Heinz-Hermann Krüger · Winfried Marotzki (Hrsg.) Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung
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Heinz-Hermann Krüger · Winfried Marotzki (Hrsg.) Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung
Heinz-Hermann Krüger Winfried Marotzki (Hrsg.)
Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1999 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage Mai 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14839-7 ISBN-13 978-3-531-14839-7
Inhalt
Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki Biographieforschung und Erziehungswissenschaft – Einleitende Anmerkungen ............
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I. Theoretische Grundsatzfragen und Überblicke .............................................
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Heinz-Hermann Krüger Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung .................................................
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Theodor Schulze Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft – Gegenstandsbereich und Bedeutung ...............................................................................
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Winfried Marotzki Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung ...................................................
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Werner Loch Der Lebenslauf als anthropologischer Grundbegriff einer biographischen Erziehungstheorie ..................................................................................
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Jutta Ecarius Biographieforschung und Lernen ....................................................................................
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II. Methodologische Fragen .................................................................................... 109 Winfried Marotzki Forschungsmethoden und -methodologie der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ....................................................................................................... 111 Christian Lüders Pädagogische Ethnographie und Biographieforschung ................................................... 137 Erich Renner Ethnographie und interkulturelle pädagogische Forschung ............................................. 149 Ernst Cloer Pädagogisches Wissen in biographischen Ansätzen der Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung. Methodologische Zugänge, theoretische und empirische Erträge ... 171
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Inhalt
Fritz Schütze Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie 205
III. Biographieforschung und Pädagogik der Lebensalter ............................. 239 Cathleen Grunert/Heinz-Hermann Krüger Biographieforschung und pädagogische Kindheitsforschung ......................................... 241 Dieter Baacke/Uwe Sander Biographieforschung und pägagogische Jugendforschung .............................................. 257 Werner Helsper/Mechthild Bertram Biographieforschung und SchülerInnenforschung .......................................................... 273 Barbara Friebertshäuser StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven biographieanalytischer Zugänge ...................................................................................... 295 Dieter Nittel Das Erwachsenenleben aus der Sicht der Biographieforschung ...................................... 317 Cornelia Schweppe Biographieforschung und Altersforschung ...................................................................... 341
IV. Biographieforschung in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen .............................................. 361 Edith Glaser/Pia Schmid Biographieforschung in der Historischen Pädagogik ....................................................... 363 Sabine Reh/Carla Schelle Biographieforschung in der Schulpädagogik. Aspekte biographisch orientierter Lehrerforschung .............................................................................................................. 391 Klaus Harney/Andreas Ebbert Biographieforschung in der Berufspädagogik ................................................................. 413 Peter Alheit/Bettina Dausien Biographieforschung in der Erwachsenenbildung ........................................................... 431 Hans-Jürgen von Wensierski Biographische Forschung in der Sozialpädagogik .......................................................... 459 Margret Kraul Biographieforschung und Frauenforschung .................................................................... 483 Ursula Apitzsch Biographieforschung und interkulturelle Pädagogik ....................................................... 499 Stefan Aufenanger Medienbiographische Forschung .................................................................................... 515 Autorinnen und Autoren .................................................................................................. 527
Biographieforschung und Erziehungswissenschaft – Einleitende Anmerkungen Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki
Zwischen der Biographieforschung und der Erziehungswissenschaft besteht eine hohe Affinität aufgrund des gemeinsamen Arbeitsfeldes, denn ein biographischer Bezug ist der Pädagogik in ihrem Gegenstand bereits vorgegeben. Bedeutet doch Erziehung Anleitung, Unterstützung und Hilfe in Verbindung mit der Gestaltung individuellen Lebens. Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig überraschend, dass die Pädagogik neben der Literaturwissenschaft, der Historiographie und der Philosophie an den Anfängen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Biographien im 18. Jahrhundert bereits maßgeblich beteiligt war. Lebensläufe und Autobiographien bilden zentrale empirische Grundlagen modernen pädagogischen Denkens, wie sie in den Arbeiten von Rousseau, Trapp oder Niemeyer formuliert wurden. Eine neue Blütezeit erlebte die pädagogische Biographieforschung im deutschsprachigen Raum erst in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wichtige Anstöße gingen dabei von den Vertretern der Pädagogischen Psychologie und der Jugendforschung, wie etwa Charlotte Bühler oder Siegfried Bernfeld , aus, die die biographische Methode für Untersuchungen zum Jugendalter und zum Lebenslauf fruchtbar zu machen suchten. Zu einer erneuten Renaissance der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung kam es dann in Westdeutschland in den 1970er Jahren. Dominierten in der Diskussion in der Anfangsphase noch methodologische Überlegungen und forschungsprogrammatische Begründungen zur Ausarbeitung einer biographischen und narrativen Orientierung in der Erziehungswissenschaft, so wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Vielzahl von biographieanalytischen Untersuchungen in der historischen Bildungs- und Sozialisationsforschung, in der pädagogisch orientierten Kindheits-, Jugend- und Hochschulsozialisationsforschung sowie in den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen, wie etwa der Schulpädagogik, der Erwachsenenbildung oder der Sozialpädagogik, durchgeführt. Inzwischen hat sich das Forschungsfeld der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung soweit etabliert, dass es gerechtfertigt erscheint, den Stand des bisher erreichten theoretischen, methodologischen und empirischen Wissens in einem Handbuch zusammenzufassen. Stabilisiert haben sich in den letzten Jahren auch die Versuche, die Forschungsaktivitäten im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung stärker institutionell zu vernetzen. Diese Aktivitäten setzten auf dem Tübinger Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahre 1978 ein und mündeten 1994 in der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, die dann 1998 zu einem integralen Bestandteil der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) wurde.
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Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki
Im breiten Spektrum erziehungswissenschaftlicher Forschungsansätze und -methoden nimmt die Biographieforschung gegenwärtig einen zentralen Platz ein. Ausgangsmaterial sind zum einen persönliche Dokumente (z.B. Briefsammlungen, Aufsätze, Tagebücher, Autobiographien), die in der sozialen Realität vom Forscher vorgefunden werden. Zum anderen handelt es sich um biographische Materialien, die durch die Forschungsinstrumente des Wissenschaftlers (z.B. narrative Interviews, Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtungen) erst produziert werden. Biographieforschung umfasst also die Wege der Erhebung und Auswertung von lebensgeschichtlichen Dokumenten. Dabei können auch andere Datenbereiche (z.B. vorhandene Filme, Tonaufzeichnungen, Zeitungsartikel, Protokolle oder Akten) mit in die Untersuchung einbezogen werden. In aktuellen methodologischen Überlegungen wird zudem verstärkt über eine Verknüpfung zwischen biographieanalytischen und anderen qualitativen Verfahren (z.B. Ethnographie) diskutiert, die sich nicht dem individuellen, sondern dem interaktiven und kollektiven Charakter von sozialen Sinnwelten zuwenden (vgl. Marotzki 1998; Bohnsack/Marotzki 1998, S. 8; Krüger 2001a, S. 206). Die Biographieforschung ist jedoch nicht nur ein wichtiges methodisches Forschungsdesign im Kontext der qualitativen erziehungswissenschaftlichen Forschung. Sie kann vielmehr als Forschungsfeld mit theoriegenerierender Kraft auch Anregungspotentiale für die theoretische Weiterentwicklung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und für die empirische Bearbeitung philosophisch-grundlagenorientierter Fragestellungen bieten. Biographie ist als Konzept strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt und eröffnet somit die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld subjektiver und objektiver Analysen zu erfassen (vgl. Krüger 1997; Marotzki 1996). Allgemeine Fragen der Subjektivitätskonstitution, des Verhältnisses von Lernen und Bildung, von innerweltlicher Orientierung und Werttransformation können zudem mit dem Instrumentarium der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung empirisch untersucht werden. Biographieforschung kann somit der Allgemeinen Erziehungswissenschaft ein theoretisches Bezugssystem und eine methodologische Forschungsstrategie liefern, die es gestattet, Grundlagentheorie philosophisch und theoretisch elaboriert sowie empirisch gehaltvoll und differenziert zu betreiben (vgl. Marotzki 1996, 2002; Schulze 2002).
Ziele und Konzeption des Handbuches In diesem Handbuch wird erstmalig versucht, einen systematischen Überblick über die theoretischen Diskurse, Forschungsmethoden und Forschungsschwerpunkte der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu geben. Mit der Konzentration auf die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung hebt sich das vorliegende Buch von anderen Einführungstexten (vgl. Fuchs 1994; Niethammer 1980), Sammelbänden (vgl. Bohnsack/ Marotzki 1998; Jüttemann/Thomae 1998; König/Zedler 1995) und anderen Handbüchern (Friebertshäuser/Prengel 1997; Flick/Kardoff/Steinke 2000) thematisch ab. Im ersten Teil des Handbuches wird die Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft reflektiert, historische Entwicklungslinien werden nachgezeichnet und die theoretischen Grundlagen sowie die zentralen Kategorien der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung werden vorgestellt. Im Zentrum des zweiten Teils steht die Diskussion methodologischer Fragen. Biographische Verfahren werden im Spektrum qualitativer Forschungsmethoden verortet und em-
Biographieforschung und Erziehungswissenschaft
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pirisch illustriert. Darüber hinaus werden Bezüge zu ethnographischen Verfahren, zur interkulturellen pädagogischen Forschung sowie zur historischen Bildungsforschung hergestellt. Der dritte Teil thematisiert den Zusammenhang zwischen der Biographieforschung und der Pädagogik der Lebensalter. Dabei finden alle Lebensphasen von der Kindheit bis zum Alter Berücksichtigung. Neben Forschungsfeldern mit langer biographischer Forschungstradition, wie etwa der Jugendforschung, werden in diesem Kapitel auch Forschungsbereiche, wie z.B. die Altersforschung, vorgestellt, in denen die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung bislang nur eine rudimentäre Forschungspraxis aufweisen kann. Im abschließenden vierten Kapitel des Handbuches werden die Ansätze, Forschungsstrategien und Ergebnisse der Biographieforschung in den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen dargestellt. Diese Beiträge zeigen, dass Studien mit einem biographischen Akzent inzwischen in den differenten erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen von der Historischen Pädagogik über die Schul- und Sozialpädagogik bis hin zur Erwachsenenbildung und Medienpädagogik einen festen Platz einnehmen. Es bleibt abschließend noch allen Autorinnen und Autoren, die an diesem Handbuch mitgearbeitet haben, für die produktive und reibungslose Kooperation auch bei den Arbeiten zur Aktualisierung dieser 2. Auflage zu danken. Für ihre Hilfe bei der Aktualisierung dieses Handbuches durch vielfältige Koordinations- und Korrekturarbeiten danken wir ganz besonders Petra Essebier und Susanne Siebholz.
Literatur Bohnsack, R./Marotzki, W. (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Opladen 1998. Flick, M./Kardoff, E. v./Steinke, I. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000. Friebertshäuser, B./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 1997. Fuchs, W.: Biographische Forschung. Opladen 1984. Jüttemann, G./Thomae, H. (Hrsg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Weinheim 1998. König, E./Zedler, P. (Hrsg.).: Bilanz Qualitativer Forschung. 2 Bände. Weinheim 1995. Krüger, H.-H.: Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladen 32001. Krüger, H.-H.: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. In: Friebertshäuser, B./Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 1997, S. 43-55. Krüger, H.-H./Grunert, C. (Hrsg.): Wörterbuch Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2004. Krüger, H.-H./Marotzki, W. (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen 2 1996. Marotzki, W.: Allgemeine Erziehungswissesnchaft und Biographieforschung. In: Kraul, M./Marotzki, W. (Hrsg.): Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Opladen 2002, S. 49-64. Marotzki, W.: Neue Konturen Allgemeiner Pädagogik: Biographie als vermittelnde Kategorie. In: Borelli, M./Ruhloff, J. (Hrsg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Bd. 2. Hohengehren 1996, S. 67-84. Marotzki, W.: Ethnographische Verfahren in der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. In: Jüttemann, G./Thomae, H. (Hrsg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Weinheim 1998, S. 44-59. Niethammer, L. (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History. Frankfurt a.M. 1980. Schulze, T.: Biographieforschung und Allgemeine Erziehungswissenschaft. In: Kraul, M./Marotzki, W. (Hrsg.): Biographische Arbeit. Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Opladen 2002, S. 22-48.
I. Theoretische Grundsatzfragen und Überblicke
Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung Heinz-Hermann Krüger
Inhalt 1. Einführung 2. Traditionslinien der pädagogischen Biographieforschung 3. Forschungsfelder und aktuelle Problemlagen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung 4. Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung Literatur
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Heinz-Hermann Krüger
1. Einführung Zwischen der Erziehungswissenschaft und der Biographieforschung besteht eine hohe Affinität aufgrund des gemeinsamen Arbeitsfeldes. Denn ein biographischer Bezug ist der Pädagogik in ihrem Gegenstand bereits vorgegeben, bedeutet doch Erziehung ihrem Wesen nach Anleitung, Unterstützung, Hilfe in Verbindung mit der Gestaltung individuellen Lebens (vgl. Schulze 1993a, S. 13). Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig überraschend, dass sowohl in der Geschichte als auch im aktuellen Diskurs der Biographieforschung die Erziehungswissenschaft einen wichtigen Platz einnimmt. Neben der Erziehungswissenschaft sind noch andere Wissenschaften, wie etwa die Soziologie, die Psychologie oder die Geschichtswissenschaft, am Arbeitsfeld der Biographieforschung beteiligt, die jeweils mit spezifischen Zielsetzungen und Erkenntnisinteressen Biographisierungsprozesse untersuchen. Im Zentrum des Interesses der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung steht das Bemühen, Lebensgeschichten unter dem Focus von Lern- und Bildungsgeschichten zu rekonstruieren (vgl. Marotzki 1990). Die Soziologie analysiert vor allem, wie Gesellschaftsmitglieder gemeinsam Biographien aufbauen, welche gesellschaftlichen Baupläne es dazu gibt und welche sozialen Aufgaben Biographien haben (vgl. Fischer-Rosenthal 1991a). Die Psychologie, insbesondere in ihren psychoanalytischen Varianten, versucht von lebensgeschichtlichen Erzählungen auf grundlegende Persönlichkeitsstrukturen zu schließen oder aber wie die neuere Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, durch die Analyse von mündlich erhobenen Autobiographien gerade die Problematik einer phasenorientierten Gliederung des Lebenslaufs deutlich zu machen (vgl. Thomae 1991). Die oral-history-Forschung in der Geschichtswissenschaft teilt mit der volkskundlichen Erzählforschung das Interesse, mit Hilfe mündlicher Befragungen die Alltagsgeschichte der ,kleinen Leute‘ oder gesellschaftlicher Minderheiten zu rekonstruieren (vgl. Wierling 1991; Jeggle 1991). Vielfältige Berührungspunkte zur oral-history-Forschung und zur sozialgeschichtlichen Autobiographieforschung hat auch die Erziehungswissenschaft seit der Umorientierung der historischen Pädagogik in Richtung auf eine historische Sozialisationsforschung in den 1980er Jahren gesucht, um die Wirksamkeit von Sozialisationsinstanzen, die lebensgeschichtliche Konstituierung von Sinn und Bedeutung im vergangenen Lebensalltag in der Familie, der Nachbarschaft, in den pädagogischen Institutionen und die daraus entstehenden subjektiven Verarbeitungsformen analysieren zu können (vgl. Herrmann 1991a; Krüger 1993). Im Folgenden soll nun in einem ersten Schritt die Geschichte der pädagogischen Biographieforschung seit dem 18. Jahrhundert in knappen Zügen rekonstruiert werden. In einem zweiten Schritt wird der aktuelle empirische, methodologische und theoretische Diskussionsstand der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung bilanziert und in einem dritten Schritt werden einige theoretische, methodologische und forschungsthematische Perspektiven für die Weiterentwicklung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung aufgezeigt.
Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven
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2. Traditionslinien der pädagogischen Biographieforschung Die Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Biographien sind im 18. Jahrhundert zu lokalisieren. Neben der Literaturwissenschaft, der Historiographie und der Philosophie war auch die Pädagogik an der Begründung der Biographieforschung maßgeblich beteiligt. So heißt es bei Rousseau auf den ersten Seiten seines autobiographischen Erziehungsromans ‚Emile‘: „Leben ist die große Kunst, die der Mensch zu lernen hat“ (Rousseau 1762) und die beiden Hallenser Pädagogen Niemeyer und Trapp betonen bei ihren Bemühungen, eine moderne wissenschaftliche Pädagogik zu formulieren, die grundlegende Bedeutung des lebensgeschichtlich-biographischen Ansatzes für die Theorie und Praxis der Erziehung. Lebensläufe und Autobiographien bilden daher neben der Beobachtung von Kindern eine der empirischen Grundlagen modernen pädagogischen Denkens, die im 18. Jahrhundert formuliert werden. Allerdings ging dann die pädagogische Theoriebildung im 19. Jahrhundert als Bildungsphilosophie und Unterrichtswissenschaft bei Humboldt, Herbart und ihren Nachfolgern andere Wege (vgl. Herrmann 1991a, S. 44). Eine neue Blütezeit erlebte die Biographieforschung in Pädagogik und Psychologie im deutschsprachigen Raum in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, während sie in der deutschen Soziologie, anders als in den USA, wo die Biographieforschung im Umkreis der Studien der Chicago-Schule einen enormen Aufschwung erlebte, keine Rolle spielte (Fischer-Rosenthal 1991a, S. 115-118). In der Pädagogik waren es jedoch nicht die Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die zu einer Renaissance der Biographieforschung beitrugen. Dies ist um so erstaunlicher, als „Das Erleben und die Selbstbiographie“ für Wilhelm Dilthey geradezu den Angelpunkt zum „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ (1910) bildet und einer seiner Schüler, Georg Misch, die erste umfassendere Darstellung einer „Geschichte der Autobiographie" (1900) vorgelegt hat (vgl. Schulze 1991, S. 157). Vielmehr waren es Vertreter der Pädagogischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie wie Clara und William Stern sowie Karl und Charlotte Bühler, denen es gelang, die biographische Methode für die Psychologie und Pädagogik fruchtbar zu machen. Vor allem Charlotte Bühler legte eine umfangreiche Sammlung von Tagebüchern an und sie untersuchte diese Quellen unter generationsvergleichender Perspektive sowie im Kontext einer Psychologie des Lebenslaufes (vgl. Bühler 1932, 1934). Wichtige Anstöße für eine biographisch orientierte Jugendforschung gingen auch von dem österreichischen Pädagogen und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld aus, der das Tagebuch als Quelle kultureller Selbstdarstellungen Jugendlicher interpretierte sowie von einigen deutschen Jugendpädagogen, wie z.B. Dehn und Dinse, die in den 1920er Jahren Schüler Aufsätze schrieben ließen, um auf der Basis dieser Materialien die Lebenswelten und Lebensvorstellungen von Arbeiterjugendlichen untersuchen zu können (vgl. Dudek 1990, S. 288-320). Im deutschsprachigen Raum fand die Blütezeit der Biographieforschung in Pädagogik und Psychologie durch den Nationalsozialismus jedoch ein jähes Ende, dessen zentrale Ideologeme – Rasse und Vererbung – den Prämissen biographischen Denkens widersprachen. In der Nachkriegszeit spielte die Biographieforschung weder in der Pädagogik noch in den Nachbardisziplinen, der Psychologie und der Soziologie, die sich an quantitativ ausgerichteten amerikanischen Vorbildern orientierten, in Westdeutschland eine große Rolle. Erneut waren es Vertreter der Jugendpädagogik, wie Roessler (1957) und Bertlein (1960), die an Traditionen biographischer Forschung der 1920er Jahre anknüpften, indem sie auf der Basis der Analyse von Schüleraufsätzen das Selbstverständnis und die Mentalität der west-
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deutschen Jugendgeneration herauszuarbeiten suchten. In den 1960er Jahren erschienen dann noch einige methodologisch – programmatische Beiträge zur pädagogischen Biographieforschung. Hennigsen (1962, S. 461) formulierte Überlegungen zur Autobiographie als idealem Gegenstand der Erziehungswissenschaft, weil sie nicht nur als erziehungswissenschaftliche Quelle einen Blick auf vergangenes pädagogisches Geschehen gewährt, sondern zugleich Ausdruck des Lebenslaufes als sprachlich gestaltetem Bildungsprozess ist. Gamm (1967) verlangte die Ausarbeitung einer pädagogischen Kasuistik, die neben Orientierungshilfen für die Lösung pädagogischer Handlungssituationen auch Forschungsleistungen erbringen sollte. Mit der realistischen Wende in der Erziehungswissenschaft (Roth 1967) kam es im Laufe der 1960er Jahre und frühen 1970er Jahre jedoch zu einer Hinwendung zu den quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung, während biographische Ansätze in der Erziehungswissenschaft in dieser Zeit keine Rolle mehr spielten. Erst in den späten 1960er Jahren kam es in mehreren Disziplinen zugleich und zeitgleich auch in Frankreich, Kanada, USA, Italien und anderen Ländern zu einer Renaissance der Biographieforschung. Zu vermuten ist, dass dieses neu erwachende Interesse am Gegenstand Biographie im Prozess eines weitreichenden Individualisierungsschubes der modernen Gesellschaft seine wissenschaftsexternen Ursachen hat. Wissenschaftsinterne Impulse für das Revival der Biographieforschung kamen im Bereich der Soziologie aus der Industriesoziologie, die die Lebenszusammenhänge von Arbeitern nun auch aus soziobiographischer Perspektive untersuchen wollte (Deppe 1982), aus dem Kontext der Alltagssoziologie, die sozialphänomenologische, ethnomethodologische und interaktionistische Theorietraditionen aufgriff und theoretisch und methodologisch weiterentwickelte (vgl. z.B. Schütze 1978, Fischer 1982) sowie aus dem Umfeld der Lebenslaufforschung (vgl. Kohli 1978), die die bisherige Beschränkung auf eine Soziologie einzelner Altersphasen überwinden wollte. In der Psychologie war es vor allem die in den 1970er Jahren weiterentwickelte Psychologie der Lebensspanne, die zu ihrer empirischen Fundierung verstärkt auf biographische Methoden zurückgriff, um Prozesse und Verläufe während mehr oder minder großer Abschnitte des Lebenslaufes untersuchen zu können (vgl. Baltes 1983). Auch in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, ähnlich übrigens in der Volkskunde, setzte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ein Perspektivenwechsel hin zur Alltagsgeschichte und zur oral-history-Forschung ein, wo zunächst an jahrzehntelange Traditionen der amerikanischen oral-historyForschung angeknüpft wurde (vgl. Niethammer 1978, 1980; Lehmann 1977). In der Erziehungswissenschaft wurde vor allem in dem von Baacke und Schulze im Jahre 1979 herausgegebenen Sammelband ‚Aus Geschichten lernen‘ der programmatische Bezugsrahmen für die Ausarbeitung einer biographischen und narrativen Orientierung in der Pädagogik formuliert und zugleich daran erinnert, dass Lebensgeschichten zuerst einmal Lerngeschichten sind. Außerdem kam es aufgrund der Weiterentwicklung der historischen Pädagogik hin zur historischen Sozialisationsforschung zu einer Wiederbelebung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, da diese an die Methoden der sozialgeschichtlichen Autobiographieforschung und der oral-history-Forschung mit dem Ziel anknüpfte, vergangene Sozialisations- und Erziehungswelten zu rekonstruieren.
Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven
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3. Forschungsfelder und aktuelle Problemlagen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung 3.1. Empirische Bilanz War die Situation im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu Beginn der 1980er Jahre vor allem durch das Bemühungen um methodologische Selbstverständigung und forschungsprogrammatische Begründungen bestimmt, so ist seit Mitte der 1980er Jahre – übrigens ähnlich wie in der Soziologie oder der Psychologie – die Zahl der empirischen Projekte gravierend angestiegen. So gibt es nach meinen eigenen Recherchen in der pädagogischen Biographieforschung gegenwärtig weit über 50 Forschungsprojekte, die bereits abgeschlossen sind oder noch laufen. Versucht man sich nun einen Überblick über die Studien und Projekte zu verschaffen, die in den vergangenen über zwei Jahrzehnten durchgeführt wurden und die aufgrund des gewählten Untersuchungsgegenstandes und teilweise auch wegen entsprechender Zugehensweisen dem Bereich der pädagogischen Biographieforschung zugerechnet werden können; so lassen sich drei Richtungen von Studien und Projekten unterscheiden: biographische Untersuchungen aus dem Umfeld der historischen Erziehungs- und Sozialisationsforschung, Arbeiten aus dem Kontext der pädagogisch orientierten Kindheits-, Jugend-, Schul- und Hochschulsozialisationsforschung und Studien, die sich mit biographischen Problemstellungen in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen beschäftigen. Ich will im weiteren einen exemplarischen Überblick über diese drei Forschungsfelder geben.
a) Biographisch orientierte historische Erziehungs-, Sozialisations- und Wissenschaftsforschung Unter der auch in der Erziehungswissenschaft im letzten Jahrzehnt enorm angestiegenen Zahl von Veröffentlichungen mit biographischem Erkenntnisinteresse nehmen die historisch orientierten Arbeiten, die auf die Rekonstruktion vergangener Sozialisationsbedingungen, Erziehungspraktiken, Bildungseinrichtungen oder Verlaufsformen des Erwachsenwerdens zielen, einen breiten Raum ein. Zum einen werden Autobiographien als Quelle zur Geschichte der Erziehung und Sozialisation genutzt. Dies gilt vor allem für eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit der Geschichte der Kindheit beschäftigen. Neben einer bereits 1978 von Hardach und Hardach-Pinke veröffentlichten Sammlung von autobiographischen Zeugnissen zur Kindheit in Deutschland zwischen 1700 und 1900 und einem kleineren Beitrag von Dittrich/Dittrich-Jacobi (1979), in dem auf der Basis der Analyse von Arbeiterautobiographien einige Grundzüge proletarischer Kindheit um die Jahrhundertwende herausgearbeitet werden, sind es die seit den 1980er Jahren von Cloer angeregten Untersuchungen von Seyfahrt-Stubenrauch (1985) und von Klika (1990), die autobiographische Materialien systematisch im Hinblick auf die Sozialisationsbedingungen von Kindern in Arbeiterfamilien bzw. bürgerlichen Familien der Wilhelminischen Zeit ausgewertet haben (Cloer/Klika/Seyfahrt – Stubenrauch 1991). Theoretisch beziehen sich diese Studien auf sozialökologische, interaktionstheoretische, mentalitätstheoretische und pädagogisch-anthropologische Bezugsgrößen (Cloer 1985, S. 4). Bei den Längsschnitt- und Querschnittuntersuchungen des autobiographischen Materials wählen sie den Begriff der Erfahrungsmodi, der geeignet ist, individuelle Formen der An-
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Heinz-Hermann Krüger
eignung von Umwelt- und Erziehungseinflüssen herauszuarbeiten. So zeigen Cloer, Klika und Seyfahrt-Stubenrauch (1991, S. 80) z.B. auf, dass die starke Verinnerlichung und lebensgeschichtliche Bedeutung des Erfahrungsmodus ‚Lern- und Wissbegierde‘ viele Autoren von Arbeiterbiographien trotz bleibend ungünstiger Lebensbedingungen (Bildungsbemühungen neben harter Erwerbsarbeit) die Defizite ihrer als äußerst mangelhaft beklagten Schulbildung fast vollständig überwinden ließen. Ein weiterer aktueller Forschungsschwerpunkt der erziehungswissenschaftlichen Autobiographieforschung befasst sich mit dem Alltag und der Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit. In einem von Klafki (1988) edierten Sammelband haben Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen der Geburtsjahrgänge 19191930 autobiographische Skizzen zu ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus vorgelegt. Einige Autorinnen und Autoren beschränken sich dabei auf die reine autobiographische Erzählung und liefern dichte Beschreibungen von der Normalität des NS-Alltags, von der ästhetischen Faszination der NS-Erziehung in Form von gemeinsamem Gesang und den Massenveranstaltungen. Andere Autoren wählen hingegen in ihren Beiträgen einen stärker interpretatorischen Zugriff, so z.B. Klafki, der die widersprüchlichen Tendenzen seiner politischen Sozialisation in der NS-Zeit identitätstheoretisch zu erklären versucht. Die Analyse von politisch-moralischen Dimensionen des Identitätsbildungsprozesses von Kindern und Jugendlichen im Dritten Reich steht auch im Zentrum eines neueren Beitrags von Klafki (1991). Auf der Basis einer vergleichenden Sichtung von rund 50 autobiographischen Texten arbeitet er nicht nur das komplexe Geflecht von Wirkungsfaktoren und -dimensionen für moralisch-politische Identitätsbildungsprozesse junger Menschen in der NS-Zeit heraus, sondern er entwickelt auch eine Typologie von fünf Mentalitätsprofilen ehemaliger Kinder und Jugendlicher in der Zeit des Dritten Reiches, dessen Spektrum von überzeugten jungen Nationalsozialisten über Mitläufer, Pragmatiker, die sich jene Angebote des Systems zu nutzen machten, die ihnen für die Verwirklichung ihrer subjektiven Interessen geeignet schienen (z.B. Sport, Segelfliegen in der Flieger-HJ), bis hin zu den distanzierten und zu den wenigen einzelnen oder kleinen Gruppen reicht, die meist gegen Ende der Jugendphase eigene Formen des Widerstandes entwickelten. Eine Reihe von biographischen Studien existieren inzwischen auch zum Lehrersein im Dritten Reich (vgl. zusammenfassend Klewitz 1991). Neben einer Sammlung von autobiographischen Rückblicken von oppositionellen Lehrern, die von Dick (1988) dokumentiert und kommentiert hat, sind inzwischen einige Untersuchungen erschienen, die zumeist mit den Erhebungsmethoden der ‚oral history‘ den Alltag und das individuelle Handeln von Lehrerinnen und Lehrern in der NS-Zeit zu rekonstruieren versuchen. Exemplarisch sei zum einen auf die Arbeiten der Berliner und Leidener Projektgruppe (du Bois-Reymond/Schonig 1982) hingewiesen, die, in mit den Interviewpartnern abgestimmten Textmontagen über das Mittel der chronologischen Gliederung und typisierender Überschriften, Ansätze einer Kollektivbiographie von Volksschullehrerinnen und -lehrern der Geburtsjahrgänge um 1900 nachzeichnen, die entscheidende Jahre ihrer Berufsbiographien im Nationalsozialismus erlebt haben (vgl. auch Schonig 1994). In der Auswertung anspruchsvoller ist die Studie von Klewitz (1987), die sich in zwei Fallstudien mit den Lebensgeschichten von einer Berliner Volksschullehrerin und einem Gymnasiallehrer auseinandersetzt, die weder eine auffällige Karriere aufweisen noch existentiell gefährdet waren oder nachträglich diszipliniert wurden. Sie konfrontiert die Aussagen ihrer Gesprächspartner mit korrespondierenden mündlichen und schriftlichen Quellen, um auf diese Weise die Differenzen zwischen objektiven Bedeutungsstrukturen und individuellen Deutungsmustern herausarbeiten zu können.
Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven
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Auf oral-history-Interviews sowie auf archivalische Quellenbestände (Erlasse, Zeugnisse, Kirchenkonventsprotokolle, demographische Daten, Stadtgrundrisse etc.) greifen auch einige Regionalstudien zurück, die sich mit der Geschichte von Familie, Kindheit und Jugend beschäftigen. Ein Beispiel dafür ist die Untersuchung von Herrmann u.a. (1983), die die vielfältigen Formen des Jugendbrauchtums im schwäbischen Dorf Ohmhausen seit dem späten 19. Jahrhundert untersucht haben. Dabei kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die Traditionen der jugendlichen Kultur nicht, wie vermutet, durch die Prozesse der Industrialisierung und Modernisierung der dörflichen Struktur zerstört wurden. Vielmehr unterbrach aus der Sicht der Befragten der Erste Weltkrieg diese Tradition, da die älteren Jugendlichen einrücken mussten und viele für Jahre oder für immer fortblieben (vgl. auch Herrmann 1991b, S. 172). Behnken/du Bois-Reymond und Zinnecker (1989) haben orientiert an Elias Zivilisationstheorie sowie an stadtgeschichtlichen Ansätzen aus der Tradition der Chicago-Schule den Wandel der städtischen Lebenswelten von Kindern in Wiesbaden und im niederländischen Leiden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts untersucht. Der interkulturelle Vergleich zeigt, dass die Wiesbadener Kindheit schon Züge heutiger verhäuslichter Familienkindheit erkennen lässt, während die Leidener Kindheit noch stark durch das Modell vorindustrieller und industrieller Arbeiterquartiere mit einem hohen Grad von kollektiv geteilten Lebensvollzügen unter ökonomisch deprivierten Lebensbedingungen geprägt ist. Zwischen historischer Regional- und Fallstudie angesiedelt ist eine neuere Untersuchung von Haupert und Schäfer (1991), die nicht nur die Alltagsgeschichte des Faschismus, das Auftauchen des Nationalsozialismus am Beispiel eines kleinen saarländischen Dorfes rekonstruieren, sondern am Beispiel des Lebens eines jungen Durchschnittsdeutschen, des Bauernjungen Josef Schäfer, auch zu allgemeinen Aussagen über die Generation der in den Jahren 1910-1928 Geborenen gelangen. Um biographische Deutungsmuster, individuelle Typisierungen und milieuspezifische Strukturmuster herausarbeiten zu können, stützen sich die Autoren auf eine Kombination von Verfahren der Oral history, der soziologischen Biographieforschung und der Objektiven Hermeneutik. Methodisch besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Versuch, das von Oevermann entwickelte Verfahren der Objektiven Hermeneutik erstmalig als Instrumentarium zur Interpretation von Fotos zu verwenden (vgl. Haupert 1994). In den letzten Jahren wurde zudem versucht, die Biographik für die Wissenschaftsgeschichte des Faches Erziehungswissenschaft fruchtbar zu machen (vgl. Priem 2000; Priem/ Glaser 2002; Klika 2000). Auf der Basis der Analyse von Briefwechseln der Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (Spranger, Flitner, Nohl) mit ihren Kollegen bzw. Schülerinnen wurde die Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft aus einer Mikroperspektive untersucht. Die Rekonstruktion von Disziplingeschichte über biographisches Material zeigt die Wissenschaftler als biographische Konstrukteure in der Kommunikation mit anderen, und es sind diese Kommunikationen, die auch Themen und Interpretationsfelder für wissenschaftliche Literatur vorgeben (vgl. Priem/Glaser 2002, S. 173).
b) Studien zu Kinder-, Jugend- und Studentenbiographien Einen weiteren Schwerpunkt im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung bilden Untersuchungen aus dem Kontext der sozialwissenschaftlich orientierten pädagogischen Kindheits-, Jugend- und Hochschulsozialisationsforschung. Dabei lassen sich einerseits Projekte unterscheiden, die sich mit generellen Fragen der Statuspassagen vom Kinder- ins Jugendalter bzw. Erwachsenenalter beschäftigen. Andererseits kann man davon
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Studien thematisch abgrenzen, die sich mit bestimmten biographischen Übergangsphasen, z.B. von der Schule in den Beruf, oder dem Verlauf und den Schwierigkeiten oder Erfolgen von Bildungsbiographien in Schule bzw. Hochschule auseinandersetzen. Die Vorstellungswelten und Handlungspläne der bislang in der Kindheits- und Jugendforschung kaum untersuchten Altersgruppe der 13- bis 15-jährigen im biographischen Zusammenhang zu rekonstruieren, um Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns mit Heranwachsenden dieser Altersgruppe besser einschätzen zu können, ist das Ziel einer Studie von Sander und Vollbrecht (1985). Dazu haben sie sechzehn Jugendliche, aufgegliedert nach Geschlechts- und Schichtzugehörigkeit, mit Hilfe statarisch-narrativer Interviews befragt, sieben Interviews wurden in Fallstudien ausführlich interpretiert. Die Auswertung folgt nicht dem Verlauf des Interviews, sondern orientiert sich an einem themenzentriert-komperativen Auswertungsverfahren, das die Deutungsmuster des Alltagslebens sowie die sozial-räumliche und die alltagszeitliche Struktur der Lebenswelt aus dem Blickwinkel der Jugendlichen nachzuzeichnen sucht. Mit der Frage, ob es Altersnormen sind, die als zeitliche Fahrpläne für den Weg durch die Jugendphase fungieren, hat sich eine Studie von Fuchs-Heinritz und Krüger (1991) beschäftigt, die theoretisch an Annahmen der amerikanischen strukturfunktionalistisch orientierten Lebenslaufforschung anknüpft. Insgesamt wurden 29 Jugendliche im Alter von 18 Jahren interviewt, da davon ausgegangen wurde, dass der 18. Geburtstag, der die juristische Mündigkeit einläutet, eine geeignete Lebenssituation ist, um den bisherigen Weg durch die Jugendphase zu thematisieren. Die Datenerhebung und Auswertung des Materials orientierte sich an den Regeln für das narrative Verfahren von Schütze. Die Studie mündet in dem Ergebnis, dass es nicht Altersnormen sind, die den zeitlichen Weg durch die Jugendbiographie dirigieren, sondern dass es vielmehr die Zeitlinien der Schule, der Familie, der peers oder selbst gesetzte Eigenzeiten sind, die die Bewegungsformen durch die Jugendphase heute strukturieren (Fuchs-Heinritz/Ecarius/Krüger 1991, S. 37). Neben Untersuchungen, die sich mit globalen Fragen des Strukturwandels der Jugendphase beschäftigen, sind im Verlaufe der 1980er Jahre auch eine Reihe von Projekten durchgeführt worden, die den Stellenwert des Übergangs zwischen Schule und Arbeitsmarkt für die Konstitution von Jugendbiographien untersucht haben (vgl. z.B. Friebel 1983, zusammenfassend du Bois-Reymond/Oechsle 1990). Exemplarisch sei auf die von Heinz und Krüger (1990) geleitete qualitative Längsschnittstudie hingewiesen, in der in der Zeit von 1978 bis 1983 rund 270 Bremer Hauptschüler in verschiedenen Phasen und Passagen des Übergangs von der Schule in die Berufsausbildung, z.T. bis zu viermal über Berufsfindungsprozesse, die Entwicklung von Berufsvorstellungen und die Zukunftsplanung mittels problemzentrierter Interviews befragt wurden. Die interpretative Auswertung stützt sich auf eine an einem Kategoriensystem orientierte Querschnittsanalyse und sucht innerhalb der einzelnen Themenfelder nach idealtypischen Deutungsmustern. Die Resultate dieser Längsschnittstudie zeigen, dass Jugendliche mit Hauptschulbildung in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit bei der Berufssuche zu individualisierten Handlungsstrategien greifen. Ebenfalls als qualitative Längsschnittstudie angelegt ist eine aktuelle Arbeit von Diezinger (1991), die im Rahmen einer Untersuchung zu Mustern und Formen weiblicher Individualisierungsprozesse 13 problemzentrierte Interviews mit jungen Frauen zwischen 25 und 29 Jahren durchgeführt hat, die vor circa 9 Jahren im Kontext einer Studie zur Erwerbslosigkeit von Hauptschülerinnen schon zweimal befragt wurden. Die exemplarischen Fallanalysen verdeutlichen eine Vielfalt der Entwicklungen, die sich vom biographischen Ausgangspunkt der Erwerbslosigkeit in der Jugend ergeben haben. Angesichts der strukturellen Benach-
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teiligung auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich die Marktabhängigkeit der Lebensführung überwiegend in der Notwendigkeit, aus begrenzten oder ungesicherten sozialen Ressourcen beruflich ‚das Beste‘ zu machen. Die Gestaltungsmöglichkeiten in den einzelnen Lebensformen hängen jedoch nicht nur von der Erwerbssituation, sondern auch von den Beziehungskonzepten der Frauen ab. Ansprüche an eine umfassende Individualisierung in Beruf und Beziehung sind jedoch leichter zu realisieren, wenn sie sich auf eine gelungene Integration in den Arbeitsmarkt stützen (Diezinger 1991, S. 153-155). Mit der Rekonstruktion gescheiterter Bildungs- und Ausbildungsverläufe arbeitsloser und randständiger Jugendlicher haben sich in den letzten Jahren auch zwei Studien von Helsper u.a. (1991) und Nölke (1994, 1997) beschäftigt, die in einem gemeinsamen Arbeitszusammenhang entstanden sind. Gestützt auf das biographische Vorgehen von Schütze sowie auf die Methode der objektiven Hermeneutik von Oevermann wurden dabei zehn Interviews mit Jugendlichen erhoben und ausgewertet. Den Autoren geht es über die Analyse von Einzelfällen hinaus auch um eine Theorieentwicklung, in der verallgemeinernde Aussagen über die Entstehung und den Verlauf von Marginalisierungsprozessen im Kontext von Generationslage, gesellschaftlichen Veränderungen, familiären Konstellationen und individuellen Besonderheiten getroffen werden. Im Rahmen der Schulforschung hat sich eine Arbeitsgruppe um Hurrelmann (Arbeitsgruppe Schulforschung 1980) bereits Anfang der 1980er Jahre u.a. mit den Alltagstheorien von schulleistungschwachen und schulleistungsstarken Hauptschülern und Gymnasiasten auseinandergesetzt. Die untersuchte Gruppe von 40 Schülerinnen und Schülern wurde in einem Zeitraum von sieben Jahren dann noch dreimal ausführlich außer mit einem Fragebogen mit einem Interviewleitfaden, zur bisherigen Schullaufbahn, zur gegenwärtigen Ausbildungs- und Berufssituation und zum persönlichen Zukunftshorizont befragt, um herauszufinden, wie Schulversagen und Schulerfolg in der biographischen Entwicklung verarbeitet und gedeutet wird. Aus den Interviews der Längsschnittstudie geht hervor, dass ein instrumentelles Orientierungsmuster gegenüber schulischen Bildungsprozessen bei den meisten Schülern dominiert (vgl. Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1985, S. 89-90). Dass bei Gymnasiasten spätestens in der Oberstufe eine notenoptimierende Erfolgskalkulation die Oberhand gegenüber gegenstandsbezogenen schulischen Interessen gewinnt, ist auch ein zentrales Resultat der Studie von Nittel (1992), der ehemalige Gymnasiasten mit Hilfe des narrativen Verfahrens von Schütze befragt hat. Zu teilweise anderen Ergebnissen kam hingegen Kleinespel (1990), die in einer quantitativen und qualitativen Längsschnittstudie die Bildungsbiographien von Schülern und Schülerinnen einer Modellschule, der Bielefelder Laborschule, untersucht hat. In der qualitativen Teilstudie dieses Projektes wurden, im Unterschied zu der Auswertungsstrategie der Arbeitsgruppe um Hurrelmann, die biographischen Aussagen der Jugendlichen nicht rasch in Form von Textextrakten zu Synopsen und Mustern verdichtet. Vielmehr wurden die bildungsbiographischen Interviews in ihrem Verlauf nachgezeichnet, um die individuellen Argumentationsmuster der Befragten verdeutlichen zu können. In dieser Untersuchung wird aufgezeigt, dass die aus anderen Jugendstudien bekannte funktionale Sinnzuschreibung für den Schulbesuch sich zwar auch bei Laborschülern mit Hauptschul-Prognose findet, den leistungsstarken Laborschülern gelingt es jedoch, einen Subjekt- und Sinnbezug zu den schulischen Inhalten herzustellen. Fortgeführt wurden diese Entwicklungslinien der Schülerforschung in jüngster Zeit vor allem durch die Studien von Kramer (2002) und Wiezorek (2005), die die Passungsverhältnisse zwischen Schülerbiographien und den institutionellen Anforderungen der Schule untersucht haben.
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Einen biographischen Zugang im Kontext der Hochschulsozialisationsforschung hat bereits in den späten siebziger Jahren eine Hagener Forschergruppe (vgl. Heinze/Klusemann 1979) in einem Projekt zur ‚Lebensweltanalyse von Fernstudenten‘ gewählt, das darauf abzielte, bislang fehlende lebensweltspezifische Daten über die Studienmotivation und die Lernsituation von Fernstudenten zu generieren. Die Auswertung der durchgeführten offenen Interviews stützt sich auf das Konzept der sozialwissenschaftlichen Paraphrasierung, das ähnlich dem in der Alltagspraxis verwendeten kommunikativen Verstehen durch ein virtuelles Sich-Hinein-Versetzen, die Lebensperspektiven der Befragten möglichst innerperspektivisch in ihrer Logik zu rekonstruieren versucht (Heinze/Klusemann 1979, S. 183). Auf einer in Hagen durchgeführten Tagung wurde zudem von zentralen Repräsentanten unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Interpretationsrichtungen (der Objektiven Hermeneutik, der Psychoanalyse, der Konversationsanalyse) ein interessanter Fall, die Biographie einer Hausfrau mit Kindern, ausgewertet (vgl. Heinze/Klusemann/Soeffner 1980). Dadurch gelang es, allgemeine Probleme des sozialen und biographischen Kontextes von Fernstudentinnen aus der Sicht unterschiedlicher methodologischer Positionen deutlich zu machen. Von der methodischen Grundidee ähnlich sind mehrere Symposien, die Kokemohr und Marotzki (1989, 1990) in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zum Thema ‚Biographien in komplexen Organisationen‘ durchgeführt haben. Auf diesen Tagungen wurden narrative Interviews mit Studentinnen und Studenten zunächst der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereiche, dann der naturwissenschaftlichen sowie der juristischen und medizinischen Fakultät der Universität Hamburg interpretiert. Es wurden u.a. ethnomethodologische, ethnotheoretische, linguistisch-pragmatische, rhetorisch-kognitionstheoretische, lerntheoretische, objektiv-hermeneutische und phänomenologische Positionen am Material erprobt (vgl. auch Marotzki 1990, S. 13). Die vorliegenden Beiträge untersuchen die Konstellationen und Formen, unter denen Studierende die komplexen Bedingungen der Institution Universität biographisch verarbeiten. Ein weiteres, Anfang der 1990er Jahre abgeschlossenes Projekt ‚Studium und Biographie‘ von Apel, Engler, Friebertshäuser, Fuhs und Zinnecker (1995) hat den Prozess der Einsozialisation von Studenten und Studentinnen in die Fachkulturen von Erziehungswissenschaft, Jura, Maschinenbau und Elektrotechnik forschend begleitet. Theoretisch orientiert sich die Untersuchung an der Kultursoziologie Bourdieus, an kulturanthropologischen Betrachtungen zur Statuspassage sowie an der Coping-Forschung. Im Rahmen eines mehrmethodischen Zugriffs (u.a. quantitative Befragung, ethnographische Methoden, Fotodokumentation) wird mit narrativen Interviews untersucht, wie Studenten und Studentinnen sich den Habitus der jeweiligen universitären Fachkultur biographisch aneignen (Friebertshäuser 1992).
c) Biographische Studien in unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen Im Unterschied zur historischen Erziehungs- und Sozialisationsforschung und zur pädagogisch orientierten Kindheits-, Jugend- und Hochschulsozialisationsforschung, wo in den letzten Jahren eine Vielzahl biographischer Untersuchungen durchgeführt worden sind, haben Arbeiten mit biographischem Akzent in den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen, etwa der Schulpädagogik (vgl. zusammenfassend Terhart 1995), der Erwachsenenbildung oder der Sozialpädagogik (vgl. zusammenfassend Jakob 1997, von Wensierski 1997) bislang noch einen geringeren Stellenwert. In der Schulforschung hat Combe (1983) bereits Anfang der 1980er Jahre Lehrer und Lehrerinnen unterschiedlicher
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Schulformen biographisch befragt, die in der Regel zwischen 1940 und 1952 geboren sind. Sieben der Fälle werden in Kurzporträts vorgestellt und unter psychoanalytischen und generationsspezifischen Perspektiven noch einmal zusammenfassend interpretiert, um so die sozialgeschichtlichen und familialen Sozialisationsbedingungen der Lebensläufe von Lehrern und Lehrerinnen der Nachkriegsgeneration verdeutlichen zu können. Mit der Frage, wie Lehrer ihre Berufserfahrungen lebensgeschichtlich verarbeiten und in welchem Verhältnis charakteristische Phasen in Berufsbiographien zu verschiedenen Lehreridentitätstypen stehen, hat Hirsch (1990) sich beschäftigt. Dazu hat sie halbstrukturierte Interviews mit 120 an der Züricher Volksschuloberstufe tätigen Lehrern durchgeführt, die sich aus einer Stegreiferzählung zur Berufsbiographie und einem Nachfrageteil zu verschiedenen Bereichen des Berufslebens (Ausbildungsgang, Berufswahlmotive, Höhe- und Tiefpunkte etc.) zusammensetzen. Das codierte Interviewmaterial wird anschließend einer quantitativen Analyse unterzogen. Orientiert an Max Webers Methode der Idealtypenkonstruktion werden dann auf der Basis einer Häufigkeitsauszählung sechs verschiedene Berufsbiographietypen und damit korrespondierende Lehreridentitätstypen herausgearbeitet, die als Stabilisierungstyp, Entwicklungstyp, Diversifizierungstyp, Problemtyp, Krisentyp und Resignationstyp bezeichnet werden (vgl. Hirsch 1990, S. 89-166). Gerade in den letzten Jahren sind in der LehrerInnenbiographieforschung eine Reihe von Studien abgeschlossen worden, die den Blick auf die Erforschung weiblicher Arbeitsund Lebenszusammenhänge im Lehrerinnenberuf gerichtet (vgl. Buchen 1991; Hoff 2002) oder die die Auswirkungen des institutionellen Transformationsprozesses auf die Professionalisierungspfade ostdeutscher Lehrer und Lehrerinnen untersucht haben (vgl. etwa Meister/Wenzel 2001; Fabel-Lamla 2004). In der Erwachsenenbildungsforschung ist bereits früh der lebensgeschichtliche Kontext des zweiten Bildungsweges (vgl. Friebel u.a. 1978, Hoerning 1978) untersucht worden. Ein breites Forschungsprogramm hat sich daraus in den 1980er Jahren jedoch nicht entwickelt (vgl. Tietgens 1991, S. 207). Eine der wenigen aktuelleren biographischen Studien ist eine Untersuchung von Kade (1989 a, 1989 b), der 85 offene Interviews mit 43 Kursleitern und 42 Teilnehmern der Erwachsenenbildung durchgeführt und orientiert am Interpretationsverfahren der Objektiven Hermeneutik ausgewertet hat. Eine exemplarische Analyse der biographischen Bedeutung, die ein Kurs zur politischen Bildung für die verschiedenen Teilnehmer hat, macht deutlich, dass sich das in der Didaktik der Erwachsenenbildung propagierte Prinzip der Teilnehmerorientierung längst in der Praxis insofern durchgesetzt hat, als es zu einer Individualisierung des Umgangs mit Bildungsangeboten gekommen ist. In einer neueren Studie hat Kade zusammen mit Seitter (1996) zudem die biographische Relevanz lebenslanges Lernens auf der Basis von offenen Interviews untersucht, die mit Erwachsenen durchgeführt wurden, die über viele Jahre hinweg am Funkkolleg, einem langjährigen Bildungsangebot mehrerer deutscher Rundfunkanstalten, teilgenommen haben. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass aus der Sicht der Teilnehmer die lebensbegleitende Nutzung von institutionell organisierten Bildungs- und Lernangeboten auf einem Kontinuum liegt, dessen Grenzen durch die Pole individuelle Dynamisierung, Fortschritt und Fortsetzung auf der einen und soziale Reproduktion, Linearität und Zyklizität auf der anderen Seite markiert werden (vgl. auch Kade/Seitter 1995, S. 311). Vor dem Hintergrund der erziehungswissenschaftlichen These der Universalisierung des Pädagogischen und zeitdiagnostischen Analysen moderner Gesellschaften als Wissensgesellschaften haben Kade und Seitter (2003) in jüngster Zeit in einem größeren Projekt den Umgang mit Wissen in den sozialen Welten von ökonomischen Führungskräften und Obdachlosen analysiert.
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In der Medienpädagogik haben Baacke/Sander/Vollbrecht (1990) einen medienbiographischen Ansatz entwickelt und in einer Jugendstudie überprüft, welche Rolle Medien bei der Konstruktion von Biographien spielen (vgl. Vollbrecht 1993a). Dabei kommen sie zu dem biographietheoretisch interessanten Befund, dass Medien so sehr in die zyklisch-alltäglichen Routinen eingelagert sind, dass sie in biographischen Rekonstruktionen wenig erinnert werden. Entscheidende Impulse für die Initiierung biographischer Projekte in der Sozialpädagogik sind in den späten siebziger Jahren bereits von Klaus Mollenhauer ausgegangen, in dessen Umfeld die biographisch orientierten Studien von Kasakos (1980) zum beruflichen Handeln von Fachkräften in der Familienfürsorge sowie von Kieper (1980) zu Lebenswelten und subjektiven Deutungsmustern von Heimmädchen entstanden (vgl. auch Mollenhauer/Uhlendorf 1995). Im letzten Jahrzehnt hat zudem Fritz Schütze sowie eine Reihe von Autoren und Autorinnen, die sich methodisch auf das von Schütze vorgeschlagene narrative Verfahren beziehen, die biographische Forschung in der Sozialpädagogik entscheidend beeinflusst. Schütze (1983) hat insbesondere die Bedeutung professioneller Beratungsstrategien im Gesamtrahmen der Lebensgeschichten von Klienten untersucht und sich neuerdings in mehreren Arbeiten mit den Paradoxien und biographischen Verwicklungen des professionellen Handelns in der Sozialarbeit beschäftigt (Schütze 1992, 1996). Mit der biographischen Einbettung ehrenamtlicher Arbeit hat sich Jakob (1993, 1995) auseinandergesetzt. Sie arbeitet vier verschiedene Muster ehrenamtlicher Tätigkeit im Rahmen von Lebensgeschichten heraus, dessen Spektrum von ehrenamtlicher Arbeit aufgrund religiöser Überzeugung, über ehrenamtliches Engagement als Berufsersatz, kontinuierliche ehrenamtliche Tätigkeit in einem traditionellen kulturellen Milieu bis hin zur Form sozialer Ehrenamtlichkeit als Instrument der Selbstfindung und Bearbeitung einer Lebenskrise reicht (Jakob 1989, 1993). Insbesondere das zuletzt genannte Muster ist für die Diskussion um die Zukunft des sozialen Ehrenamtes interessant, da es dem gängigen Verständnis und den Anforderungen einer ehrenamtlichen Tätigkeit als Handeln zur Lösung sozialer Probleme widerspricht. Mit der Frage, welche Rolle das in der Ausbildung vermittelte Wissen in der beruflichen Praxis von Diplom-SozialpädagogInnen und DiplompädagogInnen in der außerschulischen Kinderund Jugendarbeit spielt, hat sich eine Studie von Thole und Küster-Schapfl (1997) beschäftigt. Auf der Basis der Auswertung von 20 narrativen Interviews mit an Fachhochschulen oder Universitäten ausgebildeten SozialpädagogInnen, die schon länger beruflich tätig sind, zeigen sie auf, dass die in außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit tätigen AkademikerInnen ihre berufliche Praxis nicht ausnahmlos und wesentlich über wissenschaftlich kodifiziertes Wissen stützen, das absolvierte Studium nicht durchgängig als notwendig für die Performanz der beruflichen Praxis ansehen (vgl. Thole/Küster-Schapfl 1997, S. 217).
3.2. Methodologische und konzeptionelle Problemlagen Zieht man eine Bilanz zum aktuellen Entwicklungsstand der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, so lässt sich zunächst einmal feststellen, dass gegenwärtig – übrigens ähnlich wie in der soziologischen oder psychologischen Biographieforschung – nicht mehr programmatische Vorschläge und methodologische Begründungen, sondern empirische Zugänge und Konkretisierungen dominieren. Allerdings hat die Steigerung der Quantität der durchgeführten biographischen Projekte keineswegs eine generelle Verbesserung der methodischen Qualität der Untersuchungen zur Folge gehabt.
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Vor allem zwei Defizite kennzeichnen eine Reihe von Studien aus dem Bereich der pädagogischen Biographieforschung. Erstens finden sich methodologische Unzulänglichkeiten, die sich mit dem Stichwort Vermischung quantitativer und qualitativer Forschungslogiken charakterisieren lassen. So versuchen einige Studien durch eine Samplebildung, die sich an äußeren sozialstrukturellen Merkmalen, also an quantitativen Quotierungskritierien orientiert (vgl. etwa Heinz/Krüger u.a. 1985; Hirsch 1990), gleich zwei Fragen auf einmal zu lösen. Zum einen will man an der methodischen Option für ein qualitatives Vorgehen festhalten, gleichzeitig will man jedoch durch die Auswahl der Untersuchungsgruppe typische Erfahrungskonstellationen abbilden und deren wichtigste Ausprägungen in quantitativ hinreichenden und weitgehend realistischen Größenordnungen vertreten haben. Abgesehen von dem Problem, ob man unter Bezug auf die Aussagen von zehn oder oft noch weniger Interviewten noch sinnvoll quantitative Verteilungsaussagen machen kann, stellt sich die Frage, ob hier nicht forschungslogische Missverstände vorliegen und ob mit solchen Auswertungstrategien nicht wichtige Erkenntnischancen qualitativer Forschung verschenkt werden (Krüger 1989, S. 13-14). Ein zweites zentrales methodisches Defizit, das immer noch eine Reihe von Studien charakterisiert, sind eher deskriptive und oft recht handgestrickt anmutende Auswertungsverfahren. Dabei wird die Ebene der Einzelfallanalyse oft rasch verlassen und ohne die innere Sequenziertheit eines Interviewtextes zu berücksichtigen, das Interviewmaterial vorschnell zu themenbezogenen Synopsen, zentralen Kernaussagen und typischen Deutungsmustern verdichtet (vgl. Fuchs-Heinritz 1993, S. 262). Als Beispiele für Studien, die ohne eine intensive Interpretation des Einzelfalls rasch zur Identifikation von zentralen Mustern voranschreiten, lassen sich die Deutungsmuster – Analysen von Sander/Vollbrecht (1985) (vgl. auch Vollbrecht 1993b), das diesem verwandte Auswertungsverfahren der Bremer Projektgruppe (Heinz/Krüger u.a. 1985) sowie die typologisierend ansetzenden Interpretationen der Arbeitsgruppe Schulforschung (1980) nennen. In der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung lässt sich im letzten Jahrzehnt nicht nur eine Ausweitung der empirischen Projekte, sondern auch eine Ausdifferenzierung der theoretischen Konzepte feststellen. So hat Theodor Schulze (1993a, S. 24-34) in einem Überblicksartikel darauf hingewiesen, dass nicht nur sozialisationstheoretische Ansätze, die Biographien unter der Perspektive von Statuspassagen, Laufbahnen und Zyklen sowie entwicklungspsychologische Ansätze, die Biographien als Folge von Herausforderungen durch kritische Lebensereignisse verstehen, in die erziehungswissenschaftliche Diskussion Eingang gefunden haben. Vielmehr seien in der Erziehungswissenschaft im letzten Jahrzehnt auch einige genuine pädagogische theoretische Zugänge entwickelt worden; so der phänomenologisch-anthropologische Ansatz von Loch (1979) und Spanhel (1988), in dessen Mittelpunkt die Biographie als Bewältigung einer Folge von curricularen Situationen oder Entwicklungsaufgaben steht, so der hermeneutische Ansatz von Baacke (1979), dem es um die Wiedergewinnung des Narrativen für die Pädagogik als Rückbesinnung auf ihr Proprium geht, so der lerntheoretische Ansatz von Schulze (1993b) und Maurer (1981), die im Unterschied zu psychologischen Lerntheorien Lernen als Aufbau von Lebenssinn und Ich-Erfahrung begreifen (vgl. auch Schulze 2002). Diese Vielfalt an theoretischen Ansätzen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die verschiedenen Konzepte jeweils nur einen spezifischen Ausschnitt des umfassenden Gegenstandsfeldes der pädagogischen Biographieforschung beleuchten. Ein komplexes biographietheoretisches Konzept, das in der Lage ist, Biographien als Lern- und Bildungsgeschichten im Rahmen subjekt- und gesellschaftstheoretischer Bezugsgrößen analytisch zu
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fassen, ist hingegen in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung noch weitgehend ein Desiderat.
4. Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung 4.1. Theoretische Bezugsgrößen In der Soziologie haben vor allem Fischer und Kohli (1987) erste interessante Theorievorschläge formuliert, die darauf abzielen, Biographieforschung jenseits der traditionellen Unterscheidungen in Mikro- und Makrotheorie zu verorten sowie handlungs- und strukturtheoretische Ansätze zu verknüpfen. Sie plädieren dafür, in der biographietheoretischen Diskussion den Erfahrungs- und Handlungsbegriff durch die Aufnahme von Strukturelementen von seiner situativen Engführung zu befreien sowie umgekehrt, den Strukturbegriff zu dynamisieren und temporal im Sinne einer Emergenzdimension zu erweitern. Auf diese Weise wollen sie einen Referenzrahmen für Biographieanalysen entwickeln, der biographisches Handeln und biographische Entwicklung im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Heteronomie und individuellen Optionen, von vorgegebenen institutionalisierten Programmen und einer Individualisierung und Biographisierung der Lebensführung begreifen kann (Fischer/Kohli 1987, S. 34-36; Fischer-Rosenthal 1990, S. 25). An diese Diskurse anknüpfend gilt es auch einen theoretischen Bezugsrahmen für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung zu entwickeln, der die Möglichkeit bietet, Biographien als Lern- und Bildungsgeschichten im Spannungsfeld individueller Voraussetzungen und gesellschaftlicher Determinanten zu verorten. Um die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Ausdrucksformen der biographischen Aneignung von Bildungsangeboten in pädagogischen Institutionen analytisch fassen zu können, scheinen mir gesellschaftstheoretische Ansätze aus dem Kontext der Theorien zur reflexiven Modernisierung (vgl. etwa Beck 1986, 1993) und identitätstheoretische Ansätze (vgl. etwa Heitmeyer/Olk 1990; Krüger 1997) als Interpretationsfolien geeignet zu sein. Wichtige Vorarbeiten für eine bildungstheoretisch orientierte und empirisch fundierte Biographieforschung, die Biographisierungsprozesse als Bildungsprozesse in der Ambiguität von vorgegebener Regelhaltigkeit und Emergenz kategorial fasst und untersucht, haben vor allem Kade (1989a) und Marotzki (1990) in ihren Studien vorgelegt. Zum anderen haben sie in ihren biographischen Studien die empirische Brauchbarkeit und methodologische Anschlussfähigkeit der elaborierten sozialwissenschaftlichen Interpretationsverfahren von Oevermann bzw. von Schütze für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung überzeugend demonstriert (Harney/Kade 1990; Marotzki 1991b; vgl. auch Fuchs-Heinritz/ Krüger 1991; Kade/Seitter 1996).
4.2. Methodologische Perspektiven Ich plädiere hier somit dafür, das narrationsstrukturelle Verfahren von Schütze (1983) und Riemann (1987) und das Konzept der objektiven Hermeneutik von Oevermann (1979/ 1988) bzw. das diesem verwandte Verfahren der strukturalen Rekonstruktion von Lebenskonstruk-
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tionen von Bude (1987) zukünftig verstärkt auch in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung aufzugreifen, da diese Konzepte geeignet sind, den traditionellen Hiatus von Bildungstheorie einerseits und empirischer Bildungsforschung andererseits zu überwinden. Beide methodologischen Ansätze zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie bei der Biographieanalyse nicht bei der Rekonstruktion des subjektiven Sinns der Befragten stehenbleiben, sondern orientiert an einer phänomenologischen bzw. strukturalen Interpretationsperspektive, jene objektiven Bedingungen mit berücksichtigen, in die biographische Handlungsmöglichkeiten eingebunden sind. Außerdem sind diese methodologischen Konzepte im Kontext produktiver Forschungserfahrungen entstanden und es gelingt ihnen, genaue Regeln für sequentielle Fallanalysen sowie einen sensiblen Umgang mit biographischem Material zu formulieren. Insbesondere das narrationsstrukturelle Verfahren folgt darüber hinaus in allen Forschungsschritten konsequent den Kriterien einer qualitativen Methodologie, in dem es über eine am „theoretical sampling“ orientierte Fallauswahl und über konstrastive Fallinterpretationen allmählich zu einer „theoretischen Sättigung“, zur Verallgemeinerung von Einzelfällen und zu einer Typologie von biographischen Mustern gelangt. Ich halte es in diesem Zusammenhang im Übrigen für wenig sinnvoll, einen künstlichen Gegensatz zwischen einer sozialwissenschaftlichen Biographieforschung, die sich für eine Verallgemeinerbarkeit mindestens im Sinne einer Typenbildung interessiert und einer pädagogischen Biographieforschung, in deren Zentrum die Analyse des Einzelfalls steht (vgl. Marotzki 1991a, S. 186), zu konstruieren, da sich auch die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung den Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung und dem Problem der Generalisierbarkeit ihrer Aussagen stellen muss.
4.3. Empirische und institutionelle Aufgaben Unter Berücksichtigung der hier nur angedeuteten theoretischen und forschungsmethodischen Programmatiken stellen sich für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung zukünftig vorrangig folgende empirische Forschungsaufgaben: –
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Erstens die Fortführung und Intensivierung von biographischen Studien, die sich mit den ambivalenten Folgewirkungen einer reflexiven Modernisierung und einer Individualisierung der Lebensführung auf pädagogische Handlungskontexte beschäftigen. Notwendig sind Studien zum Wandel der Geschlechterbeziehungen und -rollen, zur Verflüssigung des pädagogischen Generationsverhältnisses, zur Entstrukturierung, Individualisierung und Restandardisierung des Lebenslaufes, zur Universalisierung von Bildung und zur Pädagogisierung der Lebensführung sowie zur Ausdifferenzierung und zum Wandel pädagogischer Berufsrollen (vgl. Krüger 1994, S. 124); Zweitens die Fortsetzung von Arbeiten zur sozialgeschichtlichen Autobiographieforschung und von historischen Regionalstudien zu vergangenen Lebensgeschichten, Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen sowie Sozialisationsbedingungen in Nachfolgestudien, die zeitgeschichtliche, sozioökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen systematisch variieren. Desiderate sind zudem etwa Studien zu Frauen- und Mädchenbiographien im 19. Jahrhundert oder zur Genese historischer Kindergenerationen im 20. Jahrhundert. Drittens die Initiierung und Intensivierung von biographischen Projekten, deren Themen sich aus den vielfältigen Folgewirkungen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses ergeben. Zu denken ist hierbei zum einen an historische Arbeiten zur biographi-
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Heinz-Hermann Krüger schen Relevanz der Mitgliedschaft in der Pionierorganisaton oder der FDJ (vgl. erste Ansätze in Fischer/Zinnecker, Bd. 2, 1992; von Wensierski 1994) oder zur Alltagsgeschichte von Kindheit, Jugend, Familie oder Schule in spezifischen ostdeutschen Regionen seit der Nachkriegszeit, zum anderen an Projekte zu aktuellen Fragestellungen, z.B. der unterschiedlichen biographischen Verarbeitung der Wende in mehreren Generationen (vgl. Ecarius/Krüger 1997; Bock 2000) oder zu Schüler-, Lehrer- oder Studentenbiographien vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse der ostdeutschen Schul- und Hochschullandschaft (vgl. etwa Grunert 1997, 1999). Leider können die vorgeschlagenen sozialisationsgeschichtlichen Studien kaum auf biographische Untersuchungen aus der Zeit der DDR zurückgreifen, da in der DDR-Soziologie und erst recht in der Erziehungswissenschaft eine biographische Forschungstradition kaum existiert hat (vgl. Lindner 1991, S. 252). Viertens die Ingangsetzung einer interkulturell vergleichenden Biographieforschung. Trotz eines angesichts der Internationalisierung von Lebenslagen und Lebensläufen steigenden Bedarfs an grenzüberschreitenden Projekten steckt die kulturvergleichende Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft noch in den Kinderschuhen. Finanzierungsprobleme und sprachlich-kulturelle Verständigungsprobleme erweisen sich oft als Hemmnisse. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Methodik einer interkulturellen Biographieforschung noch kaum erarbeitet ist, so dass jedes Projekt, das sich mit komperativen Fragestellungen beschäftigt, Neuland betritt. Dennoch gibt es erste Studien im Bereich der Jugendbiographieforschung (du Bois-Reymond/Oechsle 1990) und auch im Bereich der Kindheitsforschung, z.B. ein Projekt zum Vergleich von Kinderbiographien in Ost-, Westdeutschland und den Niederlanden (vgl. Krüger/Ecarius/Grunert 1994). Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig auch in anderen Arbeitsfeldern der pädagogischen Biographieforschung interkulturelle Fragestellungen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Notwendig ist im Bereich der pädagogischen Biographieforschung zudem eine stärkere institutionelle Vernetzung der Forschungsaktivitäten. Denn anders als in der Soziologie, wo bereits seit Anfang der 1980er Jahre fest institutionalisierte Kooperations- und Kommunikationsformen existieren, gab es bis Anfang der 1990er Jahre solche Netzwerke zwischen pädagogischen Biographieforschern nicht. Mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung innerhalb der DGfE im Jahre 1994 ist jedoch eine solche Kooperationsstruktur eingerichtet worden, mit deren Hilfe es inzwischen gelungen ist, den Arbeitsbereich der pädagogischen Biographieforschung professions- und forschungspolitisch besser zu koordinieren und abzusichern. In den 1920er Jahren hatte die Pädagogik neben der Psychologie einmal eine tonangebende Rolle im Bereich der Biographieforschung. Diese hat sie in den 1970er und 1980er Jahren an die Soziologie abgegeben. Wir können gespannt sein, wie sich die Beiträge von Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft und Volkskunde zum Arbeitsfeld der Biographieforschung im Verlaufe des nächsten Jahrzehnts neu gruppieren werden.
Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven
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Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft – Gegenstandbereich und Bedeutung Theodor Schulze
Inhalt 1. Der Gegenstandsbereich der Biographieforschung 2. Die Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft 3. Schlussbemerkung Literatur
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Theodor Schulze
Vorbemerkungen In der ersten Auflage dieses Handbuchs wurde an dieser Stelle ein Vortrag abgedruckt, den ich 1994 auf dem 14. Kongress der DGfE in Dortmund unter dem Titel: „Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Anfänge – Fortschritte – Ausblicke“ gehalten habe (Schulze 1996). Auf demselben Kongress konstituierte sich die AG „Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“ in der DGfE. Als dieser Vortrag im Handbuch 1999 wieder abgedruckt wurde, waren seit der Konstituierung der AG bereits fünf Jahre vergangen und im Bereich der Biographieforschung vieles geschehen. Der Vortrag bedurfte kommentierender Ergänzungen (Schulze 1999). Inzwischen sind schon wieder sechs Jahre vergangen. Der Bereich der Biographieforschung konnte sich in der Erziehungswissenschaft dauerhaft etablieren und erweitern. Zahlreiche biographisch orientierte Untersuchungen sind durchgeführt oder angeregt worden, viele Veröffentlichungen zu biographierelevanten Themen erschienen (Arbeitsgruppe Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung 1998). Die AG hat sich in der DGfE als Kommission behauptet und in der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ einen festen Standort gefunden. So hat der Vortrag von damals seine aktuelle Bedeutung verloren. Eine Kommentierung der Kommentare würde Leserinnen und Leser nur verwirren. Daher habe ich diesen Artikel, der als eine einführende Orientierung in der gegenwärtigen Situation gedacht ist, neu geschrieben. Ich verzichte auf einen Rückblick in die Entwicklungsgeschichte und verweise dazu auf den einleitenden Beitrag von Heinz-Hermann Krüger. Aus dem Vortrag übernehme ich die Skizze zur Strukturierung des Gegenstandsbereichs in einer abgewandelten Form. Im Übrigen stützen sich die weiteren Ausführungen vornehmlich auf meinen Vortrag „Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“, den ich 2003 auf der ersten Tagung der Sektion „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ in der DGfE gehalten habe (Schulze 2002). Die folgenden Ausführungen haben zwei Teile – einen umfangreicheren über das „Gegenstandsfeld der Biographieforschung“ und einen kürzeren zur „Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft“.
1. Der Gegenstandsbereich der Biographieforschung Der Gegenstandsbereich der Biographieforschung wird durch den Begriff der Biographie umrissen. „Biographie“ ist ein Wort, das in der Umgangssprache ohne weitere Erläuterungen verstanden wird. Wenn von „Biographie“ bzw. von „Lebensgeschichte“ oder „Lebenslauf“ die Rede ist, weiß jeder in etwa, worum es geht. Es geht um den Verlauf des Lebens eines einzelnen Menschen. Es ist wichtig, dieses umgangssprachliche Begriffsverständnis im Bewusstsein zu behalten. Denn man wird in der einschlägigen Literatur auf eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Definitionen des Biographiebegriffs stoßen, die entsprechend einem spezifischen Forschungsinteresse jeweils einen besonderen Aspekt oder Ausschnitt des Gegenstandsbereichs hervorheben, eingrenzen oder hinzufügen oder den Gegenstandsbereich gänzlich neu definieren. Ein umfassender Forschungsbereich indessen wird nicht durch spezifische Forschungsinteressen bestimmt, sondern durch die Herausforderungen einer aufklärungsbedürftigen Wirklichkeit, die sich bereits in der Umgangssprache zu erkennen gibt.
Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft
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Das bedeutet aber nicht, dass mit diesem Hinweis bereits alles gesagt wäre, was über den Gegenstandsbereich zu sagen ist. Trotz seiner klaren Konturen ist der Begriff der Biographie mehrdeutig, und er verweist auf ein vielseitig strukturiertes thematisches Feld mit unterschiedlichen Teilbereichen und Schwerpunkten, deren Bezeichnungen und Beziehungen Anlässe zu Missverständnissen, Kontroversen und klärenden Untersuchungen geben. Um den Überblick über das gesamte Feld der Biographieforschung zu erleichtern, habe ich versucht, seine Struktur in einer kognitiven Landkarte zu veranschaulichen – zum ersten Mal in dem Aufsatz „Pädagogische Dimensionen der Biographieforschung“ (Schulze 1991, S. 153) und dann noch einmal in meinem Beitrag zur ersten Auflage in diesem Handbuch (Schulze 1999, S. 38). Ich zeige diese Skizze hier in einer abgewandelten und erweiterten Form. Doch die Grundstruktur ist dieselbe. An dieser Skizze lässt sich folgendes verdeutlichen: Abb. 1: Gegenstandsbereich der Biographieforschung
Zunächst: Das Wort „Biographie“ heißt wörtlich „Lebensbeschreibung“. Das heißt: es meint einen Text – Biographie als Text. Zugleich bezeichnen wir mit demselben Wort aber auch das, was in der Beschreibung beschrieben wird. Wir meinen mit ihm das Leben eines Menschen, seine Lebenswirklichkeit – Biographie als reales Leben. Das sind zwei unterschiedliche Seinsweisen. Biographie als Text begegnet uns im Laufe der Geschichte in zwei verschiedenen Grundformen – zunächst als Biographie i.e.S. und dann auch als Autobiographie. Eine Biographie i.e.S. ist ein Text, der eine Lebensgeschichte erzählt. Diese Textsorte und Literaturgattung ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Zum einen: Biographien ha-
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ben einen narrativen Charakter. Sie erzählen eine Geschichte. Eine Geschichte umfasst eine zeitliche Folge von Ereignissen, die in irgendeiner Weise aufeinander bezogen sind, und sie hat einen Anfang und ein Ende. Geschichten-Erzählen gilt als Form der Bearbeitung von Kontingenzerfahrungen, als Darstellung von Vorfällen, Zufällen und unerwarteten Ereignissen in Handlungszusammenhängen. In der Biographie ist der Bezugspunkt der Ereignisse ein einzelner Mensch, der Anfang seine Herkunft und Geburt, das Ende der jeweils erreichte Zeitpunkt in seinem Leben, spätestens sein Tod und Nachruf. – Zum anderen: Die Geschichte ist keine fiktive, sondern eine reale Geschichte. D.h.: sie bezieht sich auf eine Person, die wirklich gelebt hat, und sie berichtet – nach bestem Wissen und Gewissen des Autors oder der Autorin – nur solche Ereignisse, die sich im Leben dieses Menschen wirklich zugetragen haben. Eine Autobiographie ist eine Biographie, in der der Autor zugleich auch der Protagonist der Biographie ist, das Subjekt des Lebens, dem die Erzählung gilt. Ein Mensch erzählt seine eigene Lebensgeschichte – zumeist in der Ich-Form. Der Autor einer Autobiographie hat den Vorteil, dass er sich nicht auf Dokumente, Beobachtungen und Berichte anderer stützen muss. Seine Quelle ist vornehmlich die eigene Erinnerung. In der Erinnerung sind ihm zudem nicht nur die Ereignisse und Umstände seines Lebens unmittelbar zugänglich, sondern auch die mit ihnen verbundenen Erlebnisse und Gefühle, die Absichten und Beweggründe seiner Entscheidungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen. Andererseits ist die eigene Erinnerung selektiv, ungenau und subjektiv eingebunden. – Die Autobiographie begegnet uns in unterschiedlichen Formen: als mündliche Erzählung, als geschriebener Lebenslauf, als aufgeschriebene Lebensgeschichte, im narrativen Interview und als literarische Selbstdarstellung. Auch für die Autobiographie gilt, dass sie eine reale Geschichte vorstellt, ein Leben, das wirklich gelebt wurde. Das besagt der „Autobiographische Pakt“, der unausgesprochen zwischen Autor und Leser besteht (Lejeune 1973). Bei autobiographischen Romanen oder Essays ist der Übergang zum Fiktiven fließend: Wahrheit und Dichtung. – In der Literaturwissenschaft wird die Autobiographie vornehmlich als eine Form literarischer Produktion betrachtet. Tatsächlich aber entsteht autobiographisches Erzählen immer wieder neu ohne Rückgriff auf Literatur als eine elementare Lebensäußerung. Für die Biographieforschung ist es notwendig und hilfreich eine dritte Art von Texten und Dokumenten im Umkreis der „Biographie als Text“ ins Auge zu fassen. Das sind alle möglichen Äußerungen, Produktionen und Dokumente verschiedenster Art, auf die sich Autoren oder Autorinnen von Biographien und Autobiographien stützen oder in denen Biographisches bzw. Autobiographisches zum Ausdruck kommt – zum Beispiel: Tagebücher und Briefe oder Bilder und Fotos oder Filme, Talk-Shows und Illustriertenberichte oder Akten (siehe Cloer in diesem Band). Für diese Art von „Texten“ gilt, dass ihre Erschließung besonderer methodischer Anstrengungen bedarf und dass die meisten von ihnen nur unter Anleitung eines autobiographischen Kommentars zu sprechen beginnen. Ich bezeichne diese Gruppe von Texten und Dokumenten als biographisches und autobiographisches Material. Auf der anderen Seite steht das, was in einem biographischen Text beschrieben wird: das Leben eines einzelnen Menschen – Biographie als reales Leben. Um diesen Teil des Gegenstandsbereichs angemessen aufzufassen, sind zunächst zwei Vorklärungen wichtig: Die eine betrifft das Wort „Leben“. Mit Leben ist hier nicht die biologische und die animalische Gegebenheit des Lebens gemeint. Leben meint hier nicht, dass man lebt und atmet, sich entfaltet oder entwickelt, bewegt und vermehrt, und auch nicht das, was ein tierisches Leben im Wesentlichen ausmacht: Nahrungssuche, Körperpflege, Reviererkundung, Fortpflanzung, Brutpflege, Zusammensein mit Artgenossen und Abwehr von
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Feinden. Menschliches Leben ist mehr. Der Mensch erwartet etwas von seinem Leben; er muss folgenreiche Entscheidungen treffen und mit den Folgen zurechtkommen. Leben ist für ihn Aufgabe, eine Folge von Aufgaben, von zu lösenden Problemen und zu bearbeitenden Themen. Er führt ein Leben und gestaltet es – wie auch immer. Die Griechen nannten das „Bios“; wir nennen es „Biographie“. – Der Umstand, dass die Menschen ihr Leben als eine zugestaltende Biographie leben, ist eine anthropologische Grundgegebenheit, ebenso wie dass sie in einer Kultur leben. Jeder Mensch lebt eine Lebensgeschichte, und jeder, der der Sprache mächtig ist, kann sie erzählen. Und viele Menschen, ja, die meisten, tun es – bei irgendeiner Gelegenheit, nicht immer die ganze Geschichte auf einmal, oft nur einzelne Ausschnitte oder Hinweise, aber sie tun es. Sehr viel weniger schreiben ihre Lebensgeschichte auf oder geben sie zu Protokoll. Doch der anthropologischen Grundgegebenheit der Biographie widerspricht nicht, dass sie erst sehr spät in der Geschichte der Menschheit – etwa seit dem Beginn der Neuzeit – im öffentlichen Bewusstsein thematisiert wird, dass lebensgeschichtliche Daten und Erzählungen schriftlich fixiert, veröffentlicht und über den engeren Kreis der Intim-Gruppe hinaus beachtet werden. Die anthropologische Gegebenheit der Biographie entfaltet sich im Zuge der soziokulturellen Evolution der Gattung. Die andere Vorklärung betrifft den Gesichtspunkt, von dem aus wir das menschliche Leben betrachten. In der Sicht der „Biographie als Text“ sind wir geneigt, es rückblickend von seinem Ende her zu betrachten. Wir sehen es an als eine zu ihrem Ende gekommene Geschichte, als eine geschlossene Gestalt, als ein angestrebtes Ergebnis. Darüber gerät aus dem Blick, dass „Biographie als reales Leben“ eigentlich nach vorne gerichtet ist und darin immer offen – noch bis zum letzten Atemzug. Wie können wir wissen, ob nicht im Augenblick des Todes uns noch ein neuer Ausblick eröffnet wird? – Das menschliche Leben ist in erster Linie ein Prozess, und dieser Prozess ist im Wesentlichen ein Lernprozess. Das heißt: er folgt nicht einfach einer inneren Gesetzlichkeit oder Bestimmung, aber auch nicht nur einem äußeren Zwang oder sozialen Regime und auch nicht einem wie auch immer verhängten Schicksal. Alles dies – genetisch verankerte Anlagen, biologisch bedingte Entwicklungsstadien, Wachstumskrisen und Alterungsprozesse, gesellschaftliche Vorgaben, Regeln, Beschränkungen und Institutionen, unvorhersehbare Zufälle, Einbrüche und Verhängnisse – spielt eine Rolle. Aber das Individuum muss sich dies alles lernend zu eigen machen, muss es in ein zu lebendes Leben und endlich in eine Lebensgeschichte verwandeln. Biographie ist ein sich selbst organisierender Lernprozess. Biographie als Realität hat eine äußere und eine innere Seite. Von außen betrachtet erscheint Biographie als Bewegung, als ein „Lebenslauf“. Biographie meint die Bewegung eines einzelnen Menschen im geographischen, aber vornehmlich im soziokulturellen und historischen Raum (siehe „Sozialraum“ bei Bourdieu 1984, S. 181ff.). Die Bewegung der Biographie ist verglichen mit den zahlreichen Bewegungen, die wir täglich vollführen, eine Bewegung höherer Ordnung. Sie umgreift größere Zeiträume und schließt eine Fülle von Einzelbewegungen ein. Sie bildet eine Folge von Situationen und Ereignissen, von Entscheidungen und Vollzügen: Umzug und Reise, Ausfahrt, Übergang, Einwohnung oder Heimkehr, Ablösung oder Bindung, Entdeckung und Eroberung, Bewahrung und Wandlung, Ausweitung und Beschränkung, Aufstieg oder Niedergang, Migration und Emanzipation, Transformation oder Deformation. Der Raum, in dem diese Bewegungen stattfinden, ist ein von Menschen gestalteter Raum, der Raum der menschlichen Kulturen und Gesellschaften, ausgestattet mit unterschiedlichen Möglichkeiten zu leben, mit unterschiedlichen Verhaltens-, Seh- und Denkweisen, mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen, Wertschätzungen und Freiheiten, mit unterschiedlichen Standpunkten und Perspektiven. Es ist ein Raum aufgeteilt
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in Gegenden, Felder, Disziplinen und Diskurse, bestückt mit Gruppierungen, Institutionen und Positionen, beherrscht durch Machtstrukturen und Kapitalsorten, ausgefüllt mit Traditionen, Ideologien und Mentalitäten. Die Bewegung der Biographie führt von einem Ausgangspunkt und einer anfänglichen Befindlichkeit zu einem neuen Standort und zu einer neuen Befindlichkeit und weiter von Standort zu Standort, von Befindlichkeit zu Befindlichkeit und von einer Lebenslage zu einer anderen Lebenslage. Sie ist eine Bewegung der ganzen Person, auch eine körperliche Bewegung, aber nicht nur, eher in den Nervenbahnen des Gehirns als in den Muskeln der einzelnen Glieder zu lokalisieren – kurz: eine Bewegung des Lernens. Von innen betrachtet erscheint Biographie als Erfahrungszusammenhang, als Ansammlung und Aufschichtung von vielen einzelnen Erfahrungen, von Lebenserfahrungen. Lebenserfahrungen sind Erkenntnis- und Steuerungsleistungen besonderer Art. Das Wissen, das in ihnen aufgehoben ist, das Erfahrungswissen, unterscheidet sich von sonstigem Sach- und Tatsachenwissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in mehrfacher Hinsicht: Es bleibt auf die Anlässe und Umstände, unter denen es entstanden ist, bezogen und mit dem Subjekt verbunden. Es speichert nicht nur Informationen über Sachverhalte, sondern auch die Emotionen, die mit den Sachverhalten verknüpft sind, und das Interesse, das auf sie gerichtet ist. Lebenserfahrungen entstehen in der Auseinandersetzung des individuellen Subjekts mit der Welt, in der es lebt. So verbindet sich in ihnen Welt- mit Selbsterkenntnis. – Lebenserfahrungen nehmen ihren Ausgang von Erlebnissen. Das sind Sinneseindrücke, Wahrnehmungen und Tätigkeiten, die mit einem höheren Grad an emotionaler Erregung verbunden sind und die sich auf diese Weise im Bewusstseinsstrom besonders abheben , „in denen sich das Ich sozusagen fest engagiert.“ (Schütz/Luckmann 1984, S. 13). Neben dem Wohlfühlen im Gewohnten und Vertrauten sind es insbesondere solche Erlebnisse, in denen bisher Gewohntes unterbrochen und Vertrautes irritiert wird. Das sind Erlebnisse von Brüchen und Einbrüchen, Diskrepanzen und Konflikten, Unerwartetem und Überraschendem. Peter Sloterdjik spricht von „Stör-Erfahrungen“ (Sloterdjik 1978, S. 113f.). Sie geben Anstöße zu Selbsterfahrungen und biographischen Wandlungsprozessen. Aber sie weisen zugleich hin auf Reibungen, Risse und Umbrüche im kulturellen und gesellschaftlichen Gefüge. – Doch Erlebnisse an sich als aktuelle Bewusstseinzustände und Gefühlsbewegungen sind noch keine Erfahrungen (Schütz/ Luckmann 1984, S. 13). Erst in der inneren Verarbeitung und in der reflektierten Erinnerung gewinnen die Erlebnisse eine situationsübergreifende Bedeutung, und sie verändern diese Bedeutung auch später noch unter dem Einfluss weiterer Erlebnisse. Sie schließen sich mit anderen Erlebnissen und schon gespeichertem Wissen aus anderen Quellen zusammen zu einem vielgestaltigen, im Verlauf des Lebens ständig anwachsenden Erfahrungszusammenhang. Die angesammelten Erfahrungen haben einen maßgebenden Einfluss auf die Erwartungen und Entscheidungen, die den biographischen Prozess bestimmen – oft ohne dass das dem Individuum bewusst wird. Sowohl die Formierung der einzelnen Erfahrungen wie auch die des Erfahrungszusammenhanges insgesamt, wie er sich bildet, wie er strukturiert ist und wie er auf lebensgeschichtlich bedeutsame Entscheidungen einwirkt, sind dem Bewusstsein der Akteure weitgehend entzogen. Sie lassen sich nur im Nachhinein aus Wirkungen und Erinnerungen rekonstruieren. Die Rekonstruktion biographischer Erfahrungen ist ein wichtiges Thema in der Biographieforschung. Zwischen den beiden Bereichen „Biographie als Texte“ und „Biographie als reales Leben“ habe ich in meiner Skizze zum gesamten Gegenstandsbereich der Biographieforschung noch zwei weitere Teilbereiche ausgewiesen – den der „Biographie im Kopf“ und den der „Biographie in der Gesellschaft“. Während es sich bei den beiden bisher besprochenen Teil-
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bereichen um Bereiche handelt, die wir ohne weiteres mit dem Begriff der Biographie verbinden und die für uns direkt oder indirekt mit einer Fülle von Informationen ausgestattet sind, zu denen wir durch Beobachtung und Selbstbeobachtung, Erinnerungen und autobiographische Erzählungen einen direkten Zugang haben, handelt es sich bei den nun zu beschreibenden um Bereiche, an die wir nicht sogleich denken, wenn von „Biographie“ die Rede ist, und die uns auch nicht ohne weiteres zugänglich sind. Erst auf Grund von Schlussfolgerungen, Interpretationen und Konstruktionen kann man hier zu differenzierenden Aussagen gelangen. In diesem Sinne kann man auch von „Konstrukten“ sprechen. – Auch hier handelt es sich um zwei unterschiedliche Seinsweisen. Mit „Biographie im Kopf“ bezeichne ich die psychologische Dimension der Biographie. Gemeint sind psychische Strukturen, die eine biographiekonstituierende und -generierende Bedeutung haben. Das sind vornehmlich die Konstrukte „Biographisches Subjekt“, „Autobiographisches Gedächtnis“ und „Biographisches Potential“. Da ist zunächst das biographische Subjekt. „Subjekt“ im Wortsinn meint ein „Unterlegtes“, ein „Zugrundeliegendes“, eine grundlegende Unterstellung. Mit dem Begriff „Biographisches Subjekt“ bezeichnen wir die für das Verständnis von Biographie grundlegende Unterstellung eines einheitlichen Zentrums für jede Biographie. Dieses Zentrum ist gebunden an einen Körper, an einen lebendigen Organismus und an seinen kontinuierlichen Zusammenhang in der Lebenszeit, und es hat seine materielle Basis in einem individuellen Gehirn. – Dieses Zentrum ist jedem Menschen unmittelbar bewusst als Ausgangspunkt aller seiner Aktivitäten und Bewusstseinszustände. Es findet seinen sprachlichen Ausdruck im Personalpronomen „Ich“ und in entsprechenden grammatischen Konstruktionen. Was auch immer dieses Subjekt sonst noch sein mag, das biographische Subjekt ist vor allem bestimmt durch alle Aktivitäten und Bewusstseinszustände, die sich auf die ihm zugehörige Biographie, auf die Gestaltung seines Lebens beziehen. Es ist das Ich, das sein Leben lebt und erlebt, das sein Leben tut und erleidet, das erwartet und entscheidet, das sich erinnert und aus seinem Leben erzählt und es zu deuten versucht. Diese Bestimmungen sind formal, für alle Menschen in gleicher Weise gültig. Über das Subjekt lassen sich nur formale Allgemeinheiten aussagen, keine inhaltlichen Besonderheiten, keine individuellen Eigenschaften und Ausprägungen. Das biographische Subjekt ist eine allgemeine Voraussetzung für jede, aber kein Inhalt für eine besondere Biographie. Dennoch, die Annahme dieser allgemeinen Voraussetzung hat eine Reihe wichtiger Konsequenzen für die Biographieforschung: Sie hat Konsequenzen im Hinblick auf die Einheit des biographischen Prozesses und die Integration der Lebenserfahrungen, auf den Zusammenhang von Erleben, Erinnern, Erzählen und Deuten und auf die Beziehung von Text und Leben, auf den Zugang zur Innenseite der Biographie und den Vorrang autobiographischer Texte als Quelle. Sie hat Konsequenzen für das Verhältnis von Anlage und Erfahrung und für die Abgrenzung und Unterscheidung von Außen und Innen, von Einflüssen und Gegebenheiten der Umwelt und ihrer Aneignung und Umwandlung durch das Individuum, für das, was der Biographie vorgegeben ist, und für das, was sie daraus macht. Oder – systemtheoretisch formuliert – sie bestimmt, was für die Biographie zum System gehört und was für sie Umwelt ist. Und noch eins: Das biographische Subjekt bestimmt auch die Blickrichtung und das Sehfeld, die der Biographie vorgegeben sind, die Perspektive und den Horizont des Biographieträgers. Die Perspektive ist in die Zukunft gerichtet, auf die zu bewältigenden Aufgaben, und auf die Umwelt, auf die Gesellschaft und ihre Strukturen, mit denen sich das Individuum auseinander setzten muss, herausgefordert und bedrängt. Der Horizont ist der der
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begrenzten Möglichkeiten, die sich dem Individuum anbieten und ihm offen stehen. In der Biographieforschung verkehren wir diese Blickrichtung immer wieder in ihr Gegenteil. Wir betrachten die einzelne individuelle Biographie von ihrem Ende her rückwärts gewandt und aus der Perspektive der Gesellschaft, und wir haben einen weiteren Horizont im Blick, ziehen mehr Möglichkeiten in Betracht als das Individuum. Das verschafft uns einen Zuwachs an Erkenntnismöglichkeiten. Aber zugleich sind wir in der Gefahr, die Blickrichtung des biographischen Subjekts aus den Augen zu verlieren. Dann ist da das autobiographische Gedächtnis. Autobiographische Erzählungen beruhen auf Erinnerungen, auf Leistungen unseres Gedächtnisses. Psychologen und Neurologen haben inzwischen gelernt, zwischen verschiedenen Arten von Gedächtnisformen zu unterscheiden. Und so haben sie auch herausgefunden und nachgewiesen, dass es so etwas wie ein spezielles autobiographisches Gedächtnis gibt (siehe BIOS 2002, Jg. 15, Heft 2). Es unterscheidet sich von Formen des semantischen beziehungsweise des Wissensgedächtnisses dadurch, dass es nicht nur abgelöste Informationen speichert, sondern auch die Augenblicke und Umstände, in denen und unter denen diese Informationen vom Individuum aufgenommen wurden: Situationen, Ereignisse, Erlebnisse. Psychologen sprechen darum auch von einem „episodischen Gedächtnis“. Das autobiographische Gedächtnis ist außerdem in hohem Maße selektiv. Und die Selektion ist nicht bewusst gesteuert. Sie ergibt sich – oftmals ohne dass das Individuum sogleich versteht, warum gerade dies und nicht jenes erinnert wird. Das autobiographische Gedächtnis bewahrt vornehmlich solche Eindrücke und Ereignisse auf, die in verstärkten Maße emotional besetzt sind und die vermutlich eine besondere Bedeutung für die Entfaltung des biographischen Prozesses und den Aufbau des lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhanges haben. Und dann ist da das „biographische Potential“: Der Begriff wird nicht einhellig benutzt. Andere Autoren sprechen von „biographischen Ressourcen“ (Hoerning 1989; Bartmann 2003) oder auch von „Kapital“ (Bourdieu 1983). Ich verwende die zuletzt genannten Ausdrücke für Anregungen und Unterstützungen, die dem Individuum von außen zukommen – aus seiner Familie, seinem Milieu oder seiner Umwelt. Im Unterschied dazu, nenne ich das, was dem Individuum in ihm selber zur Verfügung steht und ihn umtreibt, sein „biographisches Potential“. In diesem Sinne spricht Peter Alheit von „Lernpotential“ oder „Potential transitorischer Bildungsprozesse“ (Alheit 1995, S. 276 und 301). – Nicht nur der Begriff auch der gemeinte Sachverhalt ist noch aufklärungsbedürftig. Eine Reihe von Abgrenzungen zu anderen Sachverhalten sind erforderlich. Den Kern dessen, was wir „Biographisches Potential“ nennen, bilden die angesammelten und aufgeschichteten Lebenserfahrungen. Sie treten uns in unserem Bewusstsein zunächst als Erinnerungen entgegen. Hier ist eine erste Unterscheidung notwendig: Erfahrungen und Erinnerungen haben viel miteinander zu tun, aber sie sind nicht dasselbe. Erinnerungen sind dem Bewusstsein zugängliche Inhalte. Nicht alle und nicht beliebig – wir können vergessen oder verdrängen. Aber wenn sie im Bewusstsein auftauchen, nehmen sie in ihm eine bestimmte und bestimmbare Form als Vorstellung an, als die Vorstellung eines sinnlichen Eindrucks, eines Geruchs, Geschmacks, Gefühls, eines Lautes, eines Bildes oder einer Szene – nicht immer klar umrissen, aber doch deutlich genug, um sie mitteilen zu können. In autobiographischen Texten erscheinen sie als dichtere Beschreibungen oder Geschichten. Anders Erfahrungen: Sie sind schwerer zu erfassen. Sie bilden im Bewusstsein keinen deutlich konturierten Inhalt, und lassen sich daher auch nicht ohne weiteres benennen oder beschreiben. – Erinnerungen halten Erlebnisse fest, unverbunden und ungedeutet als besondere Lebensmomente. Erfahrungen verarbeiten Erlebnisse, suchen sie zu integrie-
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ren und zu deuten, ihnen eine allgemeinere, über den einzelnen Lebensmoment hinausreichende Bedeutung zu verleihen. Sie finden ihren Ausdruck in einer Haltung, Einstellung, Befindlichkeit oder Handlungsmaxime. In Gesprächen oder autobiographischen Erzählungen tauchen sie auf als Urteile, wertende Prädikate, Argumente, wiederkehrende Redewendungen, Sprichwörter, Grundsätze oder Lebensregeln. „Mädchen, trau den Männern nicht! Sie wollen immer nur das eine!“ Doch die Moral von der Geschicht’ besagt wenig ohne die Geschichte. – Und auch im Hinblick auf ihrer Bedeutung für die Biographie sind beide unterschiedlich. Die im Gedächtnis versammelten Erinnerungen mobilisieren die autobiographische Tätigkeit. Sie regen an zur Reflexion und Mitteilung. Sie führen am Ende zur Erzählung oder Beschreibung einer Lebensgeschichte. Die im biographischen Potential vereinigten Erfahrungen mobilisieren den biographischen Lernprozess. Sie erwecken Erwartungen und beeinflussen Entscheidungen. Sie tragen wesentlich zur Gestaltung des Lebenslaufes bei. Doch das heißt nicht, dass das biographische Potential im Sinne einer Lebensplanung zu verstehen wäre. Im biographischen Diskurs taucht immer wieder die Vorstellung von einem planmäßig gestalteten Leben auf, von einer im Sinne eines Handlungsschemas gewollten und voraus entworfenen oder absichtlich intendierten und durchgeführten Folge von Aktivitäten. Natürlich gibt es innerhalb des biographischen Prozesses auch angestrebte Ziele, durchdachte Handlungen, vorrausgreifende Entwürfe und bewusst lebensbestimmende Entscheidungen. Aber ich kenne keine einzige autobiographische Erzählung, die den Eindruck erweckt oder zu erwecken sucht, als wäre das Leben ein durchgängig geplanter und realisierter Handlungszusammenhang. Die Struktur biographischer Prozesse ist eine andere als die geplanter Handlungen. Das biographische Potential ist kein Handlungsschema, aber auch kein soziales Ordnungsschema oder Ablaufmuster. Zweifellos gibt es allgemeine, kollektiv geteilte Vorstellungen, die man als biographische Ordnungsschemata oder Ablaufmuster kennzeichnen kann: Vorstellungen über den Lebenszyklus und über Altersstufen, wie beispielsweise das Schicksalsrad oder das Lebenstreppchen (siehe Rosenmayr 1978), oder über eine „Normalbiographie“ (z.B. Levy 1977, S. 43ff.), verschieden nach Geschlechtern und Klassen, oder über verheißungsvolle Karrieren, und zweifellos orientieren sich die einzelnen Menschen über weite Strecken ihrer Biographie an solchen Ordnungsschemata und Ablaufmustern. Aber man erweckt einen falschen Eindruck, wenn man davon spricht, dass sie sie verwirklichen oder erfüllen – auch nicht in der abgewandelten Form eines emergenten individuellen Schemas“ (Fischer/Kohli 1987, S. 29). Es gibt kein Schema, auch nicht ein persönlich entworfenes, das differenziert und hellsichtig genug wäre, die vielen Wechselfälle, Verknüpfungen und Eigenheiten einer Biographie-Bewegung vorzuschreiben oder vorwegzunehmen. In was für einem „Präskript“ hätten Juden in der Weimarer Republik vorgezeichnet finden können, was ihnen dann nach 1933 widerfahren ist – selbst nicht in „Mein Kampf“. Die sozialen Biographie-Schemata sind Rahmen, und sie gelten auch nur, so lange die Gesellschaft sie trägt. Was dann? Wir betrachten das „Biographische Potential“ als eine Ansammlung von Erfahrungen. Sie bilden, auf vielfältige Weise mit Emotionen, Motivationen, Orientierungen und Deutungsmustern verknüpft, eine Art Reservoire von Kräften und Impulsen. Sie werden zusammen mit Erwartungen, Interessen, Vorbildern und Kenntnissen von Hilfsquellen, Schwierigkeiten oder Gefahren mobilisiert, wenn ein Individuum lebensbedeutsame oder folgenreiche Entscheidungen zu treffen hat oder unerwartet in eine aussichtsreiche und verlockende oder schwer zu bewältigende Lage gerät. – Wir wissen nicht genau, wie die
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Elemente dieses Potentials beschaffen, und auch nicht genau, wie sie organisiert sind. Einige Biographieforscher vermuten, dass die Lebenserfahrungen sehr viel strukturierter sind, als wir annehmen. „Sie haben längst nicht mehr den Charakter zufällig aufgeschichteter Erlebnisse ... sondern eine je konkrete Gestalt ...“. Auch von einem „Erfahrungscode“ und von einer eigenen „Grammatik“ ist die Rede. (Alheit/Dausien 2000, S. 275ff.). Meines Erachtens sprechen die autobiographischen Texte eher für eine unsystematische und lockere Organisation – weniger einer Registratur oder geordneten Datei, eher einer brodelnden Suppe mit Markklößchen vergleichbar – mal erscheint der eine Erfahrungskomplex an der Oberfläche, dann wieder ein anderer. (Schulze 1996, S. 349). Immerhin: es gibt so etwas wie Leitlinien und Leitthemen, zentrale Kraftfelder und Interessen, wiederkehrende Beziehungskonstellationen, dominante Problemkomplexe und Schlüsselerlebnisse, die deutlicher hervortreten. Aber sie sind nicht der einzige Grund für Entscheidungen, bestimmen nicht notwendig den Lebenslauf. Das biographische Subjekt kann sich auch anders entscheiden – aus Vernunftgründen oder gezwungenermaßen. Es kann sich gegen die eigenen Erfahrungen und Wünsche entscheiden. Die getroffenen Entscheidungen können das biographische Potential unterdrücken. Vieles, was wir in unserem biographischen Potential an Fähigkeiten, Wünschen, Aussichten und Projekten versammeln, können wir nicht ausleben. So spricht Peter Alheit im Sinne Victor von Weizsäckers auch von einem „Potential an ‚ungelebtem Leben‘“ (Alheit 1995, S. 299). – Es gibt noch eine weitere psychische Struktur, die im Zusammenhang der Biographieforschung eine besondere Beachtung verdient. Das ist das, was wir „Selbst“ oder „Selbstkonzept“ nennen (siehe Filipp 1979). Das Konstrukt des „Selbst“ spielt im biographischen Diskurs eine wichtige Rolle, aber es stiftet auch Verwirrung und gibt Anlass zu unfruchtbaren Auseinandersetzungen und Schein-Gefechten. – Es stiftet Verwirrung, sobald man es, was häufig geschieht, zum Ziel, Zentrum oder Wesen der Biographie erklärt. So etwas geschieht, wenn man den biographischen Prozess als Selbstverwirklichung oder Selbstwerden (C.G. Jung) auffasst oder als Entwicklung einer Persönlichkeit, als allseitige Entwicklung der Anlagen (Marx/Engels) oder als vielseitigste Verknüpfung des Individuums mit der Welt (Humboldt). Das sind mögliche und erstrebenswerte Ziele oder eher noch utopische Entwürfe. Aber es spricht wenig dafür, dass sie von vielen Menschen in ihrem Leben konsequent verfolgt oder gar erreicht werden. – Verwirrung wird auch gestiftet, wenn man das Bestreben, die Identität der eigenen Person zu bewahren oder die eigene Individualität auszugestalten, in den Mittelpunkt der Theoriebildung rückt. Bezogen auf den biographischen Prozess und das biographische Subjekt sind Identität und Individualität formal bestimmte Merkmale, die diesen wesensmäßig und problemlos zukommen. Jedes menschliche Leben ist in seinem Verlauf von der Erzeugung bis zum Tod mit sich identisch und von dem anderer Menschen verschieden, wie immer es verläuft. Etwas anderes ist es, wenn man Identität und Individualität als inhaltliche Ausprägungen und Eigenschaften des Selbst versteht. Da sind beide Erwartungen problematisch. Menschen können sich mit sich in Übereinstimmung fühlen und ihr Leben als ein identisches ansehen. Aber sie können sich auch als unausgeglichen, widersprüchlich, zerrissen oder als multiple oder gespaltene Persönlichkeit wahrnehmen und ihr Leben als gebrochen, unzusammenhängend oder als Flickenteppich erleben. Sie können schwanken, welchen Identifikationen sie folgen sollen, und an ihrer Zugehörigkeit zu einer angestammten oder gewählten sozialen Gruppe zweifeln. Nicht die identische Biographie ist eine Illusion, vielleicht aber die Vorstellung von einem identischen Selbst und von einem einheitlichen Verlauf des Lebens (vgl. Bourdieu 2000). – Und ähnlich verhält es sich auch mit der Individualität. Die Tatsache, dass jede Lebensgeschichte einzigar-
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tig und von anderen verschieden ist, bedeutet nicht, dass die Einzigartigkeit gewollt, angestrebt oder besonderes hervorgehoben und stilisiert wird. Es gibt viele Menschen, die bemüht sind, normal zu erscheinen und nicht aufzufallen, oder die sich vornehmlich als Mitglieder und Repräsentanten eines Kollektivs verstehen. „Selbst“ und „Selbstkonzept“ gehören nicht zu den biographiekonstituierenden und biographiegenerierenden psychischen Strukturen. Der biographische Prozess ist nicht an Selbstkonzepten ausgerichtet – weder in der Bewegung im soziokulturellen Raum noch in der Aufschichtung von Lebenserfahrungen. Eine Autobiographie ist ihrem Wesen nach keine Selbstbeschreibung sondern eine Lebensbeschreibung; sie ist auch keine Selbstdarstellung, so wenig wie ein Selbstporträt eine Autobiographie ist (siehe Schulze 2003). Und Biographieforschung ist auch nicht dasselbe wie Persönlichkeitspsychologie. Die Persönlichkeit und das Selbstkonzept sind nicht Voraussetzungen, sondern ein Produkt und eine Begleiterscheinung der Biographie. Im Verlauf seines Lebens erfährt das Individuum nicht nur viel über die Welt, sondern auch über sich selbst: wie die anderen es sehen und wie es selbst sich sieht, was es sein möchte oder könnte und was tatsächlich aus ihm geworden ist. Selbstbilder und Selbstkonzepte gehen als Selbsterfahrungen ein in den Zusammenhang der Lebenserfahrungen, werden zu wirksamen Elementen des „Biographischen Potentials“. Sie werden wirksam als Haltungen , die das Individuum gegenüber seinem Leben einnimmt. Es kann sich verstehen als autonomer Souverän seiner Handlungen, als „Herr im Haus“ seines Lebens, aber auch als ein Rädchen im sozialen Getriebe oder als unmündiges und ohnmächtiges Opfer der Verhältnisse. „Wir konnten unser Leben nicht selbst bestimmen, die Politik hat unser Leben bestimmt“ , heißt es am Beginn eines Lebensberichts (Weyrath 1985, S. 15). Und Selbstwertgefühle können in lebensbedeutsamen Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen: Egoismus, Eitelkeit, Stolz, Verlangen nach Selbstbestätigung oder Anerkennung durch andere. Ein verletztes Selbstwertgefühl kann Anlass und Grund für unbedachte und folgenschwere Handlungen sein. Aber das Selbstwertgefühl ist nicht beständig. Leichtsinn und Wut werden bedrängt von Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Gier, Hass oder Rachegelüste können rasch umschlagen in Selbstvorwürfe und Reue. Man wünscht, die Entscheidung anders getroffen zu haben, die Tat ungeschehen. Doch das Leben als Biographie lässt sich nicht zurückdrehen; man kann nur seine Richtung ändern. – So weit die „Biographie im Kopf“. „Biographie in der Gesellschaft“ ist ein Konstrukt anderer Art. Mit diesem Ausdruck bezeichne ich die soziologische Dimension der Biographie. Hier sind nicht psychische sondern gesellschaftliche Strukturen gemeint. Sie haben nicht eine biographiekonstituierende und -generierende, wohl aber eine biographieevozierende und -regulierende Bedeutung. Es ist eine irreführende Unterstellung, die Biographie sei ausschließlich eine Angelegenheit des individuellen Biographieträgers, eines autonomen Individuums, und nur von ihm bestimmt. Jede autobiographische Erzählung widerspricht dieser Annahme. Eine Biographie ist, wie wir gesagt haben, die Lebensbewegung eines Menschen im soziokulturellem Raum und in der historischen Zeit, und die Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens ansammelt, entstehen ihm in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Die entscheidende Bedeutung, die wir dem biographischen Subjekt in diesem Zusammenhang zuerkennen, ist auch nicht so zu verstehen, dass es seine Entscheidungen allein und unabhängig trifft. Im Gegenteil viele lebensgeschichtlich bedeutsame Entscheidungen werden von anderen getroffen und müssen vom Ego hingenommen und mitvollzogen werden. So muss Biographie notwendig immer bezogen auf Gesellschaft und eingebettet in Gesellschaft gedacht werden. Doch das ist nicht der Kern des Konstrukts.
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Das Konstrukt der „Biographie in der Gesellschaft“ wurde vornehmlich in der soziologischen Biographieforschung entwickelt. Im Unterschied zum normalen und alltagsweltlichen Verständnis wird „Biographie“ in ihr „nicht als individuell-psychologische Kategorie, sondern als soziales Konstrukt verstanden ...“ (Völter u.a. 2005, S. 7), als „Bestandteil der Sozialwelt“, als „Sozialweltliches Orientierungsmuster“, als „Regelsystem“ (Fischer/Kohli 1987, S. 6). Mit dieser eigenwilligen Definition sind unter anderem drei Einstellungen verbunden: Da ist zum einen eine Umkehrung der Blickrichtung. In dem hier vorgestellten Biographieverständnis ist der Blick vom biographischen Subjekt auf die Gesellschaft gerichtet, im soziologischen Biographieverständnis ist der Blick von der Gesellschaft auf das Individuum gerichtet. – Da ist zum zweiten die Identifizierung und Hervorhebung besonderer biographiebezogener Strukturen in der Gesellschaft. Die Aufmerksamkeit ist nicht gerichtet auf die Sozialwelt im Ganzen, sondern auf einen „Bestandteil“, auf spezifische Strukturen, in denen die Gesellschaft auf die Tatsache der Biographie, auf die Gegebenheit individueller Lebensläufe reagiert. Das sind beispielsweise Initiationsriten, Ausbildungseinrichtungen, Altersnormen oder Karrieremuster. – Da ist zum dritten eine Art Hypostasierung dieser auf die Tatsache individueller Biographien bezogenen gesellschaftlichen Strukturen. Im soziologischen Biographieverständnis erscheinen sie nicht mehr als Gegenüber, sondern als Zentrum, als das, was die Biographie macht und ausmacht. Sie erscheinen als ein Gebilde außerhalb der einzelnen Menschen, „das Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen hervorbringt“ (Völter u.a. 2005, S. 7), so als wäre die „Biographie“ ein Konstruktionsbüro, das Biographien produziert. Vom Standpunkt der Soziologie mag dieses Verständnis verständlich und vertretbar sein. Aus bildungstheoretischer Sicht halte ich die Umdeutung des Biographiebegriffs für verwirrend und die Hypostasierung der biographiebezogenen Gesellschaftsstrukturen für problematisch und überflüssig. Die in der Tatsache der Biographie in Erscheinung tretende Dialektik von Individuum und Gesellschaft wird meines Erachtens nicht dadurch aufrechterhalten, dass man sie in einem künstlichen Konstrukt zusammenfasst, sondern nur dadurch, dass man sie als dramatische Interaktion und Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedenen Antagonisten zur Geltung bringt. Abgesehen davon ist es zweifellos von großer Bedeutung für die Biographieforschung, diese Art von biographiebezogenen sozialen Strukturen zu erfassen und auch zu untersuchen, wie die Individuen mit ihnen in ihren Biographien umgehen, wie sie sich von ihnen herausfordern lassen, sie aneignen, benutzen, variieren, abwandeln, unterlaufen, sich ihnen widersetzen oder auch an ihnen scheitern. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Arten von Strukturen. Das sind zum einen reale soziale Strukturen: Institutionen, wie beispielsweise alle Erziehungseinrichtungen, formale gesetzliche Regelungen, die das Alter betreffen. Und formale Laufbahnbestimmungen über Zulassungen und Entlassungen, Examen und Zertifikate, Beförderungen und Ausschlüsse, Gratifikationen und Sanktionen. Aber vor allem auch mehr oder weniger formalisierte Regelungen wie Übergangsrituale und Begrüßungs- oder Abschiedszeremonien. Und informelle Praktiken wie Kinderarbeit oder altersbedingte Entlassungen. Bis hin zur Diskriminierung und Tabuisierung abweichender Verhaltensweisen und Beziehungen. Das sind zum anderen mentale Strukturen: Vorstelllungen über einen normalen oder anzustrebenden Biographieverlauf, seine Bewertung als Aufstieg oder Abstieg. Und Daten, Ziele, Zuordnungen und Vorbilder, an denen sich das Individuum orientieren kann. Dann aber auch die Formate und Stile von Lebensbeschreibungen und die genauere Untersuchung
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der jeweiligen Erzählsituation und Produktionsbedingungen, in denen sie entstehen – Beichte, Verhör, Vorstellungsgespräch, Gedenkrede oder Lebensrückblick. Ein besonderes Problem für die soziologische Betrachtungsweise ist der Umgang mit den Momenten der Emergenz, mit dem Unerwarteten, Unberechenbaren, Unvorhergesehen und Neuen, das in jeder Biographie überraschend in Erscheinung tritt oder treten kann. Solche Momente der Emergenz werden nicht nur vom Subjekt hervorgebracht als Ergebnisse von Lernprozessen – als Einfälle und Ausfälle, als plötzliche Entscheidung oder innere Wandlung, Aufbruch oder Bekehrung. Sie werden dem biographischen Subjekt auch aus seiner Umwelt und aus der Gesellschaft zugespielt oder aufgezwungen als Auswirkungen von Wandlungsprozessen – als Zufälle, Vorfälle, Unfälle, als befremdliche Irritierungen oder als gewaltsame Einbrüche, als Entlassungen, Einberufungen, Krankheit oder Flucht, als Inflation, Revolution oder Krieg. Das sind Ereignisse, die in den auf Biographie bezogenen gesellschaftlichen Strukturen zunächst nicht vorgesehen sind, die diese vielmehr unterbrechen und außer Kraft setzen. Dennoch stellt sich auch die Gesellschaft auf sie ein ebenso wie das Individuum. Sie tut das unter anderem, indem sie solche emergenten Ereignisse und Konstellationen in Gestalt von Geschichten, in Anekdoten, Märchen, Mythen und historischen Erzählungen in ihrem Gedächtnis aufbewahrt und Institutionen oder Rituale erfindet, die die belastenden Folgen abfangen und aufarbeiten oder antizipieren. So gehört auch die Einbindung individueller Erinnerungen in kollektives Gedenken und Gedächtnis und die Übernahme öffentlicher Deutungsmuster in die autobiographische Besinnung zu den Formen der Einwirkung der Gesellschaft auf den biographischen Prozess. – Neben dem Grundbegriff der Biographie, in den vier Bedeutungen, die ich hier vorgestellt habe, spielen noch zwei weitere Begriffe, die auch sprachlich mit dem der Biographie verbunden sind, für die Dimensionierung des Gegenstandsbereichs der Biographieforschung eine wichtige Rolle. Das sind die Begriffe „Biographisierung“ und „Biographizität“. Der Begriff der Biographisierung verweist auf die evolutionäre Dimension der Biographie. Er stellte sich ein im Zusammenhang der Debatte um Individualisierungsprozesse in der modernen Gesellschaft. Dabei geht es um die Freisetzung der Individuen aus traditionellen Bindungen und Zwängen (Beck 1986, S. 205ff.; Brose/Hildenbrand 1988). Doch er reicht in seiner inhaltlichen Bedeutung weit über diesen Zusammenhang hinaus. Er bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen so etwas wie Biographie möglich und wirklich wird, und er bringt zugleich zum Ausdruck, dass diese Bedingungen nicht einfach gegeben sind und feststehen, sondern sich ständig erweitern und verändern. Er lenkt den Blick auf die Gattungsgeschichte, auf die evolutionäre Dimension der Biographie. So kommt dem Begriff zunächst eine anthropologische Bedeutung zu: Man könnte von einer Biographisierung des Lebens in der menschlichen Gattung sprechen. Erst mit Erscheinen des homo sapiens nimmt Leben als Prozess zwischen Keim und Frucht beziehungsweise zwischen Erzeugen und Sterben den Charakter einer Biographie an – dies aber so, dass er für lange Zeit nicht in Erscheinung tritt. Die Notwendigkeit das Leben als Biographie zu gestalten, entsteht und wächst mit dem kulturellen Angebot von Optionen und Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten der Lebensführung und Lebensweise. Dieses Angebot ist zunächst vergleichsweise nur gering. Aber es wächst ständig im Zusammenhang mit den Prozessen der Arbeitsteilung, Wissensvermehrung, Mobilisierung und Pluralisierung menschlicher Gesellschaften. In der Moderne nimmt diese Entwicklung einen Steigerungsgrad an, der zu neuen sozialen Strukturierungen Anlass gibt. Dies ist der Ansatzpunkt für die soziologische Bedeutung des Begriffs: „Diese Zunahme des Fächers verfügbarer Orientierungs- und Handlungs-
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alternativen und damit die erhöhte Notwendigkeit von Selbstthematisierung im Hinblick auf die eigene Lebensplanung ist gemeint, wenn von ‚Biographisierung‘ ... gesprochen wird“ (Fischer/Kohli 1987, S. 40 ff.). Einige Autoren beziehen diesen Begriff nicht nur auf die Bedingungen der biographischen Prozesse, sondern auf diese selbst. So spricht Werner Fuchs von „Biographisierung der Lebensführung“, und er meint damit, dass die Lebenswege der Erwachsenen sich in der Gegenwart immer vielseitiger und risikoreicher zu gestalten scheinen und dass die Erwachsenen sich daher auch immer früher auf autobiographische Reflexionen und immer häufiger auf biographische Umorientierungen oder Neuanfänge einlassen (Fuchs 1983, S. 366; vgl. auch Marotzki 2000, S. 179). Allerdings: auf Biographie als reales Leben bezogen, erscheint der Begriff fragwürdig. Wenn man mit Biographie im Sinne des griechischen Wortes „bios“ so etwas wie Lebensführung meint, welchen Sinn hat es dann von „Biographisierung der Biographie“ zu sprechen? Außerdem darf man auch bezweifeln, ob die Lebensführung in vormodernen Zeiten weniger risikoreich als heute war. Wohl aber gibt es heute sehr viel mehr Anlässe und Angebote für lebensbedeutsame Entscheidungen und insofern entwickeln die einzelnen Menschen auch zunehmend einen höheren Grad an Bewusstheit für den biographischen Prozess, den sie vollziehen. Wenn dieser Zuwachs an Bewusstheit gemeint ist, dann wäre es allerdings zutreffender, statt von „Biographisierung“ von „Autobiographisierung“ zu sprechen. Dieser Vorgang, das „selbstreflexiv“ Werden der Biographie, setzt in Europa gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der ersten Veröffentlichung einer größeren Zahl von Autobiographien ein. Der Begriff der „Biographizität“ deutet auf die pädagogische Dimension der Biographie hin. Der Begriff selbst wurde von Martin Kohli zunächst in einer anderen Bedeutung in den biographischen Diskurs eingebracht. Er bezeichnet mit ihm neben „Kontinuität“ und „Sequenzialität“ einen dritten wesentlichen Aspekt des Prozesses der Individualisierung des Lebenslaufs, also ein Merkmal der Organisationsformation, mit der moderne Gesellschaften auf das Problem der Individualisierung antworten (Kohli 1988, S. 37). Kohli erläutert diesen Begriff mit dem nicht leicht zu verstehenden und missverständlichen Zusatz: „... im Sinne eines Codes von personaler Entwicklung und Emergenz“. Dieser Zusatz wäre weniger missverständlich, wenn Kohli statt von „Biographizität“ von „Offenheit“ gesprochen hätte, von „Offenheit für personale Entwicklung und biographische Emergenz“, d.h. für unvorhersehbare Ereignisse und Entscheidungen. Entwicklung und Emergenz sind Eigenschaften, die nicht den gesellschaftlichen Strukturen, dem „Laufbahnregime“ zukommen, sondern dem Individuum. In Bezug auf das Individuum übernimmt Peter Alheit den Begriff der Biographizität. Er bezeichnet damit zunächst ungefähr dasselbe, was ich in diesem Artikel als „biographisches Potential“ beschrieben habe. So spricht er von „Biographizität“ als „Lernpotential“ oder als „Potential transitorischer Bildungsprozesse“ (Alheit 1995, S. 276 und 301) oder auch von einem „Vermögen moderner Individuen, neue, auch riskante Erfahrungen an einen ‚inneren Erfahrungscode‘ anzuschließen“ (Alheit 2003, S. 25). – Alheit verwendet diesen Begriff aber auch noch in einer anderen spezielleren Bedeutung. Er bezeichnet mit ihm eine Art „Schlüsselqualifikation“ – nämlich „die Fähigkeit, moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren“ (Alheit 1995, S. 292; auch 2003, S. 25) – Schließlich spricht er auch von der „Biographizität des Sozialen“ und meint damit die Stationen oder Stufen in sozialen Laufbahnen (a.a.O. S. 289; vgl. auch Alheit/Dausien 2000). Das aber entspräche eher dem, was Kohli „Sequentialität“ nennt und wäre nicht dem Individuum, sondern den gesellschaftlichen Strukturen zuzuschreiben.
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Um die unnötige Konfusion oder Doppelung von Begriffen zu vermeiden, plädiere ich dafür, den Begriff im Sinne der Kennzeichnung einer Schlüsselqualifikation zu verwenden. Mit „Biographizität“ sollten wir im biographischen Diskurs die Fähigkeiten und das Wissen, die wir benötigen, um die Anforderungen an die Gestaltung einer Biographie im Zeitalter fortgeschrittener Biographisierung zu bewältigen und um uns der Stärken in unserem biographischen Potential zu vergewissern. So verstanden ist Biographizität nicht dasselbe wie das biographische Potential, sondern eine zusätzliche Ressource. Das biographische Potential bildet sich weitgehend unbewusst und bringt sich zur Geltung, ohne dass wir es richtig begreifen. Mit Biographizität dagegen meinen wir hier eine bewusste Anstrengung, über die Bedingungen, Voraussetzungen, Ansprüche und Probleme der biographischen Gestaltung des Lebens aufzuklären. Diese Anstrengung kann vom Individuum selbst ausgehen, indem es sich und sein bisheriges, aber auch künftiges Leben der autobiographischen Reflexion aussetzt – ein Tagebuch führt oder Stücke seiner Lebensgeschichte ausarbeitet. Diese Anstrengung kann aber auch von anderen ausgehen, insbesondere von pädagogischen Institutionen und in pädagogischen Veranstaltungen, in der Erwachsenenbildung oder in der Ausbildung von Lehrern, Erziehern und Sozialarbeitern. Viele Angebote sind denkbar beispielsweise die Technik der „Guidet Autobiography“ (siehe Mader 1989), Übungen zur biographischen Selbstreflexion (Gudjons/Pieper/Wagner 1986) oder die Einrichtung einer autobiographischen Schreibwerkstatt. Die Entwicklung und Förderung von Biographizität – d.h. die Aufklärung über die Bewältigung der biographischen Aufgabe in der fortgeschrittenen Moderne – ist der konkrete Ansatzpunkt für den praktischen pädagogischen Umgang mit Biographie.
2. Die Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft Biographieforschung ist keine eigene Wissenschaft. Aber sie ist auch keine Teildisziplin einer bestimmten Wissenschaft, sondern Teildisziplin in einer Reihe von Humanwissenschaften. Das sind unter anderem: Soziologie, Psychologie, Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Volkskunde, Ethnologie und Erziehungswissenschaft (Jüttemann/Thomae 1998). In diesem Umfang ist Biographieforschung interdisziplinär. Allerdings wird man feststellen, dass die Beziehungen zwischen den Teildisziplinen in den beteiligten Wissenschaften noch schwach entwickelt sind. Doch das kann sich ändern, wie man in der Zeitschrift BIOS verfolgen kann. In meinem Beitrag zur ersten Auflage dieses Handbuchs habe ich in einer zweiten Übersichtsskizze anzudeuten versucht, wo die Schwerpunkte der verschiedenen Teildisziplinen innerhalb des Gegenstandsbereichs der Biographieforschung liegen, auf welche Themenkomplexe sie ihre Aufmerksamkeit richten und mit welchen Konzepten sie diese zu anzugehen suchen (Schulze 1999, S. 41). Hier werde ich mich darauf beschränken, die Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft zu erläutern. Erziehungswissenschaft und Biographieforschung entstammen derselben historischen Ausgangssituation. Beide gehen aus den gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu Beginn der Neuzeit in Europa hervor. In beiden tritt ein Interesse an Aufklärung und Bildung der Menschen, an der Entfaltung ihrer Kräfte und an der Vielfalt ihrer Lebensentwürfe in Erscheinung: „Leben lernen“ (Rousseau), „Mensch werden“ (Kant), „Entwicklung der
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persönlichen Eigentümlichkeit“ (Schleiermacher). Das war gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Schulze 2002a, S. 22f.). Dann aber gingen beide lange Zeit getrennte Wege. Erst in einer langsamen und schrittweisen Annnäherungen treffen beide in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zusammen. Immer schon galt das Interesse der Historiker in der Pädagogik dem Leben und dem Wirken bedeutender Pädagogen, Erzieher und Erzieherinnen, und viele von diesen haben sich selber ausführlicher zu ihrer Entwicklung, ihren Erfahrungen und ihrer pädagogischen Arbeit in autobiographischen Texten geäußert. Außerdem waren die Historiker auch an den Autobiographien von Nicht-Pädagogen interessiert, wenn sie aus ihnen Sachinformationen zur Erziehungs- und Schulgeschichte entnehmen konnten (z.B. Blättner 1960). Doch in beiden Ausrichtungen galt das Interesse vornehmlich der Erziehung, kaum der Biographie. Das ändert sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Theoriekomplexen und pädagogischen Praxisfeldern finden Entwicklungen statt, in den Lebensläufe und lebensgeschichtliche Erfahrungen an Bedeutung gewinnen. Da ist zunächst die Sozialisationsforschung: War in der klassischen Pädagogik vornehmlich der Blick auf die intentionale Erziehung gerichtet, tritt mit der Sozialisationsforschung in der Pädagogik die funktionale Erziehung in den Vordergrund. Die Aufmerksamkeit gilt den Lebensumständen und Sozialverhältnissen, in denen Kinder und Jugendliche heranwachsen. (Hurrelmann/Ulich 1991; Hoerning 2000; Tillmann 2001; Dausien 2002; siehe auch Cloer in diesem Band). Neben Beobachtungen und Beschreibungen in sozialen Feldern, werden auch autobiographische Erzählungen in biographischen Interviews für die empirische Forschung wichtig. Sammlungen von autobiographischen Texten tragen wesentlich zur Sozialgeschichte der Kindheit bei (Ariès 1975; Hardach-Pinke/Hardach 1978; Weber-Kellermann/Falkenberg 1992; Behnke/Zinnecker 2001). Dann ist da die Bildungstheorie: Obgleich schon früh das Konzept der Bildung in Verbindung mit einer individuellen Biographie gedacht und vorgestellt wurde, befasste sich die Bildungstheorie erst relativ spät ausdrücklich mit autobiographischen Texten und biographischen Prozessen. Doch inzwischen weisen Bildungstheoretiker auf die Bedeutsamkeit von lebensgeschichtlichen Erfahrungen und inneren Wandlungsprozessen hin und belegen ihre Hinweise mit differenzierenden Untersuchungen (früh schon Henningsen 1981; dann Mollenhauer 1983; Marotzki 1990, 1991; Müller 2004). Dann ist da die Erwachsenenbildung: Pädagogik war lange Zeit fast ausschließlich auf die Kindheit und das Jugendalter ausgerichtet. Mit der Mündigkeit endet die Erziehung – so hieß es. Doch in dem Maße in dem Menschen auch in späteren Lebensabschnitten bis ins hohe Alter auf Förderung und Weiterbildung oder auf Unterstützung, Beratung und Hilfen angewiesen sind, erweitert sich der Horizont der Erziehungswissenschaft. Insbesondere in der Erwachsenenbildung beginnt man sich – nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch – mit Biographien, Karrieren und Lebensverläufen unter vielfältigen Gesichtspunkten zu beschäftigen (Alheit 1990; Hoerning u.a. 1991; Kade/Seitter 1998, siehe auch Alheit/Dausien in diesem Band). Erziehung wird verstanden als „Formung des Lebenslaufs“ (Luhmann 1997). Und da ist neuerdings die pädagogische Lernforschung: Neben dem breit angelegten Interesse an lebenslangem Lernen (DGfE-Kongress 2004 in Zürich), findet jetzt auch „informelles Lernen“ eine verstärkte Beachtung (schon Faure u.a. 1973; Wittwer/Kirchhoff 2003; Overwien u.a. in ZfE 8. Jg./H. 3, 2005). Ich selber habe in der letzten Zeit mehrfach auf die zentrale Bedeutung komplexer und längerfristiger Lernprozesse für die Erziehung aufmerksam ge-
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macht (Schulze 2001, 2003, 2006 a und b). In diesem Zusammenhang spielt der Prozess biographischen Lernens forschungs- und theoriestrategisch eine wichtige Rolle (Schulze 2005). Daneben ließen sich noch weitere erziehungswissenschaftliche Forschungsrichtungen und pädagogische Aufgabenfelder anführen, von denen zunehmend Hinweise auf biographiebezogene Themen und Anstöße zu biographiebezogenen Untersuchungen ausgehen: die Frauenforschung (Dausien 2005; siehe auch Kraul in diesem Band), die interkulturelle pädagogische Forschung (Apitzsch 1999; siehe auch Renner und Apitzsch in diesem Band), die phänomenologisch orientierte Erziehungswissenschaft (schon früh Loch 1979; siehe auch Loch in diesem Band) und die psychoanalytische Pädagogik (Bittner/Fröhlich 1997; Kraft 2006). Darüber hinaus spielt auch die Auseinandersetzung mit den Wandlungen und Einbrüchen der deutschen Gesellschaft in der neueren Geschichte eine wichtige Rolle für das wachsende Interesse an Biographiegraphien – auch in pädagogischen Kontexten. Gedenktage und der Besuch von Gedenkstätten oder Ausstellungen geben immer wieder erneut Anlässe zu Gesprächen zwischen den Generationen in der Familie, zu Thematisierungen im Unterricht, zu Zeitungsartikeln und Gedenkreden und zu biographischen Untersuchungen über die Erfahrungen im Nationalsozialismus, im Krieg oder bei der Wiedervereinigung (z.B. Fischer-Rosenthal/Ahlheit 1995; Welzer u.a. 2002) Inzwischen ist es sinnvoll und möglich, alle diese Zuwendungen zu biographischen Themen und Zugriffe auf biographische Materialien und Konzepte zusammenzufassen und die Bedeutung der Biographieforschung für die Erziehungswissenschaft noch grundsätzlicher zu formulieren. Mit der Integration der Biographieforschung erhält die Erziehungswissenschaft vor allem in zweierlei Hinsicht einen erheblichen Zugewinn. Das gilt zum einen in methodischer Hinsicht und zum anderen in systematischer Hinsicht. In methodischer Hinsicht gewinnt die Erziehungswissenschaft in der Beschäftigung mit autobiographischen Erzählungen und Texten nicht nur eine ergiebige Quelle für pädagogisch relevante Sachverhalte unterschiedlicher Art, sondern auch Anstöße und Herausforderungen zu neuen methodischen Vorgehensweisen und Auswertungsverfahren. Die Biographieforschung hat maßgeblich zur Entfaltung des Methoden-Paradigmas einer qualitativen empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften beigetragen (die Zeitschrift ZBBS; Friebertshäuser/Prengel 2003; Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003; siehe auch Marotzki in diesem Band). Und zahlreiche Untersuchungen, die man im weiteren Sinne der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern und Teildisziplinen zurechnen könnte, sind in erster Linie an autobiographischen Materialien und an der „biographischen Methode“ interessiert, weniger an den inhaltlichen Problemen des Gegenstandsbereichs. Ihre Fragestellungen und Auswertungskonzepte sind jeweils dem Forschungszusammenhang des Arbeitsfeldes oder der Teildisziplin entnommen und ihre Ergebnisse werden dort zugeordnet und ausgewertet. Ich habe diese Art biographisch orientierter Pädagogik „subsidiär“ genannt im Unterschied zu einer „substantiellen“ Orientierung, in der das Forschungsinteresse der Biographie selbst gilt (Schulze 1992, S. 271ff.). Autobiographische Erzählungen, Texte und Materialien eröffnen einen Zugang zu pädagogisch relevanten Sachverhalten auf unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit sowie in unterschiedlichen Theorie-Horizonten. Sie eröffnen nicht nur einen Zugang zu den psychischen Strukturen des biographischen Subjekts und den Bedingungen, Umständen und Formen der biographischen Arbeit und des biographischen Lernens und auch nicht nur zu den Voraussetzungen, Prozessstrukturen und Verlaufsmustern gesamtbiographischer Prozesse und Lebensläufe, sondern auch zu der Anregungen und Widerständen in konkreten Lebenswelten und Erfahrungsräumen oder den Strukturen sozialer Räume und Tätigkeitsfelder und
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auch zu Erfahrungen in historischen Wandlungs- und Transformationsprozessen, zu historisch bedeutsamen Emanzipations- oder Deformationsverläufen und zu den Herausforderungen der Modernisierung (Schulze 2002 a, S. 30ff. und 2002 b, S. 137ff.) Das autobiographische Datenmaterial schafft vornehmlich zwei methodische Probleme, mit denen sich die Biographieforschung immer wieder auseinandersetzen muss. Das eine ist das Problem der Subjektivität: Immer wieder wird der Biographieforschung vorgeworfen, die Daten, auf die sie sich stützt, seien unzuverlässig, subjektabhängig, entsprächen nicht der objektiven Wirklichkeit. Dieser Einwand geht von einer falschen Vorraussetzung aus. Die autobiographischen Äußerungen eröffnen nicht primär einen Zugang zu objektiven Sachverhalten und Tatsachen, zu gesellschaftlichen Strukturen und historischen Ereignissen, sondern zu der Art und Weise wie diese auf die einzelnen Individuen treffen und einwirken, wie die Individuen sie aufnehmen, verarbeiten, beantworten. Auch die Reaktionen und Aktionen, die Erlebnisse und Erfahrungen der Individuen sind reale Gegebenheiten. Das subjektive Moment, das ihnen anhaftet, ist ein wesentlicher Bestandteil und das eigentlich Bedeutsame an ihnen. So sind auch die Widersprüche und Widerstände, die Auslassungen und Ausschmückungen, die Verleugnungen und Verdrängungen, die Rechtfertigungen, Selbsttäuschungen und absichtlichen Verfälschungen in den autobiographischen Äußerungen keine Behinderungen für den Erkenntnisprozess, sondern – im Gegenteil – wichtige Hinweise und Anhaltspunkte. So viel steht fest: Das autobiographische Material bedarf der Interpretation, und es gibt etliche hermeneutische Verfahren, die es ermöglichen, den autobiographischen Erzählern auf die Spur zu kommen. Das andere methodische Problem ist das der Verallgemeinerung: Wissenschaften drängen auf Verallgemeinerung, auf verallgemeinerbare Aussagen. Der Biographieforschung wird immer wieder vorgeworfen, sie beschäftige sich nur mit einzelnen Fällen, bleibe in ihren Aussagen beschränkt auf einzelne Individuen, ihre Ergebnisse seien nicht verallgemeinerbar. Auch dieser Einwand beruht auf einer Unbestimmtheit dessen, was man als das Allgemeine ansieht, und auf einer einseitigen Vorstellung von Verallgemeinerung durch quantitative, statistische Auswertungsverfahren. Eine differenziertere Betrachtung von Verallgemeinerung ist erforderlich. Gabriele Rosenthal weist auf den Unterschied zwischen numerischer und theoretischer Verallgemeinerung hin (Rosenthal 2005, S. 49f.). Die Biographieforschung leistet eine theoretische Verallgemeinerung am Einzelfall auf der Grundlage von kontrastiven Vergleichen mehrerer Fälle. Vom Einzelfall wird nicht auf eine große Zahl von Fällen oder alle möglichen Fälle geschlossen, sondern zunächst nur auf „gleichartige Fälle“, die zu einem gemeinsamen Typus gehören. Dabei ist die Typisierung nicht vorgegeben. Sie ergibt sich vielmehr erst aus der Analyse des Einzelfalls auf Grund der sich einstellenden Vergleichmöglichkeiten. Biographieforschung leistet Typenbildung. Ihre Typisierungen haben hypothetischen Charakter. Eine Typenbildung ist in der Regel in verschiedene Richtungen möglich. Welch eine Art Typus sich bildet, wird bestimmt von dem, was man als gleichartig ansieht, d.h. von den zum Vergleich herangezogenen Fällen. Es hängt also von der Physiognomie des Ausgangsfalles und den bereitstehenden Vergleichsmöglichkeiten ab, aber auch von der heuristischen Einstellung des Forschers und seinem Erkenntnisinteresse, was am Ende als Typus in Erscheinung tritt. – Gabriele Rosenthal hat diese Überlegungen im Hinblick auf ihre methodischen Konsequenzen weiter präzisiert: sequentielles und rekonstruktives Vorgehen bei der Interpretation verbunden mit einer Ausarbeitung des historischsozialen Kontextes mit Hilfe ergänzender Verfahren (a.a.O. S. 49). Hierzu gehört meines Erachtens auch, dass der individuell-biographische Kontext der autobiographischen Erzäh-
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lung voll ausgeschöpft wird. So erfährt bereits der einzelne Fall eine Ausdehnung ins repräsentativ Allgemeine. Aber auch noch in einer anderen Hinsicht ist die Frage der Verallgemeinerung in der Biographieforschung klärungsbedürftig – nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich. Welcher Art ist das Einzelne eigentlich, von dem die Verallgemeinerung ausgeht, und welcher Art ist das Allgemeine, auf das sie zielt? In den Sozialwissenschaften kann man davon ausgehen, dass mit dem Allgemeinen in erster Linie die umfassenden sozialen Allgemeinheiten gemeint sind wie Geschlecht, Altersstufe, soziale Schicht, Generation, Nation und ethnische Zugehörigkeit, Religionsbekenntnis und eventuell noch die politische Grundeinstellung – eher konservativ oder eher progressiv. Ich nenne diese Art von Allgemeinheit das „allgemeine Allgemeine“ in den Sozialwissenschaften. Die Biographieforschung unterläuft diese Ebene der Allgemeinheit. Sie bringt das „besondere Allgemeine“ zum Vorschein (Schulze 1997). Das sind zum einen alle sozialen Erscheinungen, in denen das Individuum unmittelbar agiert und in denen es konkret mit den gesellschaftlichen Strukturen zusammenstößt: Gruppierungen, Erfahrungsräume, Netzwerke, Traditionen und Institutionen. Das sind zum anderen die besonderen nichtvoraussehbaren Situationen, Vorfälle und Ereignisse, die den Verlauf der Biographie artikulieren oder unerwartet verändern. Das sind oft auch Situationen, Vorfälle und Ereignisse, in denen der historische Wandel der Gesellschaft erfahrbar wird. Den Zugewinn in systematischer Hinsicht kann man sich vielleicht am besten verdeutlichen, wenn man sich die Struktur der Erziehungswirklichkeit vergegenwärtigt. Ich habe seinerzeit versucht, diese Struktur in einer graphischen Skizze vorzustellen (Schulze 2002b, S. 133):
Im Mittelpunkt dieser Skizze erscheint die klassische pädagogische Kunstfigur des pädagogischen Bezuges, die Interaktion eines „Erziehers“ mit einem „Zögling“. Auf der einen Seite dieser Interaktion: die Figur des „Erzieher“ – ein Erwachsener, Eltern, ein Lehrer oder eine Lehrerin, ein Seminarleiter, ein Betreuer, ein Berater oder sonst jemand, der in irgendeiner Weise pädagogisch tätig ist. In der Regel ist der „Erzieher“ eingebunden, die Interaktion eingebettet in eine pädagogische Institution, und die pädagogische Institution ist ihrerseits eingelagert in ein umfassenderes pädagogisches Sozialsystem – das System der Kindergärten und Kindertagesstätten, der Schulen und Hochschulen, der Erwachsenenbildung, der
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Fürsorgeeinrichtungen oder der Altenbetreuung. Pädagogische Tätigkeit besteht nur zu einem Teil im unmittelbaren Umgang mit Zu-Erziehenden, Zu-Bildenden oder Zu-Betreuenden. Ein immer größerer Teil gilt der Planung, Organisation und Verwaltung der pädagogischen Institutionen und Systeme. Daher habe ich der Figur des Erziehers die des „Bildungspolitikers“ an die Seite gestellt. Die pädagogischen Institutionen und Systeme sind wiederum soziale Formationen im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft. So weit die Seite des „Erziehers“. Auf der anderen Seite der pädagogischen Interaktion: die Figur des „Zöglings“ oder des „Zu-erziehenden“ – ein Kind, ein Heranwachsender, ein Erwachsener, der Hilfe, Fürsorge, Rat oder Anregungen, Förderung und Gelegenheiten zur Weiterbildung sucht, braucht, beansprucht. Der „Zu-Erziehende“ ist in jedem Fall und zuerst ein Lernender. Die Bemühungen der Erziehenden können nur dann wirksam werden, wenn sie der „ZuErziehende“ in Lernen verwandelt. Für den Lernenden wird das, was er lernt wiederum nur bedeutsam im Zusammenhang seines Lebens, im Zusammenhang seiner Biographie. In der Gestaltung der Biographie wirken sich nicht nur pädagogische intendierte und formalisierte Lernprozesse sondern auch zahllose informelle Lernprozesse und Einflüsse der Umwelt aus. Und der Verlauf der Biographie ist eingelagert in eine Umwelt, in einen soziokulturellen Raum, der sich selber in Bewegung ist. Er bewegt sich in unauffälligen Wandlungsprozessen oder auch in abrupten Einbrüchen und Umbrüchen. Und auch hier ist Lernen im Spiel, kollektives und evolutionäres Lernen. Bisher war die Erziehungswissenschaft vornehmlich um Aufklärung und Erforschung auf der Seite der „Erzieher“ und „Bildungspolitiker“ bemüht. Der systematische Zugewinn durch die Biographieforschung besteht darin, dass mit ihrer Hilfe nun auch die Seite der Lernenden im Zusammenhang ihres Lebens deutlicher in Erscheinung tritt (siehe Skizze in Schulze 2002b, S. 134).
3. Schlussbemerkung Die öffentliche Erziehung ist ein Handeln des Allgemeinen, das auf die einzelnen Individuen gerichtet ist, und dieses Handeln ist nur da erfolgreich, wo es jedes einzelne Individuum in seiner Besonderheit erreicht. Aber es erreicht sie nur in Formen der Verallgemeinerung – in Gruppen, Haufen, Horten, Klassen, Kursen, Heimen und Anlaufstellen. Und auch die Erziehungswissenschaft begreift die Individuen nur in einer verallgemeinerten Abstraktion – als Zugehörige einer sozialen Gruppe, als Mitglied einer pädagogischen Institution, als Element in einer Menge, als statistische Größe in einer Population oder als Platzierung auf einer Rankingskala. Das gilt auch für die Biographieforschung. Auch in ihr steht die einzelne Lebensgeschichte als ein Fall in einer Gruppe von Fällen für einen Typus, eine Konstellation, ein Milieu, einen Habitus oder ein Verlaufsschema. Doch da gibt es einen Unterschied: Die Beschäftigung mit autobiographischen Erzählungen und Texten führt uns immer wieder zurück in die konkrete Anschauung des Individuellen, zurück zu den einzelnen Individuen, zu der Sicht, in der sie ihr eigenes Leben und die Welt, in der sie leben, sehen, und zu der Sprache, in der sie davon sprechen. Und die Beschäftigung mit literarischen Autobiographien, zeigt uns andere Möglichkeiten, die subtile Gefühlsqualität der Erlebnissen, den verborgenen Gehalt der Erfahrungen, die differenzierten Verflechtungen der Lebensgeschichte und das komplexe Zusammenwirken von Ereignis, Erlebnis, Erinnerung, Bericht und Deutung in autobiographischen Erzählungen aus-
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zudrücken und zu erproben, als die, die in der Sprache der Wissenschaft geläufig sind. Auch das ist ein Gewinn. Am Ende meines Beitrags zur ersten Auflage dieses Handbuchs habe ich auf die „Spoon River Anthology“ von Edgar Lee Masters hingewiesen, in der er in über zweihundert Gedichten die Toten auf dem Friedhof von Spoon River aussprechen lässt, was sie als die Summe ihres Lebens ansehen. Das ist sehr lesenswert. Und ich habe zum Abschluss eines dieser Gedichte zitiert – die Stimme von Sarepta Mason. Hier will ich mit einem anderen der Gedichte schließen – mit der Stimme von Griffy dem Küfer (Masters 1959, S. 75): „Ein Küfer braucht nur alles über Fässer zu wissen. Aber ich habe auch viel über das Leben gelernt. Und ihr, die ihr um diese Gräber schlendert, Meint das Leben zu kennen. Ich denke, euer Blick umfasst weite Horizonte, vielleicht – Tatsächlich starrt ihr nur in das Innere eures Fasses. Ihr reicht nicht bis zu seinen Reifen, seht nicht die Außenwelt der Dinge und damit nicht euch selbst. Ihr seid in euer eignes Fass versenkt – Tabu, Gesetz und leerer Schein Sind Dauben eures Fasses. Zerbrecht sie und den Zauberbann Zu glauben, euer Fass sei Leben, Und dass ihr dieses Leben kennt.
Literatur Alheit, Peter (1990): Der „biographische Ansatz“ in der Erwachsenenbildung. In: Mader, Wilhelm (Hrsg.): Weiterbildung und Gesellschaft. Forschungsreihe des Forschungsschwerpunkts „Arbeit und Bildung“, Bd. 17 . Bremen. S. 289-337. Ahlheit, Peter (1995): „Biographizität“ als Lernpotential: Konzeptionelle Überlegungen zum biographischen Ansatz in der Erwachsenenbildung. In: Krüger, Heinz-Hermann/ Marotzki, Winfried (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen. S. 276-307. Alheit, Peter (2003): Biographizität. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried/Meuser, Michael (Hrsg.): Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung. Opladen. S. 25. Alheit, Peter/Dausien, Bettina (2000): Die biographische Konstruktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Biographizität des Sozialen. In: Hoerning, Erika M. (Hrsg.): Biographische Sozialisation. Stuttgart. S. 257-283. Apitzsch, Ursula (Hrsg.) (1999): Migration und Traditionsbildung. Opladen. Arbeitsgruppe Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in der DGfE (1998): Magdeburger Bibliographie zur Biographieforschung . 3. Aufl. Universität Magdeburg. Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München/Wien. Bartmann, Sylke (2005): Ressourcen im Biographieverlauf. In: ZBBS 6. Jg./H. 1. S. 23-43. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (1998).: Kindheit und Biographie. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Opladen. S. 152-166. Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (Hrsg.) (2001): Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Seelze-Velber. Bittner, Günther/Fröhlich, Volker (Hrsg.) (1997): Lebensgeschichten. Über das Autobiographische im pädagogischen Denken. Kusterdingen.
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Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung Winfried Marotzki
Inhalt 1. Bildung: Der reflexive Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins 2. Was kann eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung leisten? 3. Diachrone und synchrone Aspekte von Biographisierungsprozessen Literatur
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Die Frage, ob es Sinn macht, von einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu sprechen, und damit eine Differenz zu einer soziologischen zu unterstellen, wird kontrovers diskutiert. Wenn man sich für eine solche Differenz entscheidet, dann liegt die Absicht darin, Biographieforschung stärker mit dem disziplinären Kern der Erziehungswissenschaft zu verknüpfen. Man sucht die Nähe zu Leitkategorien wie beispielsweise Lernen (Ecarius 1998; Kade/Seitter 1996; Schulz 1996) Erziehung (Loch 1979; 1995) oder Bildung, die dann die Perspektive erzeugen, unter der Biographieforschung betrieben werden soll. Da Biographieforschung bekanntlich in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen betrieben wird (z.B. Medienpädagogik, Sozialpädagogik etc.), macht es Sinn, von einer allgemeinen Biographieforschung zu sprechen, wenn man nicht die Spezifika der Teildisziplinen im Blick hat, sondern die gemeinsamen Fundamente. Da ich die Programmatik einer allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung mit einem bildungstheoretischen Zuschnitt an verschiedenen Stellen ausgeführt habe (Marotzki 1990, 1991a-c, 1996), erinnere ich hier nur kursorisch daran, dass es sich dabei um ein elaboriertes Methodologie-, Forschungs- und Theorieprogramm in zeitdiagnostischer Absicht handelt: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ist erstens – wissenschaftshistorisch gesehen – ein Amalgam verschiedener Richtungen: Pädagogischerseits sind es vor allem die Dilthey-Position und die Phänomenologie, die beispielsweise über die Alltagswende in den siebziger Jahren wirksam geworden sind. Soziologischerseits sind es die Positionen der Wissenssoziologie, Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, die beispielsweise über die Konzeption des narrativen Interviews (Fritz Schütze) wirksam geworden sind. Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ist in dieser Sichtweise eine Methodologie und ein empirisches Forschungsprogramm. Sie arbeitet zweitens in einem bildungstheoretischen Referenzrahmen, d.h. sie interessiert sich empirisch für den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung der Welt- und Selbstreferenzen von Menschen. In dieser Perspektive handelt es sich darum, empirische Anschlüsse des bildungstheoretischen Diskurses zu erreichen. Drittens versteht sie sich als Zeitdiagnose im Sinne Wilhelm Flitners. Zu den zeitdiagnostischen Elementen gehören modernitätstheoretische wie auch postmoderne Diskurse. Allen drei Hauptaspekten liegt die Frage zugrunde, wie es Menschen gelingt, sich in hochkomplexen Gesellschaften zu orientieren. In diesem Beitrag möchte ich (1.) den bildungstheoretischen Ansatz als einen existentiellen Reflexionsmodus präzisieren, (2.) die Leistungsfähigkeit der fruchtbaren Kombination von Bildungstheorie und Biographieforschung ausloten und schließlich (3.) zwei elementare Aspekte von Biographisierungsprozessen näher erörtern.
1. Bildung: Der reflexive Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins Mindestens für den klassischen Bildungsbegriff gilt, dass er in Opposition zu einer aufklärerischen Vorstellung konzipiert wurde, die den Menschen zum brauchbaren und nützlichen Glied der Gesellschaft erziehen wollte. Ein so verstandener funktionaler oder utilitaristischer Erziehungsbegriff, dem ein eben solcher didaktisierter Lernbegriff zugrunde liegt, bildet den eigentlichen Gegenpol, dessen man sich vergewissern muss, wenn man Konturen absteckt, um über Bildung reden zu können. Im Kern geht es bei einem solchen funktionalen Erziehungsprogramm um eine gesellschaftliche Ortszuweisung. Der einzelne wird in den Dienst der Gesellschaft genommen. Im Interesse der Gesellschaft – so formulierte es der
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Aufklärer Villaume – kann Gehorsam statt Vernunft, kann mechanische Fertigkeit statt Einsicht, kann Alltagszufriedenheit statt verunsicherndem Wissen gefordert sein. Ein klassisches Beispiel für diese Position ist die Emile Durkheims. Durkheim analysierte um die Jahrhundertwende ein gesellschaftliches Phänomen, mit dem wir es auch heute immer noch zu tun haben: Das Auseinanderfallen von individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Bindungen. Diesen Sachverhalt bezeichnet Durkheim als Anomie. In seiner klassischen Studie über den Selbstmord (Durkheim 1897) erprobt er dieses Erklärungsmuster in einer Weise, die auch heute an Aktualität nur wenig eingebüßt hat: Die Sinnherstellung misslinge den Menschen, von außen werde wenig konsistente Orientierung dem einzelnen geboten, die Kraft, den Sinn aus sich zu schöpfen, fehle. Aufgrund dieser Diffusion und des Chaos der Orientierungssysteme komme es zu dieser Reaktion, sich das Leben zu nehmen. Die soziologische Dimension ist deutlich: es geht um das Verhältnis von Individualität und gesellschaftlichen Regeln; die pädagogische Dimension besteht darin, zu fragen, wie angesichts anomischer Zustände Orientierung für den einzelnen möglich sei. Das ist für mich auch heute nach wie vor die entscheidende Frage, um die sich erziehungswissenschaftliche Theoriebildung, empirische Analyse und pädagogisches Handeln dreht. Das Verdienst Durkheims besteht aber ohne Zweifel darin, den Blick dafür geöffnet zu haben, dass Erziehung als soziales Phänomen betrachtet werden kann, das milieu-, gemeinschafts- und gesellschaftlichen Kräften viel stärker unterlegen sei, als wir es wahrhaben wollen. Es ist für ihn beispielsweise eine Illusion zu glauben, wir erzögen die Kinder, wie wir wollten. Wir würden vielmehr mindestens unbewusst den sozialen Regeln des Milieus, in dem wir leben, folgen. Das Milieu entfalte eine reproduzierende Kraft und setze sich hinter dem Rücken der sozialen Akteure durch. Der einzelne habe kaum eine Möglichkeit, den Einflüssen seines materiellen, sozialen und geistigen Milieus, dem er entstamme, zu entkommen. Nicht nur das, sondern es sei geradezu schädlich und gesellschaftlich auch gar nicht erwünscht, wenn der einzelne es versuche1. Im Gegensatz zu Funktionalität setzt Bildung konsequent auf Reflexivität. An die Stelle von Sozial- und Seinsformen (intentio recta) selbst tritt der vielfältig mögliche Bezug des Menschen zu diesen (intentio obliqua), treten also Denkformen. Bildungstheorie vollzieht somit eine konsequente Wende von der intentio recta zur intentio obliqua. Damit bleiben Psychologie, Soziologie und Anthropologie weiterhin zentrale Referenzwissenschaften; sie haben ihren Charakter als Begründungswissenschaft jedoch verloren. Bildungstheorie beschäftigt sich mit der zentralen reflexiven Verortung des Menschen in der Welt, und zwar in einem zweifachen Sinne: zum einen hinsichtlich der Bezüge, die er zu sich selbst entwickelt (Selbstreferenz) und zum anderen hinsichtlich der Bezüge, die er auf die Welt entwickelt (Weltreferenz). Bildung ist aus dieser Perspektive der Name für den reflexiven Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins. Der Begriff der intentio obliqua bezeichnet eine Hinwendung zur Intention selbst und ihren horizontgebundenen Grundlagen. Welt und Selbst sind somit nicht ein Gegebenes, sondern werden aufgrund unserer perspektiven- und deutungsgebundenen Wahrnehmung zu etwas, was erst hergestellt und über soziale Interaktionen aufrechterhalten oder verändert wird. Die Kraft der Reflexion ist die einer Selbstvergewisserung und Orientierung in gesellschaftlichen Verhältnissen. Ich werde in dieser Arbeit nicht die darin implizierte These ausführen und begründen, dass mit der Entwicklung der Moderne eine Steigerung von Reflexivität und Kontingenz verbunden ist. Ich gehe davon aus, dass mit Verweis auf die Modernitäts- und Postmodernitätsdebatte der letzten zehn Jahre diese These zwar umstritten, ihre Stoßrichtung aber selbstevident ist. Mir kommt es hier vielmehr darauf an, die Leistungsfähigkeit einer allgemeinen
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erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung mit einem bildungstheoretischen Zuschnitt auszuloten.
2. Was kann eine allgemeine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung leisten? Zur Dimensionierung bediene ich mich einer Strukturierung, die Immanuel Kant in seiner Logik-Vorlesung aus dem Jahre 1800 verwendet. Er formuliert dort vier Fragen, die für ihn das Feld der Philosophie sondieren: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? (Kant 1800, 448). Die erste Frage bezieht sich auf das Feld der Metaphysik, die zweite auf die Moral, die dritte auf die Religion und die vierte auf die Anthropologie.
2.1. Was kann ich wissen? Diese Frage bezieht sich bei Kant auf eine Abschätzung der Quellen des menschlichen Wissens (Metaphysik). Die Fragen, woher das Wissen kommt und wie verlässlich es ist, ob man im Vertrauen auf die Seriosität der Quellen davon Gebrauch machen kann und wer eigentlich für die Richtigkeit einsteht, sind in einer Gesellschaft, die sich auf dem Weg in eine Informationsgesellschaft befindet, zentral. In jedem Lernprozess muss die Frage, was wichtig und was nicht so wichtig ist, beantwortet werden; das war schon immer so. Aber gerade angesichts der Informationsflut, die durch das Internet über uns hereinbricht, scheint ein Informations- und Wissensmanagement gleichsam überlebensnotwendig zu werden. Insbesondere handelt es sich um zwei Arten der Ordnungsleistung, die immer stärker gefordert werden: (1) Zu einer logisch-intellektuellen Ordnungsleistung gehört neben der Fähigkeit der Wahrnehmung und der Erinnerung hauptsächlich die Fähigkeit des analytischen, rationalen, begrifflich orientierten Denkens. Der Umgang mit großen Wissensbeständen und Informationsmengen ist nur möglich bei einer klaren und konsistenten Problemorientierung. (2) Wir vollziehen eine wertende Ordnungsleistung. Menschen, Dinge und Informationen sind uns in unterschiedlichem Maße bedeutsam; wir entwickeln zwangsläufig eine gewisse, nach Werten abgestufte, Bedeutungszuschreibung aus dem Kontext unseres Lebenszusammenhanges. Das bedeutet: Wir stellen eine bewertende Rangordnung für uns her, die darüber Auskunft gibt, was für uns wichtig und bedeutsam und was nicht so wichtig und bedeutsam ist. Die Ordnungsleistung, die hier vollzogen wird, ist also eine Strukturierung nach subjektiven Relevanzen, die zu einer Werthierarchie führt und dem einzelnen eine Orientierung ermöglicht. Diese beiden Ordnungsleistungen ermöglichen nun das, was spezifisch für menschliche Existenz angesehen werden kann, nämlich die Konstitution von Sinn und Bedeutung. Sinn wird für Wilhelm Dilthey mit Hilfe des Mechanismus der Zusammenhangsbildung hervorgebracht. Die Zusammenhangsbildung ist eine Gesamtordnungsleistung, durch die Beziehungen zwischen Teilen und einem Ganzen beständig hergestellt und in neuen biographischen
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Situationen überprüft bzw. modifiziert werden. Diese Form der bedeutungsordnenden, sinnherstellenden Leistung des Subjektes wird Biographisierung genannt. Eine sinnstiftende Biographisierung gelingt nur dann, wenn es gelingt, Zusammenhänge herzustellen, die es erlauben, Informationen, Ereignisse und Erlebnisse in sie einzuordnen und Beziehungen untereinander wie auch zur Gesamtheit herzustellen. Auf diese Weise arbeiten wir ständig daran, Informationen in konsistente Wissenszusammenhänge zu überführen; und zwar Wissenszusammenhänge über uns selbst wie auch über die Welt. Die Hauptarbeit des Lebens besteht für Wilhelm Dilthey darin, dass jeder Mensch für sich erkundet, was für ihn wertvoll ist, welches für sein Leben die maßgeblichen Lebenswerte darstellen. Diesen Such- und Erprobungsprozess nennt Dilthey Lebenserfahrung (vgl. Dilthey 1907, S. 374). Bewerten heißt Bedeutung verleihen und auf diese Weise Zusammenhänge herstellen, die auf eine bestimmte Haltung und Auffassung verweist, die der einzelne sich selbst wie auch der Welt gegenüber einnimmt (Selbst- und Weltreferenz). Die Frage, um welche subjektiven Relevanzen es sich jeweils handelt, ist eine empirische Frage; eine Zentralfrage der bildungstheoretisch orientierten erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Diese Frage kann nicht normativ entschieden werden, sondern nur normativ enthaltsam in einem deskriptiven Zugang.
2.2. Was soll ich tun? Diese Frage bezieht sich bei Kant auf eine Abschätzung des Umfangs des möglichen und nützlichen Gebrauchs des Wissens (Moral). Da Wissen und Handeln nicht identisch sind, entsteht das Problem, ob ich auch alles machen soll, was ich machen kann. Die Frage zielt auf das Verhältnis von generellen zu konkreten, für mich angemessenen Handlungsoptionen. Die Realisierung konkreter Handlungsoptionen zieht innerhalb bestimmter Kontexte Folgen und ggf. auch Nebenfolgen nach sich, die intendiert sein können oder nicht, für die der Handelnde jedoch verantwortlich gemacht wird. Die Geschichte des Bildungsbegriffs zeigt eine große Variationsbreite von Bedeutungen. Hier ist nicht der Ort, diese vielschichtige Traditionslinie nachzuzeichnen (vgl. Dohmen 1964; Rauhut/Schaarschmidt 1965; Ballauff 1989; Hansmann/Marotzki 1989). Verallgemeinernd kann man jedoch sagen, dass Bildung eine Haltung des Menschen zu sich, zu anderen und zur Natur bezeichnet, die grundsätzlich Verantwortung beinhaltet. Erich Weniger beispielsweise erklärt Verantwortungsbereitschaft geradezu zum entscheidenden Kriterium für Bildung, wenn er sagt: „Bildung ist der Zustand, in dem man Verantwortung übernehmen kann“ (Weniger 1958, S. 138). Auch Wolfgang Klafki hat 1962 in seiner berühmten dritten Studie: Engagement und Reflexionen im Bildungsprozess (vgl. Klafki 1975) das Problem der Verantwortung in bezug auf den Bildungsprozess erörtert. Er fragt nach pädagogischen Bedingungen für eine Erziehung zur Verantwortungsbereitschaft in der Gegenwart. Klafki kommt zu dem Resultat, dass die Schule Erziehung zur Verantwortung ernstnehmen und aus einem relativ geschlossenen Schonraum herauskommen und sich gesellschaftlicher Wirklichkeit öffnen müsse. Sie müsse Engagement und Reflexion integrieren. Wenn also im Hinblick auf die Frage Was soll ich tun? Verantwortungsbereitschaft in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerät, dann ist damit auch das Verhältnis des einzelnen zu anderen bzw. zur Gemeinschaft berührt, denn verantwortlich bin ich in der Regel einem anderen, wenn man von dem Spezialfall, dass man sich selbst gegenüber Verantwortung trägt und tragen kann, absieht. Ähnlich wie bei der Bearbeitung der ersten Frage, kann es auch
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hier nicht um eine Entscheidung gehen, welche Verantwortung und wieviel und wem gegenüber Menschen eingehen sollten, sondern es geht auch hier um eine Beschreibung, wie Menschen mehr oder minder verantwortungsvolle Bindungen mit anderen oder einer Gemeinschaft eingehen, wie sie die Relationen von Nähe und Distanz, von Verpflichtung und Freiheit balancieren. Es geht hier also beispielsweise nicht um die Beurteilung von Weltanschauungen, sondern darum, zu studieren, welche handelnde Kraft sie entfalten bzw. nicht entfalten.
2.3. Was darf ich hoffen? Diese Frage bezieht sich bei Kant auf eine Abschätzung der Grenzen der Vernunft (Religion). Diese Frage zielt traditionell, indem sie die Grenzen von Rationalität und damit auch Wissenschaft thematisiert, auf die Frage von letzten Gewissheiten. Grenzen, das erörterte bereits Hegel in seiner Seinslogik, grenzen ein und – indem sie dies tun – auch aus. Das, was eingegrenzt wird, enthält in sich bereits den Bezug zu dem eigenen Gegenteil: Rationalität verweist auf Irrationalität, Vernunft auf Unvernunft, das Eigene auf das Fremde. Die Reflexion auf solche Grenzen bildet eine weitere Grundstruktur von Bildungsprozessen. Vielleicht kann man sagen: Bildung enthält in sich als Selbst- und Weltorientierung einen Bezug zur Transzendenz, der beispielsweise in Form von Religionen, Mythen oder magischen Gehalten zur Geltung kommen kann, aber auch durch andere Formen. Sei es, dass wir – wie Max Frisch in dem Roman Stiller – vom Geheimnis des Menschen sprechen, auf das jeder ein Anrecht hat, eine Region gleichsam, die zu betreten für andere verboten ist, oder dass wir – um Auschwitz zu verstehen – den Anderen und das Fremde als radikal Anderes neu denken müssen, wie es Emmanuel Levinas vorgeschlagen hat; sei es, dass wir uns eingestehen müssen, dass die Grenze, wo Leben beginnt, nicht wissenschaftlich beantwortbar ist. Das Umgehen mit solchen Grenzen ist traditionell eine Grundstruktur von Bildung. Die Reflexion auf solche Grenzen, seien es die zwischen Leben und Tod oder die zwischen dem Handeln und den Folgen unter der Perspektive der Verantwortung ist per definitionem Bildungsarbeit. Auch hier wiederum – zum dritten – geht es nicht darum, zu deduzieren, wie Menschen mit Grenzen umgehen sollen, sondern es geht um sensible Beschreibungen, wie Menschen mit Grenzerfahrungen und Grenzziehungen umgehen, wie flexibel oder restriktiv solche Grenzen gezogen werden, ob sie Grenzen als Herausforderungen erleben oder eher als unüberwindbare Schranken, ob sie sie akzeptieren oder ablehnen. Die Expansion von Komplexität einerseits und die Endlichkeit der Mittel, sie zu begreifen, andererseits zwingt zu einer Anerkennung von Grenzen. Aber wie Menschen diese Grenzen ziehen, ist zunächst eine empirische Frage, eine Frage der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung.
2.4. Was ist der Mensch? Diese Frage bezieht sich bei Kant auf die Abschätzung der anthropologischen Gegebenheitsweise des Menschen (Anthropologie). Alle drei bisher bearbeiteten Fragen laufen nach Kant auf die vierte hinaus: „Im Grunde könnte man (...) alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“ (Kant 1800, S. 448) Meine Neubearbeitung der ersten Frage lief darauf hinaus, subjektive Relevanzen von Menschen zu studieren; bei der zweiten Frage, die Qualität der Bindungen, die Menschen zu sich, zu anderen und zur Gemeinschaft eingehen zu analysieren und bei der dritten Frage,
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die Art der Grenzziehungen, die Menschen vornehmen zu explorieren. Wenn man Anthropologie nicht als Wissenschaft versteht, die universale Eigenschaften des Menschen zum Thema hat, sondern einräumt, dass Historizität und Kulturrelativität entscheidende Größen darstellen, dann kann man den Beitrag allgemeiner erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung auch als einen anthropologischen verstehen; das gilt mindestens für die Version, die ich hier vertrete, wenn ich Bildung als existentiellen Reflexionsmodus verstehe. Aus biographieanalytischer Sicht sind es diese zentralen Fragen Woher komme ich? Wohin gehe ich? und Wer bin ich?, mit denen Menschen umgehen und auf die sie – wie auch immer – eine Antwort für sich gefunden haben. Jeder Biographisierungsprozess kann als eine implizite oder explizite Antwort auf diese Frage ausgelegt werden. In solchen Biographisierungsprozessen greifen zwei Reflexionsformate ineinander, denen ich mich jetzt zuwenden möchte: Zum einen handelt es sich um ein diachrones Reflexionsformat und zum anderen um ein synchrones.
3. Diachrone und synchrone Aspekte von Biographisierungsprozessen 3.1. Diachrones Reflexionsformat Unter einem diachronen Reflexionsformat verstehe ich die Initiierung historischer Sinnbildungsprozesse. Menschen haben eine individuelle und kollektive Geschichte. In dem Buch des Husserlschülers Wilhelm Schapp mit dem Titel In Geschichten verstrickt trägt das sechste Kapitel die Überschrift Die Geschichte steht für den Mann. Der Mensch ist das, was er in Form seiner eigenen Geschichte für sein Leben hält. In Form von Geschichten entwerfen wir unsere Vergangenheit und unsere Zukunft stets neu. Ich und die Geschichte, die ich für mein Leben halte, sind nicht zu trennen. Identität ist eine geschichtenförmige Konstruktion, die als Selbsterzählung einer Person präsentiert wird. Der menschliche Entwurf hat die Struktur narrativer Integrationsmechanismen2. Deshalb interessieren uns in der Biographieforschung Geschichten. Was machen wir beispielsweise, wenn wir einen neuen Partner kennenlernen? Biographietheoretiker sagen: Wir setzen Prozesse der Biographisierung frei. Sie meinen damit: Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten; viele Geschichten, die vielleicht alle – als Patchwork – die Geschichte unseres Lebens darstellen. Wir werden von der geheimen Hoffnung getrieben, unsere Geschichten mit denen unseres (künftigen) Partners zu synchronisieren, um auf diese Weise zu erproben, ob sich auch unsere Lebenswege synchronisieren lassen. Umgekehrt argumentiert: Wenn uns unsere Lebensgeschichte abhanden kommt (z.B. durch Gedächtnisverlust) kommen wir uns gleichsam selbst abhanden, wie man eindruckvoll bei Psychiatriepatienten studieren kann (Marotzki 1991d). Und was passiert, wenn Menschen gleichsam ohne individuelle und kollektive Geschichte erzeugt werden, wie im Falle künstlich erzeugter Lebewesen? Ich werde auf diesen Aspekt im letzten Abschnitt dieser Arbeit zurückkommen. Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass zur Diachronizität nicht nur die individuelle Geschichte gehört, also jene, durch die ich mich von allen anderen Menschen unterscheide, sondern auch jene, die sich auf Gruppen, Gemeinschaften und Kollektive bezieht, also jene, durch die ich in diese Sozialstrukturen und historischen Gebilde eingebettet bin. Modernisierung scheint auch hier Pluralisierungseffekte zu zeitigen, die unter dem Stichwort der Enttraditionalisierung diskutiert werden (Giddens 1996). Eine Vergewisserung der gemeinschaftlichen Wurzeln wird in gesellschaft-
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lichen Krisenzeiten, in Zeiten gesellschaftlicher Übergänge eine zentrale Rolle spielen. Die individuelle und kollektive Seite von Diachronizität will ich hier nur andeuten und zusammenfassen: Wenn Menschen im diachronen Reflexionsformat keine erinnernden Zusammenhänge entwerfen können, können sie die entscheidenden Fragen Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? nicht für sich beantworten. Sie sind dann existentiell entwurzelt.
3.2. Synchrones Reflexionsformat Die Moderne setzt die Distribution von Subjektivität in Einzelsubjekte als unhintergehbares Faktum, und zwar in der Weise, dass diese Einzelsubjekte sich nicht mehr in einem Einheitssubjekt (Gott, Weltgeist) aufgehoben fühlen können. Die Debatte zu Fragen von Modernisierungsschüben in den letzten Jahrzehnten hat dafür verschiedene Begriffe verwendet: z.B. Zerbrechen des Sinnkosmos, Verlust einer übergeordneten Einheit, Dekonstruktion der großen Erzählungen oder wie auch immer. Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Sie können sich immer weniger auf übergeordnete Zusammenhänge in ihren Entscheidungsund Sinnfindungsprozessen stützen. Das scheint die Grammatik der Moderne und Postmoderne zu sein, die sich natürlich auch auf die diachrone Ebene auswirkt. Und das ist die eigentliche Kränkung, die den Menschen widerfährt. Eigentlich müsste man von der vierten Kränkung des Menschen sprechen, wenn nach S. Freud die erste, die kopernikanische, darin besteht, dass die Erde nicht Mittelpunkt der Schöpfung ist, und die zweite, die darwinsche, darin, dass der Mensch sich aus der Tierreihe entwickelt hat, also sich nicht dem Schöpfungsakt Gottes verdankt, und die dritte, die psychoanalytische, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, vielmehr unbewusste und triebhafte Energien im Menschen angenommen werden müssen, aus denen sich das Ich entwickelt habe und die es weiterhin stark beeinflussen. Die Radikalität dieser vierten Kränkung wird in der modernen Ethik-Debatte, wie sie seit einigen Jahren geführt wird, deutlich. Der Gegensatz von Ichund Du-Subjektivität kann nicht mehr in einem Dritten als aufgehoben gedacht werden. Wenn Subjektivität prinzipiell im Modus der Geworfenheit, der Kontingenz diversifiziert ist und wenn das tertium comparationes für Intersubjektivität nicht mehr gegeben ist, sondern selbst der Kontingenz unterliegt, dann muss auch das, was Intersubjektivität bedeutet, neu gedacht werden. Symmetrieannahmen entbehren dann jeder Plausibilität. Vielmehr ist man gut beraten, wenn man einen Symmetriebruch annimmt. Diese Art einer ontologischen Vorgängigkeit kommt meiner Meinung nach in den Debatten zum Ausdruck, die in Anschluss an Levinas unter der Thematik des Anderen geführt worden sind (vgl. von Wolzogen 1997): Bevor ich dem anderen die Tür öffne, ist er schon als ungeladener Gast eingetreten, so ein schönes Bild von Levinas. Aus dieser Perspektive steht Bildung a priori in Beziehung zum Anderen. Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann das Antworten auf die Infragestellung meiner selbst durch den Anderen, die Ausbildung einer „responsiblen Vernunft“ (von Wolzogen 1997). Das ist der Kern des synchronen Reflexionsformats: der Kampf um Anerkennung, um einen Buchtitel von Axel Honneth (1992) zu verwenden. Menschen brauchen nicht nur eine Geschichte, die sie fort- und umschreiben können, sie brauchen auch Anerkennung im Hier und Jetzt.
