchigkeit nicht darstellt. Dies betrifft nicht nur die Aussagen von Nachbarn, sondern leider auch ärztliche Behandlungsunterlagen. Von größerer Bedeutung sind hier Berichte über Krankenhausaufenthalte, die infolge der Umgebungsveränderung vorhandene Leistungsdefizite demaskieren und deutlicher zutage treten lassen. Das Verhalten in Alltagssituationen ist weniger entscheidend als das Repertoire, das in nicht alltäglichen Situationen zur Verfügung steht (Cording 2004). Aus psychiatrischer Sicht kommt es insbesondere bei einer Testamentsänderung entscheidend auf die Fähigkeiten zur sachgerechten Interpretation und Bewertung von neu hinzugekommenen Informationen und weniger auf die Anpassung an Gewohntes an. Hier gilt es, Vor- und Nachteile einer Verfügung im aktuellen Kontext, aber auch im biografischen Zusammenhang abzuwägen. Die hierzu erforderliche komplexe Interaktion zwischen kognitiven Fähigkeiten und Wertvorstellungen lässt sich in einem kurzen Gesprächskontakt nicht umfassend prüfen. Hier wären nähere Erörterungen über die getroffenen Verfügungen, die zu Grunde liegenden Motive und deren Einbettung in das Wertgefüge erforderlich. Erst dann würden sich die Entscheidungsgrundlagen in Gänze offenbaren. Eine solche tiefgreifende und gelegentlich auch konflikthafte Erörterung ist jedoch nicht üblicher Bestandteil von notariellen Gesprächen oder hausärztlichen Kontakten. Ähnliches gilt für den Interaktionstil von Bekannten, gerade hier kann der über Jahre gewachsene Respekt vor Lebensleistungen und Persönlichkeit des Testierenden dazu führen, dass Defizite unerkannt bleiben. Außerdem weichen demente Patienten der Konfrontation mit eigenen Defiziten oftmals aus, indem sie Themenwechsel vornehmen oder Gegenargumente einfach übergehen. Von Cording wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die zeitliche Abfolge, in der sich ein älterer Mensch zum Beispiel aus bestimmten Lebensbereichen zurückgezogen beziehungsweise deren Erledigung Anderen überlassen hat, für die Frage der Testierfähigkeit aufschlussreich ist. Letzt-
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genannte Sachverhalte sind mit Sicherheit wesentlich bedeutsamer als der bloße Verweis auf das hohe Lebensalter und die damit verbundene statistische Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung. Es gibt keinerlei Grund, bei älteren Menschen niedrigere Maßstäbe an die Urteilsfähigkeit anzulegen als bei Jüngeren. Normale Alterungsprozesse unterscheiden sich von den klinischen Merkmalen der manifesten Demenz und führen nicht regelhaft dazu, dass Betroffene sich aus Lebensbereichen zurückziehen müssen. Abgesehen davon kann ein solcher Rückzug bei erhaltenen intellektuellen Fähigkeiten auch durch körperliche Gebrechen bedingt sein. Hierbei muss jedoch von gutachterlicher Seite berücksichtigt werden, dass „wer wirklich nur körperlich beeinträchtigt ist, in der Regel aktiv und gezielt delegiert und die Aufsicht über den jeweiligen Bereich behält“ (Cording 2004). Während notariell bestätigte Vertragsabschlüsse bei Begutachtung der Geschäftsfähigkeit eine untergeordnete Rolle spielen, wird ein Großteil der Testamente notariell beglaubigt. Vor diesem Hintergrund sind im Verfahren zur Testierfähigkeit regelhaft notarielle Zeugenaussagen zu bewerten. Es besteht jedoch breite Übereinstimmung darüber, dass diesen Zeugenaussagen nicht mehr Gewicht beizumessen ist als denen anderer Zeugen (Harrer u. Frank 1986; v. Keyserlingk 1952; Lange 1989; Langelüddeke u. Bresser 1976; Rasch 1999; Nedopil 2007). Notare sollen ein Testament nicht beurkunden, wenn Testierunfähigkeit vorliegt. Zweifel an der Testierfähigkeit sind zu dokumentieren. Es ist daher nicht überraschend, wenn die im Verfahren als Zeugen vernommenen Notare von der Testierfähigkeit Betroffener ausgehen. Jedoch sind Notare nicht zur Beurteilung der Testierfähigkeit ausgebildet. Es kann von dieser fachfremden Berufsgruppe nicht verlangt werden, psychopathologische Verformungen der Entscheidungsprozesse sachgerecht beurteilen zu können. Für den Gutachter kann es aber durchaus sinnvoll sein, an der gerichtlichen Befragung des notariellen Zeugen teilzunehmen und selbst Fragen zum Verhalten des Probanden während der Testamentserrichtung zu stellen. Vor diesem Hintergrund kann man sich ein Bild von der Kommunikation zwischen Notar und Testierendem machen. Dabei sollte insbesondere darauf geachtet werden, ob (evtl. auch begünstigte und daher interessierte) Begleitpersonen zugegen waren und ob der Notar den Testierenden von früheren Vertragsabschlüssen her kannte. Außerdem ist zu prüfen, ob und wie lange über die Motive der Testamentserrichtung beziehungsweise -änderung gesprochen wurde. Weiterhin ist bedeutsam, inwiefern und bei welchen Punkten der Testierende sich aktiv an der Testamentserrichtung beteiligt, eigene Vorschläge unterbreitet oder Korrekturen angemahnt hat. Selbst bei Feststellung einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit, von Geistesschwäche oder Bewusstlosigkeit mit relevanten Auswirkungen auf die Fähigkeit, die Bedeutung einer Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, muss geprüft werden, ob die psychopathologischen Auffälligkeiten zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung vorgelegen haben. Für die rechtliche Beurteilung ist nämlich allein der Zeitpunkt des Abschlusses der Testamentserrichtung bindend. Dieser Sach-
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verhalt lässt bedauerlicherweise Raum für die antiquierte Rechtsfigur des luziden Intervalls. Diese findet zwar keinen Platz in den Gesetzestexten, hat sich jedoch in der Rechtsprechung und den Kommentaren zur Geschäftsund Testierfähigkeit erhalten, obwohl von psychiatrischer Seite bereits Anfang des letzten Jahrhunderts fundierte Kritik geübt wurde (Hoche 1901). Luzide Intervalle sollen kurz dauernde Zustandsbesserungen während eines chronischen Krankheitsprozesses darstellen. Solche über kurzzeitige Schwankungen ohne durchgreifende Wirkungen auf die Fähigkeit zur Willensbestimmung hinausgehende Befundbesserungen mit Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit sind jedoch für chronisch progrediente und irreversible Erkrankungen nicht vorstellbar. Deshalb wird, wie bereits im Abschn. 2.1.2.4 ausgeführt wurde, innerhalb der forensischen Psychiatrie eine durchgängige ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsfigur vertreten (Lange 1989; Rasch u. Bayerl 1985; Habermeyer u. Saß 2002 c; Nedopil 2007; Binder 1998; Saß u. Kröber 1999). Die Berechtigung dieser Skepsis wurde zuletzt von Cording (2004) am Beispiel der vaskulären Demenzen erläutert. Auch diese Störung geht nämlich nicht mit dem früher postulierten fluktuierenden Verlauf und der ernsthaften Möglichkeit einer weitgehenden Spontanremission einher, sondern verläuft als subkortikale vaskuläre Demenz beziehungsweise progressive subkortikale vaskuläre Enzephalopathie primär progredient. Die für die Testierfähigkeit entscheidenden Einbußen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit sind dabei weniger deutlichen Fluktuationen unterworfen als die akzessorischen Symptome, wie zum Beispiel Verwirrtheit, Wahn oder Halluzinationen bei Exsikkose oder Fieber (Wetterling et al. 1996). Bei fortgeschrittenen demenziellen Prozessen kann es allenfalls zu Teilremissionen kommen, die jedoch keinesfalls mit Testierfähigkeit gleichzusetzen sind (Foerster 2000; Habermeyer u. Saß 2002 c). Bei prinzipiell-reversiblen Störungen, zum Beispiel endogenen Psychosen, ist das Nachlassen psychotischer Phänomene über längere Zeiträume zu beobachten und somit in der Regel durch Zeugenaussagen zu erhärten. Allmähliche Befundbesserungen, z. B. durch die Einleitung geeigneter medikamentöser Therapien, haben nichts mit luziden Intervallen gemein (Cording 2004). Hier sollte auf die für die Bedeutung der Testierfähigkeitsbeurteilung maßgebliche Symptomatik, also auf die Wiedergewinnung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit, eingegangen werden. Diese Fähigkeiten werden vorwiegend durch Akutsymptome schizophrener Erkrankungen, wie zum Beispiel Wahn, Halluzinationen und Ich-Störungen, gefährdet. Bei chronisch psychotischen Erkrankungen bleibt, wie Saß und Kröber (1999) zu Recht betonen, der krankhaft gewandelte Weltbezug entscheidend, der nicht für Stunden in seinen wesentlichen Vorgaben korrigierbar ist, auch wenn ein Betroffener momentan geordnet erscheint. Es gilt dann zu prüfen, inwiefern die getroffenen Verfügungen im inhaltlichen Zusammenhang mit dem Wahnthema stehen. Leider hat sich der Begriff des luziden Intervalls trotz all dieser Bedenken gehalten. Jedoch ist es aus psychiatrischer Sicht nur konsequent, dass in Umkehr der üblichen Beweislast, nach der der Erblasser so lange als tes-
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tierfähig anzusehen ist, bis seine Testierunfähigkeit zur vollen Überzeugung des Gerichtes nachgewiesen ist, bei gegebener Testierunfähigkeit der Beweis des ersten Anscheines dafür genügt, dass der Erblasser auch zum konkreten Zeitpunkt der Testamentserrichtung testierunfähig war. In diesem Fall muss derjenige, der sich auf ein luzides Intervall beruft, die Beweis- beziehungsweise Feststellungslast für die ernsthafte Möglichkeit desselben tragen. Die theoretische Möglichkeit eines „luziden Intervalls“ genügt nicht, es muss vielmehr medizinisch für „ernsthaft möglich“ gehalten werden (BayObLG v. 1. 8. 1979, 1 Z 16/79; RZ 1985, 314). Diese ernsthafte Möglichkeit dürfte während psychotischer Krankheitsphasen und insbesondere bei chronisch-progredienten Störungen, wie z. B. Demenzen, kaum zu bejahen sein. Soweit zur Testierfähigkeit, bei deren Bearbeitung der psychopathologische Arbeitsansatz vorwiegend unter Berücksichtigung der veränderten Erkenntnismöglichkeiten zu modifizieren war. Die weiteren Erörterungen betreffen wieder Konstellationen, bei denen eine Untersuchung des Probanden in der Regel möglich ist.
2.3
Prozessfähigkeit
Der Begriff der Prozessfähigkeit ist von dem der Verhandlungsfähigkeit zu unterscheiden. Letztgenannter Begriff umschreibt die Fähigkeit, der Gerichtsverhandlung aufmerksam folgen und dort eigene Interessen vertreten zu können. Bei der Prozessfähigkeit geht es darum, selbst Klagen einreichen oder einen Prozessvertreter benennen zu können. Es geht hier also um wesentlich fundamentalere Rechte, an deren Aberkennung ähnlich hohe Maßstäbe wie an diejenigen der Geschäftsunfähigkeit gestellt werden. Dementsprechend sind alle Personen, die sich durch Verträge verpflichten können, nach § 52 ZPO prozessfähig. Schon diese Formulierung des Gesetzestextes macht deutlich, dass die Prozessfähigkeit als Teil der Geschäftsfähigkeit zu verstehen ist. Somit sind diejenigen Menschen prozessunfähig, bei denen die Voraussetzungen der Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Nr. 2 BGB vorliegen (Baldus 2005, § 104 Rn 23). Aus psychiatrischer Sicht interessant ist jedoch, dass Prozess- und Geschäftsfähigkeit nicht stets aneinander gekoppelt sind. Ein unter Betreuung Stehender ist nämlich solange als prozessfähig anzusehen, solange es in einem Prozess um die Frage seiner Prozessfähigkeit beziehungsweise der Berechtigung der gesetzlichen Betreuung geht. Diese Regelungen dienen der Rechtssicherheit des Betreuten, dem ein Widerspruchsrecht gegen die Einrichtung einer Betreuung zuerkannt wird. Gleiches gilt in Vormundschafts-, Familien und Unterbringungssachen. Wenn jedoch zu Gunsten eines reibungslosen Ablaufes eines Gerichtsverfahrens widersprüchliche Handlungen von dem Betreuten als Prozesspartei und Betreuer vermieden werden sollen, kann ein unter Betreuung stehender Mensch, trotz gegebener Ge-
2.4 Deliktsfähigkeit
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schäftsfähigkeit, im Gerichtsverfahren durch einen Betreuer vertreten werden und gilt dann als prozessunfähig (§ 53 ZPO). Bei angeordnetem Einwilligungsvorbehalt können Betreute für den vom Einwilligungsvorbehalt betroffenen Bereich keine rechtswirksamen Prozesshandlungen vornehmen, ohne diese im Nachhinein mit dem Betreuer abzustimmen. Lehnt der Betreuer die Handlung ab, wird sie unwirksam. Dieses Verfahren ähnelt demjenigen bei der eingeschränkten Geschäftsfähigkeit Minderjähriger. Ähnlich wie bei der partiellen Geschäftsfähigkeit sieht der Gesetzgeber auch eine partielle Prozessunfähigkeit vor. Hierbei gilt es, querulatorische Entwicklungen von definierten psychischen Störungen zu unterscheiden, da nur letztgenannte Prozessunfähigkeit begründen können. Für querulatorische Fehlentwicklungen, bei denen die Überzeugung besteht, vor Gericht Unrecht erlitten zu haben, gilt dies nicht (Dinger u. Koch 1991). Bei der Begutachtung geht es daher um die Unterscheidung zwischen dem für die Gerichte lästigen, im weiteren Sinne auch selbstschädigenden Verhalten von übernachhaltigen Menschen und klinisch relevanten paranoiden Entwicklungen oder paranoiden Persönlichkeitsstörungen. Foerster (2000) hat diesbezüglich davor gewarnt, sich von Gerichten dazu benutzen zu lassen, lästige, eventuell auch unangenehme Menschen gegenüber den Institutionen des Rechts mundtot zu machen. Daher sollte man sich bei der Differenzierung zwischen Querulanz und wahnhafter Entwicklung beziehungsweise einer paranoiden Persönlichkeitsstörung unbedingt an den diagnostischen Vorgaben der Klassifikationssysteme (American Psychiatric Association 2000, WHO 1994) orientieren. Darüber hinaus kann, ähnlich wie bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit, auf das psychopathologische Referenzsystem von Saß (1985, 1991) zurückgegriffen werden, um die Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung auf die psychosoziale Leistungsfähigkeit adäquat gewichten zu können. Außerdem sollte bei Begutachtung der Prozessfähigkeit auf die im Zusammenhang mit der Geschäftsfähigkeit detailliert beschriebenen psychopathologischen Arbeitsgrundlagen zurückgegriffen werden. Dabei ist zu beachten, dass zwar auch bei der Prozessfähigkeit die Beweislast bei demjenigen liegt, der sie behauptet. Jedoch muss das Gericht von Prozessunfähigkeit ausgehen, wenn es nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisquellen nicht zu seiner Überzeugung feststellt, dass Prozessfähigkeit vorliegt (Baldus 2005, § 104 Rn 23 mit Kritik an dieser Auffassung).
2.4
Deliktsfähigkeit
Die Deliktsfähigkeit ist im § 827 S. 1 BGB geregelt. Demnach ist für einen Schaden nicht verantwortlich, wer diesen im Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit verursacht hat. Hier bestehen deutliche Übereinstimmungen mit den gesetzlichen Vorgaben zur Geschäfts-
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unfähigkeit beziehungsweise Nichtigkeit einer Willenserklärung. Konsequenterweise gelten Kinder bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres als nicht deliktfähig. Sie können für von ihnen verursachte Schäden nicht haftbar gemacht werden. Für den Zeitraum von sieben Jahren bis zur Volljährigkeit kommt es für den Gesetzgeber auf die so genannte „bedingte“ Zurechnungsfähigkeit an. Diese Rechtsfigur zeigt Parallelen zur „beschränkten Geschäftsfähigkeit“ des Minderjährigen gleichen Alters. Auch die fehlende Deliktsfähigkeit muss von demjenigen, der sich darauf beruft, bewiesen werden. Somit kann bei Begutachtung der Deliktsfähigkeit auf die Überlegungen zur Geschäftsunfähigkeit beziehungsweise Nichtigkeit einer Willenserklärung zurückgegriffen werden. Auch hier gilt, dass eine Abstufung der Deliktsfähigkeit nicht vorgesehen ist. Im Unterschied zur Nichtigkeit einer Willenserklärung nach § 105 BGB, bei der die Frage, ob die auf Rauschzustände bezogene „Bewusstlosigkeit“ selbstverschuldet ist, keine Rolle spielt, wird der Verursacher eines Schadens allerdings haftbar gemacht, wenn er durch eigenes Verschulden in einen Rauschzustand gekommen ist. Eine Ausnahme ergibt sich lediglich für substanzinduzierte psychotische Störungen. Hier kann die Deliktfähigkeit ausgeschlossen sein, wenn die Symptomatik über den Bereich üblicher Rauschsymptome hinausgegangen ist und zu Störungen der Realitätswahrnehmung geführt hat (Foerster 2000).
2.5
Eherecht
Jeder Erwachsene kann die Ehe schließen. Gegenläufige Überlegungen müssen erst dann angestellt werden, wenn der Standesbeamte den Eindruck hat, dass Geschäftsunfähigkeit besteht. Insofern gelten ähnliche Bestimmungen wie für die Verfügungen von Todes wegen, bei denen ebenfalls ein fachfremder Berufsstand eine Einschätzung des psychischen Zustandes abgeben soll. Auch unter Betreuung stehende Personen gelten bis zum Beweis des Gegenteils als befähigt, die Ehe zu schließen. Bei bestehender gesetzlicher Betreuung hat auch die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes keine Auswirkungen auf die Ehefähigkeit des Betreuten. Der Einwilligungsvorbehalt kann jedoch für alle im Zusammenhang mit der Ehe stehenden vermögensrechtlichen Regelungen zum Tragen kommen. Dies betrifft z. B. den Abschluss eines Ehevertrages oder Maßnahmen bei Scheidungen. Auch bei Bedenken des Betreuers kann die Ehe nur dann aufgehoben werden, wenn der Betreute bei Eheschließung geschäftsunfähig war. Somit kann sich der psychiatrische Sachverständige auch im Kontext des Eherechtes an den Bestimmungen zur Geschäftsfähigkeit und dem im Abschnitt 2.1.2.2 und 2.1.2.4 ausführlich dargestellten Vorgehen orientieren.
2.6 Prüfung der Einwilligungsfähigkeit
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Prüfung der Einwilligungsfähigkeit
2.6.1 Grundsätzliches Die Frage der Einwilligungsfähigkeit betrifft alle medizinpraktischen Fachgebiete, aber auch die theoretische Medizin, soweit sie Forschungen am Menschen durchführt (Taupitz 2001; Deutsch 2002). Sie muss vor jedem diagnostischen und therapeutischen Eingriff erfragt und geprüft werden. Von einer wirksamen Einwilligung kann nur nach verstandener Aufklärung ausgegangen werden. Voraussetzung ist die Fähigkeit des Patienten beziehungsweise Probanden, Bedeutung und Tragweite des vorgesehenen Eingriffes ermessen und sich gemäß dieser Einsicht verhalten zu können. Der Patient hat also das Recht, vor einer Untersuchung, einer Operation oder vor Einleitung einer medikamentösen Therapie über das Rationale und Vor- sowie Nachteile der geplanten Maßnahme aufgeklärt zu werden. Der Arzt ist in der Pflicht, die für die Zustimmung oder Ablehnung der geplanten Maßnahme erforderlichen Informationen zu liefern. Allerdings kann der einwilligungsfähige Patient die vertiefte Auseinandersetzung mit Vorund Nachteilen der vorgeschlagenen ärztlichen Strategie mit dem Hinweis verweigern, dass er sich in die Hand des Arztes begeben wolle und deshalb auf eine detaillierte Erörterung der Problematik verzichte. Es liegt nämlich beim Patienten zu entscheiden, inwieweit er von seinem Recht auf eine Aufklärung Gebrauch machen will. Ein unter Betreuung stehender Patient ist nicht per se unfähig zur Einwilligung in einen medizinischen Eingriff. Dies gilt auch für eine Betreuung für den medizinischen Bereich. Allerdings sollte insbesondere bei einem Einwilligungsvorbehalt für den medizinischen Bereich der Kontakt zum Betreuer gesucht werden, um eventuell bestehende Differenzen zwischen Patienten- und Betreuerwille aufdecken zu können. Der Betreuer kann sich jedoch auch in diesem Fall nicht ohne weiteres über den Willen des Patienten hinwegsetzen, sondern muss diesen seiner Entscheidung zu Grunde legen. Drohen bei der zur Entscheidung stehenden Maßnahme schwer wiegende gesundheitliche Komplikationen, ist zusätzlich die Entscheidung des zuständigen Vormundschaftsgerichts einzuholen. Auch mit der Feststellung von Geschäftsunfähigkeit ist keine Aussage zur Einwilligungsunfähigkeit getroffen. Im Unterschied zur Geschäftsfähigkeit, die entweder gegeben oder aufgehoben ist, sind an die Einwilligungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Schwere des geplanten Eingriffes unterschiedlich hohe Anforderungen zu stellen. Demnach werden an die Einwilligungsfähigkeit im Kontext eines lebensbedrohlichen operativen Eingriffes höhere Anforderungen gestellt als an diejenige zur Genehmigung einer Blutentnahme. Bei der Einwilligungsfähigkeit handelt es sich also um ein relationales Konstrukt, das nur in Verbindung mit dem geplanten Eingriff beurteilt werden kann. Dieser Gesichtspunkt macht deutlich, dass die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit stets als Aufgabe desjenigen Arztes anzusehen ist, der einen bestimmten Eingriff beziehungsweise eine therapeutische Maß-
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nahme plant. Lediglich die Experten des jeweiligen medizinischen Fachgebietes sind in der Lage, die Auswirkungen z. B. eines komplexeren operativen Eingriffes sachverständig zu erörtern und einen fundierten Überblick über seine Chancen und Risiken zu geben. Für den Psychiater ist in diesem Kontext nur bei Hinweisen auf die fehlende Einwilligungsfähigkeit Platz. Die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit beinhaltet zunächst einmal die Beantwortung der Frage, ob die vom Arzt im Aufklärungsgespräch vermittelte Information verstanden wurde. Nur auf dieser Basis kann eine tragfähige Zustimmung beziehungsweise Übereinstimmung zwischen Arzt und Patient („informed consent“) erreicht werden. Unabhängig von der ärztlichen Aufklärungspflicht hat der Patientenwille, d. h. die Selbstbestimmung des Patienten durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 17. 03. 2003, das im Deutschen Ärzteblatt vorgestellt wurde (Beleites 2004a), an Bedeutung gewonnen. Im Kontext lebenserhaltender Maßnahmen wurde festgelegt, dass eine frühere Willensbekundung (z. B. Patientenverfügung), mit welcher der Patient seine Einwilligung für umschriebene Behandlungssituationen (z. B. Beatmung bei Wachkoma) erklärt oder verweigert habe, auch für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten weiterwirke. Unabhängig von der ärztlichen Aufklärung geht es hier entscheidend um persönliche Werte des Patienten, an die der Arzt gebunden ist. Die inzwischen eingetretene Einwilligungsunfähigkeit ändert nichts an der fortdauernden Maßgeblichkeit des früher erklärten Willens. Die Orientierung am mutmaßlichen Willen des Patienten ist demnach nur zulässig, wenn ein erklärter Wille des Patienten nicht festgestellt werden kann. Auch in diesem Fall sollen jedoch die Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen des Patienten der Entscheidung über seinen mutmaßlichen Willen zu Grunde gelegt werden. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zu ärztlichen Sterbebegleitungen haben sich am BGH-Entschluss orientiert (ebd.). Hier ist die Rede davon, dass beim einwilligungsunfähigen Patienten die in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung einer Behandlung für den Arzt bindend sei, sofern keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Willensänderung erkennbar seien. Eine Patientenverfügung ist demnach eine schriftliche oder mündliche Willensäußerung eines einwilligungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung für den Fall einer Äußerungsunfähigkeit. Die BGH-Entscheidung und die darauf basierenden Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung wurden im Deutschen Ärzteblatt hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die ärztliche Tätigkeit, hier insbesondere für den Bereich der Notfall- und Intensivmedizin intensiv diskutiert (Bickhardt 2004; Borasio u. Eisenmenger 2004; Dörner 2004; Klucken 2004; Krüger 2004; Lauter 2004; Strätling 2004; Beleitis 2004 b). Eine Patientenverfügung ist nicht an eine ärztliche Aufklärung gekoppelt. Sie gewinnt ihre Aussagekraft vorwiegend dadurch, dass in ihr eine individuelle Wertentscheidung niedergelegt wird. Aufgrund des Primats der Selbstbestimmung des Patienten kann die Gültigkeit einer solchen Verfügung nicht allein anhand der sachlichen Berechtigung des ihr zu Grunde liegenden Krankheitsverständnisses beurteilt werden. Daraus resultiert die Notwendig-
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keit, bei Prüfung der Einwilligungsfähigkeit und im Umgang mit Patientenverfügungen eine intensive Auseinandersetzung mit den biografisch gewachsenen Wertvorstellungen der Patienten und ihrer Fähigkeit, einen Willen zu bilden und zu bestimmen, zu führen. Schließlich ist nicht nur das Informationsverständnis und die -verarbeitung störbar, sondern auch die Fähigkeit zur Willensbildung beziehungsweise Umsetzung des eigenen Willens. Der Arzt kann sich bei der Prüfung der Einwilligungsfähigkeit nicht nur auf die informellen Grundlagen eines „informed consent“ konzentrieren. Er muss sich auch mit dem Wertesystem des Patienten und dessen biografisch gewachsenen Überzeugungen auseinandersetzen.
2.6.2 Praktisches Vorgehen Mit dem Begriff der Einwilligungsunfähigkeit haben sich Helmchen (1992, 1994, 1997), Vollmann (2000), Bauer und Vollmann (2002) ausführlich auseinandergesetzt. Hierbei wurde unter anderem auf Arbeiten von Amelung (1995, 1997, 1999) zurückgegriffen. Eine Arbeitsgruppe um Helmchen u. Lauter (1995) hat folgende Voraussetzungen der Einwilligungsunfähigkeit definiert: z Einwilligungsunfähig ist, wer wegen Minderjährigkeit, geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankungen nicht erfassen kann, – um welche Tatsachen es sich bei der Entscheidung handelt oder – welche Folgen oder Risiken sich aus der Einwilligungsentscheidung ergeben und welche Mittel es zur Erreichung der mit der Einwilligung verbundenen Ziele gibt, die ihn weniger belasten, oder – welchen Wert oder welchen Rang die von der Einwilligungsentscheidung berührten Güter und Interessen für ihn besitzen. z Das gleiche gilt, wenn der Minderjährige, geistig Behinderte oder psychisch Erkrankte zwar die erforderliche Einsicht hat, aber nicht in der Lage ist, seinen Willen nach ihr zu bestimmen. Die Beurteilung hat sich demnach an einem zweischrittigen Vorgehen zu orientieren, das zunächst drei Eingangsvoraussetzungen, nämlich Minderjährigkeit, geistige Behinderung oder psychische Erkrankungen benennt. Hierbei bleibt zunächst auszuführen, dass die vorgenannte Definition mit guten Gründen keine konkreten Aussagen zum Ausprägungsgrad einer geistigen Behinderung, z. B. anhand des IQ, definiert hat. Außerdem wird keine Aussage dazu getroffen, welche psychischen Erkrankungen die Einwilligungsfähigkeit in Frage stellen können. Auch hier wird das relationale Prinzip der Einwilligungsfähigkeit deutlich: Man kann sich nicht allein an der Diagnose beziehungsweise am Schweregrad der Erkrankung orientieren, sondern muss auch die Komplexität und das Risikoprofil der geplanten ärztlichen Maßnahme berücksichtigen. Daher kann keine psychiatrische Erkrankung von vorneherein als Ausschlussgrund angesehen werden. Vielmehr sind unter Berücksichtigung der geplanten ärztlichen Maßnahme die
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Auswirkungen der vorgenannten Eingangsvoraussetzungen auf die Fähigkeit zu berücksichtigen, den Willen aufgrund einer zutreffenden Einsicht zu bilden beziehungsweise diesen Willen zu bestimmen. In Anlehnung an Kröber (1998) sollen die hierzu anzustellenden Überlegungen nach vier Gesichtspunkten gegliedert werden: 1. Informationsverständnis, 2. Informationsverarbeitung, 3. Urteilsfähigkeit und 4. Willensbestimmung. Fehlendes Informationsverständnis schließt eine sachgerechte Informationsverarbeitung, Urteilsfähigkeit und Willensbestimmung aus. Dadurch ist es bei Nachweis signifikanter psychopathologischer Auffälligkeiten möglich, in jeder der vorab skizzierten vier Stufen des Entscheidungsprozesses aus der Beurteilung auszusteigen. Die Frage der Willensbestimmung ist somit nur dann relevant, wenn sich bei den ersten drei Stufen der Beurteilung, die für die Willensbildung relevant sind, keine oder nur unwesentlich ausgeprägte Auffälligkeiten gezeigt haben. z 1. Informationsverständnis Hier geht es primär darum, ob ein Patient die ärztliche Aufklärung mit Darstellung der Chancen, Nebenwirkungen und Risiken eines ärztlichen Vorgehens überhaupt verstehen kann. Dieser Punkt ist von der Qualität der gegebenen Aufklärung, d. h. deren Verständlichkeit, abhängig. Ein adäquates Informationsverständnis ist selbst bei bester und auf die intellektuellen Möglichkeiten des Patienten ausgerichteter Aufklärung ausgeschlossen, wenn örtliche oder situative Desorientiertheit, hochgradige Merkfähigkeitsstörungen, ausgeprägte Gedächtnis- beziehungsweise Aufmerksamkeitsstörungen oder Störungen der Bewusstseinshelligkeit vorliegen. Bei leichterer Ausprägung der oben genannten Symptome muss die Fähigkeit, die Information zu verstehen, genauer geprüft beziehungsweise die Aufklärung auf die eingeschränkten Fähigkeiten des Patienten abgestimmt werden. Das Informationsverständnis kann dadurch geprüft werden, dass man den Patienten bittet, die Informationen zu wiederholen. Hierbei ist zunächst darauf zu achten, ob relevante Punkte überhaupt wahrgenommen wurden. Ist dies der Fall, sollte der Patient aufgefordert werden, die Risiken und Vorteile der geschilderten Maßnahme in eigenen Worten wiederzugeben. Dieser Aspekt leitet zum zweiten Punkt über, da hierbei nicht nur das Verständnis der Information, sondern auch die Informationsverarbeitung geprüft wird. z 2. Informationsverarbeitung Bei der Informationsverarbeitung geht es nicht nur um die vom Arzt vorgeschlagene Untersuchungs- oder Behandlungsmethode und ihre Risiken, sondern auch um die Fähigkeit, alternative Möglichkeiten zu berücksichti-
2.6 Prüfung der Einwilligungsfähigkeit
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gen und ihre Auswirkungen auf die eigene Gesundheit kritisch abzuwägen. Im Aufklärungsgespräch werden relevante Defizite z. B. dadurch deutlich, dass nur einzelne Aspekte der Information wiederholt beziehungsweise als alleinige Grundlage der Entscheidung herangezogen werden. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Alternativen ist nicht möglich, wenn eine hochgradige affektive Vereinseitigung der Beurteilungsmaßstäbe vorliegt oder eine gegebene Information wahnhaft verarbeitet wird. Gleiches gilt für die im Gefolge von Hirnschädigungen auftretende Unfähigkeit, eine Erkrankung sowie die mit ihr verbundenen Defizite wahrzunehmen (Anosognosie). Hierbei können ähnlich wie beim Wahn die Informationen (z. B. über die geplante Behandlungsmaßnahme) nicht mit dem realen Sachverhalt (Art und Wesen der eigenen Erkrankung) abgeglichen werden. In abgeschwächter Weise gelten solche Überlegungen auch für den Fall, dass die eigene Erkrankung verleugnet oder bagatellisiert wird. Hier besteht jedoch die Möglichkeit, durch behutsame Gesprächsführung beziehungsweise mehrfache Intervention eine Korrektur herbeizuführen, während ein Wahn im Gespräch nicht zu korrigieren ist. Affektive Auffälligkeiten, wie z. B. ein depressiver, missmutiger, euphorischer, misstrauischer und zorniger Affekt sowie Affektlabilität, können die Informationsverarbeitung ebenfalls stören. Affektiv aufgeladene Gesprächssituationen lassen sich in der Regel durch eine Unterbrechung des Gesprächs oder das Hinzuziehen von Vertrauenspersonen des Patienten entspannen. Während es unter dem Stichpunkt Informationsverständnis vorwiegend darum ging, dass der Arzt seine Aufklärung an den intellektuellen Fähigkeiten eines Patienten ausrichtet, geht es hier darum, situative Rahmenbedingungen zu schaffen, die adäquate Überlegungen, Rückfragen und die Diskussion kontroverser Gesichtspunkte zulassen. Dieser Punkt ist auch beim dritten Schritt der Prüfung zu beachten. z 3. Urteilsfähigkeit Zusammen mit dem Informationsverständnis beziehungsweise mit der Informationsverarbeitung kann die Frage der Urteilsfähigkeit als Bestandteil der Willensbildung gesehen werden. Hier ergeben sich Analogien zum Begriff der Einsichtsfähigkeit, der bei Prüfung der Schuldfähigkeit von Bedeutung ist (Habermeyer u. Hoff 2004). Konkret geht es darum, ob der Patient verschiedenen Aspekten der Aufklärung über Nutzen und Risiken einer vorgeschlagenen Maßnahme eine individuelle Bedeutung zumessen und bei der Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung berücksichtigen kann. Die Urteilsfähigkeit betrifft somit den Bereich, der nicht nur für die Frage einer im Gespräch vorbereiteten Einwilligung, sondern auch für die Wirksamkeit von Patientenverfügungen entscheidend ist. Es geht um die Integration kognitiver und affektiver Komponenten des Informationsverständnisses und der Informationsverarbeitung in einen komplexen Entscheidungsprozess, der auch persönliche Werte, Erfahrungen und Ziele berücksichtigt. Letztgenannte Aspekte können beim Verlust lebensgeschichtlicher Bezüge, z. B. bei Situationsverkennung, Dissoziation beeinträchtigt
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werden. Außerdem sind auch hier Wahnphänomene zu berücksichtigen, die zu veränderten Wertsetzungen, einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Situation oder der sozialen Bezüge führen können. Letztendlich geht es um die Frage, ob sich die Entscheidung des Patienten in seine bisherige biografische Entwicklung einfügt und in Übereinstimmung mit seinen Werten und Zielen steht. Da es hier um individuelle Werte des Patienten geht, entzieht sich die Frage der Urteilsfähigkeit schablonenartigen Lösungsansätzen. Sie kann als entscheidender und biografisch fundierter Bestandteil der Fähigkeit zur freien Willensbildung angesehen werden. Im Rückgriff auf eine frühere Umschreibung des Willens (Habermeyer u. Saß 2002 a) kann von freier Willensbildung nicht gesprochen werden, wenn – wie unter 1. und 2. erörtert – kognitive Voraussetzungen der Entscheidungsfindung, Planung, Reflektion und Zielgerichtetheit betroffen oder die Persönlichkeit Betroffener soweit verändert ist, dass der Zugang zu persönlichen Wertvorstellungen verstellt beziehungsweise das Wertgefüge verformt wird. Hierbei kommen affektive Veränderungen, Wahnsymptome, Ich-Erlebnis-Störungen, Halluzinationen oder Ambivalenz negativ zum Tragen. Bei Zweifeln an der Fähigkeit zur Willensbildung ist es nicht selten erforderlich, Informationen von Dritten einzuholen, um beurteilen zu können, ob die getroffene Entscheidung in Einklang mit der lebensgeschichtlichen Entwicklung und persönlichen Werten steht. Organische Persönlichkeitsveränderungen, aber auch Residualzustände bei schizophrenen Psychosen können sich hier nachteilig auswirken, da sie zu veränderten Wertsetzungen führen. Gleiches gilt für manische oder schwerwiegende depressive Erkrankungen. z 4. Willensbestimmung In den ersten drei Schritten ging es darum, ob der Patient seine Gedanken ordnen, auf Informationen ausrichten und lebensgeschichtlich fundiert urteilen kann. Die Fähigkeit, den Willen zu bestimmen, geht jedoch über die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, hinaus. Entscheidend ist hier, ob eine getroffene Willenserklärung auch dann beibehalten wird, wenn sie dem Willen oder den „Ratschlägen“ nahe stehender Personen widerspricht. Insbesondere bei Demenzkranken ist oft zu beobachten, dass ohne ausreichende Kritik den jeweils aktuellen Ratschlägen anwesender Personen gefolgt wird. Auch solche Einbußen der Willensbestimmung sind geeignet, die Fähigkeit zur Einwilligung in eine ärztliche Handlung aufzuheben. Außerdem können getroffene Entscheidungen bei Stupores, aber auch abnormen Erlebnisreaktionen („Schock“), Ambivalenz, Entscheidungshemmungen, schweren Zwangserkrankungen oder Ideenflucht nicht umgesetzt werden. Hinweise auf eine Störung der Willensbestimmung ergeben sich durch rasch wechselnde, widersprüchliche Stellungnahmen des Patienten.
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2.6.3 Fazit Ein sachgerechtes Vorgehen setzt voraus, dass die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit nicht als Teil des klinischen Routinebetriebes begriffen wird. Der Aufklärung über die Risiken und Möglichkeiten der geplanten ärztlichen Maßnahme ist ausreichender zeitlicher Raum zu widmen. Es gilt, sich nicht von vermeintlichen Zeichen der Einwilligungsfähigkeit, wie freundliche Zugewandtheit, blenden zu lassen, sondern genau zu erfassen, inwieweit auf die spezifischen Anforderungen, die sich durch das Aufklärungsgespräch ergeben, differenziert reagiert wird beziehungsweise reagiert werden kann. Hierbei ist zu prüfen, ob und wie der Patient seine jetzige Situation versteht, was er von den Inhalten der Aufklärung verstanden hat und wie er die unterbreiteten Vorschläge zur ärztlichen Vorgehensweise in seine persönliche und lebensgeschichtliche Situation einordnet. Dem Patienten muss Raum gegeben werden, darzustellen, welche Schlüsse er aus der Aufklärung zieht, welche Chancen und Risiken er der Einwilligung zu Grunde legt und welche Alternativen er zu der getroffenen Entscheidung sieht. Die Tragfähigkeit eines in einer Patientenverfügung bekundeten Willens wird im Zweifelsfalle daher auch immer vor dem Hintergrund der Situation, in der die Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht verfasst beziehungsweise eine Aufklärung durchgeführt wurde, geprüft werden müssen. Eine Patientenverfügung kann nur dann bindend sein, wenn sie in einwilligungsfähigem Zustand erstellt wurde. Aus dem vorab Gesagten ergeben sich Fragen nach dem korrekten Umgang mit Patientenverfügungen. Hierzu bleibt zunächst auszuführen, dass der Arzt nicht zur Umsetzung einer Vorsorgevollmacht beziehungsweise Patientenverfügung verpflichtet ist, wenn diese nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht oder Behandlungsformen ausschließt, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Wenn keine unmittelbare Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, kann der Arzt also Maßnahmen verweigern, für die er keine medizinische Indikation sieht oder denen die Regeln einer sachgerechten Behandlung entgegenstehen (Fritze u. Saß 2003). Ein besonders problematischer Aspekt ergibt sich beim medizinischen Notfalleinsatz und einem nicht äußerungsfähigen Patienten. Die vorab angemahnte und in mehreren Schritten durchzuführende Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Patientenverfügung ist in den kurzen Zeiträumen einer akuten medizinischen Notfallsituation in der Regel nicht zu gewährleisten. Wenn sich hier Zweifel an der Rechtswirksamkeit der Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht ergeben, dürfte es sinnvoll sein, Notfallmaßnahmen einzuleiten, die dieser Entscheidung zu Grunde liegenden Zweifel aber sorgfältig zu dokumentieren (hierzu aus juristischer Sicht Spickhoff (2005)). Der Vorgang wäre dann zur Feststellung des mutmaßlichen Willens an das zuständige Vormundschaftsgericht abzugeben. Wenn ein Patient die Behandlung ablehnt, ist ein Abwägen von Akuität und Intensität der drohenden Gefahr einerseits sowie der Ernsthaftigkeit und Begründetheit des Patientenwillens andererseits vorzunehmen. Die
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ärztliche Hilfspflicht zwingt nur dann zur Behandlung, wenn Gefahrenmomente den ablehnenden Patientenwillen überwiegen, typischerweise bei unmittelbar drohenden schweren Schädigungen der Gesundheit. In allen anderen Fällen ist eine andere Behandlungsgrundlage, z. B. über das Betreuungsrecht, zu suchen oder die Behandlung gemäß dem Willen des einwilligungsfähigen Patienten abzubrechen.
2.6.4 Zusammenfassung Die Einwilligungsfähigkeit eines Patienten ist vor jedem diagnostischen beziehungsweise therapeutischen Eingriff zu prüfen. Dabei ist in direktem Arzt-Patienten-Kontakt die sachgerechte, auf die Verständnismöglichkeiten des Patienten ausgerichtete, ausführliche Aufklärung über Chancen und Risiken der geplanten Maßnahmen entscheidend. Die aktuelle Rechtsprechung hat neben den Aufklärungsaspekten jedoch dem Willen und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten entscheidende Bedeutung zuerkannt. Diesen Gesichtpunkten wurde in früheren Erörterungen zum „informed consent“, also der Zustimmung nach sachgerechter Aufklärung, keine zentrale Bedeutung zugemessen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Notwendigkeit, frühere Stellungnahmen um Erörterungen zur Frage der Willens- und Selbstbestimmung zu ergänzen. Überhaupt empfiehlt es sich, die Aufklärung des Patienten nicht nur als Informationsvermittlung, sondern als Bestandteil eines komplexeren Austauschs mit dem Ziel einer „shared decision“ zu verstehen (Fenten 2003; Hamann et al. 2003), bei der ein partnerschaftlicher Konsens bezüglich der Behandlungsoptionen angestrebt wird. Auf diese Weise können sowohl die fachlichen Möglichkeiten als auch die Vorbehalte des Patienten berücksichtigt werden. Ein Vorteil dieser Sichtweise liegt darin, dass hier auch Platz für Kompromisse (z. B. Einnahme des besser verträglichen, aber dafür weniger stark wirksamen Medikamentes anstatt einer völligen Verweigerung einer Medikation) bleibt.
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2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit
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2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der Geschäftsfähigkeit
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht H. Remschmidt, F. Mattejat
3.1
Kindeswohl und Elternrecht
In der Verfassung sind die Grundrechte des Kindes (Art. 2 GG) und der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) festgelegt. In Art. 6 Abs. 1 GG werden Ehe und Familie als Gemeinschaft unter besonderen staatlichen Schutz gestellt. Einheit und Eigenständigkeit der Familie als immer noch beste und effektivste Sozialisationsinstanz sind auch im Sinne einer Wertentscheidung allgemein anerkannt. Von diesen Prämissen her muss davon ausgegangen werden, dass Kindeswohl und Elternrecht beziehungsweise -pflicht nicht als Gegensätze zu sehen sind, sondern als konvergierende, gemeinsame Interessenausrichtung. Der Begriff des Kindeswohls ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, d. h. er muss jeweils in der konkreten Situation in einem konkreten Kontext neu interpretiert und mit Gehalt gefüllt werden. Der Begriff „Wohl des Kindes“ existiert erst ab Ende des 19. Jahrhunderts und wurde im letzten Jahrhundert in die Rechtsprechung zum BGB eingeführt. Das BGB trat 1900 in Kraft und entstand im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts (Hinz 1991, S. 91). Die Auffassung darüber, was als Kindeswohl zu bezeichnen sei, hat sich im Laufe der Zeit durch verschiedene gesellschaftliche Strömungen, aber auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend verändert. Diese Änderung zeigt sich unter anderem auch darin, dass in den einschlägigen Gesetzestexten „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ ersetzt wurde. Im Zuge dieser veränderten Sichtweise ergab sich eine Reihe von anderen Tendenzen, die sich stichwortartig wie folgt zusammenfassen lassen: z stärkere Orientierung am Entwicklungsgedanken, z Paradigmenwechsel von der Institution Familie zur Individualität des Kindes als selbstständige und handlungsfähige Person, z Vorrang des Kindeswohls vor dem Elternrecht, z Gleichstellung biologischer und faktischer Elternschaft (in bestimmten Konstellationen sogar Vorrang der faktischen Elternschaft), z Gleichberechtigung der beiden Elternteile im Hinblick auf Sorgerechtsentscheidungen mit der Möglichkeit, das Recht der elterlichen Sorge zur gemeinsamen Ausübung beiden Eltern zu übertragen.
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
Geht man von diesem im Grundgesetz in Art. 6 Abs. 1 kodifizierten besonderen Schutz der Ehe und Familie aus, so dürfte es eigentlich kein Konkurrieren zwischen Kindeswohl und Elternwillen oder zwischen Recht des Kindes und Recht der Eltern geben. In dieser Sicht wird angenommen, dass Eltern am besten wissen, was dem Wohl des Kindes dient, daher muss es ihnen überlassen bleiben, das Kindeswohl zu bestimmen. Aus der Praxis wissen wir, dass diese Sicht, wenngleich sie als ideale Vorstellung anzustreben wäre, vielfach nicht zutrifft. Liegt eine Gefährdung des Kindeswohls vor, so existiert die Möglichkeit für den Staat, überall dort einzugreifen, wo die Familie ihren Aufgaben (aus welchen Gründen auch immer) nicht gerecht werden kann. Daraus resultieren zwei Fragen: z Nach welchen Kriterien wird entschieden, wann eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt und z wer entscheidet darüber? Im Konfliktfalle (und nur dieser bedarf einer gesetzlichen Regelung) wird die Entscheidung vom Vormundschafts- beziehungsweise Familiengericht gefällt werden müssen. Dieses wird aber bei vielen Entscheidungen dieser Art überfordert sein und sich der Hilfe von Sachverständigen bedienen. Die Sachverständigen wiederum tun sich naturgemäß schwer, den Begriff des Kindeswohls positiv zu bestimmen. Auch hier ergeben sich zwei besondere Schwierigkeiten: z Einerseits ist es für die empirische Forschung schwer, einen bewusst unbestimmt gehaltenen Rechtsbegriff durch Fakten und Kriterien zu fundieren. z Zum anderen muss im Hinblick auf die jeweilige Situation und Problematik recht spezifisch vorgegangen werden. Es ist also dem allgemeinen Begriff des Kindeswohls gewissermaßen ein spezieller hinzuzusetzen, der in der jeweiligen Fallkonfiguration die Ableitung der relativ günstigsten oder – anders ausgedrückt – der „am wenigsten schädlichen Alternative“ für das Kind erlaubt. Trotz dieser zugegebenermaßen unbefriedigenden Situation haben wir den Versuch unternommen, einige Kriterien zu definieren, die geeignet erscheinen, den Begriff des Kindeswohls näher zu präzisieren (vgl. Remschmidt 1978). Definitorisch ist zu unterscheiden zwischen dem umfassenden Begriff des Kindeswohls, dem der Rechte des Kindes, dem des Kindesinteresses und dem des Kindeswillens. Der Kindeswille kann durchaus dem Kindeswohl widersprechen. Gleichzeitig ist der Wille des Kindes jedoch insofern bedeutsam, als er im Sinne einer Mitwirkung des Kindes an Entscheidungsprozessen, die sein weiteres Wohlergehen betreffen, ab einer gewissen Alters- und Entwicklungsstufe (etwa ab dem 7. bis 10. Lebensjahr) allgemein akzeptiert wird. Insofern kann der Wille des Kindes durchaus auch ein Indikator für das Kindeswohl sein.
3.1 Kindeswohl und Elternrecht
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Der Begriff des Kindeswillens ist freilich nicht unproblematisch. Denn streng genommen bezieht er sich nur auf die bewussten Vorgänge, die als Bestimmungsgrößen in einen Entscheidungsprozess einmünden. Es gibt aber zweifellos noch eine andere Seite, die emotionale Seite beziehungsweise die unbewusste Motivation im Zusammenhang mit den Willensentscheidungen. Bewusste und unbewusste Vorgänge führen letztlich als Resultante zu dem, was als kindliche Willensbildung oder auch als Haltung beziehungsweise Einstellung des Kindes bezeichnet wird. So gesehen kann die Bezeichnung Kindeswille also im strengen Sinne auch als Summe bewusster Vorgänge betrachtet werden, aber auch als Kombination bewusster und unbewusster Vorgänge. Im Allgemeinen wird zwischen diesen beiden Interpretationen nicht unterschieden. Schließlich hat der Begriff Wille weder in der Umgangssprache noch in der Wissenschaft eine klar definierte Bedeutung. Deshalb spricht Düker (1975) vom Vorgang des „Wollens“, den er in folgender Weise definiert: „Unter Wollen verstehen wir die Fähigkeit, die zur Erreichung eines Ziels erforderlichen Vorgänge zu einer Handlung zu koordinieren, zu aktivieren und zu steuern. Im Wollen erlebt sich das Individuum (Ich) tätig, und zwar als verursachendes Objekt seiner Handlung“.
Das Kindesinteresse lässt sich interpretieren als Inbegriff der jeweiligen Bedürfnislage des Kindes, die mit der Alters- und Entwicklungsstufe variiert. Streng genommen handelt es sich allerdings um die dem Kind zugeschriebene Bedürfnislage. Die Kindesinteressen müssen nicht unbedingt dem Kindeswohl entsprechen. Sie verkörpern vielmehr einen weitergehenden Begriff und können nur in begrenztem Umfang vom Kind selbst vertreten werden. Sie werden vielmehr stellvertretend von den Eltern wahrgenommen. Daraus leitet sich in erster Linie das Elternrecht und die Elternpflicht ab, nicht primär aus der biologischen Elternschaft. Das Recht des Kindes bezieht sich auf die auch einem Kind zustehenden verfassungsmäßigen Grundrechte und auf den Anspruch, dass diese von seinen Eltern sowie (im Falle des Missbrauchs oder des Versagens der Eltern) vom Staat in Stellvertretung wahrgenommen werden. Das Kindeswohl schließlich kann als Summe der Kindesrechte und Kindesinteressen unter angemessener Berücksichtigung des jeweiligen Kindeswillens angesehen werden (Remschmidt 1978). Ziel der Erziehung sollte sein, dem Kind im Laufe seiner Entwicklung in zunehmendem Maße die Fähigkeit zu vermitteln beziehungsweise in ihm zu wecken, seine Rechte und Interessen und seinen Willen selbst vertreten zu können. Hier gibt es allerdings von der Entwicklung vorgezeichnete Grenzen, deren Überschreiten dazu führt, dass eine Überforderung im Hinblick auf die Entscheidungsprozesse eintreten kann und somit das Gegenteil dessen erreicht wird, was angemessene Erziehung und Verselbstständigung erstrebt. Die hier abstrakt gegebene Definition des Kindeswohls lässt sich aus ärztlicher Sicht durch einige Bestimmungsstücke präzisieren, deren Vorhandensein eine gewisse Gewähr für die Beachtung des Kindeswohls bietet. Die Bestimmungsstücke sind (Remschmidt 1978): 1. Gesundheit, 2. Möglichkeit zu einer störungsfreien Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit, 3. weitgehende Freiheit von Belastung, Angst und Konflikten, 4. Möglichkeiten zur Entwicklung und Aufrechterhaltung interpersonaler emotionaler Beziehungen,
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
5. Aufwachsen in einer Familie oder familienähnlichen Gemeinschaft mit der Möglichkeit, affektive Bindungen einzugehen und Identifikationen zu vollziehen, und 6. Sicherung der materiellen Situation in einem Umfang, dass die bislang aufgezählten Bedingungen hinreichend erfüllt werden.
3.2
Gefährdungen des Kindeswohls
Die Gefährdungen des Kindeswohls sind vielfältig. Nachfolgend ist eine unvollständige Übersicht über verschiedene Möglichkeiten der Gefährdung des Kindeswohls wiedergegeben. Aus der Aufzählung wird deutlich, dass eine Gefährdung des Kindeswohls in zahlreichen Zusammenhängen auftreten kann, von denen der sexuelle Missbrauch und die sexuelle Misshandlung nur einen, freilich sehr wichtigen Kontext darstellen. Gefährdung des Kindeswohls: z Deprivation und Vernachlässigung, z körperliche Kindesmisshandlung, z seelische Kindesmisshandlung, z sexueller Missbrauch und sexuelle Misshandlung z gravierende Erziehungsmängel, z Scheidung und Scheidungsfolgen, z schwerwiegende seelische Erkrankung eines oder beider Elternteile, z dissoziales/delinquentes Milieu, z mehrfache Beziehungswechsel, z Verweigerung notwendiger Heileingriffe durch Eltern oder Bezugspersonen, z besondere Arten der Traumatisierung (Entführung, Gefangenschaft, Flucht, Folter, Katastrophen, Krieg, Tod von Eltern oder nahen Bezugspersonen). Die öffentliche Diskussion in der Literatur bezieht sich aber überwiegend auf nur einige wenige Fragenkomplexe, unter denen, neben dem sexuellen Missbrauch, die Scheidung und Scheidungsfolgen ganz im Vordergrund stehen. Dabei wird oft übersehen, dass ebenso gravierende Gefährdungen in ganz anderen Zusammenhängen festzustellen sind, die weit weniger in der öffentlichen Diskussion stehen und auch weit weniger wissenschaftlich untersucht wurden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Gefährdung des Kindeswohls im Rahmen von schwerwiegenden seelischen Erkrankungen der Eltern, in einem delinquenten und dissozialen Milieu, bei Verweigerung notwendiger Heileingriffe durch Eltern oder Bezugspersonen oder im Zusammenhang mit besonderen Arten der Traumatisierung wie Kindesentführung, Gefangenschaft oder Kriegsauswirkungen. Bei den meisten Fallkonfigurationen, die hier apostrophiert sind, handelt es sich um definitive Gefährdungen des Kindeswohls. Es gibt aber auch Gefährdungen
3.3 Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen
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des Kindeswohls, die subtiler sind und die zunächst über lange Zeit unterschwellig verlaufen, bis sie den Charakter einer definitiven Gefährdung erreichen. Zu ihnen gehören verschiedene Arten des seelischen Missbrauchs von Kindern, die von der emotionalen Überforderung bis zu sexuellen Übergriffen reichen und bei denen es über eine „sequentielle Traumatisierung“ (Keilson 1979) über eine bestimmte Zeitetappe zu einer definitiven Gefährdung des Kindeswohls kommt. Auch als Gutachter und als Richter, als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter eines Jugendamtes muss man sich fragen, ob man in dem einen oder anderen Fall durch geplante und durchgeführte Maßnahmen nicht auch zur Gefährdung des Kindeswohls beitragen kann. Übereifer und vorgefasste Meinungen, eine nicht kindgemäß gestaltete Gerichtsverhandlung, unsolide diagnostische Vorgehensweisen zur Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs (z. B. durch Checklisten oder durch die ausschließliche Interpretation von Kinderzeichnungen) können ebenfalls Gefährdungen des Kindeswohls mit sich bringen. Darüber sollten sich alle, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, im Klaren sein. Die Anwendung entwicklungsbiologischer, entwicklungspsychologischer und entwicklungspsychopathologischer Erkenntnisse kann jedenfalls zu einem besseren Verständnis kindlichen Erlebens und Verhaltens führen und dazu beitragen, Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und Maßnahmen einzuleiten, die mit dem Kindeswohl verträglich sind. Hierzu ist vor allem die enge, vertrauensvolle und vorurteilsfreie Kooperation zwischen Angehörigen der verschiedenen Disziplinen erforderlich.
3.3
Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen
Die allgemeine Leitlinie bei Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen geht dahin, sich ein umfassendes Bild über die Gesamtsituation zu machen, wozu zunächst ein sorgfältiges Aktenstudium gehört und sodann (jedenfalls in den meisten Fällen) die individuelle Untersuchung des Kindes, die Untersuchung der Elternteile beziehungsweise Bezugspersonen und eine gemeinsame Untersuchung von Elternteilen und Kind, eventuell auch eine gemeinsame Untersuchung von beiden Eltern gemeinsam mit dem Kind. Je nach Fragestellung ist das Untersuchungsvorgehen beziehungsweise die Einbeziehung der jeweiligen Personen entsprechend zu variieren.
3.3.1 Untersuchung des Kindes Zunächst muss das Kind über die Untersuchungssituation in einer altersgemäß verständlichen Form aufgeklärt werden. Dies gehört zu jeder verantwortungsvollen kinder- und jugendpsychiatrischen und psychologischen Begutachtung (vgl. Fegert 2003). Sodann geht es im zweiten Schritt um eine
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
kindgemäße Exploration, die je nach Fragestellung unterschiedlich sein kann und im Allgemeinen darauf abzielt, die derzeitige Situation des Kindes und sein Verständnis im Hinblick auf die gutachterliche Fragestellung zu erkunden. Im dritten Schritt geht es dann um eine weitergehende Untersuchung des Kindes, wobei, je nach Alter und Entwicklungsstand und Fragestellung folgende Gesichtspunkte im Vordergrund stehen (Hemminger u. Beck 1997): z allgemeiner Entwicklungsstand und kognitive Entwicklung des Kindes, z emotionale Belastung des Kindes und z Überprüfung der Bindungsqualität. z Allgemeiner Entwicklungsstand und kognitive Entwicklung des Kindes Im Sinne der angestrebten Teilhabe von Kindern an Entscheidungen, die ihr weiteres Schicksal betreffen, ist es wichtig, den allgemeinen Entwicklungsstand des Kindes festzustellen. Dies geschieht durch eine sorgfältige Exploration über seine Situation und seine Beziehungen, seine Bedürfnisse, Interessen und Leistungen. Bei jüngeren Kindern kann diese Exploration in eine Spielsituation eingebaut werden. Der ermittelte Entwicklungsstand (im Wesentlichen geht es darum festzustellen, ob das Kind seiner Altersstufe entspricht) muss in Relation gesetzt werden zu speziellen Bedürfnissen der Kinder, z. B. muss festgestellt werden, ob ein spezifischer Förderbedarf besteht und ob dieser am vorgesehenen Aufenthaltsort des Kindes realisiert werden kann. Im Hinblick auf die Bestimmung des allgemeinen Entwicklungsstandes und der kognitiven Entwicklung werden in herkömmlicher Weise eine Reihe von psychologischen Testverfahren angewandt, deren Ergebnisse in die Gesamtbewertung einzubeziehen sind. Die Auswahl der Verfahren sollte hypothesengeleitet folgen und natürlich dem Alter des Kindes angemessen sein. Angewandt werden Entwicklungstests, Intelligenztests und Tests zur Objektivierung von Stützfunktionen der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Eine Übersicht über die am häufigsten angewandten Entwicklungstests ist in Tabelle 3.1 (S. 107) wiedergegeben. Die Intelligenzdiagnostik stützt sich auf die altersangemessenen Intelligenztests, wobei insbesondere auf die sprachliche Entwicklung des Kindes geachtet werden muss. Bei Vorliegen von Sprachentwicklungsstörungen oder bei mangelhafter Beherrschung der deutschen Sprache ist es angezeigt, sprachfreie Intelligenztests anzuwenden. Im Hinblick auf die Stützfunktion der intellektuellen Leistungsfähigkeit geht es hauptsächlich um die Überprüfung von Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Visuomotorik und Umstellungsfähigkeit. z Prüfung der emotionalen Belastung des Kindes Diesbezüglich ist die geeignete Methode die ausführliche Exploration des Kindes unter vier Augen. Diese sollte sich zunächst darauf erstrecken zu prüfen, inwieweit das Kind über die Trennungsabsichten der Eltern infor-
3.3 Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen
z
Tabelle 3.1. Entwicklungstests Testverfahren
Autoren
Altersbereich
Durchführung
z WET – Wiener Entwicklungs- Kastner-Koller u. test Deimann 2002 (2. Aufl.)
3,0–6,0
75–90 Minuten
z MZT – Mannzeichentest
Ziler 1997 (10. Aufl.)
ca. 4–14 Jahre
ca. 15 Minuten
z PET – Psycholinguistischer Entwicklungstest
Angermaier 1977 3,0–9,11 (2. Aufl.)
k.A.
z GES Griffiths-Entwicklungsskalen
Brandt u. Sticker 2001 (2. Aufl.)
1–24 Monate
ca. 30 Minuten
z Wie weit ist ein Kind entwickelt?
Kiphard 2002 (11. Aufl.)
1–48 Monate
k.A.
z ET 6–6 – Entwicklungstest 6 Monate–6 Jahre
Petermann u. Stein 2000
6 Monate–6 Jahre
20–60 Minuten
z MFED 1 – Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (1. Lj.)
Hellbrügge et al. 1999 (6. Aufl.)
0,0–0,11 Jahre
k.A.
z MFED 2–3 – Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (2. und 3. Lj.)
Köhler u. Egelkraut 1994 (4. Aufl.)
1,0–2,11 Jahre
k.A.
z Vineland-Skala
Sparrow et al. 1984
1–18 Jahre
k.A.
k.A. keine Angaben
miert ist, wie es seine derzeitige Situation erlebt, wie es zu den beiden Elternteilen steht und gegebenenfalls auch zu Geschwistern und in welche Richtung die Tendenz des Kindes bei einer unvermeidlichen Trennung der Eltern geht. Darüber hinaus ist natürlich auch zu überprüfen, ob aufgrund der emotionalen Belastung oder auch unabhängig davon eine psychiatrische Störung vorliegt. Auch diesbezüglich können Testverfahren ergänzend hinzugezogen werden, wie der Satzergänzungstest, die Drei-Wunsch-Probe, der Problemfragebogen für Kinder (PFK 9–14) (Westhoff et al. 1981), der Depressionstest für Kinder (DDK) (Rossmann 1993), das Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) (Stinsmeier-Pelster et al. 1989) sowie der Kinderapperzeptionstest (Moog 1955). z Überprüfung der Bindungsqualität Sowohl bei Sorgerechts- als auch bei Umgangsrechtregelungen ist es unumgänglich, die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind zu objektivieren. Dies kann durch eine direkte Befragung aller Beteiligten erfolgen, durch
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108
z
3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
die Beobachtung des Verhaltens des jeweiligen Elternteils gegenüber dem Kind in einer Spielsituation und natürlich auch durch eine genaue Analyse des anamnestisch erhobenen beziehungsweise aktenkundigen Verhaltens der jeweiligen Elternteile gegenüber dem Kind und umgekehrt des Kindes gegenüber den Elternteilen in der der Begutachtung vorausgehenden Zeitspanne. Darüber hinaus ist immer wieder versucht worden, die emotionalen Bindungen zwischen den Elternteilen und dem Kind psychometrisch zu erfassen. Die meisten dieser psychometrischen Verfahren haben sich jedoch nicht als sehr tragfähig erwiesen. Dennoch können diese Verfahren eine Hilfestellung bieten, wobei sich folgende Verfahren in der Praxis durchaus bewährt haben: der „family relations test“ in der deutschen Fassung von Flämig und Wörner (1977), der Projektive-Familien-Szenen-Test (Hommers et al. 1996) und der Familienidentifikationstest (FIT) (Remschmidt u. Mattejat 1999).
3.3.2 Untersuchung der Eltern/Bezugspersonen Hier gehört es zum Standardvorgehen, dass grundsätzlich mit jedem Elternteil allein gesprochen wird beziehungsweise entsprechende Untersuchungen durchgeführt werden. Ob ein gemeinsames Gespräch mit beiden stattfindet, hängt sehr davon ab, ob die streitigen Auseinandersetzungen soweit abgeklungen sind, dass ein gemeinsames, auf das Wohl des Kindes ausgerichtetes Gespräch überhaupt möglich ist. Im Rahmen der Untersuchung sind folgende Fragen abzuklären: z Erziehungseignung der beiden Elternteile, z künftige Unterbringungs- und Betreuungssituation, z materielle Bedingungen und Förderungsmöglichkeiten des Kindes. Besonderer Wert muss auf eine gewisse Kontinuität und Stabilität der Beziehungen im Hinblick auf das Kindeswohl gelegt werden. Zu prüfen ist natürlich auch, ob eine psychiatrische Erkrankung bei einem oder beiden Elternteilen vorliegt oder extreme Milieubedingungen (z. B. Kriminalität, sexueller Missbrauch), die eine Verbringung des Kindes zu einem Elternteil ausschließen. Auch im Hinblick auf die Eruierung psychiatrischer Erkrankungen haben sich als ergänzende Instrumente psychologische Verfahren bewährt. So das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R), das „Minnesota Multiphasic Personality Inventory“ (MMPI) und verschiedene Depressionsinventare. Die Eltern sind allerdings darauf hinzuweisen, dass die Mitarbeit im Rahmen der Untersuchung mit diesen Instrumenten auf Freiwilligkeit basiert, dass die angewandten Verfahren nur orientierenden Charakter haben, dass ihre Ergebnisse aber in die Gesamtbeurteilung einfließen.
3.3 Untersuchungen im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen
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3.3.3 Gemeinsame Untersuchung von Eltern und Kind In nahezu allen Begutachtungen zur Regelung des Sorge- und Umgangsrechts ist eine gemeinsame Untersuchung der beiden Elternteile mit dem Kind durchzuführen. Dies geschieht in der Regel in einer systematischen Interaktionsbeobachtung, bei Kindern im Vorschulalter meist in einer vorgegebenen Spielsituation. In der Regel wird diese Interaktion videografiert und später einer eingehenden Analyse unterzogen. Die vorgegebene Situationen können hierfür verschieden sein: z. B. eine Spielsituation mit dem Sceno-Test bei jüngeren Kindern, eine Diskussion über die Planung einer Urlaubsreise oder auch eine Essenssituation bei älteren Kindern. In der an-
Untersuchungsablauf Untersuchung mit dem Kind Fragestellung Methoden nt ic lungsstand und psychosoziale Reife Bindungsqualität Emotionale motionaleBelastung Belastung des Kindes Kindes und und eine seinedrohende drohende Fehlentwicklung ehlent ic lung ömöglicheöBeeinö flussungödesöKindes öörfassungödesö ö Kindesö illens
Haus esuch
ööntö icölungs-öundö ö öntelligenzdiagnostiö ösemiprojeötiöeö ö öerfahrenö(Satzö ergänzungstest) ööxploration öAussagenanalyse ööersönlichöeitsö diagnostiö
Gutachten
Untersuchung mit den lternteilen Fragestellung öörziehungsöompetenz öörziehungsziele örziehungsmethode ööörderöompetenz BereitschaftözuröÜöerö nahmeöelterlicheröSorge KontinuitätöundöStaöilität Aöölärungömöglicherö ö psychiatrischerö ö Grunderöranöungen
Methoden ööerhaltensö öeoöachtung östruöturiertesö ö diagnostischesö ö Gespräch psychometrischeö ö öersönlichöeitsö diagnostiö
A tenanalyse öDynamiööundööcödatenöimö ö öisherigenöTrennungsöerlauf öDatenözumöfamiliärenö ö Beziehungsgefüge öö esentlicheöArgumenteöderö ö ölternöinöHinölicööaufödieö ö gerichtlicheööragestellung öö esentlicheöArgumenteödritterö ö öersonenöimöHinölicööaufödieö ö Sorgerechtsregelung
Untersuchung eiterer primärer Bezugspersonen
Untersuchung mit Kind und lternteil Fragestellung
Methoden
öBeurteilungö ö derööltern-Kindö Beziehung öBindungsö öerhalten öBindungsö qualität
östandarö disierteö ö Beoöachö tungöderö ö öltern-Kindö önteraötion
Abb. 3.1. Schematische Darstellung des Untersuchungsgangs bei der kinder-psychiatrischen und psychologischen Begutachtung zum Sorge- und Umgangsrecht (nach Hemminger u. Beck 1994)
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
schließenden Analyse geht es darum festzustellen, wie die Beziehung zwischen dem jeweiligen Elternteil und dem Kind einzuschätzen ist, welche Bindungsqualität vorherrscht, welche sachlichen und emotionalen Elemente die Interaktion beherrschen, ob besonders auffällige Verhaltensweisen (beim jeweiligen Elternteil oder beim Kind) festzustellen sind und ob der Umgang des jeweiligen Elternteils dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes angemessen ist. Die Auswertung der videografierten Interaktionsbeobachtung kann in freier Form geschehen, ein Kategoriensystem benutzen oder auch Skalen, die eine mehr oder weniger zuverlässige Beurteilung ermöglichen. Diesbezüglich können die bewährten Marburger familiendiagnostischen Skalen eingesetzt werden, die eine Einschätzung des wechselseitigen Verhaltens im Hinblick auf Bindungsqualität und Abgrenzungsverhalten ermöglichen (Remschmidt u. Mattejat 1993; Mattejat u. Remschmidt 1991, 1997) In Abbildung 3.1 ist der Untersuchungsgang (nach Hemminger u. Beck, 1997) der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung zum Sorgeund Umgangsrecht noch einmal schematisch dargestellt. Aus der Abbildung wird ersichtlich, dass zum Untersuchungsablauf natürlich auch eine genaue Aktenanalyse gehört und dass, neben den Untersuchungen mit dem Kind und den Elternteilen, zuweilen auch die Einbeziehung weiterer primärer Bezugspersonen erforderlich ist und in manchen Fällen auch Hausbesuche. Letztere vermitteln meist einen sehr guten Eindruck über das Milieu, in dem sich das Kind derzeit befindet oder, bei einer intendierten Änderung des Sorgerechts, in Zukunft befinden wird.
3.4
Begutachtung zur Regelung des Sorgerechts
z Gesetzliche Bestimmungen. Die einschlägigen Fragestellungen sind im § 1671 und in weiteren Paragrafen des BGB geregelt. Im § 1671 BGB war zunächst vom Gesetzgeber festgelegt worden, dass das Familiengericht die elterliche Sorge nach der Scheidung nur einem Elternteil übertragen kann. Diese Bestimmung wurde bereits 1982 aufgehoben, seit dieser Zeit war es möglich, dass auch nach der Trennung beiden Eltern das gemeinsame Sorgerecht belassen wurde. Durch das im Jahr 1998 in Kraft getretene Gesetz zur Kindschaftsrechtsreform wurde das elterliche Sorgerecht nach Trennung und Scheidung einer grundlegenden Neugestaltung unterzogen, die bis heute gültig ist: Auch nach der Trennung oder Scheidung der Eltern liegt das Sorgerecht für das Kind prinzipiell bei beiden Eltern (Regelfall: gemeinsames Sorgerecht). Das gemeinsame Sorgerecht kann nach § 1671 vom Familiengericht auf Antrag eines Elternteils aufgehoben und einem Elternteil alleine übertragen werden. Bei der Begutachtung wird wie folgt vorgegangen: Ausgehend vom Wohl des Kindes muss im Rahmen der Begutachtung geklärt werden, welchem
3.5 Begutachtung zur Regelung des Umgangsrecht
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Elternteil das Sorgerecht zuerkannt werden soll oder ob es beiden Eltern zur gemeinsamen Ausübung übertragen werden kann. Letzteres ist nur möglich, wenn die streitigen Auseinandersetzungen zu einem gewissen Stillstand gekommen sind, sodass nicht befürchtet werden muss, dass die gemeinsame Ausübung des Sorgerechts eine Fortsetzung der früheren Konflikte mit anderen Mitteln ist. Für die Entscheidung bei dieser Fragestellung sind die folgenden „Sorgerechtskriterien“ heranzuziehen (vgl. z. B. OLG Köln, Beschluss v. 28. 05. 2004; www.jurathek.de; Jaeger 1998, § 1671 Rn 37; Schwab u. Borth 2000): Die Übertragung der elterlichen Sorge richtet sich nach dem Kindeswohl; dabei sind folgende Prinzipien zu beachten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 30. April 2003; www.jurathek.de): z „Der Förderungsgrundsatz, nämlich die Eignung, Bereitschaft und Möglichkeit der Eltern zur Übernahme der für das Kindeswohl maßgeblichen Erziehung und Betreuung, z die Bindung des Kindes an beide Elternteile und etwa vorhandene Geschwister, z der Wille des Kindes, soweit er mit seinem Wohl vereinbar ist und das Kind nach Alter und Reife zu einer Willensbildung im natürlichen Sinne in der Lage ist sowie z der Kontinuitätsgrundsatz, der auf die Stetigkeit und die Wahrung der Entwicklung des Kindes abstellt.“ In den letzten Jahren wurden immer wieder Diskussionen um zwei Fragen geführt: die gemeinsame Ausübung des Rechtes der elterlichen Sorge durch beide Eltern nach der Scheidung und die Übertragung des Rechtes der elterlichen Sorge an Väter. Während früher jüngere Kinder gewissermaßen automatisch in die Obhut der Mütter gegeben wurden, hat sich dies aufgrund der zunehmenden Erkenntnis der Bedeutung des Vaters für die Entwicklung von Kindern verändert (Fthenakis 1985, 1988).
3.5
Begutachtung zur Regelung des Umgangsrechts
Gesetzliche Bestimmungen: Die für die Begutachtung relevanten Fragestellungen ergeben sich aus § 1684 BGB, der auch dem Elternteil, dem die Personensorge nicht zusteht, das Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind gibt. Laut § 1684 BGB entscheidet das Familiengericht über den Umfang der Befugnisse im persönlichen Umgang mit dem Kind: „Das Familiengericht kann das Umgangsrecht . . . einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist“. Nach Lempp (1983, 1989) lassen sich folgende Richtlinien zur Regelung der Umgangsbefugnis formulieren: z Ein regelmäßiger Kontakt zwischen einem Kind und seinem nicht sorgeberechtigten Elternteil kann nur dann ohne Belastung möglich sein,
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
„wenn die geschiedenen Ehepartner zu einer sachlichen Neutralität gegeneinander zurückgefunden haben“. Wer eine vollkommene Trennung von seinem früheren Ehepartner anstrebt, muss gegebenenfalls auf den Kontakt mit dem Kind verzichten können. Jeder Besuchskontakt gegen den Willen und Wunsch des Kindes widerspricht dem Sinn der Umgangsbefugnis. Im Hinblick auf diese Problematik ergibt sich immer wieder die Frage, inwieweit der sorgeberechtigte Elternteil das Kind gegenüber dem nicht sorgeberechtigten Elternteil beeinflusst. Der sorgeberechtigte Elternteil hat immer den größeren Einfluss auf das Kind, was der nicht sorgeberechtigte Elternteil akzeptieren oder zumindest tolerieren muss. Bewusste oder unbewusste negative Beeinflussung des Kindes durch den sorgeberechtigten Elternteil kann Veranlassung geben, die Sorgerechtsentscheidung zu überprüfen. Das Kindeswohl kann mit dem Elternrecht kollidieren. Insofern kann eine Regelung der Umgangsbefugnis manchmal auch ein schweres Unrecht für ein Elternteil bedeuten. Dies lässt sich aber, wenn dem Kindeswohl Priorität eingeräumt wird, manchmal nicht vermeiden. Bei Kindern bis zum Grundschulalter kann eine Regelung der Umgangsbefugnis nur vertreten werden, „wenn die Eltern zu einer Minimalform gegenseitiger Höflichkeit in der Lage sind“. Bei Schwierigkeiten im Kontakt der geschiedenen Eheleute sollte gegebenenfalls eine dem Kind gut bekannte neutrale Person eingeschaltet werden. Ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen belastet die Kinder besonders. Daher sind seltenere, aber längere Besuche häufigen und sehr kurzen eher vorzuziehen. Kinder unter vier Jahren sollten beim nicht sorgeberechtigten Elternteil nur dann übernachten, wenn sie mit ihm vertraut sind.
Trotz aller Regeln bleibt die Begutachtung zur Frage des Umgangsrechtes für den Gutachter eine sehr schwierige und vom Ergebnis her oft unbefriedigende Aufgabe. Es geht fast immer um die am wenigsten schädliche Alternative.
3.6
Begutachtung bei Gefährdungen des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB
Gesetzliche Bestimmungen: In § 1666 BGB ist festgelegt, dass das Familiengericht bei Gefährdung des Kindeswohls die erforderlichen Maßnahmen zum Schutze des Kindes auch gegen den Willen der Eltern treffen kann. § 1666 BGB lautet:
3.7 Begleiteter Umgang gemäß § 1684 BGB
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„(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage so hat das Familiengericht die Gefahr abzuwenden, Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung bei Gefahr erforderlich sind. (2) . . .“ Die häufigsten gutachterlichen Fragestellungen sind: z Entzug des Rechtes der elterlichen Sorge aufgrund verschuldeter oder unverschuldeter Gefährdung des Kindeswohls. Eine verschuldete Gefährdung des Kindeswohls liegt z. B. bei Misshandlung und Vernachlässigung des Kindes vor. Unverschuldet kann sie eintreten durch schwerwiegende Erkrankung des sorgeberechtigten Elternteils, z. B. bei einer allein erziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater, die sich wegen ihrer Erkrankung nicht mehr um das Kind kümmern können. z Entzug des Rechtes der Personensorge, weil das Kindeswohl dadurch gefährdet ist, dass die leiblichen Eltern die Herausgabe ihres Kindes aus einer Pflegefamilie beantragen. Meist geht es dabei um Fälle, in denen sich der den Antrag stellende Elternteil (verschuldet oder unverschuldet) für lange Zeit nicht um sein Kind gekümmert hat, welches sich in einer Pflegefamilie befindet und zu den Pflegeeltern nunmehr eine intensive Bindung und Beziehung aufgebaut hat, was beim Zurückverbringen zum leiblichen Elternteil erhebliche psychische Folgen für das Kind nach sich zöge. Derartige Fälle sind manchmal für die leiblichen Eltern sehr tragisch. In der heutigen Rechtsprechung und Begutachtungspraxis wird jedoch häufig bei einer Rechtsgüterabwägung das Kindeswohl höher eingeschätzt als das Elternrecht. Dies bedeutet, dass in derartigen Konfliktfällen die psychologisch begründete Elternschaft vor der biologischen Elternschaft rangiert.
3.7
Begleiteter Umgang gemäß § 1684 BGB
Gemäß § 1684 des BGB hat das Kind „Recht auf Umgang mit jedem Elternteil“ und umgekehrt hat auch jeder Elternteil das Recht und die Pflicht zum Umgang mit dem Kind. Das Umgangsrecht kann eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre. In Konfliktfällen kann das Familiengericht anordnen „dass der Umgang nur stattfinden darf, wenn ein mitwirkungsbereiter Dritter anwesend ist. Dritter kann auch ein Träger der Jugendhilfe oder ein Verein sein; dieser bestimmt dann jeweils, welche Einzelperson die Aufgabe wahrnimmt.“ Eine weitere gesetzliche Grundlage zum begleiteten Umgang findet sich im Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) im § 18 Abs. 3. Dort ist festgelegt, dass Kinder Anspruch auf Unterstützung haben, damit erreicht wird, dass die Umgangsregelung nach § 1684 BGB zum Wohle des Kindes ausgeübt wird.
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
Leitender Gesichtspunkte für die Anordnung eines begleiteten Umganges sind somit das Kindeswohl und das prinzipielle Umgangsrecht der Eltern, das eingeschränkt wird, um das Kindeswohl zu wahren. Da es sich in der Regel um sehr schwierige Familiensituationen handelt, in denen leicht weitere Konflikte entstehen, ist es sinnvoll, dass die jeweiligen Umgangsbegleiter eine entsprechende pädagogisch-psychologische Vorbildung haben. z Beispielsituation: Die Eltern eines Kindes leben getrennt. Der Vater des Kindes wünscht an Samstag-Nachmittagen Umgang mit dem Kind in der Weise, dass das Kind ihn in seiner Wohnung besucht. Ein begleiteter Umgang kann z. B. dann angeordnet werden, wenn der Verdacht beziehungsweise die Gefahr besteht, dass bei diesen Besuchen der Vater durch sein Verhalten das Kind körperlich oder psychisch schädigt und somit das Wohl des Kindes beeinträchtigt. Ein solches schädliches Verhalten kann z. B. vorliegen, z wenn der Vater das Kind bedroht oder wenn sein Verhalten impulsiv oder gewalttätig ist, z wenn der Vater psychischen Druck auf das Kind ausübt, z wenn der Umgang des Vaters mit dem Kind grenzüberschreitend oder in anderer Weise inadäquat ist, z wenn beim Vater eine psychische Störung vorliegt, die dazu führt, dass sein Verhalten nicht situationsadäquat ist oder dass der Vater im Verlaufe der Umgangssituation überhaupt keinen Kontakt zum Kind aufnimmt, z wenn der Vater in den Umgangssituationen sehr unzuverlässig ist (Nichteinhalten der Absprachen, z. B. Zu-spät-Kommen oder Überhaupt-nichtKommen). In der Regel muss davon ausgegangen werden, dass eine vom Gericht angeordnete Umgangsbegleitung vom betroffenen Elternteil nur widerwillig hingenommen wird. Oft wird die Umgangsbegleitung vom umgangsuchenden Elternteil als unnötige Belästigung empfunden. Manchmal ist ein begleiteter Umgang auch deshalb notwendig, weil das Kind den Kontakt zum jeweiligen Elternteil nicht wünscht – etwa wenn das Kind vom anderen Elternteil gegen den umgangsuchenden Elternteil negativ voreingestellt wurde. Es gibt keine gesetzlichen Vorgaben, ob dem Familiengericht über den begleiteten Umgang Bericht erstattet wird. Dies wird auch sehr unterschiedlich gehandhabt; Haid-Loh et al. (2000, S. 27 ff.) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Modellen des begleiteten Umgangs. Im „Modell der funktionalen Autonomie“ werden die Absprachen zwischen den Familien und dem Berater getroffen, im „Modell der gerichtsnahen Umgangsbegleitung“ findet eine engmaschige Abstimmung mit dem Gericht statt. Unabhängig von der jeweiligen Gestaltung des begleiteten Umganges ist ein Verlaufsbericht an das Familiengericht sinnvoll, der bei eventuell notwendigen weiteren Entscheidungen des Gerichtes berücksichtigt werden kann (vgl. hierzu Dettenborn u. Walter 2002, S. 320).
Literatur
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Weitgehender Konsens besteht in der Fachliteratur darüber, dass der begleitete Umgang in der Regel darauf abzielen sollte, schrittweise einen Übergang zum unbegleiteten Umgang zu erreichen; begleiteter Umgang sollte somit zeitlich begrenzt sein.
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3 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Familienrecht
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht K. von Oefele
4.1
Personensorge als sozialpsychiatrische Aufgabe
Die Grundlagen für die rechtlichen Bestimmungen zur Personensorge bei Volljährigen reichen bis in das Altertum zurück. Die Fürsorge für psychisch Erkrankte war lange Zeit nicht durch individuelle Förderung, sondern durch Verwahrung und Verwaltung bestimmt. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach Aufklärung und französischer Revolution wandelte sich auch die Einstellung zur Versorgung, Behandlung und Betreuung psychisch kranker Menschen. Diese Maßnahmen wurden als staatliche und gesellschaftliche Aufgabe begriffen. So bezeichnete 1844 der damalige Leiter der Medizinalabteilung des preußischen Kulturministeriums, H. Damerow, die „öffentliche Irrenpflege“ als „Maßstab für den Grad der geistigen Kultur und die Höhe der sittlichen und intellektuellen Freiheit“ (Damerow 1844). Die Mitwirkung von psychiatrisch geschulten Ärzten als Sachverständige bei gerichtlichen Entscheidungen zur Einschränkung der bürgerlichen Selbstständigkeit und Verfügungsfreiheit wurde als unverzichtbar erachtet. Die Gesichtspunkte der forensisch-psychiatrischen Begutachtung in zivilrechtlichen Angelegenheiten wurden in den Lehrbüchern dargestellt (Krafft-Ebing 1881). Mit Einführung der Zivilprozessordnung (1879) und des Bürgerlichen Gesetzbuches (1900) wurde in Deutschland die Situation geschaffen, die bis zum In-Kraft-Treten des „Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz – BtG)“ am 1. 1. 1992 im Wesentlichen Bestand hatte. Hierbei wurde unterschieden zwischen Entmündigung und der Errichtung einer Pflegschaft. Bei der Entmündigung gab es zwei Alternativen. Wurde sie wegen „Geisteskrankheit“ ausgesprochen, so war der Betroffene nicht mehr geschäftsfähig und zivilrechtlich einem Kind unter sieben Jahren gleichgestellt. Die Entmündigung wegen „Geistesschwäche“ hatte eine beschränkte Geschäftsfähigkeit zur Folge wie bei Minderjährigen im Alter von sieben bis 18 beziehungsweise 21 Jahren. Die Pflegschaft war vorgesehen als Unterstützungsmaßnahme für körperlich gebrechliche oder weniger schwerwiegend geistig beeinträchtigte Personen. Ein Pfleger wurde bestellt für bestimmte Wirkungskreise. Die Errichtung einer Pflegschaft wurde gegenüber der Entmündigung zunehmend bevorzugt, wobei sich auch der Übergang zum aktuellen Betreuungsrecht
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
widerspiegelte. Die Reform hatte das Ziel, Diskriminierungen und Beschränkungen in der eigenständigen Rechtsausübung abzubauen, die Personensorge individueller und differenzierter zu gestalten und die Rechtsstellung der Betroffenen zu verbessern (Mende 1985; Zenz et al. 1987). Das Betreuungsrecht trat am 1. 1. 1992 in Kraft. Eine erste Novellierung erfolgte 1998/99, weitere Änderungen wurden ab 2005 eingeführt (Jürgens et al. 2007, Rn 24, 28–33; Dodegge 2007). Der psychiatrisch vorgebildete Arzt ist bei nahezu allen vormundschaftsgerichtlichen Entscheidungen als Sachverständiger beteiligt. Auch hier steht er in der bekannten Funktion eines „Gehilfen“ des Gerichtes, der für das Gericht Erkenntnisinhalte liefert (Jessnitzer u. Ulrich 2001). Die Bedeutung dieses Rechtsgebietes für die forensische Psychiatrie ergibt sich schon aus der zahlenmäßigen Entwicklung. Während 1988 im damaligen Bundesgebiet etwa 70 000 Menschen unter Vormundschaft und etwa 160.000 Menschen unter Pflegschaft standen, waren Ende 2001 im westlichen Bundesgebiet 807 778 Betreuungen errichtet, im östlichen Bundesgebiet 177 321, insgesamt also 985 099 (Jürgens et al. 2002, Rn 17). Die Millionengrenze wurde 2002 überschritten (Strätling et al. 2004). Ende 2007 war für 1 242 180 Menschen ein rechtlicher Betreuer bestellt (Deinert 2008). Im Rahmen der betreuungsrechtlichen Bestimmungen werden Gutachten zu verschiedenen Fragestellungen angefordert: zu den allgemeinen Voraussetzungen einer Betreuung, zur Notwendigkeit einer Unterbringung, zum Erfordernis eines Einwilligungsvorbehalts, auch zu Fragen von Behandlungsmaßnahmen und bei bestimmten Sonderfällen wie Erwägung einer Sterilisation. Bei vorläufigen Entscheidungen zur Errichtung einer Betreuung und zur Unterbringung aufgrund von Eilbedürftigkeit genügt als Sachverständigenäußerung ein ärztliches Zeugnis (§§ 69 f u. 70 h FGG). Die generellen Verfahrenshandlungen einschließlich Gutachten müssen nachgeholt werden.
4.2
Medizinische Voraussetzungen einer Betreuung
Die im Gesetz genannten Voraussetzungen für die Errichtung einer Betreuung (§ 1896 BGB) beziehen sich – ähnlich wie bei den strafrechtlichen Bestimmungen zur Schuldfähigkeit – auf eine diagnostische und eine funktionale Ebene. Die diagnostische Grundstufe wird durch vier juristische Merkmale definiert: Gefordert wird das Vorliegen einer „psychischen Krankheit“ oder einer „körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung“. In der zweiten Stufe geht es darum, inwieweit ein Betroffener aufgrund der gegebenen psychischen oder auch körperlichen Störung nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Angelegenheiten zu besorgen. (Auf den Spezialfall der körperlichen Behinderung wird im weiteren Text nicht mehr gesondert eingegangen). Die Zuordnung bestimmter psychiatrischer Diagnosen zu den gesetzlichen Merkmalen folgt dem Regierungsentwurf von 1989. Demnach versteht
4.2 Medizinische Voraussetzungen einer Betreuung
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man unter „psychischen Krankheiten“ alle endogenen und exogenen Psychosen, also schizophrene Erkrankungen aller Formen, mono- oder bipolare affektive Psychosen, dazu die körperlich begründbaren Psychosen als Folge einer hirnorganischen Schädigung oder einer somatischen Erkrankung (Bundesregierung 1989). In diese Gruppe gehören auch die zerebralen Abbauprozesse wie die senile Demenz vom Alzheimer-Typ oder die durch Durchblutungsstörungen hervorgerufene vaskuläre Demenz. Hingegen wurde durch die Rechtsprechung in wiederholten ähnlich lautenden Entscheidungen festgelegt, dass eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit nur dann als Voraussetzung für die Errichtung einer Betreuung in Betracht kommt, wenn die Sucht entweder die Folge einer Geisteskrankheit ist oder der durch die Sucht verursachte Persönlichkeitsabbau bereits den Grad einer Geisteskrankheit erreicht hat (u. a. BayObLG NJW 1990, 274; R & P 2002, 33). In die Systematik der „psychischen Krankheiten“ fallen auch die neurotischen und Persönlichkeitsstörungen. Es kann aber bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ein hiervon Betroffener nur in seltenen Fällen nicht in der Lage sein wird, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Denkbar wäre dies z. B. bei einer schweren Zwangserkrankung, die faktisch die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit aufhebt. Der Begriff der „geistigen Behinderung“ bezieht sich auf die angeborenen oder frühkindlich erworbenen intellektuellen Defizite. Mit „seelischer Behinderung“ sind länger anhaltende oder bleibende (psychische) Beeinträchtigungen als Folge von psychischen Krankheiten gemeint. Liegt eine der genannten Erkrankungen oder Beeinträchtigungen vor, so muss in der zweiten Stufe auch vom medizinischen Sachverständigen nicht nur geprüft werden, welche Angelegenheiten ein Betroffener nicht mehr besorgen kann, sondern auch, wofür konkret die Hilfe eines Betreuers erforderlich ist. Dieser Erfordernisgrundsatz ergibt sich aus § 1896 Abs. 2 S. 1 BGB. Er ist Maßstab sowohl für die Frage, ob überhaupt ein Betreuer zu bestellen ist, als auch für Art und Umfang der Aufgabenkreise (Jürgens et al. 2007, Rn 82–84; Knittel 2008, § 1896 BGB Rn 34–35). Darüber hinaus ist auch dann die Tätigkeit eines Betreuers nur erforderlich, wenn die Angelegenheiten nicht durch einen Bevollmächtigten oder andere Hilfen besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 S. 2 BGB). Auch bei Bestellung eines Betreuers bleibt der Betroffene selbstständig handlungsfähig, wenn nicht zusätzliche Feststellungen getroffen werden. So kann die zivilrechtliche Selbstbestimmung eingeschränkt werden durch die gerichtliche Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes in bestimmten Bereichen, soweit dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist. Der Betreute bedarf dann zu einer Willenserklärung der Einwilligung des Betreuers (§ 1903 Abs. 1 BGB). Weitergehend wird die Privatautonomie eines Betroffenen aufgehoben bei Vorliegen von Geschäftsunfähigkeit (§§ 104 u. 105 BGB). Zwar ist die Frage der Geschäftsfähigkeit bei der Betreuerbestellung formal ohne Bedeutung (Regierungsentwurf 1989), in der Praxis spielt sie aber eine erhebliche Rolle bei der
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
Gestaltung einer Betreuung und für den Umfang der Befugnisse des Betreuers. Einen Sonderfall stellt der Bereich ärztlicher Untersuchungen und Behandlungsmaßnahmen dar. Hier kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit eines Betroffenen an, sondern auf die Einwilligungsfähigkeit im konkreten Fall. Nur bei bestehender Einwilligungsunfähigkeit des Betroffenen kann ein Betreuer vertretungsweise in eine Untersuchung oder Heilbehandlung einwilligen.
4.3
Der Sachverständige im Betreuungsverfahren
Nach § 280 FamFG darf ein Betreuer erst bestellt werden, wenn ein Sachverständigengutachen über die Notwendigkeit der Betreuung eingeholt worden ist. Nur in Ausnahmefällen genügt ein ärztliches Zeugnis. Dies ist dann der Fall, wenn der Betroffene den Betreuungsantrag selbst gestellt hat und ein Gutachten im Hinblick auf den Umfang des Aufgabenkreises unverhältnismäßig wäre; ebenso, wenn es um die Geltendmachung von Rechten gegenüber einem Bevollmächtigten geht. Die gutachterliche Stellungnahme zur „Notwendigkeit“ einer Betreuung erfordert im Grunde genommen mehr als die Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen. So soll unter Beachtung des Erforderlichkeitsgrundsatzes möglichst konkret und detailliert dargelegt werden, für welche Aufgabenkreise eine Betreuungsbedürftigkeit besteht. Dabei kommt es auch auf die konkreten sozialen und finanziellen Verhältnisse, etwa den Vermögensstand an. Es wird immer wieder beklagt, dass viele Gutachten diesen Anforderungen nicht gerecht werden (Bienwald 2002). Aus psychiatrischer Sicht wurde frühzeitig darauf hingewiesen, dass diese Erwartungen über den angemessenen Umfang einer ärztlichen Untersuchung und Begutachtung zuweilen hinausgehen (v. Oefele 1992). Derartige Sachaufklärung kann durch die Stellungnahme der Betreuungsbehörden erfolgen (§ 8 BtBG). Die Einholung eines solchen Berichtes durch das Gericht ist nicht zwingend vorgeschrieben, geschieht in der Praxis aber in den meisten Fällen. Oftmals wirkt noch ein Verfahrenspfleger bei den Entscheidungen mit, der gerichtlich bestellt wird, soweit dies zur Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen erforderlich ist (§ 276 FamFG). Die Reihenfolge der Verfahrenshandlungen ist nicht vorgeschrieben. So kann der Sachverständige durchaus als erster Ansprechpartner mit dem Betroffenen in Kontakt kommen oder er kann die Stellungnahmen der Betreuungsbehörde, des Verfahrenspflegers und das Protokoll der richterlichen Anhörung bereits in der Akte vorfinden. Die Variabilität im Ablauf und die Mitwirkung verschiedener Fachkräfte ergeben für das ärztliche Gutachten nicht den herausgehobenen Stellenwert wie etwa im Strafverfahren. Es erfolgt auch keine mündliche Erstattung in einer Hauptverhandlung, wenngleich eine Anhörung möglich ist. Der Sach-
4.4 Das Gutachten im Betreuungsverfahren
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verständige muss sich gewahr sein, dass seine Äußerungen und Vorschläge im Verfahrensgang relativiert oder abgelehnt werden können. Es ist auch möglich, mehrere Gutachten erstellen zu lassen. Die Qualifikation der Sachverständigen ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Nach überwiegender Rechtsauffassung kommt aber nur ein Gutachten von einem Psychiater oder in der Psychiatrie erfahrenen Arzt in Betracht (BayObLG FamRZ 1993, 351). Mittlerweile gibt es rechtspraktische Erfahrungen mit abweichenden Regelungen (Coeppicus 2000). Das Gesetz enthält auch keine Vorschrift, ob das Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten ist. Eine unmittelbare gerichtliche Anhörung des Sachverständigen wird nach den bisherigen Erfahrungen nur in Ausnahmefällen durchgeführt (anders bei Eilentscheidungen – siehe dort). Die Untersuchung zur Erstellung des Gutachtens soll in der gewohnten Umgebung des Betroffenen erfolgen (analog § 278 Abs. 1 FamFG). Auch wenn dies nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, empfiehlt sich dieses Vorgehen oft, da die Eindrücke etwa über den Zustand der Wohnung aussagekräftige Zusatzinformationen zu Fähigkeiten und Defiziten eines Betroffenen ergeben.
4.4
Das Gutachten im Betreuungsverfahren
Psychiatrische Gutachten zur Frage der Notwendigkeit einer Betreuung müssen umfangreich und differenziert sein. Bereits mit der Einführung des Betreuungsrechts wurden Empfehlungen zur inhaltlichen Gestaltung erarbeitet, die weiterhin hilfreich sind. Nach einem derartigen Vorschlag sollen zunächst das individuelle Behinderungsbild mit gesundheitlichem Schadensbild, funktionellen und sozialen Einschränkungen dargestellt werden, anschließend Bewältigungsmöglichkeiten und Gefährdungen, dann der verbleibende professionelle Interventionsbedarf, schließlich Lösungen unter Zuhilfenahme einer Betreuung (Crefeld 1990). Unter praktischen Gesichtspunkten haben die Vormundschaftsgerichte Hinweise für die Erstattung von Gutachten erarbeitet, oft in Form von konkreten detaillierten Fragenkatalogen. Dies wurde auch von psychiatrischer Seite aufgenommen und schematisch strukturiert (v. Oefele 1992 u. 1998; Foerster 2004). Im Allgemeinen muss der Sachverständige bei der Untersuchung die folgenden Punkte berücksichtigen und im Gutachten darlegen: z kurze Darstellung des Sachverhalts: Wiedergabe der für das Gutachten wichtigen Sachverhalte aus dem Akteninhalt wie Umstände der Betreuungsanregung, Informationen aus ärztlichen Attesten und gegebenenfalls schon vorhandenen Stellungnahmen der Betreuungsbehörde, des Verfahrenspflegers oder anderer im Einzelfall befasster Einrichtungen (Sozialdienste, Gesundheitsämter) sowie eigenen Äußerungen des Betroffenen etwa im Rahmen einer bereits durchgeführten richterlichen Anhörung; z Angabe von Zeitpunkt, Art und Umfang eigener Untersuchungen und gegebenenfalls sonstiger Quellen, auf die sich das Gutachten stützt: Zu
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erwähnen ist hier auch, ob die Untersuchung am Wohnsitz des Betroffenen durchgeführt wurde oder in der Dienststelle/Praxis. Befunde und Berichte anderer Ärzte und professioneller Hilfseinrichtungen können durch den Sachverständigen nach Entbindung von der Schweigepflicht angefordert und einbezogen werden. Bei der Untersuchung darf der Betroffene seinen Verfahrensbevollmächtigten als Beistand hinzuziehen (Knittel 2008, § 1896 BGB Rn 268). Empfohlen wird an dieser Stelle, auch die Anwesenheit einer anderen Vertrauensperson wie bei der richterlichen Anhörung zu gestatten. Dies sollte im Gutachten dann vermerkt werden. Inwieweit Äußerungen dritter Personen im Sinne fremdanamnestischer Angaben durch den Sachverständigen erhoben und verwertet werden dürfen, ist rechtlich nicht geregelt. Voraussetzung ist auf jeden Fall das informierte Einverständnis des Betroffenen. Eine gute Dokumentation der erhobenen Anamnese und Befunde ist wichtig nicht nur für die Abfassung des Gutachtens, sondern auch wegen etwaiger späterer Nachfragen oder Ergänzungen; umfassende Darstellung von Art und Ausmaß der Krankheit oder Behinderung: Aus forensisch-psychiatrischer Sicht ist der psychopathologische Befund zentraler Punkt des Gutachtens. Von hier aus führen die weiteren Überlegungen zur diagnostischen Einordnung und zur Zuordnung zu einem der gesetzlichen Merkmale. Darauf aufbauend werden in funktionaler Hinsicht die Defizite und die erhaltenen Fähigkeiten beschrieben. Dies bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit dem Schweregrad der Symptomatik, also eine Quantifizierung wie auch in anderen forensischpsychiatrischen Bereichen (Nedopil 2007); Vorschläge zu Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten: Therapeutische Hinweise sollten in einem ärztlichen Gutachten enthalten sein. Dabei kann es je nach Sachlage genügen, die Fortsetzung einer bereits bestehenden Behandlung zu empfehlen. Oft sind aber keine oder nur unzureichende Behandlungsmaßnahmen begonnen. Hier sind detailliertere Anregungen für Betroffene und Betreuer hilfreich; gegebenenfalls Stellungnahme zur Notwendigkeit einer Behandlung oder pflegerischen Versorgung in einer geschlossenen Einrichtung oder mit Hilfe unterbringungsähnlicher Maßnahmen: Solche Fragen stellen sich zuweilen nicht erst in einem Unterbringungsverfahren, sondern schon bei der Prüfung und Klärung der Voraussetzungen einer Betreuung. Werden derartige Maßnahmen aus ärztlicher Sicht empfohlen, so sollen die Ausführungen über deren Erforderlichkeit auch konkrete Hinweise zu Gefährdungen und Risiken enthalten, wenn die Durchführung unterbleibt; Beschreibung der aus ärztlicher Sicht zu regelnden Aufgabenkreise: Mögliche Aufgabekreise werden im Gesetz nicht genannt, da die flexible Gestaltung einer Betreuung ein Hauptanliegen des Reformgedankens von 1992 ist. Von der Rechtsprechung werden entsprechend differenzierte Ausführungen auch im Gutachten erwartet (Diekmann u. Jurgeleit 2002). Hierbei muss der Sachverständige den bereits erwähnten Erforderlichkeitsgrundsatz beachten. Allerdings kommt der ärztliche Gutachter hier auch an
4.4 Das Gutachten im Betreuungsverfahren
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die Grenzen seiner Möglichkeiten und Kompetenzen, da es nicht seine Aufgabe ist, eigene Ermittlungen anzustellen etwa über die Vermögenslage eines Betroffenen. Die Festlegung der einzelnen Aufgabenkreise erfolgt abschließend durch das Gericht in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten; Erörterung anderer Hilfen: Auch dieser Abschnitt ist von erheblicher Bedeutung, da die Bestellung eines Betreuers stets subsidiär, also nachrangig gegenüber anderen Möglichkeiten der Unterstützung erfolgt. Hierzu zählen auch Vollmachten, die der Betroffene (rechtsgültig) erteilt hat oder noch geben kann. Der Sachverständige wird auch hier nur im Rahmen seiner Möglichkeiten zur Tatsachenfeststellung Ausführungen machen können; voraussichtliche Dauer der Betreuung: Eine Stellungnahme hierzu ergibt sich aus prognostischen Überlegungen zum bestehenden Krankheitsbild unter Berücksichtigung von Behandlungsmöglichkeiten (oder auch deren Unterlassung); Stellungnahme zu Notwendigkeit eines Einwilligungsvorbehaltes für bestimmte Aufgabenkreise: Ausschlaggebend ist die zu befürchtende Gefährdung des Betroffenen, nicht eine mögliche Gefahr für andere Personen. Im forensisch-psychiatrischen Gutachten entwickelt sich die Einschätzung wiederum aus dem psychopathologischen Befund, dem Schweregrad der Erkrankung und der Beeinflussbarkeit durch Therapiemöglichkeiten. Bei diesen Fragen sind die so genannten höheren psychischen Funktionen, also etwa Planungs- und Überschauvermögen sowie Kritikfähigkeit von besonderer Bedeutung (s. Kap. 4.6.1); Hinweise auf mögliche Schwierigkeiten bei der richterlichen Anhörung: Die richterliche Anhörung ist in vielen Fällen vor der Begutachtung noch nicht durchgeführt. Zu befürchtende Schwierigkeiten durch den Gesundheitszustand oder das Verhalten der Betroffenen sollten vorab mitgeteilt werden. Hierzu zählt auch, wenn die richterliche Anhörung für den Betroffenen einen erheblichen gesundheitlichen Schaden bedeuten würde. In einem derartigen Ausnahmefall kann die richterliche Anhörung sogar unterbleiben (§§ 34 Abs. 2, 278 Abs. 4 FamFG); Mitteilung, ob die Aushändigung des Gutachtens oder die Bekanntgabe der Inhalte zu erheblichen gesundheitlichen Nachteilen für den Betroffenen führen würde: Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs wird dem Betroffenen in der Regel eine Abschrift des Gutachtens zur Verfügung gestellt. Der Sachverständige muss sich im Klaren sein, dass dadurch auch alle zitierten und verwerteten Angaben wie z. B. Befundberichte, Stellungnahmen sozialer Dienste oder Äußerungen von Angehörigen bekannt werden. Dies kann in einer dem jeweiligen Fall angemessener Weise bereits bei der Erstellung des Gutachtens berücksichtigt werden. Ansonsten sollte der Sachverständige nicht zögern, auf mögliche gesundheitliche Auswirkung bei Übersendung beziehungsweise Bekanntgabe des Gutachtens hinzuweisen. Dies kann auf Teilbereiche beschränkt werden, z. B. die Eröffnung einzelner Passagen oder der Diagnose.
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4.5
4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
Das ärztliche Zeugnis im Betreuungsverfahren
Für die einstweilige (vorläufige) Anordnung einer Betreuung, Einrichtung einer Betreuung mit beschränktem Umfang von Aufgabenkreisen auf Wunsch des Betroffenen, bei Verlängerung einer Betreuung ohne ersichtliche Änderung der Betreungsbedürftigkeit, bei Bestellung eines Vollmachtsbetreuers, auch bei einer vorläufigen Unterbringung und unterbringungsähnlichen Maßnahmen genügt ein ärztliches Zeugnis. Entsprechend dem seinerzeitigen Regierungsentwurf genügt dabei im Vergleich zum Gutachten eine verkürzte Darstellung der für die gerichtliche Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte. Unerlässlich ist auch in diesem Rahmen eine Beschreibung des Krankheitsbildes in angemessener Ausführlichkeit mit Darlegung der Auswirkungen auf die Fähigkeit zur selbstständigen Besorgung von Angelegenheiten beziehungsweise den Voraussetzungen für Unterbringungsmaßnahmen und Angaben zur Prognose. In Betreuungsangelegenheiten (nicht in Unterbringungssachen) muss das ärztliche Zeugnis nicht unbedingt von einem Psychiater oder einem in der Psychiatrie erfahrenen Arzt erstellt werden. Es darf auch von den Betroffenen selbst oder z. B. von Angehörigen oder der Heimleitung vorgelegt werden (Knittel 2008, § 1896 BGB Rn 271). Voraussetzung für die Erstellung eines ärztlichen Zeugnisses ist in jedem Fall die persönliche Untersuchung des Betroffenen. Die Erstattung erfolgt in der Praxis oft mündlich und termingleich mit der richterlichen Anhörung.
4.6
Besondere Gesichtspunkte
Besondere Gesichtspunkte ergeben sich für den Sachverständigen im Zusammenhang mit Fragen nach der Notwendigkeit eines Einwilligungsvorbehaltes, nach der Geschäftsfähigkeit und nach der Einwilligungsfähigkeit in ärztliche Untersuchungen und Behandlungsmaßnahmen.
4.6.1 Einwilligungsvorbehalt Wie oben erörtert ist der Einwilligungsvorbehalt ein Instrument zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen eines Betreuten (§ 1903 Abs. 1 BGB). Seine Anwendung ist im Wesentlichen auf den Bereich der finanziellen Angelegenheiten beschränkt. Für Gesundheitsfürsorge und ärztliche Behandlung kann er nicht angeordnet werden, da es hier allein auf die natürliche Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen ankommt. Nach wiederholt bestätigter Rechtsprechung ist für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes die Frage von Geschäftsfähigkeit oder Geschäftsunfähigkeit nicht von unmittelbarer Bedeutung. Es muss dennoch ausschließlich feststehen, dass der Betroffene im entsprechenden Bereich seinen Willen
4.6 Besondere Gesichtspunkte
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nicht frei bestimmen kann (BayObLG ZBR 1994, 16). Für den psychiatrischen Sachverständigen folgt aus diesen Vorgaben, dass die Voraussetzungen für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes nur bei schweren psychischen Beeinträchtigungen bestätigt werden können. Eine quantifizierende Darstellung des Befundes muss daher vorgenommen werden. Darauf aufbauend muss dazu Stellung genommen werden, welche konkrete erhebliche Gefährdung bei Verzicht auf den Einwilligungsvorbehalt besteht. Lässt sich nur die bloße Möglichkeit einer Selbstschädigung darstellen oder z. B. nur die Gefahr geringen finanziellen Verlustes, so reicht dies zur Einsetzung eines Einwilligungsvorbehaltes nicht aus (LG Köln NJW 1993, 207).
4.6.2 Geschäftsfähigkeit Die juristische Vorgabe, wonach die mangelnde Fähigkeit zur freien Willensbestimmung Voraussetzung für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes ist, zeigt bei aller formalen Trennung die Nähe zur Beurteilung der Geschäftsfähigkeit. In § 104 BGB ist der „die freie Willensbestimmung ausschließende Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit“ ausdrücklich als Grundlage für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit genannt. Wenngleich die Frage der Geschäftsfähigkeit bei der Entscheidung zur Bestellung eines Betreuers keine Rolle spielen soll, wird in der Praxis oft eine Stellungnahme hierzu von den Vormundschaftsgerichten im Rahmen der Begutachtung erbeten. Dies wird von juristischer Seite teils befürwortet, teils abgelehnt (Knittel 2008, § 1896 BGB Rn 96, 112; § 68 b FGG Rn 9; Jürgens et al. 2007, Rn 63 a). Die Voraussetzungen für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit werden von der Rechtsprechung restriktiv gehandhabt. Ausschlaggebend ist die krankheitsbedingt fehlende Freiheit der Willensbildung, gegebenenfalls auch nur auf einem bestimmten Gebiet (partielle Geschäftsunfähigkeit). Dabei wird vorrangig auf das Willensmoment, weniger auf mangelnde intellektuelle Fähigkeiten abgestellt. So reicht es für die Annahme von Geschäftsunfähigkeit z. B. nicht aus, wenn jemand die Tragweite vermögensrechtlicher Entscheidungen nicht voll ermessen kann. Wer unklug oder kurzsichtig handelt, muss noch nicht geschäftsunfähig ein (BGH NJW 1961, 261). Aus psychiatrischer Sicht ist die Gleichsetzung einer bestimmten Diagnose mit einer Aufhebung der freien Willensbestimmung unzulässig. So reichen leichtere Orientierungs- und mnestische Störungen in der Regel nicht aus, um einen Ausschluss der freien Willensbestimmung anzunehmen. Erst wenn diese erheblich sind, können die konstruktiven Grundlagen für eigenständige Entscheidungen fehlen. Der Einfluss wahnhafter Vorstellungen auf Entscheidungen begründet hingegen praktisch stets die Annahme von Geschäftsunfähigkeit (v. Oefele u. Saß 1994). Wenn im Gutachten für Betreuungsverfahren Stellungnahmen zur Geschäftsfähigkeit gewünscht werden, so lassen sich diese bei fortgeschrittenen Demenzerkrankungen, schweren endogen Psychosen und erheblichen
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intellektuellen Beeinträchtigungen ohne größere Schwierigkeiten abgeben. Ansonsten ist die Beantwortung dieser Frage vielfach schwierig und setzt eine genaue psychopathologische Fallanalyse voraus (v. Oefele 1996). Ein Lösungsweg kann darin bestehen, die Schwierigkeiten darzulegen, die einer definitiven Beurteilung der Geschäftsfähigkeit entgegenstehen, und sich im Zusammenhang damit mit den Voraussetzungen für einen Einwilligungsvorbehalt zu befassen, da hier bei aller Nähe der Bestimmungen der Schwerpunkt auf der Abwehr von Gefahren für den Betroffenen liegt.
4.6.3 Einwilligungsfähigkeit Bei der Gestattung oder Ablehnung von Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen kommt es nicht auf die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen an, sondern auf dessen Einwilligungsfähigkeit. Auch bei Einsetzung einer Betreuung mit zugeordnetem Aufgabenkreis kann der Betreuer nur dann vertretungsweise einwilligen, wenn der Betroffene nicht selbst wirksam einwilligen kann. Die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts ist hier sinngemäß und begrifflich nicht möglich. Für risikoreiche Maßnahmen ist zusätzlich die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes erforderlich (§ 1904 BGB). Von Bedeutung ist dieser Bereich vielfach bei psychiatrischen Behandlungen, wenn der Patient nicht zur Mitwirkung in der Lage ist, bei Operationen, komplizierten Therapieformen und der Teilnahme an wissenschaftlichen Studien. Eine gesetzliche Bestimmung zur Einwilligungsfähigkeit gibt es nicht. Die juristischen Grundlagen wurden durch die Rechtsprechung geschaffen (Übersicht bei Jürgens et al. 2007, Rn 200–205). Grundlage für die Wirksamkeit einer Einwilligung ist demnach die natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, konkret bezogen auf die vorgeschlagene Untersuchung oder Behandlung. Die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Arztes. Bei Zweifeln muss das Vormundschaftsgericht informiert werden, welches über die Voraussetzungen einer Betreuung entscheidet. Häufig müssen hier vorläufige Eilentscheidungen getroffen werden. Im akuten lebensbedrohlichen Notfall ist ärztliches Handeln auch bei bestehender Einwilligungsunfähigkeit ohne gerichtliche Genehmigung erlaubt. Aus arztrechtlicher Sicht ist ausschlaggebend für die Einwilligungsfähigkeit die Reife und Fähigkeit des Patienten, die Tragweite des ärztlichen Eingriffs für Körper, Beruf und Lebensglück zu ermessen und danach selbstverantwortlich Entschlüsse zu fassen (Laufs 1993). Weiter ausgearbeitet und praktisch anwendbar sind die von der Zentralen Kommission zur Wahrnehmung ethischer Grundsätze in der Medizin für den Forschungsbereich ausgearbeiteten Grundsätze (Jürgens 2002), die den Leitlinien von Helmchen und Lauter (1995) folgen. Demnach wird vom Arzt verlangt, im Einzelfall nach umfassender Information (Aufklärung) zu prüfen, ob ein Betroffener in der Lage ist, einen bestimmten Sachverhalt zu verste-
4.7 Unterbringung
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hen, und zwar im Hinblick auf die Ziele des Vorhabens, das Verfahren, die möglichen Beeinträchtigungen, Risiken und Alternativen. Hierzu gehört die Fähigkeit, die Informationen in angemessener Weise zu verarbeiten und nachvollziehbar zu bewerten, wobei nicht gefordert wird, dies in vernünftiger oder überzeugender Weise zu tun. Schließlich ist entscheidend, ob jemand auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung des Sachverhaltes fähig ist, einen eigenen Willen für die Entscheidung zu bilden. Neubauer et al. (1994) heben zusätzlich als Kriterium noch hervor, ob der Patient über die Einsicht zu Art und Schwere seiner Erkrankung verfügt, Wahlmöglichkeiten nutzen kann und Konstanz in seiner Erklärung zeigt. Somit steht auch hier neben den intellektuellen Grundlagen die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung im Vordergrund, im Unterschied zur Geschäftsfähigkeit jedoch auf einzelne Entscheidungen im konkreten Fall bezogen. So kann durchaus Einwilligungsfähigkeit für einen einfachen ärztlichen Eingriff gegeben sein, für einen komplizierten jedoch nicht. Auch hier folgt die Beurteilung nicht aus einer bestimmten psychiatrischen Einzeldiagnose, sondern der psychopathologischen Analyse der Fähigkeiten und Einschränkungen. Je weiter bei Demenzerkrankungen ein intellektueller Abbau fortgeschritten ist beziehungsweise je stärker eine psychotische Verformung von Denken und Wahrnehmung ausgeprägt ist, umso wahrscheinlicher wird an eine Aufhebung der Einwilligungsfähigkeit zu denken sein. Entsprechend dem Krankheitsverlauf kann die Fähigkeit zur Einwilligung in Untersuchungen und Behandlungen auch schwanken, somit bleibt die Prüfung im Einzelfall unerlässlich.
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Unterbringung
Unterbringung im Sinne des Betreuungsrechts bedeutet die Aufnahme hierfür nicht einwilligungsfähiger Personen in geschlossenen Abteilungen von psychiatrischen Kliniken oder Heimeinrichtungen. Hierbei handelt es sich um freiheitsentziehende Maßnahmen, die einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bedeuten. Sie sind nur zulässig bei Vorliegen einer psychischen Störung zur Abwehr einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung oder zur Durchführung einer notwendigen Untersuchung oder Behandlung zum Wohl des Betroffenen (§ 1906 Abs. 1 BGB) und solange diese Voraussetzungen gegeben sind. Gleichgestellt sind so genannte unterbringungsähnliche Maßnahmen, die mit Freiheitsentziehung oder Einschränkung der Bewegungsfreiheit über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig verbunden sind (§ 1906 Abs. 4 BGB). Gemeint sind hier z. B. das Verschließen des Zimmers, der Einsatz von Gurten oder Bettgittern. Auch die Gabe von Medikamenten ist ausdrücklich im Gesetz genannt, dabei nicht allgemein, sondern lediglich beispielhaft, wenn ein Betroffener durch gezielte Maßnahmen am Verlassen des Aufenthaltsortes gehindert werden soll (Knittel 2008, § 1906 BGB Einführung u. Rn 32).
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
Erfasst wird durch das Betreuungsrecht ausschließlich die Selbstgefährdung des Betroffenen, nicht die Abwehr von Gefahren für andere Personen oder die Allgemeinheit. In solchen Fällen ist nur eine öffentliche oder strafrechtliche Unterbringung möglich. Eine Selbstgefährdung setzt kein zielgerichtetes Handeln voraus. So kann eine verwirrte Person Gesundheit und Leben dadurch gefährden, dass sie z. B. nachts oder bei großer Kälte planlos umherirrt und sich dadurch der Gefahr aussetzt, überfahren zu werden oder zu erfrieren. Auch durch Unterlassung kann sich jemand selbst gefährden, wenn er etwa die Nahrungsaufnahme (bei aufgehobener Einwilligungsfähigkeit) verweigert (ebd., Einführung zu § 1906 BGB). Die Frage, ob bei einer rechtmäßigen Unterbringung eines einwilligungsunfähigen Patienten im Hinblick auf drohende schwerwiegende Gesundheitsstörungen eine Zwangsbehandlung gegen dessen Widerstand durchgeführt werden darf, wird von juristischer Seite überwiegend bejaht, ist aber derzeit noch umstritten (ebd., § 1906 BGB Rn 22 c). Die zivilrechtliche Unterbringung zur stationären Behandlung ist eine relativ häufige Aufnahmeart in psychiatrischen Kliniken. Genaue Zahlen fehlen; Schätzungen, allerdings für zurückliegende Jahre, liegen bei 30% (Jürgens et al. 2007, Rn 488). Die Zahl der zivilrechtlichen Unterbringungen in verschiedenen Einrichtungen ist stetig gestiegen. So wurden 1993 insgesamt 21 085 Genehmigungen nach § 1906 Abs. 1 BGB erteilt, im Jahr 2001 waren es 39 119 (Knittel 2008, § 1906 BGB Rn 7). Auch für gerichtliche Entscheidungen in Unterbringungssachen wird ein Sachverständigengutachten benötigt (§ 321 Abs. 1 FamFG). Der Gutachter soll demnach Arzt für Psychiatrie sein oder zumindest über Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie verfügen. Für unterbringungsähnliche Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4 BGB genügt ein ärztliches Zeugnis – ohne Bindung an eine bestimmte Fachrichtung (Jürgens et al. 2007, Rn 551). Ein ärztliches Zeugnis genügt auch zur Vorbereitung einer vorläufigen gerichtlichen (Eil-)Entscheidung, wobei für die Fachkenntnisse die gleichen Voraussetzungen gelten wie bei dem allgemeinen Verfahren (ebd., Rn 559). Inhaltlich müssen sowohl Gutachten wie Zeugnis die für das Gericht zur Entscheidung notwendigen Anknüpfungstatsachen enthalten. Dazu gehören: z Schilderung der Umstände der Einlieferung und Mitteilung, ob nach Kenntnis der Einrichtung bereits ein Betreuer bestellt ist; z psychopathologischer Befund und diagnostische Überlegungen. Dies ist auch hier der zentrale Punkt, denn daraus lässt sich ableiten die z Begründung der Notwendigkeit einer sofortigen geschlossenen stationären Aufnahme. Hier muss ausdrücklich auf die Gefahren hingewiesen werden, die zu erwarten sind, wenn die Aufnahme unterbleibt; z Beschreibung der fehlenden Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen hinsichtlich Unterbringung und Behandlung;
4.8 Besondere Bestimmungen
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z Angabe der zur Abklärung dringlichen diagnostischen Maßnahmen, z. B. Blutentnahme, Elektroenzephalogramm, kraniales Computerprogramm, Lumbalpunktion, medizinische Fachuntersuchungen; z Beschreibung der vorgesehenen Behandlung. Diese sollte möglichst detailliert dargestellt sein, z. B. welches Medikament gegeben wird beziehungsweise zumindest, welche Medikamentengruppe vorgesehen ist; z erforderlichenfalls Bezeichnung sonstiger notwendiger Maßnahmen, z. B. Infusionen, Katheter, Magensonde, mechanische Beschränkung; z zusammenfassend Antrag auf Schaffung ausreichender Rechtsgrundlagen für Unterbringung und Behandlungsmaßnahmen einschließlich Errichtung einer Betreuung (falls noch nicht bestehend). Entscheidende Stelle ist, auch in Teilbereichen, das Vormundschaftsgericht. So könnte z. B. die geschlossene stationäre Aufnahme genehmigt werden, eine Behandlung mit Neuroleptika aber nicht. Die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit finden auch hier Anwendung.
4.8
Besondere Bestimmungen
Zur Frage einer möglichen Sterilisation enthält das Betreuungsrecht besondere Bestimmungen (§§ 1905 u. 1900 Abs. 5 BGB). Dadurch wird unterstrichen, dass eine derartige Maßnahme nur unter eng gefassten Voraussetzungen erfolgen kann und nicht zu den allgemein angesprochenen „ärztlichen Eingriffen“ im Sinne des § 1904 BGB gehört. Zur Vorbereitung der gerichtlichen Entscheidung sind in diesem Verfahren (mindestens) zwei Gutachten vorgeschrieben, die sich mit den medizinischen, psychologischen, sozialen, sonderpädagogischen und sexualpädagogischen Gesichtspunkten auseinandersetzen (§ 298 Abs. 2 FamFG). Die Qualifikation des Sachverständigen richtet sich nach der konkreten Fragestellung im Gutachtenauftrag. Der den Eingriff ausführende Arzt kann nicht als Sachverständiger bestellt werden. Vor Erörterung aller sonstigen Fragen muss die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen in den Vorgang gemäß den hierzu dargestellten Kriterien geprüft werden (s. Abschn. 4.6.3). Bei gegebener Einwilligungsfähigkeit entscheidet der Betroffene selbst. Fehlt die Einwilligungsfähigkeit dauerhaft und nicht nur vorübergehend, wird ein besonderer Betreuer für die Entscheidung über die Einwilligung in eine Sterilisation bestellt. Auch dann kann ein Betreuer nur in eine Sterilisation einwilligen, wenn dies dem Willen des Betreuten nicht widerspricht. Diese Formulierung des § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB wird juristisch dahingehend interpretiert, dass jede Art von Ablehnung oder Gegenwehr gegen den Eingriff berücksichtigt werden muss (Jürgens et al. 2007, Rn 215). Die Einwilligung in die Durchführung einer Sterilisation durch den Betreuer erfordert immer eine gerichtliche Genehmigung.
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
Zu möglichen Organspenden enthält das Gesetz keine Hinweise. Ist eine Person, also auch ein Betreuter, für diesen Bereich einwilligungsfähig, so ist die eigene Entscheidung verbindlich. Ansonsten kann ein Betreuer für die Zustimmung zu einer Organspende nach der Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen bestellt werden, da dies in der Regel nicht dem Wohl eines Betreuten entspricht (ebd., Rn 205). Die Einwilligung in die klinische Prüfung eines Arzneimittels kann nach § 40 Abs. 2 Nr. 2 AMG nur durch eine geschäftsfähige Person selbstständig und schriftlich erteilt werden. Hier wäre also gegebenenfalls die Frage der Geschäftsfähigkeit zu prüfen. Fehlt sie, so kann ein Betreuer auch nicht ersatzweise zustimmen. Dies ist nur möglich bei der Anwendung eines noch nicht zugelassenen Arzneimittels zur Behandlung, wenn der Betreute einwilligungsunfähig ist und die Behandlung seinem Wohl dient (§ 41 AMG). Bei zivilrechtlich Untergebrachten ist aber auch diese Behandlungsform unzulässig (BayObLG R & P 1990, 131).
4.9
Entwicklung und Ausblick
Die Einführung des Betreuungsrechts 1992 gelang ohne größere Umstellungsschwierigkeiten, da die Rechtsprechung bereits viele Elemente der kommenden Regelung in das bis dahin gültige Pflegschaftsrecht übernommen hatte. Die Verfahrenszahlen und damit die Anzahl der Begutachtungen stiegen auch nicht sprunghaft, jedoch kontinuierlich – eine Entwicklung, die sich seither stetig fortsetzt (Jürgens et al. 2007, Rn 18; Bienwald 2002). Die Gründe hierfür sind vielfältig. Neben der demografischen Entwicklung geht es auch um Fragen der Rechtssicherheit, insbesondere in Kliniken und Einrichtungen der Pflege. Es verwundert nicht, dass die betroffenen Personen überwiegend im höheren Lebensalter stehen. Eine Übersicht aus dem Klinikum Mannheim ergibt ein Durchschnittsalter von 72 Jahren bei den Patienten, für die eine Betreuung angeregt wurde. Die funktionalen Diagnosen verteilen sich auf Delirien, Koma-, Demenz- und Aphasiezustände. Die häufigsten Ursachen betreffen unmittelbar die gestörte Gehirnfunktion durch Demenzen, Infarkte, Blutungen und Hypoxien (Jannakos u. Becker 2000). Auch in einer eigenen Untersuchung von Betroffenen, die in ihrer gewohnten Umgebung lebten (v. Oefele 1994), überwog der Anteil der über 70-Jährigen mit etwa 70% deutlich. Diagnostisch standen hirnorganische Abbausyndrome unterschiedlicher Ursachen mit 96% weit im Vordergrund. Mit etwa 20% folgte eine Gruppe von Betroffenen im mittleren Lebensalter, zentriert um 50 Jahre. Schizophrene Psychosen bildeten hier einen Anteil von 40%, gefolgt von Alkoholproblemen mit Folgeschäden bei 30%. Der übrige Anteil verteilte sich auf zahlreiche verschiedene Diagnosen. Schließlich ließ sich eine Gruppe jüngerer Probanden abgrenzen, die bestimmt war von Betroffenen, die das Volljährigkeitsalter erreichten, aber
4.9 Entwicklung und Ausblick
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nicht die entsprechende Handlungskompetenz aufwiesen. Die psychischen Beeinträchtigungen waren sämtlich hervorgerufen durch eine intellektuelle Minderbegabung mit vielfältigen Ursachen. In der forensisch-psychiatrischen Begutachtung fällt die Beurteilung bei ausgeprägten intellektuellen Beeinträchtigungen und Demenzsyndromen meist nicht allzu schwer. Größere Entscheidungs- und Abgrenzungsprobleme entstehen am ehesten bei schizophrenen und alkoholbezogenen Störungen. Gesunde und kranke Anteile einer Person können in diesen Fällen nebeneinander stehen, das Zustandsbild kann sich rasch verändern. Der Errichtung einer Betreuung stehen die Betroffenen oft ablehnend gegenüber, die Kooperation mit dem Gutachter ist dann entsprechend gering. Von obergerichtlicher Seite wurde gerade in diesem Zusammenhang bereits früher wiederholt entschieden, dass ein Betreuer ohne Einverständnis des Betroffenen nur bestellt werden kann, wenn und solange dieser aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder einer seelischen Behinderung seinen Willen nicht frei bestimmen kann (Knittel 2008, § 1896 BGB Rn 98–101). Die gesetzliche Verankerung erfolgte 2005 (§ 1896 Abs. 1 a BGB). Aus der vorhandenen Fähigkeit zur freien Willensbestimmung lässt sich umgekehrt die Fähigkeit, die eigenen Angelegenheiten selbstständig zu entscheiden, ableiten. Ein Schutz gegen unkluges Handeln besteht dann nicht. Problematischer erscheint die Rechtsauffassung, wonach die Notwendigkeit einer Betreuung ebenso entfällt, wenn sich der angestrebte Zweck voraussichtlich durch die vorgesehene Maßnahme nicht erreichen lässt (Jürgens 2002). Dies zielt nicht nur auf die freie Willensbestimmung eines Betroffenen, sondern auf dessen Kooperationsfähigkeit und -willigkeit. Nicht nur aus psychiatrischer und somit ärztlicher Sicht gilt es dann abzuwägen, inwieweit das Selbstbestimmungsrecht auch das „Recht zur Krankheit, Verwirrtheit oder Verwahrlosung“ umfasst und dem gegenüber den „Schutz vor sich selbst“ etwa bei verweigerter Behandlung (Jürgens et al. 2007, Rn 164). Die ärztliche Einstellung, Unterstützungsmaßnahmen und Behandlungsstrategien zum Wohl eines Betroffenen zu empfehlen und der juristische Standpunkt einer weitreichenden Anerkennung der Einstellungen und Haltungen auch von Personen mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen geraten immer wieder in Konflikt. Es besteht die Gefahr, dass eine dringend notwendige Behandlung unterbleibt, auch mit negativen sozialen und juristischen Folgen wie Verlust der Wohnung oder Unterbringung nach öffentlich-rechtlichen oder strafrechtlichen Vorschriften (v. Oefele 2002). Die – vom Gesetzgeber nicht gewollte – Überlagerung von Betreuungsnotwendigkeit, Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsunfähigkeit bleibt bis auf Weiteres bestehen. Aus psychiatrischer Sicht und teilweise durch die Rechtspraxis unterstützt, lässt sich die Frage nach der Geschäftsfähigkeit nicht nur formal, sondern tatsächlich von den Voraussetzungen für die Errichtung einer Betreuung einschließlich eines möglichen Einwilligungsvorbehalts trennen, wenn das Wohl des Betroffenen und die Abwehr von Gefahren die entscheidenden Gesichtspunkte sind (Coeppicus 2000; v. Oefele 2002).
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4 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Betreuungsrecht
Die Entwicklung des Betreuungsrechts wird seit Beginn von einer anhaltenden Reformdiskussion überlagert. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Betreuungsrecht“ hat einen Abschlussbericht mit Empfehlungen vorgelegt (dazu Dodegge 2003, S. 2646 f.), die teilweise durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 26. 4. 2005 gesetzlich verwirklicht wurden. Dadurch wurde das Institut der Vorsorgevollmacht gestärkt. Für die Entscheidung über die Bestellung eines Betreuers kann nach § 282 FamFG unter Umständen ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ausreichen. Die Vergütung der Berufsbetreuer wurde grundlegend geändert. Kritisiert wird, dass die vorgesehenen Kürzungen im finanziellen Bereich absehbar zu einer erheblichen Verschlechterung der Qualität der Betreuungen führen (Strätling et al. 2004). Die Gestaltung einer adäquaten Personensorge wird immer auch eine sozialmedizinische und sozialpsychiatrische Aufgabe bleiben, im Rahmen der gesellschaftlichen Verpflichtung, hilfsbedürftigen Menschen rechtliche Betreuung ebenso zu gewährleisten wie soziale Unterstützung und Fürsorge.
Literatur Bienwald W (2002) Die betreute Republik. BtPrax 11:3–7 Bundesregierung (1989) Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige. Bundestags-Drucksache 11/4528 Coeppicus R (2000) Vorschläge für ein sachgerechtes Verfahren in Betreuungs- und Unterbringungssachen. ZRP 33:91–95 Crefeld W (1990) Der Sachverständige im Betreuungsverfahren. FuR 1:272–281 Damerow H (1844) Einleitung zu Band I der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, Berlin Leipzig Deinert H (2008) Betreuungen im Bundesgebiet 2003–2007. B+Prax-Newsletter 10 Dieckmann J, Jurgeleit A (2002) Die Reform des Betreuungsrechts. Bt Prax 11:135–140 Dodegge G (2003) Die Entwicklung des Betreuungsrechts bis Anfang Juni 2003. NJW 56: 2645–2651 Dodegge G (2007) Die Entwicklung des Betreuungsrechts bis Anfang Juni 2007. NJW 37:2673–2679 Foerster K (2004) Begutachtung bei zivilrechtlichen Fragen. In: Venzlaff U, Foerster K (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. Urban & Fischer, München, S 503–523 Helmchen H, Lauter H (1995) Dürfen Ärzte an Demenzkranken forschen? Thieme, Stuttgart Jannakos I, Becker U (2000) Indikationen für Betreuungsverfahren im Klinikum Mannheim 1997–99. Poster, DGPPN-Kongress Aachen Jessnitzer K, Ulrich J (2001) Der gerichtliche Sachverständige. Ein Handbuch für die Praxis, 11. Aufl. Heymanns, Köln Jürgens A, Kröger D, Marschner R, Winterstein P (2007) Betreuungsrecht kompakt, 6. Aufl. Beck, München Jürgens HE (2002) Erforderlichkeitsgrundsatz im Betreuungsverfahren. BtPrax 11:18–19 Knittel B (2008) Betreuungsgesetz – Kommentar und Rechtssammlung (fortlaufend aktualisiertes Loseblattwerk). Schulz, Starnberg Krafft-Ebing R (1881) Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 2. Aufl. Enke, Stuttgart Laufs A (1993) Arztrecht, 5. Aufl. Beck, München
Literatur
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Forensische Psychiatrie im Öffentlichen Recht
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Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung D. Heckmann
5.1.1
Überblick – Voraussetzungen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung
5.1.1.1 Die öffentlich-rechtliche Unterbringung – Abgrenzung und Begriffsbestimmung Unterbringung im weiteren Sinne ist die Aufnahme gegen oder ohne den Willen des Betroffenen in eine geschlossene Abteilung einer (medizinischen) Einrichtung (vgl. § 8 I BrPsychKG). Entsprechende Unterbringungsvorschriften finden sich sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht und im Öffentlichen Recht. Charakteristikum all dieser Regelungen ist die Annahme einer Defizienz beim Betroffenen, die eine Freiheitsbeschränkung fordert. Die jeweiligen Unterbringungsmaßnahmen unterscheiden sich dagegen im Zweck der Freiheitsentziehung. Das Strafrecht mit den Formen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) knüpft jeweils an mit Strafe bedrohte Handlungen an und bezweckt als Maßregeln der Besserung und Sicherung in erster Linie den Schutz der Allgemeinheit vor (schuldunfähigen) Straftätern. Voraussetzung der zivilrechtlichen Unterbringung ist dagegen nicht eine vorgängige Delinquenz, sondern eine Betreuungssituation (§§ 1896 ff. BGB). Eine Unterbringung wird zum Wohl des Betroffenen angeordnet, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt (§ 1906 BGB). Die öffentlich-rechtliche Unterbringung bezweckt dagegen vorrangig den Schutz der Allgemeinheit. Nach den in diesem Zusammenhang ergangenen Landesregelungen wird die Unterbringung psychisch Kranker ermöglicht, wenn diese aufgrund ihrer Störung in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit gefährden. Im Gegensatz zur strafrechtlichen Unterbringung ist die notwendige Gefährdungsprognose dabei nicht an eine vorausgegangene Straftat, insbesondere im Hinblick auf eine etwaige Wiederholungsgefahr, gekoppelt, sondern erfolgt nach allge-
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meinen polizeirechtlichen Grundsätzen. Die öffentlich-rechtliche Unterbringung psychisch Kranker ist demnach typisiertes Gefahrenabwehrrecht und zumindest in seinem Kernbereich dem besonderen Polizeirecht zuzuordnen. Auch wenn der Fürsorgeaspekt und der Gesundheitsschutz in allen neueren Unterbringungs- und Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG) verstärkt zur Geltung kommen, geht es doch in erster Linie um den Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen psychisch Kranken.
5.1.1.2 Der verfassungsrechtliche Rahmen – Unterbringung als Freiheitsentziehung z Gesetzgebungskompetenzen Anders als bei der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Unterbringung, bei der der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Gebrauch gemacht hat, sind im Falle der öffentlichrechtlichen Unterbringung die Länder zur Gesetzgebung nach Art. 30, 70 GG zuständig. Dabei wurde die öffentlich-rechtliche Unterbringung traditionell eindimensional als Teil des besonderen Polizeirechts verstanden, nachdem der Gesetzeszweck der Unterbringungsgesetze allein und unmittelbar in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gesehen wurde (BVerfGE 8, 143, 150; 78, 274, 386). In dieser Tradition stehen heute noch großteils die Unterbringungsgesetze von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Dagegen stellen die als PsychKG ausgestalteten Gesetze der anderen Bundesländer verstärkt das Ziel in den Vordergrund, eine krankheitsbedingte Gefährdung mit den Mitteln der Gesundheitsfürsorge zu bekämpfen. Insoweit wird die Gesetzgebungskompetenz für die polizeiliche Gefahrenabwehr neuerdings bezweifelt und das Unterbringungsrecht soll in einem „modernen“ Verständnis in die Gesetzgebungszuständigkeit für das Gesundheitswesen einzuordnen sein (Marschner u. Volckart 2001). Aber auch die Gesetzgebungskompetenz für das Gesundheitsrecht liegt schwerpunktmäßig bei den Ländern, Art. 30, 70 GG, sodass diese Neubewertung der Unterbringungsgesetze im Falle der Zuständigkeitszuweisung keine wesentliche Rolle spielt. Denn nur das Zulassungsrecht für die Heilberufe usw., Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, das Arbeitsschutzrecht und das Sozialversicherungsrecht, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, und die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 a GG, sind vom Bund regelbar. Keinesfalls ist hingegen aus dem Blickwinkel der Gesundheitsfürsorge eine konkurrierende Bundeskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG für Maßnahmen gegen gemeingefährliche Krankheiten herleitbar. Die in den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen angesprochenen Suchterkrankungen, psychischen Störungen oder Behinderungen lassen sich in diesen Kontext nicht verorten (Maunz 1984, Art. 74 Rn 213; Sannwald 2004, Art. 74 Rn 179).