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3.3. Beispiel: Künstlich erschaffene Lebewesen Fügt sich das Leben einer diachronen und einer synchronen Ordnung? Unabhängig davon, wie man diese Frage zu beantworten geneigt ist, soll der heuristische Wert dieser beiden Aspekte betont werden. Es handelt sich um die beiden Grundkoordinaten von Biographisierungsprozessen, die bildungstheoretisch auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von Selbst- und Weltreferenzen bezogen werden können. Wenn synchrone und diachrone Reflexionsbewegungen scheitern, wenn also Menschen geschichtslos (geworden) sind und wenn ihnen Anerkennung versagt bleibt, gibt es massive Identitätsprobleme. Der Extremfall sind künstlich vom Menschen erschaffene Lebewesen, seien es reale Menschen, kybernetische oder genetische Lebewesen, die Menschenähnlichkeit besitzen. Wir wissen, dass dieses heute bereits möglich ist, solche Lebewesen zu erzeugen, und streiten im Prinzip nur um den Grad der Menschenähnlichkeit. In der Literatur, im Film und in den bildenden Künsten ist dieser Fall schon lange durchdekliniert worden. Ich wähle als Beispiel den Film Mary Shelley’s Frankenstein (USA – 1994 – 123 min.)3. Es handelt sich um die Verfilmung der Romanvorlage Frankenstein, or the modern Prometheus (1818), einem Klassiker der phantastischen Literatur. Das Buch wurde ein Sensationserfolg beim zeitgenössischen Publikum und mehrmals verfilmt. Am bekanntesten ist die Version mit Boris Karloff (1931), und nach einer Vielzahl kleinerer Produktionen konnte 1994 Kenneth Branaghs Version überzeugen4. Viktor Frankenstein aus Genf verliert als junger Mann seine Mutter bei der Geburt seines Bruders. Kurz bevor er nach Ingolstadt zum Studium der Medizin geht, schwört er am Grab seiner Mutter: „Niemand sollte je sterben müssen. Ich werde dem ein Ende setzen. Das schwöre ich.“ Dieses Motiv treibt ihn auch beim Studium immer wieder an: „Früher oder später werden wir den Tod überlisten, indem wir Leben schaffen (...) Wenn wir einen Teil eines Menschen ersetzen können, dann können wir jedes Teil ersetzen, und wenn wir das können, dann können wir ein Leben gestalten. Wir können ein Wesen erschaffen, das weder alt noch krank wird, eines das stärker und besser als wir sein wird, eines das intelligenter als wir sein wird, zivilisierter als wir.“ Nach dem Tode Professor Waldmanns, der entscheidende experimentelle Vorarbeiten gemacht hat, geht er ans Werk und schafft einen künstlichen Menschen, dem er vergisst, einen Namen zu geben. Diese Kreatur ist aus Leichenteilen zusammengesetzt und dann belebt worden. Sie hat jedoch keine individuelle und/oder kollektive Geschichte und demzufolge keine Identität. Diese Kreatur ringt sowohl um Erinnerung (diachroner Aspekt) als auch um Anerkennung durch einen Partner (synchroner Aspekt), somit um Lebenssinn, wie aus dem folgenden Dialog hervorgeht5: K: „Du hast mir Kraft und Gefühle gegeben, aber ich weiß nicht, wie man damit umgeht. (...)“ V.F.: „Etwas kämpft in meiner Seele, was ich nicht verstehe.“ K: „Was ist mit meiner Seele? Habe ich eine? Um diesen letztgenannten Teil hast Du Dich nicht gekümmert. Wer waren die Menschen, aus denen Du mich zusammengefügt hast? Gute Menschen? Böse Menschen?“ V.F.: „Materialien, nichts weiter“ K: „Du irrst! (Wendet sich nach rechts und nimmt eine Flöte, die er Viktor hinhält) Weißt Du, daß ich darauf spielen kann? In welchem Teil von mir wohnt dieses Wissen? In diesen Händen? In diesem Hirn? In diesem Herzen? Und Lesen und Sprechen; das sind doch nicht erlernte Dinge als vielmehr erinnerte.“ V.F.: „Spuren von Erinnerungen im Gehirn vielleicht“ K.: „Hast Du jemals die Konsequenzen Deiner Handlungen bedacht? Du hast mir das Leben gegeben, doch dann wolltest Du mich sterben lassen. (3 Sek.) Wer bin ich?“ V.F.: „Du... (3 Sek.) Ich weiß es nicht!“
68 K: V.F: K: V.F.: K: V.F.: K:
Winfried Marotzki „Und Du hältst mich für böse.“ „Was kann ich tun?“ „Es gibt etwas, das ich haben möchte: einen Freund.“ „Einen Freund?“ „Einen Gefährten, ein Weib für mich, jemanden wie mich, damit sie mich nicht haßt.“ „Wie Dich? Oh Gott, Du weißt nicht, was Du da verlangst!“ „Ich weiß, daß ich um des Mitgefühls eines einzigen Lebewesens Frieden mit allen anderen schließen werde. Ich habe Liebe in mir, von der Du keine Vorstellung hast und Wucht, wie sie Deinesgleichen nicht fassen würde.“
Vor dieser Dialogsequenz ist in mehreren Szenen gezeigt worden, wie die menschliche Gemeinschaft ihn auschließt, ihm also Anerkennung verweigert. Sein biographisches Projekt ist somit auf doppelte Weise gefährdet, durch mangelnde Diachronizität und durch mangelnde Synchronizität. Natürlich ist es möglich, diesen Film auch unter den ersten drei oben erörterten (Kantischen) Fragen auszulegen; das ist für mich an dieser Stelle nicht der entscheidende Punkt. Ich wollte nur zeigen, dass die Grundstruktur von Diachronizität und Synchronizität als Reflexionsmodi nicht ins Leere gehen dürfen, wenn Identität und damit eine Biographie konstituiert werden soll. Dass künstlich vom Menschen erschaffene Lebewesen dieses zentrale Problem mangelnder Diachronizität und/oder Synchronizität systematisch aufweisen, könnte in je spezifischer Weise an weiteren Filmen gezeigt werden: In Blade Runner von Ridley Scott (1982), in Wem gehört Data? (1989. Star Trek: Das nächste Jahrhundert. Folge 35 [The Measure of a man]) oder in SeaQuest: Daggers (DSV Pilotfilm zur zweiten Staffel 1994) und anderen. Für eine allgemeine erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, die einem bildungstheoretischen Format folgt, ist wichtig, diese beiden Reflexionsfiguren im Verhältnis zu Selbst- und Weltreferenzen zu rekonstruieren; ein Verhältnis, das graphisch wie folgt dargestellt werden kann: Weltreferenz Selbstreferenz Synchrone Perspektive
Diachrone Perspektive
Abbildung 1: Vier Reflexionsquadranten Die Reflexion bewegt sich in dem Bereich, der durch die vier Quadranten beschrieben wird (vgl. Abbildung 1). Die Frage, wie Menschen ihr Selbst- und Weltverständnis in synchroner und diachroner Perspektive entwerfen, führt uns zu einem Verständnis davon, wie Menschen die Fragen Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? für sich bewusst oder unbewusst beantworten. Komplexe Studien für komplexe Biographien sind Bausteine systematischer Zeitdiagnose, die mikrosystematisierendes Theoretisieren erlauben.
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Anmerkungen 1 2 3
4 5
„So können wir in der Tat gegen materielle Kräfte, von denen wir abhängen, revoltieren. Wir können anders leben, als es die Natur unseres physischen Milieus impliziert; aber dann sind Tod oder Krankheit die Strafe für unsere Revolte.“ (Durkheim 1922, 53) „Selbst-Narrative dienen funktional der Integration des menschlichen Lebens, indem sie disparate Erinnerungen vergangener Geschehnisse, aktuelle Überzeugungen und Erfahrungen sowie zukünftige, imaginierte und antizipierte Handlungen miteinander verknüpfen.“ (Polkinghorne 1998, 33) Mary Shelley (1797-1851), englische Romanautorin, wuchs als Tochter des britischen Philosophen William Godwin und der Schriftstellerin und Feministin Mary Wollstonecraft in London auf. Im Mai 1814 lernt sie den Dichter Percy Bysshe Shelley kennen, der sie in den Kreis romantischer Literaten um Lord Byron einführt und sie 1816 heiratet. Produktion: Francis Ford Coppola, James V. Hart, John Veitch. Regie: Kenneth Branagh. Buch: Steph Lady, Frank Darabont. Darsteller: Robert De Niro (Die Kreatur), Kenneth Branagh (Victor Frankenstein). V.F. steht für Viktor Frankenstein und K. für die Kreatur.
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Der Lebenslauf als anthropologischer Grundbegriff einer biographischen Erziehungstheorie Werner Loch
Inhalt 1. Das gegenwärtige Interesse am Lebenslauf 2. Das Konzept einer biographischen Erziehungstheorie 3. Lernfähigkeiten, Lernaufgaben und Lernhilfen im Lebenslauf 4.
Abschließende Bemerkungen
Literatur
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1. Das gegenwärtige Interesse am Lebenslauf Im Gegensatz zur Vorliebe der heutigen Sozialwissenschaften für monströse Termini hat das unscheinbare, altmodische Wort „Lebenslauf“ in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Bedeutung als Leitbegriff zur Reflexion und Erforschung des in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft auf sich selbst gestellten Individuums gewonnen. Vorläufer dieser Entwicklung, die hier nur durch einige exemplarische Titel belegt werden kann, waren Charlotte Bühler (1959) mit ihrem Buch „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“, einer am Konzept biologischer Grundtendenzen (anpassende Selbstbeschränkung und schöpferische Expansion, Ordnung und Entspannung) und der Selbstbestimmung nach Lebenszielen (Bühler/Massarik 1969) orientierten Psychologie der Persönlichkeitsentwicklung, und Jürgen Henningsen (1962;1981) mit seiner von Henry Adams und Max Frisch inspirierten These vom Lebenslauf als in der Autobiographie „sprachlich gestaltetem Bildungschicksal.“ Die interdisziplinäre Kommunikation wurde dann durch Bernd Neumanns (1970) unter dem Titel „Identität und Rollenzwang“ erschienenen Versuch befruchtet, seine das Verhältnis von Lebenslauf und Lebensplan verfolgende Darstellung der Geschichte der neuzeitlichen Autobiographie durch Gebrauch soziologischer Kategorien in eine „Theorie der Autobiographie“ umzusetzen. Dazu kam ein von Klaus Hurrelmann (1976) unter dem Titel „Sozialisation und Lebenslauf“ herausgegebener Reader mit einigen Beiträgen über gesellschaftliche und individuelle Bedingungen für eine befriedigende Persönlichkeitsentwicklung in den verschiedenen Lebensaltern. In diesem Zusammenhang wurde der Lebenslauf als eine im Bewusstsein gesellschaftlicher Schichten mehr oder weniger stark verankerte Folge von Status-RollenKonfigurationen mit entsprechenden altersbedingten Statusübergängen zum Thema, womit sich René Levy (1977) in dem Buch „Der Lebenslauf als Statusbiographie“ am Beispiel der Normalbiographie der Frau befasste. Diese und andere Tendenzen wurden von Martin Kohli (1978) in der von ihm herausgegebenen Sammlung einschlägiger Beiträge mit dem Titel „Soziologie des Lebenslaufs“ als eine „neue Perspektive“ soziologischer Forschung proklamiert im Hinblick auf das Generationsverhältnis, Altersdifferenzen, Lebenszyklen, Lebensgeschichte und subjektive Lebenserfahrung. Eine konstruktive Verbindung literaturwissenschaftlicher mit sozialgeschichtlichen und entwicklungspsychologischen Fragestellungen brachte (1978) Peter Sloterdijks glänzend geschriebene Dissertation über „Literatur und Lebenserfahrung“, eine materialreiche, differenzierte Analyse von Autobiographien der Weimarer Zeit im Hinblick auf Lebenslaufstrukturen, das Verhältnis von Lerntätigkeiten und Ausführungstätigkeiten, Widersprüche verarbeitendes Lernen, Erfahrungsorganisation und Lebensentwürfe im Kindes- und Jugendalter sowie in Situationen abweichenden und krankhaften Verhaltens. Für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ist der 1979 erschienene Aufsatz von Theodor Schulze über „Autobiographie und Lebensgeschichte“ grundlegend geworden; darin hat er die These vertreten, dass „der eigentliche Inhalt“ autobiographischer Schriften die „Lebensgeschichte“ sei, die man deshalb von „Lebenslauf“, „Bildungsgang“ und „Personalakte“ unterscheiden müsse: „Lebensläufe oder Bildungsgänge, wie man sie bei Bewerbungen abgibt, sind bezogen auf gesellschaftlich vorgezeichnete Laufbahnen oder Karrieren. In ihnen gelten nur bestimmte Daten und Leistungen des eigenen Lebens. Krisen, misslingende Versuche und Erlebnisse sind tunlichst außer acht zu lassen ... In Personalakten wird auch Unzulängliches und Ungehöriges wie Beteiligung an Demonstrationen, beruf-
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liches Versagen, Krankheiten oder strafbare Handlungen geführt.“ (Baacke/Schulze 1979, S. 58). Demgegenüber sei die Lebensgeschichte „das wesentliche Medium“ zur Bildung persönlicher Identität. In ihr vollziehe sich, was Schulze ähnlich wie Sloterdijk als „Organisation der Erfahrung“ bezeichnet und am Beispiel der subjektiven Verarbeitung „kritischer oder signifikanter Ereignisse“ erläutert. Im Unterschied zu Schulze bin ich in der Abhandlung über „Lebenslauf und Erziehung“ (Loch 1979a) von einem weiten Begriff des Lebenslaufs ausgegangen, bei dem nicht die Darstellungsform, sondern das in dieser Form dargestellte Menschenleben im Vordergrund steht. Die Bedeutungsgeschichte des Wortes, das in der Mitte des 17. Jahrhunderts als Verdeutschung des Ausdrucks „curriculum vitae“ aufkam, geht auf Cicero zurück, der ihn analog der Wendung „curriculum stellarum“ bildete. Wie der Kreislauf der Sterne hat der Lebenslauf mit seiner Chronologie eine zyklische Struktur. In ihm kehrt normalerweise bei jedem Menschen zwischen Geburt und Tod, kulturspezifisch modifiziert, eine Reihe von typischen Ereignissen, Stadien und Stationen wieder. Je nach dem Zweck, zu dem ein Lebenslauf dargestellt wird, kann er bestimmte Aspekte ausklammern oder hervorheben, kurz gefasst (tabellarisch) oder ausführlich sein, aus einer Aufzählung der wichtigsten Lebensdaten oder aus einer Erzählung von Geschichten bestehen, als zusammenhängende „Lebensgeschichte“ konstruiert und so zur Autobiographie bzw. Biographie ausgeweitet werden. Die in solchen detaillierten sprachlichen Darstellungsformen in einen fiktiven Zusammenhang gebrachten Lebenserinnerungen sind natürlich nicht der Lebenslauf, wie er wirklich gewesen ist, sondern nur die subjektive Reflexion und Präsentation dieser vergangenen Wirklichkeit, der man auch durch Psychoanalyse (Kraft 1996; Weiß 1998) und andere Methoden (wie z.B. Auswertung zugrundeliegender Tagebücher) allenfalls näherkommen, aber nicht mehr unvermittelt begegnen kann. Unter diesen phänomenologischen Voraussetzungen halte ich gegenüber Luhmann (1997, S. 20) an der Behauptung fest: Jeder Mensch, der lebend zur Welt kommt, hat einen Lebenslauf (Loch 1979a, S. 14), gleich in welcher Form dieser dargestellt wird und gleich wie viel von seinem Leben das betreffende Individuum noch vor sich oder schon hinter sich hat. Gleich wie viel oder wie wenig jemand bei der Erzählung seines Lebenslaufs von sich zu erkennen gibt, identifiziert er sich im Sinne eines „autobiographischen Paktes“ (Lejeune 1989) mit seinem Lebenslauf. Insofern bleibe ich auch dabei zu behaupten: Wie viel Typisches er auch immer haben mag, ist der Lebenslauf das Individuum in seiner zeitlichen Gestalt (Loch 1979a, S. 99), wenn es auch nie ganz in ihm aufgeht, viel mehr oder viel weniger sein kann, als in seinem Lebenslauf zum Vorschein kommt. Aus diesen Gründen verstehe ich den Lebenslauf als einen anthropologischen Grundbegriff. In seiner langen Geschichte als literarische Gebrauchsform erscheint der Lebenslauf bzw. das curriculum vitae in der Tradition der Rhetorik als Bestandteil der Lob- und Gerichtsrede, im Christentum als Schema für Bekenntnisse, Heiligenlegenden, Nachrufe und Bekehrungsgeschichten, im Humanismus als Vehikel der Selbstinszenierung der Dichter und Gelehrten und der Verbreitung des Ruhms ihrer fürstlichen Gönner, aber auch der Verteilung und Gliederung der Bildungsaufgaben zwischen Familie, Schulen und Hochschule, woher bekanntlich die Bedeutung von „curriculum“ als Lehrplan stammt. In der Hauswirtschaft des frühneuzeitlichen Bürgertums ist der Lebenslauf ein Aspekt der Buchführung und der Familienchronik, in der nicht nur die geschäftlichen Unternehmungen, Erfolge und Misserfolge, sondern auch die familiär und persönlich wichtigen Ereignisse verzeichnet werden. Im Zuge der neuhumanistischen Bildungsidee wird der Lebenslauf zum Organisationsprinzip der Selbstreflexion und -gestaltung im Medium der Autobiographie als Bil-
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dungsroman. Die mit Entwicklung der industriellen Gesellschaft zunehmende soziale Mobilität, Leistungsmotivation und Konkurrenzmentalität lassen den Lebenslauf für Berechtigungen, Bewerbungen, Auszeichnungen, Beförderungen, Karrieren und Kontrollen wichtig werden, so dass er in den totalitären Staaten zu einem Überwachungsinstrument pervertiert. In der sich ständig wandelnden postindustriellen Gesellschaft, deren „präfigurative Kulturen“ (Mead 1971) die Zukunft immer weniger aus der Vergangenheit vorhersehen lassen, wird der Lebenslauf zu einem im Wechsel der Gefahren und Chancen immer wieder zu revidierenden Projekt. Das „Zeitalter des Narzissmus“ (Lasch 1982) schließlich bringt den Lebenslauf als Schema der Selbstreflexion und Selbstverwirklichung in der gewaltig zunehmenden Produktion von Autobiographien verstärkt zur Geltung und durch die Enthüllungen Prominenter im Fernsehen als Vehikel der Selbstvermarktung und Veröffentlichung des Privaten zu weiter Verbreitung (Sennett 1983). Unter diesen phänomenologischen und historischen Voraussetzungen bin ich in der genannten Abhandlung von der allgemeinen Annahme ausgegangen, dass Lebenslauf und Erziehung einen spezifischen, weil für die menschliche Spezies kennzeichnenden Zusammenhang bilden (Loch 1979a, S. 13). Er entsteht in der Lebenserfahrung des Individuums in dem Maße, wie es erzogen wird, und wird ihm bewusst in dem Maße, wie es seine Lebenserfahrung reflektiert. Die Eltern, Lehrer und Sozialpädagogen erziehen die Kinder und Jugendlichen in der Regel nach mehr oder weniger klaren Vorstellungen von dem, was sie in ihrem künftigen Lebenslauf benötigen werden. Und darauf beziehen sich auch die Prophezeiungen, die sie bei deren Lernerfolgen oder -misserfolgen im Hinblick darauf zu äußern pflegen, was aus ihnen werden wird, wenn sie sich weiter so verhalten wie bisher (Ludwig 1991). Umgekehrt finden die Intentionen und Erwartungen der Erzieherinnen und Erzieher ihre Erfüllung oder ihr Scheitern in dem, was die von ihnen Erzogenen (als die eigentlichen Subjekte ihrer Erziehung) unter den Bedingungen ihres weiteren Lebenslaufs aus der mehr oder weniger habituell gewordenen Erziehung machen, die sie bekommen haben. Insofern lässt sich sagen: Im Horizont der Erziehung wird entschieden, welche Bedeutung der Lebenslauf gewinnt, und im Horizont des Lebenslaufs wird entschieden, welche Bedeutung die Erziehung gewinnt (Loch 1979a, S. 14). In diesem Rahmen habe ich versucht, einen lebenslaufgemäßen Begriff der Erziehung zu konzipieren, der zur Analyse von Autobiographien brauchbar ist: Überall wo das Phänomen der Erziehung im Zuge der die Lernfähigkeiten des Individuums aktivierenden Lernaufgaben seines Lebenslaufs in Funktion tritt, bewegt sich sein spezifisches soziales Verhaltensmuster in einem Regelkreis von Lernen, Lernhemmung und Lernhilfe, die es immer wieder zum Lernen aus eigener Kraft und im Maß seiner Lernerfolge zu kompetentem Handeln befreit (S. 21). Nach diesem Konzept ist es möglich, den Menschen für lebenslanges Lernen offen zu halten, ohne ihn dem Zwang einer lebenslänglichen Erziehung zu unterwerfen (Zinnecker 1997, S. 209). In Bezug auf die Identität, die das Individuum im Lebenslauf lernend und handelnd ausprägt, ist er ein Bildungsprozess. In diesem curricularen Bildungsprozess gewinnt es durch subjektive Verarbeitung seiner angeborenen und geschichtlichen Möglichkeiten in den vier Systemen, als deren Schnittpunkt es denkbar ist: dem organischen, personalen, sozialen und kulturellen System, seine sich in Wiederholungen verfestigende und zugleich durch das im Zuge seiner Lebensgeschichte begegnende Neue sich immer wieder wandelnde Gestalt (Loch 1979a, S. 17). In den sich ständig verändernden Lebensbedingungen der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) scheint der Lebenslauf das geeignete Konzept, um den „flexiblen Menschen“ (Sennett 1998) in seiner sozialen und kulturellen Mobilität zu beschreiben. Dessen Werdegang
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ist durch eine dauerhafte Position im Raum einer Gesellschaft (wie Standes-, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit) nicht mehr hinreichend zu bestimmen, sondern – bei aller Abhängigkeit von „institutionellen Lebenslaufmustern“ (Beck 1986, S. 211f.), wie sie z.B. durch das Bildungs-, Erwerbs- und Versorgungssystem als Normalbiographien vorgezeichnet werden – erst durch die Erzählung der von seiner Kontakt- und Leistungsfähigkeit mehr oder weniger beeinflussten Wechselfälle seiner individuellen Lebenszeit umfassend zu begreifen. So bleibt im „Individualisierungsschub“ der Risikogesellschaft nur noch der Lebenslauf als grundlegendes Schema übrig, um die „Geschichten“, in die man sich „verstrickt“ (Schapp 1976) – alle die vielen Ortswechsel und Unternehmungen, Berufswechsel und Fortbildungszeiten, Krisen und Chancen, Auf- und Abstiege, woraus das Leben des durchschnittlichen mobilen Menschen heute besteht – in einen verstehbaren, autobiographisch darstellbaren und mit anderen vergleichbaren Zusammenhang zu bringen. „Die Gegensätze sozialer Ungleichheit tauchen als Gegensätze zwischen Lebensabschnitten einer Biographie wieder auf,“ formuliert Beck (1986, S. 149f.) zugespitzt „die beobachtbare Tendenz, dass die Lebensläufe mit der Individualisierung vielfältiger, gegensätzlicher, brüchiger, unsicherer, auch für katastrophale Einbrüche anfälliger, aber auch bunter, umfassender, widersprüchlicher werden.“ Mit den Risiken wachsen die Nötigungen und die Möglichkeiten zu „individueller Lebenslaufgestaltung“ (S. 216f.). Entsprechend nimmt auch die Bereitschaft zu, die Verantwortung für das Gelingen oder Versagen seiner Projekte zu übernehmen und nicht mehr Gott oder dem Schicksal zuzuschreiben. So wird der Lebenslauf in der Form der Individualbiographie zu einem Medium der „Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung“ (S. 156) des in den Abhängigkeiten der Risikogesellschaft auf seine eigenen Fähigkeiten zurückgeworfenen Menschen. Was Kohli als Soziologie des Lebenslaufs in Aussicht gestellt hatte, ist in Becks „Risikogesellschaft“ konkret geworden: der Lebenslauf als soziologische Kategorie, als „zentrale gesellschaftliche Institution“ (Kohli 1986, S. 183). Für die hier verfolgte Traditionslinie der Lebenslaufforschung liegt die Bedeutung von Winfried Marotzkis „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ (1990) darin, dass er die theoretischen Ansätze von Loch und Beck mit der Absicht einer „biographietheoretischen Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften“ weiterführt. Dabei sucht er das Lebenslaufkonzept durch einen Begriff von „Biographie“ zu verdichten, den er als „subjektive Konstruktion des gelebten Lebens“ definiert, also im Sinne von Autobiographie. Lochs Bemühung, das Phänomen der Bildung von den Lernaufgaben des Lebenslaufs aus zu begreifen, bringt Marotzki durch Aneignung von Batesons Modell der Lernebenen auf einen Bildungsbegriff, der es ermöglicht, Bildungsprozesse als höherstufige Lernprozesse von tieferstufigen zu unterscheiden und in ihrer Bedeutung für die Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses zu verstehen. Becks These von der Wechselwirkung zwischen Kontingenzerfahrung und Individualisierung in der Risikogesellschaft, die die Lebensläufe zu immer wieder revisionsbedürftigen Lebensentwürfen werden lässt, wird von Marotzki durch Übernahme von Sartres Auffassung der menschlichen Existenz nicht als Strukturen der Vergangenheit unterworfen bleibendes „sujet“, sondern diese durch Schaffung neuer Strukturen überschreitendes „projet“ radikalisiert. Hierdurch vermag das Individuum in der autobiographischen Reflexion seine Vergangenheit im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft immer wieder zu reorganisieren, so dass – im Sinne von Berger/ Luckmann (1980) – lebensgeschichtliche Bildungsprozesse als Wandlungsprozesse fasslich werden. Im Anschluss an Fritz Schützes Konzept von „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ (1981) zeigt Marotzki, dass mit solchen Wandlungsprozessen auch ein – unvorhersehbarer und deshalb methodisch nicht herbeiführbarer – „Zuwachs kreativer Potentiale“ verbunden sein kann, die die
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bisherige Selbst- und Weltauslegung mit neuen Symbolen und Begriffen, Ordnungen und Themen versehen. So sind die in autobiographischen Texten reflektierten Bildungsprozesse nicht nur Wandlungs-, sondern (im Sinn von Batesons Modell der Lernebenen) auch Modalisierungsprozesse, wie der Verfasser abschließend am forschungspraktischen Beispiel „hermeneutischer Einzelfallauslegung“ und der hierbei in Frage kommenden Textformen ausführlich demonstriert. Kürzlich nun ist man auch in einer der Kommandozentralen der deutschen Erziehungswissenschaft darauf gekommen, zur Lösung systemtheoretischer Probleme im gestörten Verhältnis von Erziehung und Weiterbildung, des Erwachsenen zum Kind und zu sich selbst in seiner Bildung ein Konzept des Lebenslaufs in Anspruch zu nehmen. Die von Dieter Lenzen und Niklas Luhmann (1997) unter dem Titel „Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem“ herausgegebene Aufsatzsammlung verschiedener Autoren enthält einen Beitrag von Luhmann zu dem Thema: „Erziehung als Formung des Lebenslaufs“, der in einer meisterhaften Skizze Ergebnisse der bisher referierten Arbeiten im Horizont der Systemtheorie zusammenfasst (S. 11ff.). Unter Berufung auf Karl Eberhard Schorr geht Luhmann von der Annahme aus, „dass der Lebenslauf das allgemeinste Medium des Erziehungssystems sein könnte.“ Hinsichtlich der phänomenologischen Merkmale des Lebenslaufs bringen Luhmanns Ausführungen wenig Neues: Der Lebenslauf besteht aus „Wendepunkten“ (und natürlich auch aus Anfangs- und Endpunkten wie Geburt und Tod, Wegstrecken und Aufenthalten wie Schulzeiten und Wohnorten). Um ihn zu legitimieren, muss ein Lebenslauf nicht begründet, sondern braucht nur erzählt zu werden. Obwohl die Lebensläufe in der Regel einem Grundmuster folgen, stellen sich die Individuen darin in ihrer Einzigartigkeit dar. So ist zunächst „jeder konkrete Lebenslauf ... das Ergebnis eines einmaligen Formfindungsprozesses.“ Aber die neuen Lagen, in die das Individuum immer wieder gerät, ziehen Reinterpretationen seiner Vergangenheit nach sich, während die Zukunft nach wie vor unbekannt bleibt und voller Überraschungen. Deshalb erlaubt sich dieses Konzept des Lebenslaufs auch keine teleologischen Vorgriffe und pädagogischen Zielsetzungen. Gleichwohl ist das als Schema der Selbstdarstellung dem Roman nachgebildete und als „Schema der Personwahrnehmung“ durch die Massenmedien hervorgerufene Konzept des Lebenslaufs für die Erziehung offen, die eine Person bekommen hat. Umgekehrt ist für den Lebenslauf als Medium „im Sinne eines Kombinationsraumes von Möglichkeiten“ das Erziehungssystem insofern relevant, als es ihn fortschreitend in Formen (um nicht zu sagen Lebensformen) festzulegen vermag, die ihrerseits weitere Möglichkeiten eröffnen oder verschließen. In diesem Ansatz sieht Luhmann einen Weg, die Theorie der Erziehung (eines nicht primär wissens-, sondern schemabasierten Verhaltens) zu konsolidieren. So „könnte das Erziehungssystem dann nicht mehr teleologisch und auch nicht mehr adaptionistisch begriffen werden. Stattdessen findet es sich der eigenen Autonomie ausgesetzt und damit auf Selbstorganisation, Selbstbeschreibung oder allgemeiner: auf ,sensemaking‘ verwiesen“ (S. 28). Während Luhmanns Konzept der Erziehung als Formung des Lebenslaufs als Beitrag zur Konsolidierung der Erziehungswissenschaft zu verstehen ist, weil hierdurch sichtbar wird, wie die Erziehung ihrerseits im Medium des Lebenslaufs Form gewinnt und differenzierbare Formen ausprägt, führt Lenzens an sich plausible Idee (S. 241ff.), die Entwicklung des Individuums („Humanontogenese“) in ihrer Wechselwirkung mit seinem Lebenslauf und diesen als Sammelbecken aller möglichen Formen des Helfens zu begreifen, zu einer „Destabilisierung des Erziehungssystems“ in der Fiktion eines „kurativen Systems“, dessen Konstruktion an seiner übermäßigen Komplexität scheitern muss. Die kaum erst in Angriff
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genommene Aufgabe, die Formen der Erziehung im Medium des Lebenslaufs zu unterscheiden, um ihr Zusammenwirken verstehen zu können (Loch 1968, S. 176ff.; 1979a; 1979b; 1996), wird durch die viel schwierigere Aufgabe verdrängt, die Formen der Erziehung den anderen im Lebenslauf auftretenden Formen des Helfens zu integrieren (Zinnecker 1997). „Insofern vormals erziehende Tätigkeit sich auch beruflich längst über den Rahmen der Wissensvermittlung hinausbegeben hat und das pädagogische Establishment auch in Sektoren wie Pflege, Beratung, Prävention, Diagnose und Therapie, Rehabilitation, Integration fungiert, ist sie zu einer Art Lebensbegleitung geworden, deren leitendes Charakteristikum ein kuratives ist“ (Lenzen 1997, S. 246). Analog zu der Bemühung, die Differenz zwischen Kind und Erwachsenem zu verwischen, wird auf diese Weise die pädagogische Funktion in der kurativen aufzuheben und die Erziehungswissenschaft entsprechend im Projekt einer (auch sprachlich problematischen) „Humanvitologie“ oder „Lebens(lauf)wissenschaft“ aufzulösen versucht (Lenzen 1998, S. 48ff.).
2. Das Konzept einer biographischen Erziehungstheorie Lange vor Luhmann und Lenzen habe ich den Lebenslauf als Horizont der Erziehung wahrgenommen und anhand von Autobiographien Lebensläufe daraufhin untersucht, in welchen Formen Erziehung in ihnen zum Vorschein kommt (Loch 1979a; 1993). Diese biographische Erziehungsforschung ist angewiesen auf einen lebenslaufgemäßen Erziehungsbegriff, der es ermöglicht, die im Kontext eines Lebenslaufs auftretenden Erziehungsphänomene zu identifizieren, zu beschreiben, zu verstehen und zu einer biographischen Erziehungstheorie systematisch zusammenzufassen. Eine der Hauptabsichten dieses Ansatzes war, das heute in der gesellschaftlichen Perspektive im Verschwinden begriffene Erziehungsphänomen wenigstens in der individuellen Perspektive des Lebenslaufs wieder zum Vorschein kommen zu lassen und hierdurch einer zur Erziehungswissenschaft ohne Erziehung degenerierten Pädagogik ihren Gegenstand zumindest im Hinblick auf das sich in seinem Lebenslauf bildende Individuum wieder zurückzugeben. Das Motiv, das mich ursprünglich auf diesen Ansatz gebracht hat, lag in den Problemen, die ich mit dem aus der geisteswissenschaftlichen Pädagogik stammenden Begriff der „Erziehungswirklichkeit“ hatte. Betroffen von den üblichen Ohnmachtserfahrungen der pädagogischen Praxis stellte sich mir die Frage: Wo ist die Erziehung wirklich (d.h. als spezifische Wirkung fassbar)? Sicher nicht in den Visionen der Erziehungstheoretiker! Auch nicht in den Erziehungsinstitutionen (Gesetzen, Verordnungen, Lehrplänen) und Erziehungseinrichtungen (Familien, Kindergärten, Schulen, Heimen)! Noch nicht einmal in den Intentionen der Erziehungspraktiker! – Vielmehr wird die Erziehung zunächst im Verhalten der erzogen Werdenden in dem Maße wirklich, wie sie bei den Zumutungen ihrer Erzieher „mitspielen“. Aber was aus diesen aktuellen, vorläufigen Folgen „pädagogischer Einwirkung“ (ein Grundbegriff Schleiermachers) im weiteren Lebenslauf wird, hängt von dem ab, was die Erzogenen mit der Erziehung machen, die ihnen zuteil geworden ist. Und das erfahren wir authentisch nur aus deren eigenen autobiographischen Erzählungen, selbst wenn wir Urteile von Augenzeugen berücksichtigen können. Deshalb ist der Erzogene sowohl durch das, was er dabei erlitten, als auch durch das, was er damit angefangen hat, das eigentliche „Subjekt“ der Erziehung, die ihm zuteil geworden ist. Und deshalb ist die Autobiographie in allen ihren Formen und mit allen ihren Problemen eine erziehungswissenschaftliche Erkenntnisquelle ersten Ranges.
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Durch sie wird es möglich, die Erzählungen der Erzieher mit den Erzählungen der Erzogenen zu konfrontieren, in deren Erinnerung ihre Erfahrungen als Erzogenwerdende und Zuerziehende wiederkehren, so dass die vier Positionen des Subjekts der Erziehung als Lebenszyklus des zu erziehenden, erzogen werdenden, erzogenen und erziehenden Individuums in Theorie und Forschung zur Geltung gebracht werden können (Loch 1998a, S. 326f.). Ein Erziehungsbegriff, der das vierköpfige Subjekt der Erziehung in dieser Weise in Rechnung stellt, kann die Erziehung nicht mehr ausschließlich als Funktion gesellschaftlicher Interessen und Verpflichtungen verstehen, weil er genötigt ist, diese durch die Funktion zu relativieren, die die Erziehung im Zusammenhang des lebensgeschichtlichen Bildungsprozesses des Individuums hat. Unter dieser Voraussetzung ist die anthropologische Funktion der Erziehung nur dann angemessen zu begreifen, wenn man das Individuum sowohl im Horizont seiner Lebenswelt als auch im Horizont seines Lebenslaufs betrachtet. Die Kategorie des Lebenslaufs gibt der Erziehung ihren Anteil an der Zeit, die das Individuum hat, um sich zu bilden. In ihren verschiedenen gesellschaftlichen Räumen zerfällt die Erziehung in eine Vielzahl verschiedener Einwirkungen, die um so schwerer zu koordinieren sind, je komplexer die Gesellschaft ist. In der zeitlichen Dimension des Lebenslaufs jedoch sind diese Einwirkungen, wie widersprüchlich sie auch immer sein mögen, als Momente des Bildungsprozesses der Person in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, und zwar sowohl in Form der Individualbiographie eines bestimmten Menschen als auch in Form der Normalbiographie des typischen Repräsentanten einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder Gesellschaft, einer bestimmten Epoche oder epochenübergreifenden Kultur. Der Lebenslauf erweist sich somit als die anthropologische Kategorie, welche die Lebenszeit des Individuums zum Schema seiner Erziehung macht. Es ermöglicht sowohl eine sinnvolle Differenzierung als auch eine sinnvolle Integration der Erscheinungsformen, die dem Begriff der Erziehung seinen Inhalt geben. Als „curriculum vitae“ bildet der Lebenslauf den umgreifenden Zusammenhang, in dem die partiellen Curricula der verschiedenen Erziehungseinrichtungen ihren Sinn für die Bildung des Individuums gewinnen oder verlieren. Darin liegt die anthropologische Bedingung der Möglichkeit einer biographischen Erziehungstheorie. Für diese ist die Annahme grundlegend, dass das menschliche Individuum in seinem Lebenslauf eine Reihe von Fähigkeiten entwickeln muss, die sich als eine entwicklungslogisch sinnvolle Sequenz von Fähigkeitstufen darstellen lassen und einen allen kulturellen Modifikationen und individuellen Versionen dieses Bildungsprozesses zugrundeliegenden und durch sie hindurchscheinenden Strukturzusammenhang bilden. Ich bezeichne sie als curriculare Kompetenzen und verstehe unter diesem Terminus eine invariante Reihe von Fähigkeiten und damit verbundenen Motiven zu deren Anwendung, die jeder Mensch auf Grund seiner allgemeinmenschlichen Anlagen entwickeln kann, wenn er lange genug am Leben bleibt und sein genetisch vorprogrammiertes Potential humaner Verhaltensdispositionen nicht durch biologisch vererbte oder lebensgeschichtlich verursachte Defekte beeinträchtigt wird, die nicht kompensierbar sind. Als „curricular“ werden nur solche Kompetenzen bezeichnet, die für den Lebenslauf, das „curriculum vitae“, wichtig sind. „Kompetenzen“ nenne ich sie, weil sich mit diesen Fähigkeiten auch ein entsprechender Eifer, sie anzuwenden und immer besser können zu wollen, verbindet sowie eine Zuständigkeit für die sie herausfordernden Aufgaben und entsprechende Gefühle (wie z.B. Selbstvertrauen und Schaffensfreude), was alles im Bedeutungsfeld des Wortes Kompetenz enthalten ist (White 1959; Connolly/Bruner 1974). Curriculare Kompetenzen (wie z.B. das Wahrnehmen-, Nachahmen- oder das Sprechenkönnen) gehören in den Zusammenhang der Persönlichkeitsentwicklung und enthalten als Fähigkeiten zum Leben jeweils spezifische Lernfähigkei-
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ten. Was entwicklungspsychologisch als eine Folge von Stufen konstruierbar ist, bleibt persönlichkeitspsychologisch als Ebenen der Lernfähigkeit dem Individuum in seinem Lebenslauf verfügbar. In dem Maße, wie das zur Welt gekommene Individuum im Lebenslauf seine curricularen Kompetenzen entwickelt, versetzen sie es in curriculare Situationen (wie z.B. familiäre Situationen, Nachbarschaften, Spiel- oder Konkurrenzsituationen). Das sind Situationen, die in jedem Lebenslauf in irgendeiner Form bevorstehen, gleich in welcher Kultur, Gesellschaft oder Epoche er sich abspielt. Sie werden durchlebt und wirken als gute oder schlechte, nicht selten jedoch auch verdrängte oder verleugnete Lebenserinnerungen Kraft gebend oder hemmend auf den weiteren Lebenslauf. Die curricularen Situationen gehören in den Zusammenhang der Lebensgeschichte und stellen spezifische Lernaufgaben. Sie werden natürlich nicht nur in Schulen, sondern während des ganzen Lebenslaufs gestellt und rufen die in den Kompetenzen bereitliegenden Lernfähigkeiten hervor. In statischen Gesellschaften ist dieses Curriculum von Lernaufgaben auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, so dass man in den späteren Lebensaltern kaum noch etwas zu lernen hat; in mobilen Gesellschaften hingegen, wo es fortwährend Neues zu lernen gibt, müssen die Curricula immer wieder revidiert werden und bleiben auch Erwachsene und Greise von Lernaufgaben nicht verschont – oft zu ihrem Missvergnügen, weil der „Lernzwang“ (Rössner 1971) sie bei der Erledigung ihrer Handlungsaufgaben und in ihrem Ruhebedürfnis stört. Aus der Wechselwirkung zwischen Lernfähigkeiten und Lernaufgaben entstehen im lernen wollenden oder müssenden Individuum immer dann Lernhemmungen, wenn die Lernaufgaben seine Lernfähigkeiten überfordern oder seine Lernfähigkeiten die Lernaufgaben übersteigen. Hieraus ergeben sich im Lebenslauf Konflikte, die langwierig sein und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen können. Ich nenne sie deshalb curriculare Konflikte. Sie gehören zu den aufreibenden, nicht selten traumatischen Grunderfahrungen der Erzieher wie der Zuerziehenden, die die Erzogenen in ihren Autobiographien ebenso häufig erinnern wie ihre Lernerfolge. Leider hat die Allgemeine Pädagogik das Phänomen der Lernhemmung in die Bereiche der Sonderpädagogik, Therapie und Beratung verdrängt und versäumt, es auf einen Begriff zu bringen, der es als systematisch notwendigen Aspekt der Erziehungstheorie fasslich macht. Zu diesem verhängnisvollen Versäumnis gehört auch das Fehlen einer Typologie der Lernhemmungen. Unter Lernhemmungen verstehe ich lebensgeschichtliche Erfahrungen folgender Art: Wir haben Hemmungen, etwas zu lernen, das widernatürlich ist, weil es die gattungsgeschichtlich entwickelte und vererbte Antriebs- und Organstruktur des Menschen im Gegensatz zu der ihm unterstellten extremen Lernfähigkeit nicht vorsieht (Eibl-Eibesfeldt 1973). Man will etwas nicht lernen, das moralischen Prinzipien widerspricht, weil es unmenschlich, böse oder schädlich ist. Jemand begehrt gegen etwas auf, das ihm zu lernen zugemutet wird, weil es erniedrigend, verlogen oder falsch ist. Ein Kind kann etwas nicht oder nur schwer lernen, weil es durch einen körperlichen oder seelischen Schaden behindert ist (Bleidick 1972). Trotz aller Bemühungen seiner Eltern und Lehrer kann ein Schüler das, was sie sich wünschen, nicht lernen, weil er nicht intelligent oder begabt genug ist (Rowe 1997). Ein Jugendlicher weigert sich, etwas zu lernen, weil er seinen Sinn nicht einsieht, kein Bedürfnis danach, Motiv dazu, Interesse daran, keine Lust dazu oder Freude daran hat. Alte Menschen wehren sich dagegen, etwas zu lernen, weil es ungewohnt ist, sie Angst davor, keinen Mut dazu, Misstrauen oder Bedenken dagegen haben. Es gibt Menschengruppen, die gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, etwas zu lernen, weil sie sich in einer beengenden Lage, Kultur oder Institution befinden, wo es nichts zu lernen gibt als das Wenige, das man bereits
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gelernt hat (Goffman 1972). Auch kann ich mich in einer gefährlichen Situation befinden, wo ich nicht lernen, sondern handeln muss, um mich daraus zu befreien, oder in einer verzweifelten Lage, wo ich gar nichts mehr tun und damit auch nichts mehr lernen kann. Die Medien führen uns täglich Bilder von Menschen vor Augen, die nicht mehr die Kraft haben, etwas zu lernen, weil sie durch Hunger, Krankheit, Ausbeutung oder brutale Gewalt geschwächt sind. Man hat keine Zeit oder ist zu müde zum Lernen, weil man arbeiten muss. Oder man kann eine Lerneinrichtung nicht bezahlen, weil man arbeitslos ist. Eine andere Gruppe von Lernhemmungen entsteht dadurch, dass einem verboten wird oder Hindernisse in den Weg gelegt werden, etwas zu lernen, weil das, was man lernen will, in der Gesellschaft, sozialen Klasse, Schicht oder Gruppe, der man angehört, nicht üblich oder nicht wünschenswert ist, als verwerflich oder Verderben bringend gilt. Man kann etwas nicht oder nur schwer lernen, weil man einem Bevölkerungsteil angehört, der von einem Lernangebot ausgeschlossen ist, weil er aus irgendwelchen Gründen diskriminiert und benachteiligt wird. Kinder sind im Schulunterricht beim Lernen gehemmt, weil die Wertvorstellungen, Umgangsformen und Sprechweisen ihrer Familien nicht mit denen der Schule verträglich sind (Bernstein 1972). Zunehmende Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen kann Ausdruck von Lernhemmungen sein, weil ihnen in ihrem Milieu zu wenige oder zu viele Lernaufgaben gestellt werden (Heitmeyer 1998). Schon anhand dieser unvollständigen Aufzählung wichtiger Varianten des Lernhemmungsphänomens wird deutlich, dass es nicht nur negative Lernhemmungen gibt, die behoben werden müssen, sondern auch positive Lernhemmungen, die zu bestärken sind. Zu beachten ist außerdem, dass die Lernhilfen nicht nur (im Blick auf bereits eingetretene Lernhemmungen) nachholend, sondern auch (im Blick auf zu erwartende Lernhemmungen) vorsorglich durchgeführt werden können. In jedem Fall kommen in ihnen Konflikte zwischen Lernfähigkeiten und Lernaufgaben in curricularen Situationen von Individuen zum Ausdruck, die dadurch auf jene Art von Lernhilfe angewiesen sind, die man im Hinblick auf Kinder und Jugendliche traditionell „Erziehung“ nennt, im Hinblick auf Erwachsene und Greise noch immer nicht mit überzeugenden Termini zu benennen vermag, so dass ich in Anlehnung an Freud hilfsweise von „Nacherziehung“ spreche. Gleich inwieweit man die Lebensalter als Spezifikationsprinzip der Erziehung (Loch 1979a, S. 25ff.) im Horizont des Lebenslaufs versteht, ist folgende allgemeine Hypothese zu beachten: Je jünger der Mensch ist, desto mehr ist die Lernfähigkeit, die er entwickelt, von der Lernhilfe abhängig, die er bekommt; je älter der Mensch ist, um so mehr ist die Lernhilfe, die er benötigt, von der Lernfähigkeit abhängig, die er entwickelt: je größer diese ist, um so weniger ist er auf jene angewiesen. In jedem Fall ist unabdingbar, dass die Lernhilfen Lernerfolge haben sollen. Ihr zentrales Lernziel, das Erziehung von Nicht-Erziehung unterscheidbar macht, besteht darin, den Lernenden zur Selbständigkeit beim Lernen und Handeln zu verhelfen. Darunter verstehe ich letztlich die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nach jedem Menschen zumutbaren Grundsätzen. Insofern begreife ich Erziehung als Lernhilfe zur Mündigkeit und bezeichne ihre im Lebenslauf auftretenden Erscheinungsformen terminologisch als curriculare Erziehungsmuster oder pädagogische Paradigmen. Damit lässt sich die Position der Erzieherinnen und Erzieher in der Konstellation der signifikanten Anderen bestimmen, die jeden Menschen in seinem Lebenslauf wie ein Sternbild begleitet. Unter den signifikanten oder bedeutungsvollen Anderen verstehe ich die Personen, die mir in meinem Lebenslauf viel gegeben oder vorenthalten haben, so dass ich mich dankbar oder vorwurfsvoll ihrer erinnere (Loch 1988; 1995). In dieser Konstellation sind gute Erzieher in der Lebenswirklichkeit wie in der Lebenserinnerung daran zu erken-
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nen, dass sie bemüht sind, die Zuerziehenden nicht mit ihren Lernaufgaben allein zu lassen, sondern diese mit Rücksicht auf die sich zeigenden Lernfähigkeiten in verständlicher Form zu stellen sowie die Lernfähigkeiten durch gezielte Lernhilfen zu aktivieren und zu entwickeln, wodurch negative Lernhemmungen behoben, positive Lernhemmungen bestärkt und Lernerfolge möglich werden, die die so Erzogenen selbständig werden lassen. Auf dieser Struktur beruht, was ich früher als Regelkreis von Lernen, Lernhemmung und Lernhilfe, die zum Lernen aus eigener Kraft befreit, bezeichnet habe (Loch 1979a, S. 21). Sich in dieser Weise selbst überflüssig zu machen, und zwar nicht irgendwann später, sondern immer dann, wenn sich zeigt, dass der Lernende selbständig weiterlernen oder gar schon das Gelernte anwendend handeln kann, ist das entscheidende Sinnkriterium der Erziehung, das auf der in allen menschlichen Gesellschaften in irgendeiner Version ausgeprägten Idee beruht, die zu erziehenden Individuen in den als lebenswichtig angesehenen sozialen Rollen und kulturellen Funktionen möglichst rasch handlungsfähig (kompetent) zu machen, so dass man sie zu den in der betreffenden Kultur vorgesehenen Terminen mündig sprechen kann. Dieses Emanzipationskriterium ist für jeden Vorgang der Lernhilfe maßgebend, der als Erziehung verstanden wird. Es unterscheidet die durch Erziehung zu leistende Lernhilfe von „Lernhilfen“ anderer Art (wie z.B. Dressur, Werbung, Indoktrination, Gehirnwäsche), deren Absicht nicht darin besteht, die Adressaten zu selbständigem Handeln zu befähigen. An dieser Stelle wäre auch der Ort, Erziehung als Lernhilfe von anderen Formen des Helfens (wie z.B. Rettung, Schutz, Fürsorge, Seelsorge, Therapie, Pflege und Beratung) zu unterscheiden, deren kurative Funktion nicht oder (wie bei Pflege und Beratung) nur partiell in Lernhilfe besteht (Loch 1968, S.177f.; Zinnecker 1997, S. 205ff.). In dem nun folgenden Kapitel geht es darum, den in der skizzierten biographischen Erziehungstheorie in Aussicht gestellten Zusammenhang von Lernfähigkeiten, Lernaufgaben und Lernhilfen zur Artikulation der Erziehung im Horizont des Lebenslaufs zu gebrauchen, wobei der Faktor Lernhemmungen nicht ausgearbeitet wird, um die Sache nicht unnötig zu komplizieren (Loch 1996, S. 155ff.).
3. Lernfähigkeiten, Lernaufgaben und Lernhilfen im Lebenslauf 3.1. Einverleibungsfähigkeit, materielle Situation und Wachstumshilfe Die curricularen Kompetenzen beginnen mit der Einverleibungsfähigkeit. Der Mensch wird als „Säugling“ geboren. Der Mund vor allem, aber auch schon die Gliedmaßen und der ganze Körper fungieren als Operatoren basaler Kommunikations- und Lernprozesse. Sie beruhen auf nährenden Einflüssen und prägenden Eindrücken durch den regelmäßigen, durch Rituale stabilisierten Körperkontakt mit den bemutternden Personen (Erikson 1966). In der Wechselwirkung zwischen kindlicher Lust und mütterlicher Liebe erwecken sie grundlegende Stimmungen und Lebensgefühle. Dem Leib der Mutter entnommen, muss das Neugeborene lernen, im eigenen Leib zu leben, ohne sich zunächst selbst helfen zu können. Diese erste curriculare Situation ist besonders verdrießlich, weshalb das Kind durch sein Schreien dagegen protestiert, wie Kant (1964, S. 682) bemerkt hat. In dieser „Lage“ ist der Säugling völlig auf die Hilfe einer Mutter (mater) oder deren Ersatzperson angewiesen, um am Leben bleiben und wachsen zu können. Aber nicht nur deshalb bezeichne ich sie als materielle Situation, sondern auch weil
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dem Kind mit seiner Geburt die wirtschaftlichen Startbedingungen seines Lebens zufallen, die bekanntlich günstig oder ungünstig sein können (Kagan 1984). In jedem Fall erweist sich hier die ursprüngliche Funktion der Erziehung als Wachstumshilfe durch angemessene Ernährung und Wärme gebenden Körperkontakt. Dieses biologische Grundmuster der Erziehung verwirklicht sich durch die sozialen Interaktionen von Schreien und Stillen, Anlächeln und Aufnehmen, Anschmiegen und Getragenwerden, Gebettet- und Angesprochenwerden. So lernt das Kind, während sich sein Organismus entwickelt, sich in seinem Körper wohlzufühlen und im Erleben seiner leiblichen Identität angenehme erste „Selbstempfindungen“ zu haben (Stern 1993).
3.2. Wahrnehmungsfähigkeit, familiäre Situation und Organisationshilfe Von der Wachstumshilfe, die dem Kind zuteil wird, hängt die Entwicklung seiner Wahrnehmungsfähigkeit ab. Zu dieser sensumotorischen Kompetenz gehören die Fähigkeit und der Eifer zum mit den Händen begreifenden, sehend und hörend wahrnehmenden Lernen. Es ermöglicht dem Kind elementare Unterscheidungen und Identifizierungen, Verhaltenskoordinationen und Erfolgserlebnisse bei den eigenen motorischen und lautlichen Reaktionen (Piaget 1969a). In dem Maße, wie sich seine Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt, eröffnet sich dem Kind seine familiäre Situation. Jetzt muss es lernen, dass es die Mutter nicht für sich allein hat, weil noch andere Personen da sind, die ihre Zuwendung verlangen. Diese anderen Personen (z.B. der Vater oder Geschwister) verlangen ihrerseits vom Kind Beachtung und greifen vielfältig in sein Leben ein. Indem die Mutter regelmäßig wiederkehrt, entsteht als Gegengefühl zu Neid, Fremden- und Trennungsangst in der wiederholten Wiedersehensfreude das Vertrauen. Je nach der Familienkonstellation (Toman 1974) kann die familiäre Situation durch Personenverluste vorübergehender oder dauernder Art (wie z.B. bei alleinerziehenden Elternteilen) beeinträchtigt sein. In jedem Fall bestehen die inhaltlichen Lernaufgaben, die die familiäre Situation dem Kind stellt, darin, dass es in dem Maße, wie es hören, sehen und mit den Händen begreifen kann, lernt, mit den Dingen und vor allem mit den für es bedeutungsvollen Personen seiner Umgebung vertraut (familiär) zu werden. Die Lernhilfe, die das Kind, solange es noch nicht gehen kann, auf dieser Stufe benötigt, ist sowohl im Hinblick auf die Entwicklung seiner sensumorischen Fähigkeiten als auch im Hinblick auf seine Anpassung an die Lebensbedingungen seiner Familie eine Organisationshilfe (Spitz 1976). Sie geschieht dadurch, dass die Eltern und Geschwister dem Kleinkind interessante Dinge zum Begreifen an die Hand geben, ihm den Umgang mit den Dingen durch stellvertretendes Einspringen, die Hand führende, unterstützende, ermunternde Hilfen erleichtern und entsprechende Interaktionsrahmen (Kaye 1982, S. 70ff.) bereithalten. Dazu gehört weiter, dass die betreuenden Personen das Kind zu vielen Orten mitnehmen, um ihm dieses und jenes zu zeigen, dass sie wiederherstellen, was es kaputt gemacht hat, reinigen, was es beschmutzt hat, wieder holen, was es weggeworfen oder vergessen hat. Das sind die konkreten Leistungen der Erziehung durch Pflege. Durch sie wird das Kind in die familiären Gepflogenheiten einbezogen, beginnt daran teilzunehmen und wird dadurch bei günstigem Verlauf in eine Ordnung aufgenommen, die es aus eigener Kraft noch nicht einhalten und erst, wenn es gehen und seinen Körper beherrschen gelernt hat, in Form von Pflichten übernehmen kann (Loch 1981, S. 55ff.).
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3.3. Gehenkönnen, Nachbarschaftssituation und Orientierungshilfe Über das Krabbeln- und Stehenkönnen entwickelt das Kleinkind seine lokomotorische Kompetenz, die Körperbeherrschung, die im Gehenkönnen ein curriculares Vehikel von großer Reichweite zur Verfügung hat. Sie versetzt das Kind in den Stand, von Neugier getrieben seine Umgebung zu erkunden und so durch „Erfahrung“ zu lernen, seinen Erfahrungsraum mutig fortlaufend gegen alle Trennungsängste zu erweitern und dabei die ihm gesetzten Grenzen oft schmerzlich zu erfahren. So bringt das Gehenkönnen das Kind in eine Situation, die von der des Liegenmüssens völlig verschieden ist. Jetzt ist es den Annäherungen und dem Sich-Entfernen seiner Mitmenschen nicht mehr hilflos ausgeliefert, sondern kann sich selbst einem Menschen, Tier oder Ding nähern und selbst den Abstand halten, der ihm zweckmäßig erscheint. Es kann davonlaufen und zurückkehren, anderen etwas wegnehmen oder bringen, ihnen folgen oder sie begleiten. Vor allem kann das Kind jetzt aus gewohnten Räumen in unbekannte vorstoßen, um sie zu erforschen, die darin befindlichen Menschen zu beobachten und Dinge zu untersuchen, in Besitz zu nehmen, hin- und herzutragen sowie vertrauten Personen zu zeigen, was es gefunden hat. Die Vorstöße, die es aus der Deckung der familiären Wohnräume in die umliegenden Gebiete unternimmt, eröffnen ihm die seiner Mobilität entsprechende Situation der Nachbarschaft. Sie bietet ihm ein spezifisches Curriculum mit vielen interessanten Lernaufgaben: Hier lernt es, die Angst vor Fremdem und Fremden zu überwinden und Freund und Feind zu unterscheiden; es lernt Wege kennen, die zu bestimmten Orten führen, wo man dieses und jenes sehen oder kaufen kann; es lernt, geschützte von gefährlichen, offene von verbotenen Bereichen zu unterscheiden; und es lernt vor allem andere Kinder und deren Familienwelten kennen und mit der eigenen vergleichen (Loch 1967). Die erzieherischen Hilfen, die das Kind bei diesem ungewohnte Räume erkundenden Lernen benötigt, sind vor allem Orientierungshilfen. Die Erzieherin kann die Kinder auf ihren Wegen begleiten, beaufsichtigen, führen, ihnen Wege weisen, Rückwege zur Sicherheitsbasis eröffnen, Grenzen setzen, aber auch besondere Lernräume vorbereiten, die zugleich sicher und anregend sind, die Kinder zur Selbsttätigkeit anregen, ohne dass sie sich dadurch gefährden oder zu viele Dinge kaputtmachen, sie in verschiedenen Rollen und Vorhaben aktiv werden lassen und ihnen auf deren Erfolge und Misserfolge Rückmeldung geben (Moore/Anderson 1976). Die mehr oder weniger tiefgehenden Erfahrungen, die das Kind unter solchen pädagogischen Kontrollen macht, beruhen weniger auf einmaligen als vielmehr auf wiederkehrenden Begegnungen. Durch „kontinuierliche Begegnung“ gewöhnt der gute Erzieher das Kind mit „pädagogischem Takt“ unauffällig an die gebotenen Umgangsformen (Herbart 1903, S. 258f.). Die Erziehung durch Gewöhnung, deren Muster sich hier abzeichnet, ist beherrscht von der Spannung zwischen den gewohnten und den noch ungewohnten Räumen, in die hinein das Kind fortlaufend seine Lebensmöglichkeiten erweitert (Loch 1983, S. 50ff.).
3.4. Nachahmungsfähigkeit, Satellitensituation und Identifikationshilfe In dem Maße, wie das Kind Wahrnehmung und Körperbeherrschung koordinieren und sich in den subjektiven Sinn des Verhaltens anderer Menschen einfühlen kann, gewinnt eine weitere Kompetenz, die sich schon im sensumotorischen Lernstadium zu zeigen begann, maßgebende Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit: die Nachahmungsfähigkeit als
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die leibhaftige Darstellungsform des Behaltenkönnens, die untrüglich anzeigt, in welchem Maß ein Kind vergangene Verhaltensweisen, die es an anderen wahrgenommen hat, im Gedächtnis bewahren und bei bestimmten Anlässen reproduzieren kann. Je mehr das Kind solcher „aufgeschobenen“ Nachahmung fähig ist, desto mehr kann es in der Vergangenheit Wahrgenommenes erinnern, es in seinem eigenen Verhalten darstellend vergegenwärtigen und das Nachgeahmte als Vorbild für sein künftiges Verhalten übernehmen (Piaget 1969b). Indem das nachahmende Verhalten die Beobachtung des Verhaltens Anderer voraussetzt, eröffnet es die Möglichkeit, nicht nur aus deren Erfolgen, sondern auch aus deren Fehlern zu lernen (Bandura 1976, S. 205ff.). Wenn die Nachahmungsfähigkeit zum führenden Lernmotiv geworden ist, gerät das Kind in bezug auf geliebte oder bewunderte, aber auch in bezug auf gefürchtete oder als lächerlich empfundene Personen in eine Satellitensituation, weil es sie – von ihnen fasziniert – wie ein Satellit unaufhörlich beobachtend umkreist, um sich – oft gegen den Willen und oft auch ohne Wissen der zum Vorbild oder Gegenbild genommenen Personen – alle Attitüden anzueignen, die es interessant findet (Ausubel/Sullivan 1974, S. 256ff.). So ist die Nachahmung nicht nur ein Mittel zur Identifizierung mit einer anderen Person, sondern auch ein Mittel zur Distanzierung. Denn sie bietet die Möglichkeit, einen Anderen durch Hervorhebung schwacher Stellen und komischer Züge lächerlich zu machen. Indem ich das Verhalten Anderer nicht nur beobachte, sondern auch nachahme, gewinne ich genauere Kenntnis von diesem Verhalten. Wenn ich es beim Nachahmen mehrfach wiederhole, kann ich auch eine gewisse Fertigkeit gewinnen. Deshalb ist die Nachahmung eines der wichtigsten Vehikel der elementaren Identifikation und Akkommodation, Sozialisation und Enkulturation. Allerdings ist der Erzieher, der sich den Kindern als Vorbild anbietet, davon abhängig, ob diese ihn als Vorbild akzeptieren. Dadurch wird das Vorbild als Erziehungsmittel von den Zuerziehenden relativiert. Oft ahmen sie nach, was von ihren Erziehern gar nicht gewünscht wird. Deshalb ist die Lernhilfe, die das nachahmende Kind im Hinblick auf sein Vorbild benötigt, vor allem als Identifikationshilfe gefordert. Das Vorbild muss sich so präsentieren, dass es durch sein erfolgreiches Verhalten die Aufmerksamkeit des Kindes erregt und sich seine nachahmenswerten Merkmale gut beobachten lassen, dass sie vom Kind im eigenen Verhalten leicht zu reproduzieren und zu kodieren sind, dass das Kind die für die Nachahmung erforderlichen partiellen Fertigkeiten beherrscht, die Nachahmungsleistung als Erfolg erleben kann und über diese Selbstbekräftigung hinaus bei seiner Vorführung die Anerkennung Anderer findet (Bandura 1979, S. 32ff.; Loch 1991).
3.5. Einbildungskraft, illusionäre Situation und Repräsentationshilfe Immer wenn das Kind ein wahrgenommenes Verhalten nachahmt, setzt es eine Wahrnehmung in eine Vorstellung um. So bewirkt das Nachahmen den Übergang von der Wahrnehmungs- in die Vorstellungswelt und führt letztere immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Im Spiel hingegen macht sich das Vorstellenkönnen von der Wirklichkeit frei und wird zur Einbildungskraft. Vor allem die von der Nachahmung herkommenden darstellenden Spiele, die von den Geschicklichkeits- und den Glücksspielen zu unterscheiden sind, ermöglichen erste Formen kreativen Lernens. Hierbei ist das Kind imstande, die durch Nachahmung übernommenen Verhaltensmodelle durch „spielerische Identifizierung“ mit subjektivem Sinn zu erfüllen, den eigenen Verhaltensmöglichkeiten zu assimilieren, sie auf diesem Wege zu verinnerlichen und dabei vorübergehend nicht nur die Rolle eines Anderen zu überneh-
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men, sondern sich auch in seine Lage zu versetzen und sich selbst darin zu erfahren (Schmitz 1977, S. 453ff.; 1980, S. 43ff.). Außerdem vermag es auch Bedeutungen, die es durch andere Kanäle (Bild, Film und Sprache) empfangen oder selbst erzeugt hat, in seinen Spielen als Ausdrucksweisen seiner Phantasie leibhaftig darzustellen und sich so in der eigenen Verkörperung anschaulich zu machen, was es noch nie gesehen hat. Die überlieferten, im Spielzeug objektivierten und durch eigene Erfindungen modifizierten Spielweisen geben archaischen Antrieben und sich entwickelnden Gefühlen Form und Sinn und ermöglichen so, Verbotenes zu überspielen und im Spiel zu neutralisieren, aber auch die Erfüllung von Wünschen und den geahnten Sinn an Erwachsenen beobachteter Verhaltensweisen phantasierend vorwegzunehmen (Sutton-Smith 1978; 1986). In jeder Gesellschaft bilden die Spiele einen Untergrund der Kultur, an dem die Individuen nicht nur im Kindesalter als Akteure und als Zuschauer in den verschiedensten Proportionen beteiligt sind. In dem Maß, wie das Kind durch seine wachsende Einbildungskraft die phantastischen Welten seiner darstellenden Spiele kreiert bzw. als „Fantasy-Spiele“ von der Spielwaren- und Filmindustrie vorgefertigt bekommt, begibt es sich in eine illusionäre Situation. Jede Art von Spiel (lusus) hat ihre spezifische Illusion, die mit dem Spiel zu Ende ist, wenn auch nicht ohne Nachwirkungen (wenn man z.B. an das Ende eines Schauspiels, eines Kampfspiels oder eines Glücksspiels denkt). Die spezifischen Lernaufgaben, die sich in den illusionären Situationen stellen, sind durch die Spielarten zu erfassen. Die Geschicklichkeits- und die Glücksspiele sind Spiele um Macht durch extreme körperliche Leistungen bzw. durch den gewagten Einsatz in der Aussicht auf Gewinn. Bei den Rollen- und Regelspielen lernt man, sich in die Rollen der Anderen zu versetzen, Regeln zu bilden und einzuhalten. Die nahestehenden Verwandlungsspiele dienen der Selbsterprobung und Selbsterweiterung. In den Kampfspielen sucht man öffentliche Anerkennung und Statusgewinn. Durch Darstellungsspiele (z.B. mit Puppen) lernt das Kind auf der Basis der Nachahmung, abwesende Menschen, Tiere und Dinge, vergangene oder künftige Ereignisse in seinem eigenen Verhalten zu repräsentieren und sich, um sie zu verstehen, denkend darauf zu beziehen. Vor allem im Konstruktionsspiel (z.B. mit Bauklötzen oder Legosteinen) vollzieht das Kind durch das eigene Verhalten stellvertretend das, was es denkt. Damit bekommen seine Handlungen und die dabei benutzten Dinge eine symbolische Funktion (Scheuerl 1959; Loch 1985). Die behutsamen Lernhilfen, die das spielende Kind benötigt, wenn seine Spiele zu illusionär oder zu automatisch werden, fasse ich als Repräsentationshilfen zusammen. Dazu gehören die Schaffung von Selbsttätigkeit herausfordernden Spielräumen, ein Angebot von die Phantasie anregendem Spielzeug sowie die Inszenierung Vergnügen bereitender, die eigenen Lebensbedingungen und Wünsche darstellbar machender und die Kinder sich selbst positiv erfahren lassender Spiele mit Spielregeln, durch die jedes Kind sich gleich geachtet fühlt, und Rollen, die sozialisierd wirken, indem sie das Zusammenspielen begünstigen. Solche Spiele verbinden das Kind emotional mit den Altersgenossen und vermitteln zwischen den verschiedenen Familienwelten durch die Phantasiewelten, die sie gemeinsam kreieren. Durch diese Repräsentationshilfen wird das spielende Kind dazu ermutigt, sich allmählich aus seinem egozentrischen Verhalten in eine exzentrische Grundhaltung zu begeben und dabei eine Fähigkeit zum Bei-der-Sache-Sein zu entwickeln, die die eingebildeten von den wirklichen Sachverhalten unterscheiden und sich spielend zwischen beiden Sphären bewegen kann (Plessner 1964, S. 49ff.). An dieser Stelle muss aus Raumgründen die detaillierte Darstellung der sich aus der Entwicklung der Lernfähigkeit des Individuums in den Situationen seines Lebenslaufs ergebenden Erziehungsmuster beendet und auf ihre Fortsetzung in dem Aufsatz „Forschungen
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zur Anthropologie des Kindes“ (Loch 1996) verwiesen werden, in dem auch die oben in einer verkürzten und in vielen Einzelheiten veränderten Fassung dargestellten fünf ersten Paradigmen enthalten sind. Die darauf im Lebenslauf des Kindes und Jugendlichen folgenden Erziehungsmuster können hier nur noch in einem thesenartigen Überblick zusammengefasst werden.
3.6. Sprachfähigkeit, interpretierte Situation und Kommunikationshilfe Durch spielerische Lautproduktion entfaltet das Kind, von den es umgebenden Personen bekräftigt, seine Sprachfähigkeit. Diese versetzt es beim Umgang mit den Anderen in (sprachlich) vermittelte bzw. interpretierte Situationen, die es verstehen lernen muss. Dabei ist es auf Erziehung als Kommunikationshilfe durch Frage und Antwort, Erzählung und Beschreibung, Erklärung und Begründung, Beurteilung und Anerkennung, Ermunterung und Ermutigung angewiesen.
3.7. Fähigkeit zur Regelbildung , moralische Situation und Entscheidungshilfe Daraus erwächst die Fähigkeit zur Regelbildung, d.h. zum Lernen durch Verallgemeinerung, das für Begriffsbildung, Rollenübernahme und Verinnerlichung von Normen unabdingbar ist, so dass das Kind in den moralischen Situationen, in die es im Konflikt mit den Erwachsenen und seinen Altersgenossen gerät, auf erzieherische Entscheidungshilfe angewiesen ist, die Freiheit gibt, das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden.
3.8. Leistungsfähigkeit, Konkurrenzsituation und Motivationshilfe In dem Maße, wie das älter werdende Kind Regeln folgen und Forderungen durch erlernte Fertigkeiten genügen kann, entwickelt sich seine Leistungsmotivation zur Leistungsfähigkeit. Zur Stärkung der Selbstachtung durch Sport und erste Formen des Arbeitens sucht der Jugendliche in den Konkurrenzsituationen seines Lebenslaufs im Vergleich mit anderen Steigerung und Anerkennung in kulturellen Leistungsbereichen und braucht hier bei der Erziehung durch Trainer Motivationshilfe.
3.9. Denkenkönnen, Problemsituation und Informationshilfe Aus der Fähigkeit zur Regelbildung entwickelt sich auch das Denkenkönnen, die Fähigkeit zum fragenden Lernen, das seine Probleme im Diskurs durch vernünftige Begründungen und im Experiment durch empirische Beweise zu lösen sucht. In den Problemsituationen, in die sich der Interessierte bei den Sachen, um die es ihm geht, im Lebenslauf verstrickt, ist er auf Informationshilfe durch einen Unterricht angewiesen, der dadurch erzieht, dass er Wissen vermittelt, das sich als Können bewährt.
Lebenslauf als anthropologischer Grundbegriff
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3.10. Technische Kompetenz, kreative Situation und Reproduktionshilfe Aus der Verbindung von Leistungs- und Denkfähigkeit entsteht die technische Kompetenz, die Fähigkeit, „Künste“ im weitesten Sinne des Wortes auszuüben und (wie z.B. Lesen und Schreiben, Rechnen und Zeichnen) in kreativen Situationen zum weiteren Lernen und späteren Schaffen zu nutzen. Um Teile der Kultur auf diese Weise in eigenes Können zu verwandeln, müssen sich die Heranwachsenden auf die Disziplin von Schulen einlassen, deren Reproduktionshilfen Lehre und Übung methodisch verbinden.
3.11. Selbstdarstellungsfähigkeit, kritische Situation und Bewährungshilfe Voll handlungsfähig ist der Herangewachsene aber erst, wenn er die technischen Kompetenzen, die er erworben hat, in seiner Person wirkungsvoll zur Darstellung (Performanz) bringen kann, d.h. Selbstdarstellungsfähigkeit besitzt. Um sie zu entwickeln, ist er (wie alle, die aus einer Institution entlassen werden) in den kritischen Situationen, die ihm im Lebenslauf beim Kampf um Anerkennung unweigerlich bevorstehen, auf Bewährungshilfe angewiesen, deren erziehende Funktion darin besteht, ihn durch Prüfung und Beratung zu stärken (Loch 1998a , S. 327ff.).
4. Abschließende Bemerkungen Dieses Curriculum der Erziehungsmuster soll fortgesetzt werden. Ein erster Entwurf, der sich auf den gesamten Lebenslauf erstreckt (Loch 1979b), ist in einem Aufsatz über „Entwicklungsstufen der Lernfähigkeit im Lebenslauf“ (Loch 1998b) hinsichtlich der Lernfähigkeiten präzisiert worden. Die methodische Funktion dieser entstehenden biographischen Erziehungstheorie als Instrument der Forschung sehe ich darin, dass sie der Analyse von autobiographischen Quellen ein Inventar zum Finden und Vergleichen einschlägiger Textstellen und idealtypische Schemata zur verstehenden Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse liefert. In welchem Maß sie meine Arbeiten zur Geschichte der Autobiographie als Bildungsgeschichte gesteuert hat, ist in den Studien über „Die Konstellation der bedeutungsvollen Anderen im Bewusstsein des Kindes“ (Loch 1993) und über „Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien“ (Loch 2000) nachzulesen.
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Werner Loch
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Biographieforschung und Lernen Jutta Ecarius
Inhalt 1. Einleitung 2. Lernen in erziehungswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Forschungsfeldern 3. Biographisches Lernen 4. Lernen und Habitus 5. Ausblick Literatur
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1. Einleitung Biographie und Lernen sind zentrale Begriffe der Erziehungswissenschaft. Der Lernbegriff ist seit den 1960er Jahren ein Grundbegriff der Erziehungswissenschaft. Die Besonderheit des Menschen ist, flexibel zu sein und sein Verhalten durch Erfahrung ändern zu können. Erfahrung meint hier, dass Lernen nicht genetisch determiniert ist, sondern in Interaktion mit der Umwelt stattfindet (vgl. Treml 1995). Zwar bedarf es biologischer Voraussetzungen, jedoch bedeutet die Lernfähigkeit des Menschen, dass genetische Vorgaben von sozialen Lernerfahrungen in der sozialen Welt überlagert werden. Das Nachdenken über Lernen weist bis zur Antike zurück. Die Vorsokratiker und Sophisten vertraten die Vorstellung, dass Unwissende lernen, indem sie die Vorstellungen fremden Wissens übernehmen. Für Platon ist Lernen die Wiedererinnerung, die Anamnesis, eine Form von Erkenntnis, die in der Seele eines jeden geborenen Menschen als eingeschriebene Idee bzw. Erkenntnis enthalten ist. Im platonischen Verständnis ist Lernen das ,Nach-Denken‘ über vergessene Erkenntnisse. Die Aufklärungsphilosophen und -pädagogen wie beispielsweise auch Kant waren der Ansicht, dass nicht nur einzelne Menschen lernen können, sondern die gesamte Menschheit. In den 1960er Jahren war es vor allem Roth (1971), der die Dimension des Sozialen im Lernbegriff betont hat. Damit wurde der ältere Begriff der Sozialerziehung, der in der sozialpädagogischen Tradition von Pestalozzi, Natrop, Willmann und auch Nohl stand und als Erziehung zur Gemeinschaft durch die Gemeinschaft verstanden wurde, abgelöst und zugleich in Anlehnung an diese Tradition in neuer Weise betont. Die Lernfähigkeit des Menschen beginnt, wie Treml betont, mit einer „unspezifischen Offenheit“ (Treml 1995, S. 94) und bedarf emotionaler, kultureller und sozialer Reize zur Entwicklung. Damit wird zugleich die biographische Ebene angesprochen. Erstaunlicherweise wurde jedoch der Lernbegriff nur selten mit dem Begriff der Biographie in Verbindung gebracht. Verbindungen von lerntheoretischen und biographischen Ansätzen findet sich erstmalig in den 1980er Jahren (Loch 1979; Henningsen 1981). In jüngster Zeit wird auf der Grundlage einer ausdifferenzierten qualitativen Methodologie argumentiert (Schulze 1993; Ecarius 1998). In der Entwicklungspsychologie untersuchten zwar schon in den 1930er Jahren Charlotte Bühler, Eduard Spranger und Siegfried Bernfeld Selbstzeugnisse von Jugendlichen. Jedoch standen hier ganz andere Fragen als die des biographischen Lernens im Vordergrund. In den 1960er Jahren entstand eine kleine biographisch orientierte Forschungstradition um Roessler (1957) und Bertlein (1960). Aber auch hier wurden andere Aspekte untersucht. Analysiert wurde anhand von Schüleraufsätzen im Bereich der Jugendpädagogik die Mentalität der westdeutschen Jugendgeneration. Die realistische Wende um Roth (1967) unterbrach dann für ein Jahrzehnt die Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung (vgl. Krüger 1995), obwohl Gamm schon 1967 für eine pädagogische Kasuistik plädierte. Erst seit Ende der 1970er Jahre erfuhr die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ihre eigentliche Blüte (Baacke/Schulze 1979). Hierzu gehören die Bemühungen von Loch (1979) und Henningsen (1981), Biographie und Lernen miteinander zu verknüpfen. Auch wenn es sich dabei nicht um methodologisch und wissenschaftstheoretisch ausgearbeitete Begründungen handelt, bereiten diese Schriften den Weg für eine erziehungswissenschaftliche Biographieforschung vor, die das Lernen ins Zentrum ihrer Analysen und theoretischen Überlegungen rückt. In diesem Beitrag werden in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Begriffe von Lernen in erziehungswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Forschungsfel-
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dern diskutiert. In einem zweiten Schritt wird in Auseinandersetzung mit der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ein biographischer Lernbegriff entfaltet, der die subjektiven Formen des Lernens in den Blick nimmt. Der Blick ist damit auf die individuellen Erfahrungen, die Lernprozesse und die damit verbundene Verarbeitung von Gesellschaft gerichtet.