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z Rechtfertigung der Freiheitsentziehung Unterbringung ist Freiheitsentzug. Das Grundgesetz garantiert in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG die Unverletzlichkeit des Grundrechts der Freiheit der Person. Ein Eingriff darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und unter Einschaltung eines Richters vorgenommen werden, Art. 2 Abs. 2 S. 3, 104 GG. Die Freiheit der Person kann als hochrangiges Rechtsgut nur aus besonders wichtigen Gründen eingeschränkt werden; ein derartiger Grund ist jedenfalls der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Geisteskranken. Eine dadurch veranlasste Einschränkung der Freiheit muss sich aber insbesondere am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. In der Rechtsprechung des BVerfG beherrscht der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anordnung, Fortdauer und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (s. etwa BVerfG NJW 1986, 767). Das Spannungsfeld zwischen dem Freiheitsanspruch des einzelnen und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit fordert einen gerechten Ausgleich. Je länger etwa die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung zu beurteilen (BVerfG NJW 1986, 767 ff.). Dabei kommt dem Grundsatz „in dubio pro libertate“ maßgebliche Bedeutung im Unterbringungsrecht zu. Freiheitsentziehungen dürfen nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn keine Zweifel am Vorliegen sämtlicher gesetzlicher Unterbringungsvoraussetzungen vorliegen. Im Zentrum der juristischen Beurteilung stehen dabei die Rechtsbegriffe „Krankheit“ und „Gefahr“. Insbesondere bei psychischen Störungen, deren Grenzen zum Krankhaften fließend sind, ist der entscheidende Richter zu einer besonders sorgfältigen Prüfung verpflichtet, ob den festgestellten Störungen Krankheitswert im Sinne des anzuwendenden Gesetzes zukommt (BVerfG NJW 1984, 1806). Auch bei der erforderlichen Gefahrenprognose kommt die gesetzliche Freiheitsvermutung zum Tragen; insbesondere bei der Unterbringung zum Schutze gegen Selbstgefährdung (BVerfG NJW 1983, 2627). Ob durch die Selbstgefährdung von Leben und Gesundheit die Allgemeinheit (z. B. „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“) beeinträchtigt wird, bedarf dabei einer differenzierenden Sichtweise. Im Prinzip ist die Verhinderung von ausschließlichen Selbstschädigungen unzulässig, da dem die grundrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit entgegensteht, Art 2 Abs. 1 GG: Jeder darf über seine eigenen Rechtsgüter, mit Ausnahme der Menschenwürde, verfügen. Die Rechtsordnung schützt den Einzelnen nicht vor sich selbst, sondern der Einzelne kann selbst bestimmen, wann ihm an der Unverletzlichkeit seiner Rechtsgüter Leben und Gesundheit gelegen ist und wann nicht. Soweit jedoch durch den Akt der Selbstgefährdung Rechtsgüter dritter Personen gefährdet werden, besteht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Hier kann die polizeilich irrelevante Gefahr, der sich der Einzelne aussetzt, keinen grundrechtlichen Schutz beanspruchen, da sie nicht mehr ausschließlich ist, sondern schützenswerte Individualgüter Dritter ge-
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fährdet. Entspricht es einem freiheitlichen Menschenbild, den Bürger nicht vor autonom verantworteter Selbstgefährdung und Selbstschädigung durch staatliches Eingreifen zwangsweise zu schützen, so wird doch bei drohendem Selbstmord dieser Bereich autonomen Verfügens über die eigene Persönlichkeit verlassen und die öffentliche Sicherheit gefährdet. Die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung ist nur eine solche, wenn sie von einem freien Willen getragen ist. Der Wille ist nur frei, wenn der Betroffene die entsprechende Gefahr erkennt. Kennt er sie nicht, ist sein Verhalten nicht als Ausdruck grundrechtlich geschützter Selbstbestimmung zu achten, sondern ist er vor der Gefahr zu schützen. Dabei muss immer damit gerechnet werden, dass der Selbstmordgefährdete in einer psychischen Ausnahmesituation nicht voll zurechnungsfähig und damit nicht in der Lage ist, eine autonome Entscheidung zu treffen. Aus der Wertentscheidung des Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG folgt zudem die Aufgabe des Staates, menschliches Leben zu schützen. Diese an den im Unterbringungsrecht tradierten Terminus der „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ anknüpfenden sicherheitsrechtlich geprägten Wertungen wurden durch die zunehmende Ausrichtung der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze am Fürsorgeprinzip zunehmend verwischt. Zum einen muss auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die „Freiheit zur Krankheit“ belassen werden (BVerfG NJW 1982, 691). Zum anderen: Der neuralgische Punkt im Unterbringungsrecht ist seit jeher das Zusammentreffen von juristischem und psychiatrischem Sachverstand. Bei der durch das Fürsorgeprinzip verstärkt im Vordergrund stehenden Frage aber, ob eine Unterbringung für das Wohl des Kranken angebracht sei, droht dieses Zusammenspiel der Kompetenzen einseitig zu Gunsten des medizinischen Sachverstandes aufgelöst zu werden. Was für das Wohl des Kranken das Richtige ist, ist keine juristische, sondern eine medizinischtherapeutische Fragestellung. Verliert die Unterbringungspraxis aber die dogmatische Bindung an ihre ehemals polizeilichen Grundstrukturen, öffnet es staatlicher Fürsorge einen kaum justiziablen Handlungsspielraum. Man mag zwar nicht gleich eine Pervertierung zu einer allgemeinen Zwangsbehandlung befürchten; freilich könnten aber insbesondere durch medizinische Fehlprognosen so bedauerliche Einzelschicksale wie der Fall „Vera Stein“ gehäuft auftreten (s. dazu ausführlicher folgenden Abschnitt sowie http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/27/0,1872,2322459,00.html). Dagegen erscheint der polizeirechtliche Ansatz geeigneter, im kritischen Bereich der Überschneidung von psychiatrischer Versorgung und persönlicher Autonomie rechtsstaatliche Bestimmtheit zu erhalten und Freiheit zu sichern. z Die Europäische Menschenrechtskonvention Artikel 5 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) regelt die Grenzen für die Anordnung und Vollstreckung von Freiheitsentziehungen. Zur Unterbringung von Geisteskranken im Sinne des Art. 5 Abs. 1 e) EMRK hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger
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Rechtsprechung (EuGRZ 1979, 650 – Winterwerp; 1985, 644 – Luberti; 1986, 8 – Ashingdale) folgende allgemeinen Voraussetzungen herausgearbeitet: Die Geisteskrankheit muss aufgrund eines objektiven medizinischen Gutachtens nachgewiesen sein, sie muss von Art und Schwere her eine Einweisung rechtfertigen können und die Einweisung darf nicht länger andauern, als die Geisteskrankheit tatsächlich besteht. Insbesondere kann ein querolatorisches Verhalten (EuGRZ 1992, 585) oder die bloße Abweichung von überwiegend akzeptierten Verhaltensweisen eine Unterbringung nicht rechtfertigen (EuGRZ 1979, 653). Zudem verlangt die EMRK die nachträgliche Möglichkeit einer richterlichen Überprüfung der angeordneten Verwahrung. Dieses Kriterium erlangte im Jahr 2004 maßgebliche Bedeutung in der Schweiz. Dort wurde ein Plebiszit angenommen, das unter anderem vorsah, „nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“ ohne richterliche Revision lebenslänglich wegzusperren. Aufgrund der Bestimmungen der EMRK konnte dies freilich nicht Gesetz werden (Rückert 2005). Nach einer unfreiwilligen Odyssee durch deutsche Privatkliniken und Krankenhäuser hat das unter dem Pseudonym „Vera Stein“ bekannt gewordene Psychiatrieopfer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Teilsieg errungen. Die Straßburger Richter verurteilten Deutschland am 16. 6. 2005 zu einer Entschädigungszahlung von 75 000 Euro sowie zur Erstattung der Prozesskosten (1 ECHR, 16 June 2005, appl. no. 61603/00, www.echr.coe.int ? case law ? HUDOC). Die damals 18 Jahre alte Klägerin war von 1977 bis 1979 gegen ihren Willen und nach Ansicht der Richter ohne medizinischen Grund in einer Bremer Privatklinik interniert gewesen. Nach Ansicht der Straßburger Richter widersprach die damalige Einweisung dem Recht auf Freiheit sowie dem Recht auf Privatleben. Der Vater der Klägerin hatte die Einweisung veranlasst, weil er glaubte, seine Tochter leide an einer Psychose. Nach einem medizinischen Gutachten von 1994, in dem ihr bestätigt wurde, nie an einer Psychose oder an einer kindlichen Schizophrenie gelitten zu haben, zog Stein vor mehrere deutsche Gerichte.
5.1.1.3 Der Zweck der Unterbringung – Die Abgrenzung zwischen strafrechtlicher, zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Unterbringung Die Unterbringung gefährlicher Kranker nach Landesrecht überschneidet sich insbesondere mit den Maßregeln der Sicherung und Besserung nach den §§ 63 ff. StGB, nämlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung. Bei diesen Maßregeln besteht wie bei der öffentlich-rechtlichen Unterbringung als Unterbringungsgrund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch den Betroffenen. Ebenso ist bei einer Unterbringung nach §§ 63 und 64 StGB erforderlich, dass der Unterzubringende geistes- oder suchtkrank ist (allerdings nicht im Falle der Sicherungsverwahrung, §§ 66 ff. StGB). Im Unterschied zur Unterbringung nach Landesrecht ist aber er-
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forderlich, dass der Unterzubringende eine oder mehrere (gewichtige) Straftaten als so genannte Anlasstat begangen hat. Insoweit ist die Abgrenzung der divergierenden Unterbringungsmaßnahmen abstrakt besehen eindeutig: nämlich Begehung von Straftaten und daraus resultierende Gefährlichkeit einerseits und psychische Krankheit und daraus folgende Gefährlichkeit andererseits. Dennoch war in der Praxis eine bedenkliche Ausweitung landesrechtlicher Unterbringungsmaßnahmen zu beobachten, die letztendlich auf der „Unzulänglichkeit“ des strafrechtlichen Sicherungsinstrumentariums beruhte. So gab es mehrere Fälle, in denen Täter, die im Strafverfahren als voll schuldfähig verurteilt wurden, nach Verbüßung der Endstrafe etwa auf der Grundlage des bayerischen Unterbringungsrechts in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden (Nedopil 2000). Dogmatisch ist dies damit zu erklären, dass die Grenzen des Krankheitsbegriffs ausgeweitet und auf eine reine Gefährlichkeitsprognose ausgedehnt wurden. Letztlich mag dies vielleicht auch in der mangelnden Übereinstimmung psychiatrischer Diagnosen liegen. Allerdings: die meisten psychisch Kranken sind nicht kriminell und die meisten Kriminellen nicht psychisch krank. Natürlich ist auch ausreichendes Verständnis und gebotener staatlicher Schutz für die potenziellen Opfer gefährlicher Straftäter aufzubringen, die aus der Strafhaft zu entlassen sind. Allerdings kann dies nicht auf der Grundlage der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze geschehen. Diese knüpfen an den Rechtsbegriff der psychischen Erkrankung an. Ist eine solche nicht diagnostizierbar, muss eine Unterbringung ausscheiden. Zur Bewältigung dieser Problematik ist der Gesetzgeber gefordert. Ein Schritt in diese Richtung war die Etablierung der so genannten nachträglichen Sicherungsverwahrung in einzelnen Bundesländern. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung war eine (bis vor wenigen Jahren) auf landesrechtlichen Regelungen basierende präventivpolizeiliche Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung vor rückfallgefährdeten (und daher besonders gefährlichen) Straftätern. Bedeutung gewann sie, wenn eine Sicherungsverwahrung nach der bundesrechtlichen Regelung in § 66 StGB – insbesondere, weil ein Straftäter im (für § 66 StGB maßgeblichen) Zeitpunkt der Verurteilung noch nicht als gefährlich eingestuft wurde – nicht angeordnet worden war. Weist der Täter etwa erst während des Vollzugs der Freiheitsstrafe Gefährlichkeitstendenzen auf, konnte eine (an sich erforderliche) Sicherungsverwahrung nach bis vor wenigen Jahren geltendem Recht nicht (mehr) angeordnet werden. Um auch in solchen Fällen die Bevölkerung hinreichend schützen zu können, haben die Landesgesetzgeber in Baden-Württemberg (2001), Bayern (2002) und Sachsen-Anhalt (2003) Gesetze zur Unterbringung besonders gefährlicher Straftäter (Straftäterunterbringungsgesetz, StrUBG) erlassen. Der Anwendungsbereich der nachträglichen Sicherungsverwahrung war dabei begrenzt: Zunächst kam sie nach den (weitgehend identischen) landesrechtlichen Regelungen nur in Betracht, wenn die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 bis 4 StGB vorlagen. Darüber hinaus setzte die nachträgliche Sicherungsverwahrung als Anknüpfungs-
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punkt ein Vollzugsverhalten voraus, das auf eine besondere Rückfallgefahr schließen ließ. Regelbeispielhaft für ein entsprechendes Vollzugsverhalten waren nach den gesetzlichen Regelungen der Abbruch oder das Ablehnen einer rückfallvermeidenden Psycho- oder Sozialtherapie. Psychisch Kranke sowie jugendliche beziehungsweise heranwachsende Straftäter fielen aus dem Anwendungsbereich der nachträglichen Sicherungsverwahrung ganz heraus. Eine Anwendung der Regelungen auf psychisch kranke Straftäter war nicht erforderlich: Durch die Unterbringung psychisch Kranker nach StGB oder Landesrecht ist der Schutz der Bevölkerung hinreichend gewährleistet. Die §§ 7, 106 II JGG schlossen eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden aus. Konsequenterweise kam daher auch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht in Betracht. Allerdings hat das BVerfG im Februar 2004 die von einigen Bundesländern eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt (BVerfG DVBl. 2004, 501 ff.). Nach Auffassung des Gerichts wären diese Regelungen zwar materiell verfassungsgemäß gewesen, verstießen aber gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, da es sich nicht – wie von den Ländern und Teilen der einschlägigen Literatur stringent begründet (Würtenberger u. Sydow 2001) – um Gefahrenabwehrrecht, sondern um das bundesgesetzlich zu regelnde Strafrecht handelte (BVerfG DVBl. 2004, 501; Kinzig 2001). Konsequenz dieser Feststellung hätte eigentlich die Nichtigkeit der entsprechenden Regelungen sein müssen, mit der Folge der umgehenden Freilassung der zu dieser Zeit fünf betroffenen Häftlinge. Das BVerfG entschied jedoch, dass die verfassungswidrigen Regelungen bis Ende September 2004 anwendbar bleiben sollten, damit der Bundesgesetzgeber Gelegenheit erhalte, eine Entscheidung über die bundesgesetzliche Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu treffen (BVerfG DVBl. 2004, 501). Dieser hat die Vorlage aufgenommen und in einem abgekürzten Gesetzgebungsverfahren mit Wirkung vom 29. Juli 2004 eine entsprechende Regelung in das Strafgesetzbuch eingefügt (§ 66b StGB) (Gesetzentwurf vom 11. März 2004, BR-Drs. 202/04; dazu kritisch: Braum 2004), sodass nunmehr eine entsprechende Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nach Bundesrecht möglich ist. Auch für Heranwachsende, die nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilt worden sind, enthalten § 106 Abs. 5 und Abs. 6 JGG seit 2004 eine gegenüber § 66 b Abs. 2, 3 StGB spezielle Regelung zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Diese bundesrechtlichen Möglichkeiten der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für besonders gefährliche Straftäter lässt für die Anwendung der Unterbringungsgesetze der Länder nun auch eine dogmatische Neubesinnung erhoffen. Die Reduktion des Gesetzeszwecks auf eine bloße Gefährdungsprognose hat angesichts dieses zusätzlichen Sicherheitsinstruments auch faktisch keine Berechtigung mehr. Insoweit gilt es wieder eine verhältnismäßige und freiheitssichernde Ausbalancierung der wesentlichen Unterbringungskriterien „psychische Erkrankung“ und „Gefahr für die Allgemeinheit“ zu suchen und das Spannungsverhältnis
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zwischen psychiatrischer Diagnose, medizinischer Behandlung und polizeirechtlicher Gefahrenabwehr weiter aufzulösen, um dem ambivalenten Charakter der Unterbringungsregelungen gerecht zu werden.
5.1.1.4 Leitlinien der öffentlich-rechtlichen Unterbringung z Die maßgeblichen Unterbringungsvoraussetzungen: „Krankheit“, „Gefahr“, Kausalität und Erforderlichkeit Die Ländergesetze sehen eine Anordnung der Unterbringung nur vor, wenn sie gegen oder ohne den Willen des Betroffenen erfolgt. Nur dann kann von einer Freiheitsentziehung gesprochen werden. Liegt dagegen eine ernsthafte und verlässliche beziehungsweise rechtsverbindliche Einverständniserklärung vor, ist eine Unterbringungsanordnung nicht erforderlich (vgl. LG Oldenburg NJW 1987, 1953) und ein in den Ländergesetzen geregeltes Unterbringungsverfahren mithin entbehrlich. Befindet sich eine psychisch kranke Person bereits freiwillig in geschlossener Unterbringung, darf sie folglich nur dann zwangsweise untergebracht werden, wenn sie den Unterbringungsort ernsthaft verlassen will und außerdem zu befürchten ist, dass sie außerhalb der Unterbringung eine Gefahr für andere oder sich selbst darstellt (OLG Hamburg NJW-RR 1992, 57, 58). Eine Unterbringungsanordnung kommt folglich nur bei fehlender Freiwilligkeit seitens des Betroffenen in Betracht. Dabei ist auf den natürlichen Willen abzustellen (LG Oldenburg NJW 1987, 1953). Auch verlangen alle Landesgesetze als Unterbringungsvoraussetzung das Vorliegen einer psychischen Krankheit, einer vergleichbaren psychischen Störung, einer Suchtkrankheit oder einer geistigen Behinderung. Der Begriff der psychischen Krankheit umfasst alle Arten geistiger Abnormität sowie alle psychischen Abweichungen von der Norm, gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie zu Stande gekommen sind (Zimmermann 2005). Dazu gehören beispielsweise Psychosen und Psychopathien. Die freie Willensbestimmung muss hingegen nicht zwingend ausgeschlossen sein. Bei der Prüfung, ob eine derartige Krankheit vorliegt, orientiert man sich aus medizinischer Sicht an den von einigen international anerkannten Organisationen herausgegebenen Klassifikationssystemen psychiatrischer Störungsbilder, die der Verständigung unter Fachleuten entsprechend vereinbarter Konventionen dienen (Nedophil 2000). So geben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in regelmäßigen Abständen die ICD-10 („International Classification of Diseases“) und die American Psychiatric Association das DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) heraus. Da die Freiheit der Person ein Grundrecht von immens hohem Rang ist, kommt auch bei Vorliegen einer Krankheit eine Anordnung einer Unterbringung nur in Betracht, wenn ein die Freiheitsentziehung rechtfertigender Schweregrad der Persönlichkeitsstörung bejaht werden kann. Auszugehen ist dabei von einem juristischen Krankheitsbegriff (BVerfG NJW 1982, 691, 693). Eine medizinische Erkrankung kann immer nur den Aus-
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gangspunkt der richterlichen Beurteilung darstellen. Auch wenn sich der Richter dabei eines Sachverständigengutachtens zu bedienen hat (vgl. § 70 e FGG), ist er nicht verpflichtet, die Beurteilung des Arztes zu übernehmen, da der medizinische Krankheitsbegriff teils weiter, teils enger ist als der maßgebliche Rechtsbegriff der psychischen Erkrankung (BVerfG NJW 1982, 691, 693). Beim juristischen Krankheitsbegriff spielen etwa Ursache und Therapierbarkeit weniger eine Rolle als die Ausprägung der Störung. Krankheit im juristischen Sinne ist in erster Linie abhängig vom Überschreiten einer bestimmten, unter Umständen normativ gesetzten Schwelle; entscheidend ist das Ausmaß der Funktionseinschränkung des Betroffenen. Insoweit zwingt der juristische Krankheitsbegriff zu einer teleologischen Auslegung. Maßgeblich ist demnach der Zweck der Unterbringung, also in erster Linie die Gefahrenabwehr und nachgeordnet die Fürsorge für den Betroffenen. Die festgestellte (psychische) Erkrankung muss schließlich eine qualifizierte („erhebliche“ [§ 1 Abs. 4 BW, Art. 1 Abs. 1 Bay, § 8 Abs. 1 Berl, § 9 Abs. 1 Hbg, § 1 Abs. 1 und 2 Hess, § 16 Nds, § 11 Abs. 1 MeVo, § 11 Abs. 1 S. 1 NRW, § 11 Abs. 1 Rhpf, § 4 Abs. 1 Saar, § 13 Abs. 1 SaAn, § 10 Abs. 2 Sachs, § 7 SH, § 6 Abs. 1 Thür] beziehungsweise „gegenwärtige“ [§ 1 Abs. 4 BW, § 9 Abs. 2 Bre, § 9 Abs. 1 Hbg, § 11 Abs. 1 MeVo, § 16 Nds, § 11 Abs. 1 Rhpf, § 13 Abs. 1 SaAn, § 10 Abs. 2 Sachs]) Gefahr für die öffentliche Sicherheit vermitteln. Diese Begriffe sind ihrem historischen Kontext entsprechend einer rein polizeirechtlichen Betrachtungsweise zu unterwerfen. Hinsichtlich Wahrscheinlichkeitsprognose, zeitlicher Nähe zum Schadenseintritt und möglichen Prognosefehlern („Anscheins- und Putativgefahr“) ist Rekurs auf die gefestigte sicherheitsrechtliche Dogmatik zu nehmen. Allerdings ist der Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ enger auszulegen als nach herkömmlicher polizeirechtlicher Terminologie. Dies bedingt der erhebliche Grundrechtseingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. So dürften etwa reine Sachgefahren kaum eine Unterbringung rechtfertigen können. Vielmehr wird regelmäßig nur eine Gefahr für Leben oder Gesundheit (Dritter) eine Unterbringung begründen können, wie etwa Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung (dazu: LG München NJW 2000, 883). Keinesfalls genügen Belästigungen, Beleidigungen, leichte körperliche Beeinträchtigungen und querulatorische Verhaltensweisen jeden Schweregrades (BayObLGZ 1989, 17, 20). Dementsprechend fordern einige Unterbringungsgesetze auch ausdrücklich die Gefährdung bestimmter Rechtsgüter Dritter (§ 8 Abs. 1 Berl, § 11 Abs. 1 NRW, § 11 Abs. 1 Rhpf, § 4 Abs. 1 Saar, § 10 Abs. 2 Sachs, § 6 Abs. 1 Thür). Die prognostizierten Gefährdungshandlungen müssen krankheitsbedingt sein. Die festgestellte Krankheit muss also mit der Gefahr in einem Kausalitätsverhältnis stehen. Insoweit ist die Motivation des Betroffenen für sein Verhalten im Einzelfall festzustellen. Dass bei der Verkettung von Krankheit und Gefahr weithin auch medizinischer Sachverstand für die Entscheidungsfindung unabdingbar ist, liegt dabei auf der Hand. Jedenfalls lässt sich die erforderliche Kausalität nicht schon durch einen Rückschluss von
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einer bestimmten gefährlichen normwidrigen Handlung auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung herleiten. Schließlich kommt eine Unterbringung als Ultima Ratio nur in Betracht, wenn die Gefahrenabwehr nicht auf andere mildere, also weniger grundrechtsintensive Art und Weise möglich ist (Grundsatz der Erforderlichkeit). Als alternatives Instrumentarium sind etwa ambulante Behandlungsmethoden in Betracht zu ziehen. Dabei dürfen auch die wesentlichen Zielsetzungen der Unterbringung nicht außer Acht gelassen werden. z Gesundheitsfürsorge und Gefahrenabwehr Die maßgeblichen Pole, die das moderne Unterbringungsrecht bestimmen, sind das Fürsorgeprinzip und der Zweck der Gefahrenabwehr. Die Fürsorge für hilfsbedürftige psychisch Kranke ist nunmehr in allen Unterbringungsgesetzen anerkannter Zweck der öffentlichen Unterbringung (dazu ausführlich das BVerfG NJW 1982, 691). Die Verfassungslegitimität des Zweckes wird aus dem Sozialstaatsprinzip begründet, das dieser Fürsorge den Rang einer staatlichen Aufgabe verleiht. Insbesondere die neueren als PsychKG erlassenen Unterbringungsgesetze norddeutscher Prägung kommen dieser Forderung nach, indem sie die Notwendigkeit ärztlicher Betreuung und Beratung während der Unterbringung hervorheben und ihr einen Katalog von begleitenden Hilfen vor- beziehungsweise nachschalten. Auch soweit dadurch alternative, ambulante Behandlungsmöglichkeiten in Betracht kommen, trägt das Fürsorgeprinzip zum Grundrechtschutz der Betroffenen bei, die nun nicht mehr isoliert als Störer öffentlicher Belange zu sehen sind, sondern auch als hilfsbedürftige Kranke. Verfassungsrechtlich fragwürdig wird das Fürsorgeprinzip aber dann, wenn es mit staatlichem Zwang verbunden wird. Eine Fürsorge, die der Staat einem Hilfsbedürftigen gegen dessen Willen angedeihen lässt, ist verfassungsrechtlich nicht anders einzuordnen als jeder andere staatliche Zwangseingriff. Wenn etwa der psychisch Kranke im Fall einer Zwangsmedikation die Entscheidungsbefugnis verliert, ob er lieber unter seiner psychischen Krankheit als unter den körperlichen Auswirkungen von Psychopharmaka leiden will, wird das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt. Von der zwangsweisen Unterbringung zu Heilungszwecken ganz zu schweigen. Insofern ist stets zu bedenken, dass der psychisch Kranke (und der Süchtige) ein unantastbares Recht auf seine Krankheit hat, solange dadurch nicht die Rechte anderer berührt sind (BVerfG NJW 1998, 1774). Dieser Aspekt, der jeder strikt sicherheitsrechtlich motivierten Unterbringung immanent ist, droht bei einer Überbewertung des Fürsorgegedankens leicht in Vergessenheit zu geraten. So ist etwa durch die Einführung der fürsorgerisch intendierten PsychKG in den jeweiligen Bundesländern die Zahl der Unterbringungen im Gegensatz zur alten rein polizeirechtlich orientierten Rechtslage gestiegen (Marschner u. Volckart 2001). Doch auch eine stärkere Fokussierung des Aspekts der Gefahrenabwehr trägt nicht weiter zur Problemlösung bei. Denn in diesem Fall droht – wie
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bereits beschrieben – eine schleichende Loslösung vom Krankheitsbegriff hin zu einer Instrumentalisierung der Unterbringung zu einem reinen Gefahrenabwehrinstrument. Unterbringung muss aber immer in Veranlassung einer psychischen Erkrankung das letzte Mittel zur Gefahrenabwehr sein. Die Gefahrenabwehr selbst ist nicht Aufgabe des Unterbringungsrechts, sondern des Strafrechts und insbesondere des Polizeirechts im engeren Sinne. Somit darf auch ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis (der Bevölkerung) vom Ultima-Ratio-Charakter der Unterbringung nicht ablenken und insbesondere keine Überantwortung der psychiatrischen Kompetenz auf die juristische bewirken; indes soll aus ärztlicher Sicht aus Angst vor Fehldiagnosen derzeit tendenziell eher eine Zwangseinweisung befürwortet werden. So jedenfalls Peter Müller von der Psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen: „Da spielen Sicherheitsgedanken eine Rolle, die in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind und auch Angehörige wollen lieber auf Nummer sicher gehen. Und Ärzte, die öfter jetzt auch mal verklagt werden, wenn sie etwas falsch machen, sagen: mit einer Zwangseinweisung bin ich auf der sicheren Seite, dann bestimmt der Richter, dass der Patient im Krankenhaus sein muss, und ich muss nicht die aufwändige ambulante Fürsorge machen, obwohl das genauso ginge“ (http://www.zdf.de/ZDFde/ inhalt/2/0,1872,2322466,00.html). Dennoch wird der polizeirechtliche Zweck der Unterbringung Ausgangspunkt jeglicher Betrachtungsweise sein müssen. Die dogmatisch ausdifferenzierte Unterscheidung zwischen Gefahr und Lästigkeit erlaubt Einweisungen nur zum Zwecke des Schutzes legitimer Gemeinschaftsinteressen. Gerade weil die Unterscheidung nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Geisteskrankheit getroffen werden kann, legt sie offen, was die Gesellschaft als bloße Belästigung sich noch zumuten und was sie als Gefahr von sich fernhalten will (Neumann 1982). Im Fürsorgedenken hingegen ist die Verantwortung der Rechtsgemeinschaft für die Freiheit des Kranken nicht thematisierbar. Schon deshalb tut ein Festhalten und eine maßgebliche Bewertung der polizeirechtlichen Begriffe Not. Dass der Fürsorgegedanke und der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Unterbringung, die psychische Erkrankung des Betroffenen, dabei nicht in Vergessenheit gerät, dafür kann die ausdifferenzierte Unterbringungspraxis in dem Zusammenwirken von medizinischem und juristischem Sachverstand sorgen, wenn die Beteiligten unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des In-dubio-pro-libertate-Prinzips ihrer Aufgabe nachkommen. Die obligatorische psychiatrische Begutachtung und die darauf folgende richterliche Beurteilung des Sachverhalts gewähren im Grunde einen interessengerechten Ausgleich der Rechte des Betroffenen und des Gemeinwohlbelangs der öffentlichen Sicherheit. Während von richterlicher Seite insbesondere das Prinzip der Gefahrenabwehr im Vordergrund stehen wird, wird von medizinisch-psychiatrischer Sichtweise von der Natur der Sache aus der gesundheitsrechtliche Aspekt der Krankenfürsorge wesentliches Element der Begutachtung sein. Bei einem unvoreingenommenen, selbstverantwortlichen Zusammenwirken der medizini-
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schen und juristischen Kompetenzen können so die gesetzlichen Unterbringungszwecke bestmöglich gewährleistet werden. Um in der Praxis einer teils feststellbaren Verantwortungsdelegation oder einem Fachkompetenzmangel vorzubeugen, käme rechtspolitisch etwa der Einsatz von Sachverständigengremien oder Richterkollegien in Betracht. Besondere freiheitssichernde Bedeutung wird neben effizientem nachträglichen Rechtsschutz der Betroffenen insbesondere auch grundrechtsschützenden Verfahrensvorschriften für die Dauer der Unterbringung zukommen müssen.
5.1.2 Das Unterbringungsverfahren Mögen die Unterbringungsgesetze der Länder zwar unterschiedlichen materiellen Gehalt aufweisen, so wird doch mittlerweile ein einheitlicher Verfahrensstandard gewährleistet. Nachdem zum 1. 1. 1992 das Verfahrensrecht aus den Unterbringungsgesetzen der Bundesländer ausgegliedert wurde, ist dieses nunmehr einheitlich in den §§ 312 ff. FamFG geregelt. Dabei knüpfen die jeweils maßgeblichen Verfahrensvorschriften an die Art der Unterbringung an. z Arten der Unterbringung. Man unterscheidet die vorläufige (vgl. § 331 FamFG bei Gefahr im Verzug ist hierbei das gerichtliche Anordnungsverfahren vereinfacht, vgl. § 332 FamFG) von der sonstigen Unterbringung; beide ergehen durch Gerichtsbeschluss. In außerordentlichen Notfällen kommt überdies eine kurzzeitige Unterbringung auf Anordnung der Verwaltungsbehörde in Betracht (so genannte Verwaltungsunterbringung vgl. dazu 5.1.2.2). Die kurzzeitige Unterbringung durch die Verwaltungsbehörde kann selbst bei akuter Gefahr erfolgen. Sie ist in den Unterbringungsgesetzen der Länder geregelt. z Verfahrensablauf und Rechtsquellen. Das Prozedere der öffentlich-rechtlichen Unterbringung lässt sich in seiner zeitlichen Abfolge systematisch in drei verfahrensrechtlich relevante Phasen unterteilen: das vorgerichtliche Verfahren, das gerichtliche Verfahren sowie anschließend Vollstreckung und Vollzug der Unterbringung. Das vorgerichtliche Verfahren ist typisiertes antragsabhängiges Verwaltungsverfahren. Es gelten die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder mit den psychiatriegesetzlichen Ergänzungen der Unterbringungsgesetze (Marschner u. Volckart 2001). Das daran anschließende Verfahren vor Gericht ist bundeseinheitlich in den §§ 312 ff. FamFG geregelt und endet mit der Anordnung der (vorläufigen) Unterbringung. Auf das gerichtliche Verfahren folgt die Vollstreckung der Unterbringung, die wiederum einen Abschnitt des Verwaltungsverfahrens der Gesundheitsbehörde darstellt (Marschner u. Volckart 2001). Der Vollzug der Unterbringung regelt schließlich die Art und Weise der Unterbringung. Die dabei ergehenden Maßnahmen sind nicht der Unterbringungsbehörde zuzurechnen, sondern der Verwahrungsanstalt selbst und richten sich nach
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den Unterbringungsgesetzen beziehungsweise PsychKGs. Die meisten Landesregelungen sehen zudem in diesem Zusammenhang ausdrückliche Maßnahmen zur Vermeidung der Unterbringung vor (vgl. Bre §§ 5–7, Hmb § 6, MeVo §§ 3–8, Nds § 6, NW §§ 7–9, RhPf §§ 4–9, Sachs § 5, SaAn §§ 2, 3, 7–10, SH §§ 3–6, Thü §§ 3–5).
5.1.2.1
Der Verfahrensablauf
z Das vorgerichtliche Verfahren Das vorgerichtliche Anordnungsverfahren setzt zwingend einen Antrag der Gesundheitsbehörde an das zuständige Gericht voraus. Dies ergibt sich aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Freiheit der Person, die für alle gesetzlich vorgesehenen Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht die Einhaltung grundrechtschützender Verfahrensvorschriften fordert (vgl. Art. 104 Abs. 1 GG; Marschner u. Volckart 2001). Die nach außen wirkende Prüfung und Vorbereitung der Antragstellung als Verwaltungsmaßnahme bildet das dem gerichtlichen Verfahren vorgeschaltete Verwaltungsverfahren. z Verfahrensgrundsätze. Das Verwaltungsverfahren ist gemäß Art. 70 Abs. 1, 84 Abs. 1 GG Gegenstand der Landesgesetzgebung und in den jeweiligen Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder kodifiziert, sodass diese Regelungen den maßgeblichen rechtlichen Rahmen vorgeben. Als wichtigste Verfahrensgrundsätze sind das Recht des Betroffenen zur Anhörung, sein Recht zur Vertretung durch einen Rechtsanwalt sowie sein Anspruch auf Akteneinsicht zu nennen; von Bedeutung ist auch die Pflicht der Behörde bei Vorliegen eines rechtlichen Interesses des Betroffenen, ihre Maßnahmen unter Angabe von Gründen schriftlich zu bestätigen (vgl. § 37 Abs. 2 VwVfG). z Verfahrensablauf. Sachlich zuständig ist regelmäßig die Ordnungsbehörde des Landkreises (beziehungsweise der kreisfreien Stadt, in den Stadtstaaten des Bezirks), in dem das Bedürfnis für die Unterbringung hervortritt oder wo der Kranke seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte (zur sachlichen Zuständigkeit im Einzelnen vgl. auch die Synopse im Anhang). Nach den weitgehend übereinstimmenden verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften der Länder ist die Gesundheitsbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte, bei Gefahr im Verzug für unaufschiebbare Maßnahmen auch die, in deren Bezirk das Bedürfnis für die Unterbringung hervortritt (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 a, Abs. 4 VwVfG). Bereits im Verwaltungsverfahren ist der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör zu beachten und muss bei der Sachverhaltsermittlung der Behörde maßgeblich berücksichtigt werden. So ist in den meisten Ländern vorgeschrieben, dass die mündliche Anhörung durch Vorladung zu versuchen ist. Folgt der Betroffene der Vorladung nicht, sehen einige Länder die Möglichkeit der Vorführung durch die Polizei oder einen Haus-
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besuch vor. Die Behörde darf sich derjenigen Beweismittel bedienen, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen benötigt (§ 26 VwVfG). Insbesondere steht es ihr frei, Auskünfte anderer Behörden einzuholen, wobei jedoch unter anderem die Vorschriften der §§ 35 SGB I, 67 bis 77 SGB X sowie § 203 StGB zu beachten sind. Die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens ist an einen teils schriftlichen (Dodegge 1987) behördlichen Antrag gebunden. Dem Antrag ist stets ein ärztliches Gutachten über den Zustand des Betroffenen beizufügen. Hinsichtlich des erforderlichen Mindestgehalts dieses Gutachtens und der erforderlichen Qualifikation des ausstellenden Arztes bestehen in einigen Landesregelungen qualitätssichernde Sondervorschriften. Vielfach werden diese Vorschriften durch Gefahr- und Nachreichungsklauseln sowie durch ausnahmsweises Genügen eines Attestes oder Zeugnisses eines (einfachen) Arztes verwässert (Marschner u. Volckart 2001). Generell sind viele der gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der erforderlichen Qualifikation des untersuchenden Sachverständigen streitbar. Regelungen etwa wie der Einsatz eines „Arztes mit Erfahrung in der Psychiatrie“ (z. B. § 14 MeVo) lassen den zuständigen Behörden großen Freiraum bei der Auswahl des Gutachters, der allzu leicht zum Nachteil des Betroffenen reichen kann. Das Gutachten muss auf einer körperlichen Untersuchung des Betroffenen beruhen und eine enge zeitliche Bindung zum Antrag aufweisen (Dodegge 1987). Die Erstellung des ärztlichen Gutachtens ist durch die Ordnungsbehörde zu veranlassen. Führt das Verwaltungsverfahren nicht zu einem Antrag an das Gericht auf Anordnung der Unterbringung, sollte eine Mitteilung an den Betroffenen erfolgen (Marschner u. Volckart 2001). Ausdrücklich geregelt ist dies jedoch nur in Bayern (vgl. Art. 7 Abs. 4 Bay). z Das gerichtliche Verfahren z Verfahrensart und Verfahrensgrundsätze. Grundsätzlich gelten für das gerichtliche Verfahren die Prozessmaximen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, also únter anderem die Offizialmaxime (§ 26 FamFG) sowie die Möglichkeit der Beweiserhebung im Freibeweisverfahren. Als systematisch-strukturelle Orientierungshilfe bei der Auslegung lässt sich das Strafprozessrecht heranziehen, vielmehr als etwa die ZPO oder die VwGO. Somit stehen der Offizialmaxime die rechtsstaatlichen Schutzregeln gegenüber, die der Betroffene im Strafprozess und im Unterbringungsverfahren gleichermaßen braucht: Verhältnismäßigkeit, Fürsorge des Gerichts, der Zweifelssatz („in dubio pro libertate“), das Recht auf Verteidigung einschließlich des Rechts, Beweisanträge zu stellen, Beweisverbote und Zeugnisverweigerungsrechte (Marschner u. Volckart 2001). All diese Prinzipien gelten unabhängig davon, ob sie in den §§ 312 ff. FamFG ausdrücklich geregelt sind.
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z Zuständigkeit. Sachlich zuständiges Unterbringungsgericht ist bei Erwachsenen gemäß § 23 c Abs. 1 GVG die Abteilung für Unterbringungssachen am Amtsgericht. Bei Minderjährigen ist bei Unterbringung durch die sorgeberechtigten Eltern gemäß § 1631 b S. 1 BGB das Familiengericht sachlich zuständig. Es bleibt aber bei der Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts, wenn statt der Eltern oder des sorgeberechtigten Elternteils ein Vormund oder Ergänzungspfleger tätig wird. Alle Unterbringungsentscheidungen sind funktionell Aufgaben des Richters. Örtlich zuständig ist nach § 313 Abs. 3 FamFG regelmäßig dasjenige Vormundschaftsgericht, in dessen Bezirk das Bedürfnis für die Unterbringung hervortritt. Ist der Betroffene bereits untergebracht, ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt. z Verfahrensbeteiligte. Der Betroffene ist für das Unterbringungsverfahren verfahrensfähig, auch wenn er geschäftsunfähig ist, § 316 FamFG. Zur Verfahrensfähigkeit gehört auch die Kompetenz, einen Verfahrensbevollmächtigten zu bestellen. Ist aufgrund vorliegender Gutachten von der Geschäftsunfähigkeit auszugehen, erlangt der dem Betroffenen beigeordnete Anwalt automatisch die Stellung eines Verfahrenspflegers. Diese erlischt gegebenenfalls automatisch mit dem Wiedereintritt der Geschäftsfähigkeit. Nach Eingang des Antrags der Gesundheitsbehörde ist dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger beizuordnen, wenn er nicht bereits selbst einen Anwalt beauftragt hat, § 317 Abs. 1 u. 4 FamFG. Da die Beiordnung eine zwingende Verfahrensvoraussetzung darstellt, ist ohne sie eine Unterbringungsanordnung nicht zulässig (Dodegge 1987). In seiner Rechtsstellung ist der beigeordnete Anwalt selbstständig, mithin an Weisungen nicht gebunden. Er hat ausschließlich die Interessen des Unterzubringenden wahrzunehmen (OLG Frankfurt FamRZ 2000, 1446). Die Beiordnung endet mit dem Eintritt der formellen Rechtskraft, wenn der Betroffene einen anderen Anwalt beauftragt oder durch Aufhebung aus wichtigen Gründen, § 317 Abs. 5 FamFG. z Anhörung § 319 FamFG. Die Anhörung ist für das Verfahren von herausragender Bedeutung und dient gleichermaßen der Gewährung rechtlichen Gehörs wie der Sachverhaltsaufklärung. Der Betroffene ist zwingend mündlich anzuhören – grundsätzlich in Form eines wechselseitigen Gesprächs mit dem Richter. Dadurch soll sichergestellt sein, dass sich der Richter einen persönlichen Eindruck vom Unterzubringenden verschaffen kann. Regelmäßig muss die Anhörung unverzüglich und vor der Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung erfolgen. Eine Nachholung der Anhörung kann geboten sein, wenn der Betroffene unter Einwirkung starker Medikamente steht und aufgrund dessen zu einer Stellungnahme vor Reduktion der Medikation beziehungsweise Verabreichung von Gegenmitteln vorübergehend nicht in der Lage ist (Dodegge 1987). Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen kann die Anhörung unterbleiben: einerseits, wenn diese nach ärztlicher Begutachtung nicht ohne erhebliche Nachteile für den Gesundheitszustand des Betroffenen möglich ist, andererseits,
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wenn die Verständigung mit dem Betroffenen nicht möglich ist, § 319 Abs. 3 iVm § 34 Abs. 2 FamFG. z Die gerichtliche Entscheidung und ihr Inhalt. Die Entscheidung des Gerichts erfolgt durch Beschluss. Über den Typ der Einrichtung, in der der Betreffende unterzubringen ist beziehungsweise eine konkrete Anstalt darf in dem Beschluss keine Anordnung getroffen werden, zumal die Regelung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Unterbringungseinrichtungen einschließlich der Vollstreckung der Anordnung des Gerichts nach einem Vollstreckungsplan Sache des Landesrechts ist (Marschner u. Volckart 2001). Die Unterbringung ist zu befristen. Grundsätzlich unterliegt die Fristbestimmung dem richterlichen Ermessen im Rahmen festgelegter Höchstfristen. Des Weiteren ist der Beschluss zu begründen, wobei die zu Grunde liegenden Tatsachen und die rechtlichen Erwägungen des Gerichts unter Rücksichtnahme auf den Krankheitszustand des Betroffenen durch Wortlaut und Formulierung transparent werden sollen (Dodegge 1987). Dem Beschluss ist eine Rechtsmittelbelehrung beizufügen (§ 39 FamFG) und es muss regelmäßig (§§ 41, 325 FamFG) eine Bekanntmachung an die Beteiligten erfolgen. Grundsätzlich wird die Entscheidung mit Rechtskraft wirksam, es sei denn, deren sofortige Wirksamkeit wurde durch das Gericht angeordnet (§ 324 FamFG). z Das Vollstreckungsverfahren Unter dem Vollstreckungsverfahren ist das Verwaltungshandeln außerhalb des Unterbringungskrankenhauses aufgrund der gerichtlichen Anordnung zu verstehen. Das Unterbringungsgericht vollstreckt seine Entscheidung nicht selbst, sondern die Verwaltung. Eine Ausnahme hiervon besteht nur im Falle der vorläufigen Unterbringung (§ 331 FamFG). Die Gesundheitsbehörde ist dabei nicht verpflichtet, die Anordnung des Gerichts zu vollziehen, wenn die Gefahr, zu deren Abwehr die Anordnung erfolgt ist, nicht mehr besteht; insoweit ist die Anordnung der Unterbringung nicht der materiellen Rechtskraft nach zivilprozessrechtlicher Dogmatik fähig (Marschner u. Volckart 2001). Länder, die mehrere psychiatrische Krankenhäuser für den Vollzug der Unterbringung unterhalten, müssen zur Gewährleistung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung deren Zuständigkeit durch einen Vollstreckungsplan nach objektiven Kriterien festlegen und dürfen dies nicht dem Ermessen der Gesundheitsbehörde überlassen (Berl § 10 Abs. 2, Bran § 10 Abs. 2, MeVo § 13 Abs. 2, NW § 10 Abs. 3, RhPf § 12 Abs. 1 S. 2, Sachs § 2 Abs. 3, SaAn § 12 Abs. 2, SH § 13 Abs. 2). Die Heranziehung eines privaten Krankenhauses bedarf in diesem Zusammenhang zwingend einer Beleihung durch die öffentliche Hand (vgl. etwa die Regelungen in BW § 2 Abs. 1 Nr. 3, Bay Art. 11, Berl § 10 Abs. 2, Bran § 10 Abs. 2, Nds § 15 Abs. 1 S. 2, RhPf § 12 Abs. 1, Sachs § 2 Abs. 2, SaAn § 12 Abs. 1, SH § 13 Abs. 3).
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z Das Vollzugsverfahren Zum Unterbringungsvollzug gehören alle Maßnahmen des Krankenhauses, in dem die Unterbringung erfolgt. Lockerungen der Unterbringung und Urlaub zählen ebenfalls dazu. Insbesondere sind zu nennen: z Eingangsuntersuchung. Wesentlicher Bestandteil des Aufnahmevollzugs ist die Untersuchung des psychischen und seelischen Zustands des unterzubringenden Patienten (vgl. BW § 4 Abs. 3, Bay Art. 10 Abs. 5, Berl § 26 Abs. 3, Bran § 14 Abs. 1, Bre § 21, Hmb § 15, MeVo § 18, Nds § 20, NW § 17, RhPf § 20 Abs. 1 S. 1, Sachs § 20, SaAn § 16, SH § 14 Abs. 5, Thü § 10). Die dabei gewonnenen Untersuchungsergebnisse bilden die Grundlage für den Behandlungsplan, der unabdingbare Orientierungshilfe für das Krankenhauspersonal bei der Vorbereitung sämtlicher Vollzugsmaßnahmen ist sowie Stellungnahmen gegenüber dem Gericht zu Grunde liegt, wenn eine Verlängerung der Unterbringung nach § 329 Abs. 2 FamFG in Betracht kommt. z Urlaub. Der Leiter des Krankenhauses beziehungsweise der Anstalt kann den Betroffenen auf ärztliche Entscheidung hin kurzzeitig freilassen (Marschner u. Volckart 2001), wobei in manchen Ländern Obergrenzen für die Beurlaubung bestehen. z Freier Schriftverkehr. Schriftstücke, die aus dem Verkehr des Betroffenen mit seinen gesetzlichen Vertretern, seinem beigeordneten oder beauftragten Rechtsanwalt, den Behörden sowie mit den Volksvertretungen hervorgehen, dürfen weder geöffnet noch zurückgehalten werden. Dies ist Folge des grundrechtlichen Schutzes der Patienten auf freie Meinungsäußerung, freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Wahrung des Briefgeheimnisses. z Die vorläufige Unterbringung Bei gesteigerter Dringlichkeit ermöglicht § 332 S. 1 FamFG den Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits vor Anhörung des Betroffenen sowie vor Anhörung und Bestellung des Verfahrenspflegers. Diese Verfahrenshandlungen sind jedoch unverzüglich nachzuholen, § 332 S. 2 FamFG. Die Höchstdauer vorläufiger Unterbringungsmaßnahmen erstreckt sich nach § 333 FamFG auf sechs Wochen mit Verlängerungsmöglichkeit auf insgesamt drei Monate. Diese Frist steht in derselben Angelegenheit nur einmal zur Verfügung. Mit Ablauf der Frist ergibt sich die Notwendigkeit einer Folgeentscheidung.
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z Das weitere Unterbringungsverfahren Im gerichtlichen Unterbringungsbeschluss ist gemäß § 323 Nr. 2 FamFG der Zeitpunkt zu nennen, zu dem die Unterbringungsmaßnahme endet. Die Unterbringung endet spätestens mit dem Ablauf eines Jahres, bei offensichtlich langer Unterbringungsbedürftigkeit spätestens mit Ablauf von zwei Jahren, wenn sie nicht vorher verlängert wird, § 329 Abs. 1 FamFG. Fallen bereits vor Ablauf der genannten Zeiträume die Voraussetzungen für die Unterbringungsmaßnahme weg, so ist ihre Anordnung aufzuheben, § 330 FamFG. z Sonstige Entscheidungen des Gerichts z Vorläufige Entlassung. Das Unterbringungsgericht kann den Untergebrachten zur „Erprobung“ auf Bewährung vorübergehend, längstens auf sechs Monate, entlassen. Regelmäßig ist eine derartige Entlassung mit Weisungen versehen („Auflagen“). Die Aussetzung kann durch das Gericht nach vorheriger Anhörung des Betroffenen widerrufen werden, wenn nachträglich eingetretene Tatsachen ergeben, dass die der Aussetzung zu Grunde liegende Prognose nicht aufrechterhalten werden kann, und eine weitere Vollstreckung der Unterbringung erforderlich ist, vgl. § 328 Abs. 2 FamFG. z Nachträgliche Änderungen. Der Unterbringungsbeschluss kann durch das Gericht nachträglich geändert werden.
5.1.2.2 Die Verwaltungsunterbringung Alle Bundesländer ermöglichen bei Bestehen einer akuten Gefahr die kurzzeitige Unterbringung durch die Verwaltungsbehörde selbst bereits vor Entscheidung des Unterbringungsgerichts. Dabei kann es sich um eine Anordnung der Gesundheitsbehörde oder auch der Polizei handeln, in Bayern, Baden-Württemberg oder Bremen auch um eine Entscheidung des Unterbringungskrankenhauses, wenn sich der Betroffene bereits in dessen Obhut befindet. Während in einigen Landesregelungen die Verwaltungsunterbringung als polizeiliche Maßnahme im weitesten Sinne verstanden wird und deshalb in Einklang mit Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG nur längstens bis zum Ablauf des auf die Einlieferung folgenden Tages zugelassen wird, sind andere Regelungen in zeitlicher Hinsicht großzügiger. Letztere verlangen nach Unterbringung des Betroffenen im Verwaltungswege lediglich die unverzügliche Beantragung der gerichtlichen Unterbringung, wobei verhältnismäßige Höchstfristen zu beachten sind. Auch hinsichtlich des Ablaufs der Verwaltungsunterbringung sowie ihrer Voraussetzungen bestehen in den Regelungen der Länder zum Teil erhebliche Unterschiede.
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5.1.2.3 Die Kosten des Verfahrens Nach § 128 b KostO sowie § 337 FamFG fallen grundsätzlich keine Gerichtskosten an. Für das vorbereitende Verwaltungsverfahren und das Vollstreckungsverfahren erheben die meisten Länder keine Gebühren, während die Kosten des Vollzugs überwiegend dem Betroffenen auferlegt werden. Lediglich dann, wenn die Unterbringungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Anordnung nicht vorlagen, bestehen hiervon Ausnahmen.
5.1.2.4 Freiwillige Unterbringung Bei einer ernsthaften, rechtswirksamen Einwilligung des Betroffenen ist ein weiterer Aufenthalt nach Ablauf der Unterbringung in der betreffenden Anstalt möglich. Gibt der Betroffene während der Unterbringung eine solche Erklärung ab, ist der Unterbringungsbeschluss aufzuheben, da die bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit nunmehr anders als durch die (zwangsweise) gerichtliche Unterbringung abwendbar ist.
5.1.3 Rechtsschutz im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung z Grundlagen. Im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Unterbringung ist die ärztliche Behandlung öffentlich-rechtlicher Natur: Der Staat tritt dem Patienten gleichsam mit hoheitlichen Machtmitteln entgegen. Wie jede staatliche Maßnahme bedürfen Eingriffe in die Rechtsposition des Patienten einer Rechtfertigung und unterliegen insoweit der gerichtlichen Kontrolle. Aufgrund des besonderen Schutzbedürfnisses der Betroffenen kommt dieser gewichtige Bedeutung zu. Entsprechend der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG steht jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Die gerichtliche Kontrolle belastender Maßnahmen im Unterbringungsverfahren ist vom Verfahrensstadium der Unterbringung abhängig. Unterschiede bestehen insoweit hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens, der Verwaltungsunterbringung und deren Vollzug.
5.1.3.1 Gerichtliche Kontrolle im Verwaltungsverfahren Bereits vor dem gerichtlichen Unterbringungsverfahren kann die zuständige Verwaltungsbehörde Maßnahmen, wie die Aufforderung zur Untersuchung oder die Anordnung der Unterbringung, ergreifen. Für die gerichtliche Kontrolle von Handlungen der Verwaltungsbehörde ist grundsätzlich der Verwaltungsrechtsweg gegeben, wenn nicht durch Landesgesetz ein anderer Rechtsweg zugewiesen ist, § 40 VwGO. In den Unterbringungsgesetzen mehrerer Länder sind solche abdrängenden Sonderzuweisungen aufgenommen worden, die entsprechend § 327 FamFG den Rechtsweg zum Unterbringungsgericht bestimmen (vgl. BW §§ 5 S. 2, 6 Abs. 3; Bay Art. 7
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Abs. 5, 10 Abs. 7; RhPf §§ 10, 14 Abs. 9, § 15 Abs. 7; Saar § 6 Abs. 3; Sachs § 18 Abs. 8; Thü § 5 Abs. 5 PsychKG). Aufgrund dieser Situation kann beispielsweise die Vorführungsanordnung beim Gesundheitsamt zwecks Untersuchung in Bayern nur beim Amtsgericht angefochten werden, während sich der Betroffene in einem Bundesland ohne entsprechende Regelung an das Verwaltungsgericht wenden muss. In allen anderen Fällen steht nach der Generalklausel des § 40 VwGO der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten offen.
5.1.3.2 Gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsunterbringung Die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsunterbringung wird in dem anschließenden gerichtlichen Unterbringungsverfahren mit entschieden. Sachlich sind für Unterbringungsmaßnahmen die Abteilungen für Unterbringungssachen an den Amtsgerichten zuständig, § 23 c GVG. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach dem Bezirk, in dem das Bedürfnis für die Unterbringung hervortritt oder aber nach dem Bezirk der Einrichtung, in dem der Betroffene untergebracht ist, § 313 Abs. 3 FamFG. z Rechtsmittel Welche Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Gerichts in Unterbringungssachen statthaft sind, ergibt sich aus §§ 58 ff., 335 f. FamFG. Zu differenzieren ist insoweit zwischen Entscheidungen, die unanfechtbar sind, und solchen, die entweder nur mit der sofortigen Beschwerde oder aber mit der einfachen Beschwerde anfechtbar sind. z Unanfechtbare Entscheidungen. Gemäß § 327 Abs. 1 FamFG kann der Betroffene gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Vollzug der Unterbringung nach § 312 Nr. 3 FamFG eine Entscheidung des Gerichts beantragen. Diese ist nach § 327 Abs. 4 FamFG nicht anfechtbar. Dazu gehören etwa vorbereitende Verfügungen, die der Entscheidung vorausgehen und keine Entscheidung über den Verfahrensgegenstand enthalten, oder auch Ordnungs- und Zwangsmittelbeschlüsse. z Sofortige Beschwerde. Die sofortige Beschwerde nach den §§ 567 bis 572 ZPO ist gem. §§ 322 i.V.m. 284 III FamFG bei der Vorführung zur Untersuchung und der Unterbringung zur Begutachtung statthaft. z Einfache befristete Beschwerde. Die einfache, binnen eines Monats einzulegende (§ 63 Abs. 1 FamFG) und damit befristete Beschwerde findet gemäß § 58 Abs. 1 FamFG gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Endentscheidungen statt. Die Definition des Begriffs „Endentscheidung“ erfolgt in § 38 Abs. 1 FamFG. Es handelt sich um Entscheidungen, durch die der Verfahrensgegenstand ganz oder teilweise erledigt wird. Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, so spricht das Beschwerde-
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gericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat, § 62 Abs. 1 FamFG. z Beschwerdeberechtigung Beschwerdeberechtigt ist grundsätzlich nur, wer durch eine Verfügung in einem eigenen Recht beeinträchtigt ist, § 59 Abs. 1 FamFG. Die Beschwerde durch den Betroffenen ist daher stets bei Entscheidungen des Gerichts zu seinen Lasten zulässig. Ohne eigene Rechtsbeeinträchtigung sind ausdrücklich auch die in § 335 FamFG bezeichneten Personen und Stellen beschwerdeberechtigt, namentlich der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte oder Lebenspartner sowie die mit dem Betroffenen in häuslicher Lebensgemeinschaft lebenden Eltern und Kinder (§ 335 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), eine von ihm benannte Person seines Vertrauens (§ 335 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) sowie der Anstaltsleiter (§ 335 Abs. 1 Nr. 3 FamFG), sofern die Genannten im ersten Rechtszug beteiligt worden sind, ferner der Verfahrenspfleger (§ 335 Abs. 2 FamFG), der Betreuer oder der Vorsorgebevollmächtigte (§ 335 Abs. 3 FamFG) bei Entscheidungen, die ihren Aufgabenkreis betreffen, und die zuständige Behörde (§ 335 Abs. 4 FamFG). Die Befugnis, zu Lasten des Betroffenen ein Rechtsmittel einzulegen, steht nur demjenigen zu, dessen Recht durch eine Entscheidung beeinträchtigt ist, § 59 FamFG. Die Antragsberechtigung korrespondiert hier mit der Beschwerdeberechtigung: Zur Beschwerde kann nur derjenige berechtigt sein, der im Rahmen der Ausübung seiner gesetzlichen Befugnisse als Antragsteller durch die Entscheidung beschwert ist. z Entscheidung des Beschwerdegerichts Für die Entscheidung über die Beschwerde sind gem. § 72 Abs. 1 S. 2 GVG die Landgerichte zuständig. Einzulegen ist das Rechtsmittel durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle beim iudex a quo, § 64 Abs. 1 und 2 FamFG. Daneben ist eine Einlegung bei dem Amtsgericht möglich, in dessen Bezirk der Betroffene untergebracht ist, § 336 FamFG. Hält das Gericht, dessen Beschluss angefochten wird, die Beschwerde für begründet, so hat es ihr abzuhelfen, andernfalls ist sie unverzüglich dem Beschwerdegericht vorzulegen, § 68 Abs. 1 S. 1 FamFG. z Bestätigt das Beschwerdegericht die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsunterbringung, so wird die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts zurückgewiesen. z Will das Beschwerdegericht die Unterbringungsmaßnahme entgegen der Auffassung des Amtsgerichts treffen, hebt es dessen Beschluss auf und ordnet die entsprechende Maßnahme nach § 323 FamFG an. Das Gericht
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kann darüber hinaus die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung anordnen, § 324 Abs. 2 S. 1 FamFG. z Erachtet das Beschwerdegericht die Verwaltungsunterbringung als rechtswidrig, hebt es den der Unterbringungsmaßname zugrunde liegenden Beschluss des Amtsgerichts auf und weist gegebenenfalls den dahingehenden Antrag zurück. Die Auslagen des Betroffenen können der Körperschaft, der die antragstellende Verwaltungsstelle angehört, auferlegt werden, § 337 Abs. 2 FamFG. z Wird der Betroffene vor Erlass der Entscheidung des Beschwerdegerichts aus der Unterbringung entlassen, so führt dieser nach Beginn des Verfahrens eintretende Umstand grundsätzlich zum Wegfall des Verfahrensgegenstandes. Prozessual liegt in diesen Fällen eine Erledigung der Hauptsache vor. Der Betroffene kann darauf in zweierlei Hinsicht reagieren: Zum einen hat er die Möglichkeit, sein Rechtsmittel auf die Kosten zu beschränken, mit der Folge, das vom Beschwerdegericht nur noch die Erledigung festgestellt und über die außergerichtlichen Kosten entschieden wird (vgl. §§ 83 Abs. 2 i.V. m. 81 FamFG). Zum anderen kann er das Verfahren aber auch fortsetzen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs hat, § 62 FamFG. z Rechtsbeschwerde Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts ist die Rechtsbeschwerde statthaft, sofern dessen Beschluss nicht im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests ergangen ist, § 70 Abs. 4 FamFG. Grundsätzlich muss die Rechtsbeschwerde vom Beschwerdegericht ausdrücklich zugelassen werden (§ 70 Abs. 1 FamFG). In Unterbringungssachen ist dagegen die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde vorgesehen, § 70 Abs. 3 FamFG.
5.1.3.3 Gerichtliche Kontrolle des Vollzugs der Verwaltungsunterbringung Der Rechtsweg gegen Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Vollzug der Unterbringung ist ausdrücklich zum Amtsgericht gegeben, § 327 FamFG. Eine Klage beim Verwaltungsgericht ist nach dieser bundeseinheitlichen Regelung daher ausgeschlossen. Als Parteien stehen sich in diesem gerichtlichen Verfahren Bürger und Staat gegenüber, das Unterbringungsgericht wird gleichsam im Rahmen eines Verwaltungsprozesses tätig, für den mithin das Antragsprinzip gilt. z Antragsarten Die jeweilige Antragsart ist anhand der konkreten Maßnahme zu bestimmen, gegen die oder um die der Betroffene gerichtliche Entscheidung begehrt.
5.1 Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung
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z Wendet sich der Betroffene gegen eine ihn belastende Vollzugsmaßnahme mit Regelungswirkung, ist der auf die Aufhebung des Verwaltungsaktes gerichtete Anfechtungsantrag statthaft, § 327 Abs. 1 S. 1 FamFG. z Soweit eine Maßnahme bereits vollzogen und sich infolge dessen erledigt hat oder als schlichter Realakt schon nicht anfechtbar ist, besteht die Möglichkeit eines Feststellungsantrags. Dieser zielt auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme ab. Die Zulässigkeit des Antrags ist vom Bestehen eines besonderen Feststellungsinteresses abhängig. Ein solches ist insbesondere beim Vorliegen einer Wiederholungsgefahr oder bei einem bestehenden Rehabilitationsinteresse des Betroffenen anzuerkennen. z Besteht für den Betroffenen die Gefahr, dass gegen ihn eine bestimmte Maßnahme ergriffen werden soll, kann er diese bereits vor ihrer Vornahme mit einem vorbeugenden Unterlassungsantrag gerichtlich kontrollieren lassen, wenn er sie für rechtswidrig hält. z Begehrt der Betroffene den Erlass einer ihn begünstigenden Vollzugsmaßnahme, besteht für ihn die Möglichkeit eines Verpflichtungsantrags, § 327 Abs. 1 S. 2 FamFG. Dieser kann zugleich mit der Anfechtung einer ablehnenden Entscheidung verbunden werden, um den Erlass der begehrten Maßnahme zu erreichen. Ebenso wie im Bereich der belastenden Maßnahmen kann auch hier nach Antragstellung eine Erledigung eintreten. Mit dem Feststellungsantrag kann der Betroffene wiederum die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung verfolgen. z Einen so genannten Vornahmeantrag kann der Betroffene stellen, wenn die Einrichtung einen von ihm gestellten Antrag nicht bescheidet, § 327 Abs. 1 S. 2 FamFG. Dieser ist auf Verpflichtung zum Erlass der begehrten Maßnahme gerichtet. Da die näheren Umstände der Zulässigkeit eines solchen Antrags, insbesondere die für die Einrichtung zumutbare Bearbeitungsfrist, gesetzlich nicht geregelt sind, ist insoweit ein Rückgriff auf andere verwaltungsprozessrechtliche Verfahrensordnungen geboten (vgl. §§ 75 VwGO, 27 EGGVG, 113 StVollzG). Unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit der Betroffenen erscheint die entsprechende Annahme einer dreimonatigen Bearbeitungsfrist angebracht, soweit nicht zureichende Gründe für die Nichtvornahme bestehen. z Antragsbefugnis Der Antrag gegen eine Vollzugsmaßnahme ist nur zulässig, wenn der Betroffene geltend macht, durch die Maßnahme, ihre Ablehnung oder ihre Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein, §§ 327 Abs. 2 FamFG. Inwieweit neben dem Untergebrachten auch sonstige Personen durch eine Vollzugsmaßnahme betroffen sein können, bedarf einer eingehenden Überprüfung im Einzelfall. Erforderlich ist jeweils, dass die Maßnahme auf die Regelung einer einzelnen Angelegenheit gerichtet ist (Zimmermann 2005).