2. Lernen in erziehungswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Forschungsfeldern Lernen in biographischen Erzählungen zu betrachten heißt, eine ganz spezifische Perspektive einzunehmen. Der biographisch orientierte Lernbegriff grenzt sich von verschiedenen anderen Lernbegriffen in der Erziehungswissenschaft ab, die je nach Gegenstandsfeld unterschiedlich zugeschnitten sind. Ein großes Sachgebiet, in dem der Lernbegriff verwendet wird, sind Arbeiten im Kontext von Schule und Lernen. Dort ist der Lernbegriff ein ganz zentraler Bestandteil pädagogischer Überlegungen. Lernen ist hierbei zwar nicht nur auf eine inhaltliche Grundausbildung in Sprachen, Natur- und Geisteswissenschaft bezogen, dennoch steht schulisches Lernen immer in Verbindung zu schulischen Lehrinhalten, LehrerSchüler-Interaktionen und curricularen Anforderungen (Flitner 1990; Rumpf 1996; Combe/ Helsper 1994; Prengel 1993; Rolff 1993; von Hentig 1993). Schulisches Lernen ist aus alltagsweltlichen und familiären Lebens- und Arbeitsverhältnissen ausgelagert und systematisch organisiert. Neben informellen Lernformen gibt es in der Schule vor allem das regelmäßige und systematisch aufeinander aufgebaute Lernen, das professionelle LehrerInnen in speziell dafür konstruierten sowie institutionalisierten Räume an SchülerInnen vermitteln (Flitner 1995). Zugleich ist die Schule jedoch auch ein Lebensraum für Heranwachsende. Lernen, so fordern Reformversuche immer wieder, hat an den Bedürfnissen und Interessen der Heranwachsenden anzusetzen und deren Lebensformen zu berücksichtigen. Trotz aller Versuche, die Schule auch als Lebensraum zu gestalten, bleibt diese Forderung paradox. Der Widerspruch zwischen systematischem Lernen und lebenspraxisnahem Lernen lässt sich in der Schule nicht vollständig aufbrechen, denn es geht immer auch um die Vermittlung von curricularem Wissen. Die Erwachsenenbildung setzt an einem Lernbegriff an, der auf ein lebenslanges Lernen ausgerichtet ist (Dewe 1997; Kade/Seitter 1996). Organisiertes Lernen und öffentliche Erwachsenenbildung werden dabei oft gleich gesetzt. Zählte früher hauptsächlich die Volkshochschule zum quartärem Bereich des Erziehungs- und Bildungswesens (Kade 1994), so hat sich dieser Bereich gegenwärtig enorm ausgeweitet. Die Erwachsenenbildung ist ein offenes und wenig strukturiertes Feld institutionalisierter Handlungszusammenhänge, zu dem auch Sprach- und Tanzschulen, Buchhandlungen, Akademien bis zu Rundfunk- und Fernsehanstalten zugeordnet werden. Unter dem Stichpunkt ,Teilnehmerorientierung‘ gewann die subjektive Aneignungsperspektive in der theoretischen Diskussion an Bedeutung (Arnold 1985), wobei immer auf das Spannungsverhältnis von Erwachsenenbildungseinrichtung und subjektiver Aneignung hingewiesen wird. Der Lernbegriff weitete sich in der Erwachsenenbildung im Kontext der Weiterbildung sowie der Wahrnehmung und Nutzung von Bildungseinrichtungen auf die Lebensphase der Erwachsenen aus. Ursprünglich war der Lernbegriff auf die Zeit des Aufwachsens beschränkt, die als Entwicklungspotential, versehen mit Entwicklungsaufgaben, verstanden wurde (Hurrelmann/Rosewitz/Wolf 1985). Seit
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dem Verlust des Monopols der Erwachsenen auf Bildung und Aufklärung sind auch die erwachsenen Räume für ständiges Lernen geöffnet. Hierbei bezieht sich das Lernen nicht mehr nur auf institutionalisierte Orte wie Weiterbildungseinrichtungen, Volkshochschulen oder das Funk-Kolleg, sondern fast alle Räume der Erwachsenen öffnen sich für Lernprozesse (Kade/Nittel 1995). Die Formen des Lernens, wie auch der Begriff Erwachsenenbildung impliziert, beziehen sich auf die Nutzung spezieller Angebote offizieller wie auch inoffizieller Lern- und Bildungsorte. Lernen als Teil von biographischer Entwicklung konzentriert sich ähnlich wie im Bereich der Schule auf den Zuwachs spezieller Fähigkeiten und Kompetenzen. Die entwicklungspsychologische Lernforschung kann auf die längste Tradition verweisen. Hier findet sich eine Vielzahl an Begrifflichkeiten und Definitionen. Je nach Forschungstradition werden unterschiedliche Formen des Lernens benannt. Vorwegzuschicken ist, dass in diesen Ansätzen nicht der Zusammenhang von Biographie, Erziehung und Lernen im Zentrum steht. Fokussiert werden Lernsequenzen, die als wiederholbare Situationsausschnitte betrachtet werden. Im klassischen Behaviorismus, wie er von Pawlow und Skinner begründet wurde, ist Lernen eine Reiz-Reaktions-Verbindung. Verhalten wird als eine Form von Verarbeitung von Erfahrungen von Umwelteinflüssen gedeutet. Dazu gehören das klassische und operante Konditionieren. Der Mensch als ein aktivitätsbereites Wesen lernt über Versuch und Irrtum, wobei positive wie auch negative Verstärker für den Erwerb von Verhaltensweisen entscheidend sind. Erweitert wurde dieser Ansatz von Bandura (1976), der von einem Modell-Lernen ausgeht. Danach ist Lernen nicht auf Imitation reduziert, sondern im Umgang mit Menschen werden kognitive Schemata und Regelsysteme ausgebildet, die das Verhalten steuern. In Auseinandersetzung mit der Subjekt-Objekt-Asymmetrie behavioristischer Forschungsansätze sind Modelle Subjektiver Theorien entstanden (vgl. Christmann/Scheele 1995). In Anlehnung an die Theorie Personaler Konstrukte (Kelly 1955) wird ein epistemologisches Subjekt-Modell unterstellt (Groeben/Scheele 1977), bei der Reflexivität, Rationalität, Handlungsfähigkeit und Sprach- sowie Kommunikationskompetenz als Ziele der Subjektbildung genannt werden. Subjektive Theorien sind Kognitionen der Selbst- und Weltsicht. Sie sind ein komplexes Aggregat von Argumentationsstrukturen. Handlungen sind individuelle Bedeutungsaspekte, die kommunizierbar sind. Individuell angeeignetes Wissen wird im Verlauf handlungsbezogener kognitiver Prozesse aktualisiert, wobei Wissen stabilisiert und inhaltlich verändert wird (vgl. König 1995). Erwähnenswert ist auch der kognitive entwicklungspsychologische Ansatz von Piaget (1978). Er unterstellt eine Stufenfolge des Lernens. Die Entwicklung kognitiver Strukturen unterliegt hier einer Gesetzesmäßigkeit. Die Stufen sind die der sensomotorischen Intelligenz (0-2 Jahre), der konkreten Operationen (2-11 Jahre) und der formalen Operationen (ab 12 Jahre). Diese gelten für den Gesamtzusammenhang der kognitiven, moralischen und sozialen Entwicklung. Der Prozess des Lernens ist bei Piaget (1978) ein aktiver Vorgang: entweder werden neue Erfahrungen in die Eigenstrukturen aufgenommen, was als Assimilation verstanden wird, oder es findet eine partielle Veränderung unter dem Einfluss der sozialen Umwelt statt, die als Akkommodation bezeichnet wird. Insgesamt abstrahieren die lerntheoretischen Annahmen der Psychologie weitgehend von subjektiven Erfahrungen einzelner Subjekte. Die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung versucht, direkt an der Binnenperspektive des Subjekts anzusetzen (Bauer 1997). Jedoch liegen hier bisher nur einige wenige Überlegungen vor, Autobiographien und Lernen in einen engeren Zusammenhang zu stellen. Dies liegt nicht zuletzt an methodologi-
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schen Problemen. Bis in die 1980er Jahre fehlten ausgefeilte methodologische Analyseinstrumentarien, die ein kontrolliertes Fremdverstehen ermöglichten. Anfang der 1980er Jahre unternahmen Loch (1979) und Henningsen (1981) in der Tradition von Dilthey den Versuch, den Lebenslauf bzw. die Autobiographie in den Kontext von Erziehung und Aufwachsen zu stellen. In allen Ansätzen jedoch bleibt der Aspekt des biographischen Lernens unterbelichtet. Loch (1979) legt den Schwerpunkt seine Untersuchung auf den Zusammenhang von Erziehung und Lebenslauf. Damit liegt der Fokus unter Verweis auf Nohl sowie Bollnow auf dem pädagogischen Bezug bzw. der pädagogischen Atmosphäre, der Interaktion zwischen Erziehung und zu Erziehendem. Unterschieden wird zwischen Lebenslauf und Selbstverwirklichung bzw. Personalisation, dem subjektiven Lebensweg eines einzelnen. Dabei wird Identität als Bildungsprozess verstanden. „In diesem curricularen Bildungsprozess gewinnt das zur Welt gekommene menschliche Individuum durch subjektive Verarbeitung der angeborenen und geschichtlichen Möglichkeiten in den vier Systemen, als deren Schnittpunkt es denkbar ist: dem organischen, personalen, sozialen und kulturellen System, seine sich in Wiederholungen verfestigende und zugleich fortlaufend wandelnde Gestalt“ (Loch 1979, S. 17). Gewählt wird zum einen ein kulturanthropologischer Ansatz. Die Entwicklung des Individuums versteht er als eine Wechselwirkung von Wachstums- und Lernprozessen. Organisch bedingte, genetisch vorprogrammierte Verhaltensänderungen werden durch Lernformen, die durch eigene Leistungen des Individuums herbeigeführt werden und Verhaltensänderungen hervorrufen, ergänzt. Zum anderen wird an struktur-funktionalen Überlegungen angeknüpft. Aus dieser Sicht wird Sozialisation als die Übernahme von Rollen gedeutet. Jede Lebensphase weist typische Lernaufgaben auf, die das Individuum zu bewältigen hat. Eine solche Interpretationsweise basiert auf der Ende der 1970er Jahre aktuellen Debatte um die Lebenslaufforschung, die an amerikanische Überlegungen anknüpfte. Impliziert war, den Begriff der Sozialisation, des Lernens, auf den gesamten Lebenslauf auszudehnen und die einzelnen Lebensphasen in die Gesamtheit des Lebens einzubinden (vgl. Ecarius 1995, 1996). Lochs Interesse bestand darin, den Lebenslauf mit dem subjektiven Lebensweg zu verbinden und zugleich pädagogische Fragestellungen mit der Sozialisationsforschung zu verknüpfen. Ausgegangen wird von einem Regelkreis von Lernen, Lernhemmung und Lernhilfe (Loch 1979, S. 21). Werden Lernprozesse gehemmt bzw. liegt eine Lernhemmung vor, setzt pädagogisches Handeln ein, das sich an der Stelle überflüssig macht, an der der Lernvorgang des Heranwachsenden wieder sich selbst überlassen werden kann. Hierin liegt auch der Schwerpunkt der Überlegungen. Anliegen des biographischen Zugangs ist, Lernhemmungen beim Kind zu beseitigen. Angelehnt am Diltheyschen Verstehensbegriff, dem hermeneutischen Zirkel, kann der Pädagoge sich dem biographischen Wissen des Kindes nähern und Lernhilfen entwickeln, die an den subjektiven Bedürfnissen des Kindes orientiert sind. Das Kind wird dadurch zum Mitwirkenden von Erziehungsprozessen. Die Argumentationen von Loch konzentrieren sich auf eine kindgerechte Erziehung. Der biographische Zugang dient als Zugang zu den Lebensformen des Kindes (Son 1997). Insgesamt wird eine biographische Erziehungstheorie konzipiert und weniger biographisches Lernen im biographischen Erzählen betrachtet (Loch 1979, S. 178). Als Gesellschaftstheorie wird ein systemischer Zugang gewählt. Normative Orientierungen bilden in dieser Gesellschaftstheorie den Sinnhorizont für das Handeln. Subjektive Bedürfnisse und Interessen bleiben auf diese Weise unterbelichtet. Zu erwähnen sind auch die Überlegungen von Henningsen (1981). Er unterstreicht die Bedeutung von Autobiographien für die Erziehungswissenschaft, indem er betont: „Die Er-
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ziehungswissenschaft untersucht Autobiographien, weil diese zurückverweisen auf Lerngeschichten“ (Henningsen 1981, S. 7). Zugleich beklagt er den Mangel geeigneter methodischer Instrumentarien, die eine differenzierte und kontrollierbare Analyse ermöglichen (Henningsen 1981, S. 19). Diese Mängel sind gegenwärtig mit der Methode des narrativen Interviews (Schütze 1981) weitgehend behoben. Henningsen betont, dass Autobiographien als historische Quellen einen direkten Einblick in das Erleben des einzelnen geben und darüber hinaus auch systematische Vergleiche mehrerer Biographien einer Generation möglich sind. Das Anliegen ist, nicht nur zu untersuchen, was Heranwachsende in der Schule oder Ausbildung lernen, sondern die Gesamtheit lebenslangen Lernens in den Blick zu nehmen. Autobiographien ermöglichen – und das nennt Henningsen als weiteren zentralen Aspekt – einen „direkten inneren Bezug zur Bildung“ (Henningsen 1981, S. 21). Zwar verwendet Henningsen zu Beginn seiner Überlegungen den Begriff des Lernens, jedoch konzentriert er sich dann später auf den Bildungsbegriff. Eine Unterscheidung wird nicht vorgenommen. Der anfänglich benutzte Begriff des Lernens wird im weiteren Verlauf zum Bildungsbegriff. Dies verdeutlicht sich dann in der Formel ,Bildung durch Leiden‘. In Form von Leidensprozessen werden Lern- und Bildungsprozesse in Gang gesetzt. Autobiographische Erzählungen können nach Henningsen darüber hinaus als schriftliches Dokument für Dritte handlungsanweisend sein. Sie regen als Beispiel gelebten Lebens zur Bildung an. Die dokumentierten Vergewisserungen autobiographischer Erfahrung werden zu Anstöße von Bildungsprozessen. Die Versprachlichung des biographischen Gewordenseins eröffnet für andere die Möglichkeit, eigene Bildungsprozesse in Gang zu setzen. Henningsen hat damit sowohl die Bedeutung der Sprache herausgearbeitet als auch betont, dass in den 1980er Jahren ausdifferenzierte biographische Methoden fehlen, die ein kontrolliertes Fremdverstehen ermöglichen. Neuere Ansätze der Biographieforschung haben nicht jene methodologischen Probleme, die die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in den 1980er Jahren noch nicht lösen konnte. Es ist der Renaissance der Chicagoer Schule und des Symbolischen Interaktionismus zu verdanken, dass sich in der Erziehungs- und Sozialwissenschaft die Biographieforschung etablierte. Mit der programmatischen Schrift von Baacke und Schulze (1979, 1993) zum Thema „Aus Geschichten lernen“ gelang ein Zugang zur erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, die durch die Hereinnahme der neueren methodologischen Ansätze der qualitativen Sozialforschung profitierte. Unter Verwendung differenzierter Forschungsmethoden entwickelte sich die biographisch orientierte Erziehungs- und Sozialisationsforschung, die erziehungswissenschaftliche Forschung von Kinder-, Jugend- und Studentenbiographien, die qualitative Erwachsenenbildungsforschung sowie die biographisch orientierte Medienpädagogik (vgl. Krüger 1995). Der Bereich Biographie und biographisches Lernen wurde vor allem von Schulze (1983, 1993) untersucht. Schulze (1995) unterscheidet verschiedene Ebenen des Biographischen. Ausgangspunkt ist das biographische Subjekt. Dies wird als das ,Auto‘, das ,Selbst‘, eines Subjekts bezeichnet. Hierzu zählen die Erinnerungen und die Bilder von sich selbst, die das Subjekt gespeichert hat, genauso wie das aufgebaute Selbstbewusstsein und die Selbstverwirklichungen. Das Subjekt ist gleichermaßen Produzent und Produkt seiner Biographie: „Dieses biographische Subjekt ist also nicht nur Produzent einer Autobiographie, sondern zugleich Produkt und Produzent seines Lebens und immer ein Teil desselben“ (Schulze 1995, S. 16). Darin enthalten sind drei unterschiedliche Ebenen: das Leben als Bios, das biographische Subjekt und autobiographische Materialien (Schulze 1995). Das biographische Subjekt ist gelebtes Leben. Zugleich ist es dasjenige, das autobiographische Ma-
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terialien über gelebtes Leben produziert. Die autobiographischen Materialien liefern einen direkten Zugang zur Lebenswelt, den Gefühlen und Lernprozessen der Subjekte. Schulze geht davon aus, dass sich die „unterschiedlichen Konzeptualisierungen individuellen Lebens zurückführen lassen auf verschiedenartige Lernprozesse, die die Auseinandersetzungen des einzelnen mit seiner Umwelt, seinen Initiativen, auf diese Umwelt einzuwirken und seine Anstrengungen, das Leben zu bewältigen, in unterschiedlicher Weise bestimmen und herauszufordern“ (Schulze 1993, S. 195). Ihm ist daran gelegen, die unterschiedlichen Lernprozesse näher zu fassen, um die Auseinandersetzungen des einzelnen mit sich selbst und seiner sozialen Umwelt, seinen Initiativen und Anstrengungen, das Leben zu bewältigen, analysieren zu können. Die Frage ist daher, ob in erzählten Lebensgeschichten unterschiedliche Lernbedingungen und Lernergebnisse enthalten sind und wie sie dargestellt werden, also welche generellen Merkmale sie aufweisen? Es ist die Frage danach, wie Lernen und Erziehung erfahren und in biographischen Schilderungen dargestellt werden, welche Lernprozesse sich in biographischen Erzählungen offenbaren und wie sich daraus spezifische Handlungsmuster entwickeln. Schulze versteht lebensgeschichtliche Erzählung als Lerngeschichten. Im biographischen Erzählen werden die für das Subjekt bedeutsamen konkreten „Lernsituationen und Lernprozesse angesprochen“ (Schulze 1993, S. 196). Diese sind auf die Herstellung von Identität ausgerichtet. Es sind nicht beliebige Lernprozesse wie z.B. das Erlernen von geschichtlichem Wissen, also curricularem Lernen, das erzählt wird. Geschildert werden die relevanten Lernprozesse, die in Selbstbildungsprozesse einmünden. “Die in autobiographischen Texten erinnerten und reflektierten Lernprozesse (…) zielen auf die Herstellung und Balance von Identität, beschaffen Sinn, erzeugen eine individuelle Lebensperspektive und gehen darum ein in die Lebensgeschichte“ (Schulze 1993, S. 201). Das Subjekt erzählt, welche Erfahrungen und Lernprozesse zu diesen und keinen anderen Lebenswegen geführt haben, was die Gründe für biographische Entscheidungen waren und wie sich aus Lernprozessen zentrale Handlungsmuster entwickelten. Schulze (1993) nennt einige Formen des biographischen Lernens. Zu ihnen zählt er ganz verschiedene Lernmuster: Das selbstorganisierte Lernen ist für ihn ein Lernen aus Erfahrungen; das diskontinuierliche Lernen versteht Schulze als ein Lernen bei Gelegenheit; das ökologische Lernen verweist auf das Lernen in Lebenswelten; das irritierende Lernen ist ein Lernen in Widersprüchen und Brüchen; das symbolisierende Lernen ist ein Lernen in Szenen und Sprüchen; das affektive Lernen ist das Lernen von Gefühlen und das reflektierende Lernen führt zu einem Lernen von Umschreibungen biographischer Erfahrungen. Schulze hat vor dem Hintergrund der Kontrastfolie des curricularen Lernens einen zentralen Schritt unternommen, verschiedene Formen biographischen Lernens zu benennen. Er ist damit einen wesentlichen Schritt gegangen, autobiographische Erzählungen für die Analyse von biographischen Lernprozessen fruchtbar zu machen, indem er in Bios, Subjekt und autobiographischen Materialien unterscheidet und erste Muster biographischen Lernens herausarbeitet.
3. Biographisches Lernen Versteht man die biographische Erzählung als Lerngeschichte, wird der Blick auf die innere Erfahrung gelenkt (Mauerer 1981). Hierbei wird in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, des Symbolischen Interaktionismus sowie der Lerntheorie von Bateson
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argumentiert. Ausgegangen wird davon, dass das erzählende Subjekt in der biographischen Rekonstruktion sein Leben in Form von Erfahrungszusammenhängen und Ereignisverkettungen darstellt, die auf biographische Lernprozesse verweisen (vgl. Ecarius 1998). Diese umfassen Erfahrungen mit sich und anderen in einer ganz konkreten historischen und sozialen Umwelt. Lebensgeschichtliches Lernen ist als innere Erfahrung auf die Ausbildung und Aufrechterhaltung der persönlichen Identität gerichtet. Nach Dilthey ist die Biographie die „Selbstbestimmung des Menschen über seinen Lebensverlauf“ (Dilthey 1973, S. 200). Lebensgeschichten als Lerngeschichten sind in einen identitätskonstituierenden Zusammenhang eingebettet. Konkrete Lebensereignisse mit einem nachhaltigen Erfahrungsinhalt werden zu Sinn- und Bedeutungseinheiten. Mit anderen Worten: in Interaktionen mit den Familienmitgliedern, den Eltern, Geschwistern und Verwandten entstehen Erfahrungs- und folglich biographische Lernprozesse, durch die sich die Weltsicht als auch das Selbstkonzept herausbildet (Bauer 1997). Biographietheoretisch lässt sich an den Annahmen von Schütze (1981, 1995) ansetzen. In biographischen Erzählungen stellt der Biographieträger zentrale Erlebnisse dar, die auf identitätskonstituierende Erfahrungen und in diesem Zusammenhang auf die erzählerische Darstellung von biographischen Lernprozessen verweisen. Hiermit wird Lernen als biographisches Lernen in den Kontext von biographischen Rekonstruktionen gestellt. Es handelt sich somit nicht um die Aneignung von Wissen, spezifischen Kenntnissen oder curricularen Lehrinhalten. Biographische Erzählungen enthalten die für das Selbst bedeutsamen Interaktions- und Beziehungskonstellationen. Der Aufbau der Erzählung ist auf die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung sowie die gegenwärtige Haltung dazu fokussiert. Es ist das „Prädizieren von Erfahrungszusammenhängen“ (Schütze 1984, S. 79). Die BiographieträgerIn erzählt, welche Erfahrungen und Veränderungen sie bzw. er erlebt und wie sich dadurch das Selbstkonzept wandelt. In der Erzählung werden die zentralen sich im Verlauf des Lebens verändernden sozialen Beziehungen und die damit verbundenen Ereignis- und Erfahrungsverkettungen geschildert. Eingeflochten werden der soziale Bezugrahmen, die Lebensmilieus und die sozialgeschichtlichen Gegebenheiten, insofern sie für die Erfahrungsaufschichtungen von Relevanz sind. Hervor tritt der Prozesscharakter des Werdens, die für die Konstituierung des Selbst zentralen biographischen Lernprozesse. „Jedes Erzählen selbsterlebter Erfahrungen bezieht sich zumindest partiell auf die Veränderung des Selbst des Erzählers als Biographieträger, der ,seinerzeit‘ die berichteten Ereignisse erlebt hatte und der sich ,seinerzeit‘ aufgrund der Verstrickung in die berichteten Ereignisse (und sei es nur als ,bloßer Beobachter‘) und der Auswirkung ihres Erlebens auf die Innenwelt des eigenen Selbst zumindest spurenweise verändert hatte und der in der verstrichenen Zeit zwischen Erlebnis- und Erzählsituation möglicherweise auch erheblicheren Veränderungsprozessen unterworfen war. Jedes Stegreiferzählen ist auch das Wiedererinnern dieses mehr oder weniger unmerklichen Veränderungsprozessen.“ (Schütze 1984, S. 82). Das Erzählen von Erfahrungsprozessen, die sich auf die Konstituierung des Selbst bezieht, verweist auf stattgefundene biographische Lernprozesse. Die biographische Erzählung enthält die narrative Darstellung „lebensgeschichtlich relevanter Zustandsänderungen des Biographieträgers und seiner entsprechenden Ereignisverstrickungen im Rahmen einer Erzählkette“ (Schütze 1984, S. 82f.). Das Erzählen von solchen Erfahrungen ist auf Veränderungen des Selbst bezogen. Jedes Stegreiferzählen ist das Erzählen von neuen Handlungskapazitäten, der Realisierung oder Behinderung biographischer Planungen, der Bewertung neuer Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten, der Erfahrung mit entsprechenden Kreativitätsschüben sowie der Verstrickung in Bedingungsnetze bis zur Manövrierunfähigkeit oder gar eines Verlustes von
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Handlungs- und Erfahrungskapazitäten (vgl. Schütze 1981, S. 74). Folglich können dann auch die verschiedenen Erzählformen und -ebenen dahingehend untersucht werden, welche Muster an biographischen Lernprozessen vorliegen. Um die einzelnen Formen des Lernens im biographischen Erzählen, der prozesshaften Konstitution des Selbst, unterscheiden zu können, ist es sinnvoll, an den Überlegungen von Bateson (1994) anzuknüpfen. Die Grundstufe des Lernens ist das Lernen 0. Auf dieser Ebene werden Begriffe, Orte oder Gegenstände erlernt. Bedeutsam ist hierbei, dass bei dieser Form des Lernens noch keine Korrektur in der Wahrnehmung von Gegenständen wie auch in der Art des Lernens vorgenommen wird (Bateson 1994, S. 379). Lernen I baut auf Lernen 0 auf und beinhaltet eine Form des Lernens, in der schon Korrekturen in der Auswahl innerhalb einer Anzahl von Alternativen vorgenommen werden können. Lernen II beinhaltet die Möglichkeit der Veränderung im Lernen des bisher Gelernten. Es ist die Fähigkeit, innerhalb von schon Bekanntem Neues oder Anderes auszusuchen, die bisherigen Schritte zu verbessern oder zu verändern. Davon unterschieden wird noch eine weitere Lernform, das Lernen III. Auf dieser Stufe wird Erlerntes reflexiv revidiert und ein anderer, neuer Strukturzusammenhang hergestellt. Voraussetzung sind entsprechende neue soziale Räume und Interaktionspartner, mit denen ganz neuartige Erfahrungen möglich sind. Interessant für den biographischen Lernbegriff ist das Lernen I und II. Lernen I kann als die Voraussetzung von Lernen II verstanden werden, denn erst auf dieser Ebene findet eine Erweiterung von Erfahrungen statt. Ein Kind, das eine Erziehung erfährt, in der es lernt (Lernen I), früh selbständig zu werden, die Freizeitgestaltung selbst zu planen und Muster des Verhandelns zu praktizieren, wird im späteren Leben auf Personen treffen, die sich im Verhalten von dem der Eltern unterscheiden. Hier besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, dass das nun herangewachsene Kind sich mit diesen Interaktionsformen auseinandersetzt und neue Interaktionsmuster erlernt. Werden die Erfahrungen für das Selbstkonzept relevant, setzen biographische Lernprozesse ein. In der biographischen Erzählung werden über die Erfahrungsaufschichtung und Ereignisverkettung die biographischen Lernprozesse dargestellt. Diese Form des Lernens kann im Sinne von Bateson als ein Lernen II verstanden werden. Es handelt sich um eine Veränderung bereits Gelernten. Das bisher Gelernte wird über einen langsamen Erfahrungsprozess korrigiert. Verändert hat sich – bezogen auf das Beispiel – die Grundstruktur des Umgangs mit anderen Menschen sowie das Selbstverständnis von Verhaltensweisen, die nun praktiziert werden. Interaktionsmuster werden in einer anderen Weise wahrgenommen und die eigenen Handlungsmuster weisen eine veränderte Struktur auf. Aus dem Beispiel geht zugleich hervor, dass biographische Lernprozesse Interaktionspartner sowie ein spezifisches soziales Umfeld benötigen. Dies kann die Schule, eine Freizeiteinrichtung oder auch die jugendliche Peer-group sein. Angeschlossen werden kann hier an den Annahmen von Mead. Danach wird soziales Handeln in Auseinandersetzung mit anderen erlernt. Das soziale Milieu, der sozialgeschichtliche Zeitrahmen, die konkreten Interaktionspartner und die generalisierten Anderen bilden den sozialen Kontext für die Ausbildung des Selbst. Es ist der soziale Rahmen, in dem biographische Lernprozesse stattfinden. In Interaktion mit anderen erlernt der Heranwachsende soziale Typisierungen und Verhaltensmuster. Zugleich erkennt er sich in Auseinandersetzung mit anderen selbst und bildet eine Identität heraus. Auch nach Bateson (1994, S. 386) gehören die zentralen Interaktionspartner unabdingbar zu den Verstärkern oder Bestätigern von Verhaltensweisen und Handlungsmustern. Mead (1991) hat herausgestellt, dass die Wissensaneignung nur in Auseinandersetzung mit anderen entsteht. Soziales Verhalten, das langsam erlernt wird, bildet sich
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durch eine antizipative Rollenübernahme, des „taking the role of the other“, aus. Es sind zu Beginn des Lebens ganz konkrete Personen, also die Eltern, Geschwister, Verwandten oder Freunde. In der Interaktion mit konkreten Anderen, in der das lernende Kind sein Verhalten anhand anderer reguliert, wird es sich seiner eigenen Handlung bewusst. „Der Sinn an sich, (...) entsteht in der Erfahrung dadurch, dass sich der Einzelne dazu anregt, die Haltung des anderen in seiner Reaktion auf das Objekt zu übernehmen. Sinn ist das, was anderen aufgezeigt werden kann, während es durch den gleichen Prozess auch dem aufzeigenden Individuum aufgezeigt wird“ (Mead 1991, S. 129f.). Identität entsteht somit innerhalb von familialer sowie sozial-gesellschaftlicher Erfahrung. „Der Einzelne hat eine Identität nur im Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe. Die Struktur seiner Identität drückt die allgemeinen Verhaltensmuster seiner gesellschaftlichen Gruppe aus“ (Mead 1991, S. 206). Zugleich ist das Selbst nicht allein das Abbild gesellschaftlicher Prozesse. Schon das kleine Kind ist durchaus in der Lage, in Auseinandersetzung mit anderen soziale Strukturen umzugestalten oder auf Normen und Werte in der Familie Einfluss zu nehmen. Somit ist auch jedes biographische Selbstkonzept von anderen verschieden. Biographisches Lernen ist hierbei Erfahrungsreservoir und Sinnhorizont für neue Erlebnisse wie auch alltägliches Handeln. Zwischen dem schon aufgebauten Selbstbild und einem aktuellen Erlebnis besteht dabei ein prinzipiell offenes, interpretatives Wechselverhältnis. Richtung und Inhalt der biographischen Lernprozesse ergeben sich immer auch aus den Bezügen zur sozialen Umwelt und den zentralen Interaktionspartnern. Damit gewinnt das soziale Milieu und das Lernen in der Familie besondere Bedeutung. Denn dort finden die ersten und elementaren biographischen Lernerfahrungen statt. Nicht umsonst werden in der biographischen Erzählung zu Beginn die Familienkonstellationen und der sozialgeschichtliche Rahmen erwähnt. Sie sind die Ausgangsbedingungen für biographisches Lernen. Erzähltheoretisch beginnt eine biographische Rekonstruktion in der Regel mit einer beschreibenden Darstellung des biographischen Rahmens. In den Narrationen werden zu Beginn der Erzählung zentrale Ereignisse geschildert, die die Darstellung grundlegender biographischer Lernprozesse enthalten. Es wird der soziale Rahmen geschildert, der den Kontext für erste Lernprozesse abgibt, die im Sinne Bateson als Lernen I verstanden werden können. Oftmals verweist der Biographieträger auf seine Geburt, das Elternhaus, die Geschwister und die Erfahrungen in der Kindheit. Es sind die Ausgangsbedingungen, die zu weiteren Lebenserfahrungen bzw. biographischen Lernprozessen führen. Die erzählten Zustandsänderungen sind nach Schütze „nicht denkbar ohne seine Verwobenheit in Ereignisverläufe“ (Schütze 1984, S. 88). Lebensgeschichtliche Erfahrungen werden zu Ereignisketten verknüpft. Sie stehen in systematischer Beziehung zueinander. Im Verlauf der Erzählung werden weitere Ereignisträger eingeführt und Erlebnisse szenisch dargestellt. Erzählt wird in der weiteren biographischen Rekonstruktion, wie durch eine Veränderung in der Auswahl von Handlungsstrategien sich das Leben verändert und neue Erfahrungen gesammelt werden (Lernen II). Aus der Gesamtheit der verschiedenen Erfahrungsketten und Ereignisse ergibt sich dann die biographische Lebensgeschichte, oder wie Schütze es nennt, die biographische Gesamtformung. Schütze geht sogar soweit, dass er jeden Erzählsatz als eine Zustandsänderung versteht: „Jeder Erzählsatz beinhaltet eine Zustandsänderung des Biographie- oder anderer Ereignisträger über eine zeitliche Schwelle hinweg“ (Schütze 1984, S. 88). Die biographischen Zustandsänderungen, die in Ereignisabläufe verwoben sind, können äußerlich oder inner-psychisch (vgl. Schütze 1981) bedingt sein. Zum einen ergeben sie sich aus sich ständig ändernden soziohistorischen Erneuerungen. Dazu zählen sich wandelnde
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Alltagseinflüsse, die Familieninteraktion und Erziehungsregeln genauso wie politische und wirtschaftliche Verhältnisse sowie technische Innovationen. Das lernende Subjekt hat sich den vorgegebenen Konstellationen der Familienstruktur sowie den darin eingebetteten historischen Wandlungsprozessen anzupassen und seine Handlungen darauf abzustimmen. Aber es ändern sich im Leben auch die sozialen Bezüge. Die ersten Freunde im Sandkasten werden zu Kindergartenfreunden und später zu Schulfreunden; Orte und Institutionen wechseln und selbst die familialen Interaktionsbeziehungen wandeln sich. Zum anderen aber können Lernprozesse auch aus einem inneren Antrieb heraus in Gang gesetzt werden: wenn z.B. versucht wird, in der Partnerschaft andere, neue Interaktionsmuster mit dem Partner auszuprobieren oder bestimmte Verhaltensweisen zentraler Bezugspersonen nicht mehr akzeptiert werden. Hier ergreifen die Erzählenden von sich aus Handlungsinitiative, um Lebenssituationen zu verändern. Zudem sind drittens auch endogene Reifungsprozesse wie Laufen und Sprechenlernen, die kognitive Entwicklung sowie im späteren Verlauf des Lebens biologische Abbauprozesse wie Krankheit, Konzentrationsschwächen, Seh- und Gehbehinderung zu nennen, die auf das Selbstkonzept Einfluss nehmen und es in spezifischer Weise verändern können. Die sozialen Bedingungen, die selbst sozialen Wandlungsprozessen unterliegen, die eigeninitiierten Veränderungsprozesse sowie endogene Reifungsprozesse führen im lebensgeschichtlichen Verlauf zu Änderungen der zentralen Handlungsschemata. Die damit verbundenen biographischen Lernprozesse können absichtlich intendiert sein, sie können aber auch spontan aus Lebenssituationen heraus entstehen. Unabhängig aber, ob selbsttätig eingeleitete oder unabsichtlich hervorgerufene biographische Lernprozesse vorliegen, der soziale Kontext ist ausschlaggebender Konstitutionsrahmen. Insofern ist biographisches Lernen kein monadischer Vorgang. Die Interaktionspartner und sozialen Beziehungsschemata sind zentrale Hintergrundbedingungen, die den Verlauf von Transformationen beeinflussen. Als Geflecht sozialer, physischer und psychischer Beziehungsschemata sind sie Konstitutionsund Bedingungstextur von biographischen Lernprozessen. Sowohl Bateson als auch Schütze machen immer wieder auf die Bedeutsamkeit des sozialen Rahmens aufmerksam. Eine unmerkliche Korrektur in der Art des Lernens wird oft von anderen, den Interaktionspartnern wie den Eltern oder Geschwistern in Gang gesetzt. Wird zum Beispiel in einer Lebensgeschichte erzählt, dass der Biographieträger in den ersten Lebensjahren Einzelkind war und verwöhnt wurde (Lernen I), sich dann aber durch die Geburt weiterer Geschwister seine Stellung und Position in der Familie wandelte und er sich mit seinen Geschwistern auseinandersetzen musste, werden Umorientierungen erforderlich, die biographische Lernprozesse (im Sinne eines Lernen II) in Gang setzen. Das Gelernte fügt sich in die bisherige biographische Struktur und das Selbstbild ein, wandelt und erweitert es, wobei die Grundzüge des Habitualisierten bestehen bleiben. Zwar wird eine Umwandlung in der Struktur des bisher Gelernten notwendig, da der Erzähler nun nicht mehr Einzelkind, sondern Erstgeborener ist und sich seine sozialen Bezüge dadurch ändern (müssen), jedoch bleiben die biographischen Lernprozesse anschlussfähig an das Vergangene. Aus der Kleinfamilie wird ein erweiterter Familienverband, in dem Regeln und Interaktionsmuster neu erfahren und auch ausgehandelt werden. Erzählt werden die hinzu erworbenen Handlungsmuster, die zentral für das Selbstkonzept sind. Jeder Erzähler liefert eine typische Erzählform, die mit der Erfahrungshaltung korrespondiert. In Ereignisabläufen wird eine bestimmte Haltung eingenommen, die sich in der autobiographischen Erzählung widerspiegelt. Dadurch werden die biographischen Erfahrungen und das biographische Lernen in einer ganz bestimmten Weise fokussiert. Auch geht
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Schulze davon aus, „dass sich die unterschiedlichen Konzeptualisierungen individuellen Lebens auf verschiedenartige Lernprozesse zurückführen lassen, die die Auseinandersetzungen des einzelnen mit seiner Umwelt, seine Initiativen, auf die Umwelt einzuwirken und seine Anstrengungen, das Leben zu bewältigen, in unterschiedlicher Weise bestimmen und herausfordern“ (vgl. Schulze 1993, S. 195). Für die biographische Erzählung hat Schütze (1984) vier unterschiedliche Haltungen gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen herausgearbeitet, die als verschiedene Aspekte erzählerischer Darstellung verstanden werden können: das autobiographische Handlungsschema, institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte, Verlaufskurven und Wandlungsprozesse. In der Regel werden die verschiedenen Aspekte der erzählerischen Darstellungsweise miteinander verknüpft. Manche biographische Erzählungen verwenden beispielsweise für die Erzählung von Schule und Beruf das institutionelle Ablaufmuster. Andere Erzähler stellen statt dessen die Wandlungsprozesse in den Vordergrund. Die Zusammensetzung der Erzählmuster hängt von der Einstellung der ErzählerIn zur Lebenserfahrung ab. Die Erzählmuster werden hierbei immer wieder in neuer Weise zusammengefügt. In der Regel weist jede biographische Erzählung eine spezifische Zusammensetzung der verschiedenen Aspekte des Erzählens auf. Die jeweiligen Prozessstrukturen des Erzählens enthalten unterschiedliche Grade der Eigenaktivität. Erzählformen, die institutionelle Ablaufmuster und Verlaufskurven enthalten, weisen eher auf eine passive Haltung des Erzählers hin. Der institutionelle Rahmen gibt die Bewegungen im Leben vor, durch die sich der Erzähler treiben lässt. Auch weisen Verlaufskurven diesen Charakter auf. Verlaufskurven enthalten oft die Form des Unentrinntbaren, vor allem wenn sie einen negativen Verlauf annehmen. Der Alkoholiker, der sein Leben entlang einer negativen Verlaufskurve erzählt, verliert seine Handlungsinitiative und fühlt sich von nicht steuerbaren Mechanismen gelenkt (Schütze 1995). Die anderen beiden Muster, das autobiographische Handlungsschemata und Wandlungsprozesse entstammen dagegen eher der Spontaneitätssphäre des Erzählers selbst. Berichtet wird, wie der Erzähler diesen oder jenen biographischen Weg einschlägt und die Kontrolle über das Geschehen behält. Je nachdem, welche Orientierungen vorliegen und wie diese in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden, ergeben sich für jeden Erzähler ganz typische Ereignisse und Erfahrungsabläufe. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie über die In-Gang-Setzung der jeweiligen Prozessstruktur berichtet wird, welche Form der Intervention genutzt wird und welche Zukunftserwartungen vorliegen. Egal nun, wie die Prozessstrukturen des Erzählens zusammengesetzt werden, jede Erfahrungshaltung enthält unterschiedliche Muster des biographischen Lernens. Zum einen enthalten biographische Erzählungen Handlungsschemata, die bewusst ausprobiert und gezielt umgesetzt werden. Biographische Lernprozesse entstehen aus einer gewissen Spontaneität heraus, wobei der Ausgang der Lernerfahrung offen bleibt. Je nach Erzählmuster sind hier ganz spezifische biographische Lernprozesse denkbar. Zum anderen werden biographische Lernprozesse dargestellt, die nicht direkt eine bestimmten Intention folgen, sondern sich erst in der Rückschau als solche erweisen. Sie bekommen nachträglich biographische Relevanz. Der biographische Lernprozess wird in der Rückschau oder in der Konfrontation mit zukünftigen Erlebnissen deutlich. Auch hier sind je nach Prozessstruktur des Erzählens unterschiedliche biographische Lernprozesse möglich. Lebensgeschichtliches Lernen findet in der Regel allmählich und schleichend statt (vgl. Schulze 1993). Der Versuch, spontan etwas zu verändern sowie allmähliche biographische Lernprozesse, werden oft gar nicht als solche erkannt. Die Erweiterung des Erfahrungshorizonts wird in das bisher Erfahrene eingebunden und als etwas Selbstverständliches betrach-
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tet, als ein gewöhnliches, fortwährendes Fortschreiten von biographischen Erlebnissen und Lebenssituationen ohne dramatische Brüche. So können bspw. zunehmende Berufserfahrungen als sukzessiver Prozess gedeutet werden, der gleichmäßig und stetig verläuft. Sowohl die Erweiterung von Wissen als auch Veränderungen in der Art des Gelernten vollziehen sich für die BiographieträgerInnen in alltäglichen Arbeitsabläufen, ohne als konkrete biographische Lernprozesse verstanden zu werden. Erzählt werden die einzelnen Stationen, Prüfungen, Beförderungen oder Behinderungen. Die Erzählung nimmt hier in der Regel die Form eines Berichtes oder einer Beschreibungen an. Aber auch hier verbergen sich biographische Lernprozesse, die die Konstituierung des Selbstkonzepts beeinflusst haben. Gleich aber, wie die Formen der biographischen Lernprozesse ausfallen, typisch für lebensgeschichtliches Lernen ist ein diskontinuierliches Lernen. Lernprozesse folgen nicht systematisch aufeinander, sondern verlaufen in der Abfolge sowie den inhaltlichen Verknüpfungen ganz verschiedenartig und oft nicht voraussehbar. “Lebensgeschichtliches Lernen springt gleichsam von Situation zu Situation; es verschmilzt weit zurückliegende Ereignisse mit späteren und gegenwärtigen, und es verbindet scheinbar weit auseinanderliegende und verschiedenartige Inhalte zu einem bedeutungsvollen Komplex“ (Schulze 1993, S. 206). So kann es sein, dass ein biographischer Lernprozess über Jahrzehnte andauert und es immer nur ganz spezifische Situationen sind, in denen neue Erfahrungen hinzukommen. Jedes Lernen greift dabei auf vorherige Erfahrungen zurück und zieht weitere Erfahrungen nach sich. Lernprozesse werden stetig in Gang gesetzt, die sich zu biographischen Orientierungen zusammenfügen (vgl. Schulze 1993, S. 205). Das bedeutet, dass jede biographische Erzählung für sich typische Thematiken enthält. Biographische Themen wie der Wunsch, sich gegenüber anderen durchzusetzen, ein alternatives Leben zu führen oder einer bestimmten Pflichtethik zu folgen, führen zu durchgängigen biographischen Strängen und Orientierungen mit bestimmten Themen oder Problemen, die immer wieder von Neuem aufgenommen und im Verlauf des Lebens weiterentwickelt werden. Die Art und Weise, wie Erfahrungsaufschichtungen und Zustandsänderungen geschildert werden, kann ganz unterschiedlich sein. Biographische Erzählungen weisen eine ereignisraffende, undramatische Erzählstruktur auf oder Ereignisse werden dramatisch und aufregend dargestellt. Die Darstellungsform hängt dabei vom Erfahrungsverlauf des Geschehenen ab, der Art der Ereignisverstrickung sowie der Art und Weise, wie die Erfahrungen erlebt wurden. Auch ist die zeitliche Dimension der Lernprozesse, die in Erfahrungsketten eingebettet ist, unterschiedlicher Art. Manche biographischen Lernprozesse sind eher situativ und auf einzelne Erfahrungen konzentriert. Sie werden nicht in einen größeren Zeitrahmen eingespannt, sondern umgreifen die einzelne Lebenssituation. Andere biographischen Lernprozesse umfassen eine Gesamtheit von mehreren Ereignissen, die miteinander verknüpft werden. Sie sind von längerer Dauer und umschließen eine ganze Anzahl von Ereignissen sowie Situationen. Sie enthalten somit größere Sinneinheiten. Die unterschiedlich zeitlich dimensionierten Lernsequenzen werden in der biographischen Erzählung in Form von Erzählsegmenten wiedergegeben, die in der Regel erzählerisch mit solchen Worten wie ,und dann‘ oder ,das war‘, ,dann kam‘ voneinander abgegrenzt werden. Lebensgeschichtliches Lernen ist somit eine ganz besondere Form des Lernens. Es ist nicht auf eine Lernsituation ausgerichtet, sondern steht in Bezug zur Gesamtheit des erfahrenen Lebens und des biographischen Selbstkonzepts. Das Erzählen von biographischen Lernprozessen verweist auf das Herstellen von Sinnbezügen, es enthält das Aufzeigen des Selbst, wie es geworden ist, was es erfahren hat, welche Orientierungen ausgebildet wurden und wie andere am Prozess der Entstehung des Selbstbildes beteiligt waren. In den Ereig-
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nisverkettungen und Handlungsabläufen wird dargestellt, wie es dem Biographieträger gelungen oder nicht gelungen ist, eine Balance der Identität herzustellen, welche Wege dafür eingeschlagen wurden und was die zentralen biographischen Lernprozesse waren. Erzählstruktur und biographische Lernprozesse sind ineinander verwoben.
4. Lernen und Habitus Neuere Überlegungen setzen an der Biographieforschung an und verbinden biographische Lernprozesse mit der Frage nach der Reproduktion oder dem Wandel von sozialer Ungleichheit. Schulze (2005) differenziert seine Ausführungen zu biographischem Lernen, in dem er das Biographische mit Dimensionen des Kulturellen und Historischen verknüpft und biographische Lernfelder benennt, die sich über einen historischen Zeitraum hinweg entfalten und einen Erfahrungszusammenhang ergeben. Herzberg (2005) beschreibt einen biographischen Lernhabitus, der entsprechend des Habitus-Begriffes von Bourdieu den inkorporierten Erfahrungen sozialer Strukturen entspringt und als Erzeugungsprinzip Lern- und Bildungsprozesse in Subjekten hervorbringt. Darin enthalten ist der Versuch, subjektive Lernerfahrungen auf soziale Strukturen und Sozialwelten zu beziehen, ohne in einen bloßen Subjektivismus oder Objektivismus zu verfallen (vgl. Alheit 2003). Der biographische Lernhabitus unterscheidet sich in Bildungsaspirationen, biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien, Deutungshoheit, Wertorientierungen und biographische Reflexivität. Sie sind als verschiedene Schritte zu verstehen, die zur Ausbildung eines Lernhabitus führen. Bildungsaspirationen sind grundlegende bzw. allgemeine Bildungsbestrebungen einer Person, aus denen biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien resultieren. Unter Deutungshoheit ist die soziale Lebenswelt einer Person (soziales Milieu) zu verstehen, die einen Bezugshorizont für Deutungen enthält. Die Wertorientierungen ergeben sich aus den biographischen Grundeinstellungen, die als Hintergrundkonstellationen in Erzählungen mitschwingen. Die biographische Reflexivität ist die Voraussetzung für einsetzende Bildungsprozesse. Ein Lernhabitus kann für eine Person, aber auch eine Familie gelten, wobei die Strukturen des Lernhabitus Formen des Beharrens oder Veränderns aufweisen (vgl. auch Dick/Marotzki 2005). Verknüpft wird biographisches Lernen auch mit biographischen Ressourcen (Bartmann 2003, 2005), es sind die durch Lebenserfahrungen erworbenen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen. Eine biographische Ressource umfasst den Prozess der Sozialwerdung und der damit verbundenen Haltung zur Welt und zu sich, wobei die biographischen Ressourcen sich wandeln können oder erweitert werden aufgrund biographischer Erfahrungen und Lernprozesse. Die Interpretation von biographischen Lernprozessen kann entlang dem Auswertungsverfahren von Tiefel (2004, 2005) vorgenommen werden, wobei in Anlehnung an die Grounded Theory und Überlegungen von Ecarius drei Analyseperspektiven entworfen werden: eine Sinnperspektive, die auf die Kodierung und Interpretation von subjektiven Sinnorientierungen auch im Kontext von sozialen und normativen Orientierungen abzielt; eine Strukturperspektive, welche nach den sozialräumlichen Rahmenbedingungen, sozialen Beziehungen sowie institutionellen und historischen Zusammenhängen fragt; und eine Perspektive, die die Handlungsweisen der erzählenden Person in den Blick nimmt. Diese Analyseschritte vermögen die oft in biographischen Materialien nicht direkt sichtbaren Lernprozesse aufzuspüren.
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5. Ausblick Biographie und biographisches Lernen sind eng miteinander verwoben. So wie das ThomasTheorem besagt, „daß, wenn Menschen eine Situation als real definieren, diese auch reale Konsequenzen hat“ (Thoma, zitiert nach Fuchs 1984, S. 111), ist davon auszugehen, dass, wenn Heranwachsende bestimmte Lebenssituationen als ausschlaggebend für sich beschreiben, sich daraus in der Tat Konsequenzen für den weiteren Lebensweg ergeben. Hier ist die Frage zu klären, ob die Situation aus der Position des gegenwärtigen Standpunktes als folgenreich erklärt wird oder schon zum Zeitpunkt des Geschehens konsequentenreich war. Kritische Stimmen melden an, dass die lebensgeschichtliche Erzählung eine Konstruktion des gegenwärtigen Zeitpunktes ist (Fuchs 1984, Riemann 1987, Rosenthal 1987, Fischer 1978, 1986. In der Tat kann gelebtes Leben niemals in seiner Vollständigkeit wiedergegeben werden. Vergangene Erfahrungen sind immer auch Konstruktionen (Leitner 1982). Folgt man den Annahmen von Schütze, dann zeigt sich, dass die Erzählungen, die in Biographien geschildert werden, direkt zu dem damalig Erlebten und somit zu Erzählungen von biographischen Lernprozessen führen. Ausgangspunkt ist die Homologiethese. In Narrationen wird Erlebtes analog wiedergegeben (Schütze 1984, 79). So kann z.B. das Erzählen von dramatischen Ereignissen (z.B. Kriegsereignisse) Emotionsschübe wie Tränen, Trauer oder Wut hervorrufen und zu szenisch hoch ausgestalteten Erlebnisschilderungen führen. Die Erzählung wird zugleich begleitet von digitalen Erzählmustern, den unterstützenden Resymbolisierungen des Erfahrungsablaufs wie Begründung und Bilanzierung. Der konservationsanalytische Ansatz von Schütze (Marotzki 1990) gewährleistet über die Zugzwänge des Erzählens, der Detaillierung und Kondensierung ein Erzählen vergangenen Erlebens vom gegenwärtigen Standpunkt aus. Stegreiferzählungen zeichnen sich durch eine Spontaneität und Unverfälschtheit aus, in der die Verarbeitung von vergangenen Erfahrungsaufschichtungen und die Erfahrungsverarbeitung vom gegenwärtigen Standpunkt aus zugleich enthalten sind (Schütze 1981, S. 104). Jede biographische Erzählung enthält mehrere Schichten an Erfahrungsstrukturen und somit biographischen Lernprozessen, die zu entsprechenden vergangenen, gegenwärtigen und zukunftsorientierten Wissensaufschichtungen führen. Der Erzähler unterscheidet zwischen Erfahrungen in der Kindheit und solchen als Pubertierender und weiß noch die unterschiedlichen Gefühle und Sichtweisen. Das schließt auch ein, dass biographisches Erzählen Ungereimtheiten aufweist, Lebensabschnitte nebeneinander stehen und unterschiedliche biographische Lernprozesse enthalten, die nicht unbedingt aufeinander beziehbar sind. Eine lebensgeschichtliche Erzählung erfordert nicht zwingend einen in sich logischen Aufbau von Erfahrungen, sondern im Vordergrund steht das biographische Selbstkonzept mit der Darstellung biographischer Lernprozesse. An dieser Stelle ist eine Unterscheidung zum Bildungsbegriff vorzunehmen, wie Marotzki (1990, 1991) ihn formuliert hat. Argumentiert wird auch hier mit dem lerntheoretischen Ansatz von Bateson. Jedoch wird eine andere Blickrichtung vorgenommen: Bildungsprozesse sind höherstufige biographische Transformationsprozesse, in denen sich das Selbst- und Weltbild grundlegend ändert. Kategorien und Schemata, die über Lernprozesse herausgebildet werden, werden auf einer höheren Stufe, die Reflexivität erfordert, in Bildungsprozesse überführt. Bildung ist ein emergenter Prozess, der im Prozess bewusster Reflexion entsteht. Angesetzt wird an der Stufe II von Bateson. Zugleich wird die Lern-Stufe III zum Bildungsprozess dazugehörig erklärt. Auf dieser Stufe wird Erlerntes reflexiv revidiert und ein anderer, neuer Strukturzusammenhang hergestellt. Biographische Wandlungs-
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prozesse im Sinne eines Bildungsprozesses werden als „eine Veränderung von Welt- und Selbstreferenz im Sinne eines qualitativen Sprungs“ gedeutet (Marotzki 1990, S. 131). Dazu gehört eine „Umstrukturierung der temporalen Matrix des biographischen Entwurfs“ (Marotzki 1990, S. 130). Erzähltheoretisch wird ein Bildungsprozess in Form eines diskontinuierlichen Zeitsprungs sichtbar. Es sind Wandlungsprozesse, die zu Umschichtungen des Erfahrenen führen. Davon zu unterscheiden sind biographische Lernprozesse, die das Kind in Auseinandersetzung mit der sozialen Welt erwirbt und die sich im Laufe des Lebens verändern, wobei die Änderungen in der Struktur des Gelernten immer anschlussfähig an vergangene biographische Lernprozesse sind. Biographisches Lernen bedarf nicht unbedingt eine besonderen Bewusstheit oder Reflexivität. An dieser Stelle entstehen Fragen: Wann ist in biographischen Rekonstruktionen von einer Darstellung biographischer Lernprozessen zu sprechen und wie unterscheiden sich diese von Bildungsprozessen? Ist z.B. das Erzählen von beruflichen Erfahrungsaufschichtungen und Ereignisverkettungen biographisches Lernen oder gehört die Erlebnisdarstellung in den Bereich der Bildungsprozesse? Sind biographische Rekonstruktionen eher Lerngeschichten oder Bildungserfahrungen? Solche Frage sind empirisch zu präzisieren. Dazu gehört auch eine Diskussion über den Zusammenhang von Lernen, Sozialisation und Bildung. Der Begriff des biographischen Lernens ermöglicht eine Neubelebung eines Lernbegriffs, der bisher hauptsächlich in der Lernpsychologie und in schultheoretischen Ansätzen verortet war. Indem Biographie und biographisches Lernen im Kontext von Subjektbildung thematisiert wird, werden erziehungswissenschaftliche Thema wie Erziehungserfahrungen, der Erwerb von Handlungskompetenzen im Kontext von Familie, Schule und Sozialmilieu fokussiert. Der Begriff des biographischen Lernens ist hierbei methodologisch wie auch empirisch weiter zu präzisieren. Es ist bspw. stärker der Zusammenhang zwischen biographischem Selbstkonzept und Formen biographischen Lernens herauszuarbeiten, bzw. danach zu fragen, welche Muster biographischen Lernens in biographischen Rekonstruktionen enthalten sind und wie sie sich mit bestimmten Erzählformen verschränken. Hier handelt es sich insgesamt um ein Forschungsfeld, das noch weitgehend einer Bearbeitung bedarf.
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II. Methodologische Fragen
Forschungsmethoden und -methodologie der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung Winfried Marotzki
Inhalt 1. Methodologische Grundannahmen 2. Forschungsdesign und Methodenfrage 3. Ausgewählte Methoden der Datenerhebung 4. Ausgewählte Methoden der Datenauswertung 5. Zur Frage der Gütekriterien 6. Schlussbemerkung Literatur
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1. Methodologische Grundannahmen Der Prozess der Etablierung der Biographieforschung ist insgesamt so weit fortgeschritten, dass ihre berechtigte Existenz auch von Kritikern anerkannt wird (vgl. beispielsweise Fleck 1992). Das Vorhandensein verschiedener einschlägiger Buchreihen und Zeitschriften wie die Fülle von empirischen und methodologischen Arbeiten hat auch in der Erziehungswissenschaft zu einer Normalisierung und Akzeptanz der hier vorliegenden Standards geführt. Unter dem Begriff qualitativer Forschung verstehe ich ein Forschungskonzept, das den inhaltlichen Grundannahmen des interpretativen Paradigmas, wie es Wilson (1973) versteht, folgt. Das soll kurz erläutert werden: Gängigerweise hat man in den siebziger Jahren das interpretative Paradigma vom normativen unterschieden. Die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1976a) trifft diese Unterscheidung in der Weise, dass mit dem interpretativen Paradigma – vereinfacht ausgedrückt – das Amalgam aus dem Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie, mit dem normativen Paradigma das Amalgam aus Strukturfunktionalismus (Parsons) und positivistisch orientiertem Empirismus gemeint sei. Das erste beziehe sich auf die von den Interpretationsleistungen der Subjekte abhängigen, das zweite auf davon unabhängige, sogenannte objektive Wirklichkeitsbereiche. Die Frage danach, wie die Subjekte ihre Wirklichkeit konstruieren, führt konsequenterweise dazu, an der Alltagswelt der Betroffenen anzusetzen. Systematisch in Rechnung gestellt wird die im Prozess der Sozialisation gebildete Fähigkeit der Subjekte, soziale und natürliche Zusammenhänge zu deuten. Die prinzipielle Gegebenheit dieser Fähigkeit zur Deutung, die ja in Abhängigkeit von sozialstrukturellen, institutionellen wie auch lebensgeschichtlichen Zusammenhängen aufgebaut wird, kann als Deutungs- oder Interpretationsapriori bezeichnet werden. Damit ist eine bestimmte Realitäts- und Wirklichkeitsauffassung bezeichnet: Wirklichkeit wird als eine zu interpretierende verstanden, und zwar nicht nur in der Weise, dass sie in hohem Maße interpretationsbedürftig ist, sondern sie konstituiert sich erst in den Interpretationen der Akteure. Qualitative Forschung weist eine Priorität deskriptiver Verfahren gegenüber explanativen auf. Daraus folgt nicht, dass man auf Erklärungen verzichtet, sondern daraus folgt das Bemühen, das jeweilige Phänomen, um das es geht, so genau wie möglich in seinem Vollzugscharakter zu beschreiben. Dieser Aspekt soll in Rückgriff auf einige Grundüberlegungen der Ethnomethodologie näher erläutert werden. Das Fruchtbare an dieser Forschungsrichtung sehe ich gerade darin, einen Perspektivenwechsel vollzogen zu haben: Nicht das Warum einer Handlung steht im Vordergrund, sondern das Wie des Vollzuges. Eine Handlung wird also weder im Kontext Reiz-Reaktion, noch im Kontext Erfüllung von Verhaltenserwartungen gesehen, sondern eine soziale Handlung ist immer auch ein Akt des Hervorbringens. Der Durchführung von Handlungen wird somit ein generativer Charakter zugeschrieben. Soziale Handlungen und Verhaltensweisen haben eine Partitur bzw. eine Grammatik. Genau um diese, den Handlungen zugrundeliegenden grammatischen Strukturen geht es bei diesem hier zur Diskussion stehenden Forschungsverständnis. Es geht demzufolge nicht darum, zu verstehen, warum eine bestimmte Handlung oder Verhaltensweise erfolgte, wie sie also biographisch motiviert gewesen sein mag, sondern es geht darum, die Regeln des Vollzuges aus der Perspektive des Subjektes zu verstehen, denn durch den Vollzug dieser Handlungen bzw. Verhaltensweisen stellen die Subjekte die soziale Ordnung immer wieder neu her.1 Es geht bei diesem methodologischen Zugriff also gerade nicht um eine Erklärung beobachtbarer, geordneter, sich wiederholender Handlungen durch eine Analyse des Standpunktes des Handelnden. Betrachtet man aus der Rückschau weiterhin die Anfänge qualitativer Forschung, dann wird die inhaltliche Verwandtschaft mit der phänomenologischen Tradition, wie sie etwa
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von Edmund Husserl gestiftet worden ist, sehr deutlich. Husserls Philosophie eignet sich m.E. auch heute noch gut dazu, einen einheitlichen Fragehorizont zu entwerfen, der sich als geeignet erweist, die kopernikanische Wende der Fragestellung und damit die veränderte Blickrichtung auf die Forschungsobjekte zu illustrieren, die im interpretativen Paradigma vorliegt. In drei Punkten will ich diese These illustrieren: Jede weltliche Gegebenheit ist zunächst für Husserl eine Gegebenheit im Wie eines Horizontes. Welt als vorgegebene ist immer schon in Seinsgeltung, so hat er es gesehen. Freilich können sich Geltungen und Gewissheiten modalisieren, so dass die Frage nach solchen Modalisierungsprozessen gestellt werden kann. Husserl sagt: „Die Welt, die für uns ist, ist die in unserem menschlichen Leben Sinn habende und immer neuen Sinn für uns gewinnende, Sinn und auch Geltung“ (Husserl 1954, S. 266). Dieser Sinn, von dem Husserl sagt, die Welt habe ihn immer schon für uns, muss – das ist auch Husserl klar – erst vom Subjekt hergestellt werden. Es ist ein Akt der Deutung und Auslegung. So kann in Anschluss an Husserl gefragt werden: Wie machen es Menschen, diesen Sinn immer wieder herzustellen, auch und vor allem dann, wenn die Welt ihnen als sinnlos gegenüberzustehen scheint? Sinnarbeit ist Deutungsarbeit. Wie verlaufen aber Deutungen, wie werden sie aufgebaut? Diese Fragen richten sich somit auf das „Wie der Gegebenheitsweise“ (Husserl 1954, S. 267). Die Verwandtschaft mit Husserl ist weiterhin auch darin begründet, dass im interpretativen Paradigma eine andere Art der Wissenschaft gesucht wird, eine, die nicht am Vorbild des mathematisch-naturwissenschaftlichen Paradigmas orientiert ist.2 Husserl hat besonders deutlich versucht, den naturalistischen Objektivismus zu überwinden, wie er am Beispiel der Psychologie demonstriert. Dem Idealismus macht er den Vorwurf, sich auf die konkrete Realität nicht eingelassen zu haben. Damit wäre auch plausibel, dass empirische Anschlüsse in phänomenologischer Tradition gesucht werden konnten. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht geht es also drittens darum, dem menschlichen Handeln als situativ gebundenem, historisch geprägtem und durch sinnhafte Bedeutungen konstituiertem Rechnung zu tragen. Ziel ist es, den einzelnen Menschen in seinen sinnhaftinterpretativ vermittelten Bezügen zur alltäglichen Lebenswelt ebenso zu verstehen wie in seinem biographischen Gewordensein. Die Dimensionen der Prozessualität und Historizität erhalten dadurch eine besondere Bedeutung. Das schließt eine Analyse von Lebensweltbezügen ebenso ein wie Analysen zeitgeschichtlicher Horizonte. M.a.W.: Ziel Qualitativer Forschung ist das Aufdecken von Strukturen des Verhältnisses des Subjektes zu sich und seiner Lebenswelt. Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung als qualitative Bildungsforschung gewinnt ihren Ort, indem sie sich auf individuelle Lern- und Bildungsprozesse bezieht und versucht, den verschlungenen Pfaden biographischer Ordnungsbildung unter den Bedingungen einer sich rasant entwickelnden Moderne (bzw. Postmoderne) zu folgen. In einer Gesellschaft, die sich durch Pluralisierung von Sinnhorizonten und Lebensstilen auszeichnet, kann erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ein Wissen über verschiedene individuelle Sinnwelten, Lebens- und Problemlösungsstile, Lern- und Orientierungsmuster bereitstellen und in diesem Sinne an einer modernen Morphologie des Lebens arbeiten.
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2. Forschungsdesign und Methodenfrage Methoden sind Untersuchungsverfahren als Teil eines Forschungsdesigns. Fünf klassische Elemente eines Forschungsdesigns können unterschieden werden: Fragestellung, Objektbereich (= Gegenstandsbereich), Datenerhebungs-, Datenauswertungsmethode und Forschertagebuch. Die ersten vier Elemente sind gleichsam selbstevident, das fünfte bedarf einer näheren Erläuterung: Im Gegensatz zu einem hypothesentestenden Vorgehen folgt qualitative Forschung den Grundsätzen der theoretischen und methodischen Offenheit (vgl. HoffmannRiem 1980). Das erfordert einen hohen Grad an Flexibilität, denn oftmals werden innerhalb des Forschungsprozesses entscheidende Weichen z.B. in der Methodenwahl gestellt, die aufgrund der erzielten Zwischenresultate begründbar sind. Oftmals verändert sich also das Forschungsdesign innerhalb des Forschungsprozesses. Diese Prozessualität des gesamten Forschungsprozesses muss dokumentiert werden. Die zurückgelegten Wege, die zu einem Resultat geführt haben, müssen transparent gehalten werden. Sie müssen in ihrer Plausibilität und ihrer Begründungsstruktur rekonstruierbar sein. Diese Aufgaben erfüllt das Forschertagebuch. Im Folgenden beabsichtige ich nicht, einen vollständigen Methodenüberblick zu geben, weil es inzwischen dafür einschlägige Lehrbücher3, Handbücher4 und Abhandlungen5 gibt. Ich möchte vielmehr, von einer systematischen Problemstellung ausgehend, einige Hauptkonzepte vorstellen und diskutieren. Die typische biographieanalytische Frage nach individuellen Sinn- und Bedeutungsgehalten impliziert einerseits, dass damit noch etwas anderes gemeint ist als nur das, was an gesellschaftlich-sozialen Sinnvorgaben dem Einzelnen angeboten wird. Dieses andere muss von diesen gesellschaftlichen Sinn- und Bedeutungsvorgaben als verschieden, zwar durch sie bedingt, aber nicht von ihnen abgeleitet, gedacht werden können. Freiheit, individueller Sinn und individuelle Bedeutung können aus dieser Perspektive nicht nur als bloßes Resultat gesellschaftlicher Intersubjektivität, sondern auch als deren Bedingungen und potentielle Negationen verstanden werden. Ich nenne diesen Bereich den individuellen Erfahrungsverarbeitungsraum. Andererseits: Die Frage nach diesen gesellschaftlich-sozialen Sinn- und Bedeutungsvorgaben impliziert wiederum, dass damit noch etwas anderes gemeint ist als nur das, was individuell immer schon als gegeben und vermittelt angenommen wird. In dieser Perspektive kommen historische, kulturelle und soziostrukturelle Gehalte zum Tragen. Ich nenne diesen Bereich den kollektiven Erfahrungsverarbeitungsraum. Die Erschließung beider Verarbeitungsräume ist für erziehungswissenschaftliche Biographieforschung – je nach Fragestellung – relevant. Neben den individuell unterschiedlichen Formen der Erfahrungsverarbeitung gibt es eben auch die kultur-, milieu-, generations-, alters- und entwicklungstypischen Verarbeitungsformen, die in gleicher Weise interessant sind. Die Methodenfrage richtet sich somit auf Erschließungsformen beider Erfahrungsbereiche.
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3. Ausgewählte Methoden der Datenerhebung 3.1. Reaktive Verfahren Reaktive Verfahren sind solche, bei denen der Forscher zum Zwecke der Materialerhebung Teilhaber an oder Akteur in sozialen Situationen ist. Da er Teil einer sozialen Situation ist, hat er aktiven und/oder reaktiven Anteil an und in ihr. Anders formuliert: Weil nicht auszuschließen ist, dass das Feld auf die Anwesenheit des Forschers reagiert, muss davon ausgegangen werden, dass durch den Einsatz reaktiver Methoden eine Feldveränderung stattfindet. Es ist also von besonderem Interesse, Probleme der Validität von Daten gerade am Beispiel des Einsatzes reaktiver Methoden zu diskutieren. Ich werde darauf zurückkommen. Im folgenden beziehe ich mich exemplarisch auf drei klassische reaktive Verfahren.
a) Interviewverfahren Die Palette der gebräuchlichen Interviewformen lässt sich am besten nach dem Grad der Strukturiertheit differenzieren. Folglich gibt es offene Formen (narratives Interview), halbstrukturierte Formen (problemzentriertes Interview6) sowie stark strukturierte Formen (Leitfadeninterview in Form eines Fragenkatalogs). Es ist klar, dass es vom konkreten Forschungsprojekt und Forschungsdesign abhängt, welche Art gewählt wird. In den meisten erziehungswissenschaftlichen Projekten hat sich das narrative Interview durchgesetzt. Deshalb möchte ich dieses kursorisch – bezogen auf die oben exponierten Problembereiche – vorstellen. Das narrative Interview ist als eine Möglichkeit der Datenerhebung innerhalb der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zum Standard geworden. Es ist daher in der einschlägigen Forschungsliteratur gut dokumentiert7, so dass ich auf eine detaillierte Beschreibung und Begründung dieses Datenerhebungsinstrumentes verzichten kann. Ich beschränke mich deshalb im Folgenden darauf, das Grundverständnis sowie die Struktur zu skizzieren. Erstens: Das narrative Interview steht deshalb zu Recht im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil es jene kommunikativen Regeln aktiviert, mittels deren die Informanten ihre Wirklichkeit konstituieren; es aktiviert also die alltäglichen Verhaltens- und Handlungsorientierungen der Subjekte. Das narrative Interview stellt als Datenerhebungsverfahren somit kein operationalisierendes, sondern ein sensitives Verfahren dar. In Übereinstimmung mit dem interpretativen Paradigma hat vor allem Fritz Schütze dieses Instrument entwickelt, das in besonderem Maße dem Prinzip der Kommunikation und dem Prinzip der Offenheit gerecht wird. Er definiert das narrative Interview wie folgt: „Das narrative Interview ist ein sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren, welches den Informanten zu einer umfassenden und detaillierten Stegreiferzählung persönlicher Ereignisverwicklungen und entsprechender Erlebnisse im vorgegebenen Themenbereich veranlaßt“ (Schütze 1987, S. 49).
Im narrativen Interview soll der Informant also die Möglichkeit erhalten, entlang eines selbstgewählten roten Fadens seine Lebensgeschichte zu erzählen. Die hierfür erforderlichen Selektionsleistungen und Relevanzsetzungen hat er selbst zu erbringen. Eben weil der Interviewte diese Selektionsprozesse vollzieht, weil er Verknüpfungen sucht und biographische Arbeit leistet, folgt interviewtechnisch daraus eine bestimmte Haltung für den Interviewer. Er soll das Erzählen in Gang setzen und halten, aber die Auswahl und inhaltliche
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Darstellung des Erlebten gerade nicht steuern. Dem Interviewten wird also vom Interaktionsgeschehen in der Interviewsituation her die Autonomie zugewiesen, seine Erlebnis- und Gestaltungsperspektive zu suchen, zu wählen und zu entfalten. Es geht im Prinzip darum, ohne hier auf die Technik des narrativen Interviews im Einzelnen einzugehen (vgl. dazu Schütze 1987, S. 49ff.), ohne thematische Intervention des Forschers lebensgeschichtliche Erzählungen zu generieren und aufrechtzuerhalten. Die Haltung des Interviewers beschränkt sich überwiegend auf die „Basisarbeit der Intersubjektivitätsverbürgung“ (Schütze 1984). Zweitens: Das narrative Interview besteht in der Regel aus drei Teilen. Im ersten Teil erfolgt eine Erzählgenerierung, so dass eine Haupterzählung erzeugt werden kann. Es erfordert Technik, Einfühlung und Geschick, die Eingangssituation so zu gestalten, dass über den erzählgenerierenden Stimulus das Haupterzählpotential abgeschöpft werden kann. Hermanns u.a. (1984) beschreiben anhand ihres Projektes Ingenieurlaufbahnen, welche umsichtigen Maßnahmen vonnöten sind, um die Eingangssituation zu gestalten. Noch umsichtiger und vorausplanender, vorsichtiger und noch verantwortungsvoller gestaltet Riemann die Eingangssequenz, was bei psychiatrischen Patienten besonders einleuchtet (vgl. Riemann 1987). Den zweiten Teil, die Nachfragephase, charakterisiert Schütze wie folgt: „Hierbei schöpft er (der Interviewer – W.M.) im zweiten Hauptteil des Interviews zunächst einmal das tangentielle Erzählpotential aus, das in der Anfangserzählung an Stellen der Abschneidung weiterer, thematisch querliegender Erzählfäden, an Stellen der Raffung des Erzählduktus wegen vermeintlicher Unwichtigkeit, an Stellen mangelnder Plausibilisierung und abstrahierender Vagheit, weil die zu berichtenden Gegenstände für den Erzähler schmerzhaft, stigmatisierend oder legitimationsproblematisch sind, sowie an Stellen der für den Informanten selbst bestehenden Undurchsichtigkeit des Ereignisgangs angedeutet ist. Es ist wichtig, daß diese Nachfragen wirklich narrativ sind“ (Schütze 1983, S. 284).
Die Handhabung dieses Nachfrageteils setzt hohe Aufmerksamkeit und Konzentration insbesondere während des ersten Teils des Interviews voraus, da sich der Interviewer z.B. Stellen mangelnder Plausibilität merken muss, um im Nachfrageteil, der mitunter erst 20-40 Minuten später einsetzen kann, zu dieser Stelle zurückzukehren, um über eine immanente Frage einen erneuten Erzählstimulus zu plazieren. Im dritten Teil, der Bilanzierungsphase, geht es um eine Aufforderung, sich der eigenen Biographie auch argumentativ zu nähern: „Der dritte Hauptteil des autobiographisch-narrativen Interviews besteht einerseits aus der Aufforderung zur abstrahierenden Beschreibung von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen sowie aus den entsprechenden Darstellungen des Informanten sowie andererseits aus theoretischen Warum-Fragen und ihrer argumentativen Beantwortung. Es geht nunmehr um die Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst. Die Nachfragen des interviewenden Forschers sollten am Beschreibungs- und Theoriepotential ansetzen, soweit dieses an autobiographischen Kommentarstellen nach der Schilderung von Ereignishöhepunkten oder nach dem Abschluß der Darstellung von bestimmten Lebensabschnitten sowie an Stellen der Erläuterung situativer, habitueller und sozialstruktureller Hintergründe ansatzweise deutlich wird“ (Schütze 1983, S. 285).
Die drei Teile des narrativen Interviews können pointiert so zusammengefasst werden: Es handelt sich insgesamt um ein Verfahren, mit dessen Hilfe das Haupterzählpotential, das tangentielle Erzählpotential sowie das Beschreibungs- und Theoriepotential des Informanten aktualisiert und sprachliche und parasprachliche Äußerungen generiert werden. Durch dieses Verfahren wird ein (Interaktions-) Text konstituiert, der die eigentliche Material- und Datenbasis darstellt.
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b) Gruppendiskussion Das Gruppendiskussionsverfahren ist in den 1950er Jahren im Wesentlichen von Werner Mangold entwickelt worden. In der letzten Zeit ist es in biographietheoretischen Zusammenhängen vor allem von Ralf Bohnsack aufgegriffen worden. Nach Mangold (1960) ersetzt die Gruppendiskussion nicht das Einzelinterview, sondern ist vielmehr dazu geeignet, informelle Gruppenmeinungen zu untersuchen. Die Prozessualität und Dynamik einer Gruppendiskussion führt zu einer gesteigerten Dialogizität, d.h. zu wechselseitigen Korrekturen und Steigerungen der Redebeiträge. Die Pointe der Gruppendiskussion liegt in der unterschiedlichen Dichte der Interaktionen. Dieses hat zur Folge, dass sich ein kollektives Bedeutungsmuster herauskristallisiert, das die Einzelnen nicht intentional erzeugt haben, sondern das Produkt wechselseitiger Aufschaukelung ist (vgl. Bohnsack 1991, S. 46f.). Die Rekonstruktion profitiert also von den sich aufschichtenden Interaktionsprozessen; die Sinnmuster sind nicht identisch mit dem subjektiv intendiertem Sinngehalt. Nach Karl Mannheim ist die kollektiv geteilte Erfahrung als konjunktiver Erfahrungsraum zu verstehen. Der konjunktive Erfahrungsraum ist nicht identisch mit einer konkreten Gruppe oder mit einer Gemeinschaft, wie sich am Beispiel des Generationenzusammenhanges verdeutlichen lässt: Man ist durch bestimmte Erlebnisse (historische Großereignisse) verbunden, bildet deshalb aber noch keine konkrete soziale Gruppe. Umgekehrt: Gruppenhafte oder gemeinschaftliche Milieus (Familien, Nachbarschaften) können spezifische Ausprägungen konjunktiver Erfahrungsräume darstellen. Das ist ein entscheidender Unterschied zum gängigen Einsatz von Gruppendiskussionen, die sich häufig auf Realgruppen beziehen (Nießen 1977; Volmerg 1977) und insofern nicht das für Großgruppen spezifische Kollektive erschließen. Gruppendiskussionen werden ebenso wie narrative Interviews auf Tonband aufgezeichnet und dann nach bestimmten Regeln verschriftlicht (Transkriptionen). Sie stellen Material bereit, das sich überwiegend für die Erschließung kollektiver Erfahrungsräume eignet. Eine zentrale methodologische Annahme lautet, dass Kollektives dort zum Ausdruck kommt, wo die Gruppeninteraktion in besonderer Weise dicht und metaphorisch wird. Wenn man sich erziehungs- wie auch sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte ansieht (vgl. dazu auch die Beiträge von Krüger und Schulze in diesem Band), dann fällt auf, dass das Gruppendiskussionsverfahren bis Mitte der 1990er Jahre eher selten eingesetzt wird. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre finden wir einen steigenden Einsatz dieses Verfahrens, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass Biographieforschung und Kulturanalyse näher zusammengerückt werden (vgl. Bohnsack/Marotzki 1998).
c) Ethnographische Verfahren der teilnehmenden Beobachtung Teilnehmende Beobachtung als Methode der Datenerhebung (grundlegend: Becker/Geer 1979; Burgess 1984; Friedrichs/Lüdtke 1971) bedeutet, dass der Forscher in das Forschungsfeld geht, sich dort längere Zeit aufhält und versucht, an den dort vorherrschenden Interaktions- und Kommunikationsstilen teilzuhaben, sich – so gut es geht – mit ihnen vertraut zu machen (vgl. Girtler 1984, S. 47). Überwiegend findet diese Methode in der qualitativen Feldforschung als ethnographische Methode Anwendung (Friebertshäuser 1996 sowie 1997). International hat der ethnographische Ansatz einen unglaublichen Aufschwung erfahren, was beispielsweise an den einschlägigen Methodenbüchern zur Ethnographie allein der achtziger Jahre abgelesen werden kann (Agar 1980 sowie 1986; Dobbert 1982; Hammersley/Atkinson 1983; Werner/Schoepfle 1987 sowie 1987a). Typische Beispiele finden sich im deutschen
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Sprachraum in der Milieu- und Randgruppenarbeit (Alkoholiker, Drogenabhängige, Obdachlose) (Girtler 1984), in der Psychiatrie (Fengler/Fengler 1984; Goffman 1981), im Bereich abweichenden Verhaltens (Aster u.a. 1988), in Institutionen wie beispielsweise Unternehmen (Aster u.a. 1988) und Schule (Terhart 1979, Aster 1990, Burgess 1985). Natürlich gehören dann auch die gesamten klassischen Bereiche der Ethnologie und Kulturanalyse dazu, jene Bereiche also, die sich im weitesten Sinne mit anderen Kulturen befassen (Eberwein/Köhler 1984). Die Handhabung der Methode kann in verschiedener Weise thematisiert werden, beispielsweise nach dem Grad der Involviertheit in das Feld (vgl. dazu ausführlich: Girtler 1984). Es macht natürlich einen Unterschied aus, ob der Forscher danach strebt, gleichsam natürliches Mitglied der Gruppe zu werden (going native) oder ob er lediglich einen Beobachterstatus innehat (beispielsweise bei Familienbeobachtungen). Allein durch die Teilhabe am Interaktionsfeld entsteht eine qualitativ andere Bindung des Forschers zu den Akteuren, eine Bindung, die ihn in ganz anderer Weise in eine forschungsethische Pflicht nimmt. Diese forschungsethische Seite erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung ist ein eigenes Thema, das ich aus meinen Überlegungen in diesem Beitrag ausklammere.
Exkurs: Die ethnographische Haltung Sobald ein Forscher in ein ihm nicht bekanntes Feld8 geht, ist er mit dem Problem des methodisch kontrollierten Fremdverstehens konfrontiert. Fritz Schütze (1994) nennt die Struktur dieses Problems die ethnographische Unschärferelation. Der Forscher ist Teil des sozialen Feldes, das er verstehen will. Der Ethnograph ist gleichsam ein Einwanderer, der sich in einer neuen und ihm fremden Welt zurechtfinden muss. Die ethnographische Unschärferelation bezeichnet das prekäre Verhältnis von Nähe und Distanz: Einerseits muss der Forscher in die ihm zunächst fremd erscheinende Welt eintauchen und Teil von ihr werden. Er muss sie sich vertraut machen, um den Aufbau dieser fremden Welt und deren Abläufe zu verstehen. Andererseits darf er nicht zu sehr vertraut werden, denn er benötigt die kulturelle Distanz, um jene Gehalte in den Blick nehmen zu können, die die Mitglieder des Feldes selbst nicht mehr sehen können, weil sie routinemäßig ihren Alltag abwickeln und insofern von der Plausibilitätsstruktur des Alltäglichen absorbiert sind. Bertold Brechts Idee des VEffektes, des Verfremdungseffektes, war ja gerade – um eine andere Perspektive auf das Problem zu entwickeln –, den Zuschauer auf Distanz zu bringen, ein zu starkes Involviertsein in die Bühnenhandlung zu verhindern, so dass eine analysierende und reflektierende Distanz ermöglicht wird und der Zuschauer sich vom Was der Handlung dem Wie zuwenden kann. Diese ständige Balancierung zwischen Vertrautheit und Fremdheit macht die ethnographische Haltung aus, die zunächst noch vollständig unabhängig von der gewählten Methode der Datenerhebung ist. Michael Agar hat für diese grundlegende Haltung den Begriff „the professional stranger“ verwendet und sein einführendes Buch in die Ethnographie genau so genannt (Agar 1980). Die ethnographische Haltung geht als Grundvoraussetzung davon aus, dass Verstehen zwar das Ziel, zunächst aber, etwa beim Betreten eines Feldes, eher die Ausnahme ist. Fremdheit, Befremden ist also eine systematische Voraussetzung bzw. das Phänomen, auf das man zunächst notwendigerweise trifft. Schütze erläutert diesen Sachverhalt am Beispiel der Fachkräfte in der sozialen Arbeit: Sie stoßen „auf die systematische Fremdheit von Verhaltensstilistiken und Lebensäußerungen ihrer Klienten, wie sie sich unter dem Druck von extremem Leid im Verlaufe der Problemgeschichte, so z.B. bei mißhandelten Kindern und Frauen oder bei Obdachlosen, und rasanten kulturellen Identitäts-Wandlungsprozessen, so z.B. bei Jugendlichen und marginalen Existenzen wie Aussiedlern und Asylbewerbern, ausprä-
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gen. Diese systematische Fremdheit wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, daß Menschen in solchen extremen Fremdheitssituationen dazu neigen, ihre eigenen Wahrnehmungs- und Präsentationsperspektiven künstlich einzuengen, um mit den irritierenden Fremdheits- und Stigmatisierungserfahrungen ihrer Lebenslage nicht bewußt konfrontiert zu werden. Durch solche Ausblendungspraktiken werden die Kommunikations- und Verständigungsmöglichkeiten noch zusätzlich eingegrenzt. Die ethnographische Perspektive hat diesbezüglich die Funktion, die Klienten der Sozialen Arbeit und ihr Verhalten in ihren Fremdheitsmerkmalen anzuerkennen und allmählich im Vollzuge des Fremdverstehens verständlich zu machen, ohne daß einerseits über sie ein essentialistisches Verdikt der Kommunikations- und Verständigungsunmöglichkeit gesprochen wird und ohne daß sie andererseits im Rahmen einer Mißachtung oder Verniedlichung ihrer strukturellen Fremdheitsmerkmale paternalistisch vereinnahmt werden“ (Schütze 1994, S. 257f.).
Der Begriff der ethnographischen Haltung drückt also aus, dass Ethnographie nicht als eine Methode verstanden wird, sondern als eine Bezeichnung für das Verhältnis des Forschers zu dem zu verstehenden und zu beschreibenden Untersuchungsfeld. Ein Forscher, der für die ethnographische Unschärferelation sensibilisiert ist, der sich also die ethnographische Haltung zueigen gemacht hat, ist dadurch noch auf keine Methode der Datenerhebung oder auswertung festgelegt9.
3.2. Nichtreaktive Verfahren Nichtreaktive Verfahren sind solche, bei denen der Forscher nicht zum Zwecke der Materialerhebung Teilhaber an oder Akteur in sozialen Situationen wird, sondern mit Material arbeitet, das er vorfindet. Dazu gehören Dokumente ganz verschiedener Art. Neben Tagebüchern, autobiographischen Materialien, Familien- oder Amtschroniken sowie Zeitungen treten auch visuelle Dokumente wie Bilder und Photos wie auch audiovisuelle Dokumente wie Filme, die über private und öffentliche Sammlungen und Archive erschlossen werden können. In der Erziehungswissenschaft haben bis in die siebziger Jahre solche nichtreaktiven Methoden eine dominante Rolle gespielt, vor allem in der historischen Biographieforschung (Herrmann 1987, 1991; Oelkers 1987; Henningsen 1981; Loch 1979). In der Auswahl und Bewertung der Dokumente tritt Quellenkritik wesentlich stärker in den Vordergrund als bei anderen reaktiven Methoden. Insofern finden wir bei historisch orientierter Biographieforschung methodisch und methodologisch eine relativ starke Verzahnung mit Methoden der Geschichtswissenschaft. Nichtreaktive Verfahren spielen dort eine Rolle, wo kein direkter Zugang durch Befragung und Beobachtung möglich ist. Häufig werden sie darüber hinaus für Triangulationsverfahren eingesetzt.
4. Ausgewählte Methoden der Datenauswertung Der Versuch, Methoden der Datenauswertung sortieren zu wollen, ist schwierig, weil es keine klaren Kriterien für Gruppierungen gibt. Insofern dient mein vorgelegter Ordnungsversuch einer ersten Annäherung und nimmt in Kauf, dass sich Überschneidungen und leichte Inkonsistenzen ergeben. Weiterhin wird nicht der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Ich unterscheide im Folgenden drei Gruppen: (1) deskriptiv-typologische, (2) theoriebildende und (3) tiefenstrukturelle Methoden.
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4.1. Deskriptiv-typologische Methoden Ich beginne mit solchen Methoden, die zunächst einmal das Material ordnen und über eine schrittweise Annäherung letztlich zu Typenbildungen gelangen. Zwar spielen Typenbildungen generell eine Rolle in qualitativer Forschung (Haupert 1991), und sind insofern nicht nur dieser ersten Gruppe zuzuordnen. Ich habe sie aber in dieser Gruppe aufgeführt, weil ich dadurch ihren deskriptiven Charakter betonen will. (a) Der einfachste Zugang ist sicherlich der über eine qualitative Inhaltsanalyse, wie sie beispielsweise von Mayring (1990)10 entwickelt worden ist. Die Inhaltsanalyse hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem sehr differenzierten Instrumentarium der Textanalyse entwickelt, das durchaus auch geeignet ist, formale Aspekte von Texten einer Untersuchung zu unterziehen. Überwiegend geht es aber um semantische Analysen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte sich diese Methode im Bereich der Publizistik bei der Analyse großer Mengen von Zeitungsartikeln (vgl. Willey 1929). In den dreißiger Jahren avancierte es zu einem der Standardinstrumente zur Analyse des Inhalts von Massenmedien, neben Zeitungen vor allem des Hörfunks. Der Begriff des Textes, den ich oben verwendet habe, ist also im weiten Sinne von geronnener Kommunikation zu verstehen, die in Form von Schrift, Ton und/oder Bild vorliegt. Allen Varianten der Inhaltsanalyse (vgl. Lisch/Kris 1978) ist gemeinsam, dass sie mit Kategoriensystemen arbeiten, die auf der Basis der Bestimmung von Analyseeinheiten für den Kodierungsvorgang verwendet werden. Dadurch soll eine regelgeleitete und systematische Erschließung von Texten gewährleistet werden. Inhaltsanalysen können sowohl für die Erschließung individueller wie auch kollektiver Erfahrungsverarbeitungsräume eingesetzt werden. (b) Als typische Auswertungsmethode, die sich schrittweise ordnend, analysierend und interpretierend dem Transkriptionsmaterial in der Absicht nähert, überwiegend kollektive Erfahrungsräume zu erschließen, möchte ich die dokumentarische Methode anführen, wie sie beispielsweise von Bohnsack (1991) für die Auswertung von Gruppendiskussionen gehandhabt wird. Der Zugang erfolgt in vier Schritten: Erster Schritt: Formulierende Interpretation (Rekonstruktion der thematischen Gliederung). In der formulierenden Interpretation geht es darum, die Themen und Unterthemen herauszuarbeiten, die im gesamten Diskussionsverlauf in Erscheinung treten. Diese formulierenden Zusammenfassungen verbleiben strikt innerhalb des Kommunikations- und Sinnhorizontes der Gruppe. Zu dem Wahrheits- und Realitätsgehalt wird nicht Stellung genommen. Zweiter Schritt: Reflektierende Interpretation (Rekonstruktion und Explikation des Rahmens). Der Übergang zur reflektierenden Interpretation besteht darin, dass dieser Rahmen thematisiert wird, innerhalb dessen etwas in einer bestimmten Weise exponiert worden ist. Indem also der Kommunikations- und Sinnhorizont der Gruppe thematisiert wird, kann er auch transzendiert werden; das bedeutet: andere mögliche Rahmungen können in das Blickfeld genommen werden. Dadurch kann die für die Gruppe typische Selektivität herausgearbeitet werden. Methodisch wird dies über das komparatistische Prinzip geleistet, d.h. also über einen Vergleich mit anderen Fällen oder anderen Gruppen. Diese zweite Stufe wird also deshalb reflektierend genannt, weil Reflexionen Gegen- und Vergleichshorizonte einführen.11 Die Besonderheit des Falles bleibt auf dieser Stufe der Arbeit noch oberster Bezugspunkt. Der Weg der Explikation des Rahmens führt über die Rekonstruktion des
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Diskursverlaufs. Besonderes Augenmerk gewinnen dabei solche Passagen, in denen eine besonders interaktive und metaphorische Dichte vorliegt. Dritter Schritt: Fall- bzw. Diskursbeschreibung. In der Diskursbeschreibung wird der Diskursverlauf in seinem Zusammenhang rekonstruiert. Auf der Ebene der formulierenden und reflektierenden Interpretation wurde bereits der Diskursverlauf analysiert, also beispielsweise konkurrierende, kommentierende, kontinuierliche und/oder parallelisierende Diskursorganisationen. Es geht darum, die Gesamtgestalt eines Falles bzw. eines Diskurses zu präsentieren. Die Herausarbeitung von Dramaturgie und Diskursorganisation dient der Überwindung einer individuell-intentionalistischen Interpretation. Vierter Schritt: Typenbildung. Typen stellen Ausformungen sozialer Phänomene dar, die Lebensgeschichten strukturieren; Individualität wird gleichsam regelhaft vermutet. Eine Typenbildung, die zu einer Typologie führt, findet auf der Ebene unterhalb der Theoriebildung statt. (c) Eine weitere Möglichkeit typologischer Analyse liegt im Deutungsmusteransatz vor. Er versucht, individuelle und kollektive Erfahrungsverarbeitungsräume zu erschließen, indem jene Muster analysiert und rekonstruiert werden, die dem Einzelnen sozialisatorisch angesonnen werden. Der Terminus Deutungsmuster wurde durch ein Papier von Ulrich Oevermann 1973 in die deutsche soziologische Diskussion eingeführt, hat sich dann aber in seiner Weiterentwicklung in großen Bereichen von der Theorie Oevermanns gelöst. Die Deutungsmusterdiskussion ist auch von Erziehungswissenschaftlern mitgeführt worden (Lüders 1991, Arnold 1983). Deutungsmuster werden als kollektive Sinngehalte verstanden, die eine normative Kraft (für Gruppen oder eine Gesellschaft) entfalten. Sie sind „auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und mithin nur begrenzt reflexiv verfügbar“ (Meuser/Sackmann 1992, S. 19). Wie erfolgreich dieser Ansatz ist, sieht man daran, dass es mittlerweile zu fast allen gesellschaftlich relevanten Problembereichen empirische Analysen gibt, die sich des Deutungsmusteransatzes bedienen. Ich nenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Beispiele: Arbeiten über die Veränderungslogik sozialer Deutungsmuster (Neumann/Oechsle 1985; Vollbrecht 1993), über die Deutungsmuster Generation (Sackmann 1992), Mutterliebe (Y. Schütze 1992) und Krankheit (Jacob 1994), zu geschlechtsspezifischen (Lüdemann 1992; Y. Schütze 1993), kulturspezifischen (Auernheimer 1994) und berufsbiographischen (Nagel 1992; Becker u.a. 1990) Deutungsmustern. (d) Textstrukturelle Ansätze wenden sich überwiegend dem Text als Text zu. In der Regel dominieren hier nicht so sehr semantische Analysen, sondern vielmehr solche, die sich auf die formale Konstitution der Texte beziehen. Bereits Mahl (1959) hat Gesprächsprotokolle mit psychotherapeutischen Patienten untersucht und aufgrund formaler Eigenschaften (Sprachkorrekturen, Satzabbrüchen, Redundanzen, gehäuftem Auftreten bestimmter Partikel z.B. Äh’s) Indizes für Angst beim Patienten entwickelt. Kokemohr und Koller haben diese Art des Zugangs für eine erziehungswissenschaftliche Biographieforschung fruchtbar gemacht, indem sie versuchen, textuelle Phänomene als Bildungsprozesse zu rekonstruieren (Kokemohr 1989; Kokemohr/Prawda 1989). Biographie wird aus der Perspektive eines rhetorischen Konstruktes thematisiert (Koller 1993; 1993a). Dadurch wird erreicht, dass der Prozess der Sinnproduktion in autobiographischen Erzählungen als rhetorischer Prozess aufgefasst und untersucht werden kann. Textstrukturelle Verfahren, die in der Regel sehr stark mit textlinguistischen und konversationsanalytischen Mitteln arbeiten, eignen sich – je nach der Art des Datenmaterials – sowohl für die Analyse individueller wie kollektiver Erfahrungsverarbeitungsräume.
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4.2. Theoriebildende Konzepte Die Annahme einer Trennung von Datenerhebung und Datenauswertung ist zwar plausibel, widerspricht aber eigentlich den Grundüberlegungen qualitativer Forschung; jedenfalls dann, wenn man sich an die Tradition der Chicagoer Schule anlehnt. Deren Grundidee besteht nämlich in einer Verzahnung von Datenerhebung und Datenauswertung. Ich will im Folgenden das Konzept der gegenstandsbezogenen Theoriebildung von Glaser und Strauss ansprechen und zweitens das durch dieses Konzept beeinflusste Theoriemodell der Verlaufskurvenanalyse von Fritz Schütze von einer etwas anderen Seite beleuchten, als es gängigerweise getan wird. (a) Besonders deutlich ist die Verzahnung von Datenerhebung und Datenauswertung konzeptionell bei Glaser und Strauss in ihrem Konzept der gegenstandsbezogenen Theoriebildung (Grounded Theory) (Glaser/Strauss 1967; 1979). Die Aktivität des Forschers verteilt sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Forschungsprozesses in spezifischer Weise auf die Datenerhebung, die Konstruktion geeigneter Kategorien (Deskriptionssystem) und die Auswertung der Daten, die mit einem Theorieaufbau einhergeht. Sicherlich ist bei Glaser und Strauss gemeint, dass aus den feldspezifischen Daten auch eine feldspezifische Theorie entwickelt werden kann und soll. Ich denke, es muss aber nicht prinzipiell ausgeschlossen sein, dass die Ausarbeitung einer gegenstandsbezogenen Theorie sich auch dadurch auszeichnet, dass auf vorhandene Theoriekorpora zurückgegriffen wird. Wichtig ist dabei nur, dass ein subsumtionslogisches Verfahren vermieden wird. Das bedeutet, dass erhobene Daten einer Theorie untergeordnet werden und ausschließlich aus dem Blickwinkel dieser Theorie gesehen und ausgelegt werden. Der Forschungsprozess ist beendet, wenn eine hinreichende empirische, deskriptive und theoretische Sättigung erreicht ist. Die Frage, ob weitere Fälle und/oder Untersuchungsgruppen einbezogen werden sollen, entscheidet sich am Stand der sich aus den Daten und der Untersuchung entwickelnden Theorie. (b) Fritz Schütze ist in seinem Konzept der Auswertung narrativer Interviews stark von Glaser und Strauss beeinflusst. Er hat sein Instrumentarium in der Interaktionsfeldstudie Gemeindezusammenlegungen entwickelt, hat dieses Instrumentarium dann in einer zweiten Phase zur Biographieanalyse weiterentwickelt und konzentriert sich in einer dritten Phase auf die Analyse kollektiver Verlaufsformen.
Individuelle Erfahrungsverarbeitungsräume Die eigentliche Leistung des narrativen Interviews, das Fritz Schütze und seine Mitarbeiter konzeptionell entwickelt haben, liegt darin, dass Material erhoben wird, aus dem nach bestimmten Auswertungsprozeduren erschlossen werden kann, wie der Informant Ereignisse seines Lebens zu einem sinnvollen Gesamtzusammenhang, nämlich seiner Biographie, gestaltet hat. Die Gestaltungsgesetzmäßigkeiten, also die Ordnungsprinzipien seiner biographischen Selbstorganisation, können damit einer Analyse zugeführt werden. Insofern geht es in der Biographieanalyse um die Erschließung individueller Erfahrungsverarbeitungsräume. Transkribierte Stegreiferzählungen dürfen als Dokumentationen von Bildungsprozessen insofern verstanden werden, als in ihnen die Welt- und Selbstsichten des Informanten in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zur Darstellung kommen. Die Anlässe für den Wandel des Selbst- und Weltverhältnisses können zum einen in lebensgeschichtlichen und zum anderen in
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kollektiv-historischen Umbrüchen liegen. Das Konzept, das Fritz Schütze entwickelt hat, erlaubt es, anhand des empirischen Materials von lebensgeschichtlichen Stegreiferzählungen, Phasen individueller Bildungsprozesse zu bestimmen und Verlaufsformen zu analysieren. In solchen Phasen sind Bildungsfiguren entstanden, die für eine bestimmte Zeit im Leben eines Menschen für ihn eine orientierende Kraft entfalten, die den Modus seiner Welt- und Selbstreferenz bestimmt haben. Wenngleich vollständig klar ist, dass solche Bildungsfiguren handelnd, kommunizierend und biographisierend entstanden sind, also u.a. auch im Medium der sozialisatorischen Interaktion, wird der Schwerpunkt der Analyse auf die Art der Ordnungsbildung infolge der biographischen Selbstorganisation gelegt. Biographieanalyse mit diesem Zuschnitt ist also in der Lage, individuelle Sinn- und Bedeutungsgehalte in der Auswertung narrativer Interviews zu explizieren. Die Schützesche Unterscheidung von Handlungsschema, institutionellem Ablaufmuster, Verlaufskurve und Wandlung bietet hierfür ein geeignetes und fruchtbares Instrumentarium. Hervorgehoben werden muss aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive insbesondere die Kategorie der Wandlung. Sie beinhaltet ein emergentes Prinzip. Emergenz bezeichnet in diesem Zusammenhang eine dem Subjekt intentional nicht verfügbare Erweiterung seines Möglichkeitshorizontes. Das bedeutet, dass neue Handlungs- und Orientierungspotentiale für das Subjekt selbst überraschend in Erscheinung treten, ohne dass dieses intendiert ist oder aus Randbedingungen abzuleiten wäre. Soweit das klassische Muster der Biographieanalyse.
Kollektive Erfahrungsverarbeitungsräume Schütze behält den biographietheoretischen Rahmen bei und konzentriert sich auf jene Faktoren, die von einer ganzen Kohorte oder Generation gemeinsam erfahren bzw. erlitten worden sind. Einzelfallauslegung bedeutet in klassischer biographietheoretischer Sicht, dass der Einzelne als Schnittpunkt unterschiedlicher Welten verstanden wird. Im Durchgang durch diese sozialen Welten muss eine Lebenslinie aufgebaut werden. Insofern ist hier der originäre Bezug des Einzelnen zum Allgemeinen immer schon gegeben. Wo kollektive Identitäten ins Wanken geraten, ist die Konstitution, die Ausarbeitung und Aufrechterhaltung von Identität besonders schwierig. Das zeigt Schütze in der Untersuchung Kollektive Verlaufskurve oder kollektiver Wandlungsprozess (Schütze 1989), die sich mit den Erfahrungen amerikanischer und deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg befasst. Schütze hat immer wieder die Position vertreten, dass sich Stegreifmaterialien selbsterzählter Lebensgeschichten „besonders für die empirische Grundlegung von sozialwissenschaftlichen Studien, welche die Untersuchung kollektiver Veränderungsprozesse zum Ziel haben“ (Schütze 1987, S. 47), eignen. Aufgrund der Verzahnung von biographischen und sozialen Prozessen ergeben sich für ihn zwei Möglichkeiten der thematischen Fokussierung: „Das narrative Interview kann sich thematisch stärker auf die Reproduktion lebensgeschichtlicher Vorgänge oder auf die Reproduktion ,äußerlicher‘ (interaktiver oder kollektiv-historischer) Ereignisabläufe beziehen, in welche der Informant als Handelnder oder Erleidender verwickelt war. Bei beiden Thematisierungsvarianten hat die Interviewerzählung jedoch eine autobiographische und eine kollektivhistorische Dimension in der Erlebnisaufschichtung, die durch das Stegreiferzählen in der Erinnerung reaktiviert wird – die eine der beiden Dimensionen ist je nach Art der Thematisierung jeweils rezessiv, findet aber dennoch im Erzählvorgang Beachtung“ (Schütze 1987, S. 50).
Geht man also von der Erhebungsmethode des narrativen Interviews und dem dazugehörigen Auswertungsset (Handlungsschema, institutionelles Ablaufmuster, Verlaufskurve und Wandlung) aus, dann kann man kollektive Erfahrungsverarbeitungsräume jeweils aus der
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Sicht von Einzelpersonen erschließen, gleichsam aus der Sicht individueller Erfahrungsverarbeitungsräume extrapolieren.
4.3. Tiefenstrukturelle Konzepte (a) Ulrich Oevermanns Konzept einer objektiven Hermeneutik ist neben dem Konzept von Fritz Schütze wohl das erfolgreichste Konzept in der Biographieforschung. Das zeigt auch die erziehungswissenschaftliche Rezeption (vgl. Garz 1994). Ich verzichte auch hier auf eine umfangreiche Rekonstruktion. Dafür liegen mittlerweile exzellente Arbeiten vor (Reichertz 1986, Sutter 1994; 1997). Durch die konstitutive Differenz von Intentionalität und latenter Sinnstruktur erhebt die objektive Hermeneutik den Anspruch, auf der Grundlage der Textinterpretation eine empirische Methodologie zu entwerfen, die dem Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaft angemessen ist. Die Pointe liegt darin, dass durch dieses Verfahren objektive, d.h. unabhängig von den subjektiven Intentionen der Beteiligten sich durchsetzende (kollektive) Strukturen herausgearbeitet werden. Die objektive Hermeneutik zielt zwar auf die Besonderheit des jeweils vorliegenden Falles mit seiner je bestimmten Bildungsgeschichte. Die Gewissheiten des gesellschaftlich-kulturell eingespielten Hintergrundes erhalten jedoch den Stellenwert von Interpretationsfolien, mit deren Hilfe das empirische Material ausgelegt wird. Ein entscheidendes Grundprinzip ist dabei das der gedankenexperimentellen Kontextvariation, um Lesarten zu erzeugen. Diese gedankenexperimentell entworfenen Kontextbedingungen, die zum Zwecke der Interpretation an den Text herangetragen werden, beruhen eben gerade auf kulturell eingespielten Normalitätsvorstellungen, z.B. auf institutionalisierten Verhaltensmustern (Rollenverhalten in der Familie), Alter (entwicklungstypischen Verhaltensmustern) oder Milieu (milieuspezifischen, familialen Verhaltensmustern). Die Normalitätserwartungen und die Besonderheiten des Falles bilden wechselseitig Gegenhorizonte füreinander. Insofern erscheint der jeweils vorliegende Fall immer als Abweichung von der Normalitätsfolie. Deshalb ist Oevermann oft eine Tendenz zur Pathologisierung von Personen und Kommunikationsstrukturen vorgehalten worden. Wie bereits erwähnt, findet der Oevermannsche Ansatz in erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekten zunehmend Einsatz. Die Forschungsresultate zeigen, dass er als erfolgreiche Methode der Datenauswertung bezeichnet werden muss. (b) Bei der psychoanalytischen Textinterpretation (vgl. Lorenzer 1986, Leithäuser/Volmerg 1979) erfolgt ein Zugriff auf verdrängte, abgespaltene Anteile, auf unbewusste Inhalte. Es geht um die Suche nach Indikatoren für Verdrängungen. Dabei handelt es sich nicht nur um individuell unbewusste Gehalte, sondern auch um die unbewusste Struktur der verwendeten Sprachspiele. Systematisch wird hier also der Text als Oberflächenphänomen behandelt und auf die zugrundeliegenden Strukturen hin untersucht, die als Resultate psychischer Vorgänge aufgefasst werden. Erst wenn die Oberflächenphänomene zusammen mit den sie konstituierenden zugrundeliegenden Strukturen verstanden werden, kann das zu untersuchende empirische Phänomen, z.B. Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnisse (Volmerg u.a. 1983), verstanden werden. Die Technik der Auswertung ist gut entwickelt und hat sich in vielen Forschungsprojekten, die überwiegend im arbeits- und sozialpsychologischen Bereich liegen, bewährt. Im ersten Schritt geht es um die Erfassung des manifesten Textes. Dieser wird einer formalen Konsistenzprüfung unterzogen (Prüfung, ob auf der textuellen Ebene Widersprüche, Brüche oder Ungereimtheiten auftreten). Solche Inkonsistenzen werden als Indikatoren für verborgenen Sinn, für abgespaltene Gehalte gedeutet. Im zweiten und dritten Schritt er-
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folgt das psychologische und das szenische Verstehen. Während das psychologische Verstehen auf die situative Konfiguration der Textproduktion (beispielsweise: Interviewsituation) zielt, stellt das szenische Verstehen eine Form der sozialen (Re)-Kontextualisierung dar. Das bedeutet, dass anhand von Textpassagen die in ihnen (verzerrt) zum Ausdruck gebrachten biographischen oder sozialen Szenen rekonstruiert werden. Desymbolisierte und ausgeschlossene Interaktionsformen sollen auf diese Weise beschrieben und wieder zugänglich gemacht werden (vierter Schritt: tiefenhermeneutisches Verstehen). Dadurch soll die konkrete Erscheinungsweise des gesellschaftlichen Lebens hergestellt werden.12
5. Zur Frage der Gütekriterien Solange es qualitative Forschung gibt, solange gibt es auch die Diskussion um die Gütekriterien13. Kann man die klassischen Gütekriterien der Validität, Objektivität und Reliabilität auf die qualitativ erhobenen Daten und Auswertungsresultate übertragen? Oder muss diese Frage im Falle qualitativer Forschung ganz neu und anders gestellt und einer Beantwortung zugeführt werden? Mir scheint, dass das Verfahren der Triangulation sich besonders gut eignet, diesen Problemkreis zu erörtern. Der Begriff Triangulation taucht bereits in der amerikanischen Literatur der 1950er und 1960er Jahre auf (Campbell & Fiske 1959, Webb u.a. 1975, Smith 1975). Als Metapher bezeichnet er ein Verfahren zur exakten Positionsbestimmung eines Objektes von verschiedenen Referenzpunkten aus.
5.1. Klassische Formen der Triangulation Nach Denzin (1978) können vier verschiedene Formen der Triangulation unterschieden werden: (1) Daten-Triangulation: Hier werden verschiedene Daten unter einer gemeinsamen Perspektive miteinander in Beziehung gesetzt. Das können Daten sein, die mit derselben Methode bei denselben Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, oder Daten, die mit derselben Methode an unterschiedlichen Orten bei unterschiedlichen Personen erhoben worden sind etc. Immer wird jedoch unterschiedliches Datenmaterial miteinander kombiniert, um die einem Forschungsprojekt zugrundeliegende Forschungsfrage zu bearbeiten. (2) Forscher-Triangulation: Hier werden bewusst unterschiedliche Personen in den Prozess der Datenerhebung und/oder in den der Datenauswertung einbezogen, um die jeweilige Subjektivität wechselseitig zu kontrollieren und zu korrigieren. (3) Theorien-Triangulation: Hier geht es darum, verschiedene Theorien zu verwenden, um – wie Smith (1975) es nennt – einen gewissen theoretischen Ethnozentrismus zu überwinden. Am deutlichsten wird es im Bereich der Datenauswertung: Ich habe oben dargestellt, dass die verschiedenen Konzepte der Datenauswertung danach unterschieden werden können, wie stark sie das empirische Material im Rahmen vorgegebener Theorien diskutieren oder inwieweit sie anhand des Materials theoriegenerierend wirken. Wie auch immer, auf jeden Fall wird das Arsenal zur Verfügung stehender Theorien jeweils einen anderen Grad und eine unterschiedliche Weise der Explanation ermöglichen. Die Auslegung von Daten in
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unterschiedlichen Theoriekontexten soll u.a. Aufschluss über die Angemessenheit einer Interpretation geben. Triangulation in diesem Sinne dient dem Ziel, neben der Fehlerminimierung die Anzahl der plausiblen Konkurrenzinterpretationen zu minimieren bzw. zu limitieren. Die Erzeugung konkurrierender plausibler Interpretationen soll auf diese Weise zugleich systematisiert werden. Ein Beispiel für solche Theorien- und hier auch Forscher-Triangulierung stellt das Hamburger Projekt Studentenbiographien (vgl. Kokemohr/Marotzki 1989 sowie Marotzki/Kokemohr 1990) dar. Drei Leitlinien kennzeichnen die Anlage dieses Projektes. Erstens: Der Teilnehmerkreis der zugrundeliegenden Symposien war interdisziplinär zusammengesetzt (Soziologie, Linguistik, Romanistik, Erziehungswissenschaft). Zweitens: Es bestand die Verpflichtung aller Teilnehmer auf einen problemdefinierenden Rahmen, der im weiten Sinn als wissenssoziologisch bezeichnet werden kann. Diesen haben wir dadurch bestimmt gesehen, dass in ihm die Frage nach den Zusammenhängen von Sozialstruktur und subjektivem Wissen bzw. subjektiver Wissens- und Erfahrungsverarbeitung modelliert werden kann. Innerhalb dieses Rahmens war eine Vielzahl konkurrierender oder sich ergänzender Fragestellungen und theoretischer Konzepte erwünscht und vertreten. Es wurden u.a. ethnomethodologische und ethnotheoretische, linguistisch-pragmatische, konversationsanalytische, rhetorisch-kognitionstheoretische, objektiv-hermeneutische, lerntheoretische, soziologisch-phänomenologische und psychoanalytische Positionen am Material erprobt. Drittens bestand die Verpflichtung auf gemeinsames empirisches Material. Auf dem ersten Symposium bestand das empirische Material insgesamt aus elf Transkriptionen von Interviews (50 bis 85 Seiten pro Transkription), die der Form narrativer Interviews (nach Fritz Schütze) angenähert waren. Die Teilnehmer waren gebeten, sich auf vier dieser Interviewtexte zu beschränken. Es handelte sich um Interviews, die mit Studenten der Erziehungswissenschaft und angrenzender geisteswissenschaftlicher Studienrichtungen geführt worden waren. Auf dem zweiten Symposium bestand das empirische Material aus zehn Transkriptionen narrativer Interviews, von denen zwei als engerer Materialrahmen vorgegeben waren. Es ging um Studentenbiographien jener Studiengänge, die sich durch relativ straffe curriculare und studienorganisatorische Vorgaben auszeichnen (natur- und wirtschaftswissenschaftliche, mathematische und juristische Studiengänge). Für beide Symposien galt die Regel, dass die Teilnehmer ausdrücklich gebeten waren, sich auf das von uns vorgegebene Material zu beziehen. Daneben war eine Bezugnahme auf jeweils eigenes Material zugelassen, an dem die Teilnehmer ihre Analysen möglicherweise verdeutlichen konnten. Die Konzentration auf übersehbares gemeinsames Material sollte verhindern, dass die Anschlussfähigkeit und die Diskutierbarkeit der vorgeführten Analysen und Positionen dadurch gemindert würde, dass deren Vertreter sich auf sehr unterschiedliches, jeweils nur ihnen selbst bekanntes (Privat-) Material bezögen. Das zugrundeliegende Prinzip der Lesartenkonstruktion wurde durch die Fokussierung auf gemeinsames Material stärker zur Geltung gebracht, als es dann der Fall ist, wenn einzelne Beiträger sich auf ihr eigenes, mitgebrachtes Material beziehen, wie es sonst vielfach auf Veranstaltungen, Symposien und Kongressen dieser Art üblich ist. Die Nötigung, die eigene Lesart des allen bekannten Materials solider auszuarbeiten, wurde dadurch gesteigert. (4) Methoden-Triangulation: Hier geht es um eine Erweiterung des Methodenrepertoires durch solche Methoden, die andere Schwächen, aber nicht dieselben, haben. Es soll also eine Kombination verschiedener Methoden mit nichtidentischen Schwächen vorgenommen werden. Das ist sicherlich bei Smith (1975) und Webb u.a. (1975) das Hauptmotiv der Triangulierung: die Schwächen der eingesetzten Methoden und Konzepte wirkungsvoll be-
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grenzen und kontrollieren zu können (vgl. auch: Jick 1983). Smith setzt vor allem im Bereich der Methoden-Triangulation auf die Triangulation durch nichtreaktive Verfahren. Interviews haben bestimmte reaktive Schwächen, darauf hatte ich schon hingewiesen. Da in erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekten narrative Interviews am häufigsten eingesetzt werden, will ich den dargelegten Sachverhalt an diesem Beipiel erläutern.
Zur Reaktivität der Interview-Methode Reaktivität bedeutet, dass das Setting der Datenerhebung die Daten selbst beeinflusst. Es kann ja gar nicht vermieden werden, dass der Informant weiß, dass seine Aussagen Material für ein wissenschaftliches Forschungsprojekt darstellen (Versuchskaninchen-Effekt, vgl. dazu Webb u.a. 1975, S. 31ff.). Jedenfalls entspricht es der Redlichkeit des Forschers, dieses auch mitzuteilen. Dieses Bewusstsein kann reaktive Effekte erzeugen. Denn es stellt einen Unterschied dar, ob ich die Rekonstruktion meines Lebens einem Partner offeriere oder einem Fremden, von dem ich weiß, dass er sie für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Diese reaktiven Effekte müssen nicht zwangsläufig zu Verzerrungen führen, können aber doch ein Problem bereiten, das zu Schwierigkeiten für die Gültigkeit der erhobenen Daten führen kann. Ein anderer, sehr bekannter, reaktiver Effekt besteht zwischen dem Bewusstsein, dass meine Aussage forschungsrelevant ist, und der Neigung zu sozial erwünschten Antworten. Damit hängt auch die Rollendefinition zusammen, die durch das Setting des narrativen Interviews gegeben ist. Es ist per definitionem keine normale Interaktionssituation; sondern eine gewisse Asymmetrie zwischen Informant und Forscher ist gewollt. Es ist eben eine besondere Form der sozialen Interaktion. Sicherlich kann man über die geschickte Setzung von Präambel-Effekten die Rollendefinition mitbestimmen, ganz vermeiden wird man die sozial herausgehobene Situation des Interviews nicht.
5.2. Kritik an den gängigen Triangulationsvorstellungen Was kann nun durch den Einsatz von Triangulationsverfahren tatsächlich erreicht werden? Ich wende mich zunächst einigen kritischen Einwänden zu. Silvermanns (1985) vorgetragene Kritik zielt auf die Annahme, dass mit verschiedenen Methoden immer auch derselbe Gegenstand erfasst werde und dass man die verschiedenen Teilansichten einfach zusammenzusetzen brauche, um ein Ganzes zu erreichen. Aus dieser Kritik folgt also beispielsweise: Wenn in einem Projekt narratives Interview und teilnehmende Beobachtung kombiniert werden und entgegengesetzte Resultate hervorbringen, ist es schwer zu sagen, welches Resultat das „richtige“ ist, welches Ergebnis zur Korrektur des anderen herangezogen werden kann. Denn ich müsste ja entscheiden, welcher der beiden Zugänge valide Daten erbracht hat. Damit ist eine gewisse Zirkularität gegeben: „Die Zirkularität bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass beim Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung einer Methode und ihrer Ergebnisse immer unterstellt werden muss, dass die andere Methode valide Ergebnisse produziert hat“ (Flick 1992, S. 19). Es könnte durchaus auch sein, dass auf Grund der Perspektivität sozialer Phänomene beide Befunde gleiche Geltung beanspruchen können, obwohl sie sich auf den ersten Blick widersprechen. „Triangulation als ,Quasi-Korrelation‘ läuft nun Gefahr, die jeweiligen Implikationen, die eine bestimmte theoretische Ausgangsposition und die entsprechende Methodenanwendung prägen, zu übersehen bzw. zu vernachlässigen“ (Flick 1992, S. 18).
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Die Kritik von Silvermann und Flick zielt also auf den Punkt, dass klassische Triangulationsverfahren in legitimatorischer Absicht mit anderen Mitteln traditionelle Validierungsstrategien realisieren wollen. Dagegen wird angeführt, dass die Wahl anderer Theorien und Methoden zu einer anderen Perspektivenwahl und damit zu einer anderen Objektkonstitution führen. Deren Ergebnisse sind somit nur sehr bedingt wechselseitig korrekturfähig. Fielding/Fielding (1986) fassen diese Auffassung von Triangulation in folgender Weise zusammen: „Weder reduziert theoretische Triangulation notwendigerweise Verzerrungen, noch erhöht methodologische Triangulation die Validität. Theorien sind allgemein das Ergebnis ganz unterschiedlicher Traditionen, so daß man durch ihre Kombination ein vollständigeres Bild erhält, jedoch kein ,objektiveres‘. Ganz ähnlich sind verschiedene Methoden aus verschiedenen theoretischen Traditionen entstanden, weshalb ihre Kombination zu mehr Reichweite und Tiefe führen kann, nicht jedoch zu mehr Richtigkeit“ (Fielding/Fielding zit. bei Flick 1992, S. 22).
Zur Bearbeitung der Frage, welche Ergebnisse höher zu bewerten sind, empfiehlt Flick – für mich sehr einleuchtend –, im Rückgriff auf die jeweils gewählte oder implizierte Theorie die Angemessenheit der Methode für den zu untersuchenden Gegenstand zu diskutieren. Wenn Triangulation also nicht den erhofften Validitätstest und Validitätsgewinn ergibt, weil eine Theorie und die dazu gehörige Methode jeweils ihren Gegenstandsbereich konstituieren, dann ergeben sich Folgeprobleme. Mit Popper kann man beispielsweise nach den Falsifikationsbedingungen für eine Theorie fragen. Hält man Poppers Position durch die Kuhnsche für überwunden, kann man nach der Relativität von Theorien fragen. Die hier vorgetragene Auffassung der Gegenstandskonstitution durch die jeweils gewählte Theorieperspektive führt sicherlich nicht in einen Relativismus, und zwar deshalb nicht, weil zwischen besseren und schlechteren Theorien durchaus noch unterschieden werden kann. Was lediglich bestritten wird, ist, dass Theorien direkt miteinander verglichen werden können in der Weise, dass sich ihre Ergebnisse wechselseitig korrigieren.
5.3. Triangulierung als Strategie der Pluralisierung und Perspektivierung Aus den dargelegten kritischen Einwänden folgt nicht, dass Triangulierung ad acta gelegt werden müsste, weil sie ausschließlich als eine verdeckte Legitimationsstrategie zur Anwendung kommt. Klar geworden ist vielmehr, dass es in qualitativer Forschung nicht darum gehen kann, sich an eine objektive Wahrheit anzunähern, sondern es geht darum, dass Methoden und Theorien in der Absicht kombiniert werden, die Tiefe und Breite der Analyse zu erweitern. Eine wechselseitige Validierung der Einzelergebnisse ist aus wissenschaftstheoretischen Gründen nicht möglich (vgl. Lamnek 1988, S. 236). An die Stelle der Validierung tritt die Komplementarität. „An Stelle von Validierungen zu sprechen, wäre es vielleicht adäquater, unsere Prüfprozesse als mehrperspektivische Triangulation anzusehen [...] und im voraus darauf gefaßt zu sein, als Ergebnis kein einheitliches, sondern eher ein kaleidoskopartiges Bild zu erhalten“ (Köckeis-Stangl 1982, S. 363; zit. bei Flick 1992, S. 24).
Ich habe oben drei Wege der Triangulierung vorgestellt. Alle drei spielen in der Forschungspraxis eine unverzichtbare Rolle. Versteht man Triangulierung vornehmlich als Strategie der Perspektivierung, wie ich es dargelegt habe, dann käme man in der Folge zu Forschungsdesigns, die dem Trend der Pluralisierung in der Moderne Rechnung tragen würden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Wahl des Triangulierungssets ist nicht willkürlich, sondern unterliegt im hohen Maße der theoretischen Begründungspflicht. Ohne dass dieser Terminus
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gebraucht wird, haben sich in der Forschungspraxis erziehungswissenschaftlicher Projekte verschiedene Möglichkeiten der Triangulierung herausgebildet. Zum Forschungsalltag gehören Möglichkeiten der Datentriangulierung unter Zuhilfenahme nichtreaktiver Methoden. Es ist wohl eine zu verengte Rezeption des Schützeschen Ansatzes gewesen, die das narrative Interview und dessen Auswertung so stark hat in den Mittelpunkt treten lassen. Dagegen ist daran zu erinnern, dass die zu untersuchenden Phänomene auf der empirischen Grundlage kontinuierlich aufgezeichneter Primärtexte untersucht werden. Primärtexte sind z.B.: Aufzeichnungen und Transkriptionen aktueller kommunikativer Interaktion (z.B. teilnehmender Beobachtung), Aufzeichnungen und Transkriptionen von Interviews, die von den Informanten in der Thematisierung und Darstellung gesteuert sind (autobiographisch-narrative Interviews), aber auch ethnographische Beschreibungen von Handlungsabläufen, Parlamentsprotokolle, Serien von Zeitungsartikeln (z.B. politischer Leitartikel) usw. (vgl. Schütze 1994). Um verschiedene Veränderungsstadien und die Form der Veränderung individueller und kollektiver Prozesse analytisch erfassen zu können, sieht Schütze die Notwendigkeit, zwei Arten von qualitativen Prozessdaten zu triangulieren: Einerseits kontinuierliche (wenn auch nicht lückenlose) Serien von Texten, welche die jeweilige aktuelle Situation (zumeist im Bereich der öffentlichen Kommunikation) definieren oder ausdeuten – wie z.B. die Serie politischer Leitartikel großer Tageszeitungen oder auch die Serie der politischen Rundfunk- und Fernsehkommentare. Andererseits sind es raffende Stegreiferzähldarstellungen eigenerlebter Erfahrungen, wie sie mit Mitteln des autobiographisch-narrativen Interviews erzeugt werden können. Ein zweiter Weg besteht darin, weitere reaktive Verfahren einzusetzen, also z.B. weitere narrative Interviews zu führen, teilnehmende Beobachtung oder problemorientierte bzw. leitfadenstrukturierte Interviews zu führen. Ein dritter Weg wäre, mit einem quantitativ angelegten Forschungsdesign weiterzuarbeiten. Für das Verhältnis von quantitativen und qualitativen Verfahren gilt, dass quantitative Verfahren nicht hinzugezogen werden, um qualitative Ergebnisse zu validieren, sondern dann herangezogen werden, wenn sie weiteren Erkenntnisgewinn versprechen, z.B. weiteren Aufschluss über Häufigkeit oder soziostrukturelle Verteilung des interessierenden Phänomens geben. Quantitative Verfahren sind im Sinne Oevermanns (1976) Abkürzungsverfahren für intensive Einzelfalluntersuchungen. Sie sollen dann forschungsökonomisch eingesetzt werden, wenn die intensiven Einzelfalluntersuchungen in der Auswertung hinreichend differenziert worden sind.
6. Schlussbemerkung Entscheidend ist in den nächsten Jahren, ob es erziehungswissenschaftlicher Forschung gelingen wird, die rasanten Transformationen in Richtung einer Informationsgesellschaft in ihren verschiedenen institutionellen wie lebensweltlichen Auswirkungen, Chancen und Risiken zu erhellen, so dass die Konsequenzen, die daraus für Prozesse der Identitätsbildung, des Lernens und der Bildung folgen, Eingang finden können in erziehungswissenschaftliche Reflexion und Theoriebildung wie auch in den Bereich pädagogischen Handelns. Dabei öffnet sich für die Forschung ein neues Gebiet, nämlich der digitale Sozialisationsraum, der als neue zu erforschende Welt neben die sozialen Welten tritt (vgl. Marotzki 1997).
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„Dieses Insistieren auf dem (methodischen) ,Durchführungs‘aspekt des Handelns, auf dem Wie-esgemacht-wird, auf dem Wie-es-zu-machen-ist, auf dem praktischen Hervorbringen von Handlungen, samt allen ihren Merkmalen, legt das frei, was den Ethnomethodolgen am sozialen Geschehen interessiert“ (Weingarten/Sack 1979, S. 13). In diesem Sinne heißt es analog bei Husserl: „Die Phänomenologie befreit uns vom alten objektivistischen Ideal des wissenschaftlichen Systems, der theoretischen Form der mathematischen Naturwissenschaft, und befreit uns danach von der Idee einer Ontologie der Seele, die ein Analogon sein könnte der Physik“ (Husserl 1954, S. 268f.). Lamnek 1988ff.; Spöhring 1989; Flick u.a. 1991: Mayring 1990. Zedler/König (Hrsg.) 1995; Friebertshäuser/Prengel (Hrsg.) 1997. Kleining 1982; Hoffmann-Riem 1980; Marotzki 1990, 1991, 1991b. Witzel 1982, 1985. Beispielsweise: Schütze 1977, 1983; Hoffmann-Riem 1980; Hermanns u.a. 1984; Riemann 1987; Jakob 1997; Friebertshäuser 1997a. Unter dem Begriff des Feldes verstehe ich allgemein ein Forschungsfeld. Das kann beispielsweise eine Schule, das kann eine Subkultur sein (z.B. Musikszene) oder jeder Bereich sozialpädagogischen Handelns. Ethnographie erscheint als eine methodenplurale integrative flexible Strategie, bei der den methodologischen Entwürfen eine heuristische Funktion zukommt“ (Lüders 1995, S. 321). Vgl. auch Roller/Mathes 1993; Früh 1992. Es geht hier eben auch um das „theoretisch-reflexive Zerlegen und Vergleichen biographischer Alternativen“ (Bohnsack 1991, S. 45). Der Rahmen des Erfahrungsraums einer Gruppe wird durch positive und durch negative Gegenhorizonte sowie deren Enaktierungspotentiale gebildet. Aus Erlebnisdarstellungen lassen sich Orientierungsfiguren, also Muster, herausarbeiten. Sie lassen sich am Text in Form sogenannter Fokussierungsmetaphern aufweisen. Vergleichshorizonte werden durch den Interpreten gedankenexperimentell und/oder empirisch eingeführt. Die systematische Voraussetzung dieses Datenauswertungssatzes besteht in der Annahme, dass alltägliche Sprachspiele in der Regel verzerrt seien, weil die gesellschaftliche (Sozialisations-)Praxis Deformationen hervorbringe. Das bedeute, dass Handlungen (Interaktionsformen) von ihren Symbolisierungen abgespalten würden. Beispielsweise: Hirsch 1967; Terhart 1981; Gerhardt 1985; Lüders/Reichertz 1986; Flick 1987.
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Pädagogische Ethnographie und Biographieforschung1 Christian Lüders
Inhalt 1.
Zwei Welten
2.
Pädagogische Ethnographie – was ist das?
3.
Ethnographie pädagogischer Praxis
4.
Ethnographie pädagogischer Praxis und Biographie
Literatur
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Christian Lüders
Ein Beitrag zur pädagogischen Ethnographie in einem Handbuch „Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“ dürfte zumindest im deutschsprachigen Raum in mehrfacher Hinsicht Erstaunen auslösen. Zwar scheint sich mittlerweile auch hierzulande ethnographisches Vorgehen zu einer vertrauten Forschungsstrategie entwickeln zu können (vgl. z.B. Hirschauer/Amann 1997; Honer 1993; Kalthoff 2003; Knoblauch 1996; Matt 2001); doch schon die Frage, was eigentlich pädagogische Ethnographie sei, dürfte vielerorts Ratlosigkeit erzeugen. Darüber hinaus gilt vor allem für den deutschsprachigen Raum, dass mit den Begriffen Ethnographie und Biographieforschung auf den ersten Blick doch zwei sehr unterschiedliche methodologische Welten umrissen werden. Man muss nur in den einschlägigen Einführungen und Handbüchern nachschlagen. Nahezu alle enthalten mehr oder weniger kompetente Beiträge zum narrativen bzw. biographischen Interview sensu Fritz Schütze. Schon nicht mehr selbstverständlich sind Beiträge zur Ethnographie im Sinne einer situationsflexiblen Forschungsstrategie (vgl. Flick 1995, S. 166ff.; Friebertshäuser 1997; Lüders 1995). Gelegentlich trifft man auf Beiträge zur teilnehmenden Beobachtung. Was man nicht findet, sind Beiträge, die die beiden Stränge zusammenführen – mit, soweit zu sehen, einer Ausnahme: Anne Honer nutzt die im Kontext der Biographieforschung entwickelten Ansätze und Instrumente als selbstverständliche Momente lebensweltlicher Ethnographie (vgl. Honer 1993 vor allem S. 77ff. und 91ff.). So ist es auch nicht überraschend, dass bei dem Stichwort Biographieforschung man doch vor allem an den Namen Fritz Schütze, sein Konzept des narrativen bzw. biographischen Interviews mit all seinen Phasen, die von ihm entwickelte und vielfach bewährte Strategie der Narrationsanalyse (vgl. z.B. Schütze 1983; Glinka 1998) und die vielen von ihm ausgehenden und allerorten wirksam gewordenen Impulse sowohl für die Forschung und Theoriebildung als auch für die Methodologie interpretativer Sozialforschung denkt. Thematisch meist konzentriert auf die rückblickende Darstellung von Lebensgeschichten bzw. biographisch relevanten Prozessen und Ereignissen und den darin eingelagerten Bedeutungszuschreibungen und Erfahrungshorizonten, finden biographische Gespräche meist in eher entspannten, handlungsentlasteten Situationen mit Dauer zwischen 60 und 120 Minuten statt. Demgegenüber verweist Ethnographie auf eine ganze andere Welt. A. Honer spricht von den „kleinen Lebenswelten“ (Honer 1993, S. 32ff.), Klaus Amann und Stefan Hirschauer von der „gelebten und praktizierten Sozialität“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 11), „dessen „Individuen“ (Situationen, Szenen, Milieus...) gewissermaßen zwischen den Personen der Biographieforschung (mit ihrer erlebten Sozialität) und den (nationalen) Bevölkerungen der Demographie anzusiedeln sind“ (ebd.). Im Gegensatz zu der ausgefeilten Methodologie biographischer Interviews und Analysen, wird eine situationsflexible, nicht standardisierte Vorgehensweise propagiert. Gegenüber der zeitlich überschaubaren Ausnahmesituation Interview zielt Ethnographie auf die längerfristige Teilnahme im Milieu ab. Sie setzt vor allem auf die mehr oder weniger dauerhafte aktive, manchmal auch recht hemdsärmelige (vgl. Honer 1993, S. 34f.) Teilnahme an der jeweiligen „kleinen Lebenswelt“. Warum dann also ein Beitrag mit diesem Themenzuschnitt in diesem Handbuch? Die Antwort ist einfach: Zum ersten zeigt ein Blick in die vor allem englischsprachige Diskussion zur Ethnographie, dass Biographieforschung und Ethnographie keineswegs zwei so getrennte Welten darstellen müssen, wie dies zur Zeit in der deutschsprachigen Diskussion zu sein scheint (I). Zum zweiten gibt es immerhin verstreute Versuche zu einer erziehungswissenschaftlichen Ethnographie. Diese werden zu diskutieren sein (II), um dann anschließend der Frage nach dem Verhältnis von Biographieforschung und Ethnographie im Horizont der Erziehungswissenschaft zumindest ein Stück weit nachzugehen (III/IV).
Pädagogische Ethnographie und Biographieforschung
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1. Zwei Welten Der zuvor beschriebene Eindruck, dass im deutschsprachigen – und man müsste genauer sogar hinzufügen: soziologisch-sozialwissenschaftlichen – Raum Biographieforschung und Ethnographie als zwei vergleichsweise getrennte Welten gehandelt werden, verdankt sich vor allem der relativ starken Methodisierung des Konzeptes des narrativen bzw. biographischen Interviews und den damit verbundenen Auswertungsstrategien durch Fritz Schütze. Und es ist genau dieses Moment des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ – eine seit den Tagen der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen immer wieder verwendete Formulierung (vgl. Schütze, Meinefeld, Springer, Weymann 1973) –, das – wenn auch meistens nicht explizit und exklusiv auf den Ansatz von F. Schütze bezogen – Polemiken zu den „quasi-polizeilichen Vorschriften ,methodisch kontrollierter Hermeneutik‘“ (Knoblauch 1994, S. 8) provoziert hat. Zugleich liefern gerade auch die jüngeren Arbeiten von F. Schütze zur ethnographischen Haltung bzw. zum ethnographischen Erkenntnisstil ein wichtiges Argument, das diese Frontstellung, wenn auch auf einer anderen Ebene, relativiert. Mit ethnographischer Haltung bzw. ethnographischem Erkenntnisstil bezeichnet F. Schütze einen Habitus, der aus seiner Sicht nicht nur jeglicher qualitativer bzw. rekonstruktiver Forschung, also sowohl der Biographieforschung als auch ethnographisch angelegten Projekten, sondern auch dem professionellen Handeln, z.B. im Rahmen sozialer Arbeit, zugrunde liegt. Ausgehend von der prinzipiellen Fremdheit zwischen dem zu untersuchenden Ausschnitt der Realität und der Perspektive der Forscherin bzw. des Forschers beschreibt F. Schütze diese „Untersuchungshaltung“ als eine „verfremdende naturalistische Betrachtungsweise, die alle Vorannahmen und Teilwissensbestände des Hörensagens auszuklammern bestrebt ist und die sequenziellen Verhältnisse, Gegensatzanordnungen und Identitätswandlungen in den Blick nimmt“ (Schütze 1994, S. 231f.). Eine weitere Aufweichung erfährt das zuvor skizzierte Nebeneinander von Biographieforschung und Ethnographie in der konkreten Forschungspraxis. Auch wer ethnographische Studien nur oberflächlich durchblättert, wird schnell erkennen, dass immer wieder, wenn auch nicht regelmäßig, biographische Aspekte und biographische Materialien eine integrale Rolle spielen. Wenn auch eher selten im strikten Sinne des Konzeptes von F. Schütze werden wie selbstverständlich biographische Materialien erhoben und ausgewertet (vgl. z.B. Friebertshäuser 1992; Tertilt 1996). Vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses ethnographischen Vorgehens im Sinne einer situationsoffenen Strategie wäre es geradezu widersinnig, wenn man auf die biographische Dimension und ihre Analyse verzichten würde. Allerdings ist zu betonen, dass es meist die ethnographisch angelegten Projekte sind, die sich biographietheoretische und -analytische Konzepte und Strategien gleichsam einverleiben. Der andere Fall, dass biographietheoretisch angelegte Studien um ethnographische Zugänge und Materialien ergänzt werden, ist eher selten. Offenbar scheint man sehr dem eigenen Vorgehen zu vertrauen bzw. dem wenig kontrollierten Umgang mit allerlei kontextbezogenen Materialien eher zu misstrauen. Die in einer Reihe von ethnographischen Studien angelegte Praxis, wie selbstverständlich biographische Materialien zu erheben und auszuwerten, wird vor allem in der englischsprachigen Methodenliteratur immer wieder als sinnvolle Strategie beschrieben. So formulieren z.B. Martyn Hammersley und Paul Atkinson in ihrer Einführung zur Ethnographie: „In recent years there has been a considerable resurgence of interest in the sociological analysis of biographical or autobiographical accounts. While that interest goes well beyond the scope of ethnographic research, ethnographers can incorporate many of the insights from this research field. The growth in scholarly interest reflects a renewed emphasis on
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Christian Lüders
narrative forms, temporality, and memory. It reflects too a focus on the intersection of the „personal“ and the „social“ “ (Hammersley/Atkinson 1995, S. 160f.). M.a.W.: Biographie und Ethnographie werden als zwei durchaus kompatible Konzepte in der Methodologiediskussion wahrgenommen. Zugleich deuten die zuletzt zitierten Bemerkungen der beiden Autoren an, dass die Wiederentdeckung biographischer Zugänge im Kontext der Ethnographiediskussion in einem engen Zusammenhang mit einem Paradigmenwechsel innerhalb der englischsprachigen Methodologiediskussion zur Ethnographie bzw. qualitativen Sozialforschung stehen. Dabei sind weniger die Etikette von Bedeutung, als vielmehr der Wandel der Blickrichtung: von einem eher naiv empiristischen Verständnis von Teilnahme und Beobachtung hat sich die Diskussion in den letzten Jahren zunehmend auf die Produktionsbedingungen von Ethnographien verlagert. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken auf diese Weise vor allem die verschiedenen Formen der Textproduktion, der Darstellung von Felderfahrungen und die Autorenschaft selbst (vgl. z.B. Atkinson 1990; Clifford/Marcus 1986; Van Maanen 1988, 1995; Berg/Fuchs 1993; Lüders 1995). Vor diesem Hintergrund könnte man also als Zwischenbilanz festhalten, dass der Eindruck, dass Biographieforschung und Ethnographie zumindest hierzulande wenig miteinander zu tun haben, das Ergebnis einer spezifischen deutschsprachigen Entwicklung in der Soziologie darstellt. Als etwas schwieriger erweist sich die Beantwortung der Frage, was man sich unter einer pädagogischen Ethnographie vorzustellen habe und wie sie sich zur erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung verhält.
2. Pädagogische Ethnographie – was ist das? In der Literatur gibt es – soweit zu sehen – bislang nur zwei Versuche einer systematischen Annäherung an die Frage, was eine pädagogische Ethnographie sein könnte. Der etwas ältere Entwurf stammt von Jürgen Zinnecker (1995, 2000). Vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklung in der Kindheitsforschung plädiert er für einen „befremdenden Blick, der auf die praxeologischen Selbstverständlichkeiten des Handelns und Wissens von Pädagogen und Kindern trifft und diese reflexiv verfügbar macht. Pädagogisch sollte diese Ethnographie heißen, da sie sich auf das Generationenverhältnis begrenzt, das in pädagogischen oder Bildungsinstitutionen eingeschrieben ist“ (Zinnecker 1995, S. 21). Diese Gegenstandsbestimmung grenzt J. Zinnecker noch weiter ein, wenn er im Folgenden wiederholt von Kindheit in der Schule als dem zentralen Thema pädagogischer Ethnographie spricht. Argumentativ untermauert wird dieser Zugang durch fünf Begründungszusammenhänge.2 Aus der Perspektive J. Zinneckers erscheint Ethnographie als ein „Königsweg“, „mittels eines methodisch angeleiteten Perspektivenwechsels Formen und Überlieferungen des Adultismus in der Pädagogik abzubauen“ (ebd., S. 32). In diesem Sinne bietet es sich an, pädagogische Ethnographie auch als eine Strategie der Immunisierung gegen die „Übermacht normativer Kindheitsvorstellung und gegen die Schemata der Mediendiskurse über Kindheit“ (ebd., S. 33) zu konzeptualisieren. Aus einer eher modernitätstheoretischen Perspektive und vor dem Hintergrund des – m.E. vermeintlichen – Scheiterns pädagogischer Aufklärung und pädagogischer Utopien, wird es zur Aufgabe von Pädagogik, sich selbst über die Bedingungen und Kontexte pädagogischen Handelns und die daraus resultierenden Effekte, die intendierten Folgen wie nicht-intendierten Nebenfolgen des Handelns und der Arrangements aufzuklä-
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ren. In einem weiteren Argument betont J. Zinnecker, dass diese Funktionen von Ethnographie nur erfüllt werden können, wenn sie als strikt sozialwissenschaftliche angelegt wird und der verfremdende Blick zugelassen wird. In diesem Sinne spricht sich J. Zinnecker schließlich dafür aus, Ethnographie als integralen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung zu entwickeln (ebd., S. 33). Fasst man diese Argumentationen zusammen, dann wird sichtbar, dass pädagogische Ethnographie bei J. Zinnecker vor allem unter dem Aspekt der professionellen Gewinne, die mit ihr erzielt werden könnten, thematisiert wird. Allein der zeitdiagnostische Verweis auf den Verlust des pädagogischen Optimismus und des damit erzwungenen Wechsels der Blickrichtung auf die eigene Praxis, also die Notwendigkeit reflektierter Selbstbeobachtung, impliziert eine theoretische Vergewisserung des Gegenstandes pädagogischer Ethnographie. Tritt man aber einige Schritte zurück und prüft die Argumente im Einzelnen, verliert sich die Überzeugungskraft für die Verwendung des Adjektivs „pädagogisch“. Die Gegenstandsbestimmung „Generationenverhältnis in Bildungsinstitutionen“ bzw. „Schulkindheit“ ist keine hinreichende Bestimmung für die Begründung einer pädagogischen Ethnographie, weil die gleichen Gegenstände und Institutionen auch aus sozialisationstheoretischer, institutionentheoretischer, kulturtheoretischer etc. Perspektive analysiert werden könnten. Mindestens bedürfte es weiterer Argumente, inwiefern das Generationenverhältnis als ein exklusiver pädagogischer Gegenstand zu verstehen ist. Denn obwohl sich die pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Diskussionen gerade in jüngster Zeit wieder intensiver mit dem Generationenbegriff (vgl. z.B. Liebau/Wulf 1996; Ecarius 1998; Schweppe 2002) beschäftigen, belegen sie doch auch, dass dieser Begriff allein keineswegs in der Lage ist, den pädagogischen Blick zu konstituieren (vgl. vor allem Wimmer 1998). Dem Spezifikum einer „pädagogischen“ Ethnographie kommt man auch nicht näher, wenn man wie J. Zinnecker gleichsam in anwaltschaftlicher Absicht die Perspektive des Kindes gegen jene des Erwachsenen betont. Zweifelsohne lassen sich auf diesem Weg hilfreiche Relativierungen gegen die Dominanz des Erwachsenenbildes vom Kind gewinnen. Im günstigen Fall führt dies zu Dekonstruktionen der üblichen Vorstellungen vom Kind, nicht jedoch zu einer wie auch immer gearteten Pädagogik. Blieben schließlich die Funktionen „pädagogischer“ Ethnographie im Sinne J. Zinneckers. Gegen diese kann es keine Einwände geben, zumal eine Steigerung professioneller Reflexivität auf der Basis empirisch gesättigter Beschreibungen pädagogischer Praxis ein bislang altbekanntes Desiderat darstellt. Doch reicht das aus für das Etikett „pädagogisch“? Man kann schließlich auch von soziologischen, ethnologischen oder anderen Beschreibungen pädagogischer Praxis lernen, so dass es wenig Sinn macht, hierin das Besondere dieser Form von Ethnographie zu erkennen. Der zweite Versuch einer Annäherung an pädagogische Ethnographie wurde von Winfried Marotzki in Form eines Handbuchartikels vorgelegt (1998). W. Marotzki erinnert dabei zunächst an die ethnographisch angelegten Studien in der Schul-, Kindheits-, Jugendund Medienforschung, rezipiert kurz die Position J. Zinneckers, um dann auf die Arbeiten von Barbara Friebertshäuser (vor allem 1992; 1996) zu verweisen. Allen genannten Arbeiten ist gemeinsam, dass sie für die pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Diskussion wichtige Forschungsergebnisse bereitstellen und dass sie pädagogisch relevante Situationen und Institutionen zum Gegenstand der Analyse haben. Soweit sie nicht methodologisch oder konzeptionell orientiert sind und sich auf auch aus pädagogischer Perspektive interessante Lebensformen bzw. Formen der Lebensführung von Kindern und Jugendlichen beziehen, gehören sie der Sache nach in jenes Ressort, das im englischsprachigen Raum als „ethnography of education“ bezeichnet wird, also Studien, die im weiteren Sinne des Wor-
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tes pädagogische Prozesse zum Gegenstand der Analyse haben.3 Aber ist jede Ethnographie eines pädagogischen Prozesses, einer pädagogischen Beziehung und bzw. oder einer pädagogischen Institution gleich eine pädagogische Ethnographie? Offensichtlich nicht, denn diese Gegenstände können auch aus anderen disziplinären Perspektiven ethnographisch untersucht werden. Wiederum stellt sich die Frage nach der systematischen Begründung für die Verwendung des Adjektivs „pädagogisch“. Wie auch J. Zinnecker liefert W. Marotzki keine so recht überzeugende Antwort. Statt sich der Frage nach den Spezifika pädagogischer Ethnographie zuzuwenden, konzentriert er sich auf „das allgemeine Verständnis von Ethnographie“, „das sich im Kontext einer pädagogischen Ethnographie abzuzeichnen scheint“ (Marotzki 1998, S. 47). Im Rückgriff auf die Arbeiten von F. Schütze stellt er im Anschluss das Konzept der ethnographischen Haltung dar (a.a.O., S. 47ff.), beschreibt einige ethnographische Methoden (a.a.O., S. 49ff.) und das Konzept der Triangulation (a.a.O., S. 52ff.), um dann – auf den ersten Blick überraschend – auf pädagogische Beratung zu sprechen zu kommen (a.a.O., S. 53ff.). Letztendlich steht diese als Beispiel für die praktische Nützlichkeit eines mehrperspektivisch angelegten ethnographischen Vorgehens. Ausgehend von den allgemeinen Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen und dem damit verbundenen Diffuswerden von Normalitätsentwürfen gewinnen Beschreibungen und Rekonstruktionen „kleiner Lebenswelten“ an Bedeutung: „In dem Maße, in dem die Annahme intrakultureller Homogenität problematisch wird, in dem sich die lebensweltlichen Verwerfungen und Inkonsistenzen verschärfen, in dem Maße sind ethnographische Zugänge als Beschreibungen kleiner Lebenswelten gefordert“ (a.a.O. S. 53). Bei W. Marotzki bleibt zumindest teilweise offen, wer diese Beschreibungen kleiner Lebenswelten zu erstellen hat. Eine Instanz scheint der pädagogische Berater zu sein: Ganz im Sinne F. Schützes (1994) formuliert W. Marotzki: „Die ethnographische Haltung des pädagogischen Beraters erfordert eine kontextbezogene Fallrekonstruktion unter Einbezug der zugrundeliegenden Prozeßdynamik. ... Beratung ist der klassische Fall, in dem es also darum geht, sich wechselseitige Perspektiven aufzuzeigen und ggf. eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln, die gleichsam die von Berater und Klienten gemeinsam erzeugte Lesart des Falles darstellt. Wenn der pädagogische Beratungsdiskurs unter einer forschungslogischen Perspektive betrachtet wird, kann gesagt werden, daß es sich um die soziale Herstellung eines multiperspektivischen Textes handelt“ (Marotzki 1998, S. 55). Nun ist es kaum vorstellbar, dass pädagogische Praktiker die Vielzahl der allerorten entstandenen Milieus, Szenen und kleinen Lebenswelten alle selbst ethnographisch erkunden. Sie werden also gut daran tun, einschlägige ethnographische Forschungsliteratur zu lesen, so dass auch in ganz anderen Kontexten entstandene Beschreibungen kleiner Lebenswelten für die pädagogische Praxis relevant werden können. Man muss ausdrücklich betonen, dass W. Marotzki selbst keine Definition pädagogischer Ethnographie liefert und dass deshalb auch sein Verweis auf die pädagogische Beratung auch nicht als ein Versuch einer Konkretisierung einer Definition gelesen werden darf. Unausgesprochen nährt er aber eine Argumentationsfigur, derzufolge pädagogische Forschung sich durch ihre Relevanz in der pädagogischen Praxis genauer: durch ihre Relevanz für die pädagogische Profession auszeichnet. Weil jedoch im Alltag pädagogischer Professionalität auf sehr heterogene disziplinäre Wissensbestände zurückgegriffen wird, ohne dass jemand auf die Idee käme, die jeweils zugrundeliegenden Forschungs- und Theoriestränge als pädagogisch zu bezeichnen, erweist sich auch diese Denkfigur als nicht haltbar. Darüber hinaus wäre auch an dieser Stelle an die Ergebnisse der Verwendungsforschung zu erinnern, dass die praktische Relevanz von
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Forschung nicht durch die Forscher definiert wird, sondern durch den – aus der Sicht der Forschung nicht selten eigenwilligen – Umgang der Praktikerinnen und Praktiker mit den Ergebnissen der Forschung (vgl. Lüders 1993; Beck/Bonß 1989). Pädagogische Ethnographie wären dann im engen Sinne des Wortes jene ethnographischen Forschungsberichte, die aus auch welchem Grund und in welchem Zusammenhang auch immer von pädagogisch handelnden Praktikerinnen und Praktikern verwendet werden. Für die disziplinäre Zuordnung von Forschungsfeldern ist dies allerdings kein sehr überzeugendes Kriterium. Dies wirft erneut die Frage auf, was denn pädagogische Ethnographie sein könnte.
3. Ethnographie pädagogischer Praxis Die Formulierung „pädagogische Ethnographie“ suggeriert, als ob es so etwas wie eine spezifische, am besonderen Blick der Pädagogik orientierte Ethnographie gibt. Dies setzt nicht nur voraus, dass man über einen identifizierbaren Begriff von Pädagogik verfügt, sondern zugleich auch noch angeben kann, inwiefern sich aus diesem methodologische Spezifikationen ergeben. Denn wenn mit dem Begriff „pädagogische Ethnographie“ mehr gemeint sein soll als die Ethnographie pädagogischer Praxis, dann wäre unter methodologischen Gesichtspunkten zu fordern, dass damit auch eine spezifische, den Besonderheiten des Gegenstandes Pädagogik bzw. Erziehung angemessene Methodologie vorliegt. Es bedürfte einer heuristischen grundlagentheoretischen Vergewisserung, was aus der Sicht interpretativer Sozialforschung bzw. eines ethnographischen Zuganges als Erziehung bzw. pädagogischer Prozess zu verstehen sei – vergleichbar etwa den Bemühungen F. Schützes um das Konzept der Verlaufskurve (vgl. zusammenfassend: Schütze 1995) – und einer darauf abgestimmten Methodologie. Will man jedoch nicht den zuvor angedeuteten, der Sache nach unhaltbaren Versprechungen einer spezifischen pädagogischen (Praxis-)Relevanz aufsitzen, wäre zunächst zu betonen, dass es sich – genaugenommen – nicht um eine „pädagogische“ Ethnographie, sondern bestenfalls um eine „erziehungswissenschaftliche“ Ethnographie handeln kann. Der Bezugspunkt wäre Wissenschaft und nicht das Berufs- und Praxisfeld. Allerdings auch in dieser Hinsicht ist man – soweit zu sehen – noch immer weit davon entfernt, die beiden Bedingungen einzulösen, und es darf bezweifelt werden, ob dies jemals gelingt. Nicht nur, dass die Verständigungen innerhalb der Disziplin, was denn nun Erziehungswissenschaft im Kern ausmache, wie nicht anders zu erwarten primär die theoretische Komplexität erhöhen und eher die Vielfalt der Konzepte und Ansätze steigern (vgl. zuletzt erneut Hoffmann/Neumann 1998) und dass deshalb der Versuch einer theoretischen Begründung „erziehungswissenschaftlicher Ethnographie“ immer schon auf tönernen Füßen steht; zugleich muss konstatiert werden, dass alle Versuche, so etwas wie eine genuin erziehungswissenschaftliche Methodologie zu begründen, mittelfristig gescheitert sind. Zweifelsohne gibt es so etwas wie Affinitäten. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass z.B. die Betonung der Subjektperspektive gerade in pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Kreisen sich großer Beliebtheit erfreut, während strukturalistische Konzepte, sieht man einmal von einigen wenigen anspruchsvollen bildungstheoretischen Überlegungen ab, eher auf wenig Gegenliebe stoßen. Unter günstigen Bedingungen führen derartige Affinitäten dazu, dass innerhalb der Erziehungswissenschaft Themen, methodologische Fragestellungen und Forschungsgegenstände früher als anderenorts aufgegriffen und umgesetzt werden. Ein Beispiel hierfür war das DFG-Schwerpunktprogramm „Pädagogische Jugendforschung“, in
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dem sehr früh die Subjektperspektive und die unterschiedlichen Ansätze von Subjekttheorien mit qualitativer Jugendforschung verbunden wurden (vgl. Lüders 1984, S. 213ff.; Breyvogel 1989). Nur der Gang der Geschichte und die gegenwärtige Praxis der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung belegen, dass diese Perspektive keineswegs einen exklusiv erziehungswissenschaftlichen Zugang darstellt (vgl. Lüders 1998 b) oder gar in der Lage wäre, eine spezifische, disziplinär orientierte Methodologie zu begründen. Diese, aus der Perspektive der Disziplin formulierte Skepsis gegen eine „erziehungswissenschaftliche Ethnographie“ im engen Sinne des Wortes findet Widerhall in dem Selbstverständnis ethnographischer Forschung. Aus diesem Blickwinkel wäre es geradezu ein Widerspruch, wenn der Gegenstand und das Procedere ethnographischen Forschens vorweg disziplinär bzw. theoretisch festgelegt würden. Begreift man Ethnographien im Anschluss an K. Amann und St. Hirschauer als „mimetische Formen empirischer Sozialforschung“ (1997, S. 20), deren „Selektivität und Methodizität ... nicht durch externe Vorschriften und Hypothesen über das Was, Wann, Wo und Wie eines standardisierten Beobachtungsverfahrens reguliert, sondern vom erfahrbaren Gegenstand erwartet (werden)“ (ebd.), verbieten sich disziplinäre Festlegungen vorweg. Zwar bedarf es auf die „scheinbar triviale und „unmethodische“ Ausgangsfrage „What the hell is going on here“ (Geertz)“ (ebd.) eines wie auch immer gearteten Vorverständnisses, was Erziehung, pädagogischer Prozess oder Bildung bzw. was eine pädagogische Institution sein soll, um etwas derartiges im Feld überhaupt wahrnehmen zu können; doch dafür reicht ein allgemeines heuristisches Vorverständnis aus, und die meisten Ethnographen würden sich am Anfang damit begnügen, zu wissen, dass in ihrem Feld aus der Sicht der im Feld beteiligten Akteure pädagogische Prozesse stattfinden bzw. dass es sich um pädagogische Felder oder Räume handelt – was immer im Detail darunter verstanden werden mag. M.a.W.: die Rede von der erziehungswissenschaftlichen und erst recht pädagogischen Ethnographie macht im engen Sinne des Wortes wenig Sinn. Die Formulierung verspricht ein bislang nicht einlösbares Programm, nährt – wieder einmal – die Mär von der Praxisrelevanz erziehungswissenschaftlicher Forschung und erzeugt immanente, nicht auflösbare Widersprüche mit dem Selbstverständnis ethnographischen Forschens. Was also bleibt, ist die Ethnographie von Erziehung, pädagogischer Praxis und Bildung. Und wer es mit der deutschen Grammatik nicht so genau nimmt, mag diese als pädagogische Ethnographie bezeichnen – auch wenn der Begriff m.E. irreführend ist. Ihre Besonderheit entfalten diese Ethnographien nicht im Vergleich zu anderen Ethnographien, sondern im Hinblick auf die gängige Theoriebildung und Forschung in der Erziehungswissenschaft. Denn kennzeichnend für ethnographisches Vorgehen ist das Fremdwerden der eigenen Begrifflichkeiten, des zuvor noch Vertrauten. Ethnographen sind – eine Formulierung von John Lofland aufgreifend, die er in bezug auf die methodologische Perspektive Erving Goffmans formulierte –, wie „foreign traveller in his own land“ (Lofland 1980, S. 27). Und was immer man unter Erziehung, Pädagogik oder Bildung verstehen mag, im Kontext von Ethnographien werden diese und ähnliche Begriffe und ihre theoretischen, normativen und emphatischen Horizonte gleichsam eingeklammert, um zu beobachten, mit Hilfe welcher feldspezifischen Praktiken und Diskurse die Teilnehmer sich gegenseitig über Erziehung verständigen bzw. pädagogische Prozesse anzeigen, mit dem Effekt, dass die vertrauten Begriffe diffus werden, umgedeutet werden, ihrer Kategorialität entkleidet werden. „Das weitgehend Vertraute wird dann betrachtet als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch „befremdet“: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 12). Ethnographen interessieren sich also für die Perspektiven der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ihre Interaktio-
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nen, Praktiken und Diskurse, um aus dem teilnehmenden Blickwinkel heraus die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene wie Erziehung, pädagogischer Prozess oder Bildung zu rekonstruieren. Ein derartiges Verständnis erinnert zunächst an die Analysen der Ethnomethodologen von pädagogischen Interakten (vgl. z.B. Mehan 1979). Anders als der Ethnomethodologe glaubt der Ethnograph jedoch nicht daran, dass die Welt als eine Maschinerie formaler Regeln zu verstehen ist, die auf der Basis kleinster Interaktionssequenzen rekonstruiert werden könnte. Stärker kultur- und situationstheoretisch orientiert, geht er davon aus, dass die situative Praxis und das lokale Wissen nur durch länger dauernde Teilnahme, „durch anhaltende Kopräsenz von Beobachter und Geschehen“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 21) einer Analyse zugänglich gemacht werden können. Was dies im pädagogischen Kontext praktisch bedeutet, wird exemplarisch sichtbar an der jüngst erschienenen Ethnographie deutscher Internatsschulen von Herbert Kalthoff (1997). Da werden dann so vertraute Begriffe wie Erzieher und Zögling insofern verfremdet, als gefragt wird, „welche Art der Beziehung die Teilnehmer unter zeitlicher und dienstlicher Perspektive organisieren“ (Kalthoff 1997, S. 153). Auf diese Weise wird dann – um nur ein Beispiel zu nennen – sichtbar, dass es unterschiedliche Grade der Ansässigkeit gibt. „Die Teilnehmer wissen immer schon, daß die einen (die Zöglinge) wieder gehen werden und die anderen (die Erzieher) zurückbleiben“ (ebd., S. 158). Darüber hinaus sind Erzieher in der Regel „Alleinerzieher“. „Der Schule vergleichbar, ordnet die Internatsorganisation einen Teilnehmer (den Erzieher) einem Kollektiv (den Schülern) zu. Ihre Tätigkeit besteht neben einer ganzen Reihe von verwaltungstechnischen Arbeiten im Management der Gruppe: Die Betreuung der Hausaufgaben und der Mahlzeiten, die Organisation von Unternehmungen und Feiern, das Führen von Gruppen- und Einzelgesprächen. Dabei agieren sie immer auf zwei Ebenen: auf der Ebene der einzelnen Schüler und auf der Ebene des Kollektivs“ (ebd.). Dieser kurze Ausschnitt macht deutlich, wie durch die ethnographische Beschreibung das vertraute Verständnis von einem Erzieher schrittweise in einem anderen Licht erscheint. Die alltägliche Selbstverständlichkeit pädagogischer Prozesse wird aufgelöst in die sie konstituierenden Interakte und Bedeutungszuschreibungen. Angesichts dieses Selbstverständnisses könnte man nun auf die Idee kommen, dass angesichts der geforderten mimetischen Grundhaltung ethnographischen Forschens sich über kurz oder lang doch so etwas wie eine „pädagogische Ethnographie“ herauskristallisiert, weil die methodologische Anpassung an die spezifischen Gegenstände Erziehung und Bildung zu einer Ausbildung eines besonderen ethnographischen Vorgehens führt. Dem wäre zu entgegnen, dass erstens die bislang, zweifelsohne nicht sehr zahlreichen Ethnographien in pädagogischen Räumen derartige Besonderheiten nicht erkennen lassen. Zum zweiten wäre zu betonen, dass es geradezu ein Charakteristikum des ethnographischen Blickes ist, die behaupteten Besonderheiten der Gegenstände Erziehung und Bildung auf die praktischen situativen Vollzüge zurückzuführen bzw. diese in ihnen zu kontextualisieren.
4. Ethnographie pädagogischer Praxis und Biographie Wer in diesem Sinne Ethnographie pädagogischer Praxis betreibt, wird unvermeidlich und selbstverständlich immer wieder auch mit Biographien bzw. biographischen Materialien in Berührung kommen. Da pädagogische Praxis und die Biographien der daran Beteiligten in
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vielfältiger Weise miteinander verwoben sind, werden diese auch, je nach Fragestellung und Forschungsinteresse, Moment ethnographischer Beschreibungen sein. Im Vergleich jedoch zum üblichen Fokus biographischer Forschung, wie er auch in diesem Handbuch dokumentiert ist, sind dabei Biographien weniger als solche von Interesse, sondern als Aspekte und Elemente eines interaktiv erzeugten pädagogischen Raumes. Dies ist in zweifacher Weise folgenreich: Zunächst wird das Verhältnis von Erziehung und Biographie zur Debatte gestellt, genauer: zum Gegenstand ethnographischer Beschreibung gemacht. Beobachtet wird, wie und in welchen pädagogischen Kontexten Biographie als ein Bezugspunkt auftaucht. Zugleich, und dies ist der zweite Aspekt, wird auf diese Weise beobachtet, wie Biographie und Erziehung als gesellschaftliche Tatsachen interaktiv konstituiert und in ein Verhältnis gesetzt werden. Ein Satz wie „ein Junge in Deinem Alter sollte aber nicht mehr...“ und das entsprechende Handeln kann dann z.B. nicht nur als ein Beleg gelesen werden, wie von Erwachsenenseite versucht wird, bestimmte Erwartungen mit dem Alter in Verbindung zu bringen, sondern wie zugleich auch sowohl Erziehung bzw. die Rolle des bzw. der Erziehenden interaktiv reproduziert als auch Biographie im Sinne der Vergewisserung alterstypischer Anforderungen konstituiert wird. Aufgabe ethnographischer Forschung wäre es in diesem Sinne, das lokale Wissen, ein Begriff von Clifford Geertz (1983), über Erziehung und Biographie und u.U. ihre Zusammenhänge, also jenes selbstverständliche, von den Beteiligten oft so schwer explizierbare und hochgradig kontextbezogene Wissen über Erziehung und Biographie in seinem situativen Kontext zu beschreiben und rekonstruieren. Weniger die individuelle Biographie und die darin eingelagerten Relevanzen als vielmehr die situativen „Konstruktionen“ von Biographie und Erziehung erregen die Neugier des Ethnographen bzw. der Ethnographin. Es geht, um eine Formulierung von Erving Goffman aufzunehmen, um die Analyse der jeweiligen „interaction order“, in der deutschen Übersetzung von Margarethe Kusenbach und Hubert Knoblauch angemessen als Interaktionsordnung (Goffman 1994) bezeichnet, und der darin eingebetteten interaktiven „Produktion“ von Erziehungsprozessen und biographischer (Selbst-)Verständigung.
Anmerkungen 1 2
3
Das Thema dieses Beitrages geht auf einen Vorschlag der Herausgeber dieses Handbuches zurück. Für die Ermutigung, trotz offensichtlicher Querlage, sich dem Thema zu stellen, habe ich H.-H. Krüger zu danken. In dem Text werden sechs Begründungszusammenhänge aufgeführt, von denen sich aber nur fünf explizit auf Ethnographie beziehen. Inwiefern die Aufforderung angesichts der Bedingungen des Aufwachsens in der Moderne zu einer Integration der „verschiedenen kinderrechtlichen Bewegungen“ in den Kanon der professionellen Ethik mit Ethnographie zusammenhängt, wird nicht erläutert (vgl. Zinnecker 1995, S. 32). Für die hierzu einschlägige Diskussion vgl. z.B. die „Social Research and Educational Studies Series“ beim Londoner Verlag Falmer Press mit Bänden u.a. von Burgess 1984; 1985 a/b; Schratz 1993; ebenso das Handbuch von LeCompte/Millroy/Preissle 1992; die beim englischen Verlag Taylor & Francis und 2006 im 19. Jahrgang erscheinende Zeitschrift „International Journal of Qualitative Studies in Education“; die bei Sage 2006 im fünften Jahrgang erscheinende Zeitschrift „Qualitative Social Work“.
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Ethnographie und interkulturelle pädagogische Forschung Erich Renner
Inhalt 1.
Problematisierung
2.
Zur Geschichte des Forschungsfeldes
3.
Grundprobleme einer ethnographisch fundierten erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung
4.
Überblick über den Stand der Forschung
5.
Ethnopädagogische Biographieforschung am Beispiel: das Navajo-Projekt
6.
Forschungsdesiderate und Forschungsperspektiven
Literatur
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Vorbemerkung Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass die Ethnographie in der Vergangenheit ein außerordentliches Potential an biographischem Wissen erarbeitet hat, das für interkulturelle pädagogische Forschung höchst bedeutsam sein kann. Zum anderen bieten ethnographische Arbeitsweisen ein ebenso wichtiges Erfahrungspotential für primäre interkulturelle pädagogische Forschung. „Anthropology, as a discipline and as an accumulation of experience and materials, has much to offer that is directly relevant to education... If we exploit that uniqueness, we can make a distinctive contribution to a better understanding of educational process and to the solution of some educational problems.“ (Spindler 1984, S. 10) Vor diesem Hintergrund und dem Kontext dieses Handbuches sieht der Verfasser seinen Versuch als dreifache inhaltliche Aufgabe. Zunächst geht es um die Rekonstruktion manifester und latenter Zusammenhänge zwischen spezifischen Wissensbeständen von Ethnographie und pädagogischer Biographieforschung. Zum zweiten soll auf Möglichkeiten hingewiesen werden, wie diese Wissensbestände für pädagogische Biographieforschung genutzt und einen innovativen Beitrag leisten können. Drittens geht es um Vorschläge für die Konzeptualisierung eigenständiger ethnopädagogischer Biographieforschung. Unter spezifischen ethnographischen Wissensbeständen ist vor allem der Fundus an selbstbiographischem Materialien zu verstehen. Über ethnographische Arbeitsweisen in der Pädagogik (und anderen Sozialwissenschaften) ist unter dem Stichwort Ethnomethodologie vielfach gearbeitet worden, z.B. Parmentier 1983; Zinnecker 1996. Hier wird nur insoweit darauf eingegangen, wie bestimmte Verfahrensweisen bei der professionellen Erarbeitung von Texten relevant sind. Generell sollen selbstbiographische Materialien mit lebensgeschichtlicher Kontur zukünftig als Ethnobiographien firmieren, sofern ihre Autoren nicht der westlich-europäischen Kultur angehören.
1. Problematisierung Die zeitgenössische Ethnographie/Ethnologie (Anthropologie) befindet sich weltweit in einem Diskurs über ihre Methoden und Präsentationsformen. Hatte man über Jahrzehnte geglaubt, mit der teilnehmenden Beobachtung, „Malinowskis Paradigma“ (Stagl), die gültige Forschungsmethodik zur Verfügung zu haben, so hat die Veröffentlichung der Tagebücher des Begründers selbst über seine Feldforschung bei den Trobriandern (1967) dieses Paradigma ins Wanken gebracht. Inzwischen ist die Rolle des Ethnographen im Verhältnis zu seinem Untersuchungsgegenstand zu einem zentralen Thema der Diskussion geworden (Clifford 1986; Geertz 1988; 1990; Koepping 1984; Kohl 1986; Okely/Callaway 1992; Wolff 1992). So hat Geertz am Beispiel klassischer Werke der Ethnologie gezeigt, wie sie in erster Linie die Haltung ihrer Autoren transportieren – in griffiger Formulierung „den süffisanten Formalismus eines Lévi-Strauss, den selbstsicheren Impressionismus eines Evans-Pritchard, den draufgängerischen Realismus eines Malinowski und den unerschütterlichen Konfiguralimus einer Benedict“ (Geertz 1990, S. 128 und Wolff 1992, S. 341). Der Anstoß zum Nachdenken über die Rolle des Ethnographen geht auf Michel Leiris zurück, der in seinem Tagebuch über die Expedition mit Marcel Griaule von Dakar nach Djibouti zwischen 1931-1933 Position bezieht: „Nur wenn man den persönlichen Anteil offenlegt, vermag man das Ausmaß der Fehler richtig einzuschätzen, und man erreicht gerade dann die Objektivität, wenn man die Subjektivität bis zum höchs-
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ten steigert.“ (1934, dt.1985, S. 279) Eine aktuelle Konsequenz ist das Experimentieren mit ethnographischen Schreibweisen (Kohl 1992; 1993, S. 122ff.) und als deren Grundlage eine Variation der feldforscherischen Arbeitsweise. Etwa drei Linien lassen sich hier unterscheiden, eine „autorgesättigte“, in deren extremer Form die Subjektivität des Forschers den zu untersuchenden Gegenstand verdrängt (Barley 1989, 1990; Smith Bowen/Bohannan 1954, dt. 1984); eine dialogische Linie, in der die Wechselwirkung zwischen Informant und Forscher im Mittelpunkt steht (Crapanzano 1980, dt. 1983; Descola 1996; Lydall/Strecker 1979; Roes 1996; Tedlock 1993) sowie eine ethnographisch-lebensgeschichtliche Linie, deren Vorläufer allerdings bis in die 1920er Jahre zurückreichen. Die letztere, die ethnographisch-lebensgeschichtliche Linie steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen. „The Autobiography of a Winnebago Indian“ in mehreren Versionen (Radin 1913; 1920; 1926) ist einer der ersten Texte, in denen ein Informant seinen Werdegang zwischen Kindheit und aktuellem Erwachsensein umfassend selbst darstellt. Deshalb gehört er nach Kluckhohns Meinung (1945, S. 91) zu den vier damals publizierten Autobiographien, die umfangreich genug sind, damit sie einen angemessenen Eindruck über eine Persönlichkeit in einer Kultur vermitteln können. Diese Forderung sieht er außerdem erfüllt in folgenden ethnographisch initiierten Autobiographien: in Walter Dyks Navajo-Text „Son of Old Man Hat“ (1938), in Clellan Fords Kwakiutl-Text „Smoke from their Fires“ (1941), in Leo Simmons‘ Pueblo-Text „Sun Chief“ (1942). Mit seinem Postulat über Umfang und innere Substanz (great intrinsic interest) von selbstbiographischen Texten hat Kluckhohn Maßstäbe für die ethnologische Biographieforschung der Kultur- und Persönlichkeitsschule gesetzt. Prinzipiell kann man darin auch frühe Ansatzpunkte für eine interkulturelle pädagogische Biographieforschung sehen. In dem Maße, in dem ethnographische Forschung auf komplexe Lebensgeschichten ausgerichtet ist, lässt sie sich auf pädagogische Konstellationen ein und auf deren latenten Charakter als Lern- und Bildungsgeschichten. Nach Henningsen (1981, S. 11) gehört der Bildungsaspekt zum Wesen der Autobiographie, er nimmt darin eine Vorzugsstellung ein. Folgt man dieser Argumentation, dann konstituiert sich damit eine enge Verbindung von Ethnographie und Pädagogik, eben eine Basis interkultureller oder auch ethnopädagogischer Forschung.
2. Zur Geschichte des Forschungsfeldes Wie oben angedeutet, geht der eigentliche Anstoß für die Entwicklung der pädagogischen Biographieforschung auf Jürgen Henningsen (1962; 1981) zurück, der Autobiographien als idealen Gegenstand der Erziehungswissenschaft ansieht. Durch die Arbeiten von Baacke/ Schulze (1979; 1993) wird dann ein breites pädagogisches Forschungsinteresse ausgelöst. Verbindungen zur interkulturellen pädagogischen Forschung sind nur spärlich vorhanden (Liegle 1987), zur Ethnographie fehlen sie. Eine Geschichte des Forschungsfeldes muss deshalb auf Entwicklungen eingehen, die außerhalb der Pädagogik liegen. Biographieforschung hat sich heute als ein interdisziplinär akzeptiertes Instrumentarium etabliert, das zuerst, folgt man der Darstellung von Gottschalk/Kluckhohn/Angell (1945), in Anthropologie (Ethnologie) und Soziologie Verwendung gefunden hat. Historisch muss man aber deutlich unterscheiden zwischen der Publizierung persönlicher Dokumente aus privater Initiative (non-professionell, populär) und ihrer Verwendung bei wissenschaftlichen Fragestellungen sowie der Entwicklung des biographischen Ansatzes als Forschungsintrument (professionell) in verschiedenen Disziplinen.
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Dazu gehören auch die Versuche professioneller Ethnographen, typische Biographien selbst zu konzipieren. Parsons (1922, ²1967, ³1983) hat regionale Spezialisten für Nordamerika veranlasst, aufgrund ihrer spezifischen Fachkompetenz idealtypische Personen verschiedener indianischer Kulturen biographisch zu entwerfen. An dieser Publikation sind viele renommierte Ethnographen beteiligt (F. Boas, A.A. Goldenweiser, A.L. Kroeber, R. Lowie, P. Radin, E. Sapir, J.R. Swanton, C. Wissler u.a.), aber für alle stehen die Personen als Kulturträger im Vordergrund, nicht als Individuen. Es geht darum, das Wissen der Ethnographen über bestimmte Kulturen zu präsentieren. Die Texte selbst können als personifizierte Ethnographien verstanden werden. Individuelle Zugriffe der idelaltypisch entworfenen Persönlichkeiten auf ihre eigene Kultur bleiben notwendigerweise ausgeklammert. Eine Sammlung von Porträts hat Casagrande (1960; 21964) publiziert, nachdem er zwanzig bekannte Feldforscher gebeten hatte, über ihre Informanten und Übersetzer zu schreiben. Auf diese Weise entstanden Biographien von fünf Persönlichkeiten aus Ozeanien (Australien, Neuguinea, Samoa, Tikopia, Truk), vier aus Südostasien (Alor, zweimal Indien, Philippinen), fünf aus Afrika (Nigeria, Rhodesien, Ruanda, Sambia, Sudan), fünf aus Nordamerika (Crow, Navajo, Ojibwa, Pueblo, Seminole), eine aus Südamerika (Tapirape). Zehn der Verfasser arbeiten mit autobiographischen Einschüben, in denen über Geburt, Kindheit, Familie, Schule, Riten, Religion, Konflikte und anderes original berichtet wird. Die Verwendung professionell erarbeiteten biographischen Materials als Beleg und Illustration bei der Darstellung von Forschungsergebnissen ist zu Anfang unseres Jahrhunderts durchaus nicht mehr ungewöhnlich, wie Kluckhohn (1945, S. 86/87) mit Hinweisen auf amerikanische und deutsche Beispiele belegt: Grinnell 1889; 1892; 1926; Hodge 1907, Kroeber 1906 bzw. Koppers 1924; 1928; Schmidt 1906; Vierkandt 1908. Aber erst mit der Entwicklung und Etablierung der Kultur- und Persönlichkeitsschule als interdisziplinärer Forschungsrichtung zwischen Ethnologie, Psychologie, Soziologie, häufig einfach unter Anthropologie firmierend, hat sich der biographische Ansatz als professionelles Instrument herausgebildet (Kluckhohn 1945; Langness 1965; Langness/Frank 1981; Paul 1979; 1996). Mit dem Datenarchiv Human Relations Area Files (HRAF) hat George Peter Murdock seit 1937 (5th Revised Edition 1987) eine ethnographische Quellensammlung aufgebaut, die jedermann zugänglich ist. Dazu gehört auch eine Fülle an lebensgeschichtlichem Material. Parallel dazu haben deutsche Ethnologen seit den 1930er Jahren das biographische Konzept zur Gewinnung von ethnographischem Material eingesetzt (vgl. U. Himmelheber 1957; U.u.H. Himmelheber 1958; 1970; Kohl-Larsen 1956; Kohl-Larsen/Renner 1994; Steinbauer 1975; H. Thurnwald 1937; Westermann 1938). Hilde Thurnwalds (1937) Lebensbeschreibungen, Charaktere und Schicksale lautet der Untertitel, von 16 SalomonenInsulanern basieren auf Befragungen und teilnehmender Beobachtung. Sie ist interessiert an „Verhalten und Schicksal einzelner“, möchte Verständnis für das „Handeln und Denken“ einzelner Kulturträger gewinnen und damit das „Funktionieren einer so fremdartigen Kultur“ verstehen (vgl. S. 16). Insgesamt beklagt sie die Vernachlässigung des Studiums „von Persönlichkeiten und Einzelschicksalen unter Naturvölkern“ (S. 18). Die Forschungen des Ehepaares Ulrike und Hans Himmelheber (1958) bei den Dan in Liberia sind ein Paradebeispiel für die Verwendung von Erzähltexten, darunter viele selbstbiographische Materialien, bei der Erarbeitung einer mehrperspektivischen ethnographischen Monographie. Hans Himmelheber betont im Vorwort, dass „sich die Bedeutung des Brauchtums besser offenbare, wenn es eingebettet in ein Schicksal geschildert werde“ (S. 8). Die Verfasser dieser Beispiele selbst bekunden zwar ihr Interesse an Individuen fremder Kultur, aber es geht ihnen nicht um Lebensgeschichten als Individualtexte, sondern um die personenbezogene ethnogra-
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phische Relevanz der darin erzählten Details. Umfassende selbstbiographische Texte haben Diedrich Westermann mit einer Sammlung von elf afrikanischen Autobiographien (1938) und Ludwig Kohl-Larsen mit den Lebensgeschichten seiner Märchenerzähler aus Tansania (1956) und Lappland (Kohl-Larsen/Renner 1994) aufgenommen und publiziert. Beide Ethnographen, obwohl sie nur spärliche Kontexte zu diesen Lebensgeschichten liefern, sind sich der Eigenwertigkeit der Selbstdarstellungen bewusst. Westermann nennt seine Informanten „Individuen, die Schicksal und Umwelt auf ihre Weise erfahren und verarbeiten „(1938, S. 4). Kohl-Larsen geht noch ein Stück weiter, denn er möchte aus Simbo Janiras „Munde (dessen) Werdegang vom Kind zum reifen Manne mit allen Irr- und Seitenwegen, von denen keines Menschen Leben frei ist, ermitteln“ (1956, S. 11). Diese Formulierung enthält ein basales Verständnis für die Bildungsdimension von Lebensgeschichten, eine eigentlich pädagogische Erwartungshaltung, an der er aber analytisch nicht interessiert sein konnte. Mit „Anthropology and Education“ entstand in den 1950er Jahren eine integrative Disziplin, an deren Konstituierung auch Protagonisten der Kultur- und Persönlichkeitsschule wie Margaret Mead, die Whitings und Cora DuBois beteiligt waren (Spindler 1984), ohne dass der biographische Zugang dabei eine besondere Rolle gespielt hätte. Die seit Anfang der 70er Jahre in Europa begründete Ethnopädagogik (Erny 1972; Müller/Treml 1992) versteht den biographischen Ansatz ebenfalls nicht als spezielle Forschungsmethode. Ganz neu dagegen ist eine Initiative aus der Ethnologie, bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde im Oktober 1997 in Frankfurt/Main eine Arbeitsgemeinschaft Ethnopädagogik zu gründen (Unger-Heitsch). Bei dieser Variante von Ethnopädagogik dürften biographische Methoden eher zum Zuge kommen. Eine neuere Arbeit „Anthropology & Autobiography“ (Okely/Callaway ²1995) aus der Perspektive der englischen Social Anthropology thematisiert die Präsentationsform ethnographischer Forschungen. Die Beiträge dieses Bandes, die aus einer Tagung an der University of York 1989 hervorgegangen sind, konzentrieren sich auf drei Schwerpunkte: der Ethnograph in seiner Rolle als Feldforscher, die Informanten als Mitglieder einer speziellen Kultur, der Ethnograph als Autor seiner wissenschaftlichen Erfahrungen. Okely, eine der Herausgeberinnen, präzisiert die zentrale Problemlage so: „The extent to which autobiography can be written into the ethnography is a matter for creative experimentation.“ (²1995, S. 24) Es geht also hier nicht in erster Linie um die Eigenwertigkeit narrativer ethnobiographischer Texte, sondern um die Weiterführung der Diskussion über Wechselwirkungen zwischen Ethnographen und Informanten und um ihre wissenschaftlichen Konsequenzen. Eine ethnopsychoanalytische Schule mit speziellem Interesse am Biographischen hat sich, von Frankreich ausgehend (Devereux 1951;1967), dann seit Parin und Morgenthaler in der Schweiz etabliert (vgl. Parin/Morgenthalter/Parin-Matthèy 1963; Erdheim 1982; Weiss 1981; Meiser 1995). Zinser (1984) hat die Entwicklung dieser Schule rekonstruiert und verdeutlicht, wie Parins Konzept ganz bewusst mit der Spannung zwischen den als universell angesehenen individuellen Triebkräften und den kulturspezifischen Gegenkräften rechnet. Parin u.a. suchen sich deshalb für ihre Untersuchungen Völker aus, deren Ursprungskultur intakt ist, in denen aber genügend Individuen leben, die eine Sprache der Forscher beherrschen, um unbewusste Zensuren von Übersetzern zu vermeiden. Außerdem sollten die Probanden keine auffälligen Persönlichkeiten sein. Zinser sieht darin zweierlei Unterschiede zu klassischen Psychoanalysen, einerseits ginge es bei den Untersuchungen nicht um Heilungprozesse und andererseits würden die Analytiker die Probanden honorieren und nicht umgekehrt (vgl. 1984, S. 107). Die Ergebnisse der Forschungen bei den Dogon und Agni in Westafrika konzentrieren sich auf die Herausarbeitung eines Gruppen-Ichs, das „eine größe-
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re psychische Ausgeglichenheit gewährleiste“ (Zinser 1984, S. 108) als beim durchschnittlichen Europäer. Der ethno-hermeneutische Ansatz von Bosse (1980; 1981; 1994) greift u.a. diese Vorgaben auf und setzt auf den Zusammenhang zwischen biographischer Erzählung und kollektiven Erfahrungen bei Individuen aus kolonialen und nachkolonialen Gesellschaften. In diesem Kontext verbindet er das klassische psychoanalytische Vorgehen mit der Soziogenese des Individuums. Im Kontext der Migrationsproblematik finden sich in Deutschland verschiedene Publikationen auf biographischer Grundlage (Geiersbach 1983; Kuhlmann/Meyer 1983), aber auch biographische Forschungsansätze mit ethnologischem Hintergrund seit Anfang der 1980er Jahre aus der Kölner Schule von Ulla Johansen (Busch 1983; Lanfranchi 1993; 1994; Renner 1983; Unger-Heitsch 1995; Wolbert 1984) Die Arbeit von Ude-Pestel (1981) ist ein Beispiel aus der psychotherapeutischen Schule. Pädagogische Arbeiten auf biographischer Grundlage finden sich bei Alheit (1995) und Auernheimer (1994). Biographische Ansätze europäischer Migrantenforschung gibt es seit den 1970er Jahren in Frankreich (Catani u. Sayad in Heinritz/Rammstedt 1989); in den skandinavischen Ländern (Erikson u.a. 1982); in den Niederlanden (Bois-Reymond/van Elteren 1989). Weitere Hinweise dazu finden sich in den Länderübersichten der Zeitschrift Bios. Der ethnopädagogische Ansatz auf biographischer Grundlage seit Mitte der 1980er Jahre konzentriert sich auf komplexe Selbstbiographien populärer oder professioneller Provenienz, um sie als Lern- und Bildungsgeschichten, insbesondere in ihrer Wechselwirkung zwischen erlebten und mitgeteilten primären und sekundären Erfahrung zu analysieren. Der ethnopädagogische Ansatz favorisiert den Deutungsmusteransatz als analytisches Instrument (Renner 1986; 1995; 1996; 1997b). Bezieht man diese neuere, hier skizzierte Entwicklung auf die von Schulze (1993, S. 24-34) vorgenommene Systematisierung der Ansätze in der pädagogischen Biographieforschung, so ergeben sich Schnittstellen zu mindestens drei der dort versammelten Konzeptionen, und zwar zur soziologisch-sozialisationstheoretischen, zur phänomenologisch-anthropologischen sowie zur bildungs- und lerntheoretischen Perspektive.