159
160
z
5 Unterbringungsrecht
Ein Antrag, der die Klärung lediglich abstrakter Rechtsfragen zum Gegenstand hat, ist daher unzulässig. z Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 327 FamFG kann grundsätzlich formlos und ohne Einhaltung einer bestimmten Frist gestellt werden. z Entscheidung des Gerichts Für Entscheidungen über Maßnahmen zur Regelung einzelner Angelegenheiten im Vollzug der Unterbringung ist das Vormundschaftsgericht örtlich zuständig, in dem der Betroffene untergebracht ist (entsprechend § 313 Abs. 3 FamFG). Das Gericht entscheidet durch Beschluss, in dem es die Maßnahme aufhebt, eine Maßnahme anordnet, den Antrag ablehnt oder gegebenenfalls die begehrte Feststellung trifft. Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar, § 327 Abs. 4 FamFG. Der Rechtsweg in Unterbringungsvollzugssachen ist dadurch auf eine gerichtliche Instanz beschränkt. Soweit der Betroffene in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist, kommt infolge der Rechtswegerschöpfung die Verfassungsbeschwerde in Betracht.
gegen oder ohne den Willen (§ 8 Abs. 1 S. 1 BerlPsychKG)
Bezirksamt – (§ 14 Abs. 1 S. 1 Berl PsychKG)
erhebliche Gefährdung ihres Lebens, ihrer Gesundheit oder besonders bedeutender Rechtsgüter anderer, sofern Gefahr nicht anders abwendbar (§ 8 Abs. 1 S. 1 BerlPsychKG)
Geisteskranke, Suchtkrankheit (§ 1 Abs. 2 BerlPsychKG), geistig behinderte Personen (§ 1 Abs. 3 BerlPsychKG)
Berlin
Bezirksamt (§ 14 Abs. 1 S. 1 Berl PsychKG)
Kreisverwal- z örtliche: – tungsbeArt. 6 hörde Abs. 1 S. 1; (Art. 5, 7 Art. 6 Abs. 3 UbG) Abs. 2 UbG z sachliche: Kreisverwaltungsbehörde
gegen oder ohne den Willen (Art. 1 Abs. 1 UbG)
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße bzw. Gefährdung des eigenen Lebens oder der Gesundheit (Art. 1 Abs. 1 UbG)
Geisteskranke, Geistesschwäche, Rauschgiftsucht, Alkoholsucht (Art. 1 Abs. 1 UbG)
§ 3 Abs. 1 – UBG Nr. 2 a; § 3 Abs. 1 Nr. 3 LVwVfG
Zuständig- Sonstiges keit
Bayern
Antragsberechtigung untere Verwaltungsbehörde (§ 3 Abs. 1 UBG)
Willenshaltung zur Unterbringung
Badenpsychisch Kranke, z für sich gefähr- gegen oder Württem- Abhängigkeit von lich; ohne den berg Rauschmitteln oder z gegenwärtige Willen Medikamenten Gefahr für (§ 1 Abs. 1 Rechtsgüter UBG) anderer z Gefahr nicht anders abwendbar (§ 1 Abs. 4 UBG)
Diagnostische GefährdungsVoraussetzungen voraussetzungen
Anhang: Synopse zu den einzelnen Landesregelungen
polizeiliche Anordnung: Erfordernis eines ärztlichen Zeugnisses
z Begründung des Antrags z Erfordernis eines medizinischen Gutachtens (Art. 7 Abs. 1 UbG)
–
Anhörung des Gesundheitsamtes (Art. 7 UbG)
z schriftlicher – Antrag z Beifügen eines ärztlichen Zeugnisses, Sachverhaltsdarstellung (§ 3 Abs. 2, 3 UBG)
gerichtliche Anordnung Eilfall: behördliche oder polizeiliche Anordnung (§ 26 BerlPsychKG)
gerichtliche Anordnung Eilfall: behördliche Anordnung (Art. 10 Abs. 1 UbG)
–
Formerfordernisse/ Behörden- AnordnungsGutachten beteiligung/ befugnis Beteiligung Dritter
5.1 Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung z
161
Willenshaltung zur Unterbringung
Suchtkranke, geistige Behinderungen (§ 1 Abs. 2 HmbPsychKG)
Antrag der zuständigen Behörde § 10 Abs. 1 S. 1 HmbPsychKG
–
örtliche – Zuständigkeit: (§§ 1, 3 Abs. 2 Nr. 3 a Hmb VwVfG)
gegen oder § 15 Abs. 1, – ohne den § 17 Willen des BremPsychKG Betroffenen
gegenwärtige, gegen den erhebliche Gefahr Willen des der SelbstschädiBetroffenen gung, Fremdschädigung (§§ 1 Abs. 1 Nr. 3, 9 HmbPsychKG)
gegenwärtige Selbstgefährdung, Gefahr für Leben, Gesundheit oder andere bedeutende Rechtsgüter Dritter, Gefahr nicht anders abwendbar
Geisteskranke, seelisch Behinderte, Alkoholsucht, Rauschgiftsucht (§ 1 Abs. 2 BremPsychKG)
Hamburg Geisteskranke,
Bremen
telbare Gefahr für Leib oder Leben anderer beziehungsweise öffentliche Sicherheit und Ordnung (§ 8 Abs. 2 BbgPsychKG)
(§ 1 Abs. 2 BbgPsychKG)
Beifügen eines – ärztlichen Zeugnisses § 10 Abs. 2 HmbPsychKG
Beifügen eines – ärztlichen Zeugnisses
gerichtliche Anordnung Eilfall: behördliche Anordnung (§ 12 Abs. 1 HmbPsychKG)
–
Anhörung – von Personen und Stellen gemäß § 11 Abs. 2, § 19 Abs. 5 S. 3 BbgPsychKG
Formerfordernisse/ Behörden- AnordnungsGutachten beteiligung/ befugnis Beteiligung Dritter
dringende – Gefahr: Ingewahrsamnahme durch Ordnungsbehörde (§ 12 Abs. 1 BbgPsychKG)
Zuständig- Sonstiges keit
Sorgeberech- – tigte/Betreuer des Betroffenen/Träger der ambulanten Hilfsangebote (§ 11 Abs. 1 BbgPsychKG)
Antragsberechtigung
z
Branden- psychisch Kranke, ernsthafte Selbst- – seelisch Behinderte gefährdung, unmitburg
Diagnostische GefährdungsVoraussetzungen voraussetzungen
162 5 Unterbringungsrecht
Geisteskranke, seelisch Behinderte, Rauschgiftsucht, Alkoholsucht (§ 1 Abs. 1 HessFrhEntzG)
geistig Kranke, geistig Behinderte (§ 1 NPsychKG)
NRWPsychKG)
Geisteskranke, NordSuchtkranke rheinWestfalen (§ 1 Abs. 2
Niedersachsen
(§ 1 Abs. 2, 3 MVPsychKG)
Mecklen- Geisteskranke, burg-Vor- Suchtkranke, pommern geistig Behinderte
Hessen
Landrat beziehungsweise Gemeinderat örtlich – zuständig: Verwaltungsbehörde (§ 3 HessFrhEntzG)
gegen seinen Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit
gegenwärtige er- – hebliche Selbstgefährdung oder erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer, nicht anders abwendbar (§ 11 NRWPsychKG)
gegenwärtige erhebliche Gefahr für sich oder andere und Gefahr nicht anders abwendbar (§ 16 NPsychKG) örtliche: § 100 Abs. 1 S. 2 Nds SOG –
Ordnungs- örtliche: – behörde (§ 3 Abs. 1 (§ 12 Nr. 3 a NRWPsychKG) VwVfG NRW)
Antrag der zuständigen Behörde (§ 17 Abs. 1 NPsychKG)
gegenwärtige er- gegen oder Landrat örtliche: – hebliche Gefahr der ohne den oder Ober- (§§ 3 Abs. 1, 5 Selbstschädigung Willen des bürgerSOG MV) oder für die öffentli- Betroffenen meister che Sicherheit, die oder gegen (§ 14 nicht anders abden Willen MVPsychKG) wendbar ist seines gesetz(§ 11 Abs. 1 lichen VertreS. 1 MVPsychKG) ters (§ 10)
erhebliche Gefahr gegen für Mitmenschen, ihren Willen bei Selbstgefährdung: Gefahr nicht anders abwendbar (§ 1 Abs. 2 HessFrhEntzG) –
Beifügen eines – Sachverständigengutachtens, ärztlichen Zeugnisses (§ 12 S. 2 NRWPsychKG)
Beifügen eines – ärztlichen Zeugnisses (§ 17 Abs. 1 S. 3 (§ 1 NPsychKG)
Beifügen eines – ärztlichen Zeugnisses (§ 14 S. 2 MVPsychKG)
z schriftlicher Antrag z Beifügen eines ärztlichen Zeugnisses
Eilfall: behördliche Anordnung (§ 14 NRWPsychKG)
Eilfall: behördliche Anordnung (§ 18 Abs. 1 (§ 1 NPsychKG)
Eilfall: Ordnungsbehörde (§ 15 Abs. 1 MVPsychKG)
–
5.1 Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung z
163
Sachsen
Geisteskranke, Suchtkranke
Suchtkranke
Saarland Geisteskranke,
gegen seinen Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit
die zuständige Verwaltungsbehörde (§ 5 Abs. 1 SaarUBG) –
örtliche – und sachliche: § 12 SächsPsychKG
örtliche: § 8 Abs 2 sachliche: § 8 Abs. 1
–
Zuständig- Sonstiges keit
Landkreis örtliche: und kreis- § 13 Abs. 2 freie Städte RPPsychKG (§ 13 RPPsychKG)
erhebliche u. ge- gegen oder § 12 Sächs genwärtige Selbst- ohne Willen PsychKG gefährdung oder erhebliche u. gegenwärtige Gefahr für bedeutende Rechtsgüter anderer (§ 10 Abs. 2 SächsPsychKG)
Gefährdung bedeu- gegen oder tender eigener oder ohne Willen fremder Rechtsgüter, Gefahr nicht anders abwendbar (§ 4 SaarUBG)
gegenwärtige erhebliche Selbstgefährdung oder erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer, nicht anders abwendbar
Geisteskranke, Suchtkranke (§ 1 RPPsychKG)
Antragsberechtigung
eventuell: Im Eilfall: z Gehör des behördliche Gesund- Anordnung heitsamtes (§ 18 Abs. 1 nach § 17 SächsPsychKG) Sächs PsychKG z Anhörung von Angehörigen auf Wunsch
Eilfall: behördliche Anordnung (§ 6 Abs. 1 SaarUBG) unaufschiebbare Fälle: Polizeibehörde (§ 6 Abs. 2 SaarUBG)
z schriftlicher – Antrag (§ 5 Abs. 1 SaarUBG) z Sachverständigengutachten
z begründeter Antrag z Beifügen eines amtsärztlichen Gutachtens
dringende Gründe: behördliche Anordnung (§ 15 RPPsychKG)
z schriftlicher – Antrag z Sachverständigengutachten z ärztliches Zeugnis (§ 14 RPPsychKG)
Formerfordernisse/ Behörden- AnordnungsGutachten beteiligung/ befugnis Beteiligung Dritter
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RheinlandPfalz
Willenshaltung zur Unterbringung
Diagnostische GefährdungsVoraussetzungen voraussetzungen
164 5 Unterbringungsrecht
gefährdung oder gegenwärtige erhebliche Gefahr für Öffentliche Sicherheit und Ordnung (§13 PsychKGLSA)
gegen oder ohne Willen (§ 11 PsychKGLSA) Verwaltungsbehörde (§ 14 Abs. 1 PsychKGLSA)
dung von Rechtsgütern anderer (§ 7 Abs. 1 SHPsychKG)
Behinderung oder Störung von erheblichem Ausmaß, Suchtkranke (§ 1 Abs. 2 ThürPsychKG)
gefährdung oder erhebliche Gefährdung von Rechtsgütern anderer (§ 6 Abs. 1 ThürPsychKG)
Thüringen seelische Krankheit, erhebliche Selbst-
Störung von erheblichem Ausmaß, Suchtkranke (§ 1 Abs. 2 SHPsychKG) gegen seinen Willen oder ohne seine Zustimmung
sachlich: – Landkreise und kreisfreien Städte (§ 4 PsychKGLSA) örtliche: § 3 Abs. 1 Nr. 3 a SA VwVfG
Sozial– psychiatrischer Dienst (§ 7 Abs. 1 ThürPsychKG) –
sachliche: § 2 S. 1 SH Stadt PsychKG (§ 8 örtliche: § 31 SHPsychKG) Abs. 1 Nr. 3 a) LVwG
Schleswig- seelische Krankheit, Selbstgefährdung, gegen oder Kreis- oder Holstein Behinderung oder erhebliche Gefähr- ohne Willen kreisfreie
Suchtkranke (§ 1 PsychKGLSA)
gegenwärtige erSachsen- Geisteskranke, geistig Behinderte, hebliche SelbstAnhalt Eilfall: behördliche Anordnung (§ 15 PsychKGLSA)
gerichtliche Anordnung Eilfall: behördliche Anordnung (§ 11 Abs. 1 S. 1 SHPsychKG) gerichtliche Entscheidung Eilfall: Sozialpsychiatrischer Dienst (§ 8 Abs. 1 ThürPsychKG)
–
z schriftlicher – Antrag z Sachverständigengutachten (§ 8 SHPsychKG)
z schriftlicher – Antrag z Sachverständigengutachten
–
5.1 Juristische Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung z
165
166
z
5 Unterbringungsrecht
Literatur Braum S (2004) Nachträgliche Sicherungsverwahrung: In dubio pro securitate? – Wegsperren ohne tragfähige Legitimation. ZRP 37:105–108 Dodegge G (1987) Das Unterbringungsverfahren – Dargestellt anhand des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. NJW 40:1910–1917 Kinzig J (2001) Als Bundesrecht gescheitert – als Landesrecht zulässig? – Das neue badenwürttembergische Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter. NJW 54:1455–1459 Marschner R, Volckart B (2001) Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Aufl. Beck, München Maunz T (1984) Kommentierung des Art. 74 GG. In: Maunz T, Dürig G (Begr) Grundgesetz Kommentar, Bd V, 53. Lieferung 10/2008. Beck, München Nedopil N (2000) Grenzziehung zwischen Patient und Straftäter. NJW 53:837–840 Neumann V (1982) Freiheitssicherung und Fürsorge im Unterbringungsrecht. NJW 35:2588– 2592 Rückert S (2005) Mann fürs Risiko. Die ZEIT Nr. 29, S 34 Sannwald R (2004) Kommentierung des Art. 74 GG. In: Schmidt-Bleibtreu B, Klein F (Begr) Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. Luchterhand, München, S 1357–1419 Würtenberger T, Sydow G (2001) Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. NVwZ 20:1201–1208 Zimmermann W (2005) Bayerisches Unterbringungsgesetz, 2. Aufl. Boorberg, Stuttgart
5.2
Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung N. Leygraf
5.2.1 Vorbemerkungen Innerhalb der medizinischen Fachgebiete nimmt die Psychiatrie insofern eine besondere Stellung ein, als sich hier ungleich häufiger die Frage einer Unterbringung und Behandlung gegen den Willen des Patienten stellt. Dies ist in der Natur psychischer Erkrankungen begründet, die die Fähigkeit zur freien Willensbildung häufig beeinträchtigen oder gar aufheben. Eine solche Zwangsmaßnahme stellt einen erheblichen Eingriff in die persönliche Autonomie des Betroffenen dar und kann zumindest anfänglich auch den Aufbau einer vertrauensvollen Patient-Arzt-Beziehung beeinträchtigen (Richter u. Reker 2003). Gleichwohl sind solche Unterbringungen häufig unvermeidlich. Sie gelten einerseits als „Ultima Ratio“, die einer engen rechtsstaatlichen Kontrolle bedürfen. Anderseits gehören sie zur alltäglichen klinischen Realität und sind Teil des gesellschaftlichen Auftrags an die Psychiatrie (Spengler 2003). Rechtlich geregelt sind solche Maßnahmen nicht nur im Öffentlichen, sondern auch im Zivil- und Strafrecht (im Einzelnen hierzu s. Kap. 5.1.1). Aus Gründen der sprachlichen Klarheit werden im Folgenden die Begriffe „Unterbringung“ und „Zurückhaltung“ lediglich für die in den jeweiligen Landesgesetzen geregelte, öffentlich-rechtliche
5.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen
z
Verbringung oder Zurückhaltung eines Patienten gegen oder ohne seinen Willen in einer psychiatrischen Klinik oder Abteilung verwandt. Dabei handelt es sich in der Regel um eine baulich „geschlossene“ Station, was aber nicht obligat erforderlich ist (Weig 2003).
5.2.2 Eigen- und Fremdgefährdung bei psychischen Krankheiten Die öffentlich-rechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist durch zwei unterschiedliche Prinzipien legitimiert. Sie soll der individuellen Gesundheitsfürsorge des betroffenen Patienten dienen und – entsprechend ihrem ursprünglich polizeirechtlichen Charakter – eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ abwehren. Bei der im juristischen Beitrag von Heckmann (Kap. 5.1) erfolgten Gegenüberstellung von „traditionellen“ Unterbringungsgesetzen und „modernen“ Gesetzen über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKGs) liegt der wesentliche Unterschied zwischen beiden Regelungsformen vor allem darin, dass in den PsychKGs nicht alleine die Unterbringung selbst geregelt wird, sondern insbesondere auch die Versuche, eine solche durch vor- und nachsorgende Hilfen zu vermeiden oder zumindest möglichst kurzfristig zu gestalten (die Gesetzestexte aller Bundesländer finden sich bei Cording u. Weig 2003, 123 ff.). Untersuchungen zu der Frage, ob die Reformen der PsychKGs und die damit verbundene stärkere Betonung des Fürsorgeprinzips zu einer Veränderung in der Häufigkeit von Unterbringungsanordnungen geführt haben, kamen zu divergenten Ergebnissen (Kebbel 1998; Marschner u. Volckart 2001; Meißner u. Müller 1989; Spengler 1994). Die in den letzten drei Jahrzehnten deutlich angestiegenen Unterbringungsraten lassen sich bundesweit in gleicher Weise feststellen und sind vielschichtig begründet, worauf noch näher einzugehen sein wird (s. Abschn. 5.2.3). Jedenfalls sehen alle Landesgesetze, unabhängig davon, ob sie als PsychKG oder Unterbringungsgesetz konzipiert sind, eine zwangsweise Unterbringung explizit auch bei alleiniger Eigengefährdung des Lebens und der Gesundheit vor. In den meisten Gesetzen wird die Selbstgefährdung sogar in der Reihenfolge der Fremdgefährdung vorangesetzt. Diese Gewichtung entspricht auch den klinischen Erfahrungen sowie den empirisch erhobenen Befunden zur Häufigkeit eigen- oder fremdgefährdenden Verhaltens psychisch Kranker. Zwar führen insbesondere akutpsychotische Erkrankungen durchaus zu einem erhöhten Risiko fremdaggressiven und gewalttätigen Verhaltens (im Einzelnen hierzu s. Kröber 2008). Speziell bei den an einer schizophrenen Psychose Erkrankten hat sich in einer Reihe von Studien übereinstimmend der Befund eines etwa um das vier- bis sechsfache erhöhten Gewalttäterrisikos ergeben (Übersicht s. Hodgins 2001). Dies bestätigt aber sicher nicht die in der Bevölkerung häufig angenommene besondere Gefährlichkeit psychisch Kranker. Schließlich begehen 99,8% aller schizophrenen Patienten während ihres ganzen Lebens kein schwerwiegendes Gewaltdelikt (Wallace et al. 1998). Ungleich
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z
5 Unterbringungsrecht
höher ist dagegen die von der Erkrankung ausgehende Selbstgefährdung der Patienten; zirka 9 bis 13% der an einer schizophrenen Psychose Erkrankten versterben durch Suizid (Harris u. Barraclough 1998). Dementsprechend war auch in der Studie von Regus u. Gries (2003, 109) in mehr als der Hälfte der Fälle (52%) die Notwendigkeit einer Unterbringung in den ärztlichen Unterbringungszeugnissen mit dem Vorliegen einer alleinigen „Selbstgefährdung“ begründet worden. Bei weiteren 28% wurden sowohl eine Selbst- als auch eine Fremdgefährdung angenommen und lediglich bei 20% eine reine Fremdgefährdung. Sicher ergibt sich bei der zwangsweisen Unterbringung und Behandlung eines Patienten insbesondere dann ein Spannungsfeld zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlichem Zwang, wenn die Unterbringung allein unter fürsorgerischen Aspekten, also wegen einer zu befürchtenden Gefährdung des eigenen Lebens oder der Gesundheit des Betroffenen erfolgt. Die Ängste vor einer allgemeinen Zwangsbehandlung aufgrund eines überzogenen Fürsorgegedankens und einer Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten durch die klinische Psychiatrie sind also durchaus verständlich, sie sind aber nicht in der tatsächlichen psychiatrischen Alltagspraxis begründet. Der im juristischen Beitrag von Heckmann (Kap. 5.1) diesbezüglich mehrfach angeführte Fall „Vera Stein“ stellt insofern zwar ein tragisches Schicksal dar, ist aber eben doch ein ausgesprochener Einzelfall. Er weist auf die mögliche Fehlerhaftigkeit psychiatrischer Diagnostik und darauf basierender Gefährlichkeitsbeurteilung hin, stellt jedoch die Psychiatrie nicht unter den Generalverdacht einer patriarchalischen Selbstüberschätzung. Die Gefahr des Missbrauchs der Psychiatrie und das Erfordernis klarer rechtsstaatlicher Regelungen haben sich in der Vergangenheit weniger durch einen überzogenen psychiatrischen Fürsorgeanspruch ergeben. Die in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland ausgeübte Gewalt gegen psychisch Kranke entsprach alles andere als einer besonderen Sorge um die betroffenen Opfer, sondern sollte vor allem dem (angeblichen) Wohl der „Volksgemeinschaft“ dienen. Gleiches galt für die seinerzeitige „Psychiatrisierung“ politischer Dissidenten in der ehemaligen Sowjetunion. Somit scheint besondere Vorsicht eher dann geboten, wenn mit Hilfe psychiatrischer Diagnostik und Prognosestellung die Einschränkung individueller Freiheitsrechte des Betroffenen mit einer vermuteten Gefahr für die Allgemeinheit begründet wird. Vor einem solchen Missbrauch kann sich die Psychiatrie selbst vor allem durch klare, international anerkannte diagnostische Leitlinien schützen, die sich eng an umschriebenen und konkret erfassbaren psychopathologischen Symptomen orientieren. Der vor einigen Jahren mehrfach erfolgte Versuch, bis dahin als voll schuldfähig beurteilte Straftäter nach Verbüßung der Endstrafe wegen einer angenommenen weiteren Gefährlichkeit auf öffentlich-rechtlicher Grundlage in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen (Nedopil 2000), ist gerade deshalb erfolglos geblieben, weil sich die zuständigen Klinikpsychiater einer unzulässigen Gleichsetzung von Gefährlichkeit und Krankheit widersetzt haben. Insofern
5.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen
z
mag man vielleicht über die tatsächliche Notwendigkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b StGB kontrovers diskutieren. Ihre 2004 erfolgte Einführung hat diese Diskussion aber zumindest in den hierfür zuständigen Bereich zurückgeführt, nämlich in die alleine dem Gesetzgeber und der Justiz obliegende Abwägung zwischen individuellen Freiheitsrechten und öffentlicher Sicherheit.
5.2.3 Anwendungshäufigkeit Trotz der hohen Bedeutung öffentlich-rechtlicher Unterbringungen innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems und ihrer besonderen rechtsstaatlichen Sensibilität ist die wissenschaftliche Diskussion hierüber in Deutschland unterentwickelt und die zur Verfügung stehende Datenbasis dünn. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mangelt es an längerfristig angelegten empirischen Beobachtungen der Auswirkungen dieser rechtlichen Interventionsmöglichkeit (Richter u. Reker 2003). Dies liegt teils an den länderspezifischen Unterschieden der rechtlichen Vorgaben, darüber hinaus sind hier vor allem datenschutzrechtliche Einschränkungen von Bedeutung. Eine eingehendere statistische Analyse des Zusammenhangs von Unterbringungshäufigkeiten und regionalen Faktoren sowie verschiedenen Aspekten des gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems ist bislang lediglich modellhaft in Nordrhein-Westfalen erfolgt (Regus u. Gries 2003). Hier fand sich eine signifikante Korrelation zwischen der relativen Häufigkeit einer solchen Unterbringung und verschiedenen regionalen Sozialindikatoren, z. B. der Einwohnerdichte, der durchschnittlichen Haushaltsgröße und der Zahl der Sozialhilfeempfänger (Regus u. Gries 2003, 332). Dies erklärt auch die bundesweit erhöhten Einweisungsraten in städtischen Ballungsgebieten. Innerhalb der Bundesrepublik variiert die Häufigkeit einer öffentlichrechtlichen Unterbringung ganz erheblich, und zwar sowohl im Vergleich der Bundesländer als auch innerhalb einzelner Bundesländer (Übersicht bei Regus u. Gries 2003, 16 ff.). Dabei ließen sich im Ländervergleich keine Zusammenhänge zwischen der Unterbringungshäufigkeit und dem Gesetzestyp (PsychKG versus Landesunterbringungsgesetz), den unterschiedlichen Verfahrensvorschriften oder dem Zeitpunkt der richterlichen Anhörung feststellen (Spengler 1994). Eine wesentliche Ausnahme stellt lediglich das Bundesland Baden-Württemberg dar. Hier gibt das „traditionelle“ Unterbringungsgesetz den psychiatrischen Krankenhäusern eine im Vergleich zu allen anderen Bundesländern erheblich weitergehende Möglichkeit zu einer fürsorglichen Zwangsintervention. § 4 UBG Baden-Württemberg ermöglicht weiterhin die „fürsorgliche Aufnahme und Zurückhaltung“ eines Patienten in einer entsprechend anerkannten psychiatrischen Einrichtung ohne jedwede Einschaltung einer Behörde oder eines Richters. Erst zum Ablauf des dritten Tages nach der Aufnahme oder Zurückhaltung muss ein formeller Antrag auf Anordnung einer Unterbringung gestellt werden. Dies erklärt
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5 Unterbringungsrecht
die in diesem Bundesland traditionell niedrigen Zahlen einer öffentlichrechtlichen Unterbringung. Niedrige Unterbringungsraten können also nicht unhinterfragt als Beleg für eine besondere Wahrung von Patientenrechten gewertet werden (Spengler 1994). Unabhängig von der Art der landesrechtlichen Regelung hatte sich in den 1980–1990er Jahren bundesweit eine erhebliche Steigerung der Unterbringungshäufigkeit feststellen lassen; ein Prozess, der in den letzten Jahren wieder leicht rückläufig erscheint, wahrscheinlich infolge einer vermehrten Anwendung stationärer betreuungsrechtlicher Maßnahmen (Regus u. Gries 2003, 17 f., 331). Diese Zunahme öffentlich-rechtlicher sowie betreuungsrechtlicher Unterbringungen als Folge eines übersteigerten Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit zuungunsten individueller Freiheitsrechte zu interpretieren (so z. B. Müller 2004), greift sicherlich zu kurz. Vielmehr könnte man dies auch gegenteilig als Ausdruck eines geschärften Rechtsbewusstseins werten, was im Grenzbereich zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Unterbringung eher zu einem formalisierten Verfahren führt. Zudem korreliert der Anstieg der Unterbringungen mit der ebenfalls angestiegenen Gesamtzahl stationär-psychiatrischer Aufnahmen und der gleichzeitigen Reduktion von Unterbringungs- und Behandlungsdauer (Richter u. Reker 2003). Er entspricht somit weniger einer Tendenz zur „Psychiatrisierung“ sozial auffälliger Menschen, sondern spiegelt eher Veränderungen im Gesamtkontext des psychiatrischen Versorgungssystems wider. So wurde in einer Reihe angloamerikanischer und skandinavischer Untersuchungen darauf hingewiesen, dass sich im Zuge der sogenannten Deinstitutionalisierung und dem Abbau stationärer psychiatrischer Behandlungsplätze auch Schwierigkeiten zumindest für einige schizophren erkrankte Patienten ergeben, die aufgrund ihrer Störung nicht in der Lage sind, sich in ambulante und komplementäre Hilfenetze einbinden zu lassen (Lamb u. Bachrach 2001; Kramp 2004). Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit häufiger stationärer Wiederaufnahmen, auch in Form von Unterbringungen („Drehtürpsychiatrie“), zumal diese Patienten zu vermehrtem Substanzkonsum und zur Verwahrlosung neigen, was das Risiko krankheitsbedingter Fremdgefährdung erhöht (McNiel et al. 2005; Kramp u. Gabrielsen 2003; Wallace et al. 2004). Insofern korrespondiert die Zunahme an öffentlich-rechtlichen Unterbringungen mit den im gleichen Zeitraum ebenfalls angestiegenen Unterbringungszahlen psychisch kranker Rechtsbrecher in den psychiatrischen Maßregelvollzug (§ 63 StGB; vgl. Kap. 4.3.1 in Band 3 des Handbuches).
5.2.4 Verfahrensrecht z Anordnung der Unterbringung Selten gehen gesetzgeberische Vorgaben und tatsächliche Praxis derart weit auseinander wie bei der Anordnung einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Der im juristischen Beitrag von Heckmann (Abschn. 5.1.2) beschrie-
5.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen
z
bene Regelfall eines mehrstufigen Verfahrens unter Beteiligung von Verwaltungsbehörde, Gericht, Sachverständigen und Vollzugsorganen ist entsprechend dem im FGG vorgesehenen Verfahrensrecht zwar rechtsstaatlich gut abgesichert. Er ist jedoch zugleich recht langwierig und somit für den eigentlichen Aufgabenbereich der öffentlich-rechtlichen Unterbringung wenig geeignet. Schließlich geht es hier um die möglichst rasche Abwendung einer akuten Gefährdungssituation. Bereits die in den einzelnen Landesgesetzen beschriebenen Voraussetzungen einer Unterbringung legen nahe, dass hier in der Regel eine alsbaldige Intervention erforderlich ist. So fordert § 11 PsychKG NW (in fast allen anderen Landesgesetzen finden sich vergleichbare Formulierungen) eine „erhebliche“ Selbst- oder Fremdgefährdung, wobei das Schadensereignis „unmittelbar“ bevorstehen oder zumindest „jederzeit zu erwarten“ sein muss. Liegt eine solche Konstellation tatsächlich vor, dürfte ein längerfristiges Vorverfahren kaum verantwortbar sein; stattdessen ist hier fast immer eine alsbaldige Unterbringung erforderlich, deren rechtliche Voraussetzungen anschließend natürlich einer möglichst raschen und sorgfältigen richterlichen Überprüfung bedürfen. Insofern erfolgen in der Praxis nahezu alle Unterbringungen oder Zurückhaltungen auf dem Wege der „Verwaltungsunterbringung“ (z. B. als „sofortige Unterbringung“ gemäß § 14 PsychKG NW), also vor dem Vorliegen eines richterlichen Beschlusses (Regus u. Gries 2003, 194; Weig 2003). Die im FGG vorgesehene Unterscheidung zwischen „vorläufiger Unterbringung“ (mit einer Dauer von sechs Wochen mit Verlängerungsmöglichkeit auf insgesamt drei Monate) und einer „sonstigen Unterbringung“ ist in der Praxis kaum von Belang, da in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle nicht einmal der Zeitrahmen einer „vorläufigen Unterbringung“ ausgeschöpft wird. So hat sich die mittlere Unterbringungsdauer bei den nach PsychKG NW untergebrachten Patienten von zirka 50 bis 60 Tage Anfang der 1980er Jahre auf mittlerweile nur noch 20 Tage reduziert (Richter u. Reker 2003). Dabei war ein erheblicher Anteil der Durchschnittsdauer auf einige wenige Patienten zurückzuführen, die über einen besonders langen Zeitraum zwangsbehandelt werden mussten. Auch in einer für das Jahr 1983 durchgeführten Untersuchung hatte sich gezeigt, dass bereits im damaligen Zeitraum bei 6,5% der Unterbringungen die Maßnahme schon am selben Tag wieder aufgehoben werden konnte, am Folgetag waren es weitere 17,5% (Bergener et al. 1988, 37 ff.). Nach fünf Tagen waren etwa die Hälfte, in der dritten Woche ca. 75% der Unterbringungen beendet. Nur in 3,4% der Fälle musste die ursprünglich angeordnete Frist verlängert werden. Diese Zahlen unterstreichen, dass solche Unterbringungen durchweg den Charakter einer Krisenintervention tragen, zumindest was den Zwangsaspekt betrifft. Die tatsächliche stationäre Behandlung dauert in der Regel deutlich länger als die zwangsweise Unterbringung, sie wird also zumeist nach Aufhebung der Unterbringungsanordnung auf freiwilliger Basis fortgesetzt.
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z Durchführung der Unterbringung Die zwangsweise Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann sich nicht darin erschöpfen, den Betroffenen durch restriktive Maßnahmen (Verbringung auf eine geschlossene Station, Isolierung oder Fixierung) physisch daran zu hindern, sich oder andere zu gefährden. Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, den durch die Unterbringung gegebenen Schutz dazu zu nutzen, die Erkrankung, die die Gefährlichkeit des Patienten begründet, möglichst rasch und intensiv zu behandeln, auch, um die Zeitdauer der restriktiven Maßnahmen möglichst kurz zu halten. Insofern ist die Unterbringung stets mit einem Behandlungsauftrag an die zuständige psychiatrische Klinik bzw. Abteilung verbunden. Unmittelbare Zwangsmaßnahmen (Isolierung, Fixierung) sind nicht nur aus rechtlichen, sondern auch aus therapeutischen Gründen lediglich dann und nur so lange gerechtfertigt, als eine akute Gefahrenlage dies zwingend erfordert. Dabei ist hinsichtlich der Eigengefährdung (Suizidrisiko) auch eine Abschätzung der eventuellen Auswirkungen einer solchen Maßnahme auf die längerfristige Suizidprophylaxe zu beachten. Ferner sind Notwendigkeit, Art der Durchführung und Zeitdauer einer solchen Maßnahme sorgfältig zu dokumentieren. Gerade Behandlungen ohne Einwilligung des Betroffenen führen zu einer besonderen Garantenstellung des behandelnden Arztes. Daher sollte sich die Behandlung möglichst eng an entsprechend anerkannte Therapieprinzipen bzw. Leitlinien orientieren (z. B. an den von der DGPPN herausgegebenen „Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie“, s. im Einzelnen unter http://www.dgppn.de/de_kurzversion-leitlinien_30.html). Eine Zwangsbehandlung ist natürlich nur für den Bereich der Erkrankung zulässig, die den Anlass für die Unterbringung gegeben hat. Dieser Einschränkung dürfte in der Praxis jedoch keine sonderliche Bedeutung zukommen. Sollte in Einzelfällen tatsächlich die Behandlung einer zusätzlichen, etwa einer schweren körperlichen Erkrankung erforderlich sein, zu der der Patient aus Gründen der psychischen Erkrankung seine Einwilligung nicht erteilt oder nicht erteilen kann, wäre auf die entsprechenden Regelungen des Betreuungsrechtes zurückzugreifen.
5.2.5 Gutachterliche Erfordernisse Gemäß § 321 FamFG ist bei der Anordnung einer solchen freiheitsentziehenden Unterbringung das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, der „in der Regel Arzt für Psychiatrie“ sein soll, in jedem Fall aber über „Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie“ verfügen muss. In der Praxis erfolgen solchen Unterbringungen aber nahezu regelmäßig in Form einer sofortigen „Verwaltungsunterbringung“. Diese setzt kein Gutachten, sondern lediglich ein entsprechendes „ärztliches Zeugnis“ voraus. Aufgrund der zumeist sehr kurzen Unterbringungsdauer ist eine anschließende ausführliche
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Begutachtung nur in vergleichsweise seltenen Fällen erforderlich. Zwar soll auch bei der Ausstellung des ärztlichen Zeugnisses der Arzt in der Regel zumindest „auf dem Gebiet der Psychiatrie erfahren“ sein (so z. B. § 14 Abs. 1 Satz 2 PsychKG NW). Diese Umschreibung ist jedoch ausgesprochen unscharf und findet in der Praxis wenig Beachtung. So wurden im Jahre 2000 in Nordrhein-Westfalen zirka 24% dieser Zeugnisse von niedergelassenen Ärzten ohne psychiatrische Fachweiterbildung ausgestellt, weitere 16% erfolgten durch Ärzte einer nichtpsychiatrischen Klinik oder Fachabteilung (LÖGD 2001). Zwar sind die Anforderungen an die Ausführlichkeit der Anamnese- und Befunderhebung sowie der gutachterlichen Beurteilung und deren Begründung bei der Erstellung eines Gutachtens deutlich höher als bei der Ausstellung eines entsprechenden „Zeugnisses“. Die zu beantwortende Fragestellung ist jedoch in beiden Fällen identisch und beinhaltet ein zweistufiges Vorgehen. Zunächst ist die diagnostische Feststellung einer psychischen Erkrankung erforderlich. Sofern eine solche vorliegt, ist im zweiten, prognostischen Schritt die aus der Erkrankung heraus resultierende Eigen- oder Fremdgefährdung des Betroffenen zu beurteilen. z Diagnostische Ebene Vergleichbar dem Vorgehen bei strafrechtlichen Begutachtungen (s. Boetticher et al. 2007) sollte sich die Benennung einer möglichst genauen Diagnose an einem klar definierten, operationalisierten Klassifikationsschema psychischer Störungen orientieren, gegenwärtig also an ICD-10 oder DSMIV-TR. Dabei hat neben der kategorialen Zuordnung stets auch eine Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung zu erfolgen. Die Voraussetzungen einer Unterbringung sind nicht diagnosespezifisch, rechtlich möglich ist sie bei jeder Form psychischer Erkrankung oder Störung. In den einzelnen Landesgesetzen finden sich diesbezüglich unterschiedliche Umschreibungen mit mehr oder weniger stark eingrenzenden Definitionen. So versteht § 1 Abs. 2 PsychKG NW unter dem Begriff der psychischen Erkrankung „behandlungsbedürftige Psychosen sowie andere behandlungsbedürftige psychische Störungen und Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer Schwere“. Sehr viel umfassender setzt das Niedersächsische PsychKG für eine Unterbringung diagnostisch lediglich voraus, dass der Betroffene „infolge einer psychischen Störung krank oder behindert“ ist (§ 1 Abs. 1 und 2 NPsychKG; zu den übrigen Bundesländern vgl. die Synopse der Bestimmungen im Anhang von Kap. 5.1). Der Charakter dieser Maßnahme als rasche Reaktionsmöglichkeit auf akute Gefährdungssituationen legt nahe, dass hier in der Regel überwiegend diejenigen Erkrankungen in Betracht kommen, bei denen es zu raschen und erheblichen Veränderungen im psychischen Befinden und einer hieraus resultierenden Gefährdungslage kommen kann. In der Praxis erfolgt eine Unterbringung somit auch am häufigsten bei schizophrenen und affektiven Psychosen (32% bzw. 11% der Unterbringungen; Regus u. Gries 2003, 196). In zirka 24% der Fälle handelt es sich um eine hirnorganisch
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bedingte psychische Störung, zumeist in Form einer altersbedingten Demenz. Suchterkrankungen sowie akute Intoxikationen machen weitere 18% der Unterbringungen aus. Belastungs- oder Persönlichkeitsstörungen führen hingegen eher selten zu derart schweren und akuten Krisensituationen. In der Studie von Regus u. Gries (2003, 196) wurde lediglich in 14% der Fälle die Notwendigkeit einer Unterbringung mit einer solchen Störung begründet. z Prognostische Beurteilung Entsprechend dem Zwangscharakter dieser Maßnahme kommt es sowohl im Gutachten als auch in den vorläufigen ärztlichen Zeugnissen vor allem darauf an, die aus der vorliegenden Erkrankung heraus resultierende akute Eigen- oder Fremdgefährdung des Betroffenen darzulegen. Dabei finden sich hinsichtlich der Eigengefährdung in den meisten Landesgesetzen ähnlich lautende Umschreibungen im Sinne einer gegenwärtigen Gefährdung des eigenen Lebens oder der Gesundheit. Die Fremdgefährdung ist hingegen unterschiedlich klar definiert. Angesichts des erheblichen Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit der Person dürfte hier aber regelmäßig eine Gefahr für Leben oder Gesundheit anderer Menschen erforderlich sein (vgl. 5.1.1.4, Abschn. „Die maßgeblichen Unterbringungsvoraussetzungen: „Krankheit“, „Gefahr“, Kausalität und Erforderlichkeit“). Wie bereits ausgeführt, erfolgt eine Unterbringung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aufgrund einer angenommenen akuten Selbstgefährdung. Diese wird laut der Untersuchung von Regus u. Gries (2003, 336) in der Regel nicht mit einer Beschreibung konkreter Verhaltensweisen begründet (z. B. mit einem Suizidversuch oder manifest-selbstschädigendem Verhalten). Vielmehr wird hier aus der Erkrankung selbst auf die potenzielle Gefährdung geschlossen. Bei Annahme einer Fremdgefährdung werden dagegen in zirka der Hälfte der Fälle entsprechende vorhergehende Handlungen angeführt. Dies entspricht der klinischen Alltagspraxis. Das Augenmerk des in der allgemeinen Psychiatrie tätigen Arztes ist – wegen der relativen Häufigkeit eines solchen Geschehen – vor allem auf die Einschätzung einer Suizidgefahr gerichtet. In der Beurteilung dieser Gefahr anhand klinischer Befunde und psychosozialer Begleitfaktoren verfügt die Psychiatrie über sehr weitreichende klinische Erfahrungen und empirisch erhobene Befunde (z. B. Wolfersdorf 2000). Somit lässt sich eine entsprechende Gefährdung hier eher auch schon dann erkennen und begründen, bevor es zu tatsächlichen selbstschädigenden Verhaltensweisen gekommen ist. Hinsichtlich der Gefahr fremdgefährdender Verhaltensweisen ist dies hingegen deutlich schwieriger. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die forensische Psychiatrie intensiv darum bemüht, gefährlichkeitsprognostische Aussagen empirisch zu fundieren (vgl. die entsprechenden Beiträge von Dahle und Kröber in Band 3 des Handbuches). Diese Untersuchungen bezogen sich jedoch überwiegend auf die Gefahr erneuter
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fremdgefährdender Verhaltensweisen bei Personen, die in der Vergangenheit bereits ein entsprechendes delinquentes Verhalten gezeigt hatten. Im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung wird eine solche Prognose jedoch bereits in einem primär-präventiven Bereich gefordert, also die Einschätzung der Gefährlichkeit eines Menschen, der bis dahin unter Umständen noch nie ein gefährliches Verhalten gezeigt hat. Aufgrund des deutlich selteneren Auftretens fremdaggressiver im Vergleich zu autoaggressiven Verhaltensweisen verfügt der in der Allgemeinpsychiatrie tätige Arzt zumeist auch über eine geringere Erfahrung in der Einschätzung der Gefahr gewalttätiger Handlungen. Zudem erschwert die geringe „Basiswahrscheinlichkeit“ eines solchen Ereignisses alleine schon aus statistischen Gründen seine Vorhersagbarkeit. Zwar muten insbesondere schwerwiegende Gewaltdelikte, die von schizophren erkrankten Patienten begangen werden, im Nachhinein betrachtet oft als vorhersehbar an und ihr Zustandekommen erscheint auch als Folge eines „Versagens von Sozialkontrolle“ (Rink 1981). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die scheinbaren „Vorzeichen“ der Tat erst durch die Tat selbst zu „Vorzeichen“ wurden. So finden sich bei schweren Gewalttaten schizophrener oder wahnkranker Patienten bereits im Vorfeld gehäuft entsprechende Gewaltandrohungen, sodass diese sicher ernst zu nehmen sind (Urbaniok et al. 2006). Sie finden sich aber ausgesprochen häufig auch bei Patienten, die dennoch später keine Gewalttat begehen. Dies gilt auch für die in den letzten Jahren vielfach hervorgehobene TCO-Symptomatik („Threat-Control-Override“). Damit gemeint ist das unmittelbare subjektive Erleben des Patienten, verfolgt und von äußeren Mächten kontrolliert zu werden und dieser Bedrohung hilflos ausgeliefert zu sein, was die Grundlage einer gewalttätigen „Gegenreaktion“ darstellen kann. Aber auch eine solche Symptomatik wird von sehr vielen Schizophrenen erlebt, ohne hierauf gewalttätig zu agieren. Insofern lassen sich bislang lediglich verschiedene Risiko-Faktoren beschreiben, die bei schizophrenen Erkrankungen auf eine erhöhte Gefährlichkeit und einen eventuellen Interventionsbedarf hinweisen können (eine entsprechende Übersicht findet sich bei Kröber 2008). Hinzuweisen ist an dieser Stelle noch einmal darauf, dass auch bei schizophrenen Patienten die Gefahr der Eigen- gegenüber der Fremdgefährdung zahlenmäßig deutlich überwiegt. Bei schweren Intoxikationen (durch Alkohol, Medikamente oder Drogen) liegt die akute Selbstgefährdung meist auf der Hand, auch wenn diese häufiger in den somatischen Komplikationen begründet ist als in Handlungen, die sich aus der Desorientierung und Verwirrtheit des Intoxikierten ergeben. Solche Unterbringungen sind in der Regel ausgesprochen kurzfristiger Natur, wobei hier bereits von Bergener et al. (1988) die Möglichkeit einer ärztlich überwachten Ausnüchterung anstelle einer Unterbringung vorgeschlagen wurde. Auch bei dementen Patienten betrifft die prognostische Einschätzung durchweg die Gefahr der Eigengefährdung, die sich hier ebenfalls aus allgemein-körperlichen Komplikationen ergeben kann, etwa einer mangeln-
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den Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Da es sich hier zumeist um eine längerfristige Entwicklung der Krankheitssymptomatik und der dadurch bedingten Gefährdung handelt, besteht eher selten ein akuter Handlungsbedarf, sodass in solchen Fällen eher eine Unterbringung auf betreuungsrechtlicher Grundlage in Betracht kommt. Bei akuter Symptomverstärkung, etwa einem akuten Verwirrtheitszustand infolge einer zerebrovaskulären Krise oder einer interkurrenten körperlichen Erkrankung, kann es im Rahmen der Desorientierung aber auch zu Notfallsituationen kommen, die ein rasches Eingreifen erfordern und Anlass zu einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung geben können. Dies gilt auch für sonstige akute hirnorganische Psychosen, etwa einem Delir bei Alkoholentzug. Bei den affektiven Psychosen stellen manische Krankheitsphasen quasi das Paradebild einer Krankheitssymptomatik dar, die die Fähigkeit des Betroffenen zur Realitäts- und Selbsteinschätzung, also auch seine Fähigkeit zur Krankheitseinsicht, massiv beeinträchtigen und zumindest im akuten Krankheitsstadium meist unmöglich machen. Somit bilden sie den exemplarischen Fall der Notwendigkeit einer Behandlung gegen den (aktuell erklärten) Willen des Betroffenen. Die Möglichkeiten einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung sind hier aber durch die oft nicht hinreichend zu begründende akute Gefährdungssituation eingeschränkt. Zwar geht das Bild der sogenannten gereizten Manie typischerweise mit verbalen und teils auch tätlich aggressiven Verhaltensweisen einher. Diese erfolgen jedoch durchweg aus der Situation heraus und sind praktisch nie geplant (Faust 1997). Zu ernsthaften Gewalttätigkeiten kommt es daher bei manischen Patienten bemerkenswert selten. Die Eigengefährdung betrifft in manischen Krankheitsphasen kaum einmal die sonstige Gesundheit des Kranken, und eine vermehrte Suizidalität ist allenfalls beim oder nach dem Abklingen der akuten Krankheitssymptomatik zu befürchten. Natürlich fügen sich manische Patienten häufig selbst erhebliche Schädigungen zu. Diese betreffen aber überwiegend ihren finanziellen Bereich und den ihrer sozialen Kontakte. Eine solche Gefährdung wird jedoch in den öffentlich-rechtlichen Landesgesetzen letztlich nicht erfasst, sodass hier zumeist der Weg einer Unterbringung gemäß Betreuungsrecht gewählt werden muss. Im Rahmen depressiver Krankheitsphasen ist dagegen die Beurteilung des Suizidrisikos von entscheidender Bedeutung. Da es sich hier oft um eine rezidivierend verlaufende Erkrankung handelt, bei der für die Patienten über Jahrzehnte das Risiko erneuter Krankheitsphasen besteht, ist bei der Beurteilung des Suizidrisikos und der Abwägung von Notwendigkeit und Gefahren einer Zwangsintervention auch die Langzeitprognose zu berücksichtigen. Zwar kann eine Unterbringung in der Regel die akute Gefahr des Suizids verringern. Sie kann jedoch auch die vertrauensvolle Patient-ArztBeziehung beeinträchtigen, was den Patienten dazu veranlassen kann, bei späteren Wiedererkrankungen und speziell bei erneutem Auftreten von Suizidimpulsen den Arzt nicht aufzusuchen oder ihm zumindest von der erneuten Suizidalität nichts zu berichten. Die Beachtung der Langzeitprognose ist auch bei den Erkrankungen besonders von Bedeutung, bei denen
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sich die Selbstgefährdung nicht auf akute Krankheitsphasen beschränkt, sondern chronischer Natur ist und den Patienten über viele Jahre seines Lebens begleitet (z. B. die Untergewichtigkeit bei Anorexiekranken oder impulshafte Selbstbeschädigungen bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung). Hier ist sorgfältig abzuwägen, ob die kurzfristige Verringerung des Selbstgefährdungsrisikos durch eine Zwangsmaßnahme möglicherweise eine derart hohe Hypothek für den weiteren Behandlungsablauf darstellen kann, dass sie der Gesundheit und dem psychischen Befinden des Patienten letztlich mehr Schaden als Nutzen bringt. Die Feststellung einer krankheitsbedingt erhöhten Eigen- oder Fremdgefährdung bedeutet im Übrigen auch sonst nicht sogleich auch die Notwendigkeit einer alsbaldigen Unterbringung. Neben den krankheitsspezifischen Variablen ist hier zudem die Fähigkeit des Patienten einzuschätzen, im Rahmen eventueller ambulanter Hilfemaßnahmen zu kooperieren und die ihm angebotenen Hilfen anzunehmen. Dabei sind auch Faktoren des sozialen Umfeldes in die Entscheidung mit einzubeziehen, also das zur Verfügung stehende Unterstützungspotenzial durch Angehörige bzw. etwaige Konfliktsituationen, die die bestehende Gefährdungslage verstärken könnten. Sofern in der Gesamtabwägung eine Unterbringung aktuell noch vermeidbar erscheint, ist allemal ein weiterer enger Kontakt zum Patienten erforderlich. Hier darf sich der Arzt nicht auf ein abwartendes Verhalten beschränken, sondern muss im Sinne einer „aufsuchenden Hilfe“ von sich aus aktiv bleiben und den steten Kontakt mit dem Patienten suchen. Dadurch dürfte es vielfach möglich sein, ein gewisses Vertrauensverhältnis zum Kranken aufzubauen und zumindest den weiteren Verlauf dahingehend zu beobachten, ob ein Zuwarten bzw. die Beschränkung auf ambulante Hilfemaßnahmen weiterhin zu verantworten ist oder ob man letztlich doch zum Schutze des Patienten und/ oder seiner Umwelt eingreifen muss (Kröber 2008).
Literatur Bergener M, Heilige A, Holzschneider H (1988) Problematik des Freiheitsentzugs bei psychisch Kranken. Die Zwangsunterbringung nach dem PsychKG NW am Beispiel der Stadt Köln. Springer, Berlin, Heidelberg Boetticher A, Kröber H-L, Müller-Isberner R, Böhm KM, Müller-Metz R, Wolf T (2007) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. Forensische Psychiatrie Psychologie Kriminologie 1:90–100 Cording C, Weig W (Hrsg) Zwischen Zwang und Fürsorge. Die Psychiatriegesetze der deutschen Länder. Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden Faust V (1997) Manie. Enke, Stuttgart Harris EC, Barraclough B (1998) Excess mortality of mental disorder. British Journal of Psychiatry 173:11–53 Hodgins S (2001) The major mental disorders and crime: Stop debating and start treating and preventing. International Journal of Law and Psychiatry 24:427–466 Kebbel J (1998) Zwischen Gewalt und Zwang und der Unantastbarkeit der Person in der Psychiatrie. In: Kebbel J, Pörksen N, Aktion psychisch Kranke (Hrsg) Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie. Tagungsbericht, Rheinland-Verlag Köln, S 22–35
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6 Straßenverkehrsrecht
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Verwaltungsrechtliche Normen des Straßenverkehrsrechts H. Schöch
6.1.1 Erteilung und Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörden z Straßenverkehrsgesetz. Die Grundlagen der verwaltungsbehördlichen Fahrerlaubniserteilung und -entziehung sind im Straßenverkehrsgesetz (StVG) geregelt. Nach § 2 Abs. 1 StVG bedarf es für die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr einer Fahrerlaubnis. Die Erteilung der Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörden bestimmt sich nach § 2 Abs. 2 bis 15. Gemäß § 2 Abs. 4 ff. StVG prüft die Fahrerlaubnisbehörde, ob der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet (Abs. 4) und befähigt (Abs. 5) ist. Geeignet ist gemäß § 2 Abs. 4 StVG, wer „die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen für die Teilnahme am Straßenverkehr erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat“. Bei nur bedingter Eignung kann die Fahrerlaubnis gemäß § 2 Abs. 4 S. 2 StVG mit Beschränkungen oder Auflagen erteilt werden (z. B. Tragen einer Sehhilfe bei Sehschwäche). Befähigt ist gemäß § 2 Abs. 5 StVG, wer über die in den Nr. 1 bis 4 der Vorschrift näher bezeichneten theoretischen und technischen Kenntnisse verfügt (z. B. ausreichende Kenntnis der maßgebenden gesetzlichen Vorschriften). Erweist sich ein Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 StVG zu entziehen. z Fahrerlaubnisverordnung. Weitere Einzelheiten zur Erteilung und Entziehung der Fahrerlaubnis ergeben sich aus der am 1. 1. 1999 in Kraft getretenen Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnisverordnung – FeV), die aufgrund der 2. EG-Führerscheinrichtlinie vom 29. 7. 1991 zur Vereinheitlichung des Führerscheinrechts in Europa beitragen soll und die entsprechenden früheren Regelungen in den §§ 1 bis 15 l StVZO ersetzte. § 11 FeV regelt ausführlich, unter welchen Umständen die Fahrerlaubnisbehörde vom Fahrerlaubnisbewerber/-inhaber die Beibringung eines ärzt-
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6 Straßenverkehrsrecht
lichen und/oder medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangen kann. Die §§ 13, 14 FeV enthalten eine diesbezügliche spezielle Regelung bei Eignungszweifeln im Hinblick auf Alkohol, Betäubungs- oder Arzneimittel. Für das ärztliche Gutachten kommen gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 FeV nur ein Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, ein Arzt des Gesundheitsamtes oder aus der öffentlichen Verwaltung, ein Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ sowie ein Facharzt für „Rechtsmedizin“ in Betracht. Als Entscheidungshilfen für die Fahrerlaubnisbehörden enthalten die Anlagen 4 und 5 zur FeV einen nicht abschließenden Katalog körperlicher und geistiger Krankheiten und Mängel, deren Auswirkungen auf die Fahreignung vom Sachverständigen zu prüfen ist. Der Bundesminister für Verkehr hat hierzu „Richtlinien für die Prüfung der körperlichen und geistigen Eignung von Fahrerlaubnisbewerbern und -inhabern“ (Eignungsrichtlinien) erlassen, die aber für die Gesetzesanwendung durch den Sachverständigen nicht verbindlich sind, da es sich nur um ermessensbindende Verwaltungsvorschriften handelt (BayVGH VRS Bd 86 [1994], 119). In der Regel wünscht die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV nur „Ja“- oder „Nein“-Antworten für die Eignung oder Nichteignung. Damit wird jedoch ihr Ermessensspielraum unterschritten, denn § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV verlangt auch eine Beurteilung der bedingten Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Diese kann sich nach § 2 Abs. 4 Satz 2 StVG auf die körperliche oder geistige Eignung beziehen und dazu führen, dass die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis mit Beschränkungen oder unter Auflagen erteilt, wenn dadurch das sichere Führen von Kraftfahrzeugen gewährleistet ist (vgl. auch § 23 Abs. 2 FeV). Dies kann z. B. in Sonderfällen bei ehemaligen Substitutionspatienten während der mindestens einjährigen Abstinenzphase bei erfolgreicher beruflicher und sozialer Rehabilitation relevant werden (Schöch 2005, 354, 359). Auch für Kraftfahrer, denen wegen Trunkenheit im Straßenverkehr die Fahrerlaubnis entzogen war und bei denen letzte Zweifel an der Eignung nicht ganz ausgeschlossen werden können, kommt in geeigneten Fällen die Erteilung einer beschränkten Fahrerlaubnis gemäß § 23 Abs. 2 FeV in Betracht, die nur zum Führen von Kraftfahrzeugen mit eingebauter atemalkoholsensitiver Wegfahrsperre (sog. Alkoholinterlock) berechtigt (Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft 2007, 11).
6.1.2 Punktekatalog § 4 StVG in Verbindung mit §§ 40 bis 45 FeV regeln die Führung eines Punktekatalogs durch die Fahrerlaubnisbehörden. Danach sind für Verkehrsstraftaten und -ordnungswidrigkeiten bestimmte, aus der Anlage 13 zur FeV sich ergebende Punkte zu vergeben, bei deren Summierung die in § 4 Abs. 3 ff. StVG genannten Rechtsfolgen drohen (z. B. 7 Punkte bei Trunkenheitsfahrt im Straßenverkehr, 5 Punkte bei unerlaubtem Entfernen vom
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Unfallort, 4 Punkte bei Überschreitung der 0,5-Promille-Grenze oder bei Drogenfahrt, 3 Punkte bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mehr als 25 km/h). Bei 18 Punkten oder mehr sieht § 4 Abs. 3 Nr. 3 StVG grundsätzlich den Entzug der Fahrerlaubnis vor. Das Punktesystem gewährleistet eine einheitliche Behandlung von Mehrfachtätern. Durch seine generalpräventiven und insbesondere spezialpräventiven Wirkungen trägt es zur Verkehrssicherheit bei (Jagusch u. Hentschel 2001, § 4 StVG Rn 2; zur spezial- und generalpräventiven Wirkung strafrechtlicher Sanktionen bei Verkehrsdelikten s. Kap. 2.5 Straßenverkehrsdelinquenz in Band 4).
Literatur Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft (Hrsg) (2007) 45. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2007. Eigenverlag, Hamburg Jagusch H, Hentschel P (2001) Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. Beck, München Schöch H (2005) Probleme der Fahrsicherheit und Fahreignung bei Substitutionspatienten. Blutalkohol 42:354–366
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Die Beurteilung der Fahreignung bei psychischen Störungen M. Rösler
6.2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen Die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) definiert die rechtlichen Rahmenbedingungen, die zur Feststellung einer bedingten oder nicht mehr vorhandenen Eignung zum Führen von Fahrzeugen führen können. Einerseits ist jeder zum Verkehr auf öffentlichen Straßen zugelassen (§ 1 FeV), andererseits muss der Fahrerlaubnisbewerber die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen (§ 11 Abs. 1 FeV). Die Anforderungen sind vor allem dann nicht erfüllt, wenn Krankheiten und Mängel vorliegen, die die Eignung oder die bedingte Eignung ausschließen. Welche Krankheiten und Mängel in Betracht kommen, ist in einem Katalog zusammengestellt und mit einer Regelbewertung versehen (Anlage 4 FeV). Für den Bereich der psychischen Krankheiten werden die in Tabelle 6.1 aufgelisteten Störungsmuster genannt:. Nur ein begrenzter Teil der psychischen Störungen, die heute nach der Klassifikation der WHO (ICD-10) oder der DSM-IV-Systematik der American Psychiatric Association diagnostiziert werden können, hat Berücksichtigung gefunden. Weite Teilbereiche, wie die neurotischen Störungen, Entwicklungsstörungen oder Persönlichkeitsstörungen sind unerwähnt, weil man der Auffassung ist, dass derartige Muster in der Regel nicht mit so
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6 Straßenverkehrsrecht
Tabelle 6.1. Psychische Krankheiten der Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) mit Stand vom 18. 8. 2005. Links finden sich die Nummern und Krankheitsbezeichnungen der FeV, in der Mitte die Referenznummern der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (BAST 2000) und rechts die passenden Klassifikationsnummern der ICD-10 FeV Anlage 4
Leitlinien
ICD-10
6.5 Schädelhirnverletzungen, Hirnoperationen, angeborene und frühkindliche Hirnschäden
3.9.5
F07
7.1 organische Psychosen 7.2 chronische hirnorganische Psychosyndrome 7.3 schwere Altersdemenz, schwere Persönlichkeitsveränderungen durch pathologische Alterungsprozesse 7.4 schwere Intelligenzminderungen, geistige Behinderung 7.5 affektive Psychosen 7.6 schizophrene Psychosen
3.10.1 3.10.2 3.10.2 3.10.3 3.13 3.10.4 3.10.5
F04–F06 F06 F00–F07
8
Alkohol
3.11
F10
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Betäubungsmittel (BTM) und andere psychoaktive Stoffe
3.12
F11–F19
F70 F30–F39 F20–F28
§ 11 wiederholte Verstöße gegen Verkehrsverordnungen FeV und Strafgesetze
schweren Einschränkungen vergesellschaftet sind, dass damit generelle Zweifel an der Fahreignung gerechtfertigt werden können. Zur besseren Orientierung sind in der Tabelle 6.1 die korrespondierenden ICD-10-Nummern und die Abschnitte aus den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (BAST 2000) angegeben. Die im Folgenden ausgearbeitete Beurteilung der psychischen Erkrankungen stützt sich auf die WHO-Klassifikation ICD-10, die in unserem Land und der Europäischen Union in der medizinischen Versorgung der Diagnostik verbindlich vorgegeben ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Behörde die Beibringung eines Gutachtens verlangen (§ 11 Abs. 2 FeV). Neben den Gutachten von Fachärzten können medizinisch-psychologische Expertisen von amtlich anerkannten Begutachtungsstellen verlangt werden. Die Gutachten dienen der Vorbereitung einer behördlichen Entscheidung über die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen, aber auch über die Entziehung der Fahrerlaubnis. Dabei werden europaweit die verschiedenen Fahrerlaubnisklassen in zwei Gruppen eingeteilt. z Gruppe 1: A, A1, B, BE, M, L und T z Gruppe 2: C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und die Erlaubnis der Fahrgastbeförderung.
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6.2.2 Die Begutachtung Die nachfolgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der verkehrsmedizinischen Beurteilung psychischer Krankheiten. Diese Aufgabe obliegt den Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie mit verkehrsmedizinischer Zusatzqualifikation. Bei speziellen Fragestellungen, z. B. bei der toxikologischen Substanzdiagnostik und dem Monitoring von Alkohol- und Substanzabhängigen, sollten zusätzlich Fachärzte für Rechtsmedizin zu Rate gezogen werden. Das Gutachten muss den Grundsätzen entsprechen, die in der FeV (Anlage 15) festgelegt wurden. Die Untersuchung erfolgt anlassbezogen unter Verwendung der von der Behörde überlassenen Akten und unter strikter Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die behördlichen Fragestellungen. Gegenstand der Untersuchung sind ausschließlich solche Aspekte der Persönlichkeit und ihres Erlebens, die für die Kraftfahrereignung von Relevanz sind. Das Gutachten muss wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Verlangt werden eine hinreichende Aufklärung der Probanden über Sinn und Zweck der Expertise und eine Dokumentation der Untersuchungsabläufe. Methodisch muss sich das Gutachten mit den funktionellen Folgen psychischer Störungen auseinander setzen. Dabei müssen störungsbedingte Einschränkungen, Defizite und der Umgang mit diesen ebenso herausgearbeitet werden wie verbliebene Fertigkeiten. Bei einigen Problemlagen, z. B. bei der Beurteilung von Alkohol- und Drogenproblemen, sind auch therapeutische und prognostische Überlegungen anzustellen, ferner können Auflagen und Interventionen empfohlen werden. Wie bei allen anderen Begutachtungen muss die Expertise sprachlich verständlich, nachprüfbar und in Bezug auf die Beantwortung der gestellten Fragen vollständig sein. Für den praktischen Ablauf der Begutachtung empfiehlt es sich neben den Vorgaben der FeV auch die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (BAST 2000) und den Kommentar der Begutachtungsleitlinien (Schubert et al. 2005) zu berücksichtigen.
6.2.3 Relevanz psychischer Krankheiten für die Verkehrssicherheit Nur zu leicht unterstellt man Menschen mit psychischen Erkrankungen, dass sie Dinge tun könnten, die für andere Menschen gefährlich sind. Tatsächlich ergibt sich aus der vorliegenden Studienlage zum Thema Verkehrssicherheit, dass einige psychische Störungen mit einem erhöhten Unfall- und Auffallensrisiko einhergehen können. Vor 40 Jahren wies Waller (1965) nach, dass psychisch Kranke, obwohl sie signifikant geringere Strecken zurücklegen, eine doppelt so hohe Unfallquote haben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Aus der gleichen Zeit stammt die Erhebung von Crancer und Quiring (1969), nach der Persönlichkeitsstörungen und neurotische Muster, nicht jedoch Schizophrene eine erhöhte Unfallquote boten. In der
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Studie von Elkema et al. (1970) erwiesen sich Persönlichkeitsstörungen und Alkoholiker als Gruppen mit der höchsten Unfallbelastung. Beim Vergleich von jeweils 100 psychiatrischen Patienten verschiedener Diagnosen und 100 körperlich Kranken ergaben sich keine gravierenden Unterschiede hinsichtlich selbst berichteter Unfallereignisse (Armstrong und Whitlock 1980). Bei dieser Studie wurde ebenso wenig wie in der Untersuchung von Edlung et al. (1989) eine statistische Adaptation der Ergebnisse am Maßstab der zurückgelegten Fahrstrecken oder der Expositionszeit im Straßenverkehr vorgenommen, die heute als unverzichtbar angesehen wird. Nach den Untersuchungen von Diller et al. (1998) haben psychisch Kranke generell ein zweifach erhöhtes Unfallrisiko. Nachfolgend werden die empirischen Erkenntnisse über die Bedeutung der verschiedenen psychischen Störungen für die Verkehrssicherheit referiert und Beurteilungsgrundsätze der Fahreignung formuliert. Auf eine Darstellung der klinischen Symptomatik der verschiedenen psychischen Störungen muss in dem hier gegebenen Rahmen verzichtet werden. Diesbezüglich ist auf die relevanten Kapitel in Band 2 dieses Handbuches zu verweisen.
6.2.4 Die Fahrereignung bei organischen Störungen F0–F07 ICD-10 z Demenz bei Alzheimer-Krankheit z vaskuläre Demenz z Demenz bei sonstigen Krankheiten (z. B. M. Pick) z organisches amnestisches Syndrom (ohne Alkohol und Drogen) z Delir (ohne Alkohol und Drogen) z sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns und einer körperlichen Krankheit z Persönlichkeitsstörungen aufgrund einer Krankheit des Gehirns z Bedeutung für die Fahreignungsvoraussetzungen Im Hinblick auf die engen Zusammenhänge zwischen dem Lebensalter und dem Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist es zunächst erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, dass ältere Menschen im Straßenverkehr weniger häufig als jüngere Menschen an Unfällen beteiligt sind. Im Jahr 2004 verunglückten zirka 40 000 Senioren über 65 Jahre im Straßenverkehr. Dies entspricht einem Anteil von neun Prozent an der Gesamtzahl der Verunglückten. Andererseits stellen Senioren 18% der Gesamtbevölkerung (Statistisches Bundesamt 2005). Wahrscheinlich hat das deutlich niedrigere Unfallrisiko der Senioren etwas mit deren reduzierter Fahrleistung zu tun, Senioren sind weniger mobil als Jüngere und sie fahren vorsichtiger. Letztere Regel gilt nicht für Senioren, die an mehr als einer Krankheit leiden. Hier besteht ein 2,6 fach erhöhtes Unfallrisiko (Holte u. Albrecht 2004).
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Hinsichtlich der Problematik von leichten kognitiven Störungen bei Senioren und von Demenzerkrankungen ist auf eine Untersuchung zu verweisen, bei der sich ergab, dass Patienten mit leichten kognitiven Störungen eine Fahrprobe ebenso bestanden wie gesunde Vergleichspersonen, während 40% der Patienten mit leichter Demenz in der Fahrprobe versagten (Hunt et al. 1993). Unbeschadet dieses Untersuchungsergebnisses fand man bei der Analyse von Unfallursachen älterer Menschen Hinweise auf wiederkehrende Mängel. Als typisch für das Fehlverhalten von Senioren werden angesehen: Überfahren von Stoppschildern oder auf rot stehenden Ampeln, Fehler beim Linksabbiegen, Mängel beim konstanten Verbleiben auf einer Fahrspur (Keltner u. Johnson 1987; Kline et al. 1992; Gebers et al. 1993; Brashear et al. 1989). Für diese Fehlleistungen werden weniger sensorische Probleme als Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen verantwortlich gemacht. In zahlreichen retrospektiv angelegten Studien konnte belegt werden, dass Personen, die an einer manifesten Demenz leiden, ein erheblich höheres Unfallrisiko besitzen als gleichaltrige Personen ohne Demenz (Friedland et al. 1988; Cooper et al. 1993; Tuokko et al. 1995; Fox et al. 1997). Bei Versuchen im Fahrsimulator wurden vergleichbare Ergebnisse gefunden (Harvey et al. 1995; Rizzo et al. 1997). Diese spezifischen Unfallrisiken ließen sich für die Gruppe der fraglichen Demenzen beziehungsweise für Patienten mit leichten kognitiven Störungen nicht nachweisen. Auf dem Boden derartiger empirischer Untersuchungen haben Dubinsky et al. (2000) die Schlussfolgerung gezogen, dass bei fraglichen Demenzen das Unfallrisiko und die Leistungsminderungen auf einem Niveau liegen wie bei Autofahrern im Alter von 16 bis 21 Jahren beziehungsweise wie bei Fahrern, die bis 0,8‰ alkoholisiert sind. Bei Personen, die die diagnostische Schwelle für Demenz sicher erreicht haben, wird eine signifikante Risikoerhöhung wirksam. Bei dieser Bewertung stützten sich die Autoren auf das Clinical Dementia Rating (CDR, Hughes et al. 1982), das eine Stadieneinteilung von fraglicher über leichtere und mittlere bis zu schwerer Demenz erlaubt. In einer prospektiven Untersuchung mit wiederholten Fahrproben wurde diese Konzeption in den Grundzügen bestätigt. Patienten mit leichter Demenz schneiden in Fahrproben deutlich schlechter ab als gesunde Kontrollen und Personen mit fraglicher Demenz (Duchek et al. 2003). Personen mit fraglicher Demenz – diese Konzeption entspricht in weiten Teilen der leichten kognitiven Störung – liegen in den Fahrproben und im Fahrsimulator zwischen gleichaltrigen Gesunden und den Patienten mit leichter Demenz. Im Kontrast zu diesen Ergebnissen identifizierte man in verschiedenen Untersuchungen eine kleine Gruppe von Patienten mit leichter Demenz, die auch bei wiederholten Messungen ein unauffälliges Fahrverhalten boten (Dubinsky et al. 2000; Duchek et al. 2003). Grundsätzliche Unterschiede zwischen den verschiedenen neurodegenerativen und vaskulären Demenzkrankheiten hinsichtlich ihrer verkehrsmedizinischen Implikationen sind nicht erkennbar. Empirisches Material über andere zerebralorganische Leiden wie organische Persönlichkeitsstörungen ist nicht verfügbar. In diesem Bereich über-
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wiegen die kasuistischen Erfahrungen, die nahe legen, dass es besonders die frontalhirngeschädigten Patienten sind, die aufgrund ihrer Impulskontrollstörungen und disruptiven Verhaltensweisen Probleme entwickeln und einem erhöhten Unfall- und Auffallensrisiko ausgesetzt sind. z Beurteilungsgrundsätze Personen, die an mittleren und schweren Demenzen leiden, verfehlen stets die Eignungsvoraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen. Bei leichter Demenz gilt dies ebenso für den Bereich der Kraftfahrzeuge nach Gruppe II. Nicht ganz einheitlich sind die Meinungen in der Frage, ob bei leichten Demenzen noch die Fahreignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Gruppe I angenommen werden können. Manche Autoren wollen in geeigneten Fällen die Fahreignungsvoraussetzungen noch annehmen (Laux 2003; Soyka 2003; Stevens 2004). Hingegen empfiehlt die American Academy of Neurology mit Blick auf das deutlich erhöhte Unfallrisiko bei leichter Demenz, diagnostiziert nach CDR (Stufe 1), die Fahreignungsvoraussetzungen zu verneinen (Duchek et al. 2003). Möglicherweise liegt dieser Divergenz eine diagnostische Unschärfe hinsichtlich der Stadienabgrenzung von Demenzen zu Grunde. Nach den allgemeinen diagnostischen Kriterien der ICD-10 handelt es sich bei Demenzkrankheiten immer um schwere Leiden, selbst wenn die Graduierungsbeurteilung mit „leicht“ bezeichnet wird. Die Definitionen (ICD-10, S. 59 f.; Dilling et al. 1991) zeigen an, dass die diagnostische Schwelle für das Demenzsyndrom relativ hoch angesetzt wurde. Unter diesen Voraussetzungen ist es zweifelhaft, ob bei leichter Demenz die Fahreignungsvoraussetzungen noch bejaht werden können. Um in diesem Spannungsfeld zu einheitlichen diagnostischen Beschreibungen zu gelangen, empfiehlt es sich, standardisierte Skalen zur Stadieneinteilung wie das CDR oder die Reisbergskalen (Ihl u. Frölich 1991) einzusetzen. Dabei bewähren sich besonders Instrumente, die neuropsychologische, psychopathologische und alltagsfunktionelle Aspekte integrieren (Rösler u. Frey 2003 b). In zweifelhaften Fällen sollte eine Fahrprobe veranlasst und als weiterer funktioneller Aspekt in die psychiatrische Gesamtbeurteilung eingearbeitet werden. Wenn dann in günstigen Fällen trotz der bestehenden Risiken die Fahreignungsvoraussetzungen bejaht werden können, müssen mit Blick auf den unerbittlich progredienten Charakter der meisten Demenzkrankheiten regelmäßige Verlaufsuntersuchungen im Abstand von sechs Monaten empfohlen werden. Im Falle einer fraglichen, subklinischen oder subdiagnostischen Demenz und auch in Fällen von leichten kognitiven Störungen im Alter besteht indessen kein Grund die Fahreignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Klasse I zu bezweifeln. Dieser Personenkreis muss allerdings für die Kraftfahrzeuge Klasse II ausgeschlossen werden. Wurden die Fahreignungsvoraussetzungen wegen einer Demenzkrankheit ausgeschlossen, kommt eine neuerliche Bejahung derselben nur in Betracht, wenn eine Demenz im Rahmen einer behandelbaren Grundkrank-
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heit vorliegt und tatsächlich eine Rückbildung der Demenzsymptomatik erreicht wurde. Dies dürfte nur in seltenen Ausnahmen, z. B. bei Normaldruckhydrozephalus oder bei diversen internistischen Grunderkrankungen, in Reichweite sein. In dem Zusammenhang muss betont werden, dass auch die modernen Antidementiva bei der Behandlung der häufigsten neurodegenerativen oder vaskulären Demenzen keinen kurativen, sondern lediglich einen stabilisierenden, progressionshemmenden Charakter für sich in Anspruch nehmen können (Rösler u. Frey 2003 a). Bei den akuten organischen Erkrankung wie dem Delir, der Amnesia, den Halluzinosen, Katatonien, schizophreniformen Psychosen, manischen oder depressiven Störungen schwerer Art sind die Fahreignungsvoraussetzungen für alle Kraftfahrzeug-Klassen ausgeschlossen. Eine Wiederannahme der Fahreignungsvoraussetzungen für die Gruppe I kommt in Betracht, wenn eine Behandlung der Symptomatik erfolgreich war und keine komorbiden Leiden zu diagnostizieren sind, die ihrerseits zu Bedenken führen müssen. In besonders günstigen Fällen, wenn eine vollständige Heilung der zu Grunde liegenden Krankheit erzielt werden konnte und kein Rezidiv droht, kommt auch eine Wiederannahme der Eignungsvoraussetzungen für die Gruppe II in Betracht. Davon werden in der Regel eher jüngere Personen betroffen sein, denn bei Senioren, die in dieser Krankheitsgruppe dominieren, bestehen vielfach komorbide Leiden, die in ihren Auswirkungen zusätzlich berücksichtigt werden müssen. Eine generelle Einschränkung der Fahreignungsvoraussetzungen ist bei Personen nicht ersichtlich, die an den verschiedenen Typen von Persönlichkeitsstörungen nach Schädigung des Gehirnes leiden. Im Hinblick auf die beachtliche Prävalenz von hirngeschädigten Personen in unserer Gesellschaft (Cortbus u. Steudel 1999) ist es überraschend, dass nur eine kleine Population von meist frontalhirngestörten Personen Anlass zu Bedenken gibt. Diese leiden unter desinhibitorischen psychopathologischen Phänomenen mit Störungen der Impulskontrolle, der Affektregulation und Antriebsentdifferenzierung. In den meisten Fällen sind die Betroffenen erheblich kritikgemindert und nur eingeschränkt in der Lage, ihre Störungen ausreichend wahrzunehmen, in ihrer Tragweite zu würdigen und sich angemessenen Behandlungsmaßnahmen zu stellen. Dieser Personenkreis bietet allgemeine Störungen der sozialen Adaptation. Werden Verkehrauffälligkeiten registriert, handelt es sich höchst selten um isolierte Phänomene, vielmehr treten Auffälligkeiten generalisiert auf und sind vielfach in weitere sozial störende Aktivitäten eingebettet. In diesen Fällen müssen stets prognostische Bedenken formuliert werden. Die Fahreignungsvoraussetzungen sind bei ungünstiger Konstellation für alle Kraftfahrzeug-Gruppen zu bezweifeln. Eine Wiederannahme kommt für Gruppe I in Betracht, wenn psychiatrisch-psychotherapeutische Therapiemaßnahmen erfolgreich waren und eine therapeutische Begleitung auf Dauer sichergestellt ist. Es leuchtet ein, dass dies nur in Fällen zutreffen wird, in denen eine gefestigte therapeutische Bindung, hinreichende Veränderungswilligkeit, Kritikfähigkeit und ein tragfähiges Konzept hinsichtlich der eigenen Störungen erarbeitet wurde.