3. Grundprobleme einer ethnographisch fundierten erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung Lebensgeschichten von Menschen aus manchmal schockierend fremden Kulturen werden offenbar nicht ohne weiteres als Lern- und Bildungsgeschichten erkannt. Studenten reagierten entsprechend, als ihnen die von Baumann/Patzelt (1978) überlieferte Lebensgeschichte des Jivaro-Kopfjägers Moquimbio präsentiert wurde. Lebensthema und Lebensmitte der Jivaro-Kultur ist die Abwendung negativer Einflüsse. Man „zieht ‚natürliche Ursachen‘ für Leid oder Unglück kaum in Betracht und macht fast alles von unfreiwilligen oder gewollten Handlungen anderer abhängig“ (Descola 1996, S. 246). Jivaro zu werden, bedeutet deshalb, in komplexen impliziten Lernprozessen ein Selbstverständnis heranzubilden, das eine sinnvolle Existenz in diesem kulturellen Kontext ermöglicht. Moquimbios Lebensgeschichte umfasst in konziser Form das gesamte Spektrum des ethnopädagogischen Erkenntnisinteresses: eine unkonventionelle spezifische Sinnorientierung, also die Bildungsvorgabe; kontextuelle Lernprozesse wie Teilnahme und Initiation; Konstellationen zwischen Kindsein/Adoleszenz und Erwachsensein, also auch die spezifischen generationellen Bezie-
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hungen; Beziehungsgeschichten und ihre vorbildhafte Relevanz. Insgesamt deutet dieses Beispiel eine pädagogische Mehrdimensionalität von Ethnobiographien an, d.h. eine potentielle Vielfalt möglicher pädagogischer Lesarten.
3.1. Ethnobiographien als Bildungsgeschichten Moquimbios Bildungsweg ist kein Einzelfall, wie andere ethnobiographische Texte belegen (Barton 1979; Rosaldo 1976, S. 121-151). Im Vergleich zur europäischen Autobiographie begegnen uns darin nicht einfach „lebensgeschichtliche Alternativen“ (Herrmann), sondern Modelle des kulturellen Geworfenseins des Menschen. Sie können in besonderer Weise als Bildungsschicksale verstanden werden. Ethnobiographische Bildungsgeschichten spiegeln vor diesem Hintergrund die Variabilität der Bildsamkeit, die kulturelle Vielfalt von Bildungskonzepten und die Variationsbreite individueller Zugriffe auf kulturell begründete und vermittelte Bildungsprogramme. So haben Ignoranz und Diskriminierung die Minorität der australischen Aborigines bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Teilnahme an gesellschaftlichen Bildungsprozessen ausgeschlossen. Ein erster Anfang, den Ureinwohnern zu sprachlicher Selbstvergewisserung zu verhelfen, ihre Bildungsschicksale überhaupt wahrzunehmen, stammt aus den 1950er Jahren (Beckett 1958, 91-108). Systematik und Auftrieb brachten die Veröffentlichungen des Australian Institute of Aboriginal Studies Canberra (z.B. Matthews 1977; Shaw 1981; Sullivan 1983) In den folgenden Jahren erschienen verschiedene Sammlungen mit autobiographischen Texten. (Brewster 1996; Dalziell 1999; Haebich/Mellor 2002) Parallel dazu wurden literarisch gestaltete Autobiographien veröffentlicht (Lockwood 1962; Langford 1988; Morgan 1987, 1989; Simpfendörfer 2001) Sally Morgans Lebensgeschichte und die ihrer Verwandten avancierten zu Bestsellern mit Übersetzung in viele Sprachen. Ethnobiographische Bildungsgeschichten, literarisch präsentiert, scheinen besonders attraktiv zu sein, wie ihre große Wirkungsbreite zeigt. Bei einem Vergleich eingeborener Autobiographien aus Nordamerika und Australien diskutiert Rowse (2004) die sehr späte biographische Akzeptanz der Aboriginals, findet dagegen eine Dominanz von Texten schwarzer Frauen.
3.2. Ethnobiographien als Lerngeschichten Schulze (1993, S. 195-219) hat menschliches Lernen aus lebensgeschichtlicher Perspektive am Gegenbild des curricularen Lernens gemessen und insgesamt sieben Varianten herausgearbeitet: selbstorganisiertes Lernen bzw. Lernen aus Erfahrung; diskontinuierliches Lernen bzw. Lernen bei Gelegenheit; ökologisches Lernen bzw. Lernen in Lebenswelten; irritiertes Lernen bzw. Lernen in Widersprüchen; symbolisierendes Lernen bzw. Lernen in Szenen und Sprüchen; affektives Lernen bzw. Lernen von Gefühlen; reflektierendes Lernen bzw. Lernen in Umschreibungen. Für ethnobiographische Texte ist diese Differenzierung hilfreich, doch lässt sie sich durchaus erweitern, auch umstrukturieren, u.U. auch in Gegensatzpaaren entwickeln. Moqimbio lernt in teilnehmender Beobachtung, wie angenommene Bedrohungen von anderen benachbarten Jivaro gravierende Reaktionen seines Vaters nach sich ziehen, nämlich die Tötung der Nachbarn, und wie dies, mit dem Tod des Vaters verknüpft, Erwartungen nach sich zieht, denen er sich stellen muss. Deshalb muss er sich auf spezifische Lernprozesse einlassen. Aber diese Lernprozesse sind eingebettet in seine Lebenswelt, die er mitlebt und die für ihn einen hohen Selbstverständlichkeitswert hat. Implizites Lernen, wie
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es in Lebensgeschichten präsent wird, ist charakterisiert durch Teilnahme, durch Zugehörigkeit, durch Interaktion mit vorbildhaft erlebten Bezugspersonen in konkreten Lebenskontexten. Explizites Lernen dagegen wäre institutionalisiert, lebensfern und stellvertretend, kognitiv orientiert, personell spezialisiert und distanziert. Die Autobiographie von Black Elk, Sioux-Oglala (Lakota) – Seher, Heiler, Philosoph, ist die Geschichte des Erleidens und Annehmens einer psychischen Disposition, die zunächst als Krankheit erscheint. Während seines „großen Gesichtes“ im Alter von neun Jahren liegt Black Elk zwölf Tage wie tot im Zelt seiner Eltern. Die Macht der dabei erfahrenen Vision begleitet ihn sein Leben lang, und sie verknüpft Erfahrungen in der frühen Kindheit und „Gesichte“ der späteren Jahre. Ganz anders die Lerngeschichte des Medizinmannes John Fire Lame Deer aus dem gleichen kulturellen Kontext. Die Lernprozesse, auf denen seine Profession beruht, sind nicht dispositionell begründet, sondern gehen auf eine bewusste Visionssuche (crying for a vision) zurück. Aber auch hier werden Erfahrungen dieser Vision mit Hilfe heiliger Männer als Auftrag gedeutet, Medizinmann zu werden (vgl. Lame Deer/Erdoes 1972; dt. 1979). Obwohl beide Versionen von Lernprozessen durch kulturelle Spezialisten interpretiert werden müssen, unterscheiden sie sich wesentlich in der Art ihrer Initiierung: dispositionell die eine Variante, milieubedingt und vorbildorientiert die andere. „Never-ending old time lectures“ nennt der Navajo Buck Austin die permanente Gegenwart oraler Traditionen in den Familien. Als Geschichten in den Geschichten oder familiär-kulturelle Lebensthemen ergeben sie ein funktionales Lernpotential (vgl. Renner 1986, S. 199-201). Initiationen, häufig verbunden mit bewusst schmerzhaften Lernprozessen, illustrieren die Erfahrung „what one learns in pain lives on in the head“, wie sie von dem Afrikaner Prince Modupe formuliert wird. Offen bleibt dabei, wie eine derartige Deutung eigener Erfahrungen den Lebensstil beeinflusst. Modupe binden diese Erfahrungen jedenfalls nicht an seine Ursprungskultur, seine Reise nach USA gleicht einer Flucht vor den Traditionen. Eine Quellensammlung mit vielen Initiationsgeschichten findet sich bei Renner/Seidenfaden (1997 [a]). In ethnobiographischen Texten aus den ostasiatischen Ländern China, Japan, Korea, Tibet begegnet man einer spezifischen Lernkultur, die viele Übereinstimmungen zeigt. Elschenbroich spricht im Zusammenhang mit japanischen Erfahrungen von der „Würde des Lernens“. Eine Auswahl ethnobiographischer Texte aus diesem Kulturraum findet sich ebenfalls bei Renner/Seidenfaden (1997 [a]).
3.3. Ethnobiographien als Geschichten von Kindsein, Adoleszenz, Erwachsensein Der Begründer der „Anthropology & Education – Bewegung“ George E. Spindler erinnert in einem Rückblick (1984) an die Ausgangsdiskussion bei der sog. Carmel-Konferenz 1952, an der viele prominente Kollegen der Kultur-Persönlichkeitsschule beteiligt gewesen sind. Als besonders dramatisch erinnert er die Auseinandersetzung um den Schwerpunkt Erziehung und Lebenszyklus und die Frage nach der Bedeutung frühkindlicher Entwicklungfaktoren. C.W.M. Hart formulierte bei dieser Kontroverse so etwas wie eine Nullhypothese der Kindheitswirkungen, indem er die größere Bedeutung den adoleszenten Erfahrungen zuwies, wie er sie in seinen Untersuchungen bei den Tiwi der Melville-Inseln gefunden hat. In diesem Zusammenhang verwies er auf die große Vielfalt frühkindlicher Erfahrungen in den verschiedenen Kulturen, weshalb diese keine verlässliche Variable sein könnten (Spindler 1984, S. 7/8). Eine ähn-
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liche Position vertritt auch der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim: „Die bisherige Anwendung der Psychoanalyse in den Sozialwissenschaften hat die Bedeutung der Adoleszenz für die Entwicklung der Kultur verkannt und die der frühen Kindheit falsch eingeschätzt.“ (1982, S. 279) Seine These dazu lautet, dass die Einstellung des Individuums zu seiner Kultur vor allem durch Schicksale und Rituale der Adoleszenz und nicht vor allem durch die der frühen Kindheit bestimmt werden. Die Untersuchungen des Amerikaners Paul Riesman bei den Fulbe und ihren ehemaligen Sklaven, den Riimaaybe, in Burkina Faso befassen sich mit den gleichen Phänomenen und kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Bei der Beurteilung der Entwicklung eines kulturellen Selbstverständnisses seien nicht frühkindliche Erfahrungen ausschlaggebend, sondern die Art und Weise, wie sich Individuen innerhalb ihres sozialen Kontextes wahrnehmen: Persönlichkeit „ist eher Ausdruck des Gefühls davon, wer man selbst in einem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang ist“ (Riesman 1993, S. 173). Riesman (1993, S. 173, 177) plädiert deshalb für die Erforschung der Selbstwahrnehmungen und Selbstinterpretationen von Individuen, also auch für den biographischen Ansatz. Ethnobiographien bieten aber vor allem auch reichhaltiges und komplexes Material für Kindheitsforschung und Generationenforschung (Renner/Seidenfaden, Band I:1997[a]; Band II 1998).
3.4. Ethnobiographien als Modernisierungstexte und das Problem der kulturellen Identität Die Modernisierungsforschung hat, soweit länderübergreifende Ansätze in Betracht gezogen werden, eine aus soziologischer Sicht arbeitende empirisch-quantitative Ausrichtung mit universalistischem Anspruch (Lerner 1958; Inkeles/Smith 1984). Während Lerner Empathie als die Schlüsseleigenschaft ansieht, die Modernität ausmacht, arbeiten Inkeles/ Smith mit einem eigens entwickelten standardisierten Interviewkonzept, dem OM-Score (overall measure of modernity), von dem aus die Entwicklung zur modernen Persönlichkeit erklärt werden soll. In diesem Zusammenhang wird allgemein erwartet, dass das Ausmaß schulischer Erziehung wesentlich für die Entwicklung zur modernen Persönlichkeit verantwortlich ist, und zwar relativ unabhängig von der frühen Orientierung. Man operiert mit der Vorstellung eines unilinear-unabänderlichen Fortschreitens von traditioneller zu moderner Persönlichkeit. Für Bosse ist diese Art von Modernisierung eine unzulässige Vereinfachung, weil damit individuelle selbstbestimmte Bildungsprozesse ignoriert werden. Sein ethnohermeneutischer Ansatz zielt auf die Erforschung „subjektiver Lebensentwürfe“ im Kontext moderner Institutionen. Für Bosse (1984) handelt es sich bei der Modernisierung im Kern um Bildungsprozesse, also um pädagogische Grundverhältnisse, bei denen nicht nur Kindheitserfahrungen, sondern auch Erfahrungen der Adoleszenz und des Erwachsenenalters in Rechnung zu stellen sind. Ethnopädagogische Ansätze auf biographischer Grundlage verstehen Modernisierung explizit als pädagogische Kernfrage nach der Bedeutung des Kindseins für das Erwachsensein. Aus dieser Sicht wird Modernisierung als die Entstehung kultureller Selbstbilder oder kultureller Selbstverständnisse verstanden und vor komplexem Hintergrund diskutiert (Renner 1986; 1996; 1997[b]). Auernheimer (1994, S. 39ff.) problematisiert das Modernisierungsthema als Zusammenhang von Struktur und Kultur am Beispiel zweier Untersuchungen mit lebensgeschichtlichem Material von türkischen Migranten. Er plädiert für die Berücksichtigung der kulturellen Praxis, um die Selbstinterpretationen der Migranten angemessen verstehen zu können.
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3.5. Ethnobiographien als Beziehungsgeschichten oder die selbstbiographische Relevanz von Vorbildern/Bindungsfiguren Im Zusammenhang seiner interkulturellen Studie über Erziehungssysteme der USA und der UdSSR diskutiert Uri Bronfenbrenner (dt. 1972; ²1976) in Anlehnung an Bandura umfangreich den Stand der Forschung zur Vorbildproblematik. Er konstatiert, dass Vorbilder in Gruppenprozessen von großer Bedeutung sind. Gleichzeitig verweist Bronfenbrenner auf ein Defizit an Forschung: „Leider haben sich bis jetzt nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen speziell mit der relativen Wirksamkeit von Eltern, Gleichaltrigen, Verwandten, älteren Kindern, Lehrern, fremden Erwachsenen usw. als Vorbilder für das Kind befasst.“ (Bronfenbrenner 1976, S. 127) Es sieht so aus, als habe sich die Forschungssituation seit damals nicht wesentlich verändert. Möglicherweise liegt das an dem Missverständnis, es gehe bei der Wirksamkeit von Vorbildern um einfache Imitation, wie es einige Bandura-Experimente nahelegen, bei denen quantitative Aspekte im behavioristischen Sinne im Mittelpunkt stehen, denn andere Merkmale vorbildhafter Wirkungen wie Intensität, Nähe, emotionale Kontexte, szenisch-rituelle Kontexte, selbstverfügender Zugriff bleiben dort außer Betracht. Das Potential ethnobiographischer Texte ermöglicht Vorbildforschung, die diese Mängel ausgleichen kann.
4. Überblick über den Stand der Forschung Im Sinne der Aufgabenstellung können an dieser Stelle weniger Entwicklungen und Ergebnisse ethnopädagogischer Biographieforschung, sondern ausgewählte Beispiele aus dem Spektrum der durch die Ethnographie erarbeiteten autobiographischen Wissensbestände vorgestellt werden.
4.1. Innenansichten von Kulturen – Lern- und Bildungsgeschichten sui generis Professionelle Texte: Clyde Kluckhohn (1945) hatte mit Blick auf den Zusammenhang von Kultur und Persönlichkeit einen angemessenen Umfang und die innere Substanz von Ethnobiographien betont. Vermutlich kann der Großteil der professionell initiierten Autobiographien diesen Anforderungen genügen. Zugang ermöglichen verschiedene Bibliographien und Archive ( vgl. dazu Brumble 1990, S. 211-257; Friedrich 1989; Human Relations Area Files, 5th 1983, Kategorie 159; Langness 1965, S. 59-82; Langness/Frank 1981; Paul, Bd. II, 1979; 1996; Renner, 1986, S. 246-251, Spülbeck 1990). Ursprünglich als kulturelle Innenansichten konzipiert und mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten ausgestattet, liegt ihr pädagogisches Potential als Lern- und Bildungsgeschichten weitgehend brach, sie harren einer interkulturell angelegten pädagogischen Sichtung und Analyse. Populäre Texte: Daneben gibt es einen ebenfalls breiten Fundus an autobiographischen Publikationen, die die Autoren aus eigenem Antrieb in Erwartung eines öffentlichen Interesses an fremdkulturellen Innenansichten vorgelegt haben. Insbesondere aus dem ostasiatischen und dem nordamerikanisch-indianischen Kulturraum gibt es gerade in neuerer Zeit viele Beispiele (vgl. dazu Renner/Seidenfaden 1997[a]; 1998). Bibliographische Hinweise sind teilweise auch in den unter „professionell“ genannten Quellen enthalten.
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Insgesamt gilt noch immer, was Langness bereits 1965 (S. 52) formuliert hat: „The lack of analyses of available biographical materials is probably also related to the continued disinterest shown by anthropologists in library research.“ (S. 52) Und sie wiederholt diese Einschätzung in ihrer neueren Arbeit (Langness/Frank 1981, S. 13). Wie oben schon angedeutet, die Pädagogen machen da keine Ausnahme.
4.2. Professionelle Texte in unterschiedlicher primärer Bearbeitung Darunter sind ethnobiographische Arbeiten zu verstehen, bei denen sich die Initiatoren nicht mit den präsentierten Innenansichten begnügen, sondern mit denen sie einen theoretischanalytischen Anspruch verbinden. Eines der frühen Beispiele stammt von Dorothea und Alexander Leighton. Psychobiologische Persönlichkeitsstudie eines Navajo-Indianers nennen sie die Arbeit „Gregorio the Hand-Trembler“(1949), wobei sie die zugrunde liegende Lebensgeschichte im Zusammenhang mit dem bekannten Ramah-Projekt in der Navajo-Reservation aufgenommen haben. Sie stellen dem Text eine chronologisch-analytische Darstellung der Lebensphasen voran und konzentrieren sich auf das Handzittern als Lebensthema, um zu prüfen, welche Bedeutung ihm sowohl für die innere Balance von Gregorios Persönlichkeit als auch für seine Integration in die Navajokultur zukommt: „...that the major concerns of his life are also the principal concerns of other Navahos in the (Ramah) region. In other words his preoccupations are not unusual.“ (S. 38). Im Rahmen ihrer Kultur- und Persönlichkeitsstudie auf der indonesischen Insel Alor hat Cora DuBois (1944), neben einer Reihe anderer Untersuchungen, von je vier weiblichen und männlichen Aloresen autobiographische Interviews aufgenommen. Abram Kardiner hat diesen Texten besondere Bedeutung zugemessen, weil er meint, dass die spezifischen charakterlichen Konturen einer Persönlichkeit nur in Autobiographien deutlich werden könnten, und insbesondere die Bedeutung der frühen Prägung für die kindliche Entwicklung (nach Paul 1979, Bd. 2, S. 297; vgl auch Becker-Pfleiderer 1975, S. 34-40). Nach Meinung von Langness/Frank (1981, S. 71) hat Morris E. Opler mit seiner Publikation „Apache Odyssey, a Journey between two worlds“ (1969) „zweifellos das beste Beispiel für die Präsentation einer Lebensgeschichte aus ethnographischer Absicht“ vorgelegt. Oplers Position (1969, S. 6), ein Individuum sei immer weniger als eine Kultur und gleichzeitig immer mehr als sie, hat seine Wurzeln in der Kultur- und Persönlichkeitsforschung, aber sie verweist doch auch darüber hinaus. Als Kommentator des Textes lässt er sich auf diese Position ein, indem er immer wieder das kulturelle Selbstverständnis seines Erzählers diskutiert, womit er sein Interesse an dessen individuellem Zugriff belegt (vgl. auch Renner 1986, S. 154-163). Mit seinem multiplen familienbiographischem Ansatz ist Oscar Lewis in die Annalen der Ethnographie eingegangen. In „Die Kinder von Sánchez“ (1961, dt.1965) erzählen fünf Mitglieder einer Familie (Vater Jesús, die Söhne Manuel und Roberto, die Töchter Consuelo und Marta) ihre Lebensgeschichte in einem Elendsviertel von Mexiko-City. Die Erzählungen der Söhne und Töchter werden in drei Phasen präsentiert, die des Vaters in zwei. Der Initiator möchte mit der mehrspektivischen Darstellung eine Art interner Evaluation erreichen, d.h. durch die Darstellung der gleichen Verhältnisse aus fünf verschiedenen Perspektiven ergibt sich ein biographisches Netzwerk, in dem die verschiedenen Lebensgeschichten facettenreich auf ihre Gültigkeit, Verlässlichkeit und Subjektivität überprüfbar sind. Lewis vermeidet eine Analyse des Erzähltextes, aber er entwirft auf der Basis der Le-
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bensgeschichten das Konzept einer „Kultur der Armut“, das er anhand ähnlicher biographischer Studien ausbaut, z.B. am Beispiel der Familie Ríos zwischen Puerto Rico und New York (1965, dt. 1971). Die mehrperspektivische biographische Arbei0tsweise hat Lewis mit anderen Autoren in weiteren Studien praktiziert. Analytisch betrachtet, haben die Arbeiten von Lewis im Sinne von Norbert Elias so etwas wie Figurationen der mexikanischen bzw. puertoricanischen Sozialisation und Erziehung erbracht. Eine andere mehrperspektivische Variante, die sich auf die Kultur der Sinti und Roma bezieht, hat Renner (1997[e]) versucht. Einer von ihm initiierten Sinto-Autobiographie ordnet er selbstbiographische Referenztexte zu, und zwar sowohl von Sinti und Roma als auch von Adoptierten, so dass sich daraus ein kulturelles, sich selbst kommentierendes biographisches Netzwerk ergibt. Helen Coderes (1973) Biographie der ruandischen Gesellschaft umfasst 48 Autobiographien von Hutu, Tutsi, Twa. Bei den ausgewählten Personen wurde hinsichtlich des Geschlechts, des Alters, der Schulbildung und der beruflichen Orientierung gestreut. Das Hauptinteresse der Initiatorin an diesem Material bezieht sich auf den soziokulturellen Wandel in Ruanda zwischen 1900 und 1960. Entsprechend ist die Analyse angelegt. Codere (1973) versteht die gesammelten Autobiographien aber auch als Quellen, „that can be approached quite differently and seperatly from many points of interest and views“ (S. 8). Im gleichen Zusammenhang gibt sie auch Hinweise auf das inhaltliche Spektrum des Materials: „Perhaps the most important information of this sort is that on women, childhood and growing up, on domestic and personal relationships, and particularly on the character and quality of human relations in a wide range of family, neighborhood, intercaste, intracaste, domestic, economic, and political contexts.“ (S. 7)
4.3. Professionelle und populäre Texte in sekundärer Bearbeitung An dieser Stelle soll an die mehrfachen Hinweise angeknüpft werden, dass es notwendig sei, ethnobiographische Bibliotheksbestände auszuwerten. Die von Leo Simmons (1942; dt. 1964) initiierte und später in „stark kondensierter Form“ publizierte Lebensgeschichte des Hopi Don C. Talayesva basiert auf etwa 8.000 Seiten handschriftlichem Tagebuch, die der Informant im Laufe von etwa drei Jahren verfasst hat. Simmons äußert sich darin auch über die Bedeutung von life-histories im Allgemeinen: „...detailed life-history may make their chief contribution to the understanding of individual conduct. They tend to establish a level of continuity in behavior that is more fundamental than either biological, environmental, societal, or cultural determinants, being in fact a synthetis of all four.“ (1942, S. 396) Knapp zehn Jahre später hat David F. Aberle eine aufwendige psychosoziale Analyse dieser Lebensgeschichte vorgelegt. Im Detail verfolgt er Fragestellungen, die für die Kultur- und Persönlichkeitsforschung charakteristisch sind. Am Beispiel Dons will er verstehen, wie Friedfertigkeit und Harmonie als bekannte Merkmale der Hopi-Gesellschaft mit repressiven Erziehungspraktiken und Zwängen des Erwachsenseins wie Ängstlichkeit, Misstrauen, Feindseligkeit verbunden sind. Analyse und Interpretation führen deshalb zum Neu-Arrangement des Materials, wobei Don nicht als typischer Hopi angesehen wird, sondern als ein Individuum, das die gleichen Erfahrungen und Probleme hat, wie die meisten Mitglieder seiner Gesellschaft, nämlich Prestigebedürfnis, Misstrauen, Aggression, Konformität, Kompensation. Obwohl diese Sekundäranalyse als beispielhaft gründlich gilt, vermisst man eine Diskussion der Ursachen charakteristischer Verhaltensweisen (vgl. Langness/Frank 1980, S. 65; Paul 1979, Bd. 2, S. 328-330).
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David G. Mandelbaums (1973) Analyse der Lebensgeschichte Mahatma Gandhis gehört in die Kategorie von Sekundäranalysen populärer Texte. Er entwickelt dafür eine spezifisches Instrumentarium, und zwar „the dimenions or aspects of a person’s life; the principal turnings and the life conditions between turnings; the person’s characteristic means of adaptation“ (S. 180). Dimensionen differenzieren sich in eine biologische, soziale, kulturelle, psychosoziale Perspektive. Wendepunkte einer Lebensgeschichte kennzeichnen deren Übergänge und Änderungen. Durch ihren Einfluss werden Elemente der kulturellen, sozialen und psychosozialen Dimensionen neu arrangiert und organisiert. Das Kriterium Anpassung versteht Mandelbaum als internen Prozess, der in Konstellationen der Dimensionen und Verläufen der Wendepunkte eingebettet ist und deshalb erst innerhalb dieser sichtbar werden kann. Die internationale Diskussion hat Mandelbaums (1973, S. 197-204) Konzept kritisiert, aber einhellig begrüßt. Insbesondere das Kriterium Wendepunkte (turnings) findet sich in der pädagogischen Biographieforschung unter dem Stichwort „kritische Ereignisse“ wieder (Schulze 1979, S. 60; Renner 1986, S. 204). Unter der Zielrichtung „Sozialisation in zwei Kulturen“ versteht Renner (1986) eine prinzipiell pädagogische Fragestellung. Er vergleicht 15 autobiographische Texte, die durch einen prägnanten Gegensatz zwischen familiär-traditioneller Entwicklung und sekundär-moderner Schulerfahrung gekennzeichnet sind, um zu verstehen, in welchem Bedeutungszusammenhang beide Phasen für das Selbstverständnis der Erwachsenen stehen. Es handelt sich bei dieser Konstellation im Kern um pädagogisch-anthropologische Grundverhältnisse mit Modellcharakter, deren Entwicklungsprozesse als Modernisierung und Akkulturation diskutiert werden. Anhand der Deutungsmusteransatzes werden sieben idealtypische Konfigurationen kultureller Selbstverständnisse erarbeitet. Einfache Wirkungszusammenhänge zwischen Erfahrungen der frühen Kindheit und dem Erwachsensein gibt es nicht. Diese Variante der Auswertung von Bibliotheksbeständen verlangt in mehrfacher Hinsicht besondere Aufmerksamkeit. Der Auswahl und Vergleichbarkeit der Texte wird hier mit der Berücksichtigung von vier Kriterien entsprochen (vgl. Renner 1986, S. 41-46). Ethnographische Kontexte werden durch „kulturelle Steckbriefe“ eingebracht (vgl. ebd., S. 231-245). In diesem Zusammenhang sind auch eine Reihe klassischer Ethnobiographien reinterpretiert worden, d.h. unter pädagogischem Blickwinkel neu diskutiert. Die bereits erwähnte zweibändige Quellensammlung „Kindsein in fremden Kulturen“ (Renner/Seidenfaden 1997, 1998) umfasst selbstbiographische Texte von 82 Personen aus 45 verschiedenen Kulturen von allen Kontinenten. Eine derartige Auswertung von Bibliotheksbeständen gibt es bisher nicht. Die Thematik der Auswahl bedeutet zwar eine Strukturierung der Originalquellen, aber die darin präsentierten Innenansichten sperren sich gegen glatte kindheitsforscherische und/oder pädagogische Systematisierungen. Baacke hat in einer vollständig revidierten Fassung seines bereits in 6. Auflage erschienenen Standardwerkes über die 6-12jährigen diese Quellensammlung detailliert eingearbeitet. Er sieht die ethnobiographische Ausdifferenzierung des Themas als Eröffnung eines notwendigen Diskursuniversums von Kindheit (1999, S. 41-53).
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5. Ethnopädagogische Biographieforschung am Beispiel: das Navajo-Projekt Phase I: Die beiden Navajo-Indianer Vergil Bedoni und Joe Atene, Halbbrüder, stehen für Lebenserfahrungen, die durch gegenläufige Bildungserwartungen gekennzeichnet sind, den Navajo Trail of Beauty (NTB) und den American Way of Life (AWF). Während NTB, durch intensive Kindheitserfahrungen vermittelt, auch heute noch intakt, eine spirituelle Haltung verlangt, scheint AWF, vor allem durch Schule vermittelt, eine rational-moderne Lebensführung zu ermöglichen. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rangiert die Frage, wie die beiden Informanten, diese Gegenläufigkeit verarbeitet haben. Für die Initiierung selbstbiographischer Prozesse wurden beide nach Deutschland in die Familie des Forschers geholt, „Heimforschung“ als konstruktives Element praktiziert. Die Ergebnisse dieser Arbeit liegen in einer Publikation mit drei Schwerpunkten vor: Annäherungen, Hauptteil mit Selbstbiographien, Versuche der Distanzierung (Renner 1996). Analyse und Interpretation zielen auf das Herausarbeiten interpretativer Grundrichtungen: Erzähl- und Sprechhaltungen, Altersrelevanz der Deutungen, dominierende Hintergründe. Die Weiterentwicklung des Analysekonzeptes an diesem Material erbrachte so genannte „mental sets“, Gedächtniskarten mit Schlüsselformulierungen. Darin zeigte sich das Deutungsmuster „believing in ceremonies“ als tragfähiges, jedoch variables Modell für zukünftige Arbeiten (Renner 1997b). Andere Verwendungszusammenhänge der Texte aus Phase I: Herausarbeiten des für die Navajokultur zentralen Harmoniebegriffs und seiner Bedeutung im Alltag früher und heute, insbesondere für die beiden Informanten (Renner 1995); Vergleich der traditionellen Navajo-Lebenswelt mit dem schwarzafrikanischen Beispiel der Fulbe unter dem Stichwort Kinderwelten (Renner 1997c); Erörterung der Akkulturationsproblematik in den USA durch den Vergleich der beiden Navajo-Texte mit anderen indianischen Autobiographien (Renner 2000, S. 133-150); Diskussion der Wahrnehmung und Verarbeitung von Westernfilmen durch indianische Kinder – ein Vergleich der Navajo-Beispiele mit anderen indianischen Selbstbiographien (Renner 1997d); Phase II: Das von der DFG bis Ende 1999 geförderte Projekt „Probleme individueller Modernisierung durch den Einfluss gegenläufiger ‚Bildungsprogramme‘ (Navajo Trail of Beauty/ American Way of Life) bei Navajo-Persönlichkeiten einer Familie (kurz: Navajo-Familienstudie) baut auf Phase I auf. „Der Kern des Forschungsansatzes liegt in dem Vorhaben, das Deutungsmuster „believing in ceremonies“ im größeren Familienverband meiner beiden Gewährsleute aus Phase I auf seine Relevanz für andere Angehörige zu überprüfen. Das heißt, die zu initiierenden Lebensgeschichten anderer Probanden sollen einem ähnlichen Analyse- und Interpretationsverfahren unterzogen werden, um die in ihnen sedimentierten kulturellen Selbstverständnisse verstehen zu können. Diese Analysen sollen außerdem systemische Zusammenhänge erschließen, verknüpft mit der Erwartung, dass zwischen den aufgenommenen Texten kontingente Vernetzungen entstehen. Bei drei Forschungsreisen 1997 und 1998 konnten 13 Personen aus diesem Familienverband gewonnen werden, so dass das Sample 15 Persönlichkeiten umfasste. Analyse und Interpretation erbrachten folgende Ergebnisse: „Believing in ceremonies“ als familiäres Deutungsmuster hat für alle Gewährsleute seine Relevanz im Bereich des
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Wahrnehmens und Denkens, d.h., Wahrnehmen und Denken der Probanden sind von Wissen und Bedeutung der traditionellen Zeremonialkultur geprägt. Aber nicht für alle sind damit auch die gleichen Handlungsoptionen verbunden. (...) Die Merkmale der Selbstbilder ergeben vor diesem Hintergrund ein variantenreiches Tableau mit fünf grundlegenden Konturen: traditionalistisch, revitalisierend, zweiflerisch, distanziert-offen, suchend.“ (Renner 2001, S. 646, 645) Über diese Konturen hinaus belegt die Familienstudie, wie die Weitergabe von Kultur, von Tradition überhaupt, in hohem Maße von der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen abhängig ist, unter denen sie vermittelt wird. Es ist unübersehbar, dass nicht die kulturspezifischen familiär-traditionellen Erfahrungen in Kindheit und Jugend an sich oder für sich allein hinreichend bedeutungsvoll sind. Sie sind es nur in ihrer Verknüpfung mit der Verwirklichung von Zuwendung, Geborgenheit und Verlässlichkeit durch die Bezugspersonen. (Renner 2001, 657) Das Selbstporträt der Bedoni-Atene-Familie, ergänzt um drei weitere Personen in Phase III, dokumentiert, dass die Navajos in dieser Hinsicht allen anderen Menschen ähnlich sind. (Renner 2004) Darüber hinaus ergibt sich ein dichtes Netz kontingenter Thematisierungen, von denen die Profile der Selbstbilder bestimmt werden. Im Mittelpunkt stehen familiäre Identifikationsfiguren. Sie wurden als Bilder des Großvaters, der Großmutter, des Vaters, des Stiefvaters herausgearbeitet. Charakteristische lebensweltliche Bedingungen bilden weitere kontingente Schwerpunkte der Selbstbiographien: traditionelle Konzepte des Wahrnehmens und Denkens; lebensweltlicher Wandel; Einflüsse von Schule und Medien (vgl. Renner 2001, S. 646-656) Phase III: Das Anschlussprojekt, bis 2002 von der DFG gefördert, befasste sich mit dem Versuch, die heutige Bedeutung und Kontinuität der traditionellen Kultur und des zeremoniellen Komplexes bei den Navajo-Indianern, repräsentiert in Person, Aktivitäten und Tätigkeitsfeld des Medizinmanns Irvin Tso, sowie im aktuellen Status und Wirkung der alternativen Rough Rock Community School zu erforschen. Die Bedingungen der Feldarbeit führten dazu, dass neben Irvin Tso weitere Selbstbiogaphien von drei Medizinpersonen aus der Tso-Nez-Familie erarbeitet werden konnten. Das Selbstporträt dieser indianischen Heilerfamilie dokumentiert beispielhaft den hohen Standard traditionellen Wissens und traditioneller Aktivitäten im Sinne von regional und reservatsweit praktizierten Zeremonien. (Renner 2005) Der evaluative Einblick in die Arbeit der Rough Rock Community School mit ihrem Profil „Navajo emphasis“ umfasste Interviews mit allen Verantwortlichen, mit dem Executiv-Direktor, der Leiterin der Navajo Studies, der Direktorin für Curriculum und Lehren sowie Fachlehrern der Schulstufen. Schließlich wurde eine Auswahl von Schülern in Middle und High School per Fragebogen interviewt. „Die Rough Rock Community School ist seit ihrer Gründung als Demonstration School im Jahr 1966 bis heute ein Modellfall für Möglichkeiten und Schwierigkeiten, schulischer Initiator und Motor kultureller Selbstbestimmung zu sein. Dabei ging es von Anfang an um die offizielle Anerkennung traditioneller Wissensbestände als einem gleichwertigen, integrierbaren Bildungskanon sowie um die curriculare Modellierung dieses Wissens. Die Interviews der Funktionsträger und Lehrenden belegen, wie sehr die curriculare Arbeit nach einer längeren Phase konzeptionellen Fehllaufs in den 1990er Jahren wieder im Mittelpunkt steht. Man hat erfahren müssen, dass die Entwicklung eines integrierten Curriculums, in dem Navajo emphasis inhaltlich Fach für Fach durchdefiniert wird, unabdingbar ist. Und die Lehrenden müssen an der Implementation eines solchen Curriculums beteiligt sein, wenn man sicher sein will, dass Navajo emphasis nicht nur auf dem Papier steht. Das alles
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braucht den Kontext eines Schullebens, in dem Navajo-Orientierung selbstverständlich ist.“ Insoweit steht das Integrationskonzept in Rough Rock immer noch und erneut auf dem Prüfstand. (Renner 2003, 143-169, 164/165) Der Druck auf die Reformschule kommt sowohl von der Stammesregierung, die das Regionalkonzept misstrauisch begleitet als auch vom Bureau of Indian Affaires, das trotz gegenteiliger Bekundungen die Notwendigkeit von Navajo emphasis immer wieder problematisiert. Angeblich behindere man dadurch das Erreichen der allgemeinen Bildungsstandards.
6. Forschungsdesiderate und Forschungsperspektiven Über „Bilanz und Zukunft der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung“ sowie über den Stand der Forschungsmethoden gibt es aktuelle Darstellungen, die in ihren Grundrichtungen auch für das vorliegende Forschungsfeld gültig sind (Krüger 1995; Marotzki 1995; Schulze 1993). Deshalb sollen nachfolgend nur einige spezielle Aspekte angesprochen werden. Für Ethnobiographien soll folgende Grundannahme gelten: Je größer die Zeitspannen sind, die in selbstbiographischenTexten gefasst werden, je komplexer sie in ihren Darlegungen sind, um so deutlicher entfalten sie ihre pädagogischen Dimensionen. Optimale Reichweiten der erinnerten Lebensgeschichten erhöhen, gewollt oder ungewollt, die Komplexität des Erzählten. In Konsequenz daraus wird der individuelle Werdegang als sich ereignende Bildung erkennbar – mit Implikationen wie Sinnorientierungen und Lernkonstellationen. Die Erzähler präsentieren damit eine subjektive Theorie ihrer eigenen Entwicklung oder auch ein Bildungsschicksal, wie es Henningsen genannt hat, dessen Relevanz sich unwillkürlich an der mitgeteilten Lebenspraxis misst. Die vielfach beklagte Ignoranz gegenüber den vorhandenen Bibliotheksbeständen ist um so erstaunlicher, als ein Großteil des weltweit vorhandenen ethnographischen Materials seit 1937 im Datenarchiv HRAF systematisch aufbereitet vorliegt und dadurch für weitere Verwendung zugänglich ist. Inzwischen umfasst das Archiv Daten von 330 verschiedenen Kulturen rund um die Welt. Seit den ethnostatistischen Untersuchungen der Whitings gibt es allerdings nur wenige Untersuchungen, die damit arbeiten. Insbesondere mangelt es an qualitativen Forschungsarbeiten mit diesem Material. Anhand erziehungswissenschaftlich orientierter Forschungsansätze könnte das dort dokumentierte selbstbiographische Material unser pädagogisches Wissen bereichern und ausdifferenzieren. Bei der Initiierung und Begleitung selbstbiographischer Prozesse aus pädagogischer Sicht müssen drei Schritte beachtet werden. Die Phase der Annäherung entscheidet über Mitteilungsbereitschaft und Offenheit der Informanten. Im Gegenüber mit fremdkulturellen Partnern muss eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen. Nur dann können Forschungsinteresse und Mitteilungsinteresse in Einklang kommen. Unabhängig von speziellen pädagogischen Problemstellungen sollte bei der Initiierung von Texten auf eine lebensgeschichtliche Dimensionierung des Erzählten hingearbeitet werden. Die Texte selbst sind dann Ergebnis des Annäherungs- und Verständigungsprozesses. Eine zweite Textebene bilden die Notizen der Forschungstagebücher, in denen Annäherungprozess und Verlauf der Begleitung protokolliert sind. Beim Herstellen von Kontexten (Phase II) wird das transkribierte Material anhand von Primärquellen und Sekundärliteratur kulturell kommentiert. Auch die Forschungsprotokolle
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sollten in die Kommentierung einbezogen werden. In der Phase der Distanzierungen (III) geht es um Analyse und Interpretation im Kontext der Aufgaben, unter denen der Forschungsprozess begonnen wurde. Der Terminus Distanzierungen verweist darauf, dass hier bewusst der Versuch eines fremden Blicks auf die Ergebnisse unternommen wird. Aber diese Betrachtungsweise braucht aus ethischen Gründen eine grundlegende Sanktionierung in der Annäherungsphase. Die vorgeschlagene Variante der Deutungsmusteranalyse hat als empirische Grundlage sogenannte mental sets. Darunter versteht man eine Art von Gedächtniskarte mit Schlüsselformulierungen als topographischen Festpunkten, also Raster selbstbiographischer Definitionen, die aus den Texten herausgefiltert worden sind. Diese mental sets stellen eine erste analytische Repräsentation, eine Rekonstruktion des Textes in deutungsmusterrelevanten Aussagen dar (Renner 1986, 1997). Auf der Basis solcher Raster lassen sich vielfältige pädagogische Fragestellungen verfolgen, wobei eine interpretative Rückbindung der Schlüsselformulierungen an die Kontexte erforderlich wird. Der phänomenologische bzw. motivorientierte Ansatz zentriert sich auf die vergleichende Dokumentation und Interpretation von Phänomenen und Motiven menschlicher Entwicklung in Ethnobiographien mit pädagogisch-anthropologischem Blick (Seidenfaden 1992; Renner/Seidenfaden 1997, 1998). Die neuerdings von Schulze konzipierte Toposanalyse (1997) könnte, angewendet auf ethnobiographisches Material, ebenfalls interessante Einblick ermöglichen. Unter Guided Autobiography versteht man einen Ansatz autobiographischer Fallarbeit, der Selbsterfahrung und Gruppenreflexion miteinander verbindet. Im Sinne einer „gelenkten biographischen Erinnerungsarbeit“ sollen Bildungsprozesse angeregt werden, in denen lebensgeschichtliche Zusammenhänge für Beteiligte als Lerngeschichten mit Bildungswirksamkeit verstehbar werden (Schratz 1996; Gudjons u.a. 1996). Ob dieses Konzept im ethnopädagogischen Kontext sinnvoll eingesetzt werden könnte, wäre in besonderer Weise mit den Zielpersonen abzustimmen. Alheit (1986, S. 286) hat sich zu dieser Möglichkeit kritisch geäußert.
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Pädagogisches Wissen in biographischen Ansätzen der Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung Methodologische Zugänge, theoretische und empirische Erträge Ernst Cloer
Inhalt 1.
Vorbemerkungen aus aktuellem Anlass und Einblicke in die Geschichte des Forschungsfeldes
2. Methodologische und theoretische Probleme 3. Die Hauptquellen einer autobiographischen Bildungsforschung – Bilanzierung der Forschungserträge 4. Versuche zu einer theoriegeleiteten autobiographischen Bildungsforschung am Beispiel von Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ Anhang Literatur
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Ernst Cloer „Das ,autobiographische Motiv‘ ist (...) ein ironischer Kontrapunkt zur ,szientistischen‘ Wissensproduktion.“ Klaus Mollenhauer 1997
1. Vorbemerkungen aus aktuellem Anlass und Einblicke in die Geschichte des Forschungsfeldes Die Fassung für die Erstauflage war unter dem Eindruck des allzu frühen Todes von Klaus Mollenhauer (18. März 1998) entstanden. Angesichts der gegenwärtigen Identitäts-Suchbewegungen einerseits und paradigmatischer Monopolansprüche andererseits in unserer Disziplin scheint es durchaus angezeigt, auch die aktualisierte Fassung dem Andenken an Klaus Mollenhauer zu widmen und einige seiner in unserem Kontext wichtigen Theoreme und Begründungslinien dem vorschnellen Vergessen zu entreißen. Das stets inspirierend Vorausweisende Mollenhauerschen pädagogischen Denkens – zumal für den mir zugefallenen Part – hat C. Wolfgang Müller bereits anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Klaus Mollenhauer am 15. Januar 1993 durch den Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der FU Berlin so herausgehoben: „Hatte Mollenhauer in seinen Anfängen der pädagogisch relevanten Tätigkeit neue Schauplätze und Lernorte erschlossen (die Straßenecke, das Kaffeehaus, den Salon), so bescherte er nun der Erziehungswissenschaft als Kulturwissenschaft [so unter Bezugnahme auf die „Vergessenen Zusammenhänge“ von 1983] neue Gewährsmänner, Gewährsfrauen und Quellen: Dichter, Maler und Schriftsteller, Autobiographien, Gemälde und Selbstbildnisse“ (Müller 1993, S. 85). Das vorangestellte Motto ist einer der letzten Veröffentlichungen Mollenhauers entnommen, die erneut den seit den „Vergessenen Zusammenhängen“ (1983) artikulierten „Schwierigkeiten mit dem ,Szientismus‘“ gewidmet ist (Mollenhauer 1997). Die Rede vom „autobiographischen Motiv“ besitzt hier wohl eine Polysemantik. Der Autor der „Grundfragen ästhetischer Bildung“ (Mollenhauer 1996a) könnte über den aus der bildenden Kunst entlehnten „Motiv“-Begriff Verweise darauf intendieren, dass „das Ganze der Pädagogik, ... einen szientistisch nicht einholbaren Sinn“ habe (so bereits Mollenhauers bei Herwig Blankertz entlehntes Motto für die „Vergessenen Zusammenhänge“), dass bezüglich der prognostischen Zuverlässigkeit der Wirkungen von erzieherischem Handeln erhebliche Zweifel angebracht seien und dass die „nicht vorhersehbare Verzweigung“ der „Entwicklung alles Lebendigen“ eben in der Autobiographie in besonderer Weise manifest werde (Mollenhauer 1997, S. 215). Der Autor verrät auch noch eine persönliche Motivlage: „Gleichzeitig aber – ... – konfrontieren mich solche Dokumente mit mir selbst, wenigstens mit meiner Fähigkeit, mich erinnern zu können, gleichviel wie groß die Distanz der Jahrhunderte sein mag. Meiner Urteilskraft wird etwas abverlangt, das in den eingespielten Verstandesbegriffen nicht unterzubringen ist; mir wird die Einsicht zugemutet, dass ich mich selbst nicht durchschaue“ (Mollenhauer 1997, S. 217). In seinem Buch „Vergessene Zusammenhänge“ hatte Mollenhauer bereits vor mehr als 20 Jahren ein Motiv hervorgehoben, das dem autobiographischen Material als einer spezifischen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisquelle/-möglichkeit einen konstruktiven Platz in der pädagogisch-theoretischen Wissensproduktion zuweist: die gesamte neuzeitliche Autobiographietradition, so argumentiert er dort, lege Zeugnis davon ab, dass jeder durch die Erwachsenengeneration verantwortete Bildungsprozess „Erweite-
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rung und Bereicherung, aber auch Verengung und Verarmung dessen, was möglich gewesen wäre“ bedeute. Diese „Geburtshelfer“- und „Zensoren“-Tätigkeit der vermittelnden gegenüber der aneignenden Generation sei ein zentrales Thema der Autobiographie. Deshalb müsse die Pädagogik an biographischer Erinnerung arbeiten, und sie müsse „für diese Arbeit eine der Sache angemessene, genaue Sprache finden“ (Mollenhauer 1983, S. 10). In seinem gerade in den letzten Jahren akzentuierten Plädoyer für ein empirisch gehaltvolles Sprechen in allgemeinpädagogischen Zusammenhängen (Mollenhauer 1996b, S. 284) wird deutlich, dass Mollenhauer die szientistische und die über das autobiographische Motiv erzeugte Wissensproduktion nicht als Dual, sondern – wie es das Motto sagt – als „Kontrapunkt“ verstanden hat. Die Tonsetzkunst versteht darunter jenen Vorgang, dass zu einer gegebenen Melodie, dem cantus firmus (in unseren Tagen wohl dem empirisch-analytischen Paradigma) eine oder mehrere selbständige Gegenstimmen erfunden werden. Der biographische Forschungsansatz wird als eine gewichtige selbständige Gegenstimme in dieser Studie zum Gegenstand gewählt. Wissenschaftsgeschichtlich hat das autobiographische Motiv in der Erziehungswissenschaft und ihren Nachbardisziplinen (bes. der Psychologie) eine lange Tradition. Für das 18. Jahrhundert müssten wir wenigstens auf Rousseau und Karl Philipp Moritz verweisen. Seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts (selbstredend mit Unterbrechung in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund seines ideologisch bedingten Antiindividualismus) haben sich Psychologie und Pädagogik insbesondere anhand der Gattung Tagebuch um die Herausarbeitung verallgemeinerbarer Merkmale des Jugendalters bemüht, eine Tradition, die sehr bald nach 1945 in der Jugendforschung wieder aufgegriffen worden ist (z.B. W. Fischer, W. Roessler, H. Bertlein) (vgl. zum Beleg dieser Entwicklung: Behnken/Schmid 1996; Fröhlich 1997, S. 166-175; Herrmann 1991c; Krüger 1995, S. 32ff., 1997, S. 44ff.; WinterhagerSchmid 1997; vgl. dazu i.d. Bd. Glaser/Schmid). Im Rückblick jedoch erweisen sich die 1960er und 1970er Jahre als keineswegs günstig für die Entwicklung einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. „Klassentheoretische Deduktionen und ökonomische Analysen, in denen das Kind und pädagogische Erfahrungen kaum noch vorhanden“ waren (Mollenhauer 1979, S. 241f.), bestimmten die Theorieszene genauso wie – komplementär dazu – Positionen, wohl eher noch Visionen einer Machbarkeitspädagogik (vgl. z.B. die gleicherweise problematischen Modellvorstellungen linearer Einwirkungsmöglichkeit der technologischen Erziehungswissenschaft wie auch der machbarkeitspädagogischen Allmachtsphantasien in Teilen der emanzipatorischen Pädagogik sowie diejenigen bildungspolitischer Visionäre des Deutschen Bildungsrates, die keineswegs dominant aus der Erziehungswissenschaft kamen). Sowohl im Ohnmachts- als auch im Allmachtsmodell kamen das Kind, die Erziehungs- und Bildungsprozesse sowie das Generationenverhältnis nurmehr reduziert in den Blick. Eine der zumindest epochal wirksam gewordenen Langzeitfolgen war die Fixierung auf deterministische Deutungsmuster (vgl. etwa das Zirkelmodell des Sozialisationsprozesses). In einer solchen disziplinären Mainstream-Orientierung blieb der bildungstheoretisch grundierte Ansatz einer pädagogischen Biographie-Theorie, den der häufig zu Unrecht vergessene Nestor pädagogischer Biographieforschung nach 1945 in Westdeutschland, Jürgen Henningsen, zwischen 1962 und 1964 in fünf Einzelstudien an verstreuten Publikationsorten vorlegte, innerdisziplinär fast ohne Rezeptionschance. Das konnte sich erst ändern, als namhafte Vertreter einer jüngeren Erziehungswissenschaftler-Generation (Blankertz, Flitner, Lassahn, Mollenhauer) zeitlich parallel (zwischen 1977 und 1979) die deterministischen Engführungen, den Verlust der „einheimischen Begriffe“, der „eigenen Problemstellungen“ durch die Selbstausliefe-
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rung an die falschen bezugswissenschaftlichen Freunde (und ihre Theorien und Konstrukte) sowie die falschen Versprechungen an Politik und Gesellschaft (über pädagogische Intervention raschen Wandel zu garantieren) als entscheidende Gründe für die Irrelevanzkrise der Pädagogik am Ausgang der 1970er Jahre diagnostizierten (differenzierter zu dieser Kritiker-Koalition: Cloer 1986, S. 222ff.). Hier am Ende der 1970er Jahre bekam die pädagogische Biographieforschung ihre wirkliche Entwicklungschance. Sie konnte über ihr spezifisches Quellenmaterial auf jene Fragen, in denen die deterministischen Deutungsmuster strukturfunktionalistischer Ansätze sprachlos geblieben waren, Antworten in begründeter Weise erwartbar machen. War sie doch von Beginn an ausdrücklich daran interessiert und über ihr spezifisches Material (Autobiographien, Tagebücher, Briefe, Bilder, Fotografien und das über narrative Interviews gehobene autobiographische Material) dazu legitimiert und prädestiniert, die Kontingenzen, Unstetigkeiten, Unterdeterminiertheiten, die Widersprüche in Bildungsgängen und Generationenfolgen, die Differenz von Präsentation und Aneignung im Erziehungsprozess u.a. zum Untersuchungsgegenstand zu machen und solcherweise die Aufmerksamkeitsrichtung stets mehr auf die Möglichkeit der Aufbrechung von (immer auch gegebenen) Determinierungen als auf deren Stabilisierungsmechanismen zu richten. Historisch war hier nun auch der Ort für die Rezeption von Henningsens bildungstheoretisch grundierter Biographie-Theorie. In seiner Verhältnisbestimmung von „Autobiographie und Erziehungswissenschaft“ (unter diesem Titel wurden die fünf Studien endlich 1981 für eine breite Rezeption zugänglich) unterschied er eine dreifache Bedeutung der Autobiographie für die Erziehungswissenschaft: ihre Bedeutung als erziehungswissenschaftliche Quelle, als „gestaltetes Bildungsschicksal“ sowie ihre bildungsintentionale und bildungswirksame Bedeutung (Henningsen 1981, S. 9-27). Einige seiner Überlegungen erwiesen sich als tragfähig, andere späterhin als revisionsbedürftig. In jedem Fall entwickelte sich sehr bald ein locker verbundenes „Denkkollektiv“, das sich in seiner ersten Generation in weit voneinander entfernten lokalen Wissenschaftskulturen (vor allem an den Universitäten Bielefeld, Göttingen, Kiel und Würzburg) formierte. Es artikulierte sich mit einem bildungstheoretischen (Henningsen), einem phänomenologisch-erziehungstheoretischen (Loch), einem pädagogisch-lerntheoretischen (Schulze, Baacke), einem allgemeinpädagogischen, auf die Begründung von Elementaria pädagogischen Denkens und Handelns bezogenen (Mollenhauer), mit einem auf neue Grundlegungen einer Sozialgeschichte der Erziehung orientierten (Herrmann, Dittrich-Jacobi, Rutschky) und einem psychoanalytischen (Bittner) Erkenntnisinteresse. Die kontinuierlichen Forschungsimpulse dieser ersten Generation, nicht zuletzt ihre erfolgreichen Bemühungen um die Institutionalisierung dieser Wissenschaftlergemeinschaft innerhalb der DGfE auf dem Tübinger Kongress 1978, hatten eine starke Ausstrahlung auf eine zweite und inzwischen dritte ForscherInnengeneration (mit zusätzlichen neuen lokalen Schwerpunktbildungen an den Universitäten in Berlin, Bremen, Frankfurt, Gießen, Halle, Hildesheim, Köln, Magdeburg, Osnabrück, Siegen und Tübingen). Dies hat im Bereich der Gegenstandsfelder, der Methoden und der genutzten biographischen Quellen entscheidende Erweiterungen und Ausdifferenzierungen mit sich gebracht. Trotz dieser nachweisbaren Konjunkturen mussten die bilanzierenden Überblicksreferate der 1990er Jahre kontinuierlich eine Reihe von Problemfeldern und Defiziten benennen. Dazu zählten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die bisherige Verengung der Anwendungsfelder (auf Historische Sozialisationsforschung sowie pädagogische Kinder- und Menschenkunde), die Tendenz zur Dominanz theoretischer Konzeptanleihen aus der Psychologie und Soziologie (z.B. Alterskohorten, Generation, kritische Lebensereignisse – so-
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mit eher eine Fokussierung auf die soziale Rahmung der individuellen lebensgeschichtlichen Erinnerungen und Erfahrungen als auf diese selbst), vor allem aber drittens die Defizite in der Konturierung eines theoretischen Rahmens einer pädagogischen BiographieTheorie sowie der Präzisierung des Spezifischen einer pädagogischen Biographie- und einer autobiographischen Bildungsforschung in Differenz zu anderen nachbarwissenschaftlichen Ansätzen (vgl. vor allem: Schulze 1991, S. 160-178, 1995, S. 27ff.; mit ähnlicher Stoßrichtung: Herrmann 1991a, 1991b, S. 238f., 1991c, S. 60f.). Die Arbeit am zuvor benannten Desiderat ist inzwischen in unterschiedlichen Ausdifferenzierungen begonnen worden. Diese koinzidieren in einer neuen Aufmerksamkeitskonzentration auf die theoretische Klärung und Rahmung von Grundfragen biographischen Lernens, biographischer Bildungsbewegungen und einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. An diesem Klärungsprozess beteiligt sich weiterhin mit ungebrochenem Engagement im Rahmen seines erziehungswissenschaftlich-lerntheoretischen Ansatzes Theodor Schulze (Schulze 2002, 2003, 2005a,b). Seine jüngsten theoretischen Anstrengungen sind auf eine Untersuchung jener Voraussetzungen gerichtet, die in der langen, verdienstvollen Arbeit an der Grundlegung des „lebensgeschichtlichen Lernens“ (in Differenz zum institutionellcurricularen Lernen; Schulze 1993) noch keineswegs zureichend geklärt waren. Dazu zählt Theodor Schulze zuvörderst zwei zentrale Problembereiche: erstens die Herausarbeitung der Nicht-Identität von Bildungsprozessen und Lernprozessen einschließlich der Präzisierung ihrer Differenzen; zweitens Untersuchungen zur Frage nach dem Was biographischer Bewusstheit und nach dem Wie ihrer Entfaltung. Dabei ist die differenzierte Rekonstruktion jenes langen Weges des biographischen Bewusstseins (von den ersten Erinnerungen mit Inselcharakter über eine Aufschichtung einer wachsenden Anzahl einzelner Erinnerungen hin zu so etwas wie einem „chronologischen Biographiegerüst“ einerseits und biographisch relevanten „Lebenslinien“ bzw. „Kraftfeldern“ andererseits) pädagogisch-biographisch von herausgehobener Bedeutung. Das Theorem der „Lebenslinien“ wird uns bezogen auf Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ in Abschnitt 4 erweiterte Auslegungshorizonte eröffnen. In seinen jüngsten Untersuchungen zu Marc Chagall hat Schulze die Frage der Entfaltung/Hervorbringung der biographischen Bewusstheit nun theoretisch und empirisch-gehaltvoll zu bearbeiten begonnen. Es liegt bei Chagall der Ausnahmefall vor, dass jemand mit 35 Jahren bereits mehr als 50 Selbstportraits und eine höchst lesenswerte Autobiographie vorgelegt hat. Theodor Schulze, der für die Analyse beider autobiographischer Materialsorten eine spezifische Kompetenz mitbringt, hat in seiner aufwändigen Rekonstruktion nicht nur die historische Dimension und das „Außen“ der Chagallschen Formen der Selbstdarstellung lebendig werden lassen, sondern über die Rekonstruktion der – wie er es nennt – „Akkumulation von Lernprozessen“ die „Selbstkonstitution durch Selbstbildnisse und autobiographische Erzählungen“ empirisch gehaltvoll verdeutlicht (Schulze 2003, S. 103, 2005a,b). Der von Jürgen Hennigsen 1962 in ersten Konturen entworfene bildungstheoretische Ansatz hat in den letzten Jahren in der Grundierung durch neue Referenztheorien entschieden fundiertere Grundlegungen erhalten. Winfried Marotzki etwa sieht unter dem Hinweis auf das Individualisierungs- und Pluralisierungstheorem sowie dasjenige des beschleunigten Wandels eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung vor allem darauf verwiesen, zugleich aber auch dazu ausgewiesen, einen Beitrag zur Analyse von „pluralen Bildungsgestalten in der (Post-)Moderne“ zu leisten; sei doch das autobiographische Material in besonderer Weise dazu tauglich, „zum einen die Erzeugung von Sinn und Bedeutung und zum zweiten die Herstellung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Selbst- und Weltkonzepten“ zu explorieren (Marotzki 1999, S. 337). Mit ganz anderem Erkenntnisinteresse
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und theoretisch besonders inspirierend arbeitet Hans-Rüdiger Müller an der fruchtbaren Zusammenführung einer ästhesiologischen Bildungstheorie (Relevanz der Leiblichkeit in menschlichen Bildungsprozessen) mit der Rekonstruktion der Leibthematik im autobiographischen Material (Müller 2003, 2004; Alheit/Brandt/Müller/Schömer 2001). Der eigene Ansatz einer pädagogisch-biographischen historischen Bildungsforschung, gemeinsam mit den DoktorandInnen Friederike Fetting, Dorle Klika, Michael SeyfarthStubenrauch in den 1980er Jahren entwickelt, antizipiert wichtige Teilaspekte einer jüngst unter pädagogisch-systematischem Aspekt differenzierter entfalteten Grundlegung der „Rolle der Negativität in Erziehung und Bildung“ (Benner 2003 a, b). Unser vor allem sozial-phänomenologisch und interaktionstheoretisch grundierter Ansatz ist systematisch auf den Erfahrungsbegriff fokussiert. Die AutobiographInnen (des 18. und 19. Jahrhunderts) waren uns nicht als Datenlieferanten, sondern primär als „,Produzenten‘ lebensgeschichtlicher Selbstreflexion, als die Schreiber der Geschichte ihrer erfahrenen Sozialisation, Erziehung und (Selbst-)Bildung, als die Deuter und Umdeuter ihrer vorgefundenen Lebenslagen“ interessant (Cloer/Klika/Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 89). Insofern sehe ich unseren Ansatz nur ungern einseitig einer historischen Sozialisationsforschung zugeordnet (vgl. Schulze 1993, S. 17). Die Rekonstruktionsbemühungen haben sich auf die theoretische Unterscheidung und zugleich die Exploration „allgemeiner Erfahrungsmodi“ (erklärbar aus den sozial-strukturell vermittelten Kollektiverfahrungen) und „besonderer Erfahrungsmodi“ (die sich nicht als Funktion sozialer Strukturen erklären lassen) und der sich daraus ergebenden „Widerspruchserfahrungen“ gerichtet. In den vergleichenden Längsschnittanalysen der Autobiographien haben sich der Zugang zu und die Qualität von solchen Widerspruchserfahrungen (vor allem auch die Begegnung mit anderen sozio-kulturellen Bedingungslagen) als entscheidende Kriterien zur Beantwortung der Frage erwiesen, unter welchen Bedingungen ein Individuum zu engen oder weiten Lebenslösungen hat finden können. Die Anschlussmöglichkeiten an Schulzes Theorem des „biographischen Kraftfeldes“ drängen sich auf. Mehr aber noch diejenigen an den Begriff der „eigentlichen Erfahrung“ bei Gadamer; diese sei immer eine negative, will sagen, „daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung [bei uns die besonderen Erfahrungsmodi und die Widerspruchserfahrungen] hat einen eigentümlich produktiven Sinn“ – man möchte umgehend hinzufügen: für die Auslösung von Lernprozessen (Gadamer 1975, S. 236f.; vgl. Cloer 1997, 2005). Rein quantitativ hat die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung eine solche Ausweitung erfahren, dass Annette Stroß und Felicitas Thiel ihr einen herausgehobenen Stellenwert unter jenen acht Themenfeldern mit einer besonderen Konjunktur in der Allgemeinen Pädagogik der 1990er Jahre zuweisen konnten (Stroß/Thiel 1998). Im Unterschied zu der eher schmal gebliebenen Zahl von BeiträgerInnen zu den theoretischen Grundlegungsbemühungen (vgl. neben den zuvor ansatzweise konturierten Forschungsrichtungen i. d. Bd. die Beiträge von Krüger, Loch, Marotzki, Schulze) ist die biographische Forschungsmethode im Rahmen einer Historiographie der Erziehung auf vor allem die nachfolgenden Gegenstands- und Anwendungsfelder hin ausgeweitet worden: – –
Historische und interkulturell-vergleichende Kindheits- und Jugendforschung (vgl. z.B. i.d.Bd. Grunert/Krüger; Baacke/Sander; Renner; sowie Klika 1997, 2001; WinterhagerSchmid 1997; Rosenbaum 2001; Andresen 2002; Häder 2004b) Zur Wissenschaftsgeschichte empirischer Erforschung von Kindern anhand von VäterTagebüchern des 18. Jahrhunderts (z.B. Schmid 2001; Deutsch 2001)
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Mit ganz neuer Gewichtung seit der Erstauflage: Die Bedeutung von Bildquellen und autobiographischen Texten für unser Wissen über Sichtweisen und Deutungsmuster von Kindheit, Erziehungs- und Generationenverhältnissen und der Erziehungsaufgabe (z.B. Cloer 2001; Gruschka 1999, 2005; Loch 2000; Schulze 1998, 2000, 2003, 2005). Historische Familienforschung (einschl. spezifischer Untersuchung zum GeschwisterSystem und den Dienstboten-Kinder-Verhältnissen) (z.B.: Herrmann 1991 b; Klika 1990; Rosenbaum 2001, Seyfarth-Stubenrauch 1985) Historische Schulforschung (vgl. i.d.Bd. Glaser/Schmid) Rekonstruktion der Konstellation der bedeutungsvollen Anderen im Sozialisations- und Bildungsprozess (z.B.: Loch 1993, 1998; Cloer 1996, 1997) Rekonstruktion von Gruppenbiographien und Generationsgestalten (z.B. Lehrer bestimmter Geburtskohorten; Mentalität von Aufsteigern im Professorenberuf des 19. Jahrhunderts; Generationengestalt und Professionalisierungstendenzen bildungsbürgerlicher Berufsgruppen in bestimmten historischen Perioden; Klassentreffen (z.B.: von Hodenberg 1996; Huerkamp 1996; Schmeiser 1996, Maschke 2004). Rekonstruktion von Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte(n) von Frauen und Mädchen (vgl. i.d.Bd. Glaser/Schmid; Kraul) einschließlich der Umbrucherfahrungen durch Heimatverlust, Emigration und in Transformationsprozessen (z.B. Bittner 1994, bes. die Beiträge S. 83-165; R. Habermas 2004; Koller 2002; Schlüter 1999; Schmid 2004) Rekonstruktion des Zusammenhangs von Lebens- und Wissenschaftsgeschichte (z.B.: Cloer/Tappe 1998; Kaufmann u.a. 1991; Priem 2000; Priem/Glaser 2002; Deutsch 2001; Giesecke 2000; Häder 2004 mit Beiträgen von Klika, Wiegmann, Hollstein/ Schütze; Klika 2000, 2002; Neuner 1996; Schmid 2001). Neu auch seit 1999: die Nutzung der biographischen Forschungsmethode im Rahmen einer mentalitätsgeschichtlich-intergenerational und komparatistisch (in den drei vormals staatssozialistischen Gesellschaften DDR, CSSR und VR Polen) angelegten erziehungswissenschaftlichen Transformationsforschung (Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004).
So wie im Bereich der Gegenstandsfelder haben sich auch die Quellen, aus denen eine pädagogisch-biographische historische und intersystematische sowie interkulturell vergleichende Sozialisations- und Bildungsforschung ihre erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse bezieht, im zurückliegenden Jahrzehnt stark ausdifferenziert. Waren es bis zum Ende der 1980er Jahre dominant die Autobiographie und das Tagebuch, so haben im Zuge der Karriere des sozialwissenschaftlichen Paradigmas in der Forschungspraxis das (narrative) Interview und andere qualitative Forschungsmethoden zur Generierung des pädagogischen Wissens eine hohe Bedeutung erhalten (vgl. den Überblick in Friebertshäuser/Prengel 1997). Im Rahmen der „ästhetischen Wende“ der Pädagogik und des iconic turn in den Kulturwissenschaften haben zumal im letzten Jahrzehnt das Bild und die Fotografie die Autobiographie und das Tagebuch aus ihrer einstigen Vormachtstellung verdrängt. Hinzugekommen ist jüngst der Brief als Quelle für pädagogisches Wissen. Diese fünf Quellen werden den Gliederungsrahmen für den Überblick über den Forschungsstand liefern (Abschnitt 3). Zuvor jedoch sollen einige methodologische und theoretische Probleme diskutiert werden (Abschnitt 2), um schließlich in Abschnitt 4 an einem Beispiel aus eigenen Forschungszusammenhängen die empirische und die theoretische/pädagogisch-systematische Ergiebigkeit der Quelle Autobiographie zu prüfen. Das Beispiel (Christa Wolfs „Kindheitsmuster“) wird einerseits unter der epochenspezifischen Frage der „Nazifizierung und Distanzfindung“ und andererseits unter der epochenübergreifenden Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen
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von Indoktrination analysiert. Darüber hinaus werden einige der zuvor bei Theodor Schulze ermittelten Theoreme auf ihre Leistungsmöglichkeiten hin geprüft.
2. Methodologische und theoretische Probleme Für die Enthaltsamkeit der pädagogischen Theorie gegenüber dem (auto-)biographischen Material als Erkenntnisquelle gibt es viele Gründe: (1.) Alle fünf zuvor unterschiedenen Quellen liefern jeweils subjektive Erinnerungen und Deutungen, akzentuieren mithin das individuell Besondere; für die Wissenschaft gibt es aber stets das herausgehobene Interesse am Allgemeinen im Besonderen. (2.) Ein auf das Gütekriterium der Objektivität hin orientiertes Wissenschaftsverständnis muss gegenüber den über die subjektorientierte Methode gewonnenen Daten eine begründete Skepsis wahren. (3.) Für eine sozialgeschichtliche Forschung, die die sozialstrukturelle Bedingungskonfiguration als konstitutives Moment des Biographisierungsprozesses betrachtet, ist das biographisch generierte Material stets unzureichend (weil die schreibenden, erzählenden, malenden Subjekte eben diese sie mitbedingende Konfiguration in den seltensten Fällen analytisch zum Thema machen) (vgl. auch Schulze 1995, S. 12). In der Tat: bei den zuvor für eine pädagogische-biographische-historische Forschung benannten Quellen (Autobiographie, Tagebuch, Brief, Bild, Fotografie und Film) steht man stets vor der Frage nach der Zuverlässigkeit unserer Erinnerungsbilder, der Problematik von Authentizität menschlicher Selbstdeutung, Selbsterforschung, Selbsterklärung, Selbstaufklärung. Folgt man dem philosophisch-makroanalytischen Deutungsansatz Odo Marquards zur Geschichte der Autobiographie zumal in der Moderne (die er als Tendenz des Ausbruchs in die „Unbelangbarkeit“ aufgrund des „ins Unermeßliche gesteigerten Rechtfertigungsdrucks“ in einer der „Rechtfertigung durch den gnädigen Gott“ verlustig gegangenen Moderne beschreibt; Marquard 1979), oder folgt man den Positionen eines radikalen Kontextualismus (de Haan 1993) oder den durch einzelne Biographietheoretiker herausgearbeiteten Verfälschungstendenzen (belegt bei Hardach-Pinke/Hardach 1981; Hoeppel 1983; Oelkers/Lehmann 1983) oder auch den selbstreflexiv skeptischen Äußerungen vieler AutobiographInnen selbst, so muss die Antwort auf die zuvor gestellten Fragen grundlegende Skepsis sein. Aber dies alles wird ja überhaupt nur dort zu einem Problem, wo wir im (auto-)biographischen Material enthaltene Daten heranziehen wollen etwa zu einer Sozialgeschichte der Kindheit, Familie, Schule, Universität oder zur Rekonstruktion von pädagogischen Paarbeziehungen/Bezügen, Generationenverhältnissen in früheren Epochen – dort also, wo wir nach dem Quellenwert der Autobiographie als „historischem Bericht“ (Uhlig 1936) fragen. Aber selbst dafür gibt es in der älteren Biographietheorietradition gewichtige stützende Argumente, die keineswegs kurzschlüssig ein naives „Wirklichkeitsanspruchansinnen“ (de Haan) bzw. einen naiv objektivistischen Wirklichkeitsanspruch erheben (belegt etwa bei Uhlig 1936, S. 105-118; Hoffmann 1960, S. 17-21, 34-51; Wuthenow 1974, S. 20f.). Im übrigen aber hat sich das erkenntnisleitende Interesse in den meisten Ansätzen einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung (vgl. die sechs bei Schulze 1995 unterschiedenen) verlagert hin auf das, was Kurt Uhlig unter Autobiographie als „Selbstdarstellung“, was Klaus Mollenhauer unter der Rekonstruktion von Deutungen/Selbstdeutungen (Mollenhauer 1993, S. 38) und was Ulrich Herrmann bereits Mitte der 1980er Jahre als Aufgabe einer historischen Sozialisationsforschung gefasst hat: nämlich zu verstehen und zu
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erklären versuchen, welche Bedeutung die Prozesse der Sozialisation, Edukation und Bildung „aus der Sicht der betroffenen Individuen und Gruppen für deren Selbstverständnis, Weltorientierung, Handlungs- und Deutungssysteme“ gehabt haben (Herrmann 1984, S. 174f.). Aber wenn wir ehrlich sind, so muss uns das Problem des Erinnerns und des Gedächtnisses in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung weiterhin interessieren, denn es muss uns ja unter einem wie auch immer relativierten Wahrheitsanspruch an dem Nachweis eines „Mehr oder Weniger an Beglaubigung von Geschichten“ und einer Prüfung von Argumenten unter „Geltungsansprüchen“ gelegen sein (Tenorth 1993, S. 96f.). Die Probleme von Erinnern, Vergessen und Gedächtnis (als individuelles, kollektives/soziales, kulturelles) haben derzeit interdisziplinär (z.B. Schmidt 1996; A. Assmann 1999, 2004; J. Assmann 1992) und innerdisziplinär im Rahmen einer historisch-systematischen Erziehungswissenschaft, einer Pädagogischen Anthropologie sowie einer mentalitätsgeschichtlich-intergenerational orientierten erziehungswissenschaftlichen Transformationsforschung hohe Konjunktur (z.B. Alheit 1994; Alheit/Bast/Haider/Drauschke 2004; Dieckmann/Sting/ Zirfas 1998; Lippitz 1993; Zymek 2002). Im jüngsten wissenschaftlichen Diskurs gibt es einen weitgehenden Konsens darin, dass Erinnerung offenbar als ein Prozess gedacht werden muss, „der wenig mit Archivausgabe, erheblich mehr aber mit gestaltendem Erzählen zu tun hat“ (Schmidt 1996, S. 37) und dass das Gedächtnis ein „Zurückholen und Neuordnen des Vergangenen, nicht dessen getreue Abbildung“ ist (Oelkers 1996, S. 182f.). Diese grundlegende Skepsis gegenüber dem Gedächtnis als einer verlässlichen Abbildung der eigenen Kinderzeit, Jugendzeit usw. scheint auf den ersten Blick hin durch die Autobiographin Christa Wolf noch verschärft zu werden: „Das Kind ist ja von dir verlassen worden. Zuerst von den anderen, gut. Dann aber auch von dem Erwachsenen, der aus ihm ausschlüpfte und es fertig brachte, ihm nach und nach alles anzutun, was Erwachsene Kindern anzutun pflegen. Er hat es hinter sich gelassen, ... hat es vergessen, verdrängt, verleugnet, ... Jetzt, obwohl es unmöglich ist, will er es kennenlernen.“ Diese grundlegende Skepsis wird jedoch umgehend von Christa Wolf in zweifacher Weise relativiert. Die erste führt uns „Erinnerungshilfen“ vor: Durchsicht der Heimatzeitung der Geburtsstadt Landsberg; Sichtung der Schulbücher der Kindheit im Archiv des „Hauses des Lehrers“; Stadtpläne, Fotos usw. (Wolf 1979, S. 16-18). Solche Erinnerungshilfen sind vermutlich in besonderer Weise geeignet, jene Eindrücke oder Ereignisse, die Anlass für unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen waren, schärfer zu konturieren und differenzierter raum-zeitlich einzubetten (Schulze 1997, S. 186). Wolfs zweite Option für ein größeres Vertrauen in die Verlässlichkeit des Gedächtnisses ist gleicherweise wichtig. Im „Kindheitsmuster“ heißt es: „Das Gedächtnis hat in diesem Kind gehockt und hat es überdauert“ (S. 14). Und im 18. Entwurf der Einleitung (bekanntlich hat Christa Wolf 20 Vorentwürfe für das erste Kapitel ihrer Autobiographie geschrieben) heißt es noch präziser: Das Ich des Kindes und das Ich der Erzählerin verfügen über einen ihnen gemeinsamen Körper, wo das „Straßengeflecht allerdings nicht nur am Grunde meines Gedächtnisses, sondern wohl verwahrt in jeder Zelle meines Körpers auf Abruf bereit liegt“ (dokumentiert bei Viollet 1990, S. 105). Unter Berufung auf die „Proustsche Leiblichkeit als die Hüterin des Vergangenen“ hat Merleau-Ponty von einem „massiven Sein“ gesprochen, das sich – wie etwa die Erinnerungen an die Strafrituale in den Autobiographien bei James Joyce oder Peter Weiss zeigen – tief in das Leibgedächtnis eingeritzt hat (Merleau-Ponty 1994, S. 308; vgl. auch Bourdieu 1987, S. 135). Es sind somit wenigsten drei Aspekte, die uns begründet die Frage stellen lassen können, ob denn das autobiographische Material tatsächlich für die sozialgeschichtliche Dimension einer biographischen Forschung ganz obsolet geworden ist: (1.) die mit Christa
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Wolf eingeholten Hinweise auf die nutzbaren „Erinnerungshilfen“, die ja aktuell auch über ad hoc generierte „narrative Landkarten“ in der qualitativen Forschung genutzt werden; (2.) der bei Wolf und Merleau-Ponty eingeholte Hinweis, dass es neben der räumlichen und zeitlichen auch eine leibliche Dimensionierung des Gedächtnisses gibt (Lippitz 1993); (3.) schließlich die durch Jan Assmann und Peter Alheit zeitlich parallel geleisteten Reformulierungen und Weiterführungen des Theorems des kollektiven Gedächtnisses bei Maurice Halbwachs: die Hinweise darauf, dass auch die „individuellen Gedächtnisse“ sozial gerahmt sind und dass sowohl unsere Erinnerungs- als auch unsere Deutungsschemata von „subkulturellen und milieuspezifischen Erfahrungen mitgeprägt sind“ (Assmann 1992, S. 47; Alheit 1994, S. 116f.). Die wenigen Hinweise zum sozialen bzw. kollektiven Gedächtnis verweisen bereits auf das für alle unsere Quellen wichtige erkenntnistheoretische Problem des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem. In der Autobiographie, im Tagebuch, im Bild, im (narrativen) Interview – überall sprechen, malen, erzählen Individuen aus ihrer besonderen Perspektive. Wenn wir diese biographischen Materialien als Quellen einer erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung nutzen wollen, ist es von größter Bedeutung zu wissen, ob sie über die „Sache selbst“ (als Beispiel den Erfahrungsmodus „Arbeit“/Kinderarbeit in der Arbeiterklasse des Wilhelminischen Reiches; Seyfarth-Stubenrauch 1985) oder ob sie nur die Vorstellungen eines bestimmten Arbeiterbiographen repräsentieren, der eben diese Autobiographie geschrieben hat. Ohne dieser Frage hier vertiefend nachgehen zu können, lässt sich vielleicht soviel festhalten: Der Maler, die Autobiographin, die Erzählerin im Interview wollten und wollen von ihren Zeitgenossen verstanden werden. Insofern enthalten die Bildsprache des Malers/Zeichners/Fotografen und die Erzählsprache des Autobiographen, Interviewten, des Briefschreibers notwendig Allgemeines – allerdings nicht in dem trivialen Verständnis einer Abbildung einer sichtbaren Wirklichkeit, sondern Allgemeines „im Hinblick auf die historisch je geltenden Regeln der sozialen (subkulturellen, milieuspezifischen; Erg. E. C.) Konstruktion von Wirklichkeit“ (Mollenhauer 1983, S. 41). Wenn das richtig ist, so können wir aus Autobiographien, Bildern, Briefen usw. erschließen, nach welchen Regeln in bestimmten Perioden Erziehungs- und Generationenverhältnisse, die institutionelle Erziehungswirklichkeit, Enkulturations- und Bildungsprozesse klassen- und milieuspezifisch konstruiert worden sind. Alle in diesem Beitrag thematisierten Quellen sind in einer langen Tradition vor allem verwendet worden zur Illustration theoretischer Probleme. In den Überlegungen zur Grundlegung einer pädagogischen-biographischen historischen Sozialisations- und Bildungsforschung gehe ich davon aus, dass sie erstens ein empirisch gehaltvolleres Reden über Prinzipien oder grundlegende Problemstellungen des pädagogischen Denkens und Handelns ermöglicht (etwa über perfectibilité, Bildsamkeit, Selbsttätigkeit, die Differenz von Präsentation und Aneignung, das pädagogische Generationenverhältnis, Erziehung als bi-subjektive Tätigkeit, Indoktrination usw.). Mit empirisch gehaltvollerem Reden ist etwas qualitativ anderes gemeint als Illustration. Auch hier überzeugt Mollenhauers These, „daß sich über Bildsamkeit rational und handlungsrelevant nur reden läßt, wenn die Geschichte ihrer Hervorbringung erzählt wird. Erst der Vorgang ihrer Hervorbringung ist ein argumentationsfähiges Faktum“ (Mollenhauer 1983, S. 102). Solche Geschichten der Hervorbringung (auch der Verhinderung von Hervorbringung; vgl. Abschnitt 4) können über das empirisch gehaltvollere Reden hinaus prinzipienwissenschaftlich oder begriffstheoretisch generierte Theoreme präzisieren (vgl. die ebenfalls in Abschnitt 4 versuchte notwendige Präzisierung des Sünkelschen Theorems von „Erziehung als bi-subjektiver Tätigkeit“).
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Schließlich können sie auch – etwa im Diskurs der Erziehungswissenschaft mit bestimmten Nachbardisziplinen – die häufig vorwissenschaftlichen Grundbilder (die etwa den Begriff der Indoktrination in der politisch-sozialen Sprache begleiten) korrigieren bzw. präzisieren helfen.
3. Die Hauptquellen einer autobiographischen Bildungsforschung – Bilanzierung der Forschungserträge Im Zusammenhang des (wieder-)entdeckten Interesses an der Subjektposition des Kindes/ Menschen hat sich das Repertoire jener Quellen erweitert, an denen man die beiden so komplex ineinander verwobenen Aspekte unserer Biographie in der deutenden Selbstauslegung sich erinnernder Individuen besonders gut ablesen kann: den „Außenaspekt“ (jene unsere „Planungsautonomie“ stets eingrenzenden institutionalisierten Ablaufmuster, Generationen-, (politische) System-, Geschlechts- und Milieuzugehörigkeiten) und den „Innenaspekt“, jene „einzigartige Erfahrungsaufschichtung“ und Erfahrungsverarbeitung (Alheit 1995, S. 293-301). Entlang den fünf Quellen (die Kulturwissenschaften nennen sie EgoDokumente), die sich alle mehr oder weniger eng der Arbeit an der biographischen Erinnerung und der sog. subjektorientierten Methode verpflichtet wissen, sollen Einblicke in den Forschungsstand gegeben werden. Da in meinem Verständnis der Forschungsgegenstand (einschl. der erkenntnisleitenden Fragen) die adäquaten Quellen und diese wiederum die entsprechenden Interpretationsmethoden mitbestimmen (und nicht umgekehrt), sollen in jedem Abschnitt Hinweise zur Spezifik der Quellengattung, zu den spezifischen Möglichkeiten der jeweiligen Quelle als pädagogische Erkenntnisquelle sowie exemplarische Hinweise auf das mit der jeweiligen Quelle generierte pädagogische Wissen gegeben werden.
3.1 Pädagogisches Wissen in Autobiographien Autobiographien sind rückblickend bilanzierende Deutungen, die in der Regel entlang den signifikanten Lebensereignissen einer Lebensgeschichte bzw. langer Lebensabschnitte Erinnerungen zu sichern und diese gleichzeitig mit einer konstruktiven Intention zu einer Lebensbilanz neu zu ordnen versuchen. Konstruktive Intention und Neuordnung sind nicht in der Bedeutung von Erfinden zu verstehen. Die Biographie wird nicht im Erzählen erfunden. Autobiographien greifen auf Erinnerungen zurück, die vom Erzähler vorgefunden werden. Hier reicht es allerdings gar nicht, sich (mit Nietzsche) auf die passive Seite des Erinnerns zu stützen: auf die ungerufene, unwillkürliche, oft auch heimsuchende und unregulierbare Erinnerung. Hier ist – mit Herder – die aktive Seite des Erinnerns gefragt: die „Tätigkeit des Anhaltens und Absonderns, des Aufmerkens, Sammelns und Verweilens“ (A. Assmann 2003, S. 413). „Das Gedächtnis [aber] muß gebildet werden“ (Gadamer 1975, S. 13). Wer sich in der Forschung der autobiographischen Quelle bedienen will, tut gut daran, den gegenwärtigen Forschungsstand über die Abgrenzung dieser Gattung von anderen verwandten Gattungen (etwa dem Tagebuch, Brief, Reisebericht, der Beichte, Bekehrungsgeschichte, den Memoiren u.a.) und insbesondere den Wandel der Schreibmotive, Mitteilungszwecke und des Quellenwertes im Horizont der sich im Laufe der Moderne wandelnden Typologie der Autobiographie aufzuarbeiten (vgl. dazu: Uhlig 1936; Hoffmann 1960; Wuthenow 1974; Hardach-Pinke/Hardach 1981; Marquard 1979; Oelkers/Lehmann 1983;
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de Bruyn 1995). Der Wert der Autobiographie als pädagogische Erkenntnisquelle ist sehr unterschiedlich, je nachdem ob das dominante Motiv die Belehrung, das Weitergeben unwiederbringlicher spezifischer Erfahrungen, die Suche nach seelischer Entlastung, die Rechtfertigung oder das ehrliche Bemühen um Selbsterforschung, Selbsterklärung und Rechenschaftslegung ist. Zur Frage der Autobiographie als erziehungswissenschaftliche Quelle, zu anderen qualitativen Methoden einer historischen Sozialisationsforschung und insbesondere zur Interpretation autobiographischer Texte liegen aus der jüngsten Zeit einschlägige Forschungsstandsberichte vor wie auch methodologisch relevante Neuansätze (Heinritz 1997; Herweg 1997; Ecarius 1997; Schulze 1997, 2003, 2005 a, b; Müller 2004). Im vorangehenden Abschnitt 2 wurde bereits die weiterhin kontrovers behandelte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Autobiographie als Quelle (auch) für eine Sozialgeschichte der Erziehung (vgl. Uhligs „Autobiographie als historischer Bericht“) diskutiert. Es wurden in diesem Zusammenhang einige neuere Argumente expliziert, die diese Quelle auch für eine Sozialgeschichte der Erziehung nicht grundsätzlich obsolet werden lassen. Weitgehend einig ist man sich in der Forschung darüber, dass die Autobiographie in besonderer Weise geeignet ist zur Rekonstruktion von Deutungen und Selbstdeutungen (insbesondere über durchlittene, durchlebte, mit gestaltete Sozialisations-, Edukations- und Bildungsprozesse einschl. ihrer personenbezogenen und institutionellen Bedingungen). In diesem Zusammenhang könnte eine biographisch orientierte historische Bildungsforschung einen wichtigen Beitrag im Diskurs mit der Nachbarwissenschaft Geschichtswissenschaft leisten. Für die in der Geschichtswissenschaft häufig nur deskriptiv vermittelten Gruppenmentalitäten und kollektiven Identitäten könnte die Erziehungswissenschaft einerseits die Mechanismen solcher Prägungsvorgänge als Folge affirmativ-pädagogischer Konzepte und Handlungen erhellen (Benner/Sladek 1998, S. 26-29) und andererseits untersuchen, wie sich in lebensgeschichtlich-autobiographischen Selbstreflexionen die aktive kritische Auseinandersetzung von Individuen mit den dominanten Deutungsmustern der vermittelnden Generation und der Mentalitätsformation einer Epoche bzw. einer Klasse/Gruppe, einem Milieu spiegelt. Darin könnte der spezifische Beitrag einer historischen Bildungsforschung zur Erklärung des sozialen Wandels liegen (Cloer/Klika/Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 71f.). Darüber hinaus aber werden in Zukunft die Erkenntnismöglichkeiten im pädagogisch-systematischen Zusammenhang eine entschieden größere Rolle spielen müssen (und auch können), wie ich zuvor in Abschnitt 2 sowie zum Schluss von Abschnitt 4 nachzuweisen versuche. Eine Systematisierung der mit Hilfe autobiographischen Materials erbrachten Forschungsleistungen kann folgende Felder unterscheiden: –
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Methodologie: Erkenntnisleitende Fragen; Gegenstandsfelder; Interpretationsmethoden; Biographie als vermittelnde Kategorie einer Allgemeinen Pädagogik (z.B. Alheit/ Brandt/Müller/Schömer 2001; Baacke/Schulze 1979/1993; Cloer/Klika/Seyfarth-Stubenrauch 1991; Heinritz 1997; Herweg 1997; Kraft 1996; Lippitz 1993; Marotzki 1996, 1999; Müller 2003, 2004; Schulze 1997, 2002, 2003, 2005 a, b) Untersuchungen zur schicht- und gruppenspezifischen Sozialisation und Bildung in Familie und Schule im Bürgertum und der Arbeiterklasse des Kaiserreiches (z.B. Becher 1995; Berg/Schröder 1995; von Hodenberg 1996; Huerkamp 1996; Klika 1990; Krome 1995; Schmeiser 1996; Seyfarth-Stubenrauch 1985) Untersuchungen zu Fragen der Nazifizierung und Distanzfindung in der Zeit des Nationalsozialismus (z.B. Cloer 1983, 1986, 1988, 1996, 1997; Herrmann/Nassen 1991; Klafki 1988, 1991; Lingelbach 1988)
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Lehrer-Lebens- und Berufsgeschichten sowie Professionalisierungsgeschichten anderer Berufsgruppen (z.B. Hansen-Schaberg 1997; v. Hodenberg 1996; Huerkamp 1996; Schmeiser 1996; Schonig 1994; neuer Überblick bei Kunze/Stelmaszyk 2004) Analyse weiblicher Lebensentwürfe und Bildungsbiographien (z.B. Benninghaus 1995; Fetting 1991; Jacobi 1995; Schlüter 1999; Schmid 2004) Untersuchungen zur Bildungsbedeutung und Konstellation der bedeutungsvollen Anderen im Sozialisations- und Bildungsprozess (z.B. Loch 1988, 1993; Cloer 1996, 1997, 2000, 2005) Untersuchungen zum Zusammenhang von Lebens- und Wissenschaftsgeschichte (z.B. Cloer/Tappe 1998; Giesecke 2000; Häder 2004 mit Beiträgen von Klika, Wiegmann, Hollstein/Schütze; Kaufmann u.a. 1991; Neuner 1996).
3.2 Pädagogisches Wissen im Tagebuch Das Jugendtagebuch (anders als die Tagebücher Victor Klemperers oder jüngst Christa Wolfs literarische Sonderform in „Ein Tag im Jahr“) hat kaum Distanz zu den täglichen Stimmungen, Erfahrungen, Erlebnissen; es ist charakterisiert durch Spontaneität des Schreibens, durch Situationsgebundenheit und wird im Unterschied zur an die Öffentlichkeit drängenden Autobiographie mit einem auf Intimität und Geheimhaltung pochenden Gestus geführt. Die „erlebnisnahe Momentaufnahme der eigenen Entwicklung“ ist einerseits Dokument für einen begonnenen Ablösungsprozess und hält gleichzeitig diesen jugendlichen Ablösungsprozess in Gang (Winterhager-Schmid 1997, S. 354). Das Jugendtagebuch präsentiert zugleich kontinuierlich so etwas wie einen fiktiven Dialog mit den Deutungsangeboten der bedeutungsvollen Anderen (Eltern, Lehrer, Freunde usw.) und ist gerade deshalb in pädagogisch-systematischem Zusammenhang von großem Interesse, weil sich an diesem Material („authentischer“ als in der Autobiographie) die Genese der Differenz von Präsentation (der Deutungsmuster der vermittelnden Generation) und Aneignung durch die Heranwachsenden besonders gut rekonstruieren lässt und weil sich die Sinnhaftigkeit des Sprechens von „Erziehung als bi-subjektiver Tätigkeit“ (Sünkel) gut prüfen lässt. Jugendtagebücher liefern in Bezug auf Statuspassagen (Schulabschlüsse, -abbrüche, Berufseinstiege u.a.) sehr häufig Zukunftsentwürfe, Entwürfe von einem „Möchte-Zustand“. Klaus Mollenhauer hat dieses in die Zukunft hinein entworfene Selbstbild einen höchst „riskante(n) Entwurf meiner selbst“ genannt und darin doch zugleich „eine kulturell notwendige Komponente seiner (des Jugendlichen; Erg. E. C.) Bildebewegung“ gesehen (Mollenhauer 1983, S. 158, 173). In diesem Zusammenhang wäre es höchst lohnenswert, solche Selbstbilder in ihrer historischepochalen, soziokulturellen und geschlechtsspezifischen Verbesonderung zu rekonstruieren. Hier läge vielleicht ein spezifischer Beitrag einer pädagogisch-biographischen historischen Bildungsforschung zur Historischen Anthropologie (etwa zur Frage danach, ob und gegebenenfalls wie sich inhaltlich Möchte-Zustände im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert gewandelt haben und ob eine Dimension von Zukunft unter bestimmten (welchen?) Bedingungen unterentwickelt bleibt. Die bislang weniger genutzte Quellengattung ist jüngst in zwei einschlägigen Studien erschlossen worden. Die eine ist bilanzierend angelegt und gibt einen hervorragenden Überblick über den Forschungsstand (mit ausdrücklicher Gewichtung der hohen Konjunktur dieser Quelle in den 1920er Jahren), in die methodische Arbeit mit dem Jugendtagebuch, zu-
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mal dem Mädchentagebuch (Winterhager-Schmid 1997). Die andere Studie ist eher prospektiv in der Form eines Berichts über erste Ergebnisse eines Forschungsvorhabens angelegt. Tagebücher von Frauen werden im „Generationenvergleich vom Kaiserreich bis zur Gegenwart“ auf ihre Schlüsselthemen hin analysiert. In ihren quellenkritischen Überlegungen zur Leistungsmöglichkeit des Tagebuches für eine historische Bildungs- und Sozialisationsforschung sind die Autorinnen zugleich theoretisch ambitioniert und ergänzen die Studie von Luise Winterhager-Schmid (Behnken/Schmid 1996; vgl. i.d.Bd. Glaser/Schmid). Einen neuen Ort hat das Tagebuch jüngst auch im Bereich historischer Wissenschaftsforschung gefunden, über sog. Vätertagebücher konnten interessante neue Sichten auf die Anfänge empirischer Kinderforschung im 18. Jahrhundert gewonnen werden (z.B. Deutsch 2001; Schmid 2000, 2001).
3.3 Pädagogisches Wissen in Briefen In das Repertoire autobiographischen Materials zum Zwecke pädagogischer Erkenntnisgewinnung wird neuerdings der Brief aufgenommen (vgl. z.B. Klika 2000, 2002; Kraul 1996; Priem 2000; Priem/Glaser 2002; vgl. die Bilanzierung von Briefeditionen aus teilweise anderen Motivlagen bei Glaser/Schmid i. d. Bd.). Der Brief, vom jeweiligen Verfasser oft genutzt als Medium der Selbstvergewisserung, trägt nicht zuletzt auch in dieser Intention dialogischen Charakter. Zugleich kann er auch eine Bedeutung erhalten als historische Quelle. Bei Nutzung des Briefes als pädagogische Erkenntnisquelle wird es wichtig sein, die gattungsspezifischen Formen (Mitteilungs-, Abschieds-, Trost-, Bekenntnisbrief oder wissenschaftlicher Brief) und Funktionen (Information, Wertung, Appell, autobiographische Funktion) bei der Analyse des Materials zu bestimmen (selten kommt eine Form oder Funktion isoliert vor) und bei der Interpretation zu berücksichtigen. Die Situationsgebundenheit des Briefes stellt diese Quelle eher in die Nähe des Tagebuches denn der Autobiographie. Bei Verwendung dieser Quelle im Rahmen einer pädagogisch-biographischen historischen Bildungsforschung dürfte der einzelne Brief kaum, hingegen eine oft über Jahrzehnte andauernde Korrespondenz eine ergiebige Überlieferungsquelle sein. Da solche Korrespondenzen insbesondere zwischen WissenschaftlerInnen (als akademische LehrerInnen) und ihren SchülerInnen eine lange Tradition haben, könnten sie sich u.a. für die Rekonstruktion des Zusammenhanges von Lebens- und Wissenschaftsgeschichte anbieten. In solchen Korrespondenzen – so ist begründet anzunehmen – kann vermutlich viel darüber erfahren werden, welche wissenschaftlichen und literarischen Referenzautoren, welches Personen- und Bezugswissenschaft-Geflecht (bei Lehrern und Schülern), ob und welche theoretischen Ablösungs- und Eigenständigwerdungsprozesse (auf der Schülerseite) in einzelnen Stufen der lebensgeschichtlichen Entwicklung als bedeutungsvoll akzentuiert werden (vgl. dazu die weitere Ausdifferenzierung möglicher erkenntnisleitender Fragen in Cloer 1998, S. 250f.). Dorle Klika hat in ihrer methodologisch und pädagogisch-systematisch ambitionierten Habilitationsschrift auf der Grundlage der Korrespondenz Herman Nohls mit seiner Schülerin Erika Hoffmann (der im Zeitraum zwischen 1925 und 1960 insgesamt 633 Briefe Hoffmanns an Nohl und 380 Briefe Nohls an Hoffmann umfasst) ein hoch komplexes Forschungsdesign entwickelt. Die Autorin kann überzeugend belegen, wie mit dieser Quelle empirisch und theoretisch gearbeitet werden kann. Ihr Erkenntnisinteresse ist weniger auf das soziologisch/sozialgeschichtlich Allgemeine als vielmehr auf das individuell und pädagogisch-systematisch Allgemeine gerichtet. Sie hat dabei in ihren theoriegeleiteten Längs-
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schnittanalysen dieses Briefwechsels drei Schichten des Allgemeinen im Besonderen erschlossen: (1.) eine biographisch-lebensgeschichtliche: die Rekonstruktion der Perioden und der sich wandelnden Qualitätsmerkmale einer Lehrer-Schülerinbeziehung „Vom Lehrer zum Freund“; (2.) eine das spezifische Theorie-Praxis-Verständnis Nohls betreffende: der SchülerInnen-Briefwechsel als das Praktisch-Werden von Nohls Theorem des Pädagogischen Bezugs; (3.) eine pädagogisch-systematische, die Nohls SchülerInnen-Korrespondenz als „Pädagogisches Handeln in Briefform“ analysiert (Klika 2000, 2002). Karin Priem hat zeitlich parallel zu Dorle Klika Teile der Briefkorrespondenz Eduard Sprangers mit ihm wichtig gewesenen Frauen und darüber hinaus die Korrespondenz Sprangers mit Wilhelm Flitner zum Analysegegenstand gewählt. Ihre erkenntnisleitenden Fragestellungen sind anders akzentuiert: In ihrer Habilitationssschrift (Priem 2000) hat sie in den Längsschnittanalysen die These begründet, dass Spranger im Zeitraum zwischen 1903 und 1924 in seiner „Korrespondenz mit Frauen“ spezifische Stufen der „Selbstreflexion“ und „Selbstkonstruktion“ erarbeitet und nicht zuletzt über diese Korrespondenz sein „Profil als Wissenschaftler“ gefunden habe. War somit der Fokus bereits in der Habilitationsschrift deutlich auf Zusammenhänge zwischen der persönlichen Lebensgeschichte und der Selbstkonstitution als Mandarin (Ringer), mithin im weiteren Sinne disziplingeschichtlich ausgerichtet, so hat diese Aufmerksamkeitsrichtung in der Korrespondenzanalyse Sprangers mit Wilhelm Flitner eine noch deutlichere Ausprägung erhalten; dabei konnten im Material interessante Zusammenhänge zwischen der Herausbildung von Kommunikationsgemeinschaften, lokalen Wissenschaftskulturen und Veränderungen von Denkstilen aufgezeigt werden (Priem/Glaser 2002). Die Pilotarbeiten von Klika, Priem und Glaser sollten zu einer weiteren Erschließung dieses Quellenmaterials ermutigen.
3.4 Pädagogisches Wissen in Bildern Bilder und Bildmaterialien sind ein immer mächtigerer Bestandteil unserer kulturellen Wirklichkeit geworden. Ihre Nutzung als pädagogische Erkenntnisquelle ist in der deutschen Pädagogik erstaunlich lange marginal geblieben, hat wiederum durch Klaus Mollenhauer entscheidende Impulse erhalten und ist nach seinem Tod gottlob durch eine Reihe älterer und jüngerer Erziehungswissenschaftler weitergeführt worden (zu denken ist hier vor allem an T. Schulze, K. Wünsche, A. Gruschka, M. Parmentier und J. Bilstein). Der marginale Status dieser Quelle, etwa im Kontext einer Historiographie der Erziehung, ist umso erstaunlicher, als einerseits das Interesse der bildenden Künstler am pädagogischen Sujet in unserem Kulturraum fast so alt ist wie die Kunst selbst und andererseits die Pädagogen sehr früh begonnen haben, die Kunst zu ihrem Helfer zu machen (vgl. Comenius’ „Orbis sensualium pictus“ oder die Radierungen Chodowieckis zum Basedowschen „Elementarwerk“). Helfer, „visuelle Wegführer“ insofern, als sie eine „präfigurierte Sinnstruktur“ illustrativ zu beglaubigen hatten und haben. Das gilt für Comenius genauso wie für aktuelle, meist fotografisch bebilderte Dokumentationen in pädagogischen Zeitschriften, die sich um eine Popularisierung wissenschaftlichen Wissens bemühen (Gruschka 1999, bes. S. 41-58). In der Tat: „Bildern ist es keineswegs fremd, Dienstleistungen zu erbringen“ (Boehm 2004, S. 35). Diese Feststellung des führenden Kunstgeschichtlers und Philosophen Gottfried Boehm transportiert zumindest zwei Bedeutungen: Die erste, eine eher vordergründige, kam in der Metapher des visuellen Wegführers bereits in den Blick. Die zweite verweist einerseits auf eine epochale Verschiebung („der Logos dominiert nicht länger die
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Bildpotenz“) und andererseits auf eine spezifische Logik der Bilder: „Jenseits der Sprache existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung. ... Der Logos ist eben nicht nur die Prädikation, die Verbalität und die Sprache. Sein Umkreis ist bedeutend weiter“ (Boehm 2004, S. 38, 43). Es ist nicht zuletzt diese spezifische Logik der Bilder, die zu der Erwartung begründeten Anlass gibt, dass die ästhetischen Produkte insgesamt (sicherlich auch theatrale und musikalische Figuren und Ego-Dokumente; zu den letzteren vgl. Dietrich/Mollenhauer 1998, Dietrich 2004) aktuelle bildungstheoretische Probleme in anderer Weise, mit anderen Akzenten, auch anderen Ergebnissen zum Vorschein bringen können als tradierte Systematisierungen oder eine szientistische Wissensproduktion. Diese spezifische Leistungsmöglichkeit spreche ich allerdings ausdrücklich auch den literarisch-autobiographischen ästhetischen Produkten zu. Die Gründe dafür, dass sich nur eine relativ kleine Gruppe von pädagogischen Wissenschaftlern mit dem künstlerischen Bild als pädagogische Erkenntnisquelle beschäftigt, dürften u.a. darin liegen, dass die szientistische Wissensproduktion dominant geworden ist und die raschere Reputation zu garantieren scheint, dass uns aber auch die Interpretation dieser Quelle vor besonders schwierige Probleme stellt. Das gilt für den wissenschaftlichen Interpreten gleicherweise wie für die RezipientInnen. Über Bilder kommunizieren wir in einer nahezu vollständig alphabetisierten Kultur keineswegs mit der gleichen Regelmäßigkeit und Souveränität wie über Texte. Bei Bildern aus früheren Epochen stellt sich unser Nichtverstehen viel früher ein als bei Texten. Denn uns fehlen weithin – nicht zuletzt aufgrund der Randständigkeit kultur- und kunstgeschichtlicher Inhalte in der Allgemeinbildung – elementare Kenntnisse über die Bedeutung der „semantischen Trägerelemente“ (etwa Körpergesten, Kopfbedeckungen, Symbolisierungen der Tugenden, Laster usw.) (Mollenhauer 1983a, S. 173). Kulturkritische Kommentare geben der Vermutung beredten Ausdruck, dass sich unsere Verstehensprobleme infolge der auf „vergessensintensive Serialität“ angelegten „Bildkaskaden“ der audiovisuellen Medien noch verstärken könnten (S. J. Schmidt, zit. nach A. Assmann 1999, S. 412). Wie dem auch sei: Für die Klassifikation und Ordnung der Bildmaterialien (Darstellungstechniken, Verwendungssinn und Unterscheidung des Sujets je nach der Entstehungszeit), für die Erarbeitung des historischen Kontextes, für die Hermeneutik der Bildinterpretation braucht der diese Quelle nutzende Erziehungswissenschaftler nicht nur eine dilettierende Einarbeitung in kunstgeschichtliche Zusammenhänge sowie in Gesichtspunkte und Operationen einer kunstgeschichtlichen Hermeneutik (vgl. die hervorragende Erschließung dieser Fragen bei Mollenhauer 1997a). Die pädagogische Bildinterpretation dürfte sich nicht zuletzt durch ein eingeschränktes thematisches Interesse, durch eine Selektion nach abgebildeten Gegenständen charakterisieren lassen: sie hat sich vor allem für solche Bildmaterialien interessiert, die sich auf die Verhältnisse zwischen den Generationen, auf (pädagogische) Beziehungskonstellationen zwischen einer vermittelnden und einer aneignenden Generation sowie auf Bilder beziehen, in denen sich der Erwachsene in seinem Verhältnis zu sich selbst und zum Kind deutend darstellt. So hat Klaus Mollenhauer in einer seiner letzten Veröffentlichungen an zwei Radierungen Rembrandts (die seine Frau Saskia und den Sohn Rambartus zum Thema haben) als das pädagogisch-anthropologisch-systematisch Allgemeine an diesem Besonderen herausgearbeitet, dass die Bildung des Menschen eben gerade auch über Entfremdung und Entzweiung zwischen den Generationen zustande kommt: in beiden Radierungen lässt der Maler Rembrandt das Kind aus der symbiotisch scheinenden Mutter-Kind-Einheit herausstreben
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(Mollenhauer 1997b). Diese Erschließung von Bildwelten für den pädagogisch-theoretischen Diskurs hatte Mollenhauer zuvor bereits durch die Untersuchung der Frage eröffnet, welche Bildungsprobleme in den Ausdrucksgestalten der bildenden Kunst in der Frührenaissance aufgeworfen wurden und welche Langzeitwirkungen die damalige Parallelität von Zentralperspektive, anthropozentrischer und erfahrungswissenschaftlicher Neuorientierung für das Bildungsverständnis der Moderne gehabt haben (Mollenhauer 1983 a). Große Fortschritte in der theoriegeleiteten Erschließung von Bildwelten für den Zusammenhang von Bild und Bildung verdanken wir den beiden materialreichen Monographien, die Andreas Gruschka im letzten Jahrfünft veröffentlicht hat. Sie zeichnen sich, in heutigen Verlagsangeboten nur noch selten realisiert, auch dadurch aus, dass das gesamte interpretierte Bildwerk in relativ guten Reproduktionen abgedruckt ist. Auf diese Weise hat Gruschka das gesamte pädagogisch relevante Bildwerk von Jan Steen, einem wichtigen Repräsentanten der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts (Gruschka 2005) und von Jean Baptiste Chardin, einem Repräsentanten der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts erschlossen (Gruschka 2000). Die autobiographische Quelle Bild (beim Foto sind die Probleme ähnlich) ist im Unterschied zu den meisten autobiographischen Texten kontextarm. Deshalb hat sich Gruschka (wie zuvor schon Mollenhauer in seiner Selbstportrait-Reihe; Mollenhauer 1983 b, S. 160-167) ausdrücklich um eine breite Kontextualisierung (Bilder und Texte zeitgenössischer Maler, Schriftsteller, Philosophen) bemüht. Theodor Schulze hat seine spezifischen Möglichkeiten zusätzlicher Kontextualisierung dem Glücksumstand zu verdanken, dass er in Marc Chagall einen Maler entdeckt hat, der mit 35 Jahren bereits mehr als 50 Selbstportraits geschaffen und eine, in der literarischen Form kongeniale Autobiographie vorgelegt hatte. So war es möglich, die gegenseitige Erhellung der beiden Materialsorten zu erproben (Schulze 2003, 2005a,b).1 Dass Theodor Schulze diese späten Interpretationen des Bildes und der Autobiographie zugleich als wegweisende theoretisch-methodologische Grundlegungsarbeit angelegt hat, war bereits in Abschnitt 1 gewürdigt worden. Die vorliegenden Arbeiten zu einer erziehungswissenschaftlichen Bildinterpretation lassen sich den folgenden vier Schwerpunkten zuordnen: –
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Methodologisches und Theoretisches (zum Quellenwert, zur Hermeneutik der Bildinterpretation usw.): z.B. Mollenhauer 1993, 1997a (dort auch erschlossen die einschlägigen Arbeiten Konrad Wünsches); Fröhlich/Stenger 2003 (mit wichtigen Arbeiten von Bilstein); Gruschka 1999, 2005; Schulze 1998, 2003; Talkenberger 1997; Winkeler 1997) Deutung von Generationenverhältnissen und pädagogischen Paarbeziehungen im Bild: z.B. Gruschka 1999, 2005; Lenzen 1993; Mollenhauer 1997b; Schulze 1993 Selbstbildnisse als eine Form „visueller Autobiographie“; Selbstentwurf und Selbstkonstitution durch Bilder und autobiographische Texte: z.B. Fröhlich 2003; Klika 2003; Parmentier 1998; Schulze 1998, 2003, 2005 Der deutende Blick der Erwachsenengeneration auf das Kind im Bild und in der Karikatur: z.B. Cloer 2001; Grunder 1997; Lenzen 1993; Miller-Kipp 1997.
3.5 Pädagogisches Wissen in der Fotografie und im Film Ähnlich wie beim Bild gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Stellenwert des Fotos und des Films im Alltag und ihrer Nutzung als erziehungswissenschaftliche Erkenntnisquelle. Dies ist umso bedenkenswerter, als heute wichtige nicht-verbale Daten/Dokumente (wie Bild
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und Fotografie) eine entscheidende Rolle im Enkulturationsprozess spielen und als wahrnehmbare Konkurrenten zu den institutionalisierten Bildungsprozessen auftreten. Für eine quellenkritische Nutzung der Fotografie ist es wiederum wichtig etwas zu wissen über die Entstehungsbedingungen und den ursprünglichen Verwendungszweck, den Ort in der historischen Fotokultur und sich vor allem darüber klar zu werden, ob heutige Sehkonventionen, Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster das auf dem Foto Abgebildete heute anders sehen lassen als zur Zeit seiner Entstehung. Bei der Frage, was eine Fotografie ist, gibt es durchaus Überschneidungen mit dem Bild: etwa bezüglich der Bedeutung der malenden/fotografierenden Person, des fotografischen bzw. Maler-Blicks (Motivwahl, Wahl des Ausschnittes u.a.). Aber es gibt auch gattungsspezifisches: einmal die produktionstechnischen Aspekte wie Art der Kamera, Brennweite, Belichtungszeit, Blendenwahl, Filmmaterial, zum anderen die jüngere Entwicklung zu einem Schnappschuss-Medium, das so zu einem wichtigen Instrument des individuellen und kollektiven Erinnerns geworden ist (Fuhs 1997). Die Fotografie ist als ästhetisches Produkt zugleich ein mehrperspektivisches Medium. Das macht sie als erziehungswissenschaftliche Erkenntnisquelle besonders interessant. Denn es gehen in die Fotografie nicht nur die Perspektiven/Akte der Selbstpräsentation des Fotografen und der Abgebildeten, sondern auch kollektive kulturelle Sichtweisen in Form von stilistischen Ausformungen und kulturellen Konventionen ein. Da inzwischen Kinder und Jugendliche selbst in großer Zahl als fotografische Akteure auftreten, wachsen nun die Möglichkeiten, neben dem großelterlichen/elterlichen oder dem pädagogisch-professionellen Blick der Kindergärtnerinnen, Lehrer, Geistlichen usw. auch die kindliche/jugendliche Sicht auf sich selbst, auf die Welt, auf die Generationenverhältnisse zum Forschungsgegenstand zu machen. Die im Laufe des 20. Jahrhunderts massenhaft gewordene Produktion fotografischen Materials eröffnet im Rahmen einer historischen und vergleichenden Bildungsforschung ergänzende neue Zugänge zu den epochal dominanten gesellschaftlich-pädagogischen sowie den Deutungsmustern von Kindheit und Generationenverhältnissen (vgl. zum Ganzen: Mietzner/Pilarczyk 1999 a, 1999 b, 2000; Mietzner 2001; Pilarczyk 2004). Dass die Fotografien im Rahmen lebensgeschichtlichen Erinnerns eine wichtige Erinnerungshilfe zur schärferen Konturierung und genaueren raum-zeitlichen Einbettung von Ereignissen erhalten kann, verdeutlicht ihre Referenz für die realgeschichtliche Dimension biographischer Forschung. Inzwischen liegen grundlegende methodologische und theoretische Beiträge zur Bedeutung der Fotografie und des Films als pädagogische Erkenntnisquelle vor (z.B. Fuhs 1997, 2003; Mietzner 1997; Mietzner/Pilarczyk 1998; Wünsche 1998; vgl. alle einschlägigen Beiträge in Ehrenspeck/Schäffer 2003, bes. die Theoriebeiträge S. 19-306). Mehrheitlich jedoch wird die Fotografie weiterhin dominant in ihrer Illustrations- und Belegfunktion genutzt – vor allem im Rahmen einer Schulreformgeschichtsschreibung in der zweiten Periode der Reformpädagogik, der Schulgeschichtsschreibung der DDR sowie der Geschichte des Lehrerberufs (z.B. Güntheroth/Lost 1997; Hansen-Schaberg 1997; Schonig 1997; Stöcker 1997). Besonders inspirierende Beiträge zur Nutzung der Fotografie mit einem pädagogischsystematischen und einem bildungstheoretischen Erkenntnisinteresse sind inzwischen aus dem Berliner DFG-Projekt „Umgang mit Indoktrination“ hervorgegangen, das von Ulrike Mietzner, Ulrike Pilarczyk, Heinz-Elmar Tenorth und Konrad Wünsche getragen worden ist. Seit Erscheinen der Erstauflage des Handbuchs Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung haben Ulrike Mietzner und Ulrike Pilarczyk die methodologische Grundlegung und die empirisch gehaltvolle Nutzung des Mediums Fotografie kontinuierlich vorangebracht. Ein besonderes Verdienst liegt in der Ausdifferenzierung und Bestimmung des
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jeweiligen fotografischen Blicks; die Autorinnen unterscheiden – zumal im Rahmen ihrer Beiträge zu einer vergleichenden pädagogischen Deutschlandforschung – einen professionell-pädagogischen, einen sog. staatlichen und den Blick der Jugend(-generation) selbst. Sie haben – wiederum im BRD-DDR-Vergleich und inspiriert durch Bourdieu – Gesten und Habituspraxen von Lehrern am fotografischen Material untersucht (Mietzner/Pilarczyk 2000). Sie haben – in ihren diachron angelegten Arbeiten – Kriterien für die Zeitlichkeit eines Fotos entwickelt, haben den Zusammenhang der Bildzeit von Fotografien und der Bildbewegung jugendlicher Fotografen untersucht und sind für das gesamte 20. Jahrhundert dem „Weg als Bildmotiv für Zeit“ in seinen spezifischen Wandlungsgründen nachgegangen. Sie haben dazu vor allem Fotografien aus dem thematischen Kontext von Generationenverhältnissen, pädagogischen Paargruppen, Freundschaftsbeziehungen, Peer-Gruppen sowie Klassenverbänden und (Staats-)Jugendgruppen herangezogen. Von Beginn an war das Analyse-Interesse fokussiert auf die implizite Darstellung der aneignenden Subjekte, der Sichtweisen pädagogischer Einwirkung, der unterschiedlichen (sowohl system- als auch geschlechtsspezifischen) Bildungsbewegungen (z.B. Mietzner/Pilarczyk 1997a,b, 1998, 1999; Pilarczyk 2003). Fazit: Wenn man die Erkenntnis- und Forschungsfortschritte einer erziehungswissenschaftlichen Bild-, Foto- und Filminterpretation der zurückliegenden sieben Jahre zu bilanzieren versucht, so lässt sich mit Selbstbewusstsein sagen, dass auch die pädagogische Wissenschaft ihre lange Tradition der ausschließlichen Text-Interpretation durch den „linguistic turn“ substantiell zu bereichern gewusst hat.
4. Versuche zu einer theoriegeleiteten autobiographischen Bildungsforschung am Beispiel von Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ In den zurückliegenden Jahren hat die historische Bildungsforschung nicht zuletzt mit Hilfe autobiographischen Materials Prozesse der Nazifizierung, einer erfolgreichen Indoktrination (generell einer Uniformierung des Gedankenkreises), aber auch der Distanzfindung und der Grenzen der Indoktrination zu beschreiben und zu erklären begonnen (vgl. z.B. Klafki 1988, 1991; Cloer 1986a, 1996, 1997; Tenorth 1995). Historisch-wissenssoziologisch ist es interessant, dass die Untersuchungen zur Distanzfindung quantitativ bei weitem überwiegen; der Grund dafür könnte in dem großen Nachholbedarf zur Erforschung und Erklärung von Resistenz, Opposition und Widerstand liegen. Die lange Zeit hindurch dominant gewesenen makroanalytischen Ansätze des Totalitarismus (in Verbindung mit der Führertheorie und dem Hitlerismus) und Strukturfunktionalismus waren dazu ungeeignet. Erst eine „mentalitätsgeschichtliche Wende“ in der Geschichtswissenschaft der 1980er Jahre fand beispielsweise in traditionalen „Gesinnungsgemeinschaften“ eine Immunisierungssubstanz gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie (so die großen Forschungsprojekte Martin Broszats). Das was die Geschichtswissenschaft vor allem auf der Mesoebene untersuchte, konnte eine pädagogischbiographisch angelegte Bildungsforschung als Prozess im Subjekt rekonstruieren und im Theorem der aktiven Aneignung erklären (Cloer 1986a, 1997; Klafki 1988, 1991). Unter Bezugnahme auf das in Abschnitt 1 Ausgeführte sei hier noch einmal hervorgehoben, dass der eigene Ansatz das Anliegen verfolgt, an der Rekonstruktion von Individualund Kollektivbiographien, von Sozialisations- und Bildungsprozessen empirisch und theoretisch zu arbeiten (Cloer/Klika/Seyfahrth-Stubenrauch 1991, S. 71). Autobiographietheoretisch ist dabei die Prämisse von Belang, dass das Thema der modernen Autobiographie
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das Ausmessen von Entscheidungs- und Freiheitsspielräumen, die Akzentuierung des Anspruchs auf Individualität (als der Frage nach der Unverwechselbarkeit) ist. Zumindest diese Seite der modernen Autobiographie verweist auf Reste von Autonomie. Und diese autobiographietheoretische Dimension verbindet sich mit der unserem Ansatz zugrunde liegenden Prämisse einer Differenz von Präsentation und Aneignung (generationstheoretisch gesprochen: von Intentionen der vermittelnden und denjenigen der aneignenden Generation). Auch bezogen auf politisch-soziologisch geschlossene Systeme heißt das: Erziehung und Bildung entfalten sich fast immer im dialektischen Spannungsverhältnis von Präsentation und Aneignung. Die vermittelnde Generation präsentiert im edukativen Prozess eine bestimmte Ordnung der Lebenswelt, eine bestimmte Deutung und Struktur der Kultur. Diese präsentierten Deutungen sind für die Heranwachsenden von großer Be-Deutung – aber selten im Sinne einer kausal-linearen Einwirkung. Der Prozess der Weitergabe des „nicht-genetischen Erbes“ (die Kulturwissenschaften würden von der Sicherung des kulturellen Gedächtnisses sprechen) in der gesellschaftlichen Tätigkeit der Erziehung – so formuliert jüngst indikativisch Sünkel – ist eine „bi-subjektive Tätigkeit“. Bezogen auf das Kontinuitätsproblem des nicht-genetischen Erbes gibt es keinen Rangunterschied zwischen den Teiltätigkeiten Vermittlung und Aneignung (Sünkel 1997). Nun darf aber keineswegs verharmlost werden, dass es unter den Bedingungen einer Formationserziehung (vor allem einer „formativen Ästhetik“; Herrmann/Nassen 1993; Lingelbach 1988) durchaus zu einem „arretierten“ Bewusstsein kommen kann. Deshalb, so weist die bisher vorliegende Forschung aus, bedarf es in der Regel – bezogen auf die Ausprägung von Nonkonformität, Resistenz, Protest und Opposition – einer Anstifterin, einer Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit (Benner). Diese Anstifterin kann sehr unterschiedliche Gestalt annehmen: Sie kann als lebende Person im Sinne einer bedeutungsvollen Anderen begegnen; sie kann sich gegen die formierenden Intentionen institutionell-staatlicher Kanones in den (oftmals) konkurrierenden „Sozialisationsinstanzen“ artikulieren: in den Familien, Kirchen und jugendlichen Initiativen mit „Eigen-Sinn“, unter den Bedingungen religiöser (sozial-)demokratischer und gewerkschaftlicher Einstellungstraditionen genau so wie in Schulen (häufig nur bei einzelnen Lehrern) mit aufrechterhaltenem intellektuellen Anspruchsniveau, das selbständiges Denken evoziert; diese Anstifterin kann schließlich auch im eigenständigen Leseprozess als „Kommunikation“ mit einem „verbrannten“ Dichter oder einem „entarteten“ Künstler manifest werden (Cloer 1996; vgl. im Anhang die Systematisierung der Faktoren zur Analyse von Nazifizierung und Distanzfindung). Eigene Untersuchungen zu den „Selbstbildungsbewegungen in der Autobiographie von Margarete Hannsmann“ zeigt das auch für die theoretische Klärung der Frage der Indoktrination wichtige Ergebnis, dass Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit auch dadurch gelingen kann, dass „Lehrer oder bedeutungsvolle Andere das Neugierigwerden auf Sachen und Zusammenhänge gezielt zu verhindern suchen. Erziehung als Mitteilung dessen, was uns wichtig geworden ist oder was wir anderen nicht wichtig werden lassen wollen, läuft in den seltensten Fällen im Modell linear-kausaler Einwirkung ab“ (Cloer 1997, S. 68f.; 1998, S. 24f.). Obgleich die Gründe für das häufige Scheitern der Indoktrinationsintentionen auch von anderen Autoren (und inzwischen zusätzlich für die Politisierungsversuche der Schule in der DDR) differenziert herausgearbeitet worden sind (Tenorth/Kudella/Paetz 1996; Kudella/ Paetz/Tenorth 1996), hat es offensichtlich erfolgreiche Indoktrination und Nazifizierung, hat es neben der Anstiftung zum Zweifel auch die erfolgreiche Anstiftung zum Glauben gegeben. Offensichtlich können das Kind und der Heranwachsende ganz und gar Objekt der Erziehung werden. Offensichtlich können die Konstellationen der bedeutungsvollen Ande-
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ren und der Sozialisationsinstanzen so ungünstig sein, dass ein Kind keine Distanz finden kann. Solche Konstellationen sollen am Beispiel der „Autobiographie“ von Christa Wolf (Kindheitsmuster) rekonstruiert werden. Der pädagogisch-systematische Ertrag behält seine Gültigkeit unabhängig davon, ob es sich im Text um eine authentische Erinnerung oder um fiktive Sequenzen handelt. Die ausgewählten Textpassagen aus den Kapiteln 6 und 9 repräsentieren vier wichtige Sozialisations- und Erziehungsinstanzen instanzen (das Elternsystem; die Freundin; die Schule/die Lehrer Warsinski und Dr. Juliane Strauch; die Staatsjugendorganisation BDM) und darüber hinaus – wie Jürgen Henningsen es gesagt hat – „die Aufgeladenheit der Alltagssituationen mit Ideologie“. 1 2 3 4 5 5 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
„Ein deutsches Mädel muß hassen können, hat Herr Warsinski gesagt: Juden und Kommunisten und andere Volksfeinde. Jesus Christus, sagt Herr Warsinski, wäre heute ein Gefolgsmann des Führers und würde die Juden hassen. – Hassen? sagt Charlotte Jordan. War wohl nicht gerade seine Stärke. – Abends fragt sie ihren Mann: Ist es nicht hanebüchen, was der den Kindern in Religion erzählt? – Laß den doch erzählen, was er will. Wenn man sich da überall einmischen wollte! Die Jordans hingen nicht an der Kirche. Sie hingen an ihren Kindern und an ihrem Geschäft und an dem neuen Haus. Bruno hing zusätzlich an der EDEKA. Charlotte hing zusätzlich an ihrem Steingarten, den sie terrassenförmig an der einst wüsten Böschung anlegte und allmählich so geschickt bepflanzt hatte, daß er vom Frühjahr bis zum Herbst blühte. Meine einzige Erholung, sagte sie, von dem verfluchten Im-Laden-Stehen. Das Wort >verflucht< im Zusammenhang mit dem Laden. Nelly haßt den starken Rudi. Einen Juden hat sie ihres Wissens noch nie gesehen, auch einen Kommunisten nicht. Der Haß gegen diese unbekannten Menschengruppen funktioniert nicht nach Wunsch – ein Defekt, den man verbergen muß. Ausgleichsversuch: An Stelle eines Aufsatzes über das Thema: Wer hat am Ende des Weltkrieges das deutsche Volk verraten? bietet sie Herrn Warsinski ein selbstgemachtes Gedicht an. Was? sagt Herr Warsinski, dessen Augen immer noch nicht die rechte Wärme ausstrahlen, wenn sie Nelly anblikken: Das hast du doch nicht selber gemacht! Das hast du doch aus der Zeitung abgeschrieben! (Von Feinden umringt war das deutsche Volk / beim großen Weltenbrand, / doch unser tapferer deutscher Soldat / ließ keinen Feind ins Land. / Da wurde durch schnöden Judenverrat / mit Deutschland Frieden geschlossen ...) Ungewollte Aussage über die Qualität der Zeitungsgedichte und über Herrn Warsinskis Geschichtsunterricht. (Reime bewahrt das Gedächtnis treulich und lange.) Donnerwetter! sagt Herr Warsinski. Allerhand. Nun stell dich mal hierher und lies das laut vor. Daran könnte sich mancher ein Beispiel nehmen. Nelly steht unter einem Spruchband, das eine höhere Klasse im Zeichenunterricht als Schriftprobe für Antiqua hergestellt hat: >Ich bin geboren, deutsch zu fühlen / Bin ganz auf deutsches Denken eingestellt / Erst kommt mein Volk, dann all die anderen vielen / Erst meine Heimat, dann die Welt!< – Ja, sagt Herr Warsinski wehmütig. Soweit sind wir noch lange nicht. Die Menschen sind für das Vollkommene nicht geschaffen. Nelly und ihre Freundin Hella Teichmann, die so glücklich ist, einen Buchhändler zum Vater zu haben, wer-
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den sich in der Pause einig: Sie wollen die Vollkommenheit erleben. Es schreckte sie nicht. Neue Menschen wollen sie sein. Nelly war liederlich und unordentlich. Charlotte Jordan wußte manchmal nicht, wie sie es ihrer Tochter beibringen sollte, sich wie ein >normaler Mitteleuropäer< zu benehmen. Sich jeden Tag gründlich waschen. Jeden Abend die Schuhe putzen. Die Wäsche im Schrank auf Kante legen. Die Füße vor der Wohnungstür sorgfältig abputzen. Die Schulmappe abends packen. Ungegessene Schulbrote mittags auspacken und abends aufessen. Zähne morgens und abends putzen. Zerrissene Kleider sofort stopfen oder flicken. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Langes Fädchen, faules Mädchen. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ich verlange wirklichen und wahrhaftigen Gottes nur das allermindeste. ... Im Jungmädellager kontrollierten die Lagerleiterin oder die von ihr ernannten Stellvertreterinnen jeden Morgen den Schlafsaal, die Schränke und die Waschräume der Jungmädel. Einmal wurde die Haarbürste einer Schaftführerin öffentlich ausgestellt, weil sie voller langer Haare war. So dürfe die Haarbürste einer Jungmädelführerin nicht aussehen, sagte die Lagerleiterin beim Abendappell. Nelly versteckte ihre Haarbürste von Stund an im Seitenfach ihres Koffers, weil es ihr nicht gelang, sie von jedem einzelnen Haar zu befreien, und weil die Lagerleiterin nicht ausgerechnet bei ihr andere Saiten aufziehen sollte. Als sie selbst Kontrolldienst hatte, meldete sie drei Paar ungeputzter Schuhe und einen im Schrank ihrer Freundin Hella Teichmann verfaulenden Apfel. So tat sie ihre Pflicht, wie es sich gehörte, ohne Ansehen der Person. Auch Hella sah bis zum Abend ein, daß sie so und nicht anders handeln mußte. Beim Gutenachtsagen drückte die Lagerleiterin Nelly fest die Hand. Zwei Jungmädel spielten vom Flur aus auf Blockflöten das Gutenachtlied: >Kein schöner Land in dieser Zeit<. Am nächsten Morgen würde Nelly beim Fahnenappell der Flaggenspruch sagen, den sie sich vor dem Einschlafen ein dutzendmal wiederholte: >Ihr müßt die Tugenden heute üben, die Völker brauchen, wenn sie groß werden wollen. Ihr müßt treu sein, ihr müßt tapfer sein, und ihr müßt unter einander die einzige große, herrliche Kameradschaft bilden.< Adolf Hitler. Die Lagerleiterin sagte, und Nelly hörte es gerne: Sie alle, künftige Führerinnen, würden zur Elite der Nation gehören.“ Auszüge aus Christa Wolf: Kindheitsmuster, S. 176-178, S. 207f.
Die Textpassage soll vorab gegliedert werden; als formales Gliederungsprinzip liegen zugrunde die Ebenen des sozialökologischen Forschungsansatzes von Urie Bronfenbrenner, die sich leicht den ersten drei Komplexen der im Anhang systematisierten „Faktoren zur Analyse von Nazifizierung und Distanzfindung“ zuordnen lassen. Zeile
1- 4 Mesoebene: 5-14 Mikroebene: 15-36 Mesoebene: (darin eingewoben: Zeile 31-35 36-39 Mikroebene: 40-50 Mikroebene: 51-72 Mesoebene: (darin eingewoben: Zeile 59-63 65-70
Schule Mutter, Vater Schule/Lehrer Makroebene: Ideologie) Freundin Hella Teichmann Mutter Bund Deutscher Mädel Mikroebene: Freundin Makroebene: Ideologie)
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Der erste Abschnitt führt uns in die Meso-Ebene, die Institution Schule (Zeile 1-4). Christa Wolf erzählt von sich in der dritten Person und gibt sich den Namen Nelly. Nelly erinnert sich nicht nur an den Lehrer Warsinski, sondern noch intensiver an ihre Deutsch- und Geschichtslehrerin Dr. Juliane Strauch (was diese Julia betrifft, „könnte das Gedächtnis überhaupt nicht besser intakt sein“; S. 295). Beide Lehrer werden als absolute Erfüllungsgehilfen der Ideologie des Nationalsozialismus erinnert. Die Belege für das von diesen beiden bedeutungsvollen Anderen (über Julia läuft bei Nelly die Ideal-Suche von Weiblichkeit) repräsentierte Konzept einer affirmativen pädagogischen Praxis (Benner/Sladek 1998, S. 26-29) sind über den hier abgedruckten Text hinaus erdrückend (vgl. zusätzlich S. 136-139, S. 295-300). Schon die Anweisungen in den ersten Zeilen sind Hinweis auf die zugrunde liegende affirmative erzieherische Praxis, wollen auf das von diesem Staat einzig zu Bejahende, die rassebiologische Grundlage der Ideologie verpflichten. Zur Pflege von Feindbildern gehört komplementär die besondere Gewichtung der Wir-Gruppe, die Pflege der rassebiologisch fundierten Volksgemeinschaftsideologie. Und es gehört kontinuierlich hinzu die Verpflichtung auf den „unbedingten Einsatz“ für den „Führer“ als das konkrete Symbol des Nationalsozialismus (A. Baeumler). Der Folgeabschnitt führt uns in die Mikro-Ebene, in das Eltern-System (Zeile 4-14). Kinder bringen ihre Freuden und ihre Sorgen aus der Schule mit in die Familie, in der Regel zuerst zur Mutter. So auch hier. Nelly erzählt über das heute in der Schule erfahrene Erziehungsziel. Sie ist offensichtlich durch das, was sie bislang über diesen Jesus erfahren hat, irritiert, wenn ihr Lehrer diesen Jesus mit dem Gefühl des Hasses in Verbindung bringt. Sie wartet vermutlich auf eine korrigierende Antwort (die als Widerspruchserfahrung eine distanzschaffende Schlüsselerfahrung hätte werden können). Die erwartet sie aber vergebens. Und sie bekommt sie auch nicht abends durch den Vater. Der Schlüsselsatz „Wenn man sich da überall einmischen wollte“ transportiert Bequemlichkeit, mangelnde Zivilcourage, vor allem Gleichgültigkeit. Die reale Vaterfigur ist kein Angebot für das gesuchte VaterIdeal. Im dritten Abschnitt (Zeile 15-36) wird der Erzählfaden des ersten Abschnitts wieder aufgenommen. Kindgemäße Reaktionen des Hasses werden mitgeteilt: Kinder hassen manchmal andere Kinder, weil diese sie körperlich quälen, eine Freundin abspenstig machen usw. Aber der Hass gegen fremde Menschen(gruppen) muss bei Kindern künstlich aufgebaut werden: über eine affirmative erzieherische Praxis und/oder über emotionalaffektive Mechanismen, die ein Kind durch willkürliche Zuwendung oder den Vorenthalt von Liebe/Aufmerksamkeit in Abhängigkeit halten. Der affirmativen Intention des Lehrers kommt hier die Selbstaffirmation des Kindes an die Wollungen und Deutungsmuster des Lehrers entgegen, um endlich jenes Stück Anerkennung zu erheischen, ohne das zumal ein (Grundschul-)Kind in pädagogischen Feldern nicht überleben kann. Die beiden Folgeabschnitte, die einerseits erneut die Mutter (Zeile 40-50) und andererseits die Staatsjugendorganisation unter den speziellen Bedingungen des Lagerlebens (Zeile 51-72) präsentieren, kann man thematisch eng zusammen sehen. Sie kreisen mit unterschiedlich hartem Zugriff erneut um das Problem der Affirmation; in den 1970er Jahren hätte man vermutlich – insbesondere beim zweiten Abschnitt – umgehend den Begriff des „autoritären Charakters“ assoziiert. Das Lernen in Sprüchen ist ein in seiner Bedeutung für den Entwicklungsprozess eines Menschen häufig zu Unrecht übersehenes Phänomen. Sprüche haben einen bedeutenden Stellenwert im Enkulturationsprozess. Sprüche vermitteln nicht – wie uns eine behavioristische Sprachentwicklungstheorie glauben machen will – zusammenhanglose Wörter, sondern
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grundlegende Deutungsmuster mit häufig großer Langzeitwirkung. Hier begegnet eine Sprüche-Reihung, die – in Verbindung mit dem harten Befehl-Gehorsam-Gestus der Mutter – auf die Einübung eines starren und stereotypen Ordnungs-, Sauberkeits- und Pünktlichkeitsverhaltens ausgerichtet ist, auf die Einübung von Sekundärtugenden mithin, ohne die ein gedeihliches familiales Miteinander niemals ganz wird auskommen können, die hier aber ganz ohne einen Begründungszusammenhang bleiben. Sie erweisen sich – wie der Schlussabschnitt zeigt – als äußerst funktional für ein System, das durch eine organisierte, hierarchisierte und ritualisierte Kontrolle der Gebote der Lagerordnung für den totalen Einsatz und den absoluten Gehorsam gefügige und angepasste Heranwachsende vorzubereiten den Auftrag erhalten hat und ihn effektiv umzusetzen versucht. Die Mechanismen sind subtil und bösartig zugleich. Reste einer Zivilgesellschaft kann man nicht nur durch den Entzug des Intimbereichs (Kontrolle der Haarbürsten), durch die Rituale einer formativen Ästhetik (beim Fahnenappell und Fahnenspruch) mit der Folge der Außerkraftsetzung des gesunden Menschenverstandes und der Kontrollinstanz des Gewissens (Lingelbach 1988), sondern auch durch jenen teuflischen Mechanismus außer Kraft setzen, der unter der vermeintlichen Pflichterfüllung „ohne Ansehen der Person“ die Treue gegenüber der Freundin ganz zurücktreten lässt hinter jener Liebe, die allein dem Führer zuteil werden soll. Auf der auktorialen Ebene heißt das Resümee Christa Wolfs: „Einem Menschen, der nicht auffallen will, fällt bald nichts mehr auf. Der entsetzliche Wille zur Selbstaufgabe läßt das Selbst nicht aufkommen“ (S. 314). Wenn man sich die wichtigsten Sozialisations- und Erziehungsinstanzen in der Zeit des Nationalsozialismus vergegenwärtigt, so waren es die Familie, die Schule und ihre LehrerInnen sowie die Staatsjugendorganisation; für manche Kinder darüber hinaus Geistliche der Kirchen; die Straße und die Altersgruppe verloren durch die von der HJ beanspruchten Zeiten (und durch den Streifen-Kontrolldienst der HJ) an Bedeutung. In der deutenden Erinnerung Christa Wolfs gab es für Nelly weder über die Eltern (oder andere Verwandte) noch über LehrerInnen der Schule distanzschaffende Schlüsselerfahrungen. In unserem Beispiel waren die entscheidenden Sozialisationsinstanzen in ihren Zielsetzungen weitgehend kongruent. Widerspruchserfahrungen als eine wichtige Voraussetzung für Distanzfindungsprozesse haben in der Selbstdeutung der Autorin gefehlt. So könnte denn ein Ergebnis lauten: Indoktrination konnte dann erfolgreich sein, wenn die personengebundenen, institutionenbezogenen und die Wirkungsfaktoren des ideologischen Systems im Sinne des erziehungsstaatlichen Konzeptes kohärent gearbeitet haben und dem Heranwachsenden darüber hinaus Widerspruchs-, Ambivalenz- und distanzschaffende Schlüsselerfahrungen vorenthalten geblieben sind. Das heißt aber zugleich auch: Weder die Analyse eines Systems als totalitär oder als Diktatur noch die „Aufgeladenheit der Alltagssituationen mit Ideologie“ (Henningsen) noch die in Analysen festgestellte erziehungsstaatliche Intention noch der Nachweis eines ideologiegesättigten Elternhauses (vgl. die Analyse zur Margarete Hannsmann in Cloer 1997) noch eine affirmative Erziehungsintention in den schulischen Feldern noch die „formative Ästhetik“ in der Staatsjugendorganisation sind je für sich allein eine zureichende Bedingung für erfolgreiche Indoktrination – im Falle dieser historischen Epoche: für erfolgreiche Nazifizierung. Aber jede für sich kann eine machtvolle Zensorentätigkeit ausüben. Und schließlich dies: in einem pädagogisch-systematisch wichtigen Zusammenhang lässt sich nun empirisch gehaltvoller reden. Es sind ja offensichtlich Bedingungen denkbar, in denen die Differenz von Präsentation und Aneignung, in denen die bi-subjektive Struktur des Generationenverhältnisses weitgehend paralysiert sind. Christa Wolf erzählt ja in den zuvor
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analysierten Sequenzen erinnernd-selbstdeutend die Geschichte einer politischen Formierung und nicht diejenige einer Distanzfindung; sie erzählt somit nicht die Geschichte einer Hervorbringung, sondern der Verhinderung der Hervorbringung eines „Subjekts der Aneignung“; sie erzählt die Geschichte eines Zöglings in einer Objektposition. Die „Akkumulation von Lernprozessen“ in einer gleichschrittigen affirmativen Praxis der erwachsenen „Erzogenen“ scheint bei der Autobiographin bis zu ihrem 16. Lebensjahr im Jahre 1945 so etwas wie eine eindeutige Lebenslinie (Singular!) herausgebildet zu haben. Es hat den Anschein, als sei hier die „unvorhersehbare Verzweigung der Entwicklung alles Lebendigen“, von der Mollenhauer sprach, außer Kraft gesetzt. Die Suche nach den Spuren dieser Lebenslinie, die Suche nach der Entwicklung der biographischen Bewusstheit, sind ein zentrales Thema der autobiographisch relevanten Texte von Christa Wolf.2 Für den an Bildebewegungen interessierten Biographieforscher weist sich die Qualität des „Kindheitsmusters“ nicht zuletzt darin aus, dass die Autorin uns an der „Einsicht“ teilhaben lässt, dass die biographische Bewusstheit erst langsam „aus dem Dunkel der Unbewusstheit hervor(wächst)“ (Schulze 2005 a, S. 13). Wir hätten unendlich viele Belege für die Spurensuche der Autorin nach der dominanten Lebenslinie, müssen uns beim gegebenen Anlass auf wenige beschränken: „So tat sie ihre Pflicht, wie es sich gehörte, ohne Ansehen der Person“ (Kindheitsmuster, S. 207f.). – „Charlotte Jordan [die Mutter] findet, man soll sich nicht zu gut sein, zu tun, was alle tun“ (S. 342). – „! eine Folge meiner Kindheit, der Abhängigkeit von Autoritäten“ (Ein Tag im Jahr, S. 183). – „Neugier war ihre [der gesamten Verwandtschaft] Schwäche nicht ... Was sie nicht wußten, machte sie lau. ... Überhören, Übersehen, ..., verlernen, ... vergessen“. – „Nimmt Neugier ab, wenn sie ständig ins Leere stößt?“ Lernen Menschen „unter Diktaturen, ... ihre Neugier auf die ihnen nicht gefährlichen Gebiete einzuschränken?“ (Kindheitsmuster, S. 203f., S. 96). Der vorläufige Befund: ein extremes Verengungs- und Verarmungs-Syndrom mit den Komponenten Neugierverschüttungspraxis, Fixierung auf Autoritäten und Gehorsam-Gefolgschaftsmuster, Angepasstheit. Eine Lebenslinie ja, aber von einem „biographischen Kraftfeld“, einer „biographischen Potentialität“ mag man hier nur sehr ungern sprechen. Aber scheint möglicherweise im gleichen Zitat-Kontext ein anderer Grad von Bewusstheit und eine Brechung zuvor entworfener Eindeutigkeit/Einlinigkeit auf, wenn die Autobiographin fragt: „Kann man eines Kindes Neugier vollkommen lahm legen?“ (S. 96). Formale sprachliche Mittel wie die Frageform zeigen ausgeprägte Strukturparallelen zum künstlerischen Selbstportrait, das in seinem „Auge-in-Auge-Blick“ stets etwas Fragendes und Unbestimmtes aufweist (Schulze 1998, S. 69). Aber vermutlich müssen wir dazu noch weitere Fragen ans Material richten: Gibt es Lebenslinien von begrenzter Dauer? Abbrüche durch politische Umbrüche und/oder durch die nachgeholte Akkumulation von Reflexionswissen? Gibt es die Parallelität konkurrierender Lebenslinien, von denen die eine(n) dem Außenbetrachter und dem Autor deutlich sichtbar, die andere(n) dem Interpreten eventuell weniger verborgen bleiben als dem Autor selbst? Will sagen: Erreichen alle Lebenslinien einen gleichen Stellenwert von Bewusstheit beim Autor selbst? Schließlich auch: Entdeckt der mit einem bildungstheoretischen Interesse sich nähernde pädagogische Wissenschaftler möglicherweise andere Lebenslinien und biographische Kraftfelder als ein Soziologe und dieser wiederum andere als eine Interpretin mit einem literaturwissenschaftlichen Leitinteresse? Oder haben wir es bei diesen Fragen – was ich mit Theodor Schulze vermute – mit etwas genuin Pädagogischem zu tun? Dann könnte das auch bedeuten, dass ein bestimmtes biographisches Kraftfeld, das sich unter einem bildungstheoretischen Interesse erschließt, beim Autobiographen/der Autobiographin selbst keinen oder keinen hohen Stellenwert von Bewusstheit erreicht.
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Da gibt es eine Schlüssel-Episode, die hier nur angedeutet werden kann. Nelly, die äußerst erfolgreiche Schülerin, erhält die Einladung zur Geburtstagsfeier der Klassenkameradin Lori, der Tochter des Fabrikbesitzers Tietze, die in der Schule große Schwierigkeiten hat. Nelly erlebt gleich zwei Personengruppen, die etwas von ihr wollen, die ihr berechnend begegnen: die eigene Mutter, der sie durch die Vorbereitung der Kleidung und das bereitgelegte wertvolle Geschenk anmerkt, dass ihr an der Einladung zu Tietzens mehr als an jeder anderen liegt; die Eltern Tietze, die in Orientierung am Tauschprinzip Nellys Schularbeitenhilfe durch Kakao und Kuchen und das Spiel in Loris schönem Kinderzimmer entgelten wollen. Sie sieht, so heißt es im Text: „Hier will man etwas von ihr. Man ist berechnend. Man hat sie eingeladen, um ihr etwas zu stehlen, was man auf keine andere Weise bekommen kann“. Und sie steht auf, zieht ihren Mantel an und geht. Daheim angekommen, fasst die Mutter an ihre Stirn: „Fieber hast du doch nicht? Nein, sagt Nelly. Ich geh da nicht mehr hin“ (Kindheitsmuster, S. 181f.) (vgl. ausführlich zu dieser Episode: Cloer 1990). Die Substanz dieser Reaktion einer 10/11Jährigen (in diesem Alter ist die Episode verortet) ist nicht erkannt, wenn man sie als Unhöflichkeit, Ungehörigkeit, Bockigkeit oder kindlichen Eigensinn liest. Sie verweist auf das, was wir zuvor in Abschnitt 1 als „eigentliche Erfahrung“ und als „Widerspruchserfahrung“ entfaltet fanden. Ganz zweifellos wird hier eine zweite, eine konkurrierende Lebenslinie sichtbar, die als „biographisches Kraftfeld“ (Schulze) zu bezeichnen man fürwahr keine Scheu zu haben braucht. Eine Lebenslinie, die für die autobiographische Bildungsforschung noch interessanter ist als jene, die die determinierenden Nazifizierungsprozesse zu erklären in der Lage ist (was ja nicht wenig ist). Der „entsetzliche Wille zur Selbstaufgabe“, wie ihn die Autobiographin aus dem Zusammenhang der Kollektivationseinschnürungen des Staatsjugend-Lagerlebens erinnert, hat dieses Kind noch nicht in Gänze erfasst. Außerhalb der durchherrschten Institution, unter den Nischen-Bedingungen einer privaten Geburtstagsfeier, stellt sich der Selbstaufgabe der Anspruch auf Selbstachtung entgegen. Dieser Anspruch artikuliert sich hier als Sensibilität dafür, nicht als Objekt/Opfer berechnenden Verhaltens instrumentalisiert zu werden. Die materiellen Angebote der Tietzens und die Deutungsangebote der Mutter bedeuten gleicherweise eine Zumutung für ein Kind, das schon so viel über das „wichtigste Grundgut“ – so hat John Rawls die Selbstachtung gekennzeichnet – zu wissen scheint. Christa Wolf erzählt offensichtlich doch nicht nur die Geschichte eines Zöglings in einer Objektposition. Das aneignende Subjekt tritt kraftvoll auf den Plan. Die konkurrierende Lebenslinie, die sich im selbstbewusst vorgetragenen, begründeten „Da geh ich nicht mehr hin“ ausdrückt, repräsentiert gewissermaßen jene Bifurkation, jene „Verzweigung der Entwicklung alles Lebendigen“, die gleichwohl kein prognostisches Wissen erzeugt. Eine autobiographische Sozialisations- und Bildungsforschung bleibt auf die mühevolle Arbeit am autobiographischen Material, sie bleibt auf die Rekonstruktion der Bildebewegungen und Lernprozesse sich erinnernder AutobiographInnen verwiesen. Was an diesen, aus den je persönlichen, sprich besonderen Perspektiven an Allgemeinem, an theoretischem Ertrag und empirisch-gehaltvollen Aussagen im Feld grundlegender pädagogischer Problemstellungen gewonnen werden kann, sollte ansatzweise verdeutlicht werden.
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Anhang Faktoren zur Analyse von Nazifizierung und Distanzfindung I.
Personengebundene Wirkungsfaktoren (Mikro-Ebene) 1. Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte 2. LehrerInnen (bes. in außerunterrichtl. Aktivitäten) 3. Pfarrer, Pastoren 4. Freunde/Freundinnen
II. Eingebundensein in Institutionen und Organisationen (Meso-Ebene) 5. Schule 6. NS-Jugendorganisationen 7. Luftwaffenhelfer-Einsatz 8. NS-Organisationen für Erwachsene 9. Arbeitsdienst 10. Wehrdienst 11. Kirchen III. Wirkungsfaktoren des ideologischen Systems (Makro-Ebene) 12. Hitler-Idol 13. Antisemitismus 14. Antidemokratismus 15. Antiintellektualismus 16. Antigesellschaftlichkeit 17. Volksgemeinschaftsideologie; Anti-Individualismus 18. Symbolisch-atmosphärisch wirkende Faktoren: Ästhetik und Pseudoreligiosität des Nationalsozialismus (Aufmärsche, Appelle, Feiern, Programmusik, Riefenstahl-Ästhetik u.a.) 19. Propaganda: Radio, Presse, Filme, Plakate, Sammlungen u.a. IV. Ambivalenzerfahrungen 20. Verunsichernde Gerüchte, politische Witze u.a. 21. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen der vom NS zugelassenen Kompensate im Bereich der Massenmedien: Schlager, Liebes- und Revuefilme u.a. 22. Elemente jugendlicher Subkulturen (lange Haare, Schminken, Swing- und Jazzmusik, westliche Modeelemente u.a.) V.
Distanzschaffende Schlüsselerfahrungen (in der Regel ebenfalls dominant personengebunden) 23. Aufrüttelnde Begegnung mit Andersdenkenden (Lehrer; Geistliche; Menschen, die Juden/politisch Verfolgten geholfen haben) 24. Erschütternde und aufrüttelnde Erlebnisse/Augenzeugen; Erfahrungen mit Opfern des NS-Terrors 25. Selbstbildungsprozesse in der „Begegnung“ mit den verbotenen und verbrannten Dichtern 26. Beobachtete oder gehörte Widerspruchserfahrungen (NS-Programmatik und reales Handeln von Parteifunktionären des NS-Systems) 27. Wirkungen der Untergrundtätigkeit von Parteien und Organisationen, die der NS verboten hatte 28. Beharrungskräfte schicht- und milieuspezifischer Erfahrungen und Deutungsmuster.
Erarbeitet anhand von Klafki 1991 und aus eigenen Forschungszusammenhängen (Cloer 1983, 1988, 1996)
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Anmerkungen 1 2
Ich bedanke mich bei Theodor Schulze für die vorzeitige Überlassung der im Druck befindlichen Manuskripte. Neben dem „Kindheitsmuster“ hätten wir z.B. die Erzählungen „Störfall“, „Leibhaftig“, „Was bleibt“; hätten die Briefwechsel mit Brigitte Reimann und Franz Fühmann, Reden und Interviews, nicht zuletzt auch das Tagebuch „Ein Tag im Jahr. 1960-2000“ zu berücksichtigen.
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II. Methodologische Fragen
Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie1 Fritz Schütze
Inhalt 1. Interaktionsanomie in Kafkas „Der Prozeß“ 2. Das Konzept der Verlaufskurve und die interpretative Soziologie 3. Ein Ablaufmodell für Verlaufskurvenprozesse 4. Alkoholismus-Verlaufskurven – ein Beispiel 5. Kollektive Verlaufskurven und Entmoralisierungstransformationen 6. Die grundlagentheoretische Relevanz des Konzeptes der kollektiven Verlaufskurve Literatur
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Als Menschen, die den Routinealltag zu bewältigen haben, machen wir uns gewöhnlich drei grundlegende Merkmale der sozialen Realität nicht zureichend deutlich: –
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dass die Situationen, in denen wir leben und uns bewegen, hochgradig symbolisch verdichtet sind und wir den Aufbau dieser Symbolik und die komplexe Aufschichtung von Hintergrundserwartungen in der Regel nur vage wahrnehmen, dass wir also oftmals nicht wirklich verstehen, was wir zu verstehen meinen; bzw: dass wir in der Alltagsroutine nur „oberflächlich“-unreflektiert erfassen, was tiefergehend-szenisch verstanden werden müsste; dass diese Situationen in ihrer Symbolik nicht nur Ausdruck von soziokultureller Ordnung, sondern oftmals auch das unerwartete Ergebnis von erlittener biographischer und sozialer Unordnung sind, also von „Anomie“ (bzw. wörtlich übersetzt von „Abwesenheit von soziokulturellen Regeln“) im Sinne des französischen Begründers der Soziologie Emile Durkheim (1973), und dass die symbolischen Kundgaben, mit denen wir unsere Befindlichkeiten und Absichten für die andern und für uns selber umschreiben, größtenteils gerade nicht auf die heile Welt ordentlicher sozialer und kultureller Gestalten, sondern auf die Brüche, das Irritierende, Chaotische und Fremde von Erleidensprozessen und unerwarteten Abläufen abzielen; sowie dass diese Unordnung in ihren Aspekten des Erleidens und der Verletzung der Kooperationsgrundlagen von Interaktion und menschlicher Gesellschaft so abgrundtief sein kann, dass uns hin und wieder – insbesondere bei eklatanten Erlebnissen des Scheiterns – eine quasi-methaphysische Angst oder gar Verzweiflung dahingehend überkommen kann, dass wir einem unaufhebbaren Verhängnis – vergleichbar einer unheilbaren Krankheit – überantwortet sind.
Warum sollten wir uns denn auch – so könnte man jetzt plausibel fragen – die Komplexität der symbolischen Verdichtung unserer Lebens- und Interaktionssituationen überhaupt reflektiv bewusst machen? Gewöhnlich – so meinen wir – funktionieren ja unsere wechselseitigen Situationseinschätzungen so gut, sie führen so sehr zu praktikabler Verständigung, auf deren Grundlagen wir handeln können, dass wir uns die Fragilität und die Abgründe des symbolischen Charakters der sozialen Realität nicht analytisch deutlich machen müssen. Auch wohnt den Symbolisierungen selber eine Tendenz zur Repräsentation der nomischen, d.h. der normativ geordneten, Grundlagen sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhänge (Berger 1967, S. 19-25, 30-32, 54f.) inne – das so sehr, dass Menschen, welche die anomischen Abgründe in den Symbolisierungen sozialer Prozesse besonders intensiv erfahren oder gar bewusst beachten, als Abweichende, als vom Schicksal Gezeichnete, als Störenfriede gelten. Das gilt z.B. für „Josef K.“ in Kafkas „Der Prozeß“ oder für „Stawrogin“ in Dostojewskis „Die Dämonen“. In meinem Beitrag werde ich zunächst an einer literarischen Szene aufzeigen, wie ein Schriftsteller wie Kafka das Paradoxe und Hintergründige von anomischen Lebenssituationen und dessen Symbolisierung sieht. Sodann werde ich das soziologisch-theoretische Konzept der Verlaufskurve (bzw. amerikanisch: „trajectory“) erläutern, das Prozesse anomischer Unordnung auf den soziologischen Begriff zu bringen versucht. Dieses Konzept wird im Folgenden an zwei biographischen Erleidens- und Unordnungssituationen par excellence empirisch exemplifiziert: an der Erleidenskarriere des Alkoholikers und am kollektiven Desaster der deutschen Gesellschaft in der Nazi-Zeit und im Zweiten Weltkrieg. Schließlich wird versucht, das Phänomen der individuellen und der kollektiven Verlaufskurve systematisch begrifflich zu entfalten und die Implikationen für die makrosoziologische Situationsanalyse und für den grundlagentheoretischen Diskurs in der Soziologie aufzuzeigen.
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Der Beitrag enthält sich weitgehend des metatheoretischen Diskurses über das Für und Wider der interpretativen Soziologie im Vergleich zu anderen soziologischen Ansätzen. Solche Diskurse sind für Nicht-Soziologen wenig ertragreich, und es ist zudem sehr die Frage, welche Wirkungen sie selbst in der innersoziologischen Debatte überhaupt erzielen können. Oftmals schon hat die metatheoretische Gegenüberstellung von angeblich zentralen Prinzipien der miteinander konkurrierenden grundlagentheoretischen Ansätze in der Soziologie extreme wechselseitig stereotypisierende Vereinfachungen zur Folge gehabt, welche die fruchtbare Auseinandersetzung gerade verhindert haben. Ich für meinen Teil möchte am konkreten Thema der komplexen Symbolisierung von Erleiden und gesellschaftlicher Unordnung intuitiv-beispielhaft aufzeigen, dass die interpretative Soziologie einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaftsanalyse leisten kann und hierfür ein ganz spezifisches, fragilitätsbewusstes Realitätsverständnis entwickelt, das von dem der übrigen soziologischen Ansätze in wesentlichen Punkten abweicht.
1. Interaktionsanomie in Kafkas „Der Prozeß“ Soziologen haben sich bisher wenig mit der Symbolisierung von anomischen Lebens- und Interaktionssituationen und deren Abgründigkeit beschäftigt. Darum greife ich auf die Analyse einer Interaktionsszene in Franz Kafkas „Der Prozeß“ (1993) zurück. Josef K., der in den Berufsalltag lückenlos integrierte Bankprokurist, war am Morgen seines dreißigsten Geburtstages in der Wohnung seiner Zimmer-Vermieterin Frau Grubach verhaftet worden. Er durfte dennoch den Tag an seiner Arbeitsstelle in der Bank verbringen, die Geburtstagswünsche entgegennehmen und sich mit den anstrengenden, aber Sicherheit verbürgenden Aufgaben seiner Prokuristentätigkeit beschäftigen. Hierbei gelang es ihm, den Tatbestand seiner Verhaftung weitgehend aus seiner Aufmerksamkeit auszublenden. Aber er entschied sich nicht, wie sonst üblicherweise, bis spät abends um 9 Uhr im Büro zu bleiben und anschließend den Abend in seinem Stammlokal zu verbringen. Er hatte das Gefühl, dass der Tatbestand seiner Verhaftung Unordnung in seiner Wohn-Lebenssphäre hervorgerufen und seine Vermieterin Frau Grubach irritiert habe. Gerade seine eigene Präsenz sei jetzt nötig, um die Ordnung wieder herzustellen. Im Gespräch, das Josef K. nun zu Hause mit Frau Grubach führt (S. 26-29), geht es ihm darum, das Geschehen am Morgen nicht nur für Frau Grubach, sondern auch für sich selber zu renormalisieren. Gerade wenn Frau Grubach zustimme, dass alles nur ein Versehen oder ein Zufall oder ein Schabernack gewesen sei, dann sei intersubjektiv verbürgt, dass er wieder zur Tagesordnung übergehen könne und sich nicht weiter zu ängstigen brauche. Josef K. geht im Gespräch mit Frau Grubach die heikle Thematik zunächst ganz harmlos an, und diese antwortet anfänglich auch ganz harmlos. Kafkas Textstelle lautet: „Ich habe Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht.“ „Wieso denn?“ fragte sie, etwas eifriger werdend, die (Strick-, F.S.) Arbeit ruhte in ihrem Schoß. „Ich meine, die Männer, die heute früh hier waren.“ „Ach so“, sagte sie und kehrte wieder in ihre Ruhe zurück, „das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.“ K. sah schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. (S. 27)
Kafka schildert nun meisterhaft, wie schwierig die Aufgabe für den Problembetroffenen ist, einen Bruch in der Alltagsrealität durch Sprechen zu renormalisieren, sofern man diesen Bruch der Alltagsrealität nicht wirklich thematisieren will. Andererseits: wenn man ihn dann schließlich aber doch noch thematisiert, muss man dem Interaktionspartner und sich selber
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gegenüber zugeben, dass ein solcher Bruch überhaupt stattgefunden hat, und das stört nun wiederum das tiefsitzende Bedürfnis nach einer nomischen Betrachtungsweise der sozialen Realität. Noch schwerwiegender ist aber in diesem Falle der Gesichtspunkt, dass meine Interaktionspartner u.U. durch eine irritierte oder gar betroffene, furchtsame oder auch aggressive Reaktion auf meine direkte Thematisierung der Frage des Bruches der Alltagsrealität hin bekräftigen könnten, dass die Ordnung der Alltagswelt tatsächlich empfindlich verletzt worden sei. Die Interaktionspartnerin von Josef K., Frau Grubach, hat zunächst nicht irritiert oder gar die Befürchtungen Josef K.’s bestätigend reagiert. Das geschieht erst später. Ihre Reaktion muss stattdessen als eine zerstreute, unaufmerksame, problemunbewusste gekennzeichnet werden. Kafkas literarische Kunstfertigkeit lässt es hierbei offen, ob diese Reaktion wirklich als ganz aufrichtige oder als eher ostentativ zerstreute verstanden werden sollte, die dann für Frau Grubach (mehr oder weniger unbewusst) die Funktion hätte, möglichst unauffällig der Beachtung und Bearbeitung eines schwierigen Problems in der Interaktionssphäre auszuweichen, welches sie – würde sie ihre Aufmerksamkeit darauf ausrichten – mit der existentiellen Not ihres Gegenübers konfrontieren würde. – Jedenfalls ist Josef K. angesichts der ersten, faktisch (wenn auch möglicherweise nicht beabsichtigt) ausweichenden Reaktion Frau Grubachs in seinem Versuch der Renormalisierung des Bruchs der Alltagsrealität, wie er durch das merkwürdige Geschehen am Morgen eingetreten war, keinen Schritt weitergekommen. Das gerade skizzierte Dilemma, dass gerade das nicht angesprochen werden sollte, was eigentlich bearbeitet werden müsste, besteht also weiter. Josef K. entscheidet sich dementsprechend dafür, es doch noch einmal auf die verharmlosende Weise zu versuchen. Aber selbst das wirkt nunmehr als gefährliche, offensichtlich angstbesetzte Infragestellung der nomischen Perspektive: gerade indem Frau Grubach Josef K. trösten möchte, unterstreicht sie das Abgründige des Verhaftungsgeschehens am Morgen. Kafka demonstriert die Brüchigkeit dieser Phase der Interaktionsszene gerade durch den Kontrast von erlebter und wörtlicher Rede: ,Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche‘, dachte er, ,sie scheint es nicht für richtig zu halten, daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich das tue. Nur mit einer alten Frau kann ich davon sprechen.‘ „Doch, Arbeit hat es gewiß gemacht“, sagte er dann, „aber es wird nicht wieder vorkommen.“ „Nein, das kann nicht wieder vorkommen“, sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an. „Meinen Sie das ernstlich?“ fragte K. „Ja“, sagte sie leiser, „aber vor allem dürfen Sie es nicht so schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt!“ (S. 27)
Kafka macht deutlich, dass gerade die Bereitwilligkeit von Frau Grubach, an Josef K.’s Renormalisierungsversuch unterstützend mitzuarbeiten, die Erfahrung des abgründigen Charakters des Geschehens am Morgen nur noch intensiver macht, als das ohnehin schon der Fall gewesen ist. Anstelle von „es wird nicht wieder vorkommen“, sagt sie: „das kann nicht wieder vorkommen“ – was zweischneidig ist, denn auch ein zum Tode Verurteilter kann seine Verhaftung gewöhnlich nicht zum zweiten Mal erleben. Zudem ist ihr Verharmlosungsversuch einer aus der neutralen Position der unbeteiligten Dritten und nicht einer aus der Sicht der Betroffenen: zum Geschehen in der Welt gehörten ja gerade auch – so sagt sie (der Absicht nach, aber nicht wirklich) beschwichtigend – das Leiden und das Sterben anderer Menschen und die offenkundigen Ungerechtigkeiten, denen diese unterworfen sind, dazu. Das Leiden und das Sterben seien normale Welttatbestände. Als Unbetroffene nehmen wir diese schrecklichen Welttatbestände nur zu oft ohne Gegenwehr hin oder gar billigend in Kauf – Josef K. ist aber kein Unbetroffener, sondern der Leidende selber, der Frau Grubach als ein Du, das existentiell bedroht ist, gegenübertritt.
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Im folgenden gibt Frau Grubach im Gespräch mit Josef K. zu, dass sie in der Frühe an der Tür gelauscht und dabei herausgehört habe, dass das Geschehen am Morgen nicht eine normale Verhaftung wie die eines Diebes gewesen sei, sondern etwas für sie ganz Unverständliches, ganz „Gelehrtes“ (S. 28). Gerade dadurch, dass sie Josef K. aus der eingeschränkten Sicht der Vermieterin die für sie selber so wichtige bürgerliche Wohlanständigkeit bescheinigt, unterstreicht sie aber umgekehrt zugleich auch das Abgründige seiner Verhaftung. Josef K. läuft nun im weiteren mit seinem hartnäckig fortgesetzten Renormalisierungsversuch gleichsam Amok, indem er Frau Grubach und sich selber noch einmal explizit die erwünschte gemeinsame Sichtweise unterstellen will, alles sei einerseits nur eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, und andererseits habe ihn das Geschehen nur zufälligerweise zur Gegenwehr indisponiert gefunden (S. 28). Gerade durch die Herausarbeitung der Treffsicherheit der angeblich so zufälligen Verhaftung, die ihn vermaledeiterweise ganz wehrlos vorgefunden habe, unterstreicht Josef K. nun aber ganz gegen seine Absicht selber – gewissermaßen in einer ungewollten Selbstanzeige – den abgründigen Riss in seinem Alltagsleben. Angesichts der Wirkungslosigkeit seiner bisherigen, zunächst behutsam-indirekten und dann später ganz offensichtlichen Renormalisierungsversuche greift Josef K. schließlich zu einer quasi-kindlichen Strategie der wirkungslosen Verharmlosung, die in ihrer spezifischen Symbolik plumper Unbeholfenheit nun endgültig seine Aussonderung aus der normalen Alltagswelt und der Gesellschaft besiegelt: „Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden.“ – ,Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht‘, dachte er und sah die Frau, anders als früher, prüfend an. Sie stand auf, weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles, was K. gesagt hatte, verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: „Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K.“, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch den Handschlag. „Ich wüßte nicht, daß ich es schwer nehme“, sagte K., plötzlich ermüdet und das Wertlose aller Zustimmungen dieser Frau einsehend. (S. 28f.)
Kafka vermittelt im Kontext der Darstellung dieser und anderer Interaktionsszenen angesichts deren Brüchigkeit und Mehrdeutigkeit eine gesteigerte Sensibilität einerseits dafür, welche Funktionen Symbolisierungsaktivitäten, sprachliche und nicht sprachliche wie der angestrebte Händedruck, für die Verbürgung des nomischen, des „normalen“ Charakters unserer Alltagswelt besitzen, und andererseits dafür, dass sprachliche und außersprachliche Symbolisierungsaktivitäten zusätzlich gerade auch noch die umgekehrte Funktion besitzen, die Brüchigkeit der Alltagswelt, ihre Abgründigkeit, das Leiden an ihr und ihre Schicksalhaftigkeit vor Augen zu führen. Sprachliche und außersprachliche Symbolisierungsaktivitäten verbürgen das Nomische der sozialen Realität stets dann – so lässt sich folgern –, wenn die normalen institutionellen Ablaufmuster und Handlungsschemata des Alltagslebens funktionieren. Aber umgekehrt müssen die Gesellschaftsmitglieder auch immer wieder erfahren, dass sich die institutionellen Ablaufmuster und alltäglichen Handlungen nicht wie geplant verwirklichen. Dies kann je nach Relevanz der gebrochenen Erwartungen die betroffenen Menschen mehr oder weniger tiefgehend enttäuschen und verletzen. Bei den meisten der Erwartungsbrüche handelt es sich freilich nur um Fehler und Missverständnisse, die sehr schnell renormalisiert werden können als technische und kommunikative Unzulänglichkeiten von Handlungsdurchführungen und als unbeabsichtigte Nichtbeachtungen der institutionellen Regeln. Aber hin und wieder wird auch deutlich, dass etwas Grundlegendes am gestörten Interaktionsablauf nicht stimmt: dann z.B., wenn, wie im Falle
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von Kafkas Szenen, Normalisierungsversuche hartnäckig in ihr Gegenteil umschlagen, die konstitutiven Erwartungen (Schütz 1962, S. 12; Garfinkel 1973, S. 190-195, 205; Bohnsack 1973, S. 19-35; Schütze 1975, S. 563-595, 890-905, 1005ff.) an die Interaktionsszene systematisch diskrepant sind und/oder das Interaktionsgegenüber mit Antisymbolen ironisch die Ordnung der Interaktion auf den Kopf stellt. Solche Szenen sind natürlich nicht nur in der an Interaktionsparadoxien ausgerichteten modernen Prosaliteratur vorfindbar, soweit diese mit Quasi-Transkripten der darzustellenden Interaktionsabläufe arbeitet (wie etwa bei Dostojewski, Kafka, Handke – vgl. Schütze 1980). Sie finden sich auch in der empirischen Realität, obwohl es eines gewissen ethnographischen Einfühlungsvermögens für die Erwartbarkeit von paradoxen Interaktionsszenen bei bestimmten Sozial-, Personen- und Sachkonstellationen bedarf, um tatsächlich als soziologischer Beobachter auf solche Szenen zu stoßen. Beispielsweise beginnt eine derartige Szene innerhalb einer Krebspoliklinik2, die in Sachen Chemotherapie in den USA an der Forschungsfront steht, so, dass nicht der onkologische Krankenhausarzt, sondern der Patient, der sich von dem seiner Meinung nach nur oberflächlich freundlichen Interaktionsgegenüber vernachlässigt fühlt, die Visite mit der sonst typisch ärztlichen Einangsfloskel beginnt: „How are you today?“ Es entwickelt sich nun eine Interaktionsszene voll grimmiger Ironie und Anklage gegenüber der netten psychotherapeutischen „Fassade“ der Klinik und ihrem an Gesprächsführungs- und Encounter-Techniken geschulten Personal. Hinter der freundlichen Fassade verbergen sich freilich harte Forschungsinteressen und das harsche Regiment der Notwendigkeit zur Kosteneinsparung, aufgrund dessen schwerstkranke Patienten in desolater körperlicher Verfassung weitgehend der häuslichen Pflege überlassen und nur für wenige Stunden zur Untersuchung und Behandlung in die Klinik einbestellt werden – das selbst dann, wenn das Zuhause kein Zuhause ist und dem Patienten keine unterstützende Pflegeperson im häuslichen oder nachbarschaftlichen Milieu zur Verfügung steht. So ist es auch im Falle des Patienten, der den Arzt mit „How are you today?“ begrüßt. Da er niemanden hat, der ihm auf dem Nachhauseweg behilflich sein kann, er aber aus Gründen der fortgeschrittenen Erkrankung, von Fehlernährung und akuter Dehydratation stets einem Kreislaufkollaps nahe ist, weiß das Klinikpersonal nicht, was es nach der jeweiligen Behandlung mit ihm anstellen soll. Also lässt man ihn stundenlang warten, bis er „an der Reihe ist“ – nämlich immer dann, wenn alle anderen Patienten bereits gegangen sind und man sich um den umbequemen Troublemaker kümmern kann. Der bitter-ironische, verzweifelte Protest des Patienten gipfelt in folgendem formvollendeten Kompliment an die Adresse des Arztes und dessen Reaktion darauf: P. „You are a nice person.“ A: „Well, thanks!“ P: „But that is not good enough for me.“
Das gerade zitierte formvollendete Kompliment ist zusammen mit der Eingangssymbolik der die Beteiligung an den Anrede-Paarteilen (Schegloff 1972) vertauschenden Begrüßungsaktivität des Patienten („How are you today?“) eine bittere, protestierende Ironisierung der Freundlichkeitsfassade der Krebspoliklinik, die das systematische Defizit an Solidaritätsgrundlagen des sozialen Arrangements der Klinik verschleiert. Auf einen direkten Protest hätte das Personal relativ einfach durch argumentative Zurückweisung, Stigmatisierung, Ausgrenzung, Isolierung reagieren können. So wird aber dem netten Arzt – er war übrigens wirklich stets sehr freundlich gegenüber den Patienten – der wahrsagende Spiegel seiner (ihm selber nicht in ihrer trügerischen Qualität durchsichtigen) Freundlichkeit vorgehalten. Das geschieht dadurch, dass der Arzt vom Patienten zunächst in eine scherzhafte
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Interaktion (mit den entsprechenden Kooperationsgrundlagen der wechselseitigen Erheiterung) hineingezogen wird. In dieser Interaktion setzt der Patient – anders als sonst in professionellen Interaktionskontexten – die konditionellen Relevanzen (Schegloff/Sacks 1973) für die Interaktionsbeiträge seines Interaktionsgegenübers, des Arztes. Er kann somit auch jederzeit den Übergang zu einer nicht mehr scherzhaften, direkten Interaktionsmodalität bestimmen. (Diese Interaktionsmodalität beginnt mit dem zitierten Kompliment; es folgt dann eine etwa halbstündige offen-zornige Auseinandersetzung mit wechselseitigen Vorwürfen.) Die Umkehrung der Steuerungskraft der konditionellen Relevanzen im Rahmen einer ironischen Interaktionsmodalität – dies an einem institutionellen Schauplatz, der gewöhnlich durch die umgekehrte Steuerungskraft seitens des Personals (und insbesondere seitens der mächtigen Ärzte!) ausgezeichnet ist, bricht alle institutionellen Erwartungen der Einrichtung, stört gefährlich deren institutionelle Ordnung und stellt die Interaktionsgrundlagen der Hilfe-Beziehung zwischen Arzt und Patient in Frage. Mit seiner ironisch-symbolischen Kommunikation gefährdet der zurückgesetzte Patient also nicht nur situative Interaktionserwartungen, sondern auch die Textur der Kooperationsgrundlagen der Beziehung zwischen Arzt und Patient und das institutionelle Fundament der Sub-Sozialwelt jener KrebsPoliklinik. Manche der systematischen Enttäuschungen und Verletzungen der Interaktionserwartungen betreffen die institutionellen Fundamente eines sozialen Arrangements (eines Milieus, einer Organisation, einer sozialen Welt, einer Sozialbeziehung) oder gar die Grundlagen der interaktiven Gegenseitigkeit schlechthin und die Integrität der beteiligten Selbstidentitäten. Josef K. z.B. muss erleben, dass er von seinen Interaktionsgegenübern als bereits Ausgesonderter behandelt wird, für den nicht die üblichen Verfahrensgepflogenheiten der Renormalisierung gelten. Das verunsichert ihn zunehmend auch selbst: er meint dann, er müsse nun sogar selber für die Wiederherstellung der alltäglichen Ordnung der mit seinen Mitmenschen geteilten Alltagswelt sorgen. Und als er an der Szene des Übergehens seines versuchten Händedrucks seitens seiner Vermieterin Frau Grubach nicht zum ersten und nicht zum letzten Male merkt, dass ihm das nicht gelingt, überfällt ihn mit der Einsicht in die Nutzlosigkeit und Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen eine lähmende Müdigkeit. Durch solche wiederholten Erfahrungen der Vergeblichkeit wird ihm auch selber immer mehr die Einschätzung vermittelt, einem ganz persönlichen systematischen Verhängnis, das zugleich Ausgegrenztheit bedeutet, ausgeliefert zu sein. Kafka demonstriert durch derartige Szenen – Szenen einerseits der systematischen Unstimmigkeit der konstitutiven Unterstellungen an die Interaktionssituation und andererseits der wiederholten Erfahrung der Vergeblichkeit der Renormalisierungsanstrengungen – irritierende, beunruhigende, beängstigende Potentiale der Alltagsrealität; man kann hier – wie der Wissens- und Religionssoziologe Peter Berger das tut – von der „Nachtseite“ oder vom „Chaosaspekt“ der gesellschaftlichen Realität sprechen (Berger 1967, S. 27, 39f., 42ff., 60). Diese Brüchigkeit wird durch eine Gegensymbolik ausgedrückt, die gerade das paradoxe oder den Protest ausdrückende Ergebnis der Renormalisierungsanstrengungen der einen oder der anderen oder aller beteiligten Interaktionsparteien ist. Immer wieder sind freilich auch starke Anstrengungen beobachtbar, diese Gegensymbolik durch die nomischen, „ordentlichen“ Symbole kooperativer Interaktionsbeziehungen und des erwartungssicheren Alltags zuzudecken, weil es schmerzhaft ist, sich die Nacht- bzw. Chaosseite der gesellschaftlichen Realität bewusst zu halten. Kafka hat mit seltener darstellerisch-stilistischer Dichte und Prägnanz die Nacht- und Chaosseite des sozialen Lebens literarisch zum Ausdruck gebracht und die symbolischen
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Mittel demonstriert, mit denen diese bedrohliche, leidensgetränkte Seite der Realität von den Interaktionspartnern aufgezeigt und zugleich auch immer wieder zugedeckt wird. Diese Nachtseite des Lebens ist aber nichts Vorsoziales oder rein Individuelles in extremer sozialer Isolation, wie man vielleicht angesichts Josef K.’s Vereinzelung einwenden könnte. Kafka macht ja gerade deutlich, wie Josef K.’s Interaktionsgegenüber an seinem Verhängnis beteiligt sind: wie sie ihn nämlich gerade dadurch immer mehr sozial aussondern, dass sie ihm wiederholt widerspiegeln, dass mit ihm etwas nicht ganz im Lot sei. Auch wird bei Kafka deutlich, dass der anomische Charakter der Realität sich in einer merkwürdigen, verhängnishaften (sozialen) Regelhaftigkeit vollzieht, an der die Akteure, die sozialen Arrangements der Interaktionsszene und die Betroffenen mitwirken. Das Verhängnis hat Prozesscharakter, nicht nur im Sinne eines Gerichtsprozesses, sondern auch im Sinne von geordneten Entfaltungsmechanismen, welche paradoxerweise gerade das Chaotische der sozialen Realität produzieren. Die Geordnetheit des Verhängnisses bringt Kafka z.T. in Interaktionsszenen zum Ausdruck, die Renormalisierung anstreben, aber mit merkwürdiger Folgerichtigkeit genau das Gegenteil bewirken. Das Chaotische und Verhängnishafte der sozialen Realität wird freilich in den von Kafka präsentierten jeweiligen Einzel-Interaktionsszenen für Josef K. nur punktuell erfassbar. Der Chaos- und Verhängnischarakter erschließt sich Josef K. in seiner ganzen Folgerichtigkeit und Unausweichlichkeit zwingend erst in der hartnäckigen Abfolge solcher punktueller Interaktionsszenen, wie sie sich als strukturelles Verhängnis in seiner Interaktionsgeschichte und seiner biographischen Erfahrung niederschlagen – als ein strukturelles Verhängnis, das bis zu seinem Verurteilungstod führt.