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6.2.5 Fahrereignung bei psychischen Störungen und bei Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F10–F19 ICD-10 z Alkohol z Opoide z Cannabinoide z Sedativa und Hypnotika z Kokain z Stimulanzien z Halluzinogene z Tabak z Lösungsmittel z multipler und sonstiger Konsum psychotroper Substanzen z Bedeutung für die Fahrereignung Die Lebenszeitprävalenz für Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit wird mit zirka 14%, die Einjahresprävalenz nach den DSM-III-R-Kriterien mit zirka 4% angegeben. Alkoholismus gehört damit zu den häufigsten psychischen Störungen in unserer Gesellschaft (Weyerer u. Lucht 1999). Kein anderer Faktor ist so umfassend auf seine verkehrswissenschaftliche Bedeutung untersucht worden wie Alkohol. Es kann nicht den geringsten Zweifel geben, dass sich der Konsum von Alkohol außerordentlich negativ auf die Fahrsicherheit auswirkt. Es ist deswegen erfreulich festzustellen, dass sich bei geringfügiger Zunahme aller Verkehrsunfälle von 2003 nach 2004 um 0,1% die Zahl der Alkoholunfälle um 6,3% verringert hat. Die absolute Zahl der Unfälle mit mindestens einem alkoholisierten Fahrer lag 2004 bei 55 991 (Statistisches Bundesamt 2005). Die Zahl der bei Alkoholunfällen getöteten Personen ging immerhin um 13,8% zurück. Unverändert ist davon auszugehen, dass Alkoholunfälle meist gravierende Folgen haben. Jeder achte Getötete im Straßenverkehr starb bei einem Alkoholunfall. Eine besonders wichtige Untersuchung von Krüger et al. (1996), bei der Autofahrer nach dem Modell der amerikanischen „Roadside Surveys“ auf Alkohol und illegale Drogen untersucht wurden, ergab, dass bei 5,5% der Fahrer Alkohol nachgewiesen werden konnte. Bei 1,2% lag die Blutalkoholkonzentration über 0,5‰. Alle anderen Substanzen gemeinsam boten eine Prävalenz von 6,5%. In aktuellen Studien zur Bestimmung der Unfallbelastung durch Alkohol wurde eine dreifache Risikosteigerung für Alkohol angegeben (Lowenstein u. Koziol-McLain 2001). Für die Risikoerhöhung ist die Höhe der Blutalkoholkonzentration offenbar nicht allein ausschlaggebend. Nach einer Untersuchung von Zador et al. (2000) boten junge Männer unter 20 Jahren mit bescheidener Blutalkoholkonzentration besonders hohe Unfallrisikoziffern. Sucht man nach Prädiktoren, die ein hohes Rezidivrisiko für zukünftige Alkoholfahrten indizieren können, muss man in Deutschland als Basisrate
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die Wiederholungswahrscheinlichkeit von zehn bis 15% für alkoholauffällig gewordene Fahrer berücksichtigen (Utzelmann u. Jakobshagen 1996). Nach dem Review von Lapham et al. (2000) liegt die allgemeine Risikoquote für neuerliche Trunkenheitsfahrten innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren zwischen 20 und 26%. Dabei ist das Rückfallrisiko bei jungen Männern doppelt so hoch wie bei jungen Frauen. Die Prävalenzen für Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit sind nicht ganz so hoch wie bei Alkohol. Die Lebenszeitprävalenz von zirka 6% liegt aber in einer Ebene mit den depressiven Episoden und indiziert insofern, dass es sich um ein ausgesprochen häufiges Gesundheitsproblem handelt (Weyerer u. Lucht 1999). In dem oben angesprochenen „Roadside Survey“ von Krüger et al. (1996) erwiesen sich Benzodiazepine mit 3,8% als die häufigste psychoaktive Substanz. Amphetamine hatten 0,8% der Fahrer, Cannabis, Barbiturate oder Opiate konsumiert jeweils 0,6%. Kokain wurde in 0,1% der Fälle nachgewiesen. In einer späteren Studie (Möller et al. 1999) wurden bei verkehrsauffälligen Kraftfahrern in 22,8% der Fälle Cannabinoide, in 4,3% Opiate, in 3,8% AMPH, bei 2,4% der Fahrer Ecstasy und bei 2,2% Kokain gefunden. Benzodiazepine hatten 12,3% der Kraftfahrer und 2,2% andere Substanzen genommen. Hinsichtlich der Risikoziffern für Unfallereignisse im Straßenverkehr zeigten neuere Untersuchungen, dass chronischer Cannabiskonsum zu einer neunfachen Risikoerhöhung führte, während akuter Gebrauch sich nicht wesentlich auf die Risikobelastung auswirken soll (Blows et al. 2005). Letzterem widersprach Kalant (2004), der in seiner Übersicht auch für die akute Cannabisintoxikation erhebliche Risiken geltend machte. In manchen Populationen jüngerer Menschen gibt es inzwischen Personen, die beim Fahren häufiger unter dem Einfluss von Cannabinoiden stehen als unter dem von Alkohol (Boase et al. 2004). Stimulanzien verdoppeln beziehungsweise verdreifachen das Unfallrisiko, in Verbindung mit Alkohol steigt das Risiko auf das 20fache. Ähnlich hohe Belastungsquoten wurden für die Kombination von Alkohol und Benzodiazepinen beschrieben (Hausmann et al. 1988; Longo et al. 2000; Übersicht bei Stevens 2004). Möglicherweise ist Kokain bei schwersten Unfallfolgen ein gewichtiger Risikofaktor (Dussault et al. 2001). Drogen injizierende Fahrer erleben subjektiv Alkohol als die gefährlichste und Cannabis als die am wenigsten gefährliche Substanz (Darke et al. 2004). z Beurteilungsrahmen Bevor auf verschiedene Grundsätze der Beurteilung eingegangen wird, muss zunächst erwähnt werden, dass die Begriffe Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch der ICD-10, aber auch die korrespondierenden DSM-IV Diagnosen mit der Terminologie der FeV und der Leitlinien kaum noch übereinstimmen. Missbrauch nach der FeV und den Leitlinien schließt Personen mit den ICD-10 Abhängigkeitsmerkmalen „verminderte Kontrolle“, „Toleranzentwicklung“ und „Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen“
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explizit ein. Damit sind drei der ICD-10-Abhängigkeitsmerkmale erfüllt und die psychiatrische Diagnose kann gemäß internationaler Konvention nur Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit lauten. Übertragen auf die derzeitige Situation des Umgangs mit alkoholauffälligen Kraftfahrern bedeutet dies, dass eine Reihe von auffälligen Fahrern behördlich als Missbrauchende angesehen werden, obwohl aus psychiatrischer Perspektive ohne Zweifel eine Abhängigkeitserkrankung vorliegt, die anders behandelt und beurteilt werden muss als eine Missbrauchssymptomatik. Es wäre sinnvoll, die diagnostischen Divergenzen in diesem wichtigen Feld der Beurteilungen möglichst schnell auszuräumen. Die Fahreignung ist bei Intoxikationen unbeschadet der verursachenden Substanz ausnahmslos ausgeschlossen. Nach medizinischer Klassifikation sind bei allen Abhängigen von Alkohol und illegalen Drogen durchgehende Zweifel an den Fahrereignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Gruppen I und II gegeben. Eine Wiederannahme der Eignung kann nur dann in Frage kommen, wenn der Betreffende psychiatrisch/psychotherapeutisch nach folgendem Schema behandelt wurde: z Psychiatrische/psychotherapeutische Therapie in regelmäßigen Abständen über mindestens ein Jahr unter folgenden Kautelen: z Entgiftung, z Entwöhnungsperiode und Neuorientierung; z psychotherapeutische Therapieziele: realistisches Krankheitskonzept, Einsicht in das Fehlverhalten und seine Folgen, Umgang mit Risikofaktoren, Neuorientierung; z Kontrolle der Abstinenz mit geeigneten Markern (z. B. bei Alkohol CDT, cGT oder Urinproben beziehungsweise Haaranalysen) in zwei- bis dreimonatigen Abständen; z fakultativ: AA-Gruppe, Drogengruppen, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen. Mit Blick auf das allen Abhängigkeitskrankheiten innewohnende Rückfallrisiko, das auch nach erfolgreicher Behandlung und langfristiger Abstinenz fortbesteht, erscheinen Langzeitkontrollen über die erforderliche einjährige Abstinenzperiode hinaus mit biologischen Markern sinnvoll (Rösler u. Frey 2003 c). Geeignete Marker bei Kontrolle der Alkoholabhängigkeit sind die cGT, das mittlere Erythrozytenvolumen (MCV) und CD-Transferrin. Bei der Kontrolle der Drogenabstinenz eignen sich rechtsmedizinische Haaranalysen und teilweise auch Urinkontrollen. In diesem Kontext ist auf die beachtlichen Rückfallquoten bei behandelten Alkoholikern hinzuweisen. Abstinenzperioden sagen über die Prognose kaum etwas aus (Schuckit et al. 1997). Zwei Drittel der Alkoholabhängigen sind auch nach fünf Jahren noch abhängig und mehr als die Hälfte der Missbrauchenden setzt ihren Missbrauch fort (Schuckit et al. 2001). Andere Daten aus umfangreich angelegten Studien sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Der Median der Zeit bei Alkoholikern nach Behandlung bis
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zu erneutem Alkoholkonsum betrug 150 Tage und bis zu schwerem Trinken 480 Tage (Project Match Research Group 1997). Bei Drogenabhängigen sind die Rückfallrisiken ähnlich einzuschätzen. Besonders ungünstig ist die Prognose bei Opiat-, Halluzinogen- und Amphetaminabhängigkeit (Laux 2001). Nur 30 bis 50% bleiben im ersten Jahr nach Abschluss einer Behandlung abstinent. Es gilt die Regel, dass ein Drittel der Abhängigen geheilt werden kann, ein Drittel kann gebessert werden, ein weiteres Drittel verelendet. Bei allen Abhängigkeitserkrankungen empfiehlt es sich, sorgfältig nach komorbiden Leiden zu suchen. Vor allem Persönlichkeitsstörungen, neurotische Muster, ADHS und Belastungsstörungen sind zu erwarten. Einige dieser Störungen interagieren prognostisch mit der Abhängigkeitskrankheit. Die Kombination Abhängigkeit und dyssoziale Persönlichkeitsstörung ist besonders ungünstig einzuschätzen. Liegt diagnostisch ein schädlicher Gebrauch (ICD-10) oder Missbrauch (DSM-IV) vor, ist dies solange kein Grund für Interventionen, wie der Betreffende jeden Alkohol- oder Drogenkonsum meidet, wenn er als Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnimmt. Wenn Alkoholfahrten mit Überschreitung der Alkoholgrenzwerte bekannt werden, sind die Eignungsvoraussetzungen nicht mehr gegeben. Bei Drogenkonsum, bei dem im Gegensatz zu Alkohol keine Grenzwerte angegeben werden können, genügt der reine Substanznachweis nicht. Erst wenn drogenbedingte, psychopathologische Auffälligkeiten dokumentiert sind, ist der Rückschluss auf einen Ausschluss der Fahrereignungsvoraussetzungen möglich. Im Hinblick auf die sich nun ergebenden Forderungen, die von dem Führerscheinbewerber erfüllt werden müssen, bevor eine Wiederannahme der Eignungsvoraussetzungen in Betracht kommt, wird in den allermeisten Fällen Abstinenz verlangt werden müssen. Diese Bedingung bezieht ihre Rechtfertigung aus den empirisch gesicherten beträchtlichen Unfallrisiken, die bei Alkohol- und Drogenkonsum zu beklagen sind. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Diagnose Missbrauch oft nur ein Durchgangsstadium zur Abhängigkeit darstellt. Der Proband sollte auf eine ambulante Therapie seines Alkohol- und/oder Drogenmissbrauchs verwiesen werden und angehalten werden, je nach den Umständen des einzelnen Falles eine kontrollierte Abstinenz von sechs bis 12 Monaten nachzuweisen. Ziel der psychotherapeutischen Intervention muss es sein, das Verständnis der Störung und ihrer Risiken zu fördern und Einsichten zu generieren, die zu einer Verhaltensänderung hinsichtlich des Konsums führen. Besonders dringlich ist auf die Einhaltung von Abstinenz bei einem Konsummuster zu achten, das Drogen wie Kokain, Heroin, Amphetamine und synthetische Drogen umgreift. Die abhängigkeitsfördernde Potenz dieser Substanzen ist so hoch, dass es nur eine Frage von Wochen oder Monaten ist, bis aus einem Missbrauchenden ein manifest Abhängiger geworden ist. Zentraler Punkt der Begutachtung hinsichtlich der Frage, ob eine Wiederannahme der Fahrerereignung in Betracht kommt, ist die Prognose des zukünftigen Verhaltens. Es wird gefragt, ob der Betreffende neuerlich unter
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Substanzeinfluss fahren wird. Als Gutachter muss man sich darüber klar sein, dass es eine Einzelfallvorhersage dieser Art aus unterschiedlichen Gründen nicht geben kann (Rösler 1997; Blocher et al. 1998). Es ist aber möglich, eine Risikoabschätzung vorzunehmen und Gefährdungspotenziale sowie protektive Gesichtspunkte zu benennen. Neben den krankheitsassoziierten Faktoren von Verlauf, Behandelbarkeit und Schwere der Erkrankung, dem Alter und dem Geschlecht bewährt sich dabei in der Liste der Risiken vor allem das Kriterium früherer Verkehrsauffälligkeiten, insbesondere von Fahrten unter Substanzeinfluss. Auf dem Boden dieser Kriterien kann der Gutachter studienbasierte Basisraten für Rückfälligkeit zusammenstellen, die das Risiko in Form von Wahrscheinlichkeitswerten ausdrücken. In Zusammenhang mit der Erörterung der Prognoseproblematik bei Missbrauch und Abhängigkeit kann auf eine spezifische Situation in der Begutachtung hingewiesen werden. Die Patienten haben ein klares Anliegen: Sie wollen sich vorteilhaft darstellen und hoffen auf eine in ihrem Sinne positive Beurteilung. Unter diesen Kautelen eine ungeschminkte Darlegung der mit Missbrauch und Abhängigkeit einhergehenden Phänomene zu erhalten, ist zwar nicht unmöglich, aber wesentlich eingeschränkt. Dem Gutachter wird meist eine beschränkte Perspektive der psychopathologischen Situation angeboten. Die Exploration muss daher aus einer kritischen Perspektive geführt werden. Eventuelle Unsicherheiten durch eingeschränkte Mitarbeit und undeutliche, eventuell auch widersprüchliche Angaben gehen zu Lasten des Führerscheinbewerbers. Die Voraussetzungen der Fahreignung sind bei psychotischen Störungen im Zusammenhang mit Alkohol und Drogen immer zu verneinen. Derartige Störungen weisen stets auf eine Abhängigkeit als Grundleiden hin, sodass nach Abklingen der psychotischen Erscheinungen unter Therapie nicht automatisch die Wiederannahme der Fahreignungsvoraussetzungen folgt, sondern auf die Beseitigung der Grunderkrankung abgehoben werden muss. Auch beim Korsakow-Syndrom oder bei der Demenz nach Suchtmittelgebrauch sind die Eignungsvoraussetzungen nicht mehr gegeben. In diesen Fällen sind die therapeutischen Aussichten auf eine Ausheilung der Symptomatik gering. Wenn dies tatsächlich gelingen sollte, wäre ebenfalls nach der Therapie der zu Grunde liegenden Abhängigkeitserkrankung zu fragen. Eine ähnliche Situation betrifft die organischen Persönlichkeitsstörungen, kognitive Störungen und affektive Veränderungen, verursacht durch Alkohol und/oder Drogen. Auch bei diesen Leiden steht ausnahmslos eine Abhängigkeitskrankheit im Hintergrund. Eine Wiederannahme der Eignungsvoraussetzungen wäre zu vertreten, wenn die Symptomatik ausreichend remittiert und behandelt ist und die Abhängigkeitserkrankung nach den oben erörterten Maßstäben erfolgreich therapiert wurde.
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6.2.6 Die Fahrereignung bei Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen F20–F25 ICD-10 z schizophrene Erkrankungen z schizotype Störung z anhaltende wahnhafte Störung z akute vorübergehende psychotische Störungen z induzierte wahnhafte Störung z schizoaffektive Störungen z Bedeutung für die Fahreignung Die Schizophrenie ist keine seltene Erkrankung. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 1% (Weyerer u. Lucht 1999). In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass psychosekranke Männer und Frauen ein höheres Unfallrisiko haben als gesunde Kontrollpersonen (Elkema et al. 1970; Edlund et al. 1989). Hingegen konnten Crancer und Quirring (1969) für Schizophrene keine erhöhten Risikoziffern beschreiben. Hinsichtlich der langfristigen Bewährung Schizophrener im Straßenverkehr überrascht, dass zirka 50% der chronisch schizophren Erkrankten weiter am Straßenverkehr teilzunehmen scheinen. Dabei ergaben Untersuchungen der Selbstständigkeit und funktionellen Adaptationsfähigkeit der Schizophrenen, dass diese von produktiven Symptomen weitgehend unabhängig sind. Hingegen wirken sich negative Symptome (Minussymptomatik) ungünstig aus (Palmer et al. 2002). z Beurteilungsgrundsätze Die Voraussetzungen sicheren Führens von Kraftfahrzeugen aller Gruppen sind im Falle von akuten psychotischen Störungen nicht mehr erfüllt. Dabei spielt die nosologische Zuordnung keine Rolle. Schizophrenien, akute polymorphe Psychosen oder schizoaffektive Störungen sind in dieser Frage gleich zu bewerten. Sind Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen, formale Denkstörungen und schwere kognitive Mängel abgeklungen, können in der Regel die Voraussetzungen des sicheren Fahrens von Kraftfahrzeugen der Gruppe I wieder bejaht werden. Schwierigkeiten können bei der Einstufung von psychotischen Erkrankungen mit immer neuen Rezidiven entstehen. Hier wird man besonders darauf achten müssen, ob die Betroffenen ein realistisches Konzept ihrer Erkrankung vertreten und sich in Bezug auf Behandlungswilligkeit und die Einschätzung ihres Zustandes selbstkritisch verhalten können. Ist dies zweifelhaft und deutet der Verlauf auf häufige psychotische Rezidive, wird man die Voraussetzungen zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen eher verneinen müssen. In dem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich Psychosekranke nach ihrer Entlassung aus stationärer
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Behandlung vergleichsweise unauffällig im Straßenverkehr zu bewegen scheinen (Kubitzki u. Lamberti 1993). Abgesehen von günstigen Konstellationen mit völligem Ausheilen der psychopathologischen Veränderungen und langer Rezidivfreiheit können nach Ablauf einer schizophrenen Episode, einer akuten polymorphen oder einer schizoaffektiven Psychose die Eignungsvoraussetzungen für Fahrzeuge der Gruppe II nicht mehr bejaht werden. Viele Patienten mit Schizophrenien oder anderen psychotischen Leiden, bei denen ein Wiederauftretensrisiko besteht, werden heute mit Neuroleptika behandelt. Dadurch kann die Rezidivquote signifikant reduziert werden (Walden 1999). Durch die Einführung der atypischen Neuroleptika wurden die Behandlungsbedingungen deutlich verbessert. Das Risiko von extrapyramidal motorischen Begleitwirkungen (EPS) wurde reduziert und die Negativsymptomatik, die namentlich bei schizophrenen Psychosen zu befürchten ist, kann günstig beeinflusst werden. Bei Patienten, die nicht mit Atypika behandelt werden können und auf klassische Neuroleptika angewiesen sind, muss das Nebenwirkungsprofil sorgfältig beachtet werden, vor allem Art und Ausprägung von EPS und kognitive Einschränkungen sind zu berücksichtigen. Bei erheblichen Nebenwirkungen, die die kognitiven Leistungen alltagsrelevant herabsetzen, und bei klinisch relevanten Bewegungseinschränkungen durch EPS sind die Eignungsvoraussetzungen für alle Kraftfahrzeug Gruppen zu verneinen.
6.2.7 Die Fahrereignung bei affektiven Krankheiten F30–F34 ICD-10 z manische Episode z bipolare affektive Störung z depressive Episode z rezidivierende depressive Störungen z Zyklothymie – Dysthymie z Bedeutung für die Fahrereignung Depressive Störungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in der Bevölkerung. Die Lebenszeitprävalenz wird mit zirka 6% angegeben (Weyerer u. Lucht 1999). Bisher sind keine epidemiologischen Daten verfügbar, die anzeigen würden, dass vom Personenkreis depressiv gestörter Menschen ein generelles erhöhtes Risiko für Fehlverhalten im Straßenverkehr ausgehen könnte. Es gibt Hinweise, dass bei älteren Menschen, die von sich aus auf die Teilnahme am Straßenverkehr als KraftfahrzeugLenker verzichten, in vermehrtem Umfang depressive Symptomatik vorhanden ist (Raglund et al. 2005). Auch scheint eine erhöhte Depressionsneigung bei älteren Personen mit einem erhöhten Unfallrisiko einherzugehen (Sims et al. 2000). Überwiegend beschränken sich die Kenntnisse über po-
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tenzielle Risiken bei Depressionen auf kasuistische Erfahrungen. In erster Linie muss dabei an die kognitiven Einschränkungen gedacht werden, die bei schwer Depressiven fast immer zu beobachten sind. Erhebliche psychomotorische Verlangsamung, stuporöse Phänomene, Hemmung und Einengung des Denkens, aber auch Agitiertheit sind häufige psychopathologische Phänomene, die einer gelungenen Adaptation an die Erfordernisse im Straßenverkehr ebenso im Wege stehen können wie depressive Psychosen, die mit Wahn, Sinnestäuschungen und Ich-Störungen einhergehen können. Eine weitere beachtenswerte Problemlage kann entstehen, wenn im Rahmen einer Depression Suizidalität wirksam wird. In diesem Zusammenhang taucht zwangsläufig die Frage auf, inwieweit diese Patienten ihre suizidalen Handlungsimpulse unter Benutzung eines Kraftfahrzeugs ausleben könnten. Derartige Befürchtungen sind nicht völlig von der Hand zu weisen. In einer amerikanischen Fallkontrollstudie ergab sich, dass junge Erwachsene mit einem vorangegangenen Verkehrsunfall ein zirka dreifach erhöhtes Suizidrisiko boten (Grossman et al. 1993). In einer Untersuchung aus Neuseeland wurde gezeigt, dass Patienten mit suizidalen Vorstellungen aber ohne antidepressive Medikation, ein zirka vierfach erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle mit schweren Verletzungsfolgen haben (Lam et al. 2005). Damit ist zwar nicht bewiesen, dass depressive Patienten generell bei Suizidalität zu Verkehrauffälligkeiten bis hin zum Unfall mit tödlichem Ausgang neigen, indessen muss eine derartige Hypothese besonders dann erwogen werden, wenn fallbezogen Suizidalität festgestellt werden kann und entsprechende Verkehrsauffälligkeiten wie schwer nachvollziehbare Unfallereignisse dokumentiert sind. Für die Beurteilung von Bedeutung ist unter prognostischen Gesichtspunkten, dass depressive Störungen pharmakologisch im Verbund mit psychotherapeutischen Maßnahmen gut behandelt werden können. Die Responderquoten für Antidepressiva werden mit bis zu 70% angegeben. Neuere Antidepressiva sind offensichtlich auch weniger mit Nebenwirkungen belastet, die sich negativ auf die Kognition auswirken. Laux (2002) hat in dem Zusammenhang hervorgehoben, dass die Fahrtauglichkeit eines antidepressiv behandelten remittierten Patienten stets besser einzuschätzen ist als die eines unbehandelten Depressiven. Sind von den depressiven Erkrankungen Frauen häufiger betroffen, so ändert sich die Geschlechterbelastung bei Manien. Hier dominiert das männliche Geschlecht. Auch im Falle der Manien, deren Lebenszeitprävalenz in der Bevölkerung mit zirka 0,8% angegeben wird (Weyerer u. Lucht 1999), mangelt es an systematischen epidemiologischen Daten hinsichtlich deren Belastung mit Risiken im Straßenverkehr. Die klinische Erfahrung lehrt, dass manische Syndrome hinsichtlich ihres Potenzials, Fehlverhalten im Straßenverkehr zu begründen, eher unterschätzt werden. Die manische Grandiosität, die vielfach zu beobachtende Reizbarkeit und Explosivität, die völlige Überschätzung der eigenen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Risiken zu erkennen und zu würdigen und der ständige Handlungsdrang prädestinieren geradezu für Auffälligkeiten im Straßenverkehr.
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Unter prognostischen Abwägungen ist einerseits zu bedenken, dass manische Episoden meist folgenlos abheilen und andererseits pharmakologische Therapien bereitstehen, die sowohl in der akuten Manie als auch in der Rezidivprophylaxe hohe Effektivität bewiesen haben, ohne dass seitens der Begleitwirkungen unkalkulierbare Risiken in Kauf genommen werden müssten. z Beurteilungsrahmen Personen, die an akuten Manien, akuten schweren Depressionen mit oder ohne Psychose leiden, erfüllen die Fahreignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge aller Gruppen nicht mehr. Dies gilt auch für Depressionen mit offenkundiger Suizidalität. Nach Abklingen der manischen oder depressiven Episode, die mehrere Monate anhalten kann, sind in der Regel keine Bedenken hinsichtlich der Fahreignungsgegebenheiten mehr begründbar. Nach mehreren manischen und/oder depressiven Episoden können die Fahreignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Gruppe II nicht mehr bejaht werden. Im Falle der Kraftfahrzeuge der Gruppe I bleibt nach mehreren depressiven und/oder manischen Episoden die Fahreignungsprognose ungünstig, wenn keine Symptomfreiheit vorliegt und die vorhandenen therapeutischen und rezidivprophylaktischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. Hingegen können die Eignungsvoraussetzungen auch nach wiederholten manischen und/oder depressiven Episoden bejaht werden, wenn eine ausreichende Symptomreduktion erzielt wurde und eine kontinuierliche fachärztliche Behandlung mit Rezidivprophylaxe gesichert ist. Diese Bedingungen werden vor allem von Patienten mit vernünftigem Krankheitskonzept, Behandlungswilligkeit und Einsicht in die Risiken ihres Leidens erfüllt.
6.2.8 Die Fahrereignung bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen F z z z z z z z
40–48 ICD-10 Phobien Angststörungen Zwangsstörungen Reaktionen auf Belastungen dissoziative Störungen somatoforme Störungen Neurasthenie
z Bedeutung für die Fahrereignung Neurotische Störungsbilder kommen häufig vor. Die Lebenszeitprävalenz für Phobien wird mit 14%, für generalisierte Angststörungen mit 8 bis 9% angegeben. Bei Zwangssyndromen werden zirka 2,5% und bei Panikatta-
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cken 1,6% veranschlagt. Die Lebenszeitprävalenz für Neurosen als Gesamtgruppe liegt im Median verschiedener Studien bei 9,4% (Weyerer u. Lucht 1999). Die Bedeutung für Fehlverhalten im Straßenverkehr und für die Unfallstatistik ist weitgehend ungeklärt. In älteren Untersuchungen wurde unter dem diagnostisch vieldeutigen Terminus Psychoneurose eine Risikoerhöhung für Verkehrsunfälle angedeutet (Crancer u. Quirring 1969). Blickt man auf spezielle Störungen, ist es gerechtfertigt, in erster Linie bei Panikattacken von ungünstigen Umständen zu sprechen, die sich negativ auf die Fähigkeiten des Kraftfahrers auswirken können. Der unvorhersehbare Charakter dieser akuten und bisweilen ziemlich dramatischen Störung muss als ungünstig bezeichnet werden. Ähnliche Argumente lassen sich bei Kraftfahrern formulieren, die an einer spezifischen Phobie leiden, deren Thematik mit Alltagssituationen im Straßenverkehr interferiert. Dies wäre der Fall, wenn ein an Höhenangst leidender Proband nicht in der Lage ist, eine Brücke mit dem Fahrzeug zu überqueren. Bei schweren akuten Belastungsreaktionen unmittelbar nach einer Traumatisierung ist zweifelhaft, ob die verfügbaren kognitiven Mittel, Übersicht, Konzentration, Urteilskraft und die emotionale Belastbarkeit ausreichen, um problemlos den Anforderungen im Straßenverkehr zu genügen. Bei der posttraumatischen Belastungsstörung vermeiden Kraftfahrer vielfach die Teilnahme am Straßenverkehr, wenn die Ursache für die Traumatisierung in Unfallereignissen des Straßenverkehrs zu suchen ist. Können Betroffene das Fahren von Kraftfahrzeugen nicht vermeiden, berichten sie vielfach von Unsicherheit, Unruhe und Angstgefühlen oder vegetativen Reaktionen. Derartige Phänomene wirken sich auf das Eignungsprofil des Fahrers ungünstig aus. Ähnliche Klagen hört man von Patienten, die an somatoformen oder neurasthenischen Syndromen leiden. Die Patienten berichten, dass ihnen die Belastungen des Straßenverkehrs unangenehm sind und sie das Führen von Kraftfahrzeugen vermeiden, wenn dies möglich ist. Die Symptomverbände aus dem Bereich der dissoziativen Störungen sind vielfach dramatisch und man kann sich leicht vorstellen, dass Personen, die z. B. an einer psychogenen Blindheit oder an psychogenen Anfällen leiden, bei der Teilnahme am Straßenverkehr in schwierige Situationen geraten müssen. Indessen gehört es zur typischen Konfiguration dieser Leiden, dass die in Rede stehenden Symptome bei denjenigen, die am Straßenverkehr teilnehmen, während dieser Aktivität nicht auftreten. Jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise, dass Personen mit dissoziativen Störungen besondere Risikoträger wären. z Beurteilungsrahmen Die FeV und die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (BAST 2000) sehen für neurotische Störungen keine expliziten Bewertungsregeln vor. Dies ist insofern nicht zu beanstanden, als sich unter Berücksichtigung
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der Häufigkeit derartiger Störungen keine generellen Risiken belegen lassen, die als Begründung für restriktive Eingriffe benannt werden könnten. Allgemeine Eignungsbedenken sind daher ungerechtfertigt. In der Begutachtung muss die Risikoeinschätzung, wenn es zu schwerwiegenden Auffälligkeiten im Straßenverkehr gekommen ist, von den individuell ersichtlichen Risiken abhängig gemacht werden. Patienten nach einer akuten Traumatisierung im Sinne der akuten Belastungsreaktion muss davon abgeraten werden, ein Kraftfahrzeug zu führen. Dies gilt auch für Personen mit generalisierter Angsterkrankung, Panikattacken und speziellen Phobien mit Bezug zum Straßenverkehr. In diesen Fällen sollen die Patienten auf die entsprechenden psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten hingewiesen werden, die zu signifikanten Symptomreduzierungen führen können. Die Beurteilungsleitlinien der australischen Behörden (Austroads 2003) führen in dem gegebenen Kontext aus, dass Personen, die unter erheblichem Stress und Angst leiden, vor deren ungünstigen Auswirkungen im Straßenverkehr gewarnt werden sollten. Bei den hier beschriebenen Krankheitsbildern muss stets sorgfältig die Frage einer psychopharmakologischen Behandlung überprüft werden. Gerade diese Patienten tendieren zum Konsum von Anxiolytika, deren ungünstige Auswirkungen unten beschrieben werden.
6.2.9 Fahrereignung bei Persönlichkeitsstörungen F60, F61, F63 ICD-10 z spezifische Persönlichkeitsstörungen z kombinierte Persönlichkeitsstörungen z Störungen der Impulskontrolle z Bedeutung für die Fahrereignung Persönlichkeitsstörungen kommen in der Bevölkerung häufig vor. Der Median der Lebenszeitprävalenz, berechnet aus 20 Studien, wurde mit zirka 5% angegeben. Die Lebenszeitprävalenz für die dyssoziale Persönlichkeitsstörungen wurde mit 2,6% berichtet (Weyerer u. Lucht 1999). Störungen des Sozialverhaltens in der Kindheit, die vielfach im Erwachsenenalter in dyssoziale Persönlichkeitsstörungen übergehen, prädiktieren späteres illegales und auch gewalttätiges Verhalten. Dazu gehören immer auch nachhaltige Verletzungen verkehrsrechtlicher Bestimmungen (Farrington u. West 1990; Shepherd et al. 2004). In einer Fallkontrollstudie konnte gezeigt werden, dass unter aggressiven Fahrern signifikant mehr Personen mit dyssozialer Persönlichkeitsstörung vorkommen (Galovski et al. 2002). Gerade unter jungen Kraftfahrern scheint das Vorkommen von verkehrsrechtlichen Übertretungen und Unfallereignissen in Zusammenhang mit dyssozialen Persönlichkeitseigenschaften zu stehen (Meadows et al. 1998). Querverbin-
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dungen via Komorbidität bestehen zu Kraftfahrern mit Alkoholproblemen (Tomasson u. Valgum 1998). Neben der dyssozialen Persönlichkeitsstörung werden unter aggressiven Kraftfahrern auch vermehrt Borderline-Persönlichkeitsstörungen und intermittierend explosive Störungen gefunden (Galovski et al. 2002). z Beurteilungsrahmen Die FeV, die Begutachtungsleitlinien (BAST 2000) und der Kommentar (Schubert et al. 2005) erwähnen die diagnostische Gruppierung der Persönlichkeitsstörungen nicht. Es gibt allerdings die Möglichkeit, Personen, die Straftaten begangen haben, wenn diese im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr standen und auf ein hohes Aggressionspotenzial mit bedenkenloser Durchsetzung der eigenen Interessen schließen lassen, auf ihre Eignungsvoraussetzungen untersuchen zu lassen. Wer Straftaten der vorgenannten Art verübt hat, ist gemäß § 2 Abs. 4 StVG zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Gruppen ungeeignet. Auch die Möglichkeit Personen, die wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben, wegen Eignungsbedenken auszuschließen, hat eine gewisse Nähe zu der hier beschrieben Problematik. Deswegen ist es besonders wichtig zu unterstreichen, dass es in dem hier gegebenen verkehrsmedizinischen Kontext nicht schlechthin um wiederholte Straftaten oder Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften geht, sondern um die Folgen der psychiatrischen Diagnosen aus dem Kapitel der Persönlichkeitsstörungen. In den Richtlinien für die medizinische Beurteilung der Fahrereignungsvoraussetzungen für Kanada wird ausdrücklich auf die dyssoziale Persönlichkeitsstörung als eine Hochrisikogruppe hingewiesen und empfohlen, die Eignungsvoraussetzungen nie ohne sorgfältige Überlegungen zu bescheinigen (CMA 2007). Auch in den australischen Standards wird die Problematik der Persönlichkeitsstörung und ihrer Beurteilung ausdrücklich erwähnt (Austroads 2003). Als Adressaten einer Expertise zu den Fahrereignungsvoraussetzungen kommen in erster Linie Personen mit dyssozialer, aber auch anderer Persönlichkeitsstörungen in Betracht, die in ihrem Verhalten im Straßenverkehr, der allgemeinen Legalbewährung und den persönlichen Lebensumständen konstant verantwortungslos handeln, ihre eigenen Interessen rücksichtslos ausleben und nicht vor Anwendung von Gewalt zurückschrecken. Wichtig ist dabei zusätzlich der Gesichtspunkt, dass die meisten Dyssozialen im Laufe ihres Lebens für ihr Verhalten wiederholt sanktioniert wurden, indessen daraus keine Änderungen im Verhalten entstanden. Besonders prägnant lässt sich die Gruppe mit dem Konstrukt der „psychopathy“ (Hare 1991, Hare u. Hart 1993) beschreiben. Dieses Konzept ist nahezu deckungsgleich mit der infantil egozentrischen Psychopathie, die Luthe (1988) in unserem Sprachraum beschrieben hat. Dieser Personenkreis muss unter Einschluss aller relevanten biografischen und psychopathologischen Gesichtspunkte untersucht werden. Eine generelle Beurtei-
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lungsregel, die für alle Fälle stimmig sein kann, ist dabei nicht in Sicht. Beim Vollbild der dyssozialen Persönlichkeitsstörung, vergesellschaftet mit der Kernsymptomatik nach Hare (1991), werden die Fahrereignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Gruppe II zu verneinen sein, in besonders prägnanten Fällen auch für die Kraftfahrzeuge der Gruppe I. An eine Wiederherstellung der Eignungsvoraussetzungen kann gedacht werden, wenn es sich um jene Form der dyssozialen Persönlichkeitsstörung handelt, die auf das Jugendlichen- und junge Erwachsenenalter beschränkt bleibt. Bei zirka 20% der Betroffenen handelt es sich bei der dyssozialen Symptomatik um ein auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränktes Phänomen mit Rückbildungstendenz. Bei diesem Personenkreis können psychotherapeutisch/rehabilitative Hilfen hilfreich sein. Ist die psychopathische Symptomatik zurückgebildet und besteht seitens des Betroffenen ausreichendes Verständnis für die Problematik mit Einsicht in notwenige Veränderungen sowie Bereitschaft, in einer langfristigen therapeutischen Bindung zu arbeiten, können die Eignungsvoraussetzungen für der Gruppe I wieder angenommen werden. Unter besonders günstigen Bedingungen, wenn die dyssoziale Problematik Jahre zurückliegt, kommen auch Kraftfahrzeuge der Gruppe II in Frage. Beim überwiegenden Teil der dyssozialen Persönlichkeitsstörungen sind die langfristigen Erwartungen bezüglich verschiedener Zielparameter wie Legalbewährung, Psychopathologie, dyssoziale Problematik, persönliche Bindungen, Alltagsbewährung etc. leider ungünstig. Bei emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen ist die Prognose im Allgemeinen günstiger einzuschätzen als bei dyssozialen Persönlichkeitsstörungen. Für diese Gruppe sind ausgearbeitete, manualisierte Therapieprogramme (z. B. Linehan VT) verfügbar, die beachtliche therapeutische Ergebnisse erbringen können.
6.2.10 Fahrereignung bei Intelligenzminderungen F70–ICD-10 z leichte Intelligenzminderung z Bedeutung für die Fahrereignung Es leuchtet unmittelbar ein, dass Personen, die an relevanten Einschränkungen der Intelligenzfunktion leiden, den Anforderungen des modernen Straßenverkehrs kaum gerecht werden können. Allerdings sind keine empirischen Daten verfügbar, die das Risiko, das der in Rede stehende Personenkreis verursacht, näher spezifizieren könnten. Wahrscheinlich spielen für die tatsächlichen Risiken neben den intellektuellen Defiziten im engeren Sinne noch weitere Aspekte eine Rolle, besonders die Fähigkeit, Alltagsaufgaben gerecht zu werden, weitgehend autonom Entscheidungen zu treffen und persönliche Prioritäten zu setzen. Selbstkri-
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tik, wie die Fähigkeit, Defizite zu erkennen und zu kommentieren oder Gefahren in ihrer Wertigkeit zu begreifen, sind weitere wichtige Aspekte, die neben den intellektuellen Funktionen im engeren Sinne zu den Risiken im Verkehrsverhalten beitragen. Daneben sind die vielfach zusätzlich vorhandenen Sozialverhaltensstörungen zu bedenken, die sich ungünstig auf das Verkehrsverhalten auswirken können. Ein Beispiel dafür wären heitere, umtriebige, distanzlose Patienten, die ihre Fähigkeiten nicht annähernd realistisch bewerten können. z Beurteilungsrahmen Nach der FeV und den Begutachtungsleitlinien (BAST 2000) sind Personen, die in ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sind, in der Regel nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen. Es wird ein Intelligenzquotient von mindestens 70 für Führer von Kraftfahrzeugen nach Gruppe I gefordert. Dieser Grenzwert entspricht dem Eingangsbereich der Definition der leichten intellektuellen Behinderung nach der ICD-10. Für Bus- und Taxifahrer wird ein IQ von mindestens 85 gefordert. Es empfiehlt sich, stets neben den neuropsychologischen Testverfahren auch Aspekte der sozialen Intelligenz und spezieller Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Risikobewusstsein, Impulsivität etc.) mit in die Betrachtung einzubeziehen. Ist die Entscheidung zweifelhaft, wird empfohlen eine Fahrprobe vornehmen zu lassen. Die hier erläuterten in der Entwicklung vorgegebenen Intelligenzminderungen sind chronische Verfassungen, für die bisher keine kurative Therapie gefunden werden konnte. Obwohl es gelingt, intelligenzgeminderte Personen anzuleiten, mit ihren Defiziten umzugehen oder ihre Alltagskompetenzen zu bessern, ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die Fahreignungsvoraussetzungen positiv beurteilt werden können, selbst wenn derartige edukativen und pädagogischen Maßnahmen mit Erfolg durchgeführt wurden.
6.2.11 Die Fahrereignungsvoraussetzungen bei Entwicklungsstörungen F80–F84 ICD-10 z Störungen der Sprachentwicklung z Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten z Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen z kombinierte Entwicklungsstörungen z tiefgreifende Entwicklungsstörungen – Autismus, Asperger-Syndrom z Bedeutung für die Fahrereignung Empirisches Material zur Frage der verkehrwissenschaftlichen Bedeutung von umschriebenen und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen ist nicht
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verfügbar. Die Erkenntnisse stützen sich daher auf kasuistische Kenntnisse und Expertenerfahrungen. Bei den umschriebenen Entwicklungsstörungen ist die Symptomatik im Erwachsenenalter normalerweise so gering, dass sich kaum jemals Bedenken hinsichtlich des sicheren Führens von Kraftfahrzeugen ergeben, wenn keine zusätzlichen komorbiden Störungen vorhanden sind. Personen mit frühkindlichem Autismus wachsen üblicherweise in beschützter Umgebung auf, in der sie auch in ihrem Erwachsenenleben verbleiben. Nur eine Minderheit von zirka 10 bis 15% kann selbstständig leben. Um eine Fahrerlaubnis bemühen sich Autisten normalerweise nicht. Anders verhält es sich beim Asperger-Syndrom. Viele können selbstständig leben, einen Beruf ausüben und ein Familienleben führen, auch wenn sie in der sozialen Kommunikation Probleme haben. Diese Menschen nehmen am Straßenverkehr als Kraftfahrer teil. Ob sie erhöhte Risikoziffern für Unfälle oder Verkehrverfehlungen bieten, kann nach der unzureichenden Datenlage nicht entschieden werden. z Beurteilungsrahmen Weder die umschriebenen noch die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen werden in der FeV, den Begutachtungsleitlinien oder in deren Kommentar erwähnt. Man kann dies als einen Hinweis darauf gelten lassen, dass die Verkehrsexperten diesen Personenkreis nicht als erstrangige Kandidaten für Sicherheitsrisiken im Straßenverkehr ansehen. In den kanadischen und US-Richtlinien (CMA 2007; Dobbs 2000) werden Entwicklungsstörungen allerdings erwähnt. In individuellen Zweifelsfällen wird eine Fahrprobe empfohlen oder eine neuropsychologische Testung angeregt. Aus hiesiger Sicht können bei isoliert auftretenden umschriebenen Entwicklungsstörungen bei normaler Intelligenz keine grundsätzlichen Zweifel an den Eignungsvoraussetzungen angemeldet werden. Beim frühkindlichen Autismus verhält es sich anders. Hier überwiegen in der Mehrzahl der Fälle schwere psychopathologische Störungsmuster mit allgemeiner Entwicklungsretardierung. Zusätzlich besteht bei drei Vierteln der Fälle eine Intelligenzminderung. In dieser Konstellation sind die Eignungsvoraussetzungen für alle Kraftfahrzeug-Gruppen auszuschließen. Beim Asperger-Syndrom ohne Intelligenzminderung und Entwicklungsdefizit schließt allein der Umstand, dass die Diagnose gestellt wurde, die Fahreignungsvoraussetzungen nicht von vorneherein aus. Allerdings bedarf es bei entsprechenden Verkehrsauffälligkeiten einer eingehenden individuellen Untersuchung, um die vorhandene Symptomatik zu klären. Dabei kommt es nicht nur auf die Störungen im Sozialverständnis, der interindividuellen Kommunikation und die Handlungsstereotypien an, sondern auch auf neuropsychologische Aspekte. Zu fragen ist, ob bei der bekannten Hinwendung zu Partialaspekten des Erlebens noch ein ausreichender Gesamtzusammenhang bei Teilnahme am Straßenverkehr hergestellt werden kann. Es interessieren ferner exekutive Funktionen, die bei der raschen
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Entscheidungsfindung im Straßenverkehr benötigt werden. Kommt die neuropsychologische Evaluation hier zu keinen ausreichenden Ergebnissen, könnte auch eine Fahrprobe empfohlen werden. Bei günstigen Ergebnissen kommt die Bestätigung der Eignungsvoraussetzungen für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe I in Betracht.
6.2.12 Die Fahrereignung bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) F90 ICD-10 z einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung z hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens z Bedeutung für die Fahrereignung ADHS-Betroffene haben eine Vielzahl von sozialen Problemen. Die sozialen Schwierigkeiten beginnen bereits im Kindergarten- und Grundschulalter. Jugendliche haben ein massiv erhöhtes Risiko für schwere Unfallereignisse in Schule, Beruf, zu Hause, in der Freizeit und im Straßenverkehr (Grützmacher 2001). Das erhöhte Risiko für Verkehrsunfälle von ADHS-Betroffenen ist seit 20 Jahren bekannt (Hechtman et al. 1984). In prospektiven Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass erhebliche Aufmerksamkeitsprobleme in der Jugend ein Prädiktor für Verstöße gegen Verkehrsvorschriften im jungen Erwachsenenalter sind (Woodward et al. 2000). In einer Fallkontrollstudie fanden Barkley et al. (2002), dass ADHS-Betroffene zwischen 17 und 28 Jahren im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen erheblich mehr Probleme im Straßenverkehr haben, wobei sie namentlich durch Geschwindigkeitsüberschreitungen, Unfälle und Führerscheinentzug auffielen. Dabei ergab sich, dass die Verkehrproblematik nicht durch komorbide Leiden wie Störungen des Sozialverhaltens, Depression, Angst oder Substanzmissbrauch, sondern durch die ADHS selbst ausgelöst wurde. Zahlreiche Studien belegen, dass gerade junge Erwachsene mit ADHS nicht nur häufig durch Geschwindigkeitsüberschreitungen auffallen, sondern auch durch wiederholte und schwere Unfälle, für die sie die Schuld tragen (Barkley 2004). Derartige Befunde sind auch in einer Studie in Deutschland erhoben worden (Beck et al. 1997). Es wird zunehmend die Meinung vertreten, dass die Störungen der exekutiven Funktionen, die sich auf verschiedenen Ebenen bei ADHS-Betroffenen nachweisen lassen, mit den operationalen, taktischen und strategischen Anforderungen im Straßenverkehr interferieren (Barkley 2004). ADHS-Betroffene tendieren dazu, ihre Leistungsfähigkeit im Straßenverkehr zu überschätzen (Knouse et al. 2005). Aktuelle Untersuchungen am Fahrsimulator bei jungen Menschen zeigen in Übereinstimmung mit früheren Studien, dass Methylphenidat in üblicher Tagesdosis die Leistungen am Fahrsimulator signifikant verbessert (Cox et al. 2000, 2005).
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z Beurteilungsrahmen Die ADHS als Krankheitsbild wird weder in der FeV noch in den Begutachtungsleitlinien oder deren Kommentar erwähnt. Dies hängt teilweise mit dem Umstand zusammen, dass die ADHS irrtümlich für eine Störung gehalten wurde, die im Adoleszentenalter ausheilt. Infolgedessen gibt es keine etablierten Beurteilungsregeln. Nach diesseitiger Einschätzung ist mit der Diagnose ADHS kein genereller Zweifel an der Fahreignung begründbar. Erst wenn augenfällige und gehäufte Verstöße gegen Verkehrsvorschriften vorliegen, kann in der individuellen Untersuchung geklärt werden, in welcher Weise die registrierten Verkehrsvergehen mit den potenziellen Defiziten der ADHS interagieren. Dies ist wegen der fast immer bestehenden zusätzlichen komorbiden Leiden eine ausgesprochen komplexe Aufgabe. Bei ungünstigen Konstellationen können die Eignungsvoraussetzungen für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen I und II fehlen. Geht es um die Frage der Wiederannahme der Eignungsvoraussetzungen, wird man besonders für Omnibusfahrer und für den Bereich der Fahrgastbeförderung einen höheren Maßstab anlegen müssen. Zu fordern ist unter diesen Bedingungen eine kontinuierliche Therapie, wobei multimodale Therapieformen zu bevorzugen sind. Zentraler Bestandteil der multimodalen Therapie ist die pharmakologische Behandlung, die derzeit in unserem Land im Gegensatz zu den USA, Kanada und anderen Staaten deswegen auf Schwierigkeiten stößt, weil lediglich die Substanz Atomoxetin bei Erwachsenen eine eingeschränkte Zulassung besitzt, während andere gut wirksame Präparate wie Stimulanzien nur im Off-label Gebrauch verschrieben werden können. In jedem Fall empfiehlt es sich in der ärztlichen Praxis, die mit einer ADHS belasteten Patienten über die speziellen Probleme im Straßenverkehr zu informieren und geeignete Strategien zu besprechen, die das Risiko vermindern können.
6.2.13 Behandlung mit psychoaktiven Medikamenten Die Frage der Fahrereignungsvoraussetzungen bei psychisch Kranken, die mit Medikamenten behandelt werden, bewegt sich in einem schwer auflösbaren Spannungsfeld. Auf der einen Seite liegt eine Erkrankung mit Defiziten und Behinderungen vor, die die Eignungsvoraussetzungen gefährdet, auf der anderen Seite muss bei einer Reihe von Psychopharmaka, durch deren bessernde Wirkungen die Frage der Wiederannahme der Fahrereignung überhaupt erst begründet werden kann, damit gerechnet werden, dass unerwünschte Begleitwirkungen mit Auswirkungen auf die Vigilanz, Konzentration, das psychomotorische Tempo, kognitive Funktionen, Affektivität und Antriebssituation, Blutdruck und vegetative Regulationen auftreten, die ihrerseits Zweifel an der Eignung begründen können (§ 14, Anlage 4, FeV). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Beeinträchtigungen durch Medikamente nicht nur durch deren pharmakologische Wirkungen,
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sondern auch durch Psychopathologie, Akuität und Verlauf der Erkrankung, Alter sowie durch individuelle Dispositionen und Risiken bestimmt werden. In dem hier gegebenen Rahmen ist es nicht möglich, alle Pharmaka mit Wirkungen am zentralen Nervensystem zu besprechen. Da es Hunderte von zugelassenen Präparaten gibt, können hier nur die globalen Präparateklassen mit den am häufigsten verordneten Einzelsubstanzen erwähnt werden. Im Übrigen ist auf die gängigen Lehrbücher der Psychopharmakologie zu verweisen (Schatzberg u. Nemeroff 1998; Riederer et al. 1998, 1999, 2002; Benkert u. Hippius 2003), denen die nachfolgend berichteten pharmakologischen Fakten entnommen wurden. In erster Linie wird auf die Frage zentralnervöser Begleitwirkungen der Psychopharmakatherapie eingegangen. Folgende Substanzen stehen dabei auf dem Prüfstand: z Antidepressiva z Neuroleptika z Stimmungsstabilisatoren z Anxiolytika und Hypnotika z Stimulanzien und Anti-ADHS Therapeutika z Opiatersatzbehandlung z Antidepressiva Es handelt sich um häufig verordnete Pharmaka, die nicht nur bei depressiven Störungen, sondern auch bei Angsterkrankungen, neurotischen Syndromen, Schlafstörungen, im Rahmen der Schmerzbehandlung und in zahlreichen weiteren Indikationen gerne eingesetzt werden. In einer Reihe von Untersuchungen konnte die Arbeitsgruppe von Laux zeigen, dass vor allem die älteren trizyklischen Antidepressiva (TCA), die aus Kostengründen immer noch häufig verordnet werden, zu erheblichen Einschränkungen kognitiver und psychomotorischer Funktionen führen können (Grabe et al. 1999; Laux u. Herberg 2001). Daneben sind anticholinerge und sedierende Eigenschaften in Rechnung zu stellen. Ältere Menschen sind besonders empfänglich für Nebenwirkungen. Auf Akkomodationsstörungen, kardiotoxische Erscheinungen und die delirogene Potenz der TCA ist zu achten (Laux 2003). Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) sind vor allem durch gastrointestinale Nebenwirkungen belastet, daneben findet man Unruhe und Schlafstörungen. Die kognitiven Leistungen unter SSRI sind im Vergleich zu TCA weniger beeinträchtigt (Gartenmeyer et al. 1999). Allerdings können extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen auftreten.
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Weitere unerwünschte Begleitwirkungen am Behandlungsbeginn bei neueren Substanzen sind: z Unruhe, Nervosität und Agitation bei – reversiblen selektiven MAO-Inhibitoren (z. B. Moclobemid) – Noradrenalinwiederaufnahmehemmern (z. B. Reboxetin) – Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (z. B. Venlafaxin) z Sedierung bei – indirekten noradrenergen und serotonergen Agonisten, H1- und 5HT2-Antagonisten (z. B. Mirtazapin) – Serotoninwiederaufnahmehemmer und Antagonisten der postsynaptischen 5HT2a-Rezeptoren (z. B. Nefazodon). Insgesamt können neuere Antidepressiva hinsichtlich ihrer Risiken als weniger problematisch eingeschätzt werden als TCA (Soyka et al. 1998; Bonnet 2002). Ihnen müsste man, wenn alleine Aspekte der Fahrereignung zu berücksichtigen wären, den Vorzug vor den TCA einräumen. Es empfiehlt sich immer, die Patienten über die wesentlichen Nebenwirkungen und ihr Risikopotenzial aufzuklären. In der initialen Titrationsphase der antidepressiven Therapie empfiehlt es sich, auf eine Teilnahme am Straßenverkehr als Kraftfahrzeug-Lenker zu verzichten. Generelle Eignungszweifel sind bei Patienten, die sich in einer stabilen psychopathologischen Verfassung befinden und die mit Antidepressiva therapiert werden, nicht zu bestätigen, wenn der Behandlungsverlauf gezeigt hat, dass die Behandlung vom Patienten ohne alltagsrelevante Einschränkung in den kognitiven und psychomotorischen Funktionen vertragen wird und keine sonstigen beurteilungsrelevanten Störungen (z. B. kardialer Art) auftreten. z Neuroleptika Neuroleptika werden bei Schizophrenien und verwandten psychotischen Krankheiten, bei Manie, bei wahnhaften Depressionen und bei organischen psychischen Störungen eingesetzt. Auch in der Schmerztherapie und bei anderen Spezialindikationen (Benkert u. Hippius 2003) haben sie ihren Stellenwert. Zum Spektrum der potenziellen unerwünschten Begleitwirkungen der Neuroleptika gehören extrapyramidalmotorische Störungen, Krampfanfälle, Delir, hypotone Kreislaufregulation, Sedierung, Depression, Herzrhythmusstörungen, anticholinerge Symptome, Blutbildveränderungen, Hyperprolaktinämie, sexuelle Störungen, dermatologische und ophthalmologische Veränderungen und Störungen des Glukosestoffwechsels (Möller et al. 2000). Das Nebenwirkungsprofil der so genannten atypischen Neuroleptika wird in Bezug auf Vigilanz und Psychomotorik günstiger eingeschätzt als bei klassischen Substanzen (Kern et al. 1998). In einer Studie mit schizo-
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phrenen und schizoaffektiven Patienten, die zum Zeitpunkt ihrer Klinikentlassung neuropsychologisch evaluiert wurden, ergaben sich bei einer mit Haloperidol behandelten Patientengruppe deutlich schlechtere psychomotorische Leistungen als bei Patienten, die mit den Atypika Amisulprid, Clozapin, Olanzapin, Ziprasidon, Quetiapin und Risperdal behandelt worden waren. Während in der Atypikagruppe 24% der Betroffenen ohne wesentliche Fehlleistungen blieben und als fahrtauglich eingestuft wurden, lag der Referenzwert in der Haloperidolgruppe bei fünf Prozent (Kagerer et al. 2003). In einer ähnlich angelegten Studie wurde festgestellt, dass nach neuropsychologischen Tests, die am Entlassungstermin durchgeführt wurden, die psychomotorischen Leistungen von schizophrenen Patienten, die mit Haloperidol oder Risperdal behandelt wurden, deutlich schlechter ausfielen als bei Gesunden. Allerdings zeigten die mit dem Atypikum Risperdal therapierten Patienten ein signifikant besseres Leistungsbild als Patienten mit Haloperidol (Soyka et al. 2005). Im Hinblick auf die Überschneidungen, die sich mit dem psychopatholgischen Bild der zu behandelnden Schizophrenie ergeben, kann es im Einzelfall ausgesprochen schwierig sein, medikamentöse Nebenwirkungen von primären Defizitsymptomen der psychischen Krankheit zu differenzieren. In vielen Fällen ist die durch den Morbus bedingte Psychopathologie entscheidender als die Nebenwirkungen des Pharmakons. Trotzdem zeichnet sich immer klarer ab, dass aus der Perspektive der Fahrereignungsvoraussetzungen die atypischen Neuroleptika weniger als die klassischen Substanzen zu Bedenken führen müssen. In jedem Fall ist es erforderlich, die Patienten über mögliche Nebenwirkungen und ihre Folgen beim Führen von Kraftfahrzeugen aufzuklären. Dies sollte in geeigneter Form in der Krankengeschichte dokumentiert werden. Weil beim Behandlungsbeginn mit der Aufdosierung des jeweiligen Pharmakons die höchste Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung unerwünschter Begleitwirkungen besteht, sollte den Patienten unbeschadet der Psychopathologie ihrer Grunderkrankung empfohlen werden, in den ersten zwei Wochen nicht zu fahren. Bei Patienten unter neuroleptischer Dauermedikation sollten die fahreignungsrelevanten kognitiven, psychomotorischen und neurologischen Grundparameter in regelmäßigen Abständen geprüft werden. Allein der Umstand einer auf Dauer angelegten Neuroleptikatherapie kann Zweifel an der Fahrereignung nicht hinreichend begründen. Aber es gibt sicher Fälle, in denen erhebliche psychomotorische und kognitive Einbußen vorhanden sind, die die Fahrereignungsvoraussetzungen solange ausschließen, bis die Störungen in ausreichender Weise beseitigt sind. Unter Berücksichtigung des meist schizophrenen Grundleidens kommt in diesem Falle die Wiederannahme der Eignungsvoraussetzungen für Kraftfahrzeuge der Gruppe I in Betracht.
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z Stimmungsstabilisatoren Die Stimmungsstabilisatoren Lithium, Carbamazepin und Valproat werden meistens in der Rezidivprophylaxe manischer, bipolarer oder schizoaffektiver Krankheiten eingesetzt. Lithium hat eine geringe therapeutische Breite, weshalb regelmäßige Blutspiegelbestimmungen erforderlich sind. Häufige Nebenwirkungen sind Sedierung, Tremor, Schwindel, Polydipsie, Polyurie, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Diarrhö und reversible EKG-Veränderungen. Als Zeichen der Lithiumüberdosierung treten initial psychomotorische Verlangsamung, Schläfrigkeit, Dysarthrie und Ataxie auf. Kognitive Störungen können längere Zeit bestehen (Benkert u. Hippius 2003). Lithium hat mit verschiedenen anderen Medikamenten ein Interaktionspotenzial und muss deswegen einem sorgfältigen Monitoring unterzogen werden. Vor kurzer Zeit wurde eine kanadische Untersuchung publiziert, aus der sich ein zweifach erhöhtes Unfallrisiko für mit Lithium behandelte ältere Menschen zu ergeben schien (Etminan et al. 2004). Wegen offensichtlicher methodischer Unzulänglichkeiten wurde das Studienergebnis heftig kritisiert und weniger als Lithiumeffekt, sondern als ein Ergebnis der die Behandlung legitimierenden psychischen Krankheiten angesehen (Dening 2004). Carbamazepin, wie Valproat ursprünglich ein Antiepileptikum, wird ebenfalls in der Phasenprophylaxe bei bipolaren und schizoaffektiven Krankheiten verwendet. Auch bei paroxysmalen Schmerzuständen, Migräne, Tics und Tourette Syndrom kann die Substanz zum Einsatz kommen. Neben Erhöhungen der Leberenzyme, Tremor, Hyponatriämie und Hautveränderungen findet man als verkehrsmedizinisch bedeutsame Nebenwirkungen sedierende Eigenschaften, Benommenheit, Schwindel, Ataxie, Sehstörungen, die meist bei Therapiebeginn auftreten. Das Medikament hat Effekte auf die P450-Isoenzyme und kann die Plasmapegel von verschiedenen Antidepressiva und Neuroleptika absenken. Regelmäßige Blutspiegelkontrollen sind erforderlich. Valproat ist eine weitere Alternative zur Lithiumprophylaxe. Die Substanz gilt als gut verträglich. Am Beginn der Behandlung kann es zu leichter Müdigkeit kommen. Tremor, Ataxie, Bewusstseinsstörungen oder Halluzinationen sind meist Zeichen der Überdosierung. Daneben stößt man bisweilen auf Leberenzymerhöhungen, gastrointestinale Beschwerden, Gewichtzunahme und selten auf Haarausfall und Gerinnungsstörungen. Neuere Substanzen sind Gabapentin oder Lamotrigin. Auch bei ihnen sieht man initial Schwindel, Sedierung und Ataxie als verkehrsmedizinisch relevante Nebenwirkungen auf das Zentralnervensystem. Die Stimmungsstabilisatoren gelten allgemein als gut verträgliche Substanzen, wenn die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen, wie z. B. Blutpegelkontrollen, eingehalten werden. Der behandelnde Arzt muss seine Patienten, die er mit diesen Präparaten behandeln will, über das Nebenwirkungsprofil informieren. Dabei ist besonders auf die bei Beginn der Be-
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handlung bisweilen zu registrierende Müdigkeit abzustellen. Das Führen von Kraftfahrzeugen sollte dann gemieden werden. Dass die Dauerbehandlung mit Stimmungsstabilisatoren zu so schweren Begleitwirkungen führen könnte, dass damit bereits für sich genommen Eignungszweifel unabweisbar sind, ist nach heutigem Erfahrungsstand weniger zu erwarten. z Anxiolytika und Hypnotika Diese Substanzen, die bei der Behandlung von Angstzuständen und von Schlafstörungen zum Einsatz kommen, werden heute verkehrsmedizinisch skeptisch beurteilt. Die größte Gruppe dieser Medikamente sind die Benzodiazepine. Man unterscheidet Substanzen mit kurzer, mittlerer und langer Halbwertszeit. Zwei andere Substanzen aus dieser Gruppe, Zolpidem und Zopiclon, sind mit den Benzodiazepinen nicht verwandt. Benzodiazepine sind zwar gut verträglich und haben eine geringe Toxizität, indessen verursachen sie regelmäßig Müdigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Aber auch paradoxe Reaktionen kommen vor. Bei längerfristiger Behandlung mit Benzodiazepinen muss deren nicht unbeträchtliches Abhängigkeitspotenzial beachtet werden. Nach plötzlichem Absetzen einer längeren Therapie können leichtere Entzugsphänomene mit Angst, innerer Unruhe, Schlafstörungen und vegetativen Phänomenen beobachtet werden. Aber auch weitergehende delirante Symptome kommen vor. Trotz der bekannten Gefahren ist der Benzodiazepingebrauch in der Bevölkerung vor allem bei Frauen und älteren Menschen hoch (Benkert u. Hippius 2003). Dass es dabei um konkrete Risiken geht, zeigen die Ergebnisse des „Road Survey“ von Krüger et al. (1996). 3,8% der untersuchten Fahrer standen unter Benzodiazepineinfluss. In einer epidemiologischen Studie zeigten Oster et al. (1990) ein erhöhtes Risiko von Benzodiazepinkonsumenten für unfallbezogene Verletzungen. Ray et al. (1992) fanden unter Benzodiazepinmedikation ein zweifach erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle, nicht aber für Personen, die TCA erhielten. Die Erhöhung des Unfallrisikos bei Gebrauch von Benzodiazepinen wird um das bis 6,5 fache angegeben. (Laar u. Volkerts 1998). Bei tödlich verunfallten älteren Fahrern fand man einen gemessen an den epidemiologischen Erwartungswerten vierfach erhöhten Anteil von Personen, die unter Benzodiazepineinfluss standen (Johannsson u. Bryding 1997). Das Risiko, Verletzungen durch einen Verkehrsunfall zu erleiden, ist in der ersten Woche nach Behandlungsbeginn neunfach erhöht, im weiteren Verlauf sinkt das Risiko. Nach acht Wochen unter Benzodiazepinmedikation liegt die Risikoerhöhung bei 2,5 (Neutel 1995). In dieser Studie wurde im Vergleich auch das Risiko von Unfallverletzungen für Antipsychotika, Antidepressiva und Antiepileptika bestimmt. Es fand sich keine signifikante Risikoerhöhung. Die epidemiologischen Risikodaten wurden durch Untersuchungen am Fahrsimulator und durch Fahrproben in den wesentlichen Punkten bestätigt. Alle Benzodiazepine, besonders die mit langer Halbwertszeit, führen zu Leistungsverschlechterungen, daneben spielen die Do-
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sierung und im Falle der morgendlichen Beeinträchtigung nach abendlicher Schlafmedikation auch die Einnahmezeit eine Rolle. Die neue Substanz Zopiclone hat bei derartigen Untersuchungen keine Vorteile gegenüber den Benzodiazepinen (Verster et al. 2004). Der Gebrauch von mehr als einem Benzodiazepinabkömmling ist besonders ungünstig. Auf dem Boden der referierten Untersuchungen liegt es nahe anzunehmen, dass Personen, die in der Initialphase einer Behandlung mit Benzodiazepinen sind, die Fahrereignungsvoraussetzungen für die Gruppen 1 und 2 verfehlen. Personen mit stabiler Dosierung im Rahmen der empfohlenen Tagesdosen, gefestigter Psychopathologie und einem Therapieplan, der üblichen Qualitätsvorschriften entspricht, stellen zwar eine Risikopopulation dar, bieten aber normalerweise keinen ausreichenden Grund, generell die Fahreignungsvoraussetzungen für die Gruppe 1 zu negieren. Dieser Personenkreis sollte allerdings wegen der besonderen Anforderungen von der Gruppe II ausgeschlossen bleiben. Eine längerfristige über Monate und Jahre gehende Benzodiazepinbehandlung ist nur in ganz speziellen Ausnahmefällen psychiatrisch indiziert. Liegt eine derartige Ausnahmesituation nicht vor, muss von einer Abhängigkeitsproblematik ausgegangen werden, die die Fahreignungsvoraussetzungen für alle Gruppen beseitigt. Die Wiederannahme kommt nur in Frage, wenn dauerhafte Abstinenz und Entwöhnung eingetreten sind. Gegebenenfalls kann der Patient auf alternative Behandlungsverfahren hingewiesen werden. z Stimulanzien und Anti-ADHS-Therapeutika Gegenwärtig sind in Deutschland Amphetamine (AMPH) und Methylphenidat (MPH) als Stimulanzien für die Behandlung der ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Eine Verordnung im Erwachsenenalter bei adulter ADHS ist nur „off-label“ möglich. Stimulanzien werden auch bei Narkolepsie als Dauermedikation eingesetzt. Die Maximaldosierung von AMPH und MPH beträgt ein 1mg/kg Körpergewicht. Vor allem in der Initialphase der Behandlung kommen Schwindel, Kopfschmerzen, Unruhe, Dysphorie und Verwirrungszustände vor (Fawcett u. Bush 1998). Bei Personen mit Hypertonie muss auf eventuelle RR-Steigerungen geachtet werden. Das Abhängigkeitspotenzial der Stimulanzien ist gut bekannt. Versuche am Fahrsimulatoren haben ergeben, dass ADHS-Patienten unter MPH-Behandlung signifikant bessere Leistungen bieten als vor der Behandlung (Cox et al. 2000, 2005). Bei gesunden Personen gibt es derartige Leistungsverbesserungen nicht. Unter AMPH-Behandlung zeigten Gesunde (0,42 mg/kg Körpergewicht) in Teilbereichen eine Leistungsverschlechterung am Fahrsimulator (Silver et al. 2005). Bei Therapie nach den DGPPN-Richtlinien (Ebert et al. 2003) ist das Suchtrisiko um 50% geringer ausgeprägt als bei nicht behandelten Patienten (Wilens et al. 2003). Die heute immer häufiger verwendeten Präparate mit verzögerter MPH-Freisetzung können auch von den Risikogruppen nicht mehr missbraucht werden, weil die Veränderung der Pharmakokine-
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tik die angestrebte Euphorisierung („Kick“) nicht mehr zulässt. Neuere Studien zeigen, dass zirka 20% der ADHS-Betroffenen, die mit „Immediaterelease“-Präparaten behandelt werden, dazu tendieren, die verordnete Substanz zu missbrauchen oder zu verkaufen (Wilens 2005). Dabei handelte es sich stets um Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitskrankheiten. Der behandelnde Arzt sollte seinem ADHS-Patienten, den er mit Stimulanzien behandelt, einen „ADHS-Behandlungspass“ ausstellen, aus dem sich die Notwendigkeit der Therapie ergibt. Dieses Dokument kann der Betreffende vorlegen, wenn bei ihm im Rahmen von Verkehrskontrollen bei entsprechender Laborkontrolle MPH oder AMPH nachgewiesen wurden. Werden bei derartigen Kontrollen weitere Substanzen, insbesondere auch illegale Drogen gefunden, muss stets der Verdacht auf eine Suchtproblematik geäußert werden. Neben den Stimulanzien ist im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin für die Behandlung der ADHS zugelassen. Hat die Behandlung in der Kindheit oder Jugend begonnen, darf das Präparat im Erwachsenenalter weiter verordnet werden. In verschiedenen anderen Ländern wie den USA und Kanada ist Atomoxetin uneingeschränkt auch für Erwachsene zugelassen. Im Gegensatz zu den Stimulanzien ist Atomoxetin kein Btm-pflichtiges Präparat. Ein Abhängigkeitspotenzial ist nicht bekannt. Nebenwirkungen meist reversibler Art sind Mundtrockenheit, Schlafstörungen, Übelkeit, Appetitverlust, Verstopfung, Schwindel und Schwitzen (Michelson et al. 2003). Auffällige Absetzphänomene nach längerem Gebrauch sind nicht beschrieben. z Opiatersatztherapie Unter Berücksichtigung der begrenzten Erfolge abstinenzorientierter Therapie und angesichts der großen Zahl von HIV-Infizierten unter den Opiatabhängigen wird heute auch in Deutschland die Opiatsubstitution, z. B. mit Methadon, für einen definierten Kreis von Opiatabhängigen propagiert. Die Nebenwirkungen von Methadon sind Sedierung, Übelkeit, Erbrechen, Miosis, Bronchospasmen, Obstipation, Hyperhidrose, Blasenstörungen und RR-Abfall. Bei systematischen neuropsychologischen Untersuchungen zeigte sich, dass der überwiegende Teil der mit Methadon behandelten Opiatabhängigen erhebliche Minderleistungen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen bot. Etwa ein Viertel der Methadonbehandelten zeigte Leistungen, die nicht wesentlich von Gesunden abwichen (Dittert et al. 1999). In einer weiteren Studie mit Patienten, die mit Methadon oder Buprenorphin behandelt wurden, fielen die neuropsychologischen Unterschiede zu Gesunden relativ gering aus (Schindler et al. 2004). Aus diesen Ergebnissen lässt sich ableiten, dass ein genereller Ausschluss der Fahrereignungsvoraussetzungen bei substituierten Patienten nicht gerechtfertigt werden kann, auch wenn in der überwiegenden Zahl der Fälle mit kognitiven Einschränkungen und psychomotorischen Defiziten gerechnet werden muss,
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die den Eignungsvoraussetzungen entgegenstehen. Methode der Wahl ist die sorgfältige Analyse des Einzelfalles. Bei stabiler Psychopathologie, Ausschluss von Beigebrauch anderer Substanzen und ausreichendem neuropsychologischem Leistungsprofil können individuell die Eignungsvoraussetzungen bejaht werden.
6.2.14 Polypharmazie und Komorbidität Die vorwiegende Fokussierung der Aufmerksamkeit der Gutachter auf einzelne Leiden wird in vielen Fällen der Wirklichkeit nicht gerecht. Übersehen wird häufig, dass Personen, die an psychischen Störungen leiden, eine hohe Wahrscheinlichkeit für weitere psychische und körperliche Krankheiten besitzen. Es wird angenommen, dass zirka 50% der psychiatrischen Patienten mehr als eine Störung im Sinne der gängigen internationalen Klassifikationen besitzen. Besonders hoch sind die Komorbiditätsraten bei Persönlichkeitsstörungen, Missbrauch und Abhängigkeit, ADHS, posttraumatischen und Belastungsstörungen, depressiven Episoden oder neurotischen Störungen. Dies bedeutet, dass sich in einer namhaften Zahl der Begutachtungsfälle verschiedene psychopathologische Syndrome mit ihren funktionellen Auswirkungen überlappen. Dabei macht sich ungünstig bemerkbar, dass meist nicht systematisch nach komorbiden Leiden gesucht wird. Gegenüber der klinischen Routinediagnostik zeigen systematische epidemiologische Untersuchungen, bei denen alle Patienten einer einheitlichen diagnostischen Prozedur unterworfen sind, stets eine höhere Prävalenz für komorbide Leiden. Von daher ist es für die verkehrsmedizinische Untersuchung von essenzieller Bedeutung, ganz bewusst nach zusätzlichen Leiden zu fahnden und sich die Frage der Interaktion verschiedener Leiden auch in ihren funktionellen Konsequenzen vorzulegen. Die Untersuchung von Holte und Albrecht (2004) bezifferte die Unfallrisikoerhöhung für Patienten mit mehr als einer Krankheit auf das 2,6fache. Zusätzliche Bedeutung erhält der Gesichtspunkt der Komorbidität, wenn weitere Leiden, eventuell auch körperlicher Art, vorhanden sind, die pharmakologisch behandelt werden müssen. Dann stellt sich nicht nur die Frage der psychopathologischen und funktionellen Interaktionen, vielmehr sind auch die pharmakologischen Wechselwirkungen in Betracht zu ziehen. Bei der Verordnung mehrerer psychoaktiver Substanzen können auf diese Weise ganz neue Situationen bis hin zum psychiatrischen Notfall entstehen. Gerade unter Mehrfachmedikation steigt das Risiko von Überdosierung und damit von toxischen Wirkungen. Ein mit mehr als einem Medikament behandelter Patient muss mit den Zeichen einer beginnenden Überdosierung vertraut sein, wenn er Gefahrensituationen entgegensteuern will, die sich aus ungünstigen pharmakologischen Interaktionen ableiten lassen. Dies bedeutet, dass ein psychopharmakologisch behandelter Kranker nicht nur die unerwünschten Begleitwirkungen seines Medikamentes kennen sollte, sondern auch toxische Wirklungen der Überdosierung. Diese Infor-
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mationsaufgabe obliegt dem behandelnden Arzt, während der begutachtende Arzt in seiner Untersuchung klären muss, ob der Patient genügend Kenntnisse über seine Störungsmuster und die angewendete Therapie besitzt, um Risiken abschätzen und insbesondere ihre Auswirkungen auf die Fahrereignung zutreffend bewerten zu können. Genau genommen muss die gleiche Forderung bei Anwendung von Psychotherapie erhoben werden, denn es versteht sich keineswegs von selbst, dass Psychotherapie hinsichtlich Psychopathologie und damit verbundenem funktionellen Status als indifferent bezeichnet werden kann. Welche Folgen psychotherapeutische Interventionen kurz- und langfristig auf die Psychopathologie und Fahrereignungsvoraussetzungen haben, ist nicht einmal näherungsweise bekannt. Genau genommen gehört für den psychotherapeutisch arbeitenden Arzt die Beratung seines Patienten in Fragen der Fahrereignungsvoraussetzungen genauso in die Liste der Themen, die immer wieder erörtert werden müssen, wie für den Pharmaka verordnenden Therapeuten. Jedenfalls wäre es ein entscheidender Fehler, einen nach einer therapeutischen Sitzung akut belasteten Patienten nicht auf die damit verbundenen Risiken im Straßenverkehr hinzuweisen.
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Schuckit MA, Tipp JE, Smith TL, Bucholz KK (1997) Periods of abstinence following the onset of alcohol dependence in 1,853 men and women. J Stud Alcohol 58:581–587 Schuckit MA, Smith TL, Danko JP, Bucholz KK, Reich T, Bierut L (2001) Five-year clinical course associated with DSM-IV alcohol abuse or dependence in a large group of men and women. Am J Psychiatry 154:75–80 Sheherd J, Farrington D, Potts J (2004) Impact of antisocial lifestyle on health. J Public Health 26:347–352 Silver RV, Papafotiou K, Croft RJ, Ogden E, Swann P, Stough C (2005) The effects of dexamphetamine on simulated driving performance. Psychopharmacology 179:536–543 Sims RV, McGwin G, Allman RM, Ball K, Owsley C (2000) Exploratory study of incident vehicle crashes among older drivers. J Gerontol Biol Sci Med Sci 55:22–27 Soyka M (2003) Psychische Störungen. In: Schubert W, Schneider W, Eisenmenger W, Stefan E (Hrsg) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung. Kischbaum, Bonn Soyka M, Dittert S, Gartenmeier A, Schäfer M (1998) Fahrtauglichkeit unter Therapie mit Antidepressiva. Versicherungsmedizin 50:59–66 Soyka M, Winter C, Kagerer S, Brunnauer M, Laux G, Möller HJ (2005) Effects of haloperidol and risperdone on psychomotor performance relevant to driving ability in schizophrenic patients compared to healthy controls. J Psychiatric Research 39:101–108 Statistisches Bundesamt Deutschland (2005) Verkehr im Überblick – Fachserie 8, Reihe 1.2 Stevens A (2004) Begutachtung der Fahreignung. In: Foerster K, Venzlaff U (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung. Urban & Fischer, München Tomasson K, Vaglum P (1998) Social consequences of substance abuse: the impact of comorbid psychiatric disorders. A prospective study of a nation-wide sample of treatment seeking patients. Scand J Soc Med 26:63–70 Tuokko H, Talman K, Beattie BL, Cooper P, Weis J (1995) An examination of driving records in a dementia clinic. J Gerontol, Soc Sci 50:173–181 Utzelmann HD, Jakobshagen W (1996) Prognosen, Prädiktoren und Akzeptanz bei medizinisch-psychologischen Fahreignungsbegutachtungen von alkoholauffälligen Kraftfahrern und Fahrern mit hohem Punktestand. TÜV Rheinland, Köln Verster JC, Veldhuijzen DS, Volkerts ER (2004) Residual effect of sleep medication on driving ability. Sleep Medicine Reviews 8:309–325 Walden J (1999) Psychopharmakologie und andere psychobiologische Behandlungsverfahren. In: Berger M (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Urban und Schwarzenberg, München Waller JA (1965) Chronic medical conditions and traffic safety. New Eng J Med 273:1413– 1430 Weyerer S, Lucht S (1999) Psychiatrische Epidemiologie und Prävention. In Berger M (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Urban und Schwarzenberg, München Wilens TE (2005) New research on ADHD and substance use disorders. APA, Atlanta Wilens TE, Faraone SV, Biederman J, Gunawardene S (2003) Does stimulant therapy of attention-deficit/hyperactivity disorder beget later substance abuse? A meta-analytic review of the literature. Paediatrics 111:179–185 Woodward L, Fergusson D, Horwood J (2000) Driving outcomes of young people with attentional difficulties in adolescence. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 39:627–634 Zador PI, Krawchuk SA, Voas RB (2000) Alcohol-related relative risk of driver fatalities and driver involvement in fatal crashes in relation to driver age and gender. J Stud Alcohol 61:387–395
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7.1
Grundlagen des Sozialrechts P. Udsching
7.1.1 Einleitung Das Sozialrecht ist wie kaum ein anderes Rechtsgebiet mit der Medizin verknüpft. Leistungen des Systems der sozialen Sicherheit hängen zumeist vom Gesundheitszustand des Betroffenen ab. Die Beantwortung medizinischer Vorfragen ist etwa unerlässlich, wenn es um die Rente wegen Erwerbsminderung geht, die den Lebensstandard des leistungsgeminderten Arbeitnehmers sichern soll und ihn nicht bis zum Erreichen der Altersgrenze der Sozialhilfe überantwortet. Der Anteil psychischer Krankheiten oder Störungen gewinnt in diesem Bereich zunehmend an Bedeutung. In der gesetzlichen Unfallversicherung und dem sozialen Entschädigungsrecht (Kriegsopfer- und Soldatenversorgung, Opferentschädigung, Entschädigung für Impfschäden u. a.) geht es zumeist um die Klärung problematischer Kausalitätsfragen zwischen einem schädigenden Ereignis (z. B. Arbeitsunfall oder Schädigung bei militärischer Dienstverrichtung) und einem Gesundheitsschaden. Auch insoweit spielen psychische Krankheiten oder Störungen eine gewichtige Rolle. Die Leistungspflicht der Krankenversicherung hängt in der Regel davon ab, dass ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand besteht, der Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit bedingt. Leistungen der Pflegeversicherung setzen die Feststellung eines bestimmten Grades von Pflegebedürftigkeit voraus, wofür psychische Störungen ebenso ursächlich sein können wie für die Feststellung des Status eines Schwerbehinderten, der im Arbeitsleben und im Steuerrecht Ansprüche begründet, die behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen sollen. Schließlich sind medizinische Vorfragen selbst für ein Rechtsgebiet wie die Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung von eminenter Bedeutung. Lehnt der Arbeitslose etwa einen ihm angebotenen Arbeitsplatz oder die Teilnahme an einer Maßnahme zur beruflichen Eingliederung ab, so hat dies leistungsrechtlich für ihn dann keine negativen Folgen, wenn er aus psychischen oder physischen Gründen nicht in der Lage ist, die angebotene Beschäftigung oder Maßnahme anzutreten. Dieser zunächst kursorische Überblick macht bereits deutlich, dass die einzelnen Bereiche des Systems der sozialen Sicherung aus medizinischer
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Sicht ganz unterschiedliche Fragestellungen aufwerfen. Im Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsrecht steht die Feststellung des gesundheitlichen Status quo im Vordergrund, um hiervon ausgehend die Frage zu beantworten, ob die Erkrankung Arbeitsunfähigkeit begründet, den Einsatz bestimmter Behandlungsformen erforderlich macht (Krankenversicherung) oder aber die Erwerbsfähigkeit auf Dauer im Vergleich zu einem Gesunden erheblich vermindert ist (Rentenversicherung). Vergleichbar ist die Lage im Schwerbehindertenrecht, wo die Feststellung der bestehenden Behinderungen Grundlage für eine wertende Entscheidung, die Bemessung des Grades der Behinderung ist. Im Gegensatz zu den genannten Sozialleistungsbereichen kommt es in der gesetzlichen Unfallversicherung und im sozialen Entschädigungsrecht zumeist auf die Klärung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem vom Arzt ermittelten medizinischen Befund und einem oft längere Zeit zurückliegenden schädigenden Ereignis an. Die oft schwierigen sozialrechtlichen Grundlagen der Kausalitätsbeurteilung, die häufig dem Vorverständnis des Mediziners nicht entsprechen, bilden in den Abschnitten über die Unfallversicherung und das soziale Entschädigungsrecht Schwerpunkte dieses Kapitels.
7.1.2 Sozialversicherung Die im Sozialbudget ausgewiesenen Ausgaben für sämtliche Zwecke der sozialen Sicherung beliefen sich im Jahre 2002 auf zirka 700 Milliarden Euro. Hiervon entfiel mit zirka 400 Milliarden Euro der größte Teil auf Leistungen der Sozialversicherung. Die Sozialversicherung folgt ihrer Struktur nach demselben Vorsorgeprinzip wie die Versicherung auf privatrechtlicher Grundlage: Durch die Entrichtung von Beiträgen soll für den künftigen in seiner Gesamtheit voraussehbaren Bedarf Vorsorge getroffen werden. Der Leistungsanspruch des Einzelnen entsteht, wenn bei diesem ein Versicherungsfall eintritt, d. h. wenn sich das im jeweiligen Versicherungszweig versicherte Risiko realisiert. Im Gegensatz zu der nur subsidiär eintretenden Sozialhilfe entsteht der Leistungsanspruch in der Sozialversicherung grundsätzlich ohne Rücksicht auf eine individuelle Bedürftigkeit. Während die Sozialhilfe bei fehlender Vorsorge aus verfassungsrechtlichen Gründen (Schutz der Menschenwürde und Sozialstaatsgebot) das Existenzminimum bereitstellen soll, geht die Sozialversicherung grundsätzlich über eine Mindestsicherung hinaus; ihr Ziel ist es, den durch Erwerbseinkommen erreichten Lebensstandard zu sichern. Der Einzelne hat grundsätzlich keine Wahlfreiheit zwischen den Sicherungssystemen Sozialhilfe und Sozialversicherung. Um die Allgemeinheit vor mangelnder Risikovorsorge und damit vor einer übermäßigen Inanspruchnahme der steuerfinanzierten Sozialhilfe zu bewahren, ordnet das Sozialversicherungsrecht für alle Personen, die bei typisierender Betrachtung als schutzbedürftig angesehen werden, Versicherungspflicht an. Dies gilt grundsätzlich für alle Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind, für Behin-
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derte, die in geschützten Einrichtungen beschäftigt werden, und für Landwirte (§ 2 SGB IV). Teilweise besteht Versicherungspflicht auch für einzelne, zahlenmäßig aber eher unbedeutende Gruppen von Selbstständigen.
7.1.2.1 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) z Versicherungsschutz Die GKV bietet rund 90% der Bevölkerung Schutz gegen das Krankheitsrisiko. Der größte Teil unterliegt der Versicherungspflicht, die vor allem durch die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses ausgelöst wird. Von der Versicherungspflicht werden aber auch Arbeitslose bei Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung, Landwirte, selbstständige Künstler und Publizisten, Studierende, Praktikanten, Rehabilitanden und Behinderte erfasst. Rentner bleiben pflichtversichert, wenn sie während des größten Teils ihres Erwerbslebens pflichtversichert waren. Beschäftigte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt 75% der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung übersteigt (2009: 64 800 1), sind versicherungsfrei. Sie haben jedoch, wie auch bestimmte andere Personengruppen (§ 9 SGB V), die Möglichkeit, den Versicherungsschutz in der GKV als freiwillig Versicherte fortzusetzen. Einige Personengruppen sind dagegen von vornherein versicherungsfrei (§ 6 Abs. 1 SGB V); hierzu gehören insbesondere Beamte, Richter und Soldaten, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben. Nicht versicherungspflichtig sind zudem diejenigen, die hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind (§ 5 Abs. 5 SGB V). Sowohl bei Versicherungspflicht wie auch bei freiwilliger Versicherung erstreckt sich der Versicherungsschutz auch auf Ehegatten und Kinder des Versicherten, soweit diese kein Gesamteinkommen haben, das die Geringfügigkeitsgrenze übersteigt (zu weiteren Einschränkungen: § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die durch den Versicherungsschutz als Pflicht- oder freiwillig Versicherter vermittelten Leistungsansprüche sind grundsätzlich identisch; eine unterschiedliche Behandlung erfolgt lediglich beim Anspruch auf Krankengeld (§ 44 Abs. 2 SGB V). Ausgehend vom Zweck der GKV wird als Krankheit nur ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand angesehen, der Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit verursacht. Bezugspunkt ist insoweit nicht ein körperlicher oder geistiger Idealzustand; maßgebend ist vielmehr eine eingeschränkte Funktionstauglichkeit, die sowohl im körperlichen wie auch im psychischen Bereich liegen kann. Danach sind sowohl die durch Alkohol als auch die durch Drogen hervorgerufene Abhängigkeit Krankheiten (BSGE 76, 194).
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z Leistungen der GKV Die vom Versicherungsschutz in der GKV umfassten Leistungsarten sind im Gesetz abschließend geregelt (§ 11 SGB V). Die der Behandlung einer Krankheit dienenden Leistungen (§§ 27–52 SGB V) müssen hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit dem allgemein Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Die Versicherten haben zudem Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (§ 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Die ärztliche Behandlung umfasst auch die psychotherapeutische Behandlung; letztere darf aufgrund des Psychotherapeutengesetzes (vom 16. Juni 1998, BGBl. I S. 1311) außer von Ärzten auch von Psychotherapeuten erbracht werden, soweit diese zur psychotherapeutischen Behandlung zugelassen sind (§ 28 Abs. 3 SGB V). Ein Anspruch auf Krankenhausbehandlung besteht grundsätzlich nur dann, wenn diese erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teil-, vor- beziehungsweise nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, sondern nur mit den besonderen Mitteln einer vollstationären Krankenhausbehandlung erreicht werden kann (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Die Beurteilung dieser Voraussetzung ist gerade bei langfristigen Behandlungen psychischer Erkrankungen schwierig (BSGE 47, 83). Umstritten ist gerade in neuester Zeit, ob die Notwendigkeit von stationärer Behandlung bei psychisch Kranken von der Krankenkasse schon dann verneint werden kann, wenn theoretisch eine Behandlung und Versorgung des psychisch Kranken außerhalb eines psychiatrischen Krankenhauses möglich ist, oder ob hinzu kommen muss, dass eine derartige Möglichkeit auch tatsächlich zur Verfügung steht (BSG, Az. GS 1/06, Beschluss vom 25. 9. 2007; hierzu Heberlein 2008). Kommt es bei einer durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit zu einem Ausfall von Erwerbseinkommen, so kann der Versicherte nach dem Ende der Fortzahlung des Arbeitsentgelts durch den Arbeitgeber die Zahlung von Krankengeld beanspruchen. Arbeitsunfähig im Sinne der GKV ist, wer infolge einer Erkrankung nicht oder nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, seine bisherige Erwerbstätigkeit weiter verrichten kann. Solange der Versicherte trotz Arbeitsunfähigkeit in einem fortbestehenden Beschäftigungsverhältnis steht, kommt es für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit allein auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit an. Eine Verweisung auf ähnlich geartete Tätigkeiten kommt nur nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses in Betracht (BSGE 85, 271). Kann der Versicherte seine bisherige Tätigkeit nicht mehr ganz, sondern nur teilweise verrichten, so bleibt er grundsätzlich weiter arbeitsunfähig. Der Arzt kann in diesem Fall jedoch eine stufenweise Wiedereingliederung empfehlen und auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeiten angeben. In geeigneten Fällen soll er die Stellungnahme des Betriebsarztes oder mit Zustimmung der Krankenkasse diejenige des medizinischen Dienstes einholen (§ 74 SGB V).
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Krankengeld erhalten Versicherte zwar grundsätzlich ohne zeitliche Begrenzung, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für längstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren, gerechnet vom Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an (§ 48 Abs. 1 SGB V). Die Frage, ob die Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit besteht, ist häufig nur schwierig zu beantworten. Dies gilt vor allem dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht ununterbrochen bestanden hat, sondern innerhalb der Dreijahresfrist mehrfach Perioden mit Arbeitsunfähigkeit auftreten, die auf demselben oder einem ähnlichen Krankheitsbild beruhen. In diesem Fall ist eine eng am Wortlaut der maßgebenden Vorschrift (§ 48 Abs. 1 SGB V) orientierte Auslegung zu beachten: Auf die zeitliche Höchstgrenze sind nur diejenigen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit anzurechnen, die auf „derselben“ Krankheit beruhen. Eine Identität der Krankheit liegt in diesem Sinne nur vor, wenn dieselbe Ursache – nicht nur die gleiche Ursache – und dasselbe Erscheinungsbild – nicht nur das gleiche Erscheinungsbild – vorliegen (Krasney 2000, S. 34).
7.1.2.2 Pflegeversicherung z Versicherungsschutz Im Gegensatz zu den anderen Bereichen der Sozialversicherung besteht für nahezu die gesamte Bevölkerung Deutschlands seit Einführung der Pflegeversicherung zum 1. Januar 1995 die Pflicht, sich gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit zu versichern. Organisatorisch folgt die Versicherungspflicht dem Versicherungsschutz gegen das Krankheitsrisiko: Wer gesetzlich krankenversichert ist, wird Mitglied der sozialen Pflegeversicherung. Zuständig ist jeweils die Pflegekasse, die organisatorisch der Krankenkasse angeschlossen ist, der der Versicherte angehört. Wer seinen Krankenversicherungsschutz bei einem privaten Versicherungsunternehmen unterhält, ist verpflichtet, bei einem derartigen Unternehmen auch einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen, wobei die Leistungen grundsätzlich denjenigen der sozialen Pflegeversicherung entsprechen müssen. Der Versicherungsfall der Pflegebedürftigkeit setzt ein bestimmtes Maß an Hilfebedarf voraus. Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind nur Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer (d. h. für mindestens sechs Monate) in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Maßgebend ist nur der Hilfebedarf bei bestimmten, im Gesetz ausdrücklich genannten Verrichtungen wie Körperpflege, Nahrungsaufnahme und Mobilität (sog. Grundpflege), hinzu treten muss ein Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung (§ 14 Abs. 4 SGB XI). Krankheitsspezifische Hilfeleistungen (Maßnahmen der Behandlungspflege) werden grundsätzlich nicht als Pflegebedarf berücksichtigt; für sie kommen im Regelfall nur Leistungen der häuslichen Krankenpflege zu Lasten der GKV in Betracht (§ 37 SGB
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V). Hiervon abweichend werden krankheitsspezifische Hilfeleistungen als Pflegebedarf berücksichtigt, wenn sie mit Maßnahmen der Grundpflege untrennbar verbunden sind (z. B. das An- und Ausziehen von Stützstrümpfen, BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 3). z Leistungen und Leistungsvoraussetzungen Im Gegensatz zu anderen Zweigen der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, sind sämtliche Leistungen der Pflegeversicherung der Höhe nach begrenzt und nicht bedarfsdeckend ausgestaltet. Der Gesetzgeber wollte mit der Pflegeversicherung bewusst nur ein Ergänzungssystem schaffen, das vor allem bei der Pflege im häuslichen Bereich die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Hilfe lediglich ergänzt (§ 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI). Die Pflegeversicherung unterscheidet zwischen den Leistungen bei häuslicher Pflege (§§ 36–40 SGB XI) sowie der teilstationären, kurzzeit- und vollstationären Pflege (§§ 41–43 SGB XI), wobei der häuslichen Pflege ein Vorrang zukommt (§ 3 SGB XI). Bei der häuslichen Pflege kann der Pflegebedürftige wählen zwischen der so genannten Pflegesachleistung, bei der die häusliche Pflege auf Veranlassung der Pflegekasse durch professionelle Pflegekräfte (ambulante Pflegedienste) erbracht wird, und der Zahlung von Pflegegeld, wenn er die Pflege durch selbstbeschaffte Pflegekräfte (insbesondere Angehörige und Nachbarn) selbst sicherstellt (§ 37 SGB XI). Nur wenn häusliche Pflege, gegebenenfalls ergänzt durch teilstationäre Pflege (Tages- oder Nachtpflege) nicht möglich ist, kann der Pflegebedürftige vollstationäre Pflege beanspruchen. Die Höhe der Leistungen hängt grundsätzlich von der Pflegestufe ab, der der Pflegebedürftige aufgrund des Ausmaßes des bei ihm bestehenden Hilfebedarfs zugeordnet wird. Seit dem 1. 7. 2008 können Personen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen Betreuungsleistungen auch dann beanspruchen, wenn sie noch keine Pflegestufe erreichen (§§ 45 a und b SGB XI). z Voraussetzungen der Pflegestufen z Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige): Hilfebedarf bei wenigstens zwei Verrichtungen aus dem Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) mindestens einmal täglich und zusätzlich mehrfach wöchentlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der Zeitaufwand muss täglich durchschnittlich mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen. z Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige): mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten Hilfebedarf bei der Grundpflege und zusätzlich mehrfach wöchentlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der Zeitaufwand muss täglich durchschnittlich mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen.
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z Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige): Hilfebedarf bei der Grundpflege täglich rund um die Uhr, auch nachts, und zusätzlich mehrfach wöchentlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Der Zeitaufwand muss täglich durchschnittlich mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen. z Härtefall: Die Pflegekassen können in besonders gelagerten Einzelfällen bei der Pflegesachleistung und bei der stationären Pflege höhere Leistungen erbringen, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt (Udsching 2000, § 36 Rn 9 ff.; BSGE 89, 50). z Formen der Hilfeleistung. Ein Hilfebedarf besteht nicht nur dann, wenn die Verrichtung von der Pflegeperson vollständig übernommen werden muss, sondern auch dann, wenn die Hilfe in der Unterstützung, der Beaufsichtigung oder Anleitung des Pflegebedürftigen besteht. Dies gilt auch dann, wenn für die zuletzt genannten Hilfeformen ein höherer Zeitaufwand erforderlich ist als für die Ausführung der Verrichtung durch die Pflegeperson. Bei geistig Behinderten und psychisch Kranken ist allerdings zu beachten, dass die Rechtsprechung den allgemeinen Aufsichtsbedarf nicht zu den maßgebenden Hilfeleistungen zählt und daher zurzeit bei der Ermittlung des Pflegebedarfs nicht berücksichtigt (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8). Dies gilt selbst dann, wenn die Beaufsichtigung notwendig ist, um Fremdoder Eigengefährdung zu vermeiden. Ursache dieser Benachteiligung ist die im Gesetz angelegte strenge Bindung des maßgebenden Pflegebedarfs an die genannten elementaren Verrichtungen im Tagesablauf. Im Zuge der ab 2009 weiterhin anstehenden Reform der Pflegeversicherung soll ein umfassender Begriff der Pflegebedürftigkeit konstituiert werden, der auch den Hilfebedarf von geistig Behinderten und psychisch Kranken einbezieht. z Besonderheiten bei der Begutachtung Ein einheitlicher Gesetzesvollzug hängt gerade in der Pflegeversicherung von einer Gleichbehandlung bei der Begutachtung ab. Der Verwirklichung dieses Ziels dienen insbesondere die von den Spitzenverbänden der Pflegekassen erlassenen Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (Udsching 2000, Anhang 3). Die Gerichte sehen in den Richtlinien eine Art sachverständige Interpretation des Gesetzes, behalten sich jedoch eine Kontrolle hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gesetz und der sachlichen Vertretbarkeit vor. Im Interesse der Gleichbehandlung nehmen sie allerdings auch die in den Richtlinien enthaltenen Pauschalierungen und Typisierungen in Kauf. Die Bemessung der Häufigkeit und der zeitlichen Dauer des Hilfebedarfs hat grundsätzlich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls zu erfolgen. Dies kann jedoch nicht uneingeschränkt gelten. Einschränkungen sind etwa erforderlich, wenn die für die Zuordnung zu einer Pflegestufe letztlich ausschlaggebende Dauer des Hilfebedarfs wegen individueller Besonderheiten
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der konkreten Pflegepersonen erhöht ist. Andererseits wird man Besonderheiten der Ausgestaltung des Wohnumfeldes, die den Zeitbedarf der Pflege erhöhen, in gewissem Umfang berücksichtigen müssen, weil der Gesetzgeber der häuslichen Pflege einen Vorrang gegenüber der stationären Pflege eingeräumt hat und ein Umzug in eine pflegegerechte Wohnung zumeist nicht zumutbar sein dürfte. Die tatsächlich bestehende Pflegesituation ist auch dann maßgebend, wenn der Pflegebedürftige mit Hilfsmitteln versorgt ist oder eine Dauermedikation durchgeführt wird und hierdurch Pflegemaßnahmen entfallen, die sonst erforderlich wären. Zumutbare Änderungen des Wohnumfeldes und der Einsatz von Hilfsmitteln, die eine Reduzierung von Pflegeleistungen zur Folge haben, sind dagegen zu berücksichtigen. Der Ist-Zustand ist andererseits auch dann maßgebend, wenn der Pflegeaufwand im konkreten Fall durch Maßnahmen gemindert wird, deren Einsatz vom Pflegebedürftigen nach medizinisch-pflegerischen Grundsätzen nicht ohne Weiteres verlangt werden kann. Dies gilt etwa auch im Hinblick auf die tatsächlich durchgeführte, nach ärztlicher Einschätzung vertretbare Sedierung oder eine Dauerkatheterisierung (Udsching 1996, S. 271, 285). Bei der Einschätzung des zeitlichen Umfangs des Hilfebedarfs ist von dem Zeitaufwand auszugehen, den eine Laienpflegekraft benötigt (§ 15 Abs 3 SGB XI). Eine objektiv nachprüfbare exakte Bemessung des Zeitbedarfs ist kaum möglich, zumal wenn man hierbei die völlig unterschiedlichen Lebenssituationen der Pflegebedürftigen einbeziehen soll. Die Rechtsprechung lässt insoweit Schätzungen zu, wenn deutlich gemacht wird, auf welchen Tatsachen die Schätzung im Einzelnen beruht und diese Tatsachen im Hinblick auf die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit sachgerecht ausgewählt und vollständig ermittelt sind (Udsching 2000, § 15 Rn 18). Im Interesse der Gleichbehandlung und der besseren Nachprüfbarkeit wurden in die Begutachtungsrichtlinien als Anhang für einzelne Verrichtungen so genannte Zeitkorridore eingeführt. Hierbei handelt es sich um Erfahrungswerte, von denen im Einzelfall bei Vorliegen erschwerender oder auch erleichternder Faktoren abgewichen werden kann. Abweichungen bedürfen jedoch besonderer Begründung. Besondere Schwierigkeiten verursacht die Bewertung des Pflegebedarfs von Kindern. Der alters- und entwicklungsbedingte Pflegebedarf von Kindern wird von der Pflegeversicherung nicht erfasst. Maßgebend ist allein der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind.
7.1.2.3 Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) z Versicherungsschutz Die gesetzliche Rentenversicherung schützt vor dem Risiko verminderter Erwerbsfähigkeit vor Eintritt der Altersrente infolge Krankheit oder Behinderung. Sie kompensiert darüber hinaus zu einem großen Teil den Ausfall des Erwerbseinkommens im Alter und trägt zur Versorgung der Hinterbliebenen des Versicherten im Todesfall bei. Die GRV beruht vor allem auf der
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Versicherungspflicht aller Beschäftigten. Im Gegensatz zur GKV tritt auch bei Beschäftigten mit hohem Erwerbseinkommen keine Versicherungsfreiheit ein; eine Versicherungspflichtgrenze existiert in der GRV nicht. Die beitragspflichtigen Einkünfte werden allerdings nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt. z Versicherungsfälle und Leistungen Zu den Leistungen der GRV zählen neben den Renten wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes, die den Ausfall des Erwerbseinkommens des Versicherten (teilweise) ersetzen sollen, Maßnahmen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation, soweit sie erforderlich sind, um Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit oder vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder den Versicherten möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern (§ 9 Abs. 1 SGB VI). Die Leistungen zur Rehabilitation haben Vorrang vor Rentenleistungen (Ruland 2008, S. 1216; Reimann 2008, S. 829). Von den Versicherungsfällen der GRV ist im vorliegenden Zusammenhang derjenige des Eintritts einer Erwerbsminderung (vor Erreichen der Regelaltersrente) von besonderer Bedeutung. Das bisherige System der Invaliditätsrenten mit seiner Aufteilung in Renten wegen Erwerbsunfähigkeit und wegen Berufsunfähigkeit wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2001 grundlegend umgestaltet. Nach § 43 SGB VI gibt es nunmehr Rente wegen Erwerbsminderung in zwei unterschiedlichen Ausprägungen, die unabhängig von der subjektiven Zumutbarkeit einer Tätigkeit ermittelt werden: Ist der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit (mindestens sechs Monate) nicht in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, so hat er Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (Rentenartfaktor 0,5); lässt sein Leistungsvermögen eine Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich nicht mehr zu, so erhält er Rente wegen voller Erwerbsminderung (Rentenartfaktor 1,0). Hieraus folgt, dass die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung prinzipiell die Hälfte der Vollrente erreicht. Nicht erwerbsgemindert ist derjenige Versicherte, der unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein kann; hierbei ist die jeweilige Lage des Arbeitsmarktes nicht zu berücksichtigen. Lässt die gesundheitsbedingte Leistungsfähigkeit dagegen nur noch einen Einsatz von weniger als sechs Stunden zu, so kommt es darauf an, ob der Versicherte unter Berücksichtigung der aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt konkrete Aussichten hat, einen seinem Restleistungsvermögen (drei bis unter sechs Stunden täglich) entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. In der Praxis gewähren die Rentenversicherungsträger dann, wenn der Versicherte keinen seinem Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz innehat, auch bei einer zeitlichen Einsatzfähigkeit von drei bis sechs Stunden Rente wegen voller Erwerbsminderung. Danach steht bei der Beurteilung
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der Erwerbsminderung die Bewertung der zeitlichen Einsatzfähigkeit des Versicherten durch den medizinischen Sachverständigen eindeutig im Vordergrund. Aus Gründen des Vertrauensschutzes hat der Gesetzgeber für ältere Versicherte – als Übergangsregelung – eine dritte Form der Erwerbsminderungsrente eingeführt, die auf den Voraussetzungen der früheren Rente wegen Berufsunfähigkeit aufbaut: Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erhält danach auch derjenige, der nach den maßgebend durch die Rechtsprechung geprägten Grundsätzen des § 43 Abs. 2 SGB VI aF Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat (§ 240 SGB VI). Da das Gesetz auf die zeitliche Einsatzfähigkeit „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ abstellt, kommt es nicht nur auf die Beurteilung der quantitativen Leistungsfähigkeit an; zu berücksichtigen sind auch die Belastungen üblicher Arbeitsplätze. Zur Erwerbsfähigkeit gehört jedoch auch die Fähigkeit, einen dem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz von der eigenen Wohnung aus (mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel oder eines vorhandenen Pkw) erreichen zu können. Da der Gesetzgeber alle Versicherten, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind, in den Genuss der beschriebenen Übergangsregelung kommen lässt, hängt die Gewährung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung noch für einen langen Zeitraum neben der oben beschriebenen Einschränkung der zeitlichen Einsetzbarkeit alternativ von den nach früherem Recht notwendigen Voraussetzungen für die Annahme von Berufsunfähigkeit ab. Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die Leistungsfähigkeit des Versicherten so gemindert ist, dass er weder seinen „bisherigen Beruf“ noch eine ihm sozial zumutbare Verweisungstätigkeit verrichten kann (Ruland 2008, S. 816 f.). Auf die Ursache der die Erwerbsminderung auslösenden Krankheit oder Behinderung kommt es grundsätzlich nicht an; desgleichen spielen „Verschuldensgesichtspunkte“ keine Rolle. Auch seelische Krankheiten oder Behinderungen können – allein oder in Verbindung mit organischen Krankheiten – eine rentenberechtigende Erwerbsminderung begründen (Schneider u. Gagel 2003). z Besonderheiten bei der Begutachtung Die medizinische Begutachtung bei Renten wegen Erwerbsminderung wird sich auf der Grundlage des neu geschaffenen Rechts noch stärker als zuvor auf die Einschätzung der zeitlichen Einsatzfähigkeit für Beschäftigungen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes fokussieren. Wegen der Bezugnahme der üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes geht es jedoch nicht nur um die Einschätzung der zeitlichen Einsetzbarkeit, sondern auch darum, welche zusätzlichen Einschränkungen aufgrund des vom Arzt erhobenen Krankheitsbildes zu beachten sind. Hierzu zählen unter anderem etwa körperliche oder geistige Beweglichkeit, Konzentrationsfähigkeit, Notwendigkeit wechselnder Körperhaltungen, besondere Ausgestaltung des Arbeitsplatzes wegen behinderungsbedingter Einschränkungen.
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Die Änderung des Rechts der Renten wegen vorzeitiger Erwerbsminderung wirkt sich auch auf die Renten wegen Todes aus: Witwen oder Witwer haben nach dem Tod des versicherten Ehegatten unter anderem dann Anspruch auf Witwenrente, wenn sie erwerbsgemindert sind (§ 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).
7.1.2.4 Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung ist vor allem die Ablösung der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche der Arbeitnehmer gegen den Unternehmer beziehungsweise gegen die im selben Unternehmen arbeitenden Kollegen; Unternehmer und Kollegen bleiben (mit Ausnahme von Wegeunfällen) wegen eines Personenschadens nur bei vorsätzlichem Handeln schadensersatzpflichtig. Versichert ist das Risiko, durch Einwirkungen der betrieblichen Tätigkeit einen gesundheitlichen Schaden zu erleiden. Im Gegensatz zum zivilrechtlichen Schadensersatzrecht ist der versicherte Arbeitnehmer damit der Verpflichtung enthoben, ein Verschulden des Verursachers der Körperschädigung (z. B. des Unternehmers beziehungsweise des Kollegen) nachweisen zu müssen. Der Versicherungsschutz bleibt selbst bei verbotswidrigem Verhalten bestehen; ausgenommen ist lediglich der Fall der vorsätzlichen Selbstschädigung. Organisatorisch umgesetzt wird die GUV von Berufsgenossenschaften, die als Selbstverwaltungskörperschaften nach Gewerbezweigen aufgebaut sind. Hinzu kommen die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft sowie die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. z Versicherter Personenkreis Im Vordergrund steht der Unfallversicherungsschutz der Beschäftigten. Der zeitliche Umfang der Beschäftigung und die Höhe des Entgelts (Stichwort: geringfügige Beschäftigung) sind insoweit ohne Bedeutung. Unfallversichert sind unter Umständen auch kurzzeitige arbeitnehmerähnliche Betätigungen. Selbstständige stehen nur ausnahmsweise unter Versicherungsschutz; vor allem dann, wenn die Satzung der zuständigen Berufsgenossenschaft dies vorsieht. Daneben ist die GUV auf zahlreiche Personengruppen erstreckt worden, die im Allgemeininteresse einer besonderen Gefahrenlage ausgesetzt sind; unter anderen etwa Nothelfer, Blutspender, Kinder in Kindergärten und Schulen (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 bis 17 SGB VII). z Versicherungsfälle und Versicherungsleistungen Die GUV tritt ein bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Ziel der Leistungen ist in erster Linie die Wiederherstellung der Gesundheit; die Berufsgenossenschaften tragen die zur Erreichung dieses Ziels anfallenden Kosten für Gesundheitsleistungen einschließlich Rehabilitation. Verbleiben trotz derartiger Maßnahmen gesundheitliche Defizite und Behinderungen, so steht dem
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Betroffenen Verletztenrente zu, deren Höhe sich nach der unfallbedingten (beziehungsweise durch die Berufskrankheit bedingten) Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und dem individuellen Jahresarbeitsverdienst richtet. z Arbeitsunfall. Der Schutz der GUV erstreckt sich nur auf Unfälle, die infolge der versicherten Tätigkeit eintreten. Hierzu zählen auch Unfälle auf dem Weg von und zur versicherten Tätigkeit (Wegeunfälle – § 8 Abs. 2 SGB VII). Versicherungsschutz scheidet dagegen aus, wenn zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallgeschehen kein innerer Zusammenhang besteht; etwa wenn der Beschäftigte an der Arbeitsstätte einer eigenwirtschaftlichen Betätigung nachgeht (z. B. Beschaffen von Zigaretten, Einnehmen von Mahlzeiten etc.) oder der Zusammenhang wegen Volltrunkenheit gelöst ist (Schmitt 2003, S. 928 f.). Unfall ist ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Notwendigkeit eines äußeren Ereignisses dient als Abgrenzung zu innerkörperlichen Veränderungen. Äußere Ereignisse in diesem Sinn sind allerdings nicht nur Gewalteinwirkungen, sondern auch etwa Infektionskrankheiten oder geistig–seelische Einwirkungen. Auch in derartigen Fällen setzt die Notwendigkeit eines „zeitlich begrenzten Ereignisses“ jedoch voraus, dass die Einwirkung innerhalb einer Arbeitsschicht eine wesentliche Ursache für den Eintritt der Gesundheitsstörung gesetzt hat. Bei einer nur über einen längeren Zeitraum wirksam werdenden Einwirkung kann allenfalls eine Berufskrankheit vorliegen. z Berufskrankheit. Der Schutz der GUV gegenüber Berufskrankheiten ist nicht umfassend in dem Sinn, dass jede durch eine konkrete Berufstätigkeit über eine längere Zeitdauer verursachte Erkrankung eine Berufskrankheit darstellt und nach dem Grad der hierauf zurückzuführenden Minderung der Erwerbstätigkeit zu entschädigen ist. Berufskrankheiten sind vielmehr grundsätzlich nur diejenigen Erkrankungen, die als Berufskrankheit anerkannt sind; die Anerkennung kommt in der Aufnahme in die Berufskrankheitenverordnung (BKVO) zum Ausdruck. Maßgebend für die Aufnahme ist, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die nach medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch die von ihnen zu verrichtenden Tätigkeiten in erheblich höherem Maße ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung. Daneben bedarf es des Nachweises der Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung im konkreten Einzelfall. z Ursachenzusammenhang Leistungsansprüche entstehen nur dann, wenn der bestehende Gesundheitsschaden „infolge“ eines Arbeitsunfalls beziehungsweise einer Berufskrankheit eingetreten ist. Notwendig ist daher ein ursächlicher Zusammenhang einerseits zwischen der unter Versicherungsschutz stehenden Tätig-
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keit und dem schädigenden Ereignis (z. B. dem Arbeitsunfall) – die sogenannte haftungsbegründende Kausalität – und andererseits zwischen dem schädigenden Ereignis und dem konkreten Gesundheitsschaden – die so genannte haftungsausfüllende Kausalität. Beide Kausalbeziehungen müssen nicht mit Sicherheit feststehen, d. h. bewiesen sein. Es reicht vielmehr jeweils eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, d. h. bei einer Abwägung aller Umstände muss den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommen. Das Sozialrecht lässt allerdings nicht jede Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn ausreichen, sondern von diesen nur diejenigen, die zum Eintritt des Erfolges (Schadensereignis beziehungsweise Gesundheitsschaden) wesentlich mitgewirkt haben (Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung). Hierbei handelt es sich um eine Wertentscheidung, die maßgebend auf die Qualität der einzelnen Ursachen abstellt; die Quantität oder die zeitliche Reihenfolge der Bedingungen sind dagegen nicht ausschlaggebend (Erlenkämper 2004, S. 468). Sind zwei oder mehr Bedingungen in gleichem Maße wesentlich für den Erfolg, dann sind sie alle wesentliche Bedingungen und damit gleichgewichtige Ursachen im Sinn der sozialrechtlichen Kausalitätslehre. Unwesentlich ist eine Ursache nur dann, wenn sie gegenüber einer oder mehreren anderen Ursachen deutlich in den Hintergrund tritt (Schmitt 2003, S. 776 f.). Abgrenzungsprobleme entstehen aus medizinischer Sicht häufig bei konkurrierenden Kausalverläufen im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies ist etwa der Fall, wenn die körperliche oder psychische Schädigung auf eine beim Versicherten bereits vorhandene Krankheitsanlage trifft. Der unfallbedingten äußeren Einwirkung kann die Qualifikation als wesentliche Bedingung nur dann abgesprochen werden, wenn die Krankheitsanlage bereits so stark ausgeprägt oder so leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlichen äußeren Einwirkung bedurfte (Schmitt 2003, S. 778). Danach ist das Unfallereignis nur dann keine wesentliche Bedingung, wenn die Krankheitsanlage von jedem alltäglichen Ereignis ausgelöst werden konnte. Bei der gebotenen Abwägung darf nicht vom Leitbild eines „gesunden“ Versicherten ausgegangen werden. Dies gilt etwa auch bei psychischen Fehlentwicklungen. Maßgebend ist nicht die „normale Reaktion“ eines psychisch stabilen Menschen auf die unfallbedingte äußere Einwirkung, sondern die Auswirkung bei der konkret betroffenen Persönlichkeitsstruktur (Erlenkämper 2004, S. 473). Dies gilt auch bei der Frage, ob die körperlichen oder seelischen Folgen eines Unfallereignisses eine wesentliche (Mit-)Ursache für den Entschluss zu einer Selbsttötung waren. Ohne Auswirkung auf die Beurteilung des Kausalzusammenhangs bleibt ein alternativer oder hypothetischer Kausalverlauf, etwa wenn der eingetretene Gesundheitsschaden durch ein späteres Ereignis ebenfalls verursacht worden wäre. Die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung ist auch dann maßgebend, wenn es um die Frage geht, ob und in welchem Ausmaß das Unfallereignis eine bereits bestehende Erkrankung verschlimmert hat. Soweit
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eine Abgrenzung der unfallbedingten Verschlimmerung möglich ist, wird nur der Verschlimmerungsanteil als Arbeitsunfall entschädigt. Kann ein Verschlimmerungsanteil nicht abgegrenzt werden, sondern wird die gesamte Krankheitsentwicklung durch den Unfall negativ beeinflusst, so ist die gesamte Abweichung vom Normalzustand zu bewerten. z Minderung der Erwerbsfähigkeit Die Bemessung der (für die Höhe der Verletztenrente maßgebenden) Minderung der Erwerbstätigkeit ist unabhängig von der vor dem Unfall konkret ausgeübten Tätigkeit beziehungsweise dem erlernten Beruf. Maßgebend ist allein, in welchem Ausmaß die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Arbeitsunfalls (der Berufskrankheit) die Einsatzmöglichkeiten im gesamten Erwerbsleben einschränken (Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung); identische Funktionseinschränkungen sind deshalb stets mit derselben Minderung der Erwerbstätigkeit zu bewerten. Von daher ist es unerheblich, wenn im konkreten Fall absehbar ist, dass die unfallbedingten Defizite keinen Einkommensverlust zur Folge haben werden. Es ist grundsätzlich immer von einer Erwerbsfähigkeit des Verletzten von 100% im Unfallzeitpunkt auszugehen; auch dann, wenn der Verletzte bereits vor dem Unfall, etwa durch Krankheiten oder die Folgen anderer Unfälle, in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der Verletzte vor dem Unfallereignis bereits auf Dauer völlig erwerbsunfähig war (BSGE 70, 177). Gesundheitsschäden, die später unabhängig vom Unfallereignis eintreten, führen nicht zur Erhöhung der Erwerbstätigkeitsminderung (Stichwort: Nachschaden). Dies gilt auch dann, wenn sich die unfallbedingten Gesundheitsstörungen wegen der unfallunabhängigen erheblich stärker auswirken, wie dies etwa beim Verlust des zweiten von paarigen Organen der Fall ist. Zur Gewährleistung eines gleichmäßigen Gesetzesvollzugs sind die allgemein anerkannten unfallmedizinischen Bewertungsgrundsätze heranzuziehen. Hierbei handelt es sich um Erfahrungswerte, die in Form von Minderung der Erwerbstätigkeit-Tabellen im Schrifttum (z. B. Schönberger et al. 2003; Mehrhoff u. Muhr 2003), teilweise auch in amtlichen Quellen (z. B. BMAS 1996) zur Bewertung vergleichbarer Funktionseinbußen entwickelt worden sind. Sie haben auch nach Auffassung der Rechtsprechung durch jahrzehntelange Übung eine eigene rechtliche Qualität erlangt und sind im Interesse der Gleichbehandlung aller Verletzten grundsätzlich zu beachten (BSGE 31, 185). Sind durch den Arbeitsunfall mehrere Gesundheitsstörungen verursacht worden, so sind die gesamten Auswirkungen der einzelnen Schäden auf die Erwerbsfähigkeit als Gesamt-Minderung der Erwerbstätigkeit zu bewerten. Dies geschieht nicht durch bloße Addition der Einzel-Minderung der Erwerbstätigkeit-Werte, sondern durch eine Würdigung des Zusammenwirkens der einzelnen unfallbedingten Funktionsstörungen (BSGE 48, 82).
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7.1.3 Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung Auch die Versicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit basiert auf dem Prinzip der Versicherungspflicht. Versicherungsfrei sind bestimmte Personengruppen wie Beamte, Richter, Soldaten, Geistliche, Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft und Rentner. Versicherungspflichtig sind insbesondere alle Beschäftigten, soweit sie nicht lediglich geringfügig tätig sind. Beim Eintritt von Arbeitslosigkeit steht für den Betroffenen zunächst die Kompensation des ausfallenden Erwerbseinkommens durch das Arbeitslosengeld im Vordergrund. Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt je nach der Dauer der vorangegangenen Versicherungspflichtverhältnisse ab dem 1. Januar 2005 im Regelfall zwölf Monate. Nach Ablauf der Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengeldes konnte der Arbeitslose nach dem bis zum Ende des Jahres 2004 geltenden Rechtszustand Arbeitslosenhilfe beanspruchen, soweit er nicht in der Lage war, seinen Unterhalt aus anderen Mitteln selbst zu bestreiten. An die Stelle der Arbeitslosenhilfe ist mit Wirkung vom 1. Januar 2005 die Grundsicherung für erwerbsfähige Arbeitslose in Form des Arbeitslosengeldes II getreten; Nichterwerbsfähige können Sozialgeld beanspruchen. Für die Annahme von Erwerbsfähigkeit gelten dieselben Kriterien, die für die Rente wegen voller Erwerbsminderung maßgebend sind (s. Kap. 7.1.2.3, Abschn. Versicherungsfälle und Leistungen). Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind ebenfalls subsidiäre, nach sozialhilferechtlichen Prinzipien pauschalierte Geldleistungen, die prinzipiell nicht mehr wie noch die Arbeitslosenhilfe von der Höhe des vor der Arbeitslosigkeit erzielten Arbeitsentgelts abhängen. Von den in §§ 117, 118 SGB III geregelten Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit ist aus medizinischer Sicht von besonderem Interesse, dass arbeitslos nur ist, wer eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht und auch in der Lage ist, eine solche Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes aufzunehmen und auszuüben oder an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen. Wird dem Arbeitslosen ein Arbeitsplatz oder eine Maßnahme zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben angeboten, so ist häufig zweifelhaft, ob die Beschäftigung oder Weiterbildungsmaßnahme dem Arbeitslosen aus gesundheitlichen Gründen zumutbar ist. Diese Frage stellte sich bislang in gleicher Weise für die Arbeitslosenhilfe. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ruhen, wenn der Versicherte eine vom Arbeitsamt angebotene Beschäftigung nicht angenommen oder nicht angetreten hat oder er sich geweigert hat, an einer Maßnahme zur beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung oder zur beruflichen Eingliederung teilzunehmen, oder eine derartige Maßnahme abgebrochen beziehungsweise durch ein maßnahmewidriges Verhalten Anlass für den Ausschluss aus einer solchen Maßnahme gegeben hat. Auch in diesen Fällen kommt es häufig auf die Frage an, ob der Versicherte gesundheitlich (physisch und/oder psychisch) in der Lage war, die angebotene Beschäftigung oder Maßnahme anzutreten.
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Die an die Stelle der Arbeitslosenhilfe getretene Leistungsart „Grundsicherung für Erwerbsfähige“ setzt dagegen lediglich voraus, dass der Betroffene erwerbsfähig ist (§ 7 SGB II). Erwerbsfähig ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 8 SGB II). Ist der Betroffene in diesem Umfang nicht mehr erwerbsfähig, so kann er an Stelle der Grundsicherung Sozialgeld beanspruchen. Die Grundsicherung für Erwerbsfähige knüpft damit an dieselben Kriterien der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit an, die auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung im Rahmen der GRV maßgebend sind.
7.1.4 Soziales Entschädigungsrecht Der Begriff „soziale Entschädigung“, gebräuchlich ist hierfür auch der Begriff „Sozialversorgung“, bezeichnet im System der sozialen Sicherung Leistungen, mit denen die Folgen gesundheitlicher Schädigungen ausgeglichen werden sollen, für die eine besondere Verantwortung des Staates in speziellen Gesetzen anerkannt wird (Haase 2008). Die staatliche Leistungspflicht basiert hier nicht auf einer beitragsfinanzierten Vorsorge wie in der Sozialversicherung, sondern darauf, dass der Staat für das Schädigungsereignis die Haftung übernommen hat. Kerngebiet des sozialen Entschädigungsrechts ist die Kriegsopferversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Auf dieses Gesetz verweisen auch die speziellen Entschädigungsgesetze wie das Soldatenversorgungsgesetz und das Zivildienstgesetz oder die Regelungen über die Impfopferentschädigungen (§§ 51 ff. Bundesseuchengesetz) sowie das Opferentschädigungsgesetz, das die Versorgung der Opfer von Gewalttaten regelt, und die im Zuge der Wiedervereinigung erlassenen Rehabilitationsgesetze, die sich mit der Entschädigung von Opfern des DDR-Regimes beschäftigen (Haase 2008, S. 1154).
7.1.4.1 Allgemeine Leistungsvoraussetzungen Trotz der genannten systematischen Unterschiede zum Sozialversicherungsrecht folgt das Leistungsrecht der sozialen Entschädigung der Systematik des Unfallversicherungsrechts. Im Vordergrund steht die Wiederherstellung der gesundheitlichen Integrität. Leistungen des sozialen Entschädigungsrechts sind insbesondere (§ 9 BVG): Heil- und Krankenbehandlung, Beschädigtenrente, Pflegezulage und Hinterbliebenenversorgung. Für die Heilund die Krankenbehandlung gelten grundsätzlich die Vorschriften des Leistungsrechts der GKV; die Betroffenen sind allerdings weitgehend von Kostenbeteiligungen freigestellt. Verbleiben auf Dauer gesundheitliche Defizite, so wird Beschädigtenrente gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit durch Schädigungsfolgen um mindestens 30% gemindert ist (hierzu Kap. 7.1.4.4).
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z Ursachenzusammenhang Wie in der GUV ist das Leistungsrecht am Kausalprinzip ausgerichtet. Das heißt Leistungsansprüche können grundsätzlich nur entstehen, wenn die gesundheitlichen Schäden auf Schädigungsereignisse zurückzuführen sind, die in den genannten Entschädigungsgesetzen aufgeführt sind. Insoweit wird wie im Unfallversicherungsrecht zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität unterschieden (s. Kap. 7.1.2.4, Abschn. Ursachenzusammenhang). Bei Ersterer geht es um die Frage, ob das schädigende Ereignis (z. B. die Gewalteinwirkung bei einer Straftat) unter den Schutzbereich einer die Entschädigungspflicht auslösenden Norm fällt. Versorgungsansprüche bestehen allerdings nur dann, wenn auch zwischen dem schädigenden Ereignis und dem konkret geltend gemachten Gesundheitsschaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität). Bei der Beurteilung der Kausalität treten grundsätzlich die gleichen Abgrenzungsprobleme auf, die auch schon bei vergleichbaren Fallgestaltungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung aufgezeigt wurden: Streitig ist vor allem sehr oft die Frage, ob die geltend gemachte Gesundheitsstörung auf einer so genannten inneren Ursache, wie etwa einem vorgeschädigten Organ oder einer anlagebedingten psychischen Störung beruht oder auf dem vom Betroffenen angeschuldigten Ereignis, das von einer Norm des sozialen Entschädigungsrechts erfasst wird. Wie bereits bei der Darstellung des Unfallversicherungsrechts beschrieben, ist das schädigende Ereignis dann als nicht wesentliche Ursache zu qualifizieren, wenn eine Krankheitsanlage existierte, die so leicht ansprechbar war, dass akute Erscheinungen jederzeit auch ohne besondere äußere Einwirkungen auftreten konnten (sog. Gelegenheitsursache) beziehungsweise mit anderen Worten: dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die gleiche Erscheinung ausgelöst hätte. Geht es um die Konkurrenz von anlagebedingtem Leiden und schädigungsbedingter Gesundheitsstörung für den Tod des Betroffenen, so reicht es aus, wenn der Todeszeitpunkt durch die schädigungsbedingte Erkrankung um wenigstens ein Jahr früher eingetreten ist, d. h. der Betroffene ohne das schädigende Ereignis wahrscheinlich wenigstens noch ein Jahr länger gelebt hätte. Wie im Recht der Unfallversicherung muss auch im sozialen Entschädigungsrecht der Kausalzusammenhang nicht voll bewiesen sein. Erforderlich ist vielmehr nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, die dann anzunehmen ist, wenn nach Feststellung, Prüfung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls insgesamt mehr für als gegen das Vorliegen der streitigen Tatsache spricht (so ausdrücklich: § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). z Besonderheit im Opferentschädigungsrecht Für besonders gelagerte Fälle des Opferentschädigungsrechts hat das BSG selbst diesen Beweismaßstab etwa im Hinblick auf Folgen von Vergewaltigungen noch unterschritten. Das Gericht geht davon aus, dass bei psy-
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chischen Störungen Veranlagung, Umwelteinflüsse, Lebensführung und andere Vorgänge aus dem Vorleben des Geschädigten praktisch immer als mehr oder weniger stark wirkende Mitursachen festzustellen sind und nicht sachgerecht gewichtet werden können. Wenn sich nach einem seelisch belastenden Vorgang ein Dauerleiden einstellt, lässt sich offenbar nicht überzeugend klären, ob und nach welchem psychischen Mechanismus dieser Vorgang das Dauerleiden herbeigeführt hat oder ob und in welchem Umfang schon eine Anlage von Krankheitswert vorhanden war. Erforderlich ist jedoch auch in derartigen Fällen, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen feststeht, dass Belastungen der jeweils betroffenen Art allgemein geeignet sind, die bestehende Erkrankung hervorzurufen (BSGE 77, 1). z Kann-Versorgung Ist die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, können die Versorgungsbehörden die Gesundheitsstörungen dennoch als Schädigungsfolge anerkennen und Versorgung gewähren, so genannte Kann-Versorgung, § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG (BMAS 1996, Rn 39). Erforderlich ist jedoch in jedem Fall eine zeitliche Verbindung zwischen einer Einwirkung, deren Ursächlichkeit wissenschaftlich zumindest in Betracht gezogen wird, und der Manifestation der Erkrankung beziehungsweise ihrer Verschlimmerung. Aus dem Bereich der Psychiatrie kommt eine Kann-Versorgung insbesondere für schizophrene Psychosen in Betracht (Überblick über die weiteren Erkrankungen in: BMAS 1996, Rn 39).
7.1.4.2 Grundlage der Begutachtung Für die Tätigkeit als Sachverständiger haben im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“ überragende Bedeutung. Sie beschäftigen sich einerseits mit den Grundlagen der Kausalitätsbeurteilungen und enthalten andererseits die für die Schätzung der Minderung der Erwerbstätigkeit (beziehungsweise im Schwerbehindertenrecht: des Grades der Behinderung) maßgebenden Tabellen für grundsätzlich alle in Betracht kommenden leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet. Bei den Anhaltspunkten handelt es sich weder um Gesetzes- noch um Verwaltungsvorschriften. Nach der Rechtsprechung (BSGE 75, 176; BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6) haben die Anhaltspunkte normähnliche Qualität und sind als geschlossenes Beurteilungs- und Bewertungssystem im Interesse der Gleichbehandlung aller Beschädigten und Behinderten zugleich als antizipierte Sachverständigengutachten zur Konkretisierung versorgungsrechtlicher Normen heranzuziehen. Für die Versorgungsverwal-
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tung haben sie bindende Wirkung; von den Gerichten sind sie zu beachten. Ihre generelle Richtigkeit kann nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden. Die Gerichte überprüfen die Anhaltspunkte allerdings im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit höherrangigem Recht und darauf, ob sie dem aktuellen Erkenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen.
7.1.4.3 Leistungen Beschädigtenrente erhalten Berechtigte, deren Erwerbsfähigkeit durch Schädigungsfolgen um mindestens 30% gemindert ist. Die Minderung der Erwerbstätigkeit ist nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen (§ 30 Abs. 1 BVG). Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die anerkannten Schädigungsfolgen beeinträchtigt ist (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Vorübergehende Gesundheitsstörungen oder Verschlimmerungen (bis zu sechs Monaten) sind nicht zu berücksichtigen (§ 30 Abs. 1 Satz 3 und 4 BVG). Die Minderung der Erwerbstätigkeit ist höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffenen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausübgeübt hat oder noch ausübt (besonderes berufliches Betroffensein, § 30 Abs. 2 BVG). Darüber hinaus erhalten alle rentenberechtigten Beschädigten, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, einen besonderen Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 BVG). Beschädigte, die infolge der Schädigung hilflos sind, erhalten zusätzlich Pflegezulage (§ 35 BVG). Hilflos sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Trifft der Anspruch auf Pflegezulage nach § 35 BVG mit Ansprüchen auf Leistungen der Pflegeversicherung zusammen, so sind die Leistungen der Pflegeversicherung grundsätzlich nachrangig (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI). Die Leistungen der Pflegeversicherung und die Pflegezulage nach § 35 BVG sind jedoch unterschiedlich ausgestaltet, sodass der generelle Vorrang der Pflegezulage Leistungen der Pflegeversicherung nicht generell ausschließt (BSG SozR 3-3300 § 34 Nr. 1).
7.1.5 Schwerbehindertenrecht Behinderung ist nach § 2 Abs. 1 SGB IX die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aufgrund von länger andauernder (mehr als sechs Monate) negativer Abweichung vom altersentsprechenden Normal-
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zustand körperlicher Funktionen, geistiger Fähigkeit oder seelischer Gesundheit. Das im Sommer 2001 in Kraft getretene SGB IX erfasst damit nicht nur Schwerbehinderte wie das zum gleichen Zeitpunkt aufgehobene Schwerbehindertengesetz, sondern umfassend alle behinderten Menschen. Die für die Eingliederung von schwerbehinderten Menschen in das Berufsleben wesentlichen Vorschriften sind jedoch weitgehend unverändert aus dem Schwerbehindertengesetz übernommen worden und finden sich jetzt in den §§ 68 ff. SGB IX. Die Feststellung des Status als schwerbehinderter Mensch (die Schwerbehinderteneigenschaft) ist nach wie vor von wesentlicher Bedeutung für bestimmte arbeitsrechtliche Schutzansprüche (verstärkter Kündigungsschutz, verlängerte Urlaubszeiten, besondere Mitbestimmungsorgane). Schwerbehindert sind Personen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50, die ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung rechtmäßig in Deutschland haben. Den Schwerbehinderten gleichgestellt werden können auf Antrag Personen mit einem Grad der Behinderung um weniger als 50, aber wenigstens 30, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne diese Hilfe einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder behalten können (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Zuständig für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft sind die Versorgungsämter (§ 69 SGB IX). Neben dem Schwerbehindertenstatus kommen noch weitere Eigenschaften in Betracht, deren Feststellung beantragt werden kann, weil sie für den Schutz nach dem Schwerbehindertenrecht oder für Nachteilsausgleiche (§ 126 SGB IX) nach anderen Rechtsvorschriften relevant sind. Von erheblicher Bedeutung ist vor allem die Feststellung gesundheitlicher Merkmale, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Hierzu zählen: die außergewöhnliche Gehbehinderung (BAS 1996, Rn 31), die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (§ 146 Abs. 1 SGB IX, BMAS 1996, Rn 30), die Notwendigkeit ständiger Begleitung (§ 146 Abs. 2 SGB IX, BMAS 1996, Rn 32), die äußerlich erkennbare dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit (§ 33 b Abs. 2 Nr. 2b EStG, BMAS 1996, Rn 28), Hilflosigkeit (§ 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG, BMAS 1996, Rn 21), Blindheit (§ 76 Abs. 2 a Nr. 3 BSHG, BMAS 1996, Rn 23), Gehörlosigkeit (§ 145 SGB IX) und behinderungsbedingte Unfähigkeit, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen (BMAS 1996, Rn 33). Der Grad der Behinderung (GdB) ist in Zehnerstufen, beginnend mit 20 und endend mit 100, festzustellen (§ 69 Abs. 1 SGB IX). Der Begriff ersetzt den früher auch im Schwerbehindertenrecht üblichen Begriff der Minderung der Erwerbstätigkeit. Die Höhe des Behinderungsgrades ist grundsätzlich identisch mit den Prozentsätzen der Erwerbsfähigkeitsminderung im sozialen Entschädigungsrecht. Zur Bemessung der Funktionsbeeinträchtigung sind jeweils die Grad der Behinderung-/Minderung der Erwerbstätigkeit- Tabellen der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (BMAS 1996) heranzuziehen. Treffen in einer Person mehrere Funktionsbeeinträchtigungen zusammen, so können die jeweiligen Prozentsätze nicht ohne Weiteres addiert werden. Dies kommt nur dann in Betracht, wenn sich die Funktions-
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beeinträchtigungen gegenseitig verstärken, nicht aber wenn sie sich unabhängig voneinander auswirken. Der Gesamt-Grad der Behinderung ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen aller Funktionsstörungen zu ermitteln (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSGE 81, 50).
7.1.6 Sozialhilfe Die Sozialhilfe ist der subsidiärste Zweig des deutschen Systems der sozialen Sicherung. Sie greift nur ein, wenn ein vorrangig verpflichteter Leistungsträger nicht existiert. Der Anspruch auf Sozialhilfe ist nicht an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis gebunden; grundsätzlich kann jeder nicht Erwerbsfähige Sozialhilfe beanspruchen, der sich legal in Deutschland aufhält. Erwerbsfähige, die ihren Lebensunterhalt nicht durch Einkommen oder Vermögen sicherstellen können, erhalten Arbeitslosengeld II nach dem SGB II (s. o. 7.1.3). Träger der Sozialhilfe sind in der Regel die Kommunen; örtlich zuständig ist der Träger, in dessen Bereich sich der Hilfebedürftige tatsächlich aufhält (Trenk-Hinterberger 2008, S. 1038 ff.). Die Pflicht zur Wahrung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG) zwingen den Staat zur Aufrechterhaltung des individuellen Existenzminimums. Es ist prinzipiell unerheblich, ob der Hilfesuchende seine Notlage verschuldet hat. Maßgebend ist allein, ob der Betroffene nicht in der Lage ist, sein Existenzminimum aus eigener Kraft sicherzustellen. Rechtsgrundlage der Sozialhilfe war früher das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sowie für Asylbewerber das Asylbewerberleistungsgesetz. Das BSHG wurde zum 1. 1. 2005 durch das SGB XII abgelöst. Die Leistungen der Sozialhilfe werden als Hilfe zum Lebensunterhalt (z. B. Barleistungen nach Regelsätzen) und als Hilfe in besonderen Lebenslagen (z. B. Krankenhilfe, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe) erbracht. Zu den tragenden Grundsätzen des Sozialhilferechts (eingehend: Trenk-Hinterberger 2008, S. 1035 ff.) zählen neben der bereits erwähnten Subsidiarität die Bedarfsdeckung und die Individualisierung. Individualisierung bedeutet, dass Art, Form und Maß der Hilfe sich nach den Besonderheiten des Einzelfalls richten und nicht wie zumeist die Leistungen der Sozialversicherung nach abstrakten Berechnungsregeln. Zur Wahrung des Existenzminimums muss die Hilfe so bemessen sein, dass der Betroffene im gesellschaftlichen Umfeld nicht ohne Weiteres als Hilfebedürftiger auffällt.
Literatur BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg) (1996) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996. BMAS 1996, www.anhaltspunkte.de Erlenkämper A (2004) Rechtliche Grundlagen. In: Venzlaff K, Förster U (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, S 581–641
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Haase F (2008) Soziales Entschädigungsrecht. In: Maydell B v, Ruland F (Hrsg) Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 11135–1171 Heberlein I (2008) Prüfung von Krankenhäusern im Vergleich – Aufnahme, Verweildauer, Abrechnung, Wirtschaftlichkeit, Qualität. Gesundheitsrecht 7:113–119 Krasney OE (2000) Verfahrensrechtliche Erwägungen. In: Suchenwirth R, Kunze K, Krasney OE (Hrsg) Neurologische Begutachtung, 3. Aufl. Urban & Fischer, München, S 3–30 Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (2006) Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches. MDS Essen, www.mds-ev.de Mehrhoff F, Muhr G (2003) Unfallbegutachtung, 11. Aufl. De Gruyter, Berlin Reimann A (2008) Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. In: Maydell B v, Ruland F (Hrsg) Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 1199–1251 Ruland F (2008) Rentenversicherung. In: Maydell B v, Ruland F (Hrsg) Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 801–875 Schmitt J (2008) Unfallversicherung. In: Maydell B v, Ruland F (Hrsg) Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 753–800 Schneider W, Gagel A (2003) Psychosomatische Begutachtung im Sozialrecht. Die Sozialgerichtsbarkeit 50:492–497 Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (2003) Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. Schmidt, Berlin Trenk-Hinterberger P (2004) Sozialhilferecht. In: Maydell B v, Ruland F (Hrsg) Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 1029–1068 Udsching P (1996) Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs. VSSR 24:271–287 Udsching P (2000) SGB XI – Soziale Pflegeversicherung. Kommentar, 2. Aufl. Beck, München
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Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht D. Seifert
7.2.1 Einleitung Sozialrechtliche Begutachtungen haben nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Allein die Häufigkeit von geschätzten 200 000 sozialmedizinischen Gutachten pro Jahr (Weiß 1998) weist darauf hin. Das Aufgabenspektrum des medizinischen Sachverständigen ist umfassend und komplex. Der im psychiatrischen oder psychosomatischen Bereich tätige Arzt 1 ist spätestens im Verlauf der Facharztausbildung mit der Erstellung eines Sozialrechtsgutachtens – beispielsweise zur Frage einer Berentung – konfrontiert. Dabei treten insbesondere bei
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Laut Arztstatistik der Bundesärztekammer haben am 31. 12. 2006 von den insgesamt 311 230 tätigen Ärzten/-innen 15 094 (4,8%) im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenheilkunde und psychosomatische Medizin gearbeitet.
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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der Beantwortung der von gerichtlicher Seite formulierten Fragen nicht selten Verständnisschwierigkeiten auf. Unterschiedliche Terminologien und differente Herangehensweisen an einen medizinischen Fall erschweren die Kommunikation zwischen den beiden Disziplinen. Von richterlicher Seite wird allerdings bei allen Ärzten nicht nur ein juristisches Grundwissen vorausgesetzt, sondern laut Erlenkämper erfordert „die ärztliche Tätigkeit . . . neben den selbstverständlichen medizinischen Kenntnissen und Erfahrungen ein breites Spektrum auch an rechtlichem, insbesondere sozialrechtlichem Wissen“ (2003, S. 2). Für eine verantwortungsvolle Erfüllung ärztlicher Tätigkeit bedarf es daher nicht nur der Kenntnis sozialmedizinisch relevanter Rechtsbegriffe, sondern auch des Wissens über z. B. geltende rechtliche Voraussetzungen und Grenzen von Rentenansprüchen oder über die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit. Der gutachterlich tätige Arzt hat sich jedoch ebenso seiner Grenzen bewusst zu sein. Er soll sein Fachwissen einbringen, ihm obliegt hingegen nicht die Entscheidungskompetenz, ob nun einem Probanden die Rente zusteht oder nicht. Dies bleibt dem Ermessen des Auftraggebers, also beispielsweise dem Rentenversicherungsträger beziehungsweise im Streitfall dem Sozialgericht vorbehalten. Die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen umfasst folgende vier aufeinander aufbauende Bereiche: z die psychiatrisch-psychotherapeutische Diagnostik, z die Einschätzung des Schweregrades einer gegebenenfalls vorliegenden psychischen Erkrankung/Störung (orientiert an der ICD-10-Klassifikation), z die Fragen nach Behandlungsmöglichkeiten und Prognose und z die darauf aufbauende gutachterliche Stellungnahme/Beurteilung mit der Beantwortung der vom Auftraggeber formulierten Beweisfragen. Die Beweisfragen sind aus fachlicher Sicht allerdings nicht immer eindeutig zu beantworten. Zweifel oder Unsicherheiten sollten vom Gutachter offen dargelegt und diskutiert werden, denn das Ergebnis eines Gutachtens hat oft weit reichende Konsequenzen, die mitunter einen nur noch schwer umkehrbaren Weg bahnen können. Dem Gutachten kommt hierbei eine bedeutsame Rolle zu, es dient dem Auftraggeber als maßgebliche Grundlage im Sinne eines Beweismittels für die Entscheidung über die beantragte Sozialleistung (Cibis 2003). Die für den Arzt wichtigsten Bereiche des Sozialrechts umfassen vor allem die z gesetzliche Krankenversicherung (GKV – Sozialgesetzbuch V); z hier geht es z. B. um Arbeitsunfähigkeit oder die Notwendigkeit bestimmter ambulanter oder stationärer Behandlungsmaßnahmen. Solche Fragestellungen gehören zum Alltagsgeschäft niedergelassener Ärzte und sind nur selten Gegenstand gutachterlicher Auseinandersetzungen; z gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI);
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z gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI); bei derartigen Gutachten ist die Frage zu beantworten, ob jemand aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Behinderung teilweise oder ganz in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. In diesen Bereich fällt auch die gutachterliche Beurteilung der Dienstfähigkeit von Beamten; z gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII); hier ist zu klären, ob bestimmte psychische Beeinträchtigungen oder Erkrankungen Folgen eines Arbeitsunfalls sind und wie stark diese Folgen den Betreffenden in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen. Die vom Versicherungsträger zu gewährenden Leistungen reichen von der Kostenübernahme einer Heilbehandlung über rehabilitative Leistungen bis hin zur Rente. Von diesen gesetzlichen Sozialversicherungen sind die privaten Versicherungen strikt abzugrenzen, da diese je nach Versicherung zum Teil sehr unterschiedliche Voraussetzungen und Regelungen besitzen. Vor der differenzierten Darstellung der oben genannten Bereiche sollen einige grundlegende Aspekte erklärend vorangestellt werden. In den verschiedenen Sozialrechtsbereichen sind für den Begriff „Krankheit“ recht unterschiedliche Definitionen entwickelt worden. Gemeinsam ist ihnen lediglich, dass es sich bei einer Krankheit um einen gestörten geistigen oder körperlichen Zustand handelt, der bestimmte Rechtsfolgen nach sich zieht, etwa Arbeitsunfähigkeit, Behandlungsbedürftigkeit oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die anspruchsbegründeten Tatsachen, also das Vorliegen einer Krankheit oder eines Unfallereignisses, eine gesundheitliche Schädigung oder eine daraus resultierende Einschränkung des Leistungsvermögens müssen bewiesen sein. Die Beweispflicht liegt beim Probanden, der Anspruch auf die Leistungen erhebt. Eine solche Voraussetzung liegt laut Bundessozialgericht (BSGE 6, 144) vor, wenn an ihr „kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt“. Kommt es für die Gewährung einer Sozialleistung auf die Feststellung eines Kausalzusammenhanges an, also z. B. im Unfallversicherungsrecht, dann muss der Zusammenhang nicht bewiesen werden, sondern es genügt dessen Wahrscheinlichkeit. Laut Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSGE 6, 70, 72) bedeutet „wahrscheinlich“ diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt. Ein Kausalzusammenhang gilt dann als wahrscheinlich, wenn „ernsthafte Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden“. Diese Definitionen hören sich zwar recht eindeutig an, auf den konkreten Einzelfall bezogen werden jedoch häufig Abgrenzungs- und Zuordnungsprobleme offensichtlich. Als weiterer Aspekt bleibt vorab anzumerken, dass aufgrund der rechtlichen Selbstständigkeit der einzelnen Sozialleistungsträger jeder Versicherungsträger über die bei ihm erhobenen Ansprüche in eigener Zuständigkeit entscheidet. Dies kann unter Umständen dazu führen, dass die prakti-
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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schen Auswirkungen dem Betroffenen wenig plausibel erscheinen, wenn beispielsweise ein Patient nach einem folgenreichen Unfall vom zuständigen Rentenversicherungsträger eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugebilligt bekommt, gleichzeitig aber der Zusammenhang zu dem erlittenen Unfall von der Berufsgenossenschaft wegen Fehlens eines kausalen Zusammenhangs nicht anerkannt wird.
7.2.2 Krankenversicherung 7.2.2.1 Die gesetzliche Krankenversicherung Bereits bei einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handelt es sich um ein Gutachten, wenn auch in kurzer, formalisierter Form. Die anspruchsbegründete Tatsache, also die psychische Krankheit beziehungsweise Störung, muss daher mittels einer sorgfältigen Untersuchung festgestellt werden. Zugleich ist der kausale Zusammenhang mit der durch diese Krankheit bedingten Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeitstätigkeit darzustellen. Dies dürfte bei psychiatrischen Krankheitsbildern im engeren Sinne, wie bei einer akuten schizophrenen Psychose, einer organischen Psychose oder bei einer akuten manischen oder depressiven Phase unproblematisch sein. Hier ist zweifelsohne von einer derartigen krankheitsbedingten Beeinträchtigung auszugehen, dass dem Patienten die Fortführung seiner beruflichen Tätigkeit nicht zuzumuten ist. Auch Suchterkrankungen können Arbeitsunfähigkeit bedingen, beispielsweise bei einer akuten Intoxikation oder einem Entzugssyndrom. Bei lediglich schädlichem Gebrauch psychotroper Substanzen ist in der Regel indes keine Arbeitsunfähigkeit anzunehmen. Bei einer tatsächlichen Abhängigkeit ist im Einzelfall zu entscheiden, ob der jeweilige psychopathologische Befund eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit rechtfertigt. In solchen Fällen sollte das Augenmerk des Arztes aber darauf gerichtet sein, den Patienten zur Teilnahme an einer längerfristigen Suchtbehandlung zu motivieren. Schwieriger zu beantworten ist zuweilen die Frage einer Arbeitsunfähigkeit bei abgeklungenen Krankheitsepisoden/-phasen oder chronischen Verlaufsformen. Entscheidend ist hierbei weniger die Diagnose, sondern vor allem der aktuelle psychopathologische Befund. Bei einem beginnenden demenziellen Syndrom ist demzufolge vor allem auf das Ausmaß der Konzentrationseinschränkung, der Gedächtnisleistungen, aber auch die affektiven Auffälligkeiten mit den damit einhergehenden Einschränkungen der Bewältigung des Arbeitsalltages zu achten. Bei Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Entwicklungen ist zwar im Allgemeinen von einer Arbeitsfähigkeit auszugehen (Foerster 2004). Dennoch kann auch hier in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad aktueller psychopathologischer Symptome durchaus eine zeitweilige Arbeitsunfähigkeit begründet sein, etwa im Rahmen einer Dekompensation eines Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ähnliche Konstellationen
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7 Sozialrecht
sind beispielsweise bei Patientinnen mit einer Anorexia nervosa oder bei paranoiden Persönlichkeitsstörungen denkbar. Zu beachten bleibt insbesondere bei diesen Störungsbildern die Dauer der Bescheinigungen. Das wiederholte Arbeitsunfähigschreiben fördert eine Chronifizierung derartiger Störungen. Daher sollten in diesen Fällen konkrete Überlegungen hinsichtlich präventiver Maßnahmen erfolgen (Stevens u. Foerster 1995). Ansonsten ist bei chronisch verlaufenden psychischen Syndromen eher über die Frage der Erwerbsfähigkeit nachzudenken.
7.2.2.2 Private Krankenversicherungen Wenn auch bei privaten Krankenversicherungen die Arbeitsunfähigkeit in wesentlichen Teilen anders definiert ist (Ostendorf 1999), so sind in der praktischen Handhabung wohl kaum relevante Unterschiede zu erwarten. Bei der hier geltenden Definition geht man dann von Arbeitsunfähigkeit aus, „wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht“. Des Weiteren wird als Grundlage für die Einschätzung die unmittelbar zuvor konkret ausgeübte Tätigkeit herangezogen. Diese Definition ist dem Wortlaut nach enger, was noch dadurch unterstützt wird, dass es im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung eine prozentuale Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit gibt. Wann jedoch konkret eine 90-prozentige oder wann eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit vorliegt, entscheidet weiterhin der Arzt nach dem Ausprägungsgrad des psychopathologischen Befundes, wobei ebenso wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung der Nachweis eines kausalen Zusammenhanges zwischen Störung und der dadurch bedingten Unfähigkeit zur Fortsetzung der Tätigkeit erbracht werden muss. Für den Betroffenen ist ansonsten von Bedeutung, dass der Anspruch auf Krankenhaustagegeld lediglich bei einer 100-prozentigen Arbeitsunfähigkeit besteht.
7.2.3 Pflegeversicherung Alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen werden seit dem 1. 1. 1995 zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit automatisch auch Mitglied der sozialen Pflegeversicherung. Privat Krankenversicherte sind verpflichtet, einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen. Die Gutachten werden gemäß der von den Spitzenverbänden herausgearbeiteten Richtlinien erstattet, wobei die Pflegebedürftigkeit zu beurteilen ist. Der medizinische Sachverständige hat gegebenenfalls eine Einschätzung in eine der drei Pflegestufen vorzunehmen (I = erheblich Pflegebedürftige; II = Schwerpflegebedürftige; II = Schwerstpflegebedürftige – s. auch Abschn. 7.1). Im Einzelfall stellt sich die exakte Bemessung der zeitlichen Dauer des Hilfsbedarfs als nicht unproblematisch heraus. Für das
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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Fachgebiet der Psychiatrie ist vor allem die Einschätzung der Ausprägung demenzieller Syndrome von Relevanz. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass sich auch für diese Patienten die Pflegebedürftigkeit an dem Hilfebedarf aus dem Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) berechnet. Andere Aspekte der Demenzerkrankung, wie beispielsweise die wegen erheblicher Orientierungsstörungen oder aggressiver Tendenzen entstandene Intensität der Aufsicht zählen gemäß der Rechtsprechung nicht zu den maßgebenden Hilfeleistungen. Hier wäre im Gutachten allenfalls mittels Betonung individueller Besonderheiten eine bestimmte Pflegestufe zu begründen.
7.2.4 Rentenversicherung 7.2.4.1 Die gesetzliche Rentenversicherung Dieser Bereich ist in besonderer Weise dazu bestimmt, dem „Berechtigten im Bedarfsfall die notwendigen Leistungen zur Verfügung zu stellen“ (Erlenkämper 2003). Tritt eine schwere Krankheit auf, wegen derer der Versicherte dauerhaft nicht mehr seiner beruflichen Tätigkeit oder einer sonstigen Erwerbstätigkeit nachgehen kann, liegt in der Regel eine bedeutsame finanzielle Risikosituation vor. Ein Sozialstaat hat daher für solche Situationen grundlegende Vorsorge und Regelungen zu treffen. Aufgabe des Sozialrechts ist laut Erlenkämper heute aber „nicht mehr nur das Recht zur Abwendung sozialer Bedürftigkeit oder Not. Es soll auch positiv zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit beitragen . . .“ Wann nun aber ein „Bedarfsfall“ tatsächlich vorliegt, ist gerade in diesem Teilbereich nicht selten Anlass lang anhaltender rechtlicher Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang erscheint ein Blick auf die Statistik interessant: So waren noch im Jahre 1994 insgesamt 295 223 Berentungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt worden2. Seitdem ist diese Zahl stetig gesunken. Im Jahre 2000 – also unmittelbar vor der letzten Rentenreform – wurden 212 868 Renten, im Jahr 2006 wurden lediglich 158 351 Renten bewilligt, auch die Rentenanträge sind in diesem Zeitraum um zirka 22% gesunken. Psychiatrische Störungs- und Krankheitsbilder gewinnen dabei jedoch zunehmende Bedeutung; 1994 erfolgte etwa jede sechste Berentung (16,9%) aufgrund psychischer Erkrankungen. Mittlerweile stellen sie in Relation die Hauptdiagnosengruppe dar (32,5%, bei den Frauen liegt der Anteil mit 38,3% noch etwas höher), wenngleich die absoluten Zahlen gegenüber 1994 nur unwesentlich gestiegen sind (2000: 51 450 vs. 2006: 51 433). Das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. 12. 2000 hat einige grundsätzliche Veränderungen nach 2
Die jeweils aktuellen Daten sind unter folgender Internetadresse nachzulesen: www.forschung.deutsche-rentenversicherung.de
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sich gezogen, die wohl auch als ein wesentlicher Grund für diese Entwicklungen zu betrachten sind (s. Abschn. 7.1). Während zu Beginn der 1980er Jahre eine Frühberentung bei etwa 60% aufgrund von Erkrankungen des Muskel- und Skelettapparates sowie wegen Herz- und Kreislauferkrankungen erfolgt war, lässt sich im letzten Vierteljahrhundert somit eine deutliche Verschiebung hin zu psychischen Erkrankungen als Rentenbegründung beobachten. Ob dieser relative Anstieg primär durch die negative Arbeitsmarktentwicklung, eine wenig konstante Nutzung präventiver Maßnahmen oder aber durch eine generelle Zunahme dieser Störungsbilder begründet ist, lässt sich kaum sicher sagen. Zumindest aber weist diese Entwicklung darauf hin, dass psychisch Kranke zunehmend weniger am Arbeitsprozess teilhaben. Daher sollte für diese Patienten vor Einleitung eines Rentenverfahrens ernsthaft über rehabilitative Maßnahmen nachgedacht werden. Bedenklich stimmt zudem, dass die Krankheitstage aufgrund psychischer Störungen seit 1991 um 33% zugenommen haben, während die krankheitsbedingten Fehlzeiten aufgrund aller anderen Krankheitsarten seit 1991 einen Rückgang um 47% aufweisen (Bühring 2007). Bei differenzierter Betrachtung hat sich die Verteilung der psychiatrischen Gründe für eine Frühberentung im Laufe der Zeit geändert. Laut einer Untersuchung von Bochnik (1995) über die Berentungssituation im Jahr 1991 waren Patienten mit psychotischen Störungen eher selten vertreten; 15% litten an einer Schizophrenie und 16% an einer affektiven Psychose. Der mit Abstand größte Anteil betraf die Patienten mit neurotischen Störungen beziehungsweise mit Persönlichkeitsstörungen (zirka 63%). Die restlichen psychiatrischen Gründe einer Berentung verteilten sich auf diejenigen mit einer hirnorganischen Störung sowie einer Intelligenzminderung. Die aktuellen Daten – veröffentlicht im Forschungsportal der Deutschen Rentenversicherung – belegen eine veränderte diagnostische Aufteilung: Von den im Jahre 2006 insgesamt 158 351 bewilligten Frühberentungen begründen sich etwa ein Drittel (51 433) auf psychische Erkrankungen (ICD-10 F00–F99). Innerhalb der psychischen Störungsbilder haben sich grundlegende Veränderungen ergeben. Während neurotische und Persönlichkeitsstörungen erheblich seltener als noch 1991 als Begründung einer Frühberentung genannt werden, hat sich die Zahl der affektiven Erkrankungen (F30–F39) mit nunmehr 33,6% mehr als verdoppelt. Offenbar liegt das Chronizitätsrisiko depressiver Störungen doch höher als bislang angenommen (Kapfhammer 2007), was unter anderem auch an der noch heute unzureichenden Behandlung dieser Störungsbilder zu liegen scheint (Spießl et al. 2006). Dieser deutliche Anstieg lässt sich sicherlich aber nicht allein mit einer Zunahme depressiver Erkrankungen erklären (Murray u. Lopez 1996), sondern wird auch aufgrund der Verschiebungen der Störungsbilder innerhalb der Diagnosegruppen zu Stande kommen. Was früher als neurotische Depression (ICD-9) gewertet wurde, findet sich nun unter den affektiven Störungen (ICD-10: F30–F39) wieder. In den absoluten Zahlen über-
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
z
wiegen Berentungen bei Männern gegenüber Frauen, wobei psychische Störungen bei den Frauen relativ häufiger als Grund für eine Frühberentung anzutreffen sind (Tabelle 7.1). Bemerkenswert sind ebenso einige geschlechtsspezifische Unterschiede der Berentungsgründe. Die hierbei größte Differenz findet sich erwartungsgemäß bei den psychischen Störungen durch psychotrope Substanzen. Etwa
Tabelle 7.1. Psychiatrische Gründe der Frühberentungen 2006 (N = 158.351) Diagnosen (ICD-Schlüssel)
Frauen
Männer
Berentungen insgesamt 70 529 (44,5%) Berentungen aus 26 979 psychischen Gründen (38,3% aller Rentengründe)
87 822 (55,5%) 24 453 (27,8% aller Rentengründe)
davon aufgrund:
N
%
N
%
z organisch bedingte Störungen/Demenzen (F00–F09)
1129
4,2
2256
9,2
z psychische Störungen durch psychotrope Substanzen (F10–F19) – davon allein wegen Alkohol
1141
4,2
4804
19,6
992
3,7
4383
17,9
z Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F20–F29)
3318
12,3
3845
15,7
10 892
40,4
6379
26,1
z neurotische Störungen (F40–F48)
7359
27,3
4043
16,5
z Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F50–F59)
279
1,0
86
0,4
z Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60–F69)
1592
5,9
1239
5,1
z Intelligenzminderung (F70–F79)
1085
4,0
1507
6,2
184
0,7
294
1,2
26 979
100
24 453
100
z affektive Störungen (F30–F39)
z Entwicklungs- und sonstige Störungen (F80–F99) Summe
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248
z
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jeder fünfte Mann, der wegen einer psychischen Störung frühberentet wird, leidet an einer Suchtproblematik, wobei nach wie vor die Alkoholsucht deutlich überwiegt. Bei Frauen ist dieser Berentungsgrund signifikant seltener anzutreffen (etwa jede 25. Frau). Hier überwiegen vor allem affektive und neurotische Störungen, die zusammen zwei Drittel der Berentungsgründe ausmachen. In allen Altersstufen werden psychische und psychosomatische Störungen bei Frauen häufiger diagnostiziert und behandelt als bei Männern (Neises 2007).
7.2.4.2 Einzelne Störungsbilder Aus gutachterlicher Sicht wirft die Beurteilung von organisch bedingten Störungen (F00–F09) zumeist keine besonderen Schwierigkeiten auf. Ausschlaggebend ist nicht die Ätiologie oder diagnostische Zuordnung, sondern die Ausprägung der psychopathologischen Symptomatik (Orientiertheit, Antriebsverhalten, Aufmerksamkeitsfunktionen, Affektlabilität etc.) Hierzu bieten sich auch einige standardisierte Verfahren an (Sturm u. Wallesch 2007). Zu beurteilen bleibt auch die Art der Wesensänderung mit den Auswirkungen auf das Alltagsleben und speziell das berufliche Tätigkeitsfeld des Probanden. Insbesondere hierbei kann es durchaus hilfreich sein, zusätzlich fremdanamnestische Informationen hinzuzuziehen. Bei leichten demenziellen Syndromen kann bei entsprechender Gestaltung des Arbeitsumfeldes unter Umständen noch eine leichte Erwerbstätigkeit ausgeübt werden, welche dann möglicherweise einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf besitzt. Suchterkrankungen (F10–F19) stellen für Männer den zweithäufigsten Berentungsgrund unter den psychischen Störungen dar (s. Tabelle 7.1). Vor Einleitung eines Rentenverfahrens sollten sich die Bemühungen allerdings auf rehabilitative Maßnahmen konzentrieren. Diese zielen auf eine Besserung des Gesundheitszustandes ab beziehungsweise sollen zumindest eine Verschlechterung verhindern. Daher ist der Proband gemäß SGB I auch verpflichtet, aktiv daran teilzunehmen (sog. Mitwirkungspflicht). Kommt der Versicherte seinen Mitwirkungspflichten nicht nach (z. B. auch durch Nichterscheinen beim Gutachtentermin) und wird damit die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen Leistungen versagen beziehungsweise entziehen (Widder 2007). Sind indes bereits mehrere Rehabiltationsversuche gescheitert, erhebliche Leistungsdefizite unübersehbar und darüber hinaus auch organische Folgeerkrankungen zu diagnostizieren, so wird man ernsthaft eine Berentung diskutieren müssen. Gegebenenfalls sind zusätzliche Begutachtungen (z. B. durch einen Internisten) anzuregen. Die Beurteilung schizophrener Psychosen wirft in der Regel keine allzu großen Probleme auf. Neben dem psychopathologischen Querschnittsbild ist vor allem der Langzeitverlauf zu betrachten. Entscheidend sind zum einen die Häufigkeit und Dauer der psychotischen Episoden und zum anderen die Frage, inwieweit jeweils eine Vollremission erreicht wurde oder
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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aber bleibende psychopathologische Restsymptome bestehen blieben beziehungsweise eine zunehmende Chronifizierung im Sinne eines Residualzustandes vorliegt, welche dann zu konkreten Leistungseinbußen geführt hat. Zu warnen ist vor einer zu frühzeitigen Empfehlung einer Berentung. Durch das mittlerweile weitgehend gut ausgebaute komplementäre Netz existieren auch auf der Arbeitsachse durchaus überlegenswerte Alternativen, wie beispielsweise Werkstätten für Behinderte oder aber auch eine Reihe von Selbsthilfefirmen. Daher sind insbesondere bei diesen Patienten vorab die zur Verfügung stehenden rehabilitativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Die affektiven Störungsbilder (F30–F39) stellen mittlerweile die häufigste Begründung einer Frühberentung dar. Dies wird zumindest zum Teil mit der insgesamt ansteigenden Prävalenz affektiver Erkrankungen zusammenhängen. Fast jeder Fünfte erkrankt bis zu seinem 65. Lebensjahr an einer klinisch relevanten Depression (Wittchen et al. 2000), wobei eine bedeutsame Geschlechtsdifferenz besteht; bei Frauen tritt dieses Störungsbild mit 24,5% doppelt so häufig wie bei Männern auf. Depressionen sind weltweit die Krankheiten, die für die Patienten die größten Einbußen an Lebensqualität mit sich bringen. Bei der gutachterlichen Bewertung einer depressiven Störung kommt es auf die Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Probanden an. Diese beschränkt sich – quasi definitionsgemäß – auf die eigentliche Krankheitsphase und gegebenenfalls eine gewisse Zeitspanne direkt im Anschluss, die dann mit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgedeckt sein dürfte. Eine länger andauernde erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit sollte aber bei einem „typisch“ phasenhaften Verlauf gerade nicht auftreten. Eventuell ist hier die Frage aufzuwerfen, ob die Beratung des Versicherten zuweilen etwas kurzsichtig war, zumal die Wiedereingliederung in den alltäglichen Arbeitsprozess für depressive Patienten mitunter einen nicht zu unterschätzenden Selbstwert stabilisierenden Faktor besitzen kann. Im Wesentlichen kommt es daher bei der Beurteilung auf die Zahl, Dauer und Schwere der einzelnen Krankheitsphasen an, wobei vorab alle entsprechenden Therapieverfahren – insbesondere auch die medikamentöse Phasenprophylaxe – ausgeschöpft sein sollten. Für eine Frühberentung sprechen folglich erfolglose (intensive) fachspezifische Behandlungen sowie ein chronifizierter Verlauf. Im Einzelnen sollten verschiedene Antidepressiva (gegebenenfalls in Kombination mit Neuroleptika) in ausreichend hoher Dosierung und über eine ausreichend lange Zeitspanne und nicht allein unter ambulanten, sondern auch unter stationären Bedingungen verabreicht worden sein (Foerster 2004). Auch andere anerkannte Behandlungsmethoden, wie Wachtherapie oder Elektrokrampftherapie, sollten gegebenenfalls Berücksichtigung finden. Etwas umfangreicher sollen im Folgenden die neurotischen, Belastungsund somatoformen Störungen (ICD-10: F4) sowie die Persönlichkeitsstörungen (F6) dargestellt werden; sie machen heute bei Frauen mehr als ein Drittel und bei Männern mehr als ein Fünftel aller psychiatrischen Beren-
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tungsgründe aus. Dass diese Störungsbilder gegenüber der Situation Anfang der 90er Jahre mittlerweile seltener zu einer Berentung führen, dürfte unter anderem auch an den durch die letzte Rentenreform beschlossenen Änderungen liegen; die Hürde zur Bewilligung wurde besonders bei diesen Störungsbildern höher gesetzt. Die unter dieser Überschrift subsumierten psychischen Störungen führen besonders häufig nicht nur zu diagnostischen Zuordnungsschwierigkeiten, sondern auch zu gutachterlichen Meinungsverschiedenheiten und Kommunikationsproblemen mit den Juristen. Kompliziert wird dieser Problembereich noch dadurch, dass für diese Störungen nach wie vor keine allgemein akzeptierte Krankheitstheorie existiert. Folglich verwundert es wenig, wenn Sachverständige je nach theoretischer und therapeutischer Orientierung „einzelnen, nicht unbedingt übereinstimmenden Aspekten unterschiedliches Gewicht beimessen“ (Foerster 2001) und demzufolge auch zu einer differenten Beurteilung gelangen. Für umschriebene Krankheitsbilder wie die Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa) ist die gutachterliche Einschätzung schon allein aufgrund der therapeutisch und prognostisch häufig ungünstig verlaufenden Störung noch vergleichsweise einfach. Bei Vorliegen einer chronischen Verlaufsform mit mehreren körperlichen Komplikationen sowie sonstigen psychischen Symptomen (sozialer Rückzug, depressive Verstimmungen etc.) wird man zumeist von derart ausgeprägten Leistungseinbußen auszugehen haben, dass eine Berentung zu befürworten wäre. Bei den anderen relevanten Störungsbildern (Angst- und Panikstörungen, Zwangsstörungen und dissoziative Störungen) lassen sich weder spezifische noch generelle Aussagen zu den Voraussetzungen einer zeitlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit aufzählen. Hier kommt es auf eine individuelle Analyse an, bei der auch die prämorbide Persönlichkeitsstruktur des Probanden Berücksichtigung finden sollte. Vor der Befürwortung einer Rente sollten grundsätzlich mehrere (ernsthafte) therapeutische Versuche unternommen worden sein, die sich nicht allein auf ambulante Maßnahmen beschränken dürfen. Die jeweiligen therapeutischen Erfahrungen sind hinsichtlich der gutachterlichen Einschätzung zu berücksichtigen. In den letzten Jahren erfreuten sich neue Diagnosebegriffe im Zusammenhang mit angeblich „umweltbezogenen“ Körperbeschwerden, wie etwa Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS), „Multiple Chemical Sensitivity“ (MCS) oder „Sick Building Syndrom“ (SBS) einer zunehmenden Beliebtheit. Derartige unscharfe Wortneuschöpfungen führen sicher nicht zu einer verbesserten Verständigung zwischen Juristen und medizinischen Sachverständigen. Dies gilt auch für die somatoformen Störungsbilder, speziell das so genannte Fibromyalgiesyndrom (Foerster 2002; Hausotter 1998), einer im weiteren Sinne multiplen Schmerzsymptomatik, bei der es trotz intensiver Untersuchungen nicht gelungen ist, eine organische Ursache auszumachen. Hinter diesen Beschwerdebildern verbergen sich zumeist chronisch verlaufende Erschöpfungssyndrome, die gemäß früherer Klassifikation unter dem Begriff der Neurasthenie zusammengefasst wurden. Die Patienten klagen über eine gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger und/oder körper-
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licher Anstrengung, Schwindel, Schlaflosigkeit sowie weitere unspezifische Beschwerden, die entweder im Anschluss an belastende Ereignisse oder aber auch spontan auftreten können. Da es sich – zumindest anfangs – überwiegend um Beschwerden auf körperlichem Gebiet handelt, sieht der psychiatrische Sachverständige diese Patienten erst dann, wenn diverse Begutachtungen durch Orthopäden, Internisten und/oder andere somatische Fachgebiete keine fachspezifischen ursächlichen Erklärungen haben finden können. Da die Patienten aber weiterhin recht eindrucksvoll ihre multiplen Beschwerden beklagen, wird somit als Ultima Ratio der Psychiater zu Rate gezogen. Dies gilt insbesondere für eine Gruppe von Befindlichkeitsstörungen, deren Symptome zwar nicht neu sind, die aber vom Patienten selbst und mitunter auch vom behandelnden Arzt in einen neuen Zusammenhang gebracht werden. Somit lehnen die Patienten auch mögliche psychische Ursachen vehement ab und haben zumeist bereits eine Vielzahl ärztlicher Konsultationen unterschiedlichster Fachrichtungen hinter sich gebracht. Die Beschwerden werden etwa mit bestimmten Umweltfaktoren kausal in Verbindung gebracht, z. B. mit einer Überempfindlichkeit gegen Chemikalien oder mit der Exposition mit Holzschutzmitteln. Solche Verursachungstheorien unterliegen auch gewissen Modetrends (Quecksilbervergiftungen durch Amalgamfüllungen etc.). Mitunter wechseln die diagnostischen Begriffe ebenso häufig wie die angeschuldigten Beschwerdeverursacher. Nicht weniger einfach gestaltet sich die gutachterliche Einschätzung bei ausländischen Probanden, die über ein vielgestaltiges Schmerzsyndrom klagen. Hier bietet sich eine Begutachtung durch einen der jeweiligen Kultur und Sprache fähigen Sachverständigen an (Erim-Frodermann u. Rudolf 1995). Zu bedenken bleibt, dass bei solchen Beschwerdebildern übereilt der Gedanke an Aggravation oder Simulation mitschwingt, womit man jenen Probanden wenig gerecht wird. Nicht selten verbergen sich hinter derartigen Somatisierungen ernst zu nehmende depressive Verstimmungen („larvierte Depression“), vereinzelt auch wahnhafte Entwicklungen. Einige Probanden haben bereits mancherlei Behandlungsversuche hinter sich, die (erwartungsgemäß) nicht zu der erhofften Leidensminderung geführt haben. Aus der Sicht des Patienten kann es daher durchaus nachvollziehbar sein, dass er sich ungerecht behandelt fühlt und sein vorrangiges Ziel mit der Zeit darin besteht, für seine „gerechte Sache“ bis zuletzt zu kämpfen. Der Kampf gilt der Zuerkennung seines „berechtigten“ Anspruches, der sich mehr und mehr zum Anspruch auf Wiedergutmachung wandelt und schließlich in einem aussichtslosen Anrennen endet. Die bisherigen Versuche, derartige Entwicklungen terminologisch zu erfassen, erscheinen aufgrund der negativen Konnotation der Begriffe wenig überzeugend. Bei dem Terminus „Rentenquerulant“ (Tölle u. Windgassen 2003) mag der psychopathologische Aspekt der oben genannten Entwicklung zwar berücksichtigt sein, aus der Sicht des Betroffenen ist diese Bezeichnung allerdings unakzeptabel. In der Literatur begegnet man auch weiterhin dem Begriff der „Rentenneurose“. Auch wenn einem als Sachver-
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ständiger sicherlich der eine oder andere Proband begegnet, bei dem der Rentenantrag primär auf eine übertriebene Begehrensvorstellung zurückzugehen scheint, ist auf diese Begrifflichkeit ebenso problemlos zu verzichten, da es sich nicht um eine klar umschriebene psychiatrische Diagnose handelt, wenngleich sie in der ICD-10 unter F68.0 als Synonym für „Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen“ aufgeführt ist. In der dort aufgeführten Beschreibung wird explizit darauf hingewiesen, dass das Syndrom selbst auch dann nicht notwendigerweise verschwindet, wenn ein Rechtsstreit erfolgreich beendet ist (vgl. Winckler 1998). Entscheidend für die Frage der Berentung ist nicht in erster Linie die diagnostische Zuordnung, sondern Art, Dauer und Ausprägungsgrad der psychopathologischen Symptomatik. Im nächsten Schritt folgt die gutachterliche Einschätzung der Quantifizierung, also der Frage wie erheblich die psychopathologischen Symptome und die daraus resultierenden konkreten Beeinträchtigungen sind. Diese Fragen sind schon deswegen weder schnell noch unproblematisch zu beantworten, da weder allgemein anerkannte noch klare Regeln existieren. Eine Entscheidung des Bundessozialgerichtes aus dem Jahre 1964 hat zur Frage der Quantifizierung den Terminus der „zumutbaren Willensanspannung“ eingeführt (BSGE 21,189). Dieser Begriff ist ein weiterer Beleg für die terminologische Problematik in der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Psychiatrie. Für den Sachverständigen stellt sich die Aufgabe, sich nicht allein mit der Frage des Schweregrades, sondern auch mit der Prognose der Störung auseinanderzusetzen. Nach Foerster (1998) geht es um die Beurteilung „konkreter menschlicher Entscheidungs- und Motivationsspielräume“. Kann der Patient sozusagen aus eigener Kraft gegen die neurotischen Symptome ankämpfen beziehungsweise sie so weit überwinden, dass er noch zu einem gewissen beruflichen Leistungsvermögen in der Lage ist. Ist er das trotz „zumutbarer Willensanspannung“ nicht mehr, sind die psychischen Störungen von einem derartigen Schweregrad bei gleichzeitig ungünstiger Prognose, dass von einer Krankheit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung auszugehen ist. Da dieser juristische Begriff weder diagnostisch noch psychopathologisch greifbar und die Kategorisierung „zumutbar“ nicht operationalisierbar ist, unterliegt letztlich die gutachterliche Beurteilung einer vergleichsweise hohen subjektiven Spannbreite. Foerster (1998) hat einen für die Praxis durchaus brauchbaren Versuch einer Kriterienliste erstellt. Demnach weisen folgende Aspekte darauf hin, dass eine „Willensanspannung“ für den Probanden nicht mehr möglich erscheint: z psychiatrische Komorbidität (z. B. Persönlichkeitsstörung, geringfügige hirnorganische Beeinträchtigung), z chronische körperliche Begleiterkrankungen, z Verlust der sozialen Integration, z ausgeprägter Krankheitsgewinn, z mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission,
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z unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und stationärer Behandlungsmaßnahmen auch mit unterschiedlichem therapeutischen Ansatz, z gescheiterte Rehabilitationsmaßnahmen. Zu Recht hat Foerster betont, dass es sich hierbei keineswegs um „eine abhakbare Checkliste“ handele, da jeder der aufgeführten Aspekte höchst komplex und individuell zu gewichten sei. Die entsprechenden von der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (DGPM) veröffentlichten Leitlinien gehen im Grunde genommen über die oben angeführten Aspekte nicht hinaus, empfehlen indes zusätzlich die Verwendung standardisierter Fremdbeurteilungen, wie z. B. die Beeinträchtigungsschwereskala nach Schepank (Schneider et al. 2001). Es sollte indes nicht außer Acht gelassen werden, dass testpsychologische Methoden nicht automatisch valide Erkenntnisse liefern. Im Gutachtenkontext ist zumindest an die Möglichkeit von Antwortverzerrungen zu denken. Erst kürzlich wurde angemerkt, dass „größere Anstrengungen im deutschsprachigen Raum zur Entwicklung von Fragebogenskalen zur Erkennung solcher Verzerrungen notwendig sind“ (Merten et al. 2007). Konrad (1997) beurteilt den Schweregrad einer psychischen Störung in Anlehnung an den strukturell-sozialen Krankheitsbegriff nach Rasch (1986). Demnach kommt es entscheidend darauf an, inwieweit die Symptome in ihrer Gesamtheit Einfluss auf die Persönlichkeit des Menschen nehmen und vor allem seine allgemeine soziale Kompetenz anhaltend beeinträchtigen. Zu prüfen ist nicht allein die Arbeitsfähigkeit, sondern auch seine Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung, Freizeitverhalten etc., die Aufschluss geben sollen, inwieweit ein Proband „durchschnittliche Anforderungen der Lebensführung“ noch bewältigen kann. Zu bedenken bleibt darüber hinaus, dass die Beurteilung sich nicht allein auf den Querschnittsbefund beschränkt, sondern den Verlauf des Störungsbildes mit den entsprechenden Einschränkungen einbeziehen sollte.
7.2.4.3 Private Berufsunfähigkeitsversicherung Für die privaten Versicherungen gelten je nach Anbieter unterschiedliche Bedingungen; sie zählen demnach nicht zum Bereich des Sozialrechts. Für die Begutachtung solcher Fälle ist zu beachten, dass der bei den gesetzlichen Rentenversicherungen genutzte (frühere) Begriff der „Berufsunfähigkeit“ im Bereich der privaten Versicherungen daher nicht anzuwenden ist. Vom Sachverständigen sind somit die Regelungen der jeweiligen Versicherung bei der Beantwortung der Fragen einer Berufsunfähigkeit zu berücksichtigen. Versicherungsleistungen werden zumeist dann erbracht, wenn der Versicherte seinen Beruf für mindestens sechs Monate zu 50% nicht mehr ausüben kann. In diesem Fall zahlt die Versicherung die vereinbarte monatliche Rente. Einige Versicherungen bieten zusätzlich eine Staffelregelung an, die bereits bei geringer Invalidität einen Teil der Rente ausbezahlt.
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Allerdings werden die gesamten Ausgleichszahlungen erst bei einer 75-prozentigen Berufsunfähigkeit wirksam. Diese Versicherungsform eignet sich daher besonders für langsam fortschreitende Erkrankungen. Bei der Ärzteversorgung wird den Mitgliedern „eine Verweisungstätigkeit außerhalb des ärztlichen Berufsbildes“ nicht zugemutet. Allerdings kann auf andere ärztliche Tätigkeiten verwiesen werden. Einem Chirurgen beispielsweise, der aufgrund einer rheumatischen Erkrankung nicht mehr operieren kann, könnten durchaus gutachterliche Tätigkeiten – auch in Teilzeitarbeit – zugemutet werden. Ob diese Tätigkeit wirtschaftlichen Wert besitzt beziehungsweise auf dem freien Arbeitsmarkt vermittelbar ist, spielt für diese Entscheidung keine Rolle.
7.2.4.4 Dienstfähigkeit bei Beamten Hier gelten andere Begrifflichkeiten, da das Beamtenrecht und nicht das Sozialrecht die entsprechenden Definitionen vorgibt. Im Bundesbeamtengesetz findet man weder die Termini Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit noch ist von teilweiser beziehungsweise voller Erwerbsminderung die Rede. Stattdessen wurde gemäß § 42 Abs. 1 BBG der Begriff der Dienstunfähigkeit eingeführt. Demnach ist ein Beamter auf Lebenszeit dann in den Ruhestand zu versetzen, wenn er infolge „eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig (dienstunfähig) ist“. Diese kann auch dann vorliegen, wenn er infolge einer Erkrankung beziehungsweise Störung innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten mehr als drei Monate seinen Dienst nicht verrichten konnte und zudem keine realistische Aussicht besteht, dass er innerhalb des nächsten halben Jahres wieder vollständig seiner Arbeit als Beamter nachgehen kann. Sind sich die vorgesetzte Behörde sowie der Beamte einig, dass eine Dienstunfähigkeit vorliegt, ist eine ärztliche Untersuchung nicht erforderlich. Die vorgesetzte Behörde allein entscheidet über das Vorliegen der obigen Voraussetzungen, obgleich die Feststellung „körperlicher Gebrechen“ oder einer „Schwäche der geistigen Kräfte“ natürlich zum typischen Aufgabengebiet des Arztes zählt. Bestehen hingegen Zweifel, ist ein Beamter verpflichtet, „sich nach Weisung der Behörde ärztlich untersuchen und, falls ein Amtsarzt dies für erforderlich hält, auch beobachten zu lassen“ (§ 42 Abs. 1 BBG). Dabei umfasst die Formulierung „Schwäche der geistigen Kräfte“ das gesamte Spektrum seelischer Erkrankungen/Störungen. Auch hier kommt es nicht allein auf die Feststellung einer bestimmten Krankheitsdiagnose an, sondern vor allem auf einen entsprechenden Kausalzusammenhang, also darauf, dass der Beamte aufgrund seiner psychischen Störung nicht mehr in der Lage ist, seinen Dienstpflichten auf Dauer nachzukommen. Dabei ist insbesondere der konkrete Aufgabenbereich des Beamten zu berücksichtigen.
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7.2.5 Die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) Zentraler Aspekt für die Begutachtung ist die Frage nach dem kausalen Zusammenhang zwischen einem erlittenen Unfallgeschehen und einer (möglichen) psychischen Krankheit beziehungsweise Störung. Nach juristischer Diktion muss „ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang“ bestehen. Diese Frage ist schon deswegen schwierig zu beantworten, weil praktisch alle psychischen Störungsbilder multikausal bedingt sind und folglich die „wesentliche“ Ursache mitunter kaum mit empirischer Gewissheit zu bestimmen ist. Dies dürfte einer von vielen Gründen dafür sein, dass es hierbei vergleichsweise häufig zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt, zumal einige grundsätzliche rechtliche Fragen derzeit noch strittig sind. Als psychiatrischer Sachverständiger sollte man sich auf die folgenden drei aufeinander aufbauenden Fragenbereiche konzentrieren, nämlich z Liegt bei dem Betroffenen eine Erkrankung oder Beeinträchtigung im psychiatrischen Bereich vor? z Besteht zwischen einer vorliegenden Erkrankung oder Beeinträchtigung und einer Unfalleinwirkung ein kausaler Zusammenhang, wobei das schädigende Ereignis im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit (z. B. Arbeitsunfall) aufgetreten sein muss? z Welche Auswirkungen haben die Unfallfolgen auf die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen? Diese sind als „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (Minderung der Erwerbstätigkeit) in Prozentangaben zu quantifizieren. Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs ist im Sozialrecht etwas anders definiert als im Bereich des Zivilrechts (s. auch Abschn. 7.1). Im Letzteren gilt die so genannte Adäquanztheorie. Die Kausalitätslehre für das Sozialrecht indes besagt, dass ein Unfall „wesentlich“ daran mitgewirkt hat, dass es zu einer entsprechenden Krankheit beziehungsweise Störung gekommen ist. Wenn eine Krankheit – wie die meisten psychischen Störungsbilder – multifaktoriell bedingt ist, liegt eine so genannte „konkurrierende Kausalität“ vor. Dabei gibt es schädigungsabhängige und schädigungsunabhängige Kausalfaktoren. Schädigungsunabhängig wäre z. B. eine gewisse Disposition, auf belastende Lebensereignisse in einer bestimmten Art und Weise zu reagieren. Dabei ist es aber für die Bejahung eines rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhangs nicht erforderlich, dass die schädigende Einwirkung die alleinige oder allein wesentliche Bedingung für den Eintritt des Gesundheitsschadens ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie eine wesentliche Teilursache bildet. Haben neben den schädigenden Einwirkungen aus dem sozialrechtlich geschützten Bereich, also z. B. ein Arbeitsunfall, auch schädigungsunabhängige Kausalfaktoren an der Entstehung des Schadens in wesentlicher Weise mitgewirkt, muss eine Abwägung der Bedeutung und Tragweite der einzelnen mitwirkenden Kausalfaktoren für den Eintritt des Schadens vorgenommen werden. Wenn solche schädigungsunabhängigen Kausalfaktoren an Bedeutung für den Eintritt des Schadens eindeutig überwiegen, dann käme dem Unfall selbst also lediglich
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die Bedeutung einer Gelegenheitsursache zu und er wäre nicht entschädigungspflichtig. Ist der Unfall aber zumindest als eine wesentliche Teilursache für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen, dann wäre eine entschädigungsbegründende Kausalität gegeben. Dies beispielhaft für eine psychische Störung darzulegen, ist deutlich schwieriger als im somatischen Bereich. Wenn ein Proband bei einer akuten beruflichen Belastung einen Herzinfarkt erleidet, dann wäre diese Belastung in aller Regel nur eine Gelegenheitsursache, weil Hauptursache die Stenose der Koronararterie ist, sodass auch diverse außerbetriebliche Anlässe über kurz oder lang zu dem Herzinfarkt geführt hätten. Als ein mögliches psychiatrisches Beispiel wäre eine dissoziative Störung (F44) anzuführen, bei der in der Vorgeschichte bereits nach unterschiedlichen Anlässen entsprechende Konversionssymptome (z. B. psychogene Lähmung, Blindheit) aufgetreten waren. Wenn dann nach einem Unfall eine vergleichbare Symptomatik diagnostiziert wird, ist wohl kaum von einer „wesentlichen“ Ursache auszugehen. Allerdings ist die gesamte Lebenssituation des Probanden nach dem Unfall mit der Situation zuvor dezidiert zu vergleichen. Sind seitdem die sozialen Fertigkeiten gesunken, mit der Folge, dass der Proband nun längerfristig nicht seiner Arbeit nachgehen kann, therapeutische Interventionen – im Gegensatz zu der Zeitphase davor – nicht mehr zu einer längerfristigen Symptomreduktion führen, muss überlegt werden, ob das Unfallereignis eine bereits bestehende Erkrankung/Störung verschlimmert hat. In einem solchen Fall wird lediglich der Verschlimmerungsanteil als Arbeitsunfall entschädigt. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie schwierig es für den medizinischen Sachverständigen im Einzelfall sein kann, die von juristischer Seite geforderte Quantifizierung „nicht wesentlich – wesentlich – verschlimmert“ vorzunehmen und zu begründen. Zudem wird deutlich, dass nur über eine ausführliche Anamnese (möglichst auch Fremdanamnese) mit Einbezug aller Vorbefunde unter Berücksichtigung der biografischen Entwicklung des Probanden eine gutachterliche Beurteilung erfolgen kann. In der Praxis psychiatrischer Begutachtungen zu diesem Bereich geht es zum einen um Zustände nach Schädel-Hirn-Trauma, die in der Regel vergleichsweise einfach zu beurteilen sind, jedenfalls was die Kausalitätsfrage betrifft. Wenn ein Trauma vom Schweregrad einer Contusio cerebri vorgelegen hat und es entsprechende Leistungsstörungen gibt, also vermehrte Erschöpfbarkeit, mangelnde Belastungsfähigkeit, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen oder Veränderungen im Affektbereich (Reizbarkeit, deutliche Stimmungsschwankungen etc.), so sind diese sicher als Unfallfolgen anzuerkennen. Hier sollten auch testpsychologische Untersuchungsmethoden zum Einsatz kommen, wenngleich deren begrenzte Aussagemöglichkeiten dem Gutachter bewusst sein sollten (Merten 2002; Merten et al. 2006). Hinsichtlich der Abklärung einer hirnorganischen Wesensänderung können auch fremdanamnestische Angaben von Belang sein, nicht allein, um Aggravationstendenzen zu hinterfragen, sondern um auch denjenigen Probanden gerecht zu werden, die ihre Beschwerden eher dissimulieren.
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Recht einfach ist die Kausalitätsfrage ebenfalls bei schizophrenen oder affektiven Psychosen zu beantworten. In der Literatur herrscht die übereinstimmende Meinung, dass diese nicht durch ein einmaliges traumatisches Ereignis (wesentlich) verursacht werden können. Problematisch indes ist auch in diesem sozialrechtlichen Bereich die gutachterliche Einschätzung funktioneller psychischer Syndrome, also der neurotischen oder somatoformen Störungen. Bei der Frage, ob sich nach einem äußeren Trauma eine solche funktionelle psychische Symptomatik entwickeln kann, sind drei unterschiedliche Faktorengruppen von Bedeutung: z die vorhergehende Disposition, also die persönliche Situation des Betroffenen, seine Persönlichkeitsstruktur, seine Copingmechanismen, sein Lebensalter und sein soziales Umfeld; z die Wesentlichkeit des Traumas selbst, also Art und Schwere, situativer Kontext der traumatischen Situation und des Erlebnis des Traumas; z die Faktoren, die nach dem Trauma einwirken, z. B. lange Klinikaufenthalte mit Operationen, Verfügbarkeit und Ausmaß sozialer Unterstützung, die Möglichkeiten eines sekundären Krankheitsgewinns sowie das Auftreten weiterer positiver oder negativer Lebensereignisse nach dem und unabhängig vom traumatischen Erlebnis. Hier bleiben auch iatrogen bedingte Fehlentwicklungen zu bedenken. In der Praxis erweist es sich zumeist als äußerst problematisch, die vorhergehende Disposition im Sinne einer so genannten Schadensanlage nachzuweisen und zudem zu verdeutlichen, dass diese von wesentlicher Bedeutung für die jetzt diagnostizierte psychische Störung gewesen ist. Somit geht es für den medizinischen Sachverständigen in aller Regel vor allem um die Frage, ob der Unfall tatsächlich eine Conditio sine qua non für das Eintreten der Beschwerdesymptomatik gewesen ist oder nicht. Vergleichsweise einfach ist die Zusammenhangsfrage bei eindeutigen posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) zu beantworten, die auch beispielhaft dafür sind, dass es nicht ausschließlich um den objektiven Schweregrad des Unfallereignisses und seiner Folgen, sondern insbesondere auch um den Schweregrad des subjektiven Unfallerlebnisses und die Folgen dieses Erlebens geht. Dieser pathische Aspekt kann unter Umständen auch die allein ausschlaggebende Seite sein, etwa wenn man selbst von dem Unfall gar nicht betroffen war, sondern als Zeuge das Unglück von nahen Angehörigen miterleben musste oder sich als Sanitäter bei schweren Katastrophen damit konfrontiert sah, eigentlich gar nicht helfen zu können, sondern hilflos das Leid der Menschen miterleben müssen. Eindrucksvoll ist dies in einem Buch über den Flugzeugabsturz bei Ramstein beschrieben (Jatzko 1995). Dass es nach solchen Extrembelastungen (ICD-10 F42.1) zu lang andauernden Persönlichkeitsänderungen oder Beschwerdebildern kommen kann, ist mittlerweile unbestritten. Allerdings führt nicht jedes Trauma zu einer solchen Störung und nicht jeder Mensch entwickelt nach einem extrem
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traumatischen Ereignis eine PTBS (Fabra 2003). Der Begriff Trauma hat in den letzten Jahren zunehmend an definitorischer Schärfe verloren, sodass dieses Störungsbild nur nach gewissenhafter Exploration unter Berücksichtigung der diagnostischen Kriterien gestellt werden sollte (Leonhardt u. Foerster 2003). Seitdem PTBS 1980 Einlass in die internationalen Klassifikationsschemata gefunden hat, ist die anfänglich hohe Prävalenzrate von bis zu 39% (Blanchard et al. 1995) in Nachfolgestudien deutlich relativiert worden (u. a. Schnyder 2000: 5 bis 8%; Breslau 2002: bis 11%). Diese Differenzen werden zum Teil auf die unterschiedliche Diagnosebestimmung zurückgeführt. Entsprechende Fragebögen, wie beispielsweise die „Posttraumatic Diagnostic Scale“, scheinen die Prävalenzrate deutlich zu überschätzen (Sumpter u. McMillan 2005). Gemäß ICD-10 werden prinzipiell zwei Eingangskriterien gefordert. Zum einen muss die Person mit einem „traumatisierenden Ereignis von außergewöhnlicher Schwere“ konfrontiert worden sein, worauf mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen reagiert wird. Gemeint sind insbesondere Krieg und Katastrophensituationen, aber auch schwere Misshandlungen und Vergewaltigung. Zum anderen muss „eine wiederholte unausweichliche Erinnerung oder Wiederinszenierung des Ereignisses in Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen auftreten“. Klinisch zeigt sich die Störung zudem durch eher unspezifische Symptome wie Angst, Schlafstörungen und bedrückende Stimmung. Auch beobachtet man eine emotionale Einengung und Teilnahmslosigkeit. Vereinzelt kann es auch zu missglückten Selbstbehandlungsversuchen mittels Alkohol und/oder Tabletten kommen. Nach Extrembelastungen können auch andere psychische Störungsbilder auftreten, wie beispielsweise rein depressive oder Angstsyndrome und auch somatoforme Störungen. Bei Vorliegen eines Kausalzusammenhangs hat der psychiatrische Sachverständige im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung auch das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Minderung der Erwerbstätigkeit) zu beurteilen. Ausgangspunkt für die Bewertung der Minderung der Erwerbstätigkeit bildet die individuelle Erwerbsfähigkeit des Betroffenen unmittelbar vor Eintritt des schädigenden Ereignisses. Obligate Annahme bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbstätigkeit ist, dass die individuelle Erwerbsfähigkeit vor dem Unfall gleich 100% war, auch wenn sie bei dem Betroffenen durch frühere Krankheiten oder Unfallfolgen de facto schon herabgesetzt gewesen ist. Maßgebend ist also nicht die Frage, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit gegenüber einer gesunden oder altersentsprechenden Vergleichsperson herabgesetzt worden ist, sondern allein, in welchem Ausmaße die unmittelbar vor dem schädigenden Ereignis (Arbeitsunfall) bestehende und gegebenenfalls bereits geminderte individuelle Erwerbsfähigkeit durch dieses weiter vermindert worden ist. Ausnahmen liegen nur dann vor, wenn der Versicherte zuvor bereits völlig erwerbsunfähig war oder „wenn sich die durch den Unfall bedingten Funktionsstörungen mit denen aus einem Vorschaden mischen und überlagern und sich deswegen die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch die Unfallfolgen
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deutlich anders auswirkt als bei einem vorher Gesunden“ (Erlenkämper 2003). Die Bemessung der Minderung der Erwerbstätigkeit erfolgt in Prozentsätzen, die in der Regel durch zehn teilbar sein sollen. Wenn ein Unfall zu mehreren selbstständigen Gesundheitsschäden geführt hat, also beispielsweise ein Schädel-Hirn-Trauma zu motorischen Ausfällen, einer Narbenepilepsie und zu postcontusionellen kognitiven und affektiven Störungen, müssen diese verschiedenen Beeinträchtigungen zunächst jeweils allein für sich bewertet werden. Abschließend wird eine Gesamt-Minderung der Erwerbstätigkeit für alle vorliegenden Unfall- beziehungsweise Schädigungsfolgen gebildet. Anders als zum Beispiel die Arbeitsunfähigkeit hat die Minderung der Erwerbstätigkeit eine abstrakte Natur, sie ist also völlig losgelöst von den konkreten Erwerbsverhältnissen des Einzelfalles. Eine gleichartige Behinderung führt somit – jedenfalls theoretisch – bei allen Betroffenen zu einer gleich hohen Minderung der Erwerbstätigkeit und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe der Betroffene wegen der erlittenen Schädigung tatsächlich vermindert arbeitet oder nicht, beziehungsweise ob er unabhängig von dem strittigen Gesundheitsschaden ohnehin nicht arbeiten würde, weil er eben noch Kind, Schüler oder Student oder schon Rentner ist. Die Minderung der Erwerbstätigkeit misst also eigentlich nicht die tatsächliche Einbuße der Erwerbsfähigkeit, sondern den abstrakten Grad der Versehrtheit. Hinsichtlich der Einschätzung der Minderung der Erwerbstätigkeit gibt es verschiedene Tabellen, wobei es auch im Rahmen des Schwerbehindertenrechts eine vergleichbare Einschätzung gibt. Bei Letzterem erfolgt die Einschätzung jedoch nicht mehr gemäß Minderung der Erwerbstätigkeit, sondern entsprechend dem Grad der Behinderung (GdB). Diese Tabellen beinhalten für alle möglichen Schädigungen entsprechend festgelegte Minderung der Erwerbstätigkeit-Anhaltszahlen. So wird beispielsweise für eine bitemporale Hemianopsie eine Minderung der Erwerbstätigkeit von 25%, für eine binasale hingegen von 10% angenommen. Bei Verlust eines Daumens liegt die Minderung der Erwerbstätigkeit bei 30%, bei Verlust des Mittelfingers bei 10% und beim Kleinfinger wird keine Minderung der Erwerbstätigkeit angenommen. Für die Schädigungen auf psychiatrischem Gebiet sind beispielhaft folgende Anhaltszahlen richtungweisend (Tabelle 7.2). Bei einem derartigen Versuch der Operationalisierung stellt sich natürlich die Frage, wie reliabel solche Einschätzungen vor allem bei psychischen Krankheitsbildern sind. Ob man bei einer bestimmten neurotischen oder somatoformen Symptomatik aus gutachterlicher Sicht einen Versehrtheitsgrad von 40, 50 oder 60% „zubilligt“, hängt im hohen Maße auch von der subjektiven Einschätzung des medizinischen Sachverständigen ab. Leider sind die medizinischen Bewertungsmaßstäbe der Minderung der Erwerbstätigkeit im gesamten Sozialrecht nicht gleich. Im sozialen Entschädigungsrecht orientiert man sich in aller Regel an den oben dargestellten,
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Tabelle 7.2. Anhaltswerte der GdB- bzw. MdE-Sätze bei einigen psychiatrischen Krankheitsbildern (aus: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008, Kap. 26.3) Diagnosen Grundsätze der Gesamtbewertung von Hirnschäden z Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung z Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung z Hirnschäden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit z umschriebene Entwicklungsstörungen (z. B. Motorik oder Sprache) – leicht, ohne wesentliche Beeinträchtigung z sonst – bis zum Ausgleich – je nach Beeinträchtigung der Gesamtentwicklung – bei besonders schwerer Ausprägung (selten) z leichte Intelligenzminderung (I.Q. zwischen 60 und 70) z deutliche Intelligenzminderung (I.Q. kleiner 60)
GdB-/MdE-Grad 30–40 50–60 70–40
0–10 20–40 50 30–70 80–100
schizophrene Psychosen z lang dauernde (> 1/2 Jahr anhaltende) Psychose im floriden Stadium je nach Einbuße beruflicher und sozialer Anpassungsmöglichkeiten z schizophrener Residualzustand – ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten – mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten – mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten – mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten
10–20 30–40 50–70 80–100
affektive Psychosen z affektive Psychose mit relativ kurz dauernden, aber häufig wiederkehrenden Phasen – bei 1 bis 2 Phasen im Jahr von mehrwöchiger Dauer – bei häufigeren Phasen von mehrwöchiger Dauer
30–50 60–100
50–100
Neurosen und Persönlichkeitsstörungen z leichtere psychovegetative oder psychische Störungen 0–20 z stärker behindernde Störungen – mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit 30–40 z schwere Störungen (z. B. schwere Zwangsstörung) – mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50–70 – mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80–100 Alkoholkrankheit, -abhängigkeit z bei nachgewiesener Abhängigkeit mit Kontrollverlust und erheblicher Einschränkung der Willensfreiheit z Heilungsbewährung (2 Jahre nach Entziehungsbehandlung) Drogenabhängigkeit z bei nachgewiesener Abhängigkeit mit entsprechenden psychischen Veränderungen und sozialen Einordnungsschwierigkeiten z Heilungsbewährung (2 Jahre nach Entziehungsbehandlung) GdB Grad der Behinderung; MdE Minderung der Erwerbsfähigkeit
≥ 50 30 ≥ 50 30
7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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vom Arbeits- und Sozialministerium herausgegebenen Anhaltspunkten, die im Mittel etwas höher liegen als die Minderung der Erwerbstätigkeit-Sätze der gesetzlichen Unfallversicherung. Zu beachten bleibt, dass der Sachverständige stets die individuellen Besonderheiten des Störungsbildes für seine Beurteilung heranzuziehen hat, was in der aktuellen Fassung (2008) einleitend auch explizit angemerkt ist: „Die nachstehend genannten GdB-/ MdE-Sätze sind Anhaltswerte. Es ist unerlässlich, alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet in jedem Einzelfall zu berücksichtigen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008, S. 37).
7.2.6 Soziales Entschädigungsrecht Dieses regelt die Frage, inwieweit einer Person eine Entschädigung zuerkannt wird, die er beispielsweise als Kriegsopfer (BVG Bundesversorgungsgesetz), Opfer einer Straftat (OEG Opferentschädigungsgesetz) oder während seiner Zeit als Bundeswehrsoldat (SVG Soldatenversorgungsrecht) beziehungsweise als Zivildienstleistender (ZDG) erlitten hat (s. auch Kap. 7.1). Gutachterliche Grundlage bilden hier die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“. Diese gehen zurück auf Begutachtungsrichtlinien für die Kriegsopferversorgung aus dem ersten Weltkrieg. Die erste Auflage (1916) beschäftigte sich mit der „militärärztlichen Beurteilung der Frage der Dienstbeschädigung oder Kriegsbeschädigung bei den häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen der Heeresangehörigen“. Zuletzt wurden die „Anhaltspunkte“ im Juni 2004 umfangreich überarbeitet 3. Die „Anhaltspunkte“ sind für Gutachter verbindlich. Für den medizinischen Sachverständigen geht es auch hierbei – vergleichbar mit den Fragen bei der gesetzlichen Unfallversicherung – um die Beurteilung eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem schädigenden Ereignis und der psychischen Krankheit/Störung und eine Einstufung eventueller Schädigungsfolgen anhand von GdB/MdE, welche detailliert in den „Anhaltspunkten“ (Kap. 26) aufgeführt sind. Auch der Begriff „Ursache“ ist dort umfassend definiert (Kap. 36): „Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze ist die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen (und wie Ursachen zu werten), 3
Die aktuelle Fassung (2008) ist als Broschüre beim Ministerium gegen eine Schutzgebühr zu bestellen bzw. kann als pdf-Datei unter der Adresse „www.bmas.bund.de“ herunter geladen werden.
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wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechts.“ Auch werden für diese Fragestellung relevante Aspekte, wie z. B. „Vorschaden, Nachschaden, Folgeschaden“ dezidiert und mit Beispielen umrahmt dargestellt (Kap. 47). An psychischen Erkrankungen sind in erster Linie organische psychische Störungen, wie Hirnverletzungen mit entsprechenden psychopathologischen Symptomen zu beurteilen (Kap. 60) sowie Hirnerkrankungen, die auf eine toxisch-infektiöse Ursache zurückzuführen sind (Kap. 61). Auch kann es infolge von schweren Herzerkrankungen (z. B. Herz-Kreislauf-Stillstand) zu hypoxischen Hirnschäden kommen. Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit werden indes grundsätzlich nicht als Schädigungsfolgen anerkannt (Kap. 73). Allenfalls bei chronischen Schmerzzuständen ist ein Medikamentenmissbrauch als Schädigungsfolge zu diskutieren. Als ein weiterer „Ausnahmefall“ ist ein schwer wesensveränderter Hirnverletzter genannt, „dem nach der Verwundung erstmals große Mengen von Betäubungsmitteln über längere Zeit verabreicht wurden“. Bei schizophrenen und affektiven Psychosen (Kap. 69) wird ein ursächlicher Zusammenhang ebenso nur in Ausnahmefällen zu begründen sein. Hier gilt die so genannte „Kannregelung“. Die Voraussetzungen werden dann als gegeben angesehen, wenn „als Schädigungsfaktoren tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Belastungen vorgelegen haben“ und „die Erkrankung in enger zeitlicher Verbindung (bis zu mehreren Wochen) mit diesen Belastungen begonnen hat“. Zudem ist vermerkt, dass bei episodischem Verlauf der Psychose dies „nur für die der Belastung folgende Episode“ gilt (Kap. 69, S. 204). Während ein ursächlicher Zusammenhang bei depressiven Phasen als möglich erachtet wird, seien hingegen manische Phasen „in der Regel schädigungsunabhängig“. Persönlichkeitsstörungen „können nicht Schädigungsfolge sein“ (Kap. 72). Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (Kap. 70) können dann in einem „ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Einflüssen stehen, wenn diese in früher Kindheit über längere Zeit und in erheblichem Umfang wirksam waren“. Als ein Extrakapitel (71) sind „Folgen psychischer Traumen“ aufgeführt. Diese sind nicht entsprechend der Einteilung gemäß ICD-10 geordnet. Unterschieden wird in lang dauernde psychische Belastungen (z. B. „Kriegsgefangenschaft“ und „rechtsstaatswidrige Haft in der DDR“) und relativ kurz dauernde Belastungen (z. B. „Geiselnahme, Vergewaltigung“). Der Gutachter hat hierbei herauszuarbeiten, wie sich diese Belastungen bei dem Probanden „nach seiner individuellen Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit ausgewirkt haben“. Es gilt demnach die gleichen Aspekte zu berücksichtigen, die bereits oben bei den posttraumatischen Belastungsstörungen ausführlich beschrieben wurden. Speziell wird auch auf die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter hingewiesen, womit vor allem ein sexueller Missbrauch sowie sonstige Misshandlungen gemeint sind (Stevens u. Foerster 2002).
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7.2.7 Das Schwerbehindertenrecht Die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen liegt darin, aus fachlicher Sicht zu beurteilen, ob eine psychische Erkrankung/Störung vorliegt und diese zu einer Behinderung führt. Gemeint ist damit, inwieweit der Proband dadurch an der Teilnahme am „normalen“ Leben beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Das Ausmaß wird in „Grad der Behinderung“ (GdB) eingestuft. Als „schwerbehindert“ gilt man bei einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 (s. auch Abschn. 7.1). Im Kapitel 26.3 der „Anhaltspunkte“ (Nervensystem und Psyche, Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008) finden sich detaillierte Hinweise zur graduellen Einteilung je nach Störungsbild. Diese Grad-der-Behinderung-Einschätzung richtet sich nicht primär nach der Diagnose, sondern vielmehr nach dem Schweregrad mit den jeweiligen Auswirkungen auf die Lebensqualität.
7.2.8 Ausblick Sozialrechtliche Fragestellungen sind zum Teil äußerst komplex und stellen hohe Ansprüche an den psychiatrischen Sachverständigen. Ein gutes psychiatrisches Fachwissen allein reicht nicht für eine adäquate Beantwortung der richterlichen Fragen aus. Nicht minder wichtig ist ein fundiertes Wissen entsprechender sozialrechtlicher Aspekte, welches zudem auf dem aktuellen Stand sein sollte. Wenn auch durch die Rentenreform Anfang dieses Jahrtausends die Anträge sichtbar rückläufig sind, scheint ansonsten der Bedarf an Gutachten zu steigen, sodass sich quasi von selbst die Frage der Qualität dieser Expertisen aufdrängt. Die in den letzten Jahren – ähnlich wie im Strafrecht – zu beobachtende Tendenz, dass sich zunehmend Psychiater nach ihrer Facharztausbildung auf diesen Teilbereich spezialisieren und eine Gutachterpraxis eröffnen, ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings scheint derzeit wohl nur ein kleiner Anteil dieser Gutachter den regelmäßigen Weg zum Supervisor zu finden. Die Begutachtung im Sozialrecht bietet eine breite Palette potenzieller Fallstricke, die man als Sachverständiger mitunter nicht gleich aufzuspüren vermag (Widder 2007).
Literatur Blanchard EB, Hickling EJ, Taylor AE, Loos WR (1995) Psychiatric morbidity associated with motor vehicle accidents. J Nerv Ment Dis 183:495–504 Bochnik HJ (1995) Psychiatrie. In: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg) Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, 5. Aufl. Fischer, Stuttgart Jena New York, S 453–492 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX). Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn
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7.2 Psychiatrische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Sozialrecht
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8 Kinder- und Jugendhilferecht
8.1
Juristische Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe D. Dölling
8.1.1 Überblick über das Kinder- und Jugendhilferecht Das Kinder- und Jugendhilferecht regelt die familienergänzenden, -unterstützenden und gegebenenfalls -ersetzenden Maßnahmen des Staates und staatlich anerkannter gesellschaftlicher Gruppen zur Erziehung und Förderung von Kindern und Jugendlichen. Es ist abzugrenzen vom zivilrechtlichen Kindschaftsrecht, das das Verhältnis von Eltern und Kindern und die Kontrolle der Ausübung der elterlichen Sorge durch das Familiengericht regelt, vom Jugendschutzrecht, das der Abwehr von Gefahren dient, die der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen drohen (z. B. Jugendarbeitsschutzgesetz), und vom Jugendstrafrecht, das die Sanktionierung von Straftaten Jugendlicher zum Gegenstand hat. Rechtsgrundlage des Kinder- und Jugendhilferechts ist das Achte Buch des Sozialgesetzbuchs – Kinder- und Jugendhilfe – das SGB VIII. Das SGB VIII wurde mit Artikel 1 des Kinderund Jugendhilfegesetzes (KJHG) vom 26. Juni 1990 am 1. Januar 1991 in Kraft gesetzt und wird deshalb häufig als KJHG bezeichnet. Im Folgenden wird die juristisch zutreffende Bezeichnung SGB VIII verwendet. Das SGB VIII hat das frühere Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst. Das SGB VIII enthält Leistungsangebote an Kinder, Jugendliche und Eltern. Zur Abgrenzung vom Jugendwohlfahrtsgesetz, das auch Eingriffe gegen den Willen von Kindern, Jugendlichen und Eltern zuließ, wird das SGB VIII daher als Leistungsgesetz bezeichnet. Der Charakter des SGB VIII als Sozialleistungsgesetz kommt auch in seiner systematischen Stellung als Teil des Sozialgesetzbuchs zum Ausdruck. Grundlegende Regelungen für die Jugendhilfe enthält § 1 SGB VIII. Nach § 1 Abs. 1 SGB VIII hat jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. § 1 Abs. 2 SGB VIII wiederholt den Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 GG. Danach sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. § 1 Abs. 3 SGB VIII nennt die Ziele der Jugendhilfe. Diese soll zur Verwirklichung
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des Rechts nach Absatz 1 insbesondere junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Legaldefinitionen der in § 1 SGB VIII angesprochenen Personengruppen enthält § 7 SGB VIII. Danach ist Kind grundsätzlich, wer noch nicht 14 Jahre alt ist (im Sinne des § 1 Abs. 2, wer noch nicht 18 Jahre alt ist), Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist, und junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist. Die Aufgaben der Jugendhilfe sind in § 2 SGB VIII angeführt. Danach umfasst die Jugendhilfe Leistungen und andere Aufgaben zugunsten junger Menschen und Familien. Leistungen der Jugendhilfe sind nach § 2 Abs. 2 SGB VIII: z Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes. Diese Bereiche sind in den §§ 11 bis 14 SGB VIII geregelt. Zur Jugendarbeit gehören z. B. außerschulische Bildungsund Sportangebote (vgl. § 11 Abs. 3 SGB VIII). Jugendsozialarbeit umfasst Förderangebote für junge Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind (s. § 13 SGB VIII). Der erzieherische Kinder- und Jugendschutz soll junge Menschen und deren Erziehungsberechtigte zum Schutz vor gefährdenden Einflüssen, z. B. durch problematische Medieninhalte, befähigen (vgl. § 14 SGB VIII); z Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16 bis 21 SGB VIII). Hierzu gehören z. B. Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung, Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts und Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen; z Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege (§§ 22 bis 25 SGB VIII). Dies umfasst die Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern in Krippen, Kindergärten und Horten; z Hilfe zur Erziehung und ergänzende Leistungen, Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und ergänzende Leistungen sowie Hilfe für junge Volljährige und Nachbetreuung. Diese Hilfen werden in Abschnitt 8.1.2 gesondert behandelt. Die anderen Aufgaben der Jugendhilfe sind in § 2 Abs. 3 SGB VIII aufgeführt. Hierbei handelt es sich um Aufgaben, die keine Sozialleistungen sind und insbesondere die Ausübung des staatlichen Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 GG betreffen. Hierzu gehören unter anderem: z die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII. Hierzu ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, wenn ein Kind
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oder Jugendlicher um Obhut bittet oder eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten; die Erteilung, der Widerruf und die Zurücknahme von Pflegeerlaubnissen und Erlaubnissen zum Betrieb von Einrichtungen, in denen Kinder oder Jugendliche betreut werden oder Unterkunft erhalten; die Mitwirkung in Verfahren vor den Vormundschafts- und den Familiengerichten (§ 50 SGB VIII); die Beratung und Belehrung in Verfahren zur Annahme als Kind (§ 51 SGB VIII); die Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (§ 52 SGB VIII); die Beratung und Unterstützung von Müttern bei Vaterschaftsfeststellung und Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen sowie von Pflegern und Vormündern (§§ 52 a, 53 SGB VIII); Erteilung, Widerruf und Zurücknahme von Erlaubnissen zur Übernahme von Vereinsvormundschaften (§ 54 SGB VIII); Beistandschaft, Amtspflegschaft, Amtsvormundschaft und Gegenvormundschaft des Jugendamts (§§ 55 bis 58 SGB VIII); Beurkundungen und Beglaubigungen nach § 59 SGB VIII und die Aufnahme von vollstreckbaren Urkunden (gem. § 60 SGB VIII).
Die Leistungen der Jugendhilfe werden nach § 3 Abs. 2 SGB VIII von Trägern der freien Jugendhilfe und von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe erbracht. Die anderen Aufgaben der Jugendhilfe werden gemäß § 3 Abs. 3 S. 1 SGB VIII von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe wahrgenommen. Nach § 3 Abs. 3 S. 2 SGB VIII können jedoch, soweit dies ausdrücklich bestimmt ist, auch Träger der freien Jugendhilfe diese Aufgaben wahrnehmen oder mit ihrer Ausführung betraut werden. Eine Rechtsgrundlage dafür, dass Träger der öffentlichen Jugendhilfe anerkannte Träger der freien Jugendhilfe an der Durchführung bestimmter Aufgaben beteiligen oder ihnen diese Aufgaben zur Ausführung übertragen können, enthält § 76 SGB VIII. Die Organisation der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist in den §§ 69 ff. SGB VIII geregelt. Danach sind Träger der öffentlichen Jugendhilfe die örtlichen und überörtlichen Träger. Örtliche Träger sind in der Regel die Kreise und die kreisfreien Städte, wer überörtlicher Träger ist, regelt das Landesrecht. Zur Wahrnehmung der Aufgaben nach dem SGB VIII richtet jeder örtliche Träger ein Jugendamt und jeder überörtliche Träger ein Landesjugendamt ein. Die Aufgaben des Jugendamts werden durch den Jugendhilfeausschuss und die Verwaltung des Jugendamts wahrgenommen, die Aufgaben des Landesjugendamts durch den Landesjugendhilfeausschuss und durch die Verwaltung des Landesjugendamts. Nach dem durch die
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Föderalismusreform 2006 neu gefassten Art. 84 Abs. 1 GG können die Länder die Behördenorganisation abweichend regeln. Die Einrichtung eines Jugendamtes bei den örtlichen Trägern ist jedoch für eine wirksame Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe erforderlich (Schmid u. Wiesner 2006, S. 405 f.). Träger der freien Jugendhilfe sind insbesondere Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Jugendverbände und Jugendgruppen. Das Verhältnis zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe ist in § 4 SGB VIII geregelt. Danach soll die öffentliche Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe partnerschaftlich zusammenarbeiten und dabei deren Selbständigkeit achten. Die öffentliche Jugendhilfe soll von eigenen Maßnahmen absehen, soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können (sog. Konkurrenzverbot). Weiterhin soll die öffentliche Jugendhilfe die freie Jugendhilfe fördern. Die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe einschließlich der Planungsverantwortung liegt nach § 79 SGB VIII bei den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe. Nach § 5 Abs. 1 S. 1 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten das Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 SGB VIII soll der Wahl und den Wünschen entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Die Kinder und Jugendlichen sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VIII entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie haben nach § 8 Abs. 2 SGB VIII das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden. Nach § 8 Abs. 3 SGB VIII können sie ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten beraten werden, wenn die Beratung aufgrund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde. Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es nach § 8 a Abs. 1 S. 1 SGB VIII das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Zur Abwendung der Gefährdung geeignete und notwendige Hilfen hat das Jugendamt gemäß § 8 a Abs. 1 S. 3 SGB VIII den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten. Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es nach § 8 a Abs. 3 S. 1 SGB VIII das Gericht anzurufen. Kann bei dringender Gefahr die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so hat das Jugendamt nach § 8 a Abs. 3 S. 2 SGB VIII das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Dienststellen erforderlich ist, muss das Jugendamt nach § 8 a Abs. 4 SGB VIII auf die Inanspruchnahme durch die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten hinwirken oder, wenn
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ein sofortiges Tätigwerden erforderlich ist und die Personensorgeberechtigen oder die Erziehungsberechtigten nicht mitwirken, diese Dienststellen selbst einschalten. Nach § 9 SGB VIII hat die Jugendhilfe die von den Personensorgeberechtigten bestimmte Grundrichtung der Erziehung und die wachsende Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen zu beachten und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern. In § 10 SGB VIII ist das Verhältnis der Jugendhilfe zu anderen Leistungen und Verpflichtungen geregelt. Danach gilt der Grundsatz: allgemeiner Nachrang der Jugendhilfe, Vorrang der Jugendhilfe vor der Sozialhilfe. Der Schutz von Sozialdaten ist in den §§ 61 ff. SGB VIII geregelt. Vorschriften über die sachliche und örtliche Zuständigkeit finden sich in den §§ 85 ff. SGB VIII. Die Kostenbeteiligung ist in den §§ 90 ff. SGB VIII geregelt.
8.1.2 Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und Hilfe für junge Volljährige Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Anspruchsinhaber ist der Personensorgeberechtigte, nicht das Kind oder der Jugendliche. Hilfe zur Erziehung wird gemäß § 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII insbesondere mit den in den §§ 28 bis 35 SGB VIII angeführten Hilfsformen geleistet. Es kommen aber auch andere Maßnahmen in Betracht. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall (§ 27 Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Hilfe zur Erziehung umfasst nach § 27 Abs. 3 S. 1 SGB VIII insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Gemäß § 27 Abs. 3 S. 2 SGB VIII soll sie bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Abs. 2 SGB VIII einschließen. In den §§ 28 ff. SGB VIII wird zunächst eine Reihe ambulanter Hilfsangebote angeführt, bei denen das Kind oder der Jugendliche in der Familie verbleibt. § 28 SGB VIII regelt die Erziehungsberatung. Nach Satz 1 sollen Erziehungsberatungsstellen und andere Beratungsdienste und -einrichtungen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen. Nach Satz 2 sollen hierbei Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken. Die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit soll nach § 29 1 SGB VIII älteren Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen. Gemäß Satz 2 soll soziale Gruppenarbeit auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzepts die Entwicklung durch soziales Lernen in der
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Gruppe fördern. Soziale Gruppenarbeit kommt insbesondere bei Kindern und Jugendlichen in Betracht, bei denen bereits Verhaltensprobleme vorliegen (Kunkel 2006, S. 121). In der Praxis der sozialen Gruppenarbeit spielen handlungs- und erlebnisorientierte Ansätze eine erhebliche Rolle (Wiesner 2006, § 29 Rn 8). Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das Kind oder den Jugendlichen nach § 30 SGB VIII bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbstständigung fördern. Es geht bei dieser Maßnahme insbesondere darum, dem Jugendlichen eine neue Bezugsperson zur Seite zu stellen, die ihm bei der Lösung seiner Probleme hilft (Bernzen 2005, S. 63). Nach § 31 S. 1 SGB VIII soll sozialpädagogische Familienhilfe durch intensive Betreuung und Begleitung Familien bei ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist nach Satz 2 in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie. Sozialpädagogische Familienhilfe kommt z. B. bei Überforderung der Eltern in Betracht und umfasst die Unterstützung im gesamten Familienalltag. An der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Förderung steht die Erziehung in der Tagesgruppe nach § 32 SGB VIII. Sie soll nach Satz 1 die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder des Jugendlichen in seiner Familie sichern. Gemäß Satz 2 kann die Hilfe auch in geeigneten Formen der Familienpflege geleistet werden. Bei den stationären Angeboten der Erziehungshilfe wird die Hilfe über Tag und Nacht in einer fremden Familie oder in einer Einrichtung, z. B. einem Heim, geleistet. Bei der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII lebt das Kind oder der Jugendliche in einer anderen Familie. Das Pflegeverhältnis kann zeitlich befristet oder auf Dauer angelegt sein (Satz 1). Nach Satz 2 sind für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen. Eine solche Sonderpflegestelle setzt voraus, dass zumindest einer der Pflegeeltern über eine besonders qualifizierte Ausbildung verfügt. Nach § 34 SGB VIII kann Hilfe zur Erziehung auch in eine Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder einer sonstigen betreuten Wohnform geleistet werden. Ziel dieser Erziehungsformen ist es gemäß § 34 S. 2 SGB VIII, zu versuchen eine Rückkehr in die Familie zu erreichen oder die Erziehung in einer anderen Familie vorzubereiten oder eine auf längere Zeit angelegte Lebensform zu bieten und auf ein selbständiges Leben vorzubereiten. Heime sind heute ganz überwiegend offen, es gibt aber auch einige Plätze in geschlossener Unterbringung (Bernzen 2005, S. 21). Sollen Minderjährige in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden, ist eine entsprechende Entscheidung der Personensorgeberechtigten erfor-
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derlich, die der Genehmigung durch das Familiengericht bedarf (§ 1631 g BGB). Als sonstige betreute Wohnformen kommen z. B. betreute Wohngemeinschaften oder betreutes Einzelwohnen in Betracht (Kunkel 2006, S. 126). Jugendlichen, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen, soll nach § 35 SGB VIII intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung gewährt werden. Diese Hilfsform ist für besonders belastete und mit den üblichen Hilfsformen nicht mehr erreichbare Jugendliche z. B. aus dem Drogen- oder Nichtsesshaftenmilieu gedacht (Wiesner 2006, § 35 Rn 1). Die Hilfe ist nach § 35 S. 2 SGB VIII in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen. Erforderlich ist eine umfassende Betreuung durch qualifizierte Fachkräfte. Zur Betreuung können auch erlebnispädagogische Projekte gehören (Nonninger 2006, § 35 Rn 18). Vor der Gewährung einer Hilfe zur Erziehung hat nach § 36 SGB VIII eine Beratung der Betroffenen stattzufinden und ist gegebenenfalls ein Hilfeplan aufzustellen. Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind gemäß § 36 Abs. 1 S. 1 SGB VIII vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB VIII, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrere Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie nach Satz 2 zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; dieser Plan soll regelmäßig überprüft werden. § 36 a SGB VIII regelt die Steuerungsverantwortung des Jugendamts. Nach § 36 a Abs. 1 S. 1 SGB VIII trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird; dies gilt auch dann, wenn Eltern durch das Familiengericht oder Jugendliche und junge Volljährige durch den Jugendrichter zur Inanspruchnahme von Hilfen verpflichtet werden. Gemäß § 36 a Abs. 2 SGB VIII soll der Träger der öffentlichen Jugendhilfe abweichend von Absatz 1 die niedrigschwellige unmittelbare Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen, insbesondere der Erziehungsberatung, zulassen. Werden Hilfen abweichend von diesen Regelungen vom Leistungsberechtigten selbst beschafft, so ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nach § 36 a Abs. 3 SGB VIII nur verpflichtet, wenn er die Leistung trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht rechtzeitig erbracht hat. Die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche regelt § 35 a SGB VIII. Die Vorschrift betrifft nur die seelische Behinderung.
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Für die Eingliederungshilfe bei körperlicher oder geistiger Behinderung sind andere Rehabilitationsträger zuständig, insbesondere die Krankenkassen und die Sozialhilfe (für die Zusammenfassung aller Hilfeleistungen bei der Jugendhilfe Lempp 2006, S. 15). Wie sich aus § 35 a Abs. 1 SGB VIII ergibt, ist der Begriff der seelischen Behinderung zweigliedrig (Kunkel 2006, S. 134). Er setzt zunächst voraus, dass die seelische Gesundheit eines Kindes oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das jeweilige Lebensalter typischen Zustand abweicht. Bei der Beurteilung der Abweichung der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand ist eine gewisse Spannbreite der Entwicklungsverläufe zu berücksichtigen, sodass Entwicklungsverzögerungen, die sich „im normalen Rahmen“ bewegen, noch keine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit darstellen (Wiesner 2006, § 35 a Rn 9). Zu der Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand muss die Prognose hinzukommen, dass dieser Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauern wird. Die zweite Stufe des Behinderungsbegriffs besteht darin, dass die Abweichung vom alterstypischen Zustand zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führen muss. Die Teilhabebeeinträchtigung kann alle Lebensbereiche betreffen. Bei der Beurteilung sind neben der Intensität der seelischen Beeinträchtigung erleichternde und einschränkende Faktoren des sozialen Umfelds und die Einstellungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten zu berücksichtigen (Wiesner 2006, § 35 a Rn 23). Die Abweichung vom alterstypischen Zustand muss kausal für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sein (Kunkel 2006, S 134). Teilleistungsstörungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) und Rechenschwäche (Dyskalkulie) stellen nach herrschender Meinung noch keine seelisch Behinderung dar, können aber zu einer solchen führen (Vondung 2006, § 35 a Rn 7). Anspruchsbegründend ist nicht nur eine bereits eingetretene, sondern auch eine drohende seelische Behinderung. Diese liegt nach § 35 a Abs. 1 S. 2 SGB VIII vor, wenn eine Beeinträchtigung der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Anspruchsberechtigte sind bei der Eingliederungshilfe nicht die Personensorgeberechtigten, sondern die Kinder oder Jugendlichen selbst. Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit vom alterstypischen Zustand hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 35 a Abs. 1 a S. 1 SGB VIII die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrung auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen. Die Stellungnahme ist nach Satz 2 auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Die Stellungnahme muss so abgefasst sein, dass sie für andere Berufsgruppen verständ-
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lich und nachvollziehbar ist (Wiesner 2006, § 35 Rn 10). Gemäß § 35 a Abs. 1 a S. 3 SGB VIII ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Diese Darlegung dient dazu zu prüfen, ob eine Leistungspflicht der Krankenkassen besteht, deren Leistungen nach § 10 Abs. 1 SGB VIII denen der Jugendhilfe vorgehen (Vondung 2006, § 35 a Rn 6 e). Ergibt die Untersuchung, dass nach Auffassung des Arztes Hilfen zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII erforderlich sind, sollte er darauf hinweisen (Wiesner 2006, § 35 a Rn 15). Die ärztliche Stellungnahme bezieht sich auf die erste Stufe des zweigliedrigen Begriffs der seelischen Behinderung. Ob die zweite Stufe – die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft – vorliegt, haben die Fachkräfte des Jugendamtes zu beurteilen (Kunkel 2006, S. 134). § 35 a Abs. 1 a S. 4 SGB VIII sieht eine Trennung zwischen der ärztlichen Stellungnahme und der Hilfeleistung vor. Nach dieser Vorschrift soll die Hilfe nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung erbracht werden, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt. Dem Jugendhilfeträger steht bei der Entscheidung über die Gewährung von Eingliederungshilfe ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt (OLG Lüneburg NJW 2007, 243). Ziel und Gegenstand der Eingliederungshilfe ergeben sich aus § 35 a Abs. 2 und 3 SGB VIII. Nach § 35 a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit § 53 Abs. 3 SGB XII – Sozialhilfe – ist es besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind in § 35 a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit den §§ 54, 56 und 57 SGB XII geregelt, wobei § 54 Abs. 1 SGB XII wiederum auf die §§ 26, 33, 41 und 55 des SGB IX – Rehabilitation und Teilnahme behinderter Menschen – verweist. Leistungen sind danach: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 26 SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX), Leistungen im Arbeitsbereich (§ 41 SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 55 SGB IX), nach § 54 Abs. 1 SGB XII zusätzlich Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf, Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit, Hilfe in vergleichbaren sonstigen Beschäftigungsstätten, nachgehende Hilfe und nach § 54 Abs. 2 SGB XII Beihilfen zu Besuchsfahrten. Gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen und in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.
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Eine Kombination von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII und Hilfen zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII ist möglich. Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen nach § 35 a Abs. 4 S. 1 SGB VIII Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Bei medizinischen Leistungen haben nach § 10 Abs. 1 SGB VIII Leistungen der Krankenversicherung Vorrang. Nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII gehen Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen nach dem SGB VIII vor. Nach Satz 3 kann Landesrecht regeln, dass Leistungen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig von anderen Leistungsträgern gewährt werden. Auch bei der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII findet das Mitwirkungs- und Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII Anwendung und gilt die Steuerungsverantwortung des Jugendamtes gemäß § 36 a SGB VIII. Erscheint Eingliederungshilfe erforderlich, so soll gemäß § 36 Abs. 3 S. 1 SGB VIII bei der Aufstellung und Änderung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe die Person, die eine Stellungnahme nach § 35 a Abs. 1 a SGB VIII abgegeben hat, beteiligt werden. Wegen der komplizierten Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen Rehabilitationsträger enthält § 14 SGB IX eine Regelung über die Zuständigkeitserklärung. Nach den §§ 22 ff. SGB IX sind zur Beratung und Unterstützung Behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen gemeinsame örtliche Servicestellen der Rehabilitationsträger einzurichten. Nach § 41 Abs. 1 S. 1 SGB VIII soll auch einem jungen Volljährigen – also einem jungen Menschen, der das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII) – Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Als Hilfe kommen gemäß § 41 Abs. 2 SGB VIII die Hilfen zur Erziehung nach den §§ 28 ff. SGB VIII, abgesehen von der sozialpädagogischen Familienhilfe und der Erziehung in einer Tagesgruppe, sowie die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in Betracht. Die Hilfe wird nach § 41 Abs. 1 S. 2 SGB VIII in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. Nach § 41 Abs. 3 SGB VIII soll der junge Volljährige auch nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbstständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden.
8.2 Psychiatrisch-psychologische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen
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Literatur Bernzen C (2005) Einführung in das Kinder- und Jugendhilferecht. Kohlhammer, Stuttgart Kunkel PC (2006) Jugendhilferecht. Systematische Darstellung für Studium und Praxis, 5. Aufl. Nomos, Baden-Baden Lempp R (2006) Seelische Behinderung als Aufgabe der Jugendhilfe, 5. Aufl. Boorberg, Stuttgart Nonninger S (2006) Kommentierung der §§ 34 und 35 SGB VIII. In: Kunkel PC (Hrsg) Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. Nomos, Baden-Baden, S 321–335 Schmid H, Wiesner R (2006) Die Kinder- und Jugendhilfe und die Föderalismusreform. Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 1:302–306, 449–454 Vondung U (2006) Kommentierung des § 35 a SGB VIII. In: Kunkel PC (Hrsg) Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe. Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl. Nomos, BadenBaden, S 335–370 Wiesner R (2006) Kommentierung der §§ 27 bis 42. In: Wiesner R (Hrsg) SGB VIII Kinderund Jugendhilfe. Kommentar, 3. Aufl. Beck, München, S 385–775
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Psychiatrisch-psychologische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen im Kinder- und Jugendhilferecht D. Wälte
8.2.1 Spezifische Begutachtungsfragen im Kinder- und Jugendhilferecht „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Für die Verwirklichung des Rechtes übernimmt die Kinder- und Jugendhilfe eine Reihe von fördernden, regulativen und präventiven Aufgaben, um das Kindeswohl zu gewährleisten. Insbesondere hat die Jugendhilfe die Funktion eines Regulationssystems, das dann aktiv wird, wenn das Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist. Dafür hält die Kinder- und Jugendhilfe einen Katalog von „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 27 ff. SGB VIII) vor, die dazu dienen, den Erziehungsauftrag der Sorgeberechtigten zu unterstützen, um eine Kindeswohlgefährdung zu vermeiden oder zu beheben. Entscheidungen über Art und Ausgestaltung der Hilfen liegen gemäß dem Hilfeplanverfahren und der Steuerungsverantwortung (§§ 36 und 36 a SGB VIII) ausschließlich in der Zuständigkeit des Jugendamtes. Es hat auch zu entscheiden, bei welchen Fragen die Expertise eines Psychiaters oder Psychotherapeuten eingeholt wird. Lediglich § 35 a SGB VIII zur Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, die bei Vorliegen einer seelischen Behinderung und einer daraus (zu erwartenden) resultierenden Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gewährt wird, fordert explizit die Stellungnahme eines Psychiaters oder Psychotherapeuten: „Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 Nr. 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die
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Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder 3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. . . .“ (§ 35 a Abs. 1 a SGB VIII). Für die Gewährung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ist allerdings die Stellungnahme des Psychiaters oder Psychotherapeuten lediglich eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung, d. h. die Rechtsnorm sieht entsprechend dem Hilfeplanverfahren und der Steuerungsverantwortung des Jugendamtes auch hier eine interdisziplinäre Diagnostik (z. B. Psychiater einer Klinik und Sozialarbeiter eines Jugendamtes) und die Feststellung des Tatbestandes der seelischen Behinderung durch das Jugendamt vor. Während die Abweichungen von der seelischen Gesundheit (nach ICD-10 im Sinne einer psychischen Störung) ärztlich beziehungsweise psychotherapeutisch festgestellt werden, obliegt die Einschätzung der dadurch verursachten Teilhabebeeinträchtigung am sozialen Leben (im Sinne einer Interaktion zwischen den Faktoren Familie, Sozialraum und der Person des Kindes beziehungsweise Jugendlichen), einer Fachkraft der Sozialen Arbeit. Beide Aspekte fließen dann in die Entscheidung des Jugendamtes ein, ob der Tatbestand des § 35 a SGB VIII erfüllt ist und somit eine Eingliederungshilfe gewährt werden kann. Im Unterschied zu den anderen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, bei denen der Sorgeberechtigte einen Rechtsanspruch auf Hilfe hat, ist hier das Kind beziehungsweise der Jugendliche selbst leistungsberechtigt. Aus den mit § 35 a SGB VIII verbundenen Aufgaben ergeben sich spezifische Begutachtungsfragen an den Psychiater oder Psychologischen Psychotherapeuten: z Hat das Kind beziehungsweise der Jugendliche eine psychische Störung mit Krankheitswert und besteht die Indikation zu einer Behandlung nach dem SGB V (§ 35 a Abs. 1 a S. 3 SGB VIII)? z Liegt eine körperliche und/oder geistige Beeinträchtigung vor, die auf eine Mehrfachbehinderung schließen lässt? z Weicht die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab (§ 35 a Abs. 1 SGB VIII)? z Ist von einer drohenden oder bereits bestehenden seelischen Behinderung auszugehen (§ 35 a Abs. 1 SGB VIII)? Außer bei der Entscheidung zur Gewährung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche wird die Einbeziehung psychologischer und psychiatrischer Gesichtspunkte im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechtes im Gesetz nicht explizit aufgeführt. Allerdings wird die
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Berücksichtigung psychiatrischer und psychologischer Expertise bei anderen Fragestellungen zumindest indirekt gefordert und scheint auch fachlich sinnvoll zu sein: „Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Werden bei der Durchführung der Hilfe andere Personen, Dienste oder Einrichtungen tätig, so sind sie oder deren Mitarbeiter an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen.“ (§ 36 Abs. 2 SGB VIII). Begutachtungsfragen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechtes für Psychiater und Psychotherapeuten können sich insbesondere bei den folgenden Aufgaben des Jugendamtes stellen: z Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung: „Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. . . .“ (§ 8 a Abs. 1 SGB VIII). z Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung: „(1) Mütter und Väter haben im Rahmen der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, wenn sie für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen. Die Beratung soll helfen, 1. ein partnerschaftliches Zusammenleben in der Familie aufzubauen, 2. Konflikte und Krisen in der Familie zu bewältigen, 3. im Fall der Trennung oder Scheidung die Bedingungen für eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen förderliche Wahrnehmung der Elternverantwortung zu schaffen. (2) Im Fall der Trennung oder Scheidung sind Eltern unter angemessener Beteiligung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen bei der Entwicklung eines einvernehmlichen Konzepts für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge zu unterstützen; dieses Konzept kann auch als Grundlage für die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge nach der Trennung oder Scheidung dienen“ (§ 17 Abs. 1 und 2 SGB VIII). z Beratung und Unterstützung beim Umgangsrecht: „Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts nach § 1684 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Sie sollen darin unterstützt werden, dass die Personen, die nach Maßgabe der §§ 1684 und 1685 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Umgang mit ihnen berechtigt sind, von diesem Recht zu ihrem Wohl Gebrauch machen. Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen, in deren Obhut sich das Kind befindet, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Bei der Befugnis, Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes zu verlangen, bei der Herstellung von Umgangskontakten und bei der Ausführung ge-
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richtlicher oder vereinbarter Umgangsregelungen soll vermittelt und in geeigneten Fällen Hilfestellung geleistet werden“ (§ 18 Abs. 3 SGB VIII). Hilfe zur Erziehung: „Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Vermittlung bei der Ausübung der Personensorge: „Sofern der Inhaber der Personensorge durch eine Erklärung nach § 1688 Abs. 3 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Vertretungsmacht der Pflegeperson soweit einschränkt, dass dies eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen förderliche Erziehung nicht mehr ermöglicht, sowie bei sonstigen Meinungsverschiedenheiten sollen die Beteiligten das Jugendamt einschalten“ (§ 38 SGB VIII). Mitwirkung in Verfahren vor dem Vormundschafts- und den Familiengerichten: „Das Jugendamt unterstützt das Vormundschaftsgericht und das Familiengericht bei allen Maßnahmen, die die Sorge für die Person von Kindern und Jugendlichen betreffen. Es hat in Verfahren vor dem Vormundschafts- und dem Familiengericht mitzuwirken, die in den §§ 49 und 49 a des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit genannt sind“ (§ 50 Abs. 1 SGB VIII). Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz: „(1) Das Jugendamt hat nach Maßgabe der §§ 38 und 50 Abs. 3 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes im Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz mitzuwirken. (2) Das Jugendamt hat frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe in Betracht kommen. Ist dies der Fall oder ist eine geeignete Leistung bereits eingeleitet oder gewährt worden, so hat das Jugendamt den Staatsanwalt oder den Richter umgehend davon zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob diese Leistung ein Absehen von der Verfolgung (§ 45 JGG) oder eine Einstellung des Verfahrens (§ 47 JGG) ermöglicht“ (§ 52 Abs. 1 und 2 SGB VIII). Begutachtung und Durchführung von Psychotherapie zur Unterstützung des Erziehungsauftrages der Sorgeberechtigten: Der Begriff „Psychotherapie“ wird im SGB VIII nicht verwendet, erschließt sich jedoch aus der Systemfunktion der Kinder- und Jugendhilfe, welche die elterliche Erziehungsverantwortung unterstützt und ergänzt: „Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen“ (§ 27 Abs. 3 SGB VIII). Ersetzende Leistungen kommen erst dann zum Zuge, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (Wiesner 2005).
Aus diesen Aufgaben ergeben sich weitere Begutachtungsfragen, die sich hauptsächlich auf das Kindeswohl beziehen, bei denen Psychologen oder Psychiater gefragt sind: Ist das Kindeswohl gefährdet (§ 8 a Abs. 1 SGB VIII), wenn
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z eine entsprechende Hilfe zur Erziehung nicht gewährt wird (§ 27 Abs. 1 SGB VIII)? z das Kind weiter bei den Eltern lebt (Vermittlung bei der Ausübung der Personensorge nach § 38 SGB VIII)? z das Sorgerecht auf einen Elternteil alleine übertragen wird (§ 17 Abs. 1 und 2 SGB VIII, § 50 Abs. 1 SGB VIII)? z das Kind Umgang mit einem Elternteil hat (Beratung und Unterstützung beim Umgangsrecht, § 18 Abs. 3 SGB VIII)? z das Kind aus der Pflegefamilie oder aus dem Heim in die Herkunftsfamilie zurückgeführt wird? z eine Strafverfolgung nach dem JGG statt einer möglichen Leistung der Jugendhilfe erfolgt (§ 52 Abs. 1 und 2 SGB VIII)? z eine Psychotherapie, die nicht zum Leistungskatalog der Krankenkassen zählt, abgelehnt wird? Die Gefährdung des Kindeswohls bezieht sich auf die Ausführungen in § 1666 BGB und beinhaltet folgende Einschätzungsebenen: z Art der möglichen Schädigung, z Erheblichkeit von Schädigungen, z Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, z Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwehr, z Bereitschaft der Eltern zur Gefahrenabwehr, z Verfügbarkeit notwendiger und geeigneter Mittel zur Gefahrenabwehr.
8.2.2 Psychologische und psychiatrische Gutachten im Kinder- und Jugendhilferecht Auch wenn die Entscheidungsverantwortung bei Fragen des Kinder- und Jugendhilferechts beim öffentlichen Jugendhilfeträger liegt, so haben die Begutachtungen durch Psychiater und Psychologen ein besonderes Gewicht im Entscheidungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe. Deshalb ist zu fordern, dass nur solche Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten einbezogen werden, die über ausgewiesene Erfahrungen auf dem Gebiet der seelischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügen und sich in diesem Bereich regelmäßig fortbilden (insbesondere auch zu Fragen der Gewalterfahrung und Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen sowie den Auswirkungen psychischer Störungen der Eltern) und supervisieren lassen. Darüber hinaus sollten sie über profunde Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters und der Familiendiagnostik verfügen. Schließlich sind grundlegende Kenntnisse über die Strukturen der Jugendhilfe zu fordern, damit eine Vernetzung zwischen den Disziplinen im Hilfeplan möglich wird. Die bisherigen Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen legen für die Diagnostik und Begutachtungen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfe eine Reihe von Empfehlungen nahe. Sie stützen sich im Wesentlichen auf
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drei Säulen: umfassende Erhebung der Vorgeschichte (Anamnese), Erhebung spezifischer psychiatrischer beziehungsweise psychologischer Befunde unter besonderer Berücksichtigung von Verhaltensbeobachtungen und Einordnung der Befunde in die sechs Achsen der multiaxialen Klassifikation für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 der WHO (vgl. Remschmidt et al. 2006). z Erste Achse. Klinisch-psychiatrisches Syndrom: Gutachterliche Stellungnahmen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechts sollten Angaben darüber enthalten, ob eine psychische Störung nach ICD-10 vorliegt. Falls eine psychische Störung diagnostiziert wird, sind im Regelfall die Krankenkassen als Kostenträger einzubeziehen. Die psychischen Störungen werden unter den F-Diagnosen des ICD-10-Katalogs (Dilling et al. 2000) verschlüsselt: z 000 keine psychiatrische Störung, z F0: organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen, z F1: psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen, z F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, z F3: affektive Störungen, z F4: neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen, z F5: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen oder Faktoren, z F6: Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen, z F7: Intelligenzminderung (wird hier nicht klassifiziert, sondern unter Achse III), z F84: tiefgreifende Entwicklungsstörungen, z F9: Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend. Für Planungen in der Kinder- und Jugendhilfe ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich alle psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter zu einer seelischen Behinderung führen können. Nach § 3 der Verordnung zum § 47 BSHG (Eingliederungshilfeverordnung vom 1. 2. 1975, BGBl. I, S. 433) werden eher undifferenziert folgende seelische Störungen aufgeführt, die eine Behinderung zur Folge haben können: 1. körperlich nicht begründbare Psychosen; 2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen; 3. Suchtkrankheiten und 4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Eine nur vorübergehende Störung schließt den Leistungsanspruch an den Jugendhilfeträger aus, da nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen behindert sind, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“. Darüber hinaus müssen Art und Umfang der drohenden seelischen Behinderung im Zusammenhang mit der seelischen Störung ste-
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hen und schlüssig aus dieser abgeleitet werden können. Schließlich muss die zu erwartende seelische Behinderung mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent eingeschätzt werden (Lempp 2004). z Zweite Achse. Umschriebene Entwicklungsrückstände: Störungen, die zu dieser Achse gerechnet werden, haben im Allgemeinen drei Merkmale gemeinsam: 1. Der Beginn liegt ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit, 2. die Einschränkungen oder Verzögerungen in der Entwicklung von Funktionen sind eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verknüpft und 3. im Unterschied zu vielen psychischen Störungen, die charakteristische Remissionen und Rezidive haben, zeigt sich ein stetiger Verlauf. Diese Störungen werden im Wesentlichen unter den Diagnosen F80 bis F83 des ICD-10-Katalogs kodiert, falls sie aus dem übrigen Entwicklungsniveau eines Kindes herausfallen: z F80: umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, z F81: umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, z F82: umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen, z F83: kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen. Insbesondere für die Beurteilung der Entwicklungsstörung des Lesens und Rechtschreibens sowie der Rechenstörung sollten Gutachten neben den Informationen über das schulische beziehungsweise berufliche Versagen, die durch Angaben aus der Schule dokumentiert werden, auch Ergebnisse metrischer Tests enthalten. Dabei sind die Ergebnisse schließlich vor dem Hintergrund des Intelligenzniveaus zu gewichten (Achse III). Die unter F81 genannten umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, wie z. B. die Legasthenie, begründen weder einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) noch erfüllen sie eine Norm nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Eine entsprechende Förderung fällt vielmehr in den Aufgabenbereich der Schulen. Falls diese Entwicklungsstörungen aber zu einem sozialen Integrationsrisiko für die Kinder und Jugendlichen werden und mit einer Beeinträchtigung der Eingliederung in die Gesellschaft einhergehen, dann sind sie als seelische Behinderung oder drohende seelische Behinderung zu werten und erfüllen somit den Tatbestand des § 35 a SGB VIII. In den anderen Fällen sind die Leistungsvoraussetzungen anderer Kostenträger zu prüfen und in Anspruch zu nehmen. z Dritte Achse. Intelligenzniveau: Für die individuelle Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind Angaben zur Intelligenz in der Regel unverzichtbar. Die Einschätzung der Intelligenz sollte verschiedene Informationen einbeziehen; dazu gehören der klinische Eindruck, das Anpassungsverhalten und Ergebnisse metrischer Tests. Ohne die Anwendung standardisierter Verfahren ist die Diagnose nicht abgesichert. Stets ist dabei in Betracht zu ziehen, dass Intelligenz kein einheitliches Konstrukt
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darstellt, sondern sich aus unterschiedlichen Facetten zusammensetzt. Für eine korrekte diagnostische Einordnung nach ICD-10 muss ein vermindertes Intelligenzniveau in Beziehung gesetzt werden mit den erschwerten Anpassungen an die Anforderungen des alltäglichen Lebens. In dem Gutachten sind jedoch nicht nur Einschränkungen in der Intelligenz festzuhalten, die auf Überforderungen im Leistungsbereich hindeuten, sondern auch Intelligenzgrade über dem Durchschnitt, die als Ressource im Hilfeplan (§ 36 SGB VIII) angesehen werden können. Bei Entscheidungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ist zu berücksichtigen, dass Personen mit niedriger Intelligenz in ihrem Anpassungsverhalten an die Anforderungen der Gesellschaft in der Regel beeinträchtigt sind und ein erhöhtes Risiko haben, ausgenutzt sowie körperlich und sexuell missbraucht zu werden. Die Diagnose einer Intelligenzminderung (ICD-10 F70–F73) gehört zu dem Bereich der geistigen Behinderung und hat entsprechende Leistungsansprüche an die Sozialhilfe zur Folge. Das Intelligenzniveau ist schließlich auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse II), da diese einen IQ größer oder gleich 70 voraussetzt. Die im Folgenden aufgeführten Intelligenzbereiche sind als grobe Richtlinien gemeint und sollten nicht zu starr eingesetzt werden: z sehr hohe Intelligenz: IQ > 129, z hohe Intelligenz: IQ 115–129, z Normvariante: IQ 85–114, z niedrige Intelligenz: IQ 70–84, z leichte Intelligenzminderung: IQ 50–69 (ICD-10 F70: leichte Intelligenzminderung), z mittelgradige Intelligenzminderung: IQ 35–49 (ICD-10 F71: mittelgradige Intelligenzminderung), z schwere Intelligenzminderung: IQ 20–34 (ICD-10 F72: schwere Intelligenzminderung), z schwerste Intelligenzminderung: IQ < 20 (ICD-10 F73: schwerste Intelligenzminderung). z Vierte Achse. Krankheiten aus anderen Kapitel der ICD-10 (andere als psychiatrische Erkrankungen): Gutachten in der Kinder- und Jugendhilfe müssen auch Angaben über mögliche körperliche Krankheiten enthalten, die bei Vorliegen mit anderen Kapiteln der ICD-10 kodiert werden können. Die körperlichen Diagnosen sind nur von einem Arzt zu stellen, der psychologische Gutachter muss gegebenenfalls einen Konsilbericht anfordern. Falls insbesondere die diagnostizierten umschriebenen Entwicklungsstörungen (Achse II) durch eine neurologischer Erkrankung, eine Sinnesbehinderung oder andere körperliche Beeinträchtigungen verursacht sind, liegt eine Mehrfachbehinderung vor, sodass § 35 a SGB VIII nicht zur Anwendung kommt und ein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe geprüft werden muss.
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z Fünfte Achse. Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände: Achse V des multiaxialen Klassifikationssystems für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter ist für die Kodierung aktueller abnormer Umstände vorgesehen. Als soziale Diagnostik entspricht sie der besonderen Bedeutung von Umgebungsfaktoren für Entscheidungen im Kontext der Kinderund Jugendhilfe. Die hier festgestellten Diagnosen, die nach ICD-10 Kapitel XXI (Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen; Z00–Z99) kodiert werden können, erlauben differenzierte Rückschlüsse auf den Bedarf der Sorgeberechtigten und des Kindes beziehungsweise Jugendlichen an erzieherischen Hilfen, wie sie in den §§ 27 ff. SGB VIII aufgeführt sind. Die Kodierungen auf Achse V erfolgen mit einer fünfstufigen Ratingskala (2 = trifft sicher zu; 1 = trifft zu, aber nicht mit ausreichendem Schweregrad; 0 = trifft nicht zu; 8 = logisch nicht möglich; 9 = unbekannt). Der Zeitraum ist hauptsächlich für die letzten 6 Monate definiert, ein anderer Zeitrahmen ist aber möglich.
Achse V: aktuelle abnorme psychosoziale Umstände 1 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.8
abnorme infrafamiliäre Beziehungen Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisung gegenüber dem Kind körperliche Kindesmisshandlung sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie) andere
2 2.0 2.1 2.2 2.8
psychische Störung, abweichendes Verhalten oder Behinderung in der Familie psychische Störung/abweichendes Verhalten eines Elternteiles Behinderung eines Elternteiles Behinderung der Geschwister andere
3
inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation
4 4.0 4.1 4.2 4.3 4.8
abnorme Erziehungsbedingungen elterliche Überfürsorge unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt unangemessene Forderungen/Nötigungen durch die Eltern andere
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5 5.0 5.1 5.2 5.3
abnorme unmittelbare Umgebung Erziehung in einer Institution abweichende Elternsituation isolierte Familie Lebensbedingungen mit möglicher psychosozialer Gefährdung
6 6.0 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.8
akute belastende Lebensereignisse Verlust einer liebevollen Beziehung bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung negativ veränderte Familienbeziehungen durch neue Familienmitglieder Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen sexueller Missbrauch (außerhalb der Familie) unmittelbar beängstigende Erlebnisse andere
7 7.0 7.1 7.8
gesellschaftliche Belastungsfaktoren Verfolgung oder Diskriminierung Migration oder soziale Verpflanzung andere
8
chronische zwischenmenschliche Belastung im Zusammenhang mit Schule oder Arbeit abnorme Streitbeziehungen mit Schülern/Mitarbeitern Sündenbockzuweisung durch Lehrer/Ausbilder allgemeine Unruhe in der Schule beziehungsweise Arbeitssituation andere
8.0 8.1 8.2 8.8 9 9.0 9.1 9.2 9.8
belastende Lebensereignisse oder Situationen infolge von Verhaltensstörungen/ Behinderungen des Kindes institutionelle Erziehung bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung abhängige Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen andere
z Sechste Achse. Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Adaptation/Beeinträchtigung): Das Gutachten sollte Angaben darüber enthalten, in welchem Grad die psychosoziale Anpassung des Kindes beziehungsweise Jugendlichen beeinträchtigt ist. Dabei sind Funktionsbeeinträchtigungen der letzten drei Monate in folgenden Bereichen zu berücksichtigen, die als Konsequenz einer psychischen Störung, einer spezifischen Entwicklungsstörung oder einer intellektuellen Beeinträchtigung entstanden sind: Beziehung zu Familienangehörigen, Gleichaltrigen und Erwachsenen, Bewältigung von sozialen Situationen, schulische beziehungsweise berufliche Anpassung und Interessen sowie Freizeitaktivitäten. Es ist eine Kodierung auf neun Stufen möglich:
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0: herausragende beziehungsweise gute soziale Funktionen in allen sozialen Bereichen; gute zwischenmenschliche Beziehungen mit Familie, Gleichaltrigen und Erwachsenen außerhalb der Familie; kann sich mit allen üblichen sozialen Situationen effektiv auseinandersetzen und verfügt über ein gutes Spektrum an Freizeitaktivitäten und Interessen; 1: mäßige soziale Funktion, aber mit vorübergehenden oder geringeren Schwierigkeiten in nur ein oder zwei Bereichen; 2: leichte soziale Beeinträchtigung: adäquates Funktionsniveau in den meisten Bereichen, aber leichte Schwierigkeiten in mindestens ein oder zwei Bereichen (wie z. B. Schwierigkeiten mit Freundschaften, gehemmte soziale Aktivitäten/Interessen, Schwierigkeiten mit innerfamiliären Beziehungen, wenig effektive soziale Copingmechanismen oder Schwierigkeiten in den Beziehungen zu Erwachsenen außerhalb der Familie); 3: mäßige soziale Beeinträchtigung in mindestens ein oder zwei Bereichen; 4: ernsthafte soziale Beeinträchtigung in mindestens ein oder zwei Bereichen (wie z. B. erheblicher Mangel an Freunden, Unfähigkeit, mit neuen sozialen Situationen zu recht zu kommen oder Schulbesuch nicht mehr möglich); 5: ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung in den meisten Bereichen; 6: funktionsunfähig in den meisten Bereichen: benötigt ständige Aufsicht oder Betreuung zur basalen Alltagsbewältigung, ist nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen; 7: schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigung: manchmal unfähig, für eine minimale Körperhygiene zu sorgen oder braucht zeitweise strenge Beaufsichtigung, um Gefahrensituationen für sich selbst oder andere zu verhüten, oder schwere Beeinträchtigung in allen Bereichen der Kommunikation; 8: tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung: ständige Unfähigkeit, für die eigene Körperhygiene zu sorgen, oder ständige Gefahr, sich selbst oder andere zu verletzen, oder völliges Fehlen von Kommunikation. Die multiaxiale Klassifikation für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter impliziert eine defizitorientierte Diagnostik und lässt kaum Spielraum für die Einbeziehung der Ressourcen, die in der Trias von Person, Familie und Sozialraum des Kindes oder Jugendlichen möglich sind. Klemenz (2003) schlägt deshalb vor, eine weitere Achse zu ergänzen, die personale und Umweltressourcen umschreibt. z „Achse VII“: Ressourcen (Erweiterung nach Klemenz 2003). 1 Personale Ressourcen: 1.1 physische Ressourcen, 1.2 psychische Ressourcen: Begabung (s. auch Achse III), 1.3 psychische Ressourcen: Leistungsressourcen, 1.4 psychische Ressourcen: nichtkognitive Persönlichkeitspotenziale.
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2 Umweltressourcen: 2.1 soziale Ressourcen: positive intrafamiliäre Beziehungen, 2.2 soziale Ressourcen: positive extrafamiliäre Beziehungen, 2.3 soziale Ressourcen: ressourcenfördernde Erziehungsbedingungen, 2.4 ökonomische Ressourcen, 2.5 ökologische Ressourcen. Neben der stärkeren Einbeziehung der personalen und sozialen Ressourcen fordern Jacob und Wahlen eine stärkere Berücksichtigung des elterlichen Erziehungsverhaltens, das unter Achse V noch nicht vollständig abgebildet wird. Sie entwickeln deshalb für die Kinder- und Jugendhilfe ein eigenes Klassifikationssystem (multiaxiales Diagnosesystem Jugendhilfe, MAD-J). Es weist allerdings erhebliche Überschneidungen mit der bereits eingeführten multiaxialen Klassifikation für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter auf, sodass Achse V lediglich um folgende Aspekte der Erziehung und deren Bedingungen zu erweitern ist (vgl. Jacob u. Wahlen 2006): z elterliche Erziehungshandlungen und Erfahrungen des Kindes unter dem Aspekt von Autonomie und Bezogenheit: Verhaltenssysteme, Interaktionsmechanismen und Affektmuster der Eltern, z Eltern-Kind-Beziehung, z elterliche Paarbeziehung, z familiäre Organisation, z elterliche Personenmerkmale. Da für diese Bereiche in der Familien- und Persönlichkeitsdiagnostik bereits standardisierte Instrumente entwickelt wurden, kann es hilfreich sein, darauf in der Begutachtung zurückzugreifen. Weitere Aspekte für eine differenzierte Begutachtung bieten Analyseraster aus der Verhaltenstherapie, bei denen eine Makro- und eine Mikroanalyse unterschieden werden kann: z kontextuelle Verhaltensanalyse (Makroanalyse) – vertikale Analyse des Zusammenhangs mehrerer Probleme auf der Grundlage von Regeln und Plänen; – systemische Analyse: Probleme im Lebenskontext, Analyse von Systembedingungen (Familie/Partnerschaft, soziale Beziehungen); – lebensgeschichtliche Entwicklung des Kindes beziehungsweise Jugendlichen und Krankheitsanamnese. z Verhaltens- und Bedingungsanalyse (Verhaltensanalyse in Situationen = Mikroanalyse) – Verhaltensanalyse mit den potenziellen Bedingungsdiagnosen: – respondente Auslösung: vorausgehende Bedingungen, – operative Auslösung: positive und negative Verstärkung, – kognitive Auslösung: Überzeugungen, Attribuierungen, Gedanken und Vorstellungen, irrationale Kognitionen, Informationsmängel.
8.2 Psychiatrisch-psychologische Gesichtspunkte und Begutachtungsfragen
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z schematisch nach dem SORKC-Modell von Kanfer und Phillips (1975) – S = Merkmale der Situation (physikalische Merkmale, Anwesenheit von Personen, Verhalten von Personen, vorhergehendes Verhalten des Kindes beziehungsweise Jugendlichen selbst), – O = Bedingungen des Organismus (genetisch-biologische Funktionsstörungen, eingefahrene psychophysische Reaktionsmuster, Medikamenten- beziehungsweise auch Drogenwirkungen, momentane Bedingungen, erworbene Defizite). Dazu gehören auch die Kognitionen des Klienten, insbesondere Erwartungen des Patienten (mit Bezug auf die Situation, das eigene Verhalten, die Konsequenzen, die angenommenen Erwartungen anderer Personen, Standards über das eigene Verhalten: Pläne, Oberpläne), – R = Reaktion (motorische, emotionale, kognitive, physiologische), – K = Konsequenzen (Ordnung nach dem Zeitpunkt: kurzfristige, langfristige; dem Entstehungsort: externe, interne; der Qualität: positive, negative Verstärkung, Bestrafung). Neben der Einbeziehung von Ressourcen, des elterlichen Erziehungsverhaltens, verhaltenstherapeutischen Diagnostika wie Mikroanalyse (SORKC) und Makroanalyse sollten in die Gutachten auch Aussagen darüber einfließen, ob die psychologischen Grundbedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen befriedigt sind. Borg-Laufs (2006) hat ein Manual vorgelegt, das die von Grawe (2004) herausgearbeitete Taxonomie für den Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie operationalisiert. Die abschließende Stellungnahme im Gutachten sollte sich zunächst von dem Grundgedanken leiten lassen, dass die Entscheidungsmacht beim Jugendamt liegt. Dementsprechend sind die Kernaussagen des Gutachtens sprachlich und inhaltlich so zu formulieren, dass sich die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes aufgrund der Informationen aus dem psychologischen und medizinischen Bereich ein fachliches Urteil bilden können, welche Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in dem betreffenden Fall aus dem Spektrum der Hilfen zur Erziehung gewährt werden können, die von die Erziehung aktivierenden Interventionen (Beratung, Training, Psychotherapie) bis zu den die elterliche Erziehung ersetzenden Funktionen (Hilfen zur Umgangsgewährung und zum Sorgerecht, teilstationäre Angebote, Fremdunterbringung) reichen. Spezifische Empfehlungen zur Psychotherapie im Rahmen der Hilfen zur Erziehung durch den Gutachter sind möglich. Dabei sollten sich diese Empfehlungen zur Psychotherapie an den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie orientieren, wie sie z. B. von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2003) formuliert wurden, und falls eine Therapieempfehlung für einen Sorgeberechtigten gegeben wird, an den AWMFLeitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) beziehungsweise den AWMF Leitlinien für Diagnostik und Therapie, Psychotherapie und Psychosomatik. Schließlich ist bei den Therapieempfehlungen daran zu denken, dass Leistungen der Kin-
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8 Kinder- und Jugendhilferecht
der- und Jugendhilfe sich nicht allein auf das Kind oder die Eltern als Individuen beziehen, sondern stets die Erziehungs- und Lebensgemeinschaft von Eltern und Kind im Familiensystem vor Augen haben. Deshalb sind die Therapieempfehlungen nicht lediglich an den nach § 92 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ergangenen Psychotherapierichtlinien sowie den als Anlage zum Bundesmantelvertrag nach § 82 Abs. 1 SGB V ergangenen Psychotherapievereinbarungen zu orientieren, sondern am Kanon der „Hilfen zur Erziehung (§ 27 ff. SGB VIII), die „insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen“ (§ 27 Abs. 3 SGB VIII) umfassen (Wiesner 2005). Damit ist gemeint, dass Psychotherapie im Kontext einer pädagogischen Hilfestellung zum Einsatz kommt und mit sozialpädagogischen Ansätzen kompatibel sein muss. Zentral ist also die Abstimmung zwischen Pädagogik und Therapie im Rahmen des Hilfeplanverfahrens. Erziehungsberatungsstellen bieten für diese Doppelfunktion sehr gute strukturelle und konzeptionelle Voraussetzungen, da hier neben dem Auftrag der Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) psychotherapeutische Leistungen einfließen, die im Unterschied zur Heilbehandlung ohne Bewilligung im Einzelfall erfolgen können und auch Therapieformen umfassen können, die nach den Psychotherapierichtlinien und -vereinbarungen nicht gewährt werden (z. B. systemische Familientherapie, klientenzentrierte Spieltherapie).
Literatur AWMF (DGPPN) Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. http//leitlinien.net/ Borg-Laufs M (2006) Störungsübergreifendes Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendpsychotherapie (SDS-KJ). Manual für die Therapieplanung. dgtv-Verlag, Tübingen Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2003) (Hrsg) Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Deutscher Ärzte Verlag, Köln Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2000) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Huber, Bern Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen Jacob A, Wahlen K (2006) Das Multiaxiale Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J). Ernst Reinhardt, München Kanfer FH, Phillips JS (1975) Lerntheoretische Grundlagen der Verhaltenstherapie. Kindler, München Klemenz B (2003) Ressourcenorientierte Diagnostik und Intervention bei Kindern und Jugendlichen. dgtv-Verlag, Tübingen Lempp R (2004) Begutachtung. In: Eggers C, Fegert J, Resch F (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Springer, Berlin, S 285–290 Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F (2006) Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 und DSM-IV. Huber, Bern Wiesner R (2005) Psychotherapie im Kinder- und Jugendhilferecht. Gutachten im Auftrag der Psychotherapeutenkammer Berlin, 7. 6. 2005
Sachverzeichnis
A Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit – im sozialen Entschädigungsrecht 236 f, 259–262 – nach dem Schwerbehindertengesetz 236 f, 238, 259–261, 263 Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung 233 f – Arbeitslosengeld 233 – Erwerbsfähigkeit 233 – Grundsicherung für Erwerbsfähige 233 f Arbeitsunfähigkeit i. S. der gesetzlichen Krankenversicherung 222, 243 f – Neurosen 243 f – Persönlichkeitsstörungen 243 f – Psychosen 243 – Suchterkrankungen 243 Arbeitsunfähigkeit i. S. der privaten Krankenversicherung 244 Arbeitsunfall i. S. der gesetzlichen Unfallversicherung 230 Arzneimittelprüfung, Betreuung 130 Ärztliches Zeugnis – im Betreuungsverfahren 124, 128 f – bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung 172–177 Aufklärungspflicht, ärztliche 11, 12, 14, 33, 89, 92 f, 95 f
Betreuung – Alkoholabhängigkeit 119 – Arzneimittelprüfung 130 – ärztliches Zeugnis 124, 128 f – Deliktsfähigkeit 22 – Demenz 119 – Drogenabhängigkeit 119 – Ehefähigkeit 22, 88 – Einwilligung in ärztlichen Heileingriff 30–34, 120, 126 f – Einwilligungsfähigkeit 29–32, 89, 126 f – Einwilligungsvorbehalt 5, 9, 22, 54, 87–89, 119, 123–125 – geistige Behinderung 119 – Geschäftsfähigkeit 3, 5, 53 f, 119, 125 f – Medizinrecht 29–36, 126 f – Neurosen 119 – Organspende 28, 130 – Persönlichkeitsstörungen 119 – Prozessfähigkeit 18, 86 f – psychiatrische Gesichtspunkte 117–133 – psychische Krankheit 118 f – Psychosen 118 f – rechtliche Grundlagen 27–36 – seelische Behinderung 119 – Sterilisation 129 – Testierfähigkeit 9, 79 – Unterbringung 127–129 Betreuungshelfer 272
B Bereitschaftspotenzial 57 Berufsgenossenschaften 229 Berufskrankheit i. S. der gesetzlichen Unfallversicherung 230 Berufsunfähigkeit i. S. der gesetzlichen Rentenversicherung 228 Berufsunfähigkeitsversicherung, private 253–254 Betreute Wohnform 272 f
D Deliktsfähigkeit – Betreuung 22 – Beweislast 22 – Minderjährige 20 f, 88 – psychiatrische Gesichtspunkte 87 – rechtliche Grundlagen 20 Deliktsunfähigkeit, partielle 22 Dienstfähigkeit bei Beamten 254
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Sachverzeichnis
E Eheaufhebung 24 Ehefähigkeit 22 f – Betreuung 22, 88 – Minderjährige 23 Eherecht 22–25 – psychiatrische Gesichtspunkte 88 Eheregister 37 Eifersuchtswahn 10, 18 Eingliederungshilfe für seelische behinderte Kinder und Jugendliche 273–278, 282–284 Einwilligung in ärztlichen Heileingriff 9–15, 30–34, 89–96, 126 f Einwilligungsfähigkeit 120 – Betreuung 29–32, 89, 126 f – psychiatrische Gesichtspunkte 89–96 – psychische Erkrankung 10–12 – rechtliche Grundlagen 9–18 – Schmerzen 10 f – Schwangerschaftsabbruch 16 f – Minderjährige 12–18 Einwilligungsvorbehalt 5, 9, 22, 54, 87–89, 119, 123–125 Elterliches Sorgerecht s. Sorgerecht Entmündigung 3, 28, 66, 117 Erbvertrag 6 Ergänzungspfleger 26 Erwerbsfähigkeit i. S. d. Arbeitsförderung/ Arbeitslosenversicherung 233 Erwerbsminderung i. S. d. gesetzlichen Rentenversicherung 227 f – „umweltbezogene“ Körperbeschwerden 250 f – affektive Störungen 249 – Essstörungen 250 – neurotische Störungen 249–253 – organisch bedingte Störungen 248 – Schizophrenie 248 f – statistische Entwicklung 245–248 – Suchterkrankungen 248 Erziehung in der Tagesgruppe 272 Erziehungsbeistand 272 Erziehungsberatung 271, 290
F Fahreignung – affektive Störungen 194–196 – Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit 188–192 – Antidepressiva 205 f – Anxiolytika 209 f – Asperger-Syndrom 201–203 – Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätsStörung (ADHS) 203 f – Autismus 201 f
– – – – – –
Begutachtung 181–217 Belastungsreaktionen 196–198 Benzodiazepine 209 f Demenz 184–187 dissoziative Störungen 197 Drogenmissbrauch und -abhängigkeit 188–192 – Entwicklungsstörungen 201–203 – Frontalhirnschädigung 185 f – Hypnotika 209 f – Intelligenzminderung 200 f – Komorbidität 212 f – Medikamente 204–213 – Neuroleptika 206 f – Neurosen 196–198 – Opiatersatztherapie 211 f – organisch verursachte Störungen 187 – Persönlichkeitsstörungen 198–200 – Polypharmazie 212 f – psychotrope Substanzen 188–192 – Schizophrenie 193 f – Stimmungsstabilisatoren 208 f – Stimulanzien und Anti-ADHSTherapeutika 210 f Fahrerlaubnis – Entziehung durch die Fahrerlaubnisbehörde 179–181 – Erteilung 179 f Fahrerlaubnisverordnung 179–183 Familienbuch 37 G Gebrechlichkeitspflegschaft 3, 27–29, 117 f Geburtenregister 37 f Geschäftsfähigkeit – Alltagsgeschäfte 52 – beschränkte 3, 52 f – Beweislast 52 – psychiatrische Gesichtspunkte 51–78 – rechtliche Grundlagen 3–5 – relative 51 – und Betreuung 3, 5, 53 f, 119, 125 f Geschäftsunfähigkeit – affektive Störungen 73 f – Alltagsgeschäfte 5 – Belastungsstörungen 74 – Delir 70–71 – Demenz 70 – Intelligenzminderung 76–78 – neurotische Störungen 74 – organische Störungen 70 f – partielle 3 f, 73, 125 – Persönlichkeitsstörungen 74–76 – psychotrope Substanzen 71 f – – Abhängigkeitssyndrom 72 – – Intoxikation 71 f
Sachverzeichnis – – – – –
relative 4 Schizophrenie 72 somatoforme Störungen 74 Störungen der Impulskontrolle 76 Verhaltensauffälligkeiten i. V. mit körperlichen Störungen 74 Grad der Behinderung 238 f, 259–261, 263 Grundsicherung für Erwerbsfähige 233 f Gutachten – bei öffentlich-rechtlicher Unterbringung 172–177 – im Betreuungsverfahren 121–123 – im Familienrecht 105–115 – im Sozialrecht 228, 236 f, 240–265 – im Zivilrecht allgemein 40–46 – in der Kinder- und Jugendhilfe 277–290 – zur Fahreignung 181–217 – zur Unterbringung im Betreuungsrecht 128 f H Heimerziehung 272 f Hilfe zur Erziehung 271–273, 277, 280, 290 Hilfeplan 273, 276 f, 279, 290 I Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung 273 J Junge Volljährige 276 K Kausalität s. Ursachenzusammenhang Kinder- und Jugendhilfe – Aufgaben 268 f – Begriff 267 – Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche 273–278, 282–284 – Gutachten 277–290 – Hilfe zur Erziehung 271–273, 277, 280, 290 – Hilfeplan 273, 276 f, 279, 290 – junge Volljährige 276 – psychiatrische Gesichtspunkte 277–290 – Psychotherapie 280, 289–290 – rechtliche Grundlagen 267–277 – Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung 270 f – Steuerungsverantwortung des Jugendamts 273, 276 f – Träger 269 f
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– Ziele 268 f Kindeswohl – Begriff 101–104 – Gefährdung 104 f, 112 f Krankengeld 223 Krankenversicherung, gesetzliche – Arbeitsunfähigkeit 222, 243 f – Krankengeld 223 – Krankenhausbehandlung 222 – Krankheitsbegriff 221 – Leistungen 222–223 – psychiatrische Gesichtspunkte 243 f – rechtliche Grundlagen 221 f – versicherter Personenkreis 221 Krankheit i. S. der gesetzlichen Krankenversicherung 221 Krankheit i. S. des Sozialrechts 242 L Lebenspartnerschaft – Aufhebung 24 f – Begründung 23 f Lebenspartnerschaftsregister 37 Libet-Experiment 57 Luzides Intervall 22, 68 f, 84 M Minderjährige – Deliktsfähigkeit 20 f, 88 – Ehefähigkeit 23 – Einwilligungsfähigkeit 12–18 – Geschäftsfähigkeit 3, 5, 53 – Prozessfähigkeit 18 – Sterilisation 26 – Testierfähigkeit 6 Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne – der gesetzlichen Unfallversicherung 232, 258–261 – des sozialen Entschädigungsrechts 237 Mini-Mental-Status-Test (MMSE) 6 Multiaxiale Klassifikation für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter 282–288 N Notfalleinsatz 31, 90, 95, 126 Nottestament 8 f O Obergutachten 42 Opferentschädigungsgesetz 234–236 Organspende, Betreuung 28, 130
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P Patientenverfügung 35 f, 90 f, 93, 95 Personensorge 26 Personenstand, Begriff 36 Personenstandsbücher 37 Personenstandsrecht 36–29 Personenstandsregister 37 f Pflegekasse 223 Pflegestufen 224 f, 244 f Pflegeversicherung – Aufsichtsbedarf 225, 245 – Begutachtung 225 f – Härtefall 225 – Leistungen 224 – Pflegebedürftigkeit 223 f – Pflegekasse 223 – Pflegestufen 224 f, 244 f – psychiatrische Aspekte 244 f – rechtliche Grundlagen 223–226 – Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürftigen 225 – versicherter Personenkreis 223 Privatgutachten 8, 41 Prozessfähigkeit – Betreuung 18 – Beweislast 18 – Minderjährige 18 – psychiatrische Gesichtspunkte 86 – rechtliche Grundlagen 18–20 Prozessunfähigkeit – Beweislast 87 – partielle 18, 87 – relative 18 Psychotherapeutengesetz 222 Punktekatalog für Verkehrsverstöße 180 f Q Querulatorisches Verhalten 4, 18, 73, 87, 141, 145, 251 f R Rentenneurose 251 f Rentenversicherung, gesetzliche 245 – „umweltbezogene“ Körperbeschwerden 250 f – affektive Störungen 249 – Begutachtung 228 – Berufsunfähigkeit 228 – Erwerbsminderung i. S. der gesetzlichen Rentenversicherung 248 – Essstörungen 250 – Leistungen 227 f – neurotische Störungen 249–253 – organisch bedingte Störungen 248 – psychiatrische Gesichtspunkte 245–253
– rechtliche Grundlagen 226–229 – Schizophrenie 248 f – statistische Entwicklung 245–248 – Suchterkrankungen 248 – versicherte Personen 226 f – Versicherungsfälle 227 f Rubicon-Modell 59 S Sachverständiger – Fachkunde 42 – im Betreuungsverfahren 120 f – Pflicht zur Gutachtenerstellung 40 – Stellung im Zivilprozess und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit 40–46 – Unbefangenheit 43 Scheidungsfähigkeit 24 Schweigepflicht, ärztliche 6, 14, 32, 80 Schwerbehindertenrecht – Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 236 f, 238, 259–261, 263 – Begriff der Behinderung 237 f, 263 – Grad der Behinderung 238 f, 259–261, 263 – psychiatrische Gesichtspunkte 263 – rechtliche Grundlagen 237–240 – Schwerbehinderteneigenschaft 238, 263 Sorgerecht 25–27 – Einschränkungen 27 – nach Trennung der Eltern 110 f – Personensorge 26 – psychiatrische Gesichtspunkte 101–116 – Träger 25 f – Umfang 26 – Vermögenssorge 26 Soziale Gruppenarbeit 271 f Soziales Entschädigungsrecht – Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 236 f, 259–262 – Begutachtung 236 f – Kann-Versorgung 236, 262 – Leistungen 234, 237 – Minderung der Erwerbsfähigkeit 237 – psychiatrische Gesichtspunkte 261 f – rechtliche Grundlagen 234–237 – Ursachenzusammenhang 235 f, 261 f Sozialhilfe 239 Sozialpädagogische Familienhilfe 272 Sozialrecht – psychiatrische Gesichtspunkte 240–265 – rechtliche Grundlagen 219–240 Sozialversicherung 220–232 Sterberegister 37, 38 Sterilisation, und Betreuung 129 Steuerungsverantwortung des Jugendamtes 273, 276 f
Sachverzeichnis Störung der Geistestätigkeit, krankhafte 65 Straßenverkehrsrecht, verwaltungsrechtliche Normen 179–181 Suizid – Unfallversicherung 231 – Unterbringung 140, 172, 174, 176 f – Verkehrsunfall 195 T Taschengeldparagraf 5 Testament, gemeinschaftliches 6 Testierfähigkeit – Beweislast 85 – psychiatrische Gesichtspunkte 78–86 – rechtliche Grundlagen 5–9 Testierunfähigkeit, partielle 6 Threat-Control-Override-Symptomatik 175 Transsexuellenrecht 38 f U Umgang, begleiteter 113–115 Umgangsrecht 111 f, 279 f Unfallversicherung, gesetzliche – Arbeitsunfälle 228–232 – Berufsgenossenschaften 229 – Berufskrankheit 230 – Leistungen 229 f – Minderung der Erwerbsfähigkeit 232, 258–261 – neurotische Störungen 257 – Posttraumatische Belastungsstörung 257 f – psychiatrische Gesichtspunkte 255–261 – Psychosen 257 – rechtliche Grundlagen 229–232 – Schädel-Hirn-Trauma 256 – Ursachenzusammenhang 230–232, 255–258 – versicherter Personenkreis 229 – Versicherungsfälle 229–232 Unterbringung im Betreuungsrecht 127–129 Unterbringung, öffentlich-rechtliche – Abgrenzung zur strafrechtlichen Unterbringung 141–144 – Anorexie 176 f – Anwendungshäufigkeit 169 f – ärztliches Zeugnis 172–177 – Begriff 138 – Borderline-Persönlichkeitsstörung 176 f
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Dauer 152, 154 Demenz 175 f depressive Krankheitsphasen 176 Europäische Menschenrechtskonvention 140 f – gerichtlicher Rechtsschutz 155–165 – gerichtliches Verfahren 150–152 – Gesetzgebungskompetenz 138 – Gutachten 172–177 – Intoxikation 175 – Kosten des Verfahrens 155 – Landesregelungen 161–165 – manische Krankheitsphasen 176 – psychiatrische Gesichtspunkte 166–178 – rechtliche Grundlagen 137–166 – Schizophrenie 175 – Verfahren 148–160, 170–172 – verfassungsrechtliche Rechtfertigung 139–140 – Verhältnis von Gefahrenabwehr und Gesundheitsfürsorge 146–148, 167 – 170 – Verwaltungsunterbringung 148, 154, 171 – Vollstreckungsverfahren 152 – Vollzug 153, 172 – Voraussetzungen 144–146 – vorgerichtliches Verfahren 149–150 – vorläufige Entlassung 154 – vorläufige Unterbringung 148, 153, 171 Ursachenzusammenhang im Sinne – des sozialen Entschädigungsrechts 235 f, 261 f – des Sozialrechts 242 – der gesetzlichen Unfallversicherung 230–232, 255–258 – – neurotische Störungen 257 – – Psychosen 257 – – Posttraumatische Belastungsstörung 257 f – – Schädel-Hirn-Trauma 256 V Verfahrenspfleger 120 Vermögenssorge 26 Verwaltungsunterbringung 148, 154, 171 Vollzeitpflege 272 Vormundschaft 3, 26, 27 f Vorsorgevollmacht 34 f, 95 W Willensbestimmung, freie
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