2. Das Konzept der Verlaufskurve und die interpretative Soziologie Man mag sich nun fragen, warum ich mich solange mit Kafka aufgehalten habe. Die Antwort ist ganz einfach: weil Kafka eine wesentliche Klasse von sozialen Prozessen in seinen Werken literarisch verdichtet dargestellt hat, die in der Soziologie gewöhnlich nur am Rande bedacht oder z.T. gar theoretisch ausgeblendet wird. Diese Klasse von sozialen Prozessen wird in der interpretativen Soziologie, insbesondere von interaktionistischen Soziologen, heute gewöhnlich als „trajectory“ oder „Verlaufskurve“ bezeichnet (Strauss et al. 1985, S. 8-39). Systematische Forschungen zu Verlaufskurven sind freilich nicht älter als knapp dreißig Jahre, und zunächst bezogen sie sich nur auf die komplexen und kontingenten Bedingungen, die Krankheitserleidensprozesse, insbesondere von sterbenden Patienten, der professionellen Arbeit von Krankenschwestern und Ärzten setzen (Glaser und Strauss 1968, 1974; Strauss/Glaser 1970). Dass man damit auch ein grundlagentheoretisches Konzept in den Händen hielt, das die interaktiven und biographischen Entfaltungsmechanismen des Erleidens und seiner Veränderungswirkungen auf die Identität des oder der Betroffenen theoretisch-konzeptionell auszubuchstabieren erlaubt, ist erst in den letzten fünfzehn Jahren deutlicher geworden, nachdem man begonnen hat, langgezogene Erleidensprozesse biographieanalytisch zu untersuchen – und zwar das auf der Grundlage autobiographisch-narrativer Interviews, in denen Informanten weitgehend unbeeinflusst vom Forscher ihre Lebensgeschichte aus dem Stegreif erzählen (Riemann/Schütze 1991; Schütze 1981, 1984; Riemann 1987). Der soziale und biographische Prozess der Verlaufskurve ist durch Erfahrungen immer schmerzhafter und auswegloser werdenden Erleidens gekennzeichnet: die Betroffenen ver-
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mögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen. Im Laufe der verhängnisvollen Verkettung von Ereignissen werden sich die Akteure untereinander und auch sich selbst gegenüber fremd; sie reagieren irritiert, gereizt, verständnislos aufeinander, und sie sind erschrocken und traurig über ihr unerklärliches eigenes Verhalten. Das Chaos im Miteinanderleben und in der Haltung zu sich selber wird dann häufig als noch unerträglicher erlebt als die ursprünglichen Ereignisse und Bewegungsmechanismen der Verlaufskurve. Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der gemeinsamen Lebensarrangements (z.B. als Familie, als Freundschafts-Netzwerk) und in die gemeinsame Zukunft geht verloren. Die Betroffenen reagieren auf die immer wieder eintretenden widrigen Ereignisse von Mal zu Mal unangemessener (zunächst hektischer und dann immer mutloser, lethargischer), und diese eigenen Aktivitätsbeiträge der Betroffenen verschärfen noch die Erleidens-, Niedergangs- und Auflösungsmechanismen der Verlaufskurve. Das Verhängnis nimmt jetzt einen quasi-automatischen Verlauf; es ist für die Betroffenen überhaupt nicht mehr vorstellbar, dass der Gang der Ereignisse von ihnen beeinflusst oder gar kontrolliert werden könnte; und folglich werden sie in ihren Lebensorientierungen immer mutloser und in ihren Lebensaktivitäten immer passiver. Die grundlagentheoretische Kategorie der Verlaufskurve ist das Pendant zur grundlagentheoretischen Kategorie des biographischen (bzw. auch interaktiven) Handlungsschemas (Schütze 1981; Kallmeyer und Schütze 1976; Kallmeyer 1985; Schütze 1994b, Kap. 3). Die interpretative Soziologie hat ihre Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse stets von handlungstheoretischen Überlegungen her entwickelt und die systematisch verlaufskurvenhaften Erleidensprozesse aus ihrer Betrachtung ausgeblendet. Unter interpretativer Soziologie verstehe ich hier alle Theorieansätze, die vom sinnhaften, symbolischen, sprachlichen Charakter der sozialen Realität ausgehen; die also betonen, dass die Gesellschaftsmitglieder stets vor der Aufgabe stehen, die Interaktionszüge der Mitakteure und die vorgegebenen sozialen Rahmen der Interaktion sowie die institutionellen Manifestationen der Gesellschaft zu interpretieren, bevor sie selber handeln können. Zur interpretativen Soziologie gehören somit die handlungstheoretischen, verstehenden Theorieansätze von Georg Simmel (1958, S. 1-31, 257-304, 509-512) und Max Weber (1964, S. 1-42, 157-188, 317-488) und ihrer Nachfolger, der wissenssoziologische Theorieansatz von Karl Mannheim (1964, S. 91-154, 308-387, 566-613) und seiner Nachfolger, der figurationstheoretische Ansatz von Norbert Elias (1976, Bd. 1, S. XLVII-LXX; 1993, S. 9-31, 118145) und seiner Nachfolger, der phänomenologische Theorieansatz von Alfred Schütz (1962, S. 3-66; Schütz/Luckmann 1974/1975), Peter Berger und Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1966/1977; Berger 1967, Luckmann 1967), der ethnomethodologische Theorieansatz von Harold Garfinkel (1967, 1973), Aaron Cicourel (1968, 1973, 1975b) und ihrer Nachfolger und der symbolisch-interaktionistische Theorieansatz, der aus der ChicagoSoziologie (Schütze 1987a) und den sprachtheoretischen Überlegungen von George Herbert Mead (1968, Teil II-IV) hervorgegangen ist und heute insbesondere von Howard Becker (1973), Erving Goffman (1973, 1980) und Anselm Strauss (1978a, 1991, 1993) repräsentiert wird. Sicherlich sind in diesem Zusammenhang auch der späte Emile Durkheim und sein Neffe Marcel Mauss mit ihren wissens- und religionsethnologischen Überlegungen zum Kollektivbewusstsein und zu den elementaren Formen des religiösen Verhaltens (Durkheim/Mauss 1969; Durkheim 1981) zu nennen. Die interpretativen Theorieansätze waren stets so sehr von den nomischen, ordnungsstiftenden Leistungen der handlungsmäßigen Symbolisierungsaktivitäten der Gesellschafts-
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mitglieder fasziniert – und davon, wie durch symbolisch strukturierte Handlungen Realitätsgebilde erzeugt werden –, dass sie bis auf wenige Ausnahmen die anomischen, die chaotischen Aspekte der sozialen Realität vernachlässigt haben. Die entscheidende Ausnahme ist hier das Verlaufskurvenkonzept, wie es auf der Grundlage von Vorarbeiten der Chicago-Soziologie (zur sozialen Desorganisation, zur Abweichungskarriere und zur sekundären Devianz) von Anselm Strauss für die Erleidensprozesse von Krankheitsverläufen und für die damit den Arbeitsprozessen des Krankenhauspersonals gesetzen Handlungsbedingungen sowie natürlich auch für diese Arbeitsprozesse selber (einschließlich der sequenziellen Globalstruktur von Arbeitsprozessen, d.h. der Arbeitsbögen) entwickelt (Strauss et al. 1985, Kap. 2; Corbin/Strauss 1988) und von meiner eigenen Arbeitsgruppe auf biographische Abläufe übertragen worden ist (Riemann/Schütze 1991; Maurenbrecher 1985; Nittel 1992; Reim 1994; Riemann 1987; Schütze 1989, 1992). Das Erleiden haben zwar auch der frühe Marx mit dem philosophischen Entfremdungskonzept (Israel 1972), der Durkheim (1973) der mittleren Schaffensperiode mit seiner sozialstatistischen Untersuchung zur Anomie und die Chicago-Soziologen mit ihren Überlegungen zur sozialen Desorganisation (Thomas/Znaniecki 1958, Vol. I, S. 78-86; Vol. II, S. 1647-1827, S. 18521914, S. 2228-2244; Carey 1975, S. S. 95-110, S. 117f.) thematisiert, aber diese Konzepte waren noch nicht empirisch-prozessanalytisch genug, und sie erfassten auch nicht zureichend die Ebene der Definitions- und Interpretationsleistungen der Betroffenen, die allein ja nur überzeugend zum Ausdruck bringen können, was das Erleiden für sie bedeutet. Allgemein lässt sich sagen, dass die interpretative Soziologie lange Zeit einem Kult der rationalhandlungsstrukturierten Weltsicht huldigte (das ist besonders ausgeprägt bei Max Weber – 1964, S. 7ff., 13, 18 – und Alfred Schütz – 1962, S. 67-96; 1964, S. 226-273 – zu beobachten)3 und sich der Verletzbarkeit, der Fragilität sozialer Gebilde und der Abgründe der sozialen Realität kaum bewusst war. Es soll hier nur ganz im Vorbeigehen daran erinnert werden, dass, wenn schon nicht die interpretative Soziologie sich dem Erleidens- und Chaos-Aspekt der sozialen Realität zureichend gewidmet hat, dies noch weniger der Mainstream-Soziologie bescheinigt werden kann, die mit standardisierten quantitativen Daten arbeitet und deshalb dem interpretierten, sprachlichen, situativen Charakter der sozialen Realität keine besondere Aufmerksamkeit widmet. Soziologische Theorienansätze wie der Strukturfunktionalismus und die verhaltenstheoretische Soziologie fußen auf einer ontologischen Konzeption, in welcher die soziale Realität als zuständige – und nicht als prozessuale! – unproblematisch-objektiv in den quantitativen Daten zur Hand ist. Bedeutungsambivalenzen und -abgründe der sozialen Realität finden keine gesonderte methodische und theoretische Beachtung, und soziale Prozesse können im Wesentlichen nur indirekt über den Vergleich unterschiedlicher Zustände methodisch und konzeptionell angegangen werden. Die Aktivitäts- und Verhaltensmodelle für die Gesellschaftsmitglieder, wie sie in den Theorieansätzen der Mainstream-Soziologie vorliegen, berücksichtigen keine interaktive Aushandlung, keine latenten Bedeutungsgehalte, keine gebrochenen Modalitäten, keine paradoxen Situationskonstellationen, keine grundlegenden Identitätsveränderungen sowie keine Verhängnisse und unerwarteten Entfaltungen. Zugrunde liegen sehr einfache Rationalitätsannahmen für menschliches Verhalten und Handeln und eine Haltung prinzipieller normativer Erwartungssicherheit gegenüber der sozialen Realität (vgl. etwa die Kritik von Blumer 1973 und Cicourel 1973). – Solche Annahmen und Haltungen sind natürlich einer Sichtweise abhold, die im Erleiden und in gesellschaftlichen Destrukturierungsprozessen eine prozessuale Realität sui generis zu erkennen meint.
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3. Ein Ablaufsmodell für Verlaufskurvenprozesse Durch zahlreiche empirische Untersuchungen in verschiedensten Problemfeldern des Erleidens (z.B. psychiatrisch auffällig zu werden und als psychiatrischer Patient leben zu müssen – Riemann 1987; als Soldat in den Krieg ziehen und in seinem kollektiven Desaster aushalten zu müssen – Schütze 1989, 1992; Sucht- bzw. Drogenabhängig-Werden und -Sein – Reim 1994; Auswandern und als Fremder leben – Maurenbrecher 1985; extremen Schulschwierigkeiten unterworfen zu sein – Nittel 1992; usw.) sind folgende Stadien und Mechanismen der Entfaltung von Verlaufskurven deutlich geworden: –
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(zumeist) allmählicher Aufbau eines Bedingungsrahmens für das Wirksamwerden einer Verlaufskurve: des Verlaufskurvenpotentials; dieses hat in der Regel eine Komponente biographischer Verletzungsdispositionen und eine Komponente der Konstellation von zentralen Widrigkeiten in der aktuellen Lebenssituation (mit Quellen für systematische Schwierigkeiten der Lebens- und Alltagsgestaltung); diese beiden Komponenten wirken mit Fallentendenz ineinander; die Fallentendenz ist dem Betroffenen in der Regel mehr oder weniger verborgen, obwohl ausdeutbare Vorzeichen für die drohende Verlaufskurve durchaus gefunden werden könnten; plötzliche Grenzüberschreitung des Wirksamwerdens des Verlaufskurvenpotentials in dem Sinne, dass der Betroffene seinen Lebensalltag nicht mehr aktiv-handlungsschematisch gestalten kann; stattdessen dynamisiert und konkretisiert sich das zuvor latente Verlaufskurvenpotential zu einer übermächtigen Verkettung äußerer Ereignisse, auf die der Betroffene zunächst nur noch konditionell reagieren kann; Erfahrungen des Schocks und der Desorientierung herrschen vor; Versuch des Aufbaus eines labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung, nachdem die erste Schockerfahrung und der damit einhergehende Verwirrungszustand überwunden sind; dieses labile Gleichgewicht steht aber weiterhin unter dem dominanten Wirksamkeitsdruck des Verlaufskurvenpotentials; das neue Lebensarrangement bleibt also prinzipiell unstabil, weil die eigentlichen Determinanten des Verlaufskurvenpotentials – angesichts des Fehlens einer wirksamen Handlungskompetenz bei den Betroffenen – nicht bearbeitet und unter Kontrolle gebracht werden können; Entstabilisierung des labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung („Trudeln“): durch die schockartigen Erfahrungen der Verlaufskurvengrenzüberschreitung und die Anstrengungen der Bewältigung des labilen Gleichgewichts wird der Betroffene sich selbst fremd: er versteht sich selber nicht mehr, weil er nicht mehr so handeln kann, wie er früher handeln konnte; er verbraucht die restlichen Energien, um ein labiles Gleichgewicht „irgendwie“ aufrechtzuerhalten; die Überfokussierung auf den einen Aspekt der Problemlage bewirkt die Vernachlässigung anderer Problemaspekte, die sich mehr oder weniger unkontrolliert weiterentfalten können; die verschiedenen Problemaspekte und die inadäquaten Reaktionen des Betroffenen darauf wirken im Sinne einer kumulierten Unordnung („cumulative mess“ – Strauss et. al 1985, S. 163-181) ineinander; ein zusätzliches Belastungsereignis – im Falle des Alkoholikers z.B. der Verlust des Führerscheins – führt dann dazu, dass das labile Gleichgewicht einer Verkettung von Alltagsproblemen weicht, die immer weniger beherrschbar sind; Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung: die plötzliche Massierung der Alltagsprobleme bewirkt eine totale Falsifikation des Erwartungsfahrplans für das tägliche Leben; diese steigert sich zu dem alles umfassenden Zweifel, ob
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Fritz Schütze die Alltagswelt (die eigenen Reaktionsweisen eingeschlossen) auf die bisher übliche Weise funktioniert: die Kompetenz zur Alltagsorganisation geht endgültig verloren; zugleich verliert der Betroffene das Vertrauen zu sich selbst und zu seinen signifikanten anderen – dies in einer Situation, in der sie eigentlich besonders wichtig wären; er erfährt sich unfähig zu jedweder Handlung, sozialer Beziehung, Selbstbeziehung; und deshalb begegnet er sich selber mit Misstrauen, krasser Ablehnung, Hoffnungslosigkeit; Versuche der theoretischen Verarbeitung des Orientierungszusammenbruchs und der Verlaufskurve; die Erfahrung der totalen Handlungsunfähigkeit, Fremdheit sich selbst gegenüber und Weltentzweiung zwingt den Betroffenen zu radikal neuen Definitionen der Lebenssituation; diese Definitionen weisen die Dimensionen der Erklärung der Bedingungen des Erleidensprozesses (z.B. durch Erkenntnis des Verlaufskurvenpotentials), der moralischen Einschätzung (Ablehnung, Anklage, Annahme, Rechtfertigung usw. des Erleidens) und der Ausbuchstabierung der Auswirkungen des Erleidensprozesses für die bisherige, gegenwärtige und zukünftige Lebensführung auf; die theoretische Verarbeitung kann authentisch, d.h. seitens der Betroffenen selbstgeleitet, sein (und zu dieser authentischen Verarbeitung vermögen professionelle Helfer und signifikante andere – Berger/Luckmann 1966, S. 121ff., 137-140 – behutsam beizutragen), oder sie kann aus einer schablonenhaften Übernahme fremder Erklärungen bestehen, ohne dass eine wirklich erlebensspezfische biographische Durcharbeitung der Verlaufskurvenprobleme seitens der Betroffenen stattgefunden hätte; sowie praktische Versuche der Bearbeitung und Kontrolle der Verlaufskurve und/oder der Befreiung aus ihren Fesseln; hier sind die Haltungsformen der Flucht aus der verlaufskurvenförmigen Lebenssituation (ohne eine letzlich wirksame Kontrolle des Verlaufskurvenpotentials), der systematischen Organisation des Lebens mit der Verlaufskurve (in den Fällen, in denen das Verlaufskurvenpotential nicht mehr zerstörbar ist, wie etwa bei einer chronischen Krankheit) sowie der systematischen Eliminierung des Verlaufskurvenpotentials unterscheidbar.
Die Verlaufskurvenentfaltung muss sich nicht zwangsläufig in der Reihenfolge der angegebenen Stadien vollziehen; insbesondere muss es bei Verlaufskurvenentfaltungen nicht unbedingt zur Entstabilisierung der Lebenssituation und zum Orientierungszusammenbruch kommen; auch müssen nicht unbedingt irgendwann die Stadien der theoretischen Verarbeitung und der praktischen Kontrolle der Verlaufskurve eintreten; schließlich können diese Stadien der „Bewältigung“ der Verlaufskurve u.U. auch schon vor dem Stadium des Orientierungszusammenbruchs eintreffen. Darüberhinaus lassen sich spezifische Mechanismen der Abweichung vom elementaren Verlaufskurvenskript aufweisen, die hier nur lakonisch beim Namen genannt werden sollen: Bremsmechanismen (in der Alkoholismus-Verlaufskurve z.B. die Vermeidung von Trinkanlässen), unerwartete Erweiterungen der Verlaufskurve (wie z.B. die Stigmatisierung – Goffman 1967 – als Trinker durch Berufskollegen oder das Risiko, die Arbeitsstelle zu verlieren), Transformationen der Verlaufskurve (z.B. die Ausbildung von Selbsttäuschungsmechanismen oder die systematische Beschädigung der sozialen Reziprozität – Mead 1968, S. 112f., 192f., 273-346; Garfinkel 1963, 1973, S. 205ff.; Kallmeyer 1979; Schütze 1975, S. 563595, 890-905, 1005ff.; Schütze 1978, 1980, 1987a, S. 532ff. – mit signifikanten anderen durch suchtverursachte Vertrauensbrüche, wie Diebstähle), sowie Reinterpretationen der Höhepunktsereignisse der Verlaufskurvenerfahrung (nach einschneidenden Erlebnissen oder in Phasen des labilen Gleichgewichts – dies, entsprechend, entweder mit der Funktion der Dramatisierung oder aber der Normalisierung der Verlaufskurve und der jeweils damit verbundenen Folgen für deren Bearbeitung).
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4. Alkoholismus-Verlaufskurven: ein Beispiel Die grundlagentheoretische Verlaufskurvenkonzeption bietet gerade für das Leben mit eigenem, tiefgreifendem, nur schwer kontrollierbarem Erleiden (wie dem Leben mit einer psychiatrischen Erkrankung, mit der Drogenabhängigkeit) – und u.U. auch für die Konstellationen der Verursachung dieses Erleidens – erhebliche analytische Klärungsmöglichkeiten. Dies soll im Folgenden in der gebotenen Kürze, und deshalb unvollständig, an der Frage von Erleidensprozessen von Alkoholikern (und natürlich gerade auch ihrer Angehörigen!) sowohl allgemein als auch beispielspezifisch erläutert werden. Mit empirischen Verlaufskurvenforschungen ließe sich auf die Dauer die zentrale Forschungsfrage der Suchtdiagnostik und -therapie klären, unter welchen Bedingungen das Suchtverhalten selber und seine Subkultur – wie etwa das „Geselligkeitstrinken“ – zur primären Bedingungskonstellation der Suchtverlaufskurve gehören und unter welchen Bedingungen die Stoffabhängigkeit aus der biotischen Transformation einer zunächst andersartigen, d.h. zumeist: sozialen, Erleidensverkaufskurve hervorgeht. Zudem sind mit der Verlaufskurvenkonzeption zahlreiche Mechanismen des Suchtverlaufs unter Einbeziehung der Interventionen von signifikanten anderen sowie ehrenamtlichen Helfern und professionellen Suchttherapeuten genauer theoretisch-empirisch erforschbar: So kann einerseits rekonstruiert werden, wie die Behandlungsarbeit und -karriere von den Betroffenen erlebt und interpretiert wird – und das heißt auch: was wesentliche Bedingungen ihrer Mitarbeit in der Therapie- und Rehabilitationsarbeit sind. Und andererseits sind Knotenpunkte der Entfaltungsdynamik der Sucht besser erfassbar: z.B. Transformationsprozesse, in denen durch das Suchtverhalten und -erleben die Vertrauensbeziehungen zu den signifikanten anderen zerbrechen oder in denen sich Strategien der verzerrten Realitätswahrnehmung herausbilden. Und weiterhin sind die zentralen „Fehler“ der Therapeuten „bei der Arbeit“ leichter lokalisierbar. Schließlich sind mit dem Verlaufskurvenkonzept die Dimensionen der biographischen Arbeit des Alkoholsuchtbetroffenen, die in der Rehabilitationskarriere vermutlich eine wesentliche Rolle spielt, sehr gezielt erforschbar. Die analytische Erkenntnisfunktion des Verlaufskurvenkonzepts für die Untersuchung der biographischen Genese der Alkoholabhängigkeit soll nun an einem abgekürzten Beispiel kurz demonstriert werden. Zusammen mit Kollegen4 und Mitarbeitern habe ich eine Anzahl von autobiographisch-narrativen Interviews (Schütze 1983, 1987b) mit gegenwärtigen und früheren Alkoholabhängigen durchgeführt. In einem autobiographisch-narrativen Interview erzählt der Informant weitgehend unbeeinflusst vom Interviewer seine Lebensgeschichte. Nach der Erzählkoda (z.B.: „Das war’s Herr Schütze. Es ging auf und ab. Aber insgesamt meine ich, ich bin ganz gut durchgekommen.“, usw.) versucht der Interviewer, durch weitere narrative Nachfragen noch das zusätzliche Erzählpotential aufzuspüren, das in der Anfangserzählung bereits andeutungsweise aufgeschienen ist (z.B.: „dazu könnte ich noch viel mehr erzählen, aber ich will erst einmal meinem roten Faden folgen.“). Über Kontakte mit einer Gruppe anonymer Alkoholiker bin ich Ende der Siebziger Jahre auf den Informanten Hermann gestoßen. Er hat mir rd. vier Stunden lang – die Transkription umfasst 103 engbeschriebene Seiten – seine Lebensgeschichte erzählt. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte Hermann seinen Alkoholismus hinter sich gelassen, und er lebte mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen. Hermann, 1918 geboren, war Malermeister mit eigenem gutgehenden Betrieb. Im folgenden gebe ich in extrem abgekürzter Form Ergebnisse der strukturellen Beschreibung des narrativen Interviews wieder (für eine eingehendere Lektüre vgl. Schütze
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1992). In einer strukturellen Beschreibung werden die formalen Textstrukturen benutzt, um die Erinnerungsaufschichtung von spezifischen sozialen und biographischen Prozessen herauszuarbeiten, die dem Betroffenen nicht in allen Aspekten und insbesondere auch nicht unbedingt in ihrem systematischen Zusammenhang mit anderen spezifischen Prozessen auf derselben Konstitutionsebene der sozialen Realität – wie z.B. der biographischen Ebene – oder auf anderen Konstitutionsebenen – wie derjenigen der kollektivhistorischen Prozesse – durchsichtig sind. Eine strukturelle Beschreibung geht sequenziell vor und orientiert sich zunächst an den formalen Einschnitten zwischen den Darstellungsaktivitäten, im narrativen Interview insbesondere zwischen den Erzähleinheiten, die gekennzeichnet sind durch Rahmenschaltelemente folgender Art: absinkende Intonation, Sprechpause, Neuansatz mit parasprachlichen Äußerungen wie „/eh/“, steigende Intonation, Einleitungskonjunktoren wie „ja und dann“, und die außerdem charakterisiert sind durch eine spezifische Binnenstruktur mit Einleitungsteil, Erzählgerüstsätzen, Erzähldetaillierungen usw. (vgl. Schütze 1984, 1987b; Schütze et al. 1993). Nach vollzogener struktureller Beschreibung werden dann aus dem Text durchlaufende fallspezifische und fallübergreifende Merkmale und Mechanismen von sozialen Prozessen – wie solche der Verlaufskurve oder des Wandlungsprozesses – analytisch abstrahiert. – Die folgenden Passagen werden der leichteren Verständlichkeit halber im Stil einer Nacherzählung des Interviews präsentiert; sie sind aber z.T. nur erzählbar auf der Grundlage einer eingehenden strukturellen Beschreibung und der daraus abgeleiteten analytischen Abstraktion des Hermann-Interviews. Hermann war in der Schule ein Überflieger gewesen, hatte aber dort Probleme gehabt, weil er des öfteren mit dem autoritären Lehrpersonal konfligiert hatte. Er schloss sich später nicht wie viele andere Jugendliche dem Nationalsozialismus an, sondern orientierte sich stets am sozialdemokratischen Vorbild seines Vaters. Den Arbeitsdienst und die Militärzeit erlebte er angesichts der autoritären Strukturen als schwer auszuhaltenden Druck, wenn er auch das Leben in der militärischen peer group als Emanzipation von seiner Ursprungsfamilie, insbesondere von der sozialen Kontrolle durch seine ältere frömmelnde Schwester, nutzen konnte. Noch vor dem Kriege hatte Hermann mit besten Noten seine Gesellenprüfung als Maler und Dekorateur bestanden. Nach dem Kriege ging er dann alsbald zur Meisterschule und schloss auch diese mit dem besten Ergebnis des Jahrgangs ab. Sein biographisches Handlungsschema (Schütze 1981, S. 70-88), das er schon vor dem Kriege entwickelt hatte, bestand darin, Gewerbelehrer zu werden und dann möglicherweise noch einmal erneut als Student an eine Kunsthochschule zu gehen oder doch zumindest im Zusammenhang des Gewerbelehrerstudiums sich in die Welt der Malerei zu vertiefen. Denn er hatte eine besondere Neigung, Kunst zu produzieren, insbesondere zu malen. Dieses biographische Handlungsschema, das ihn hätte in die Lage versetzen sollen, seinem eigenen kreativen Wandlungsprozess (Schütze 1981, S 103-116, 1994a) als Künstler, insbesondere als Kunstmaler, Raum zu geben, wurde aber durch die familiäre Lebens- und Abhängigkeitskonstellation nach dem Kriege verhindert. Hermanns Mutter und insbesondere seine (ältere) Schwester flehten ihn an, eine eigene Malerfirma zu eröffnen, um auf diese Weise seine Ursprungsfamilie materiell unterhalten zu können. Am Beginn des zweiten Weltkriegs war Hermanns Vater an den Folgen von Kriegsverletzungen aus dem Ersten Weltkrieg verstorben, und dann war der Ehemann der Schwester als Soldat gefallen. Es dürfte deutlich sein, dass die biographische Gesamtformung von Hermanns Leben – d.h. der zeitlich aufgeschichtete Gesamtzusammenhang der für sein bisheriges Leben maßgeblich gewesenen und der ihn in der Interview-Gegenwart bestimmenden biographischen Prozesse (z.B. die Abfolge eines biographischen Handlungsschemas der Planung und Ge-
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staltung einer Lern- und Bildungskarriere und der durch das kollektive Desaster Nazideutschlands und die entsprechende Kriegserfahrung ausgelösten Verlaufskurve (vgl. Schütze 1981, 1984) – bis zu diesem Zeitpunkt die eines durch den Krieg aufgeschobenen bzw. verhinderten biographischen Wandlungsprozesses, nämlich Künstler zu werden, und des damit verbundenen biographischen Handlungsschemas, ein Gewerbelehrerstudium zu absolvieren, gewesen ist. Das biographische Prinzip des Wandlungsprozesses wird dann als zentrale Haltung dem eigenen Leben gegenüber und als dessen Organisationsprinzip dominant, wenn intensive Erlebnisse der Entfaltung oder gar des Ausbruchs an persönlicher Kreativität auftauchen (mit denen die oder der Betroffene anfangs oft überhaupt nicht geordnet umgehen kann). Hermann war es z.B. rätselhaft, warum er den absoluten Farbsinn hatte, jegliches farbliche Mischungsverhältnis sicher herstellen konnte und ein traumwandlerisch gutes geometrisches Vorstellungsvermögen hatte. Unter seinen Lehrern in der Gesellen- und Meisterausbildung waren ihm signifikante andere bzw. biographische Sachwalter entgegengetreten, die ihn auf seine enorme Begabung aufmerksam gemacht hatten. Hermann bricht nun aus ohnmächtiger Wut, dass seine Schwester, die früher immer ihren Altersvorsprung ihm gegenüber ausgespielt hatte und mit der er sich nie sehr gut verstanden hatte, ihn in die Rolle des Geldverdieners für die Familie zwingt, seine geliebte Pfeife – unmittelbar nach dem Kriege eine nicht ersetzbare Kostbarkeit für Hermann und das materielle Symbol der Unantastbarkeit seiner persönlichen Lebenssphäre und biographischen Unabhängigkeit – kaputt, fügt sich dann aber in seine Zwangsrolle und eröffnet einen sofort erfolgreichen Malereibetrieb. Gleichwohl ist dieser Einschnitt in seinem Leben zunächst der biographische Übergang zum Verlaufskurvenprinzip. Wir wissen aus vielen anderen autobiographischen Interviews, dass sich die Verhinderung von zunächst dominanten Wandlungsprozessen biographisch stets im Sinne einer lähmenden Verlaufskurvenerfahrung auswirkt. Hermann sagt schon in einer frühen Erzählpräambel, in der er die Darstellung seines verzögerten und später verhinderten Wandlungsprozesses einleitet: „Ich konnte Stücke bis zur Perfektion streichen. Und dann ekelte es mich an.“ (S. 15, 32-34) „In Wirklichkeit hat’s wahrscheinlich auch etwas damit zu tun, daß ich beruflich nie ausgefüllt war.“ (S. 16, 1/2) „[...] all diese Dinge, wo ich wirklich Felder hatte, die sind überhaupt nicht angezapft. Und das ist auch mit Sicherheit ’n bewußtes Leiden. Verunsichern, – eh – leer sein, immer wieder Hunger nach irgend etwas, was man nicht befriedigen kann.“ (S. 16, 28-34)
Hermann hat damit sehr eindrücklich Aspekte des systematischen Verlaufskurvenpotentiales für seinen späteren langfristigen Erleidensprozess ausgedrückt, der im exzessiven Alkoholismus gipfelt. Hinzu kommt freilich noch ein weiterer Aspekt des Verlaufskurvenpotentials: obwohl Hermann nie Nazianhänger gewesen war, hatte auch er in der Nazizeit und insbesondere als Soldat im Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen der Desavouierung der kollektiven Sinnressourcen der deutschen Gesellschaft und ihrer Moralgrundsätze (z.B. solcher der mitmenschlichen Gegenseitigkeit) zu leben. Das stellte auch ihn in seiner weiteren biographischen Entwicklung unter die Bedingung des Lebens ohne den selbstverständlichen Bezug auf ein intaktes symbolisches Universum4 der Gesellschaft. (– Darauf werde ich später näher eingehen.) Zunächst, nachdem er seine Firma gegründet hat, gelingt es Hermann, die Wirksamkeit des Verlaufskurvenpotentials ruhigzustellen. Denn er heiratet eine Frau, die intensiv künstlerisch tätig und intellektuell-religiös orientiert ist. In Ansehung ihrer künstlerischen Produktion und im Gespräch mit ihr kann er zumindest vermittelt-indirekt kreative Momente erleben. Aber seine Frau, mit der er einen Sohn hat, stirbt nach langer Krankheit, die sie zur
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körperlichen Gelähmtheit und Pflegebedürftigkeit verurteilte, sehr früh, und das Verlaufskurvenpotential – vertieft durch die Trauer über den Tod der geliebten Frau, die für ihn auch noch in ihrer Hilflosigkeit auf dem Krankenlager die einzige zentrale Sinnquelle blieb – beginnt wieder wirksam zu werden. Hermann versucht, sein mutloses, depressives Lebensgefühl durch zahlreiche Partybesuche und Geselligkeiten zuzudecken. Bei einer solchen Gelegenheit lernt er dann auch seine sehr viel jüngere zweite Frau kennen, mit der er dann alsbald nach der Heirat ein Leben der systematischen Ablenkung von ihren und seinen tieferliegenden biographischen Problemen zu führen beginnt: durch zahlreiche oberflächliche Freizeitgeselligkeiten, die mit Gewohnheitstrinken verbunden sind, kann Hermann ein labiles Gleichgewicht seiner Alltagsbewältigung aufrechterhalten und die Sinnleere und den tiefen Kummer der thematischen Ungesättigtheit seines Lebens mit Sinn – einer Sinnungesättigtheit angesichts der Verhinderung künstlerischer Entfaltungsmöglichkeiten – ausblenden. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Alkoholiker; der Kernmechanismus der Aufrechterhaltung eines labilen Gleichgewichts im Zuge der Verlaufskurvendynamik ist die die Zeit totschlagende und fragenausblendende Partygeselligkeit. Aber Hermann hat schon jetzt die technischen Verfahren und Alltagsroutinen für das Trinken eingeübt. Als Hermann bemerkt, dass seine zweite Frau, mit der er immer mal wieder vergeblich tiefergehende Gespräche über ihre und seine Probleme gesucht hat, eine Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen hat, der seiner Meinung nach eine Karrikatur des südländischen romantischen Liebhabers ist, entstabilisiert sich das labile Gleichgewicht seiner Alltagsbewältigung, und er beginnt, quartalsweise exzessiv zu trinken. Es kommt jetzt zu beruflichen Ausfällen, und die Beziehung zur Ehefrau wird immer schlechter. Aber keine(r) der beiden Beteiligten hat die Kraft, eine entschlossene biographische Initiative zur Veränderung zu ergreifen. Auf diese Weise entwickelt sich eine systematische Fallensituation, in welcher die Betroffenen gleichsam weder leben noch sterben können. Wir wissen aus der Analyse vieler autobiographisch-narrativer Interviews, dass das Festgehaltenwerden in einer solchen Fallensituation (vgl. Hüllenhütter-Zimmermann 1983; Schütze 1994b, S. 238-247) – ob Berufsfalle, Studienfalle, Familienfalle, Ehefalle – Menschen in besonderen Auslösesituationen dazu bringt, ihre Erleidensverlaufskurve in einen anderen Problembereich zu transformieren. Nachdem Hermann von seiner Frau mit einem neuen Liebhaber konfrontiert wird, verprügelt er sie, und er versteht sich selbst nicht mehr angesichts einer solchen brutalen Reaktion; er ist sich selber fremd geworden. Die Transformation der Verlaufskurve ist hier darin zu sehen, dass Hermann nicht mehr die Standards des verständnisvollen, sorgenden, solidarischen, fairen Verhaltens aufrechterhalten kann, die für sein Leben bisher bestimmend gewesen sind. Hermann muss mit Erschrecken feststellen, dass sein Leben und seine Identität einer Entmoralisierungstransformation unterworfen sind. Aufgrund dieser Einsicht beginnt er, sich selbst zu verachten. Dadurch werden seine Widerstandskräfte noch mehr aufgezehrt. Während er zuvor noch einen systematischen Versuch der Entgiftung und der anschließenden Abstinenz unternehmen konnte, bricht jetzt jede organisierte Gegenwehr gegen die Verlaufskurvendynamik zusammen. Hermann beginnt schon morgens zu trinken, um im nachfolgenden für ihn immer beschwerlicher werdenden Alltag noch „irgendwie“ funktionieren zu können. Als wieder einmal die Vertröstung von ungeduldigen Kunden seiner Malerwerkstatt schwierig ist und ihm die Unhaltbarkeit und Verächtlichkeit seiner Situation voll bewusst wird – also seine Alltags- und Identitätsorientierung endgültig zusammenbricht –, unternimmt er einen Selbstmordversuch. Dieser Selbstmordversuch ist zugleich sowohl Ausdruck des absoluten Orientierungszusammenbruchs als auch ein verzweifelter intentionaler Handlungsversuch der Befreiung aus der nunmehr un-
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erträglichen Fallensituation, die für Hermann an Möglichkeiten der Haltung zu sich selbst nur noch Selbstverachtung übrig gelassen hat. Hermann wird durch das Eingreifen seiner Frau vom Tode errettet, und er versucht zunächst einmal – wie gehabt – mit einem Wechsel von Abstinenz und Quartalssaufen weiterzuleben. Aber er macht jetzt immerhin deutlich systematischere Versuche, aus seiner desolaten Situation herauszukommen und das Trinken aufzugeben. In einer solchen Abstinenzphase wird ihm einmal auf einer Ausflugsreise, die er zusammen mit seiner Frau unternimmt, von einer fremden Person gesagt, dass er offensichtlich die falsche Lebenspartnerin habe. Zunächst versucht er weiterhin, vor dieser für ihn immer noch schmerzhaften Selbsterkenntnis durch eine neue Saufphase zu entkommen, dann trennt er sich aber doch von seiner Frau. In dieser sehr schwierigen, von Trinkexzessen immer wieder unterbrochenen Phase eines entschlossenen Handlungsschemas des Entkommens aus den Mechanismen der Alkoholismusverlaufskurve hilft ihm sein Sohn, der gerade seine Wehrpflicht ableistet und zur Krisenunterstützung seines Vaters seine zeitweilige Beurlaubung bei der Bundeswehr durchsetzen kann. Soweit das Hermann-Beispiel, an dem die Mechanismen der Verlaufskurvendynamik, die Phasen der Verlaufskurvenentfaltung, die Transformation der Verlaufskurve in andere Verhaltens- und Erleidensbereiche und vor allen Dingen die langfristige Wirksamkeit des ursprünglichen Verlaufskurvenpotentials deutlich werden. Ich möchte nun noch einmal genauer die Art und die Wirksamkeit des Verlaufskurvenpotentials in Betracht ziehen. Es ist diesbezüglich zunächst einmal festzuhalten, dass in Hermanns Lebensgeschichte das primäre Verlaufskurvenpotential (der Verhinderung eines künstlerischen Wandlungsprozesses) als der eigentliche Bewegungsmechanismus seiner Alkoholismus-Verlaufskurve nichts mit dem Alkoholismus (als Stoffabhängigkeit) selber zu tun hat. Dies widerspricht all denjenigen Alkoholismus-Theorien, welche eine frühe lebensgeschichtliche Disposition zum übermäßigen Alkoholgenuss annehmen, d.h. Alkoholismus als eine Primärkrankheit ansehen. Die Verwendung der Alkoholsubstanz ist für Hermann nach dem Tode seiner geliebten ersten Frau ein Mittel, um neben der einschneidenden Verlusterfahrung das tiefgehende Leiden an seiner uneigentlichen Lebenssituation, nämlich dass er nicht seinem eigenen biographischen Möglichkeitshorizont der kreativen Wandlung entsprechend lebt, zuzudecken. Hermann bringt das selber angesichts der Kommentierung seiner fortgeschrittenen Ehefallen-Situation auf den Begriff: „Diese Bewusstlosigkeit wurde echt ... von mir, glaube ich, mit Sicherheit angestrebt“ (S. 79, 52-54). Der Griff nach der Betäubungssubstanz des Alkohols hat also zunächst einmal eine Funktion als wirksames somatisches Mittel einer Verlaufskurventransformation der Ausblendung. Die primäre Verlaufskurve ist nicht eine des Alkoholismus, sondern die des Leidens an einem behinderten, arretierten Wandlungsprozess der intellektuellen und künstlerischen Entfaltung.
5. Kollektive Verlaufskurven und Entmoralisierungstransformationen Ich hatte gesagt, dass als Wirkpotential für Hermanns Verlaufskurve der Verhinderung eines kreativen Wandlungsprozesses und des Leidens an einem Leben in der Uneigentlichkeit der Zwang zur Wahrnehmung eines ungeliebten handwerklichen Berufs zu nennen ist. Dieser Zwang wird zunächst von der Ursprungsfamilie (d.h. durch die materielle Unversorgtheit von Schwester und Mutter) in das Leben Hermanns eingeführt, zeugt sich später dann
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aber selbsttätig fort, d.h. er wird auch in das ganz andersartige Leben mit der zweiten Ehefrau, das durch ein hohes materielles Anspruchsniveau und zeitlich aufwendiges PartyFreizeitverhalten geprägt ist, fest inkorporiert. Strukturelle Bedingungskonstellationen für das Verlaufskurvenpotential sind die Kriegseinwirkungen, denen die übrigen männlichen Familienmitglieder durch den Tod zum Opfer gefallen sind und die die enorme materielle Not dieser und vieler anderer Familien nach dem Kriege zur Folge haben. Ich kann hier nur den grundlegenden Gedanken andeuten, dass Hermanns individuelle Verlaufskurve durch die kollektive Verlaufskurve der deutschen Gesellschaft in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg (vgl. Schütze 1989, 1992) konstelliert und ausgelöst worden ist. Eine kollektive Verlaufskurve ist durch einen massiven Zusammenbruch der Welt- und Lebenserwartungen gekennzeichnet. Die Fähigkeit zur individuellen und kollektiven Handlungsplanung und -durchführung geht in dramatischem Ausmaße verloren; denn die Menschen reagieren sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene irritiert auf den Zusammenbruch der Ereigniserwartungen. Viele Mitglieder der sozialen „Wir“-Gemeinschaften haben eine dramatische Verschlechterung der sozialen Beziehungen zu gewärtigen; Interaktionsregeln brechen zusammen. Beeinträchtigt ist entsprechend auch der Diskurszusammenhang der Zuschreibung, Gestaltung und Reflexion kollektiver Identität und der damit verbundenen Identitätsgefühle. Das Gegenprinzip der kollektiven Verlaufskurve, wie sie die deutsche Gesellschaft in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg durchlaufen hatte, ohne dass Gegenwehr wirklich wirksam wurde, ist das Prinzip des kollektiven Wandlungsprozesses – des Prozesses der Wandlung einer sozialen Konstellation der Gesellschaft (oder auch einer anderen – kleineren oder größeren – „Wir“-Gemeinschaft), die eine Explosion von neuartigen kreativen Gestaltungsmöglichkeiten im individuellen und kollektiven Lebensbereich bewirkt. Dieses gesellschaftliche Organisationsprinzip ist für die amerikanische Gesellschaft in der Zeit des zweiten Weltkriegs und unmittelbar nach diesem kennzeichnend (vgl. Schütze 1989, S. 32, 53-59). Wie wir am Beispiel der Lebensgeschichte von Hermann sehen können, gehört zur kollektiven Verlaufskurve natürlich gerade auch der Umstand, dass das kollektive Chaos für Einzelne und für Gruppen die Organisationsordnung der Alltagswelt und ihrer Arbeitsverrichtungen zusammenbrechen lässt und für diese Betroffenen heteronome Zwangsrahmen (bestehend aus materieller Not, widrigen Sachnotwendigkeiten, lähmenden kollektiven Drohgebärden usw. – vgl. Matthes/Schütze 1973, S. 34ff.; Schütze 1975, S. 57 sowie Kap. 9.8 – 11.1 und 11.4) aufspannt – wie die Unabänderlichkeit, in der Spätadoleszenz nicht wie in Nicht-Krisenzeiten der eigenen biographischen Such- und Planungslinie nachgehen zu können, sondern sich stattdessen für sich selber und für die Mitglieder der eigenen Soldiaritätsgruppe um elementare Lebensnotwendigkeiten wie die materielle Subsistenzsicherung kümmern zu müssen. Schaut man allerdings den transkribierten Text des Hermann-Interviews genauer an, dann entdeckt man, dass die kollektive Verlaufskurve, die das Wirkpotential für Hermanns individuelle Fremdheits- und Alkoholismus-Verlaufskurve gespeist hat, noch sehr viel tiefliegender und umfassender ist als zunächst angenommen. Hermann drückt das selber mit dem diffusen höheren, d.h. abstrakt zusammenfassenden, Prädikat (Cicourel 1975a; Kamlah/Lorenzen 1967, S. 27-31) der „Drücke“ bzw. „Zwänge“ aus, denen er in seiner Zeit als Jugendlicher und Erwachsener im Nationalsozialismus und speziell auch in der totalen Institution (Goffman 1973) der Militärorganisation ausgeliefert gewesen sei. Dieses höhere Prädikat taucht zunächst als suprasegmentale5 Einleitung der Darstellung des Gesamtkomplexes seines Erlebens der Arbeitsdienst- und Militärzeit auf, wenn er formuliert: „Während meiner Arbeitsdienst- und Rekrutenzeit ... den Zwang, Zwang ertrug ich immer grausam, auch heute nicht“ (S. 9, 44-47). Das höhere Prädikat der Zwänge bzw. Drücke wird dann im
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Darstellungstext des Informanten immer wieder zur Darstellung und Kommentierung innerer Befindlichkeiten während des Arbeits- und Militärdienstes benutzt, die für ihn offensichtlich eine von den organisatorischen Kontrollen und Zwängen der totalen Institution ausgelöste Verlaufskurvenerfahrung beinhalten: „Die ganze Zeit lebte man ja nicht, man existierte. Man ertrug es ja nicht. Und schon (besonders) jemand, der Drücke nicht ausstehen kann, der darunter leidet. Ich kann da nichts mehr anderes tun, als abzuschalten. [...] Ich konnte nicht, wenn ich dachte über die Dinge, dann wurde mir der Druck zu hart“ (12, 57-13, 8).
Hermann macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass er entsprechend die Überlebensstrategie des Ausfilterns aus dem Bewusstsein und des Auf-Stur-Schaltens in der Interaktion entwickelt. Gegenstand solcher Ausblendungspraktiken (Schütze 1989, S. 82-89, 93-101, 109; 1992, S. 197, 350-354, 356, 359) Hermanns sind zunächst einmal die für ihn unsinnigen Organisationsmechanismen des Arbeitsdienstes und der Militärmaschinerie, in die er einverleibt worden ist. Aber die Ausblendungspraktiken richten sich auch auf die einschneidenden Irritationen angesichts des Sinn- und Moral-Vakuums, das die Nazigesellschaft und ihre Angriffsund Unterdrückungsarmeen durch ihre massenhaften Kriegs- und Zivilverbrechen auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz erzeugt haben. So erinnert sich Hermann später – lange nach dem Kriege –, als er sich in einer zentralen Lebenskrise befindet, die in der unmittelbaren Todesbedrohung seiner Frau und seines gerade zur Welt kommenden Kindes in einem extrem kritischen Geburtsverlauf besteht, an Indoktrination und Sinnverlust während der Nazizeit: „Nun haben wir ja eine unwahrscheinlich komprimierte Jugend gehabt oder überhaupt unser Gesamtwerdegang, der ist so komprimiert“ – dies ist natürlich ein anderer Ausdruck für das Erleben der Drücke – „mit so viel ...“ – Hermann holt tief Luft – „vollkommen entgegengesetzten Dingen ... Da, ja, die Orientierungshilfen/woher sollten die kommen? Von Adolf Hitler? Das war fast/das war mindestens neunundneunzig Prozent fast. Also neunzig auf jeden Fall, neunzig Prozent/war’n von da gekommen. Ich war nun bei den/dann auf jeden Fall bei den zehn Prozent. Und da, unter denen konnte man sich dann wieder hier und da Daten (aussuchen und sammeln – Erg. F.S.), und dann mußte man das auch noch möglichst verdeckt machen...“ (45, 50-46, 14).
Hermann macht hier deutlich, dass für viele Menschen in der Nazigesellschaft das symbolische Universum6 der Gesellschaft – d.h. ihr „Sinnhimmel“, welcher Modelle für die biographische Sinnorientierung liefert – zerstört wurde. Die extrem gute Ehebeziehung mit seiner religiös-charismatischen Künstlerehefrau hatte für ihn unter anderem die zentrale Funktion, im privaten Bereich neue Sinnquellen zu finden, die den Verlust weiter Bereiche seiner Version des symbolischen Universums kompensieren konnten. Und diese Partnerin und zentrale Helferin bei der erneuten Sinngewinnung kämpfte nun mit dem Tode. Es ist bezeichnend, dass Hermann bis zu demjenigen Zeitpunkt seiner autobiographischen Darstellung, an dem er zur Darstellung der Todesbedrohung seiner Frau und der Geburt seines Sohnes – einer Lebenskrise lange nach dem Kriege – vordringt, nie direkt ausgesprochen hat, dass auch für ihn in der Nazizeit, obwohl er kein Anhänger des Regimes war, das symbolische Universum der Gesellschaft mit seinen Sinnressourcen weitgehend zerstört wurde (vgl. Schütze 1992, S. 197f., 206, 357f.). Aus der Art der verzögerten Erzähldarstellung (nicht im eigentlich dafür in Frage kommenden Darstellungsabschnitt über die Nazi- und Kriegszeit, sondern erst in einer sehr viel späteren Hintergrundskonstruktion, welche den extremen Druck einer zentralen privaten Lebenskrise verständlich und in ihrer Gewichtung erklärlich machen soll) wird deutlich, dass die Zerstörung des symbolischen Universums für Hermann derart desaströs und schmerzhaft war, dass er diese während der Nazi- und Kriegszeit und auch noch partiell in der Interviewsituation selber systematisch aus seiner Aufmerksamkeit ausblenden wollte bzw. immer noch will.
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Freilich ist der Kern des Ausblendungsmechanismus nicht nur ein Sinnverlust-Erleben, sondern auch ein kaum verhüllbares und alles durchdringendes Schuldgefühl. Dies wird an einer Belegerzählung deutlich, welche im gerade geschilderten Darstellungszusammenhang der Behauptung und Erklärung der unerträglichen Drücke im Leben Hermanns, die nunmehr im Warten auf dem Flur vor dem Operationssaal kulminieren, die empirische Konkretisierung, Differenzierung und Belegung des höheren Prädikats der unerträglichen Drücke dokumentieren soll. Ich möchte diese Belegerzählung, welche die grundlegenden Erscheinungen der Zerstörung des symbolischen Universums der deutschen Gesellschaft unter dem Naziregime (und insbesondere in der Zeit des Holocaust und des Vernichtungskrieges in der Sowjetunion) in einer verdichteten Szene wiedergibt, in der die diversen Interaktionsgrundlagen – wie in Kafkas Szenen – aus prinzipiellen, quasi-metaphysischen Ursachen nicht mehr in sich selber und nicht mehr miteinander stimmig sind, in ihrer Gänze zitieren: 49,42-51,22 S. 49, Z.: 42 B: 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 W: 57 B: 58 59 60 S. 50, Z.: 01 02 03 W: 04 B: 05 06 07 08 09 10 11 12
Es kommt eine Kolonne. Ich sehe sie von weitem. Ich, ich saß fest mit ’em Wagen. Ich mußte zufällig Verpflegung holen, weil ich in diese/ war schon vierundvierzig im Schnee, im Winter, Januar, Februar, Januar, Februar, na. .. Da kommt dahinten die Kolonne her. Naja, ich denk, vielleicht ne Baukolonne. Kamen die näher. ( ) Ich hätt ihn auch so losgekriegt. Der Schnee alle/ da war ich ja/ ich war ja Techniker. Hm Nur Schaufeln, daß ich Boden habe usw. Maschine war ja noch intakt. Es/ -eh- kommen, die näher, hatten Schaufeln auf’m Buckel. Jetzt kommen se noch näher, da seh ich diese .. Judensterne hier. Hm Ich hab nie was davor/ Ich hab nie, ich wußte auch nichts Von, von KZ’s, von Vergasung oder so. Wir waren Soldaten. Wir waren weit weg. Jetzt kamen die ran. ... Au! Ich denke, das is klasse. Au! Ich sag, denke „Juden“. Jetzt auf einmal/
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Also für mich/
W: B:
W: B:
ich hab’s so übersetzt. Ob’s stimmt, weiß ich nicht. Für mich war das/ er sah aus wie ein Gelehrter. Und ängstlich nun. Der konnte ja kaum ’ne Schaufel heben, aber der führte dieses Kommando. Waren alles nur Juden. War keiner sonst bei. Hm Die hatten irgendeinen Auftrag, ein Arbeitsauftrag da zu erledigen. Jetzt kommen die an. Ich sage, -eh- „ob Sie“ (((lautes Geräusch im Hintergrund))) „so freundlich wären“? Die waren alle, die sahen einen Soldaten, ein Gewehr. Als die so erschreckt waren von dieser Uniform und von diesem Gewehr, da hab ich erst mal gewußt, was die hinter sich hatten. hm Und dann schon/ und ich verkörperte nun in dem Moment/ ich
W: B:
W: B: F: B: W: B: W: B: W: B:
war ja gar nicht der, den sie fürchteten. Hm Ich war ja der Normalverbraucher, den ich hier jetzt blo, bloßgelegt habe. Aber die waren ja nun mit so vielen anderen konfrontiert worden, daß sie einfach er/ zusammenzuckten, ... Hm alles abwürgte. Hm Zitterte förmlich der kleine Kerl, nich, hatte so ’n Hm dünne – eh- goldgerahmte Brille, nich, stand er da vor mir. Aber man sah, das ganze Gesicht, das war, Hm da war Leben drin. Da war Wissen drin, unwahrscheinlich, nich? Hm ... Herrgott, na, ich hab gefragt, ob er wohl so freundlich wär/ und die waren ja so glücklich, daß/
226 S. 51, Z.: 01 02 03 04 W: 05 B: 06 07 08 09 10 W: 11 B: 12 W: 13 B: 14 15 16 17 18 W: 19 B: 20 21 22 W: 23 B:
Fritz Schütze und ich hab mich dann besonders bedankt, nich?! Ich konnte ja nix anderes. Hm Man konnte nur/ und das war wieder die Machtlosigkeit, man konnte nur „Danke schön“ sagen. Und erfreute se schon damit, obwohl ((räuspert sich)) man überließ sie ja wieder dem Tode. hm Und das wußte ich a, das empfand ich da alles so irgendwie. hm Da hab ich/ diese Armseligkeit, nichts tun zu können, wo wirklich was hätte tun, – eh- was getan werden sollen, -eh- ((stöhnt)) müssen, können. – Ich wußt’s auch nich. Und dann war man eben, dann war ich enttäuscht. Hm War ich traurig ... so ... Man, man/ war nischt drin, ne?. hm, hm Naja, war auch wieder eins von den Dingen. ...
Die dargestellte Szene verkörpert zunächst eine klassische Hilfesituation, für die wir alle die Normalformerwartung (Cicourel 1973, S. 178; 1975, S. 17, 33f.; Kallmeyer/Schütze 1976, S. 21) der Unterstützung seitens der einen Interaktionspartei und der Annahme dieser durch die andere sowie – dem zugrundeliegend – der wechselseitigen Interaktionsreziprozität und Kooperativität haben (vgl. Kallmeyer 1979; Schütze 1975, S. 563-595, 890-905, 1005f.; Schütze 1978; Schütze 1980). In Notsituationen helfen sich die Menschen gegenseitig, jedenfalls sollte es so sein. Die Szene ändert ihre Qualität schlagartig, als Hermann erkennt, dass es sich bei den potentiellen Hilfestellern um jüdische Zwangsarbeiter handelt. Hermann hatte zuvor die Verfolgung jüdischer Menschen, dies zeigt die Analyse des Gesamt-Interviews, aus seiner Aufmerksamkeit ausgeblendet. Dass er – entgegen seinem Selbstverständnis als Erzähler im gerade zitierten Interviewausschnitt – davon durchaus (zumindest indizienweise) Kenntnis genommen hatte, das legen narrative und argumentative Ausführungen in anderen Abschnitten des Interviews offen, und auch seine besondere Erwartungssensibilität hinsichtlich des Umstandes, dass der in der zitierten Szene entgegenkommende Arbeitstrupp aus Menschen mit Judensternen besteht, ist nur erklärbar, wenn Hermann von der Verfolgung jüdischer Menschen in der Nazigesellschaft im Prinzip wusste. Nun kann er nicht mehr umhin, seine Ignorierungshaltung aufzugeben. Und dies erfüllt ihn sogar mit einer bangen Freude – als ob jetzt die bisherigen Ausblendungsanstrengungen ein Ende haben könnten und das für ihn im Zerfall begriffene symbolische Universum der Wir-Kollektivität der Deutschen auf diese Weise restituiert werden könnte. Aber als die jüdischen Zwangsarbeiter noch näher kommen, ändert sich noch einmal auf radikale Weise die Interaktionsmodalität (Bange 1986; Goffman 1980, S. 52-142, 531-601; Gumperz 1982, S. 130-171; Ha-
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mel 1988, S. 167-171, 622-629 und z.B. 407-424, 464-481; Kallmeyer 1979; Kallmeyer/ Keim 1986): Hermann muss am furchterfüllten Zittern der herannahenden Menschen erfahren, dass sie Angst vor seiner Uniform haben. Aus der ersten Phase bzw. Version der Situationsdefinition (Schütze 1987c), nämlich der der erwarteten Hilfestellung, und aus der zweiten Phase bzw. Version der Situationsdefinition, nämlich der der erwarteten reinigenden Klärung, wird nun zeitweilig eine dritte Phase bzw. Version der Situationsdefinition, nämlich die der potentiellen Bedrohung der Unterdrückten durch den Vertreter einer allmächtigen und grausamen Unterdrückungsorganisation. Obwohl Hermann im innerlichen Selbstgespräch zunächst den Gedanken abzuwehren versucht, er selber könne etwa mit der Furcht seiner Interaktionsgegenüber gemeint sein, er sei doch nur ein harmloser deutscher „Normalverbraucher“, wird ihm andererseits nunmehr schlagartig und ein für alle mal die Selbsterkenntnis zuteil, dass auch er Teil der kollektiven Verlaufskurve der Nazi-Gesellschaft ist, dass diese durch eine alles durchdringende Entmoralisierungstransformation geprägt und dass auch er selber dieser unterworfen ist. Diese Erkenntnis wird vertieft durch die erlebte Gegensatzanordnung zwischen der Humanität und kulturellen Kompetenz der Interaktionsgegenüber und dem uniform-symbolisierten Tatbestand der eigenen Repräsentation der grausamen Nazi-Aggressions- und Verfolgungsgesellschaft, die sich selber aus dem Kreis der humanitätsorientierten Menschheit ausgeschlossen hat. Hermann sieht in der so tiefgehend transformierten Interaktionssituation keine andere Möglichkeit, als zur ersten Interaktionsmodalität, nämlich derjenigen der alltäglichen wechselseitigen Hilfestellung, zurückzukehren. Indem er die Interaktionspostulate der Gegenseitigkeit (Reziprozität) und Kooperativität symbolisch besonders deutlich enaktiert („Herrgott, na, ich hab gefragt, ob er wohl so freundlich wär ... Und ich hab mich dann besonders bedankt, nich?“- 50, 57-51, 1), überspielt Hermann zugleich den Tatbestand der grundlegenden Nichthilfe seinerseits und der damit verbundenen eigenen moralischen Ratlosigkeit. Man könnte dies als das Paradox der nicht erwiderten Hilfestellung seitens eines durchaus altruistisch orientierten Hilfeempfängers oder als das Paradox der altruistisch inszenierten unterlassenen Hilfeleistung bezeichnen. Und hier nun ist das Mehrbödige der erörterten Interaktionsszene im Sinne der Kafkaschen Szenenschilderungen sichtbar: die vom Erzähler Hermann szenisch dargestellte Interaktion läuft erfolgreich als empfangene Hilfeleistung ab und ist dennoch zugleich, sozusagen in Tateinheit, unterlassene Hilfeleistung des Hilfeempfängers. Hermann drückt das durch eine Serie ratloser Kommentar-Selbstkorrekturen aus: „diese Armseligkeit, nichts tun zu können, wo wirklich was hätte tun, eh – was getan werden sollen, – eh – ((stöhnt)) müssen, können“ (51,12-14). Hier wird die quasi-metaphysische Unordnung in Hermanns Sinnwelt deutlich: Hermann weiß nun, dass alles, was er weiter tun wird, mit einem unentrinnbaren Schuldverhängnis behaftet ist – einem Schuldverhängnis, dessen kollektive Verursachungskonstellation er zwar nicht selber aktiv heraufbeschworen hat (dessen ideologische Orientierungshintergründe – Orientierung in Richtung auf ein kollektives Handlungsprojekt des aggressiven Eroberungskrieges außerhalb der Grenzen des Völkerrechts – er im Gegenteil sogar innerlich abgelehnt hat), für das er aber als deutscher Bürger und Mitglied der deutschen Militärmaschinerie mit verantwortlich ist. Es dürfte nunmehr deutlich sein, dass das kollektive Wirkpotential für Hermanns Fremdbestimmtheits- und Alkoholismus-Verlaufskurve nicht nur die materielle Notsituation ist, die durch die kollektive Kriegsverlaufskurve hervorgerufen wurde, und die damit verbundene Verhinderung eines akademischen Berufswerdegangs und kreativen Wandlungsprozesses. Teil von Hermanns Problematik ist, dass er wie alle Deutschen seiner Generation, soweit sie sich nicht verweigerten oder nicht systematisch gegen das Naziregime arbei-
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teten, nicht nur in eine primäre kollektive Verlaufskurve mit den entsprechenden Unordnungs- und Auflösungserscheinungen, sondern darüber hinaus auch noch in eine „verdoppelte“ kollektive Kriegsverlaufskurve mit expliziter Entmoralisierungstransformation und der Zerstörung der metaphysisch-moralischen Sinnressourcen für den Einzelnen verstrickt war (vgl. Schütze 1989, S. 75-109; Schütze 1992, S. 196f., 356ff.). In einer solchen transformierten kollektiven Verlaufskurve sind zunächst einmal – wie in der primären kollektiven Verlaufskurve auch – wirksam: der Verlust der Erwartungssicherheit bezüglich kollektiver und massenhaft auftretender individueller Ereignisse und gemeinsamer Handlungen; das systematische Scheitern kollektiver Handlungsprojekte; der Verlust der kollektiven Selbstorganisation und des Vertrauens auf die übergeordneten Organisationsinstanzen; die systematische Störung der Beziehung zwischen den personalen Identitäten und den Identitäten kleiner Gruppen auf der einen Seite und den kollektiven Identitäten von organisierten sozialen Einheiten als großen gesellschaftlichen Wir-Gemeinschaften auf der anderen Seite sowie der Verlust der sozialen Solidarität zwischen einzelnen Akteuren auch in den kleinen bindenden Wir-Gemeinschaften (wie den eingespielten Kameradschaftsgruppen im Schützengraben), welche die Loyalität und den Beitrag des Einzelnen für das kollektive Handlungsprojekt (wie den Überfall HitlerDeutschlands auf die Sowjetunion) sicherstellen, obwohl dieser Einzelne ideologisch und innerlich-emotional durchaus distanziert sein kann. – Darüberhinaus gehören zu einer kollektiven Verlaufskurve mit Entmoralisierungstransformation aber auch die systematische Trennung zwischen Hinter- und Vorderbühne des Veränderungsgeschehens und das damit verbundene Gefühl des Betrogenwerdens und des Verrats; die unverhältnismäßig harte Reaktion der Organisation gegen alle Versuche der Abweichung; lückenlose Fremdheitszuschreibungen gegenüber „Erzgegnern“, denen der Status von Interaktionsgegenübern mit vollkompetentem und legitimem menschlichen Aktorstatus abgesprochen wird; eklatante Akte der Entmoralisierung insbesondere gegenüber diesen Erzgegnern; Verlust- und Vakuumerfahrungen hinsichtlich des symbolischen Universums der Gesellschaft mit seinen biographischen Sinnressourcen; ein durchdringendes Empfinden der quasi-metaphysischen anomischen Unordnung der Welt und ihrer Prinzipien; das Gefühl des Gefangenseins in einer ideologischen oder gruppalen Bindungsfalle; ein progressives generalisiertes Misstrauen hinsichtlich der Interaktionsgegenüber und ihrer grundlegenden Kooperativität; ein nagendes Unbehagen mit Verhängnisstimmung und schlechtem Gewissen bezüglich der eigenen Beteiligung an den kollektiven Projekten der WirGemeinschaft, bevor noch äußere Misserfolge dieser Projekte sichtbar werden; sowie systematische Ausblendungsarrangements, in die man sich einerseits einfügen möchte, deren systematischen Täuschungscharakter man sich selbst und anderen gegenüber aber doch nicht ganz vergessen machen kann. Kollektive Verlaufskurven mit Entmoralisierungstransformation erzeugen bei den betroffenen Gesellschaftsmitgliedern, wie Alexander und Margarete Mitscherlich (1967/1977) das in den sechziger Jahren für die westdeutsche Bundesrepublik beschrieben haben, die zumindest zeitweilige Unfähigkeit zu trauern über das, was an entmoralisierten Akten und damit aggressiv zugefügtem Opferleiden und dann aber auch umgekehrt an als Vergeltung empfangenem Täter- und Mitverantwortlichem-Leiden geschehen ist. Angesichts der ungehinderten kollektiven Verbrechen, die eine große Zahl von Deutschen im Staats- und Parteiauftrag begangen hatten – und die die anderen Deutschen zumindest passiv hatten geschehen lassen, die sie konzediert hatten –, sind in den Menschen kollektive Schuld- und Schamgefühle entstanden, denen sie sich wegen ihrer zutiefst deprimierenden Wirkung zu-
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nächst nicht stellen konnten und wollten. Stattdessen entwickelten und mobilisierten sie sogar noch nach dem desaströsen Zusammenbruch der entmoralisierten kollektiven Handlungsprojekte und selbst noch nach der Zerschlagung der politischen Macht- und Organisationsstruktur der staatlich-kollektiven Wir-Gemeinschaft, die diese Handlungsprojekte betrieben hatte, zusätzliche neuartige Ausblendungsmechanismen, um sich den Schuld- und Schamgefühlen zunächst nicht stellen zu müssen. Im Laufe des Weiteren Lebens wurden diese zunächst hoch wirksamen Ausblendungsmechanismen bei vielen Menschen dann aber doch noch im Zuge eklatanter biographischer Erleidensprozesse, die über die Menschen in deren Privatleben hereinbrachen, und im Zuge ihrer biographischen Bilanzierungsprozesse im Angesicht des herannahenden Lebensendes wieder aufgebrochen. Die grundlagentheoretische Kategorie der kollektiven Verlaufskurve mit Entmoralisierungstransformation verhilft also zu einer vertieften Situationsanalyse des anomischen Zustandes einer Gesellschaft und der diesem Zustand zugrundeliegenden zerstörerischen Prozessmechanismen. Insbesondere wird so auch eine situationsanalytische, kollektivfallspezifische Einschätzung der mehr oder weniger tiefgreifenden Zersetzung des symbolischen Universums der verantwortlichen Gesellschaft und damit der Sinnressourcen der Einzelmenschen – dies durchaus auch in einem quasi-sozialtherapeutischen, auf den kollektiven Einzelfall und seine Zerstörungsmechanismen bezogenen Orientierungsrahmen – ermöglicht. Entsprechend verhilft die Kategorie der kollektiven Verlaufskurve mit Entmoralisierungstransformation auch zu einer realistischen Einschätzung des Geltungsgrades der Mitscherlich-Hypothese von der Unfähigkeit zu trauern: sie war im Westdeutschland der fünfziger und sechziger Jahre überwiegend zutreffend; sie stellt aber den Seelenzustand der westdeutschen Kriegsgeneration seit den siebziger Jahren nicht mehr korrekt dar (vgl. Schütze 1992).
6. Die grundlagentheoretische Relevanz des Konzeptes der kollektiven Verlaufskurve: die fragilitätssensible Sicht der sozialen Realität Aber nicht nur für die gesamtgesellschaftliche Situationsanalyse, sondern auch als grundlagentheoretische Kategorie für das analytische Basis-Verständnis von Prozessen biographischer, sozialer und gesellschaftlicher Entstabilisierung ist der Verlaufskurvenbegriff samt dem Ergänzungskonzept der Entmoralisierungstransformation wichtig. Das Konzept der Verlaufskurve im Allgemeinen hat einerseits den bei John Dewey und George Herbert Mead, den beiden bedeutenden amerikanisch-pragmatischen Philosophen, zentralen Gesichtspunkt der „problematischen Situation“ und der „Handlungshemmung“ (Dewey 1958, S. 310-317, 345-351 sowie 67-70, 169, 283-291; Mead 1969, S. 106ff., 134146; Alexander 1987, S. 138-141, 147-151, 186, 198f., 269f.) weiterentwickelt, andererseits nimmt es Gedanken der Chicago-Soziologen wie den vom symbiotischen, d.h. durch harte Sachzwänge und Lebensnot erzwungenen, Wettbewerb (Park 1967, S. 69-94; Park 1938, 1939) und den der sozialen (und personalen) Desorganisation (Carey 1975, S. 95-110, 117f.) auf. Ganz allgemein weist das Konzept darauf hin, dass die soziale Wirklichkeit nicht nur unter dem Gesichtswinkel der Handlungsstrukturierung, sondern auch unter dem der chaotischen Entstrukturierungspotentiale und der Entfaltungsdynamiken und -mechanismen langandauernden Erleidens betrachtet werden muss. Die Problementfaltungsdynamiken und Entstrukturierungsprozesse weisen ihrerseits paradoxerweise eine komplexe Strukturierung
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auf, die ich mit der weiter oben skizzierten Stationenabfolge von Verlaufskurvenentfaltungen (wie Aufbau des Verlaufskurvenpotentials, Grenzüberschreitung zum konditionalistischen, anti-intentionalistischen Verlaufskurvenprinzip mit entsprechender Schockerfahrung, Erarbeiten und Halten eines labilen Gleichgewichts im Alltagsleben, Entstabilisierung des labilen Gleichgewichts der Alltagsorganisation, Orientierungszusammenbruch, biographische und/oder interaktive Verlaufskurvenbearbeitung, Entkommensstrategien) angedeutet habe. Durch die Grenzüberschreitung zur Verlaufskurve wird das intentionale Steuerungsprinzip menschlicher Aktivitäten, wie es von den pragmatistischen Philosophen John Dewey und Georg Herbert Mead für das Handeln herausgearbeitet worden ist (indem von ihnen u.a. gezeigt wurde, wie spätere Stadien der Handlung in das Hier und Jetzt der interaktiven Handlungsplanung und -aushandlung phantasierend-vorgreifend hineingenommen werden – vgl. Dewey 1958, S. Kap. III, S. 182-196, Kap. VIII; Mead 1969, S. 102f., 113ff., 123, 128f., 133, 138-141, 145), durch das konditionale Steuerungsprinzip ersetzt: in einer „natürlichen Ablaufsgeschichte“ – ich spiele hier auf den Begriff der „natural history“ der Chicago-Soziologen (Turner, in: Park 1967, S. XXIIIf.; Park 1974; Schütze 1987a, S. 524f.) an – setzen die Ereignisse eines früheren Stadiums der Stationsentfaltung Steuerungsbedingungen für die Entfaltung des nachfolgenden Stadiums, und der einzelne Verlaufskurvenbetroffene bzw. die betroffene Wir-Gemeinschaft vermag zeitweilig auf eine solche übermächtige Logik des Verhängnisses nur noch durch reaktive Anpassungen und Gegensteuerungen bzw. durch die zeitweilige totale Unterwerfung unter das Verlaufskurvengeschehen zu reagieren. Verlaufskurvenmechanismen haben grundsätzlich den Charakter der negativen Rückkoppelung, des circulus vitiosus, und sie nehmen mehr oder weniger systematisierten Fallencharakter an (Strauss et. al 1985, S. 11-20, 160-181; Strauss/Glaser 1970). Das aussichtslose Gefangensein in einer Verlaufskurvenfalle führt zu Transformationen des Erleidens in andere Problembereiche. Grundsätzlich sind eine quasi-metaphysische Transformationsebene, eine interaktive und eine identitätsverändernde zu unterscheiden. Die quasi-metaphysische Transformationsebene lässt sich folgendermaßen ganz knapp kennzeichnen: Die immer wiederkehrende Erfahrung des Bruches der Erwartungsfahrpläne (Matthes/Schütze 1973, S. 23, 32-42) führt zur Untergrabung des Vertrauens in die Ordnung der Welt; und die Erfahrung massiven Erleidens hat zur Folge den Verlust des Vertrauens in die Gerechtigkeit der Welt samt dem Laborieren an einer Art säkularisierter Theodizeeproblematik, welche die Energie und den Lebensmut der Verlaufskurvenbetroffenen bezüglich ihrer biographischen Arbeit aufreibt. Denkt man über die interaktive Verlaufskurventransformationsebene nach, dann wird sehr schnell deutlich, dass der Zusammenbruch der alltäglichen Erwartungsfahrpläne auch große Irritationen in Interaktionsverhältnissen verursacht, weil die sich unerwartet verhaltenden Interaktionsgegenüber von ego oft als inkooperative Regelbrecher angesehen werden – und umgekehrt. Generalisiertes Misstrauen gegenüber den jeweiligen Interaktionspartnern wird sich dann wechselseitig einstellen. Folge hiervon kann einerseits sein, die Verpflichtung zur systematischen Übernahme der Standpunkte und Perspektiven der jeweiligen Interaktionspartner – von Mead (1968, S. 112f.; 1969, S. 218f.) unter dem Begriff der Rollenübernahme abgehandelt – aufzugeben und die persönlichen Aktivitäten in Termini des eigenen (individuellen) mental-grundlegenden Weltmodells und in der darauf aufbauenden konkreten Planung rücksichtslos voluntaristisch anzulegen. Das mag bis zur Konstruktion von Wahnwelten (Riemann 1987, S. 341-357, 372-379) für das eigene Weiterhandeln führen. Oder aber die eigene Befähigung zum Ergreifen von Initiativen und zur Aktivitätsentfaltung wird durchgreifend gelähmt.
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Auf der Ebene der identitätsverändernden Transformationen ist zunächst – als grundsätzliche Einwirkung des Verlaufskurvenerleidens – das Fremdwerden der eigenen Identität (Riemann 1987) der Verlaufskurvenbetroffenen feststellbar: sie sind durch das überwältigende Erleiden verstört; sie vermögen nicht mehr das, was sie früher vermochten; und wichtige Sozialbeziehungen sind durch die Fokussierung auf das eigene Erleiden irritiert oder gar verlorengegangen – und damit auch eine prinzipiell wohlwollende interaktive Spiegelung der eigenen Identität (in den von G. H. Mead – 1968, S. 236-244, 248, 253-266 – so genannten „mich“Bildern) durch die Interaktionspartner. Die Fallensituation erzwingt zudem spezifische Diskontinuitäten zur bisherigen Identitäts- und Lebenslinie: den Verzicht auf den eigenen Anspruch, die innere Befindlichkeit und Lebenssituation für sich selber zu deuten (und damit den Verzicht auf eigenständige biographische Arbeit zugunsten übermächtiger fremder Deutungspotentiale etwa im Zuge von Medikalisierung und Therapeutisierung – vgl. Riemann 1987, S. 438-458, 421-433, 358-372); zudem alle Formen von Somatisierung des eigenen unentrinnbaren Erleidens (z.B. durch psychosomatische Erkrankungen); sowie schließlich alle Formen der systematischen Ausblendung (deren Mittel von lückenloser Ideologisierung über passende soziale Arrangements der Vermeidung, Umgehung und Nichtkonfrontation, über persönlich ausgeklügelte Selbstverschleierungstheorien bis schließlich zum zunächst heimlichen und dann offensichtlichen Gebrauch von Drogensubstanzen reichen, die abhängig und süchtig machen – Schütze 1989, 1992). All die genannten spezifischen Diskontinuitäten haben die Funktion, den Alltag in den Fängen der Verlaufskurvenfalle erträglicher zu machen, obwohl sie gerade dadurch neuartige, transformative Fallenmechanismen aktivieren. Kollektive Verlaufskurven mit Fallencharakter – ob primärem oder transformativem – bergen die Gefahr in sich, dass die moralischen Reziprozitätsgrundlagen kommunikativen Handelns bzw. kommunikativer Interaktion (Schütze 1978, 1980) zusammenbrechen. Dies gilt insbesondere dann, wenn in der betroffenen kollektiven Einheit eine reaktionäre politisch-soziale Bewegung dominant wird, die mit Mitteln der symbolischen Stilisierung die Wir-Kollektivität als Opfer übermächtiger innerer und äußerer Feinde darstellt. Gerade im Zuge der Stilisierung als Opfer werden nun eklatante Akte der Demoralisierung und der Inhumanität motiviert und legitimiert. Das ohnehin durch die Unordnungs- und die Theodizeeproblematik bereits geschwächte symbolische Universum wird nun weitergehend geschädigt und z.T. sogar zerstört. Da die wechselseitigen Hintergrundsannahmen über die Erwartungs- und die Legitimationsordnung der Welt in Unordnung geraten und nicht mehr miteinander kalibriert sind, entsteht eine Bedingungskonstellation für systematische Missverständnisse in der kommunikativen Interaktion, die man mit einer gewissen Anlehnung an die späten religionsethnologischen Arbeiten von Émile Durkheim (1981; vgl. auch Berger 1967, S. 24, 27, 50, 94) als „Kommunikationsanomie“ bezeichnen könnte. Zudem werden die einzelnen individuellen Mitglieder der Wir-Kollektivität von ihrer eigenen Wir-Identität entfremdet: es entstehen Verachtung und Selbsthass gegenüber der eigenen Wir-Identität, die z.T. auch in die individuelle Selbstidentität inkorporiert werden. Mit dem jüngst verstorbenen britisch-deutschen Soziologen Norbert Elias, der sich ja nicht nur mit Prozessen der Zivilisierung (Elias 1976/1936), sondern ebenso – wenngleich weniger intensiv – auch umgekehrt mit Prozessen der Desorganisation beschäftigt hat (vgl. Elias/Scotson 1990, S. 756, 234-268, 273-278, 291-314), könnte man sagen, dass die Figurationsbeziehung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zumindest partiell aufgelöst wird: die tagtäglich fortlaufende Erfahrung, dass das Eingehen auf das eigene „Wir“ und auf die anderen, das „Sie“ der fremden Dritten, auch das „Ich“ und das „Du“ konstituiert, ist systematisch in Frage gestellt und umgekehrt (vgl. Elias 1993, S. 132-145).
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Es wäre für die soziologische Theoriebildung vielleicht etwas gewonnen, wenn in meinen Ausführungen das theoretische Potential des Verlaufskurvenkonzeptes deutlich geworden wäre, die nächtliche, die dunkle Seite der sozialen Realität, auf die von den phänomenologischen Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem berühmten Grundsatz-Aufriss über die „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1966, S. 89-94, 143) und in ihren einschlägigen religionssoziologischen Arbeiten (Luckmann 1967; Berger 1967, S. 27, 39f., 43f.) zwar nachdrücklich und richtungsweisend, aber doch eher nur metaphorisch – in den gerade verwendeten und ähnlichen Formulierungen – hingewiesen worden ist, systematisch analytisch zu beleuchten. Es ist in der Tat so, dass an den Paradoxien der menschlichen Existenz orientierte Schriftsteller wie Dostojewski, Kafka, Handke oder Pinter diesbezüglich bisher mehr geleistet haben als die Soziologen. Es geht mit dem Verlaufskurvenkonzept um die paradoxe Ironie der Geordnetheit und strukturierten Langfristigkeit des Erleidens, um die Geordnetheit des Widersprüchlichen und des Chaotischen in der individuellen Existenz und im Zusammenleben der Menschen miteinander sowie um das Wechselspiel zwischen der Symbolik der nomischen Ordnung, der Antisymbolik der anomischen Verlaufskurvenprozesse und den beständigen Versuchen der Akteure zur Renormalisierung des Chaotischen und der zumindest symbolischen Wiederherstellung der Ordnung (vgl. auch Schütze 1994b, Kap. 6). Es konnte mittels der verschiedenen Beispiele in Anbetracht des knappen Darstellungsrahmens nur intuitiv und nicht theoretisch-systematisch aufgezeigt werden, dass dieses Wechselspiel zugleich auf den unterschiedlichen Konstitutionsebenen der sozialen Realität statttfindet: denen der Biographie, der Interaktion, der Situationsherstellung, der Handlungs- und Arbeitsabläufe, der verschiedenen sozialen Welten und Auseinandersetzungsarenen sowie der historisch-gesamtgesellschaftlichen Veränderung (vgl. auch Schütze 1994b, S. 245-255; Schütze 1987a, S. 525f.). Wichtig ist die Erkenntnis, dass sich die anomischen Verlaufskurvenerscheinungen auf den gerade aufgezählten Konstitutionsebenen wechselseitig bedingen: dass also z.B. systematische kommunikationsanomische Missverständnisse auf der Ebene der Interaktion die Grundlagen des gesamtgesellschaftlichen symbolischen Universums auf der Ebene der soziohistorischen Makroveränderungen untergraben und umgekehrt. Mit der Verlaufskurvenbetrachtung wird die Möglichkeit einer spezifisch zerbrechlichkeits- bzw. fragilitätsbewussten Haltung zur sozialen Realität ins soziologische Bewusstsein gehoben, die in eindringlicher Positionsmarkierung neben die übliche soziologische Haltung der normativen und rational kalkülisierenden Erwartungssicherheit treten sollte – eine Haltung, die insbesondere vom Strukturfunktionalismus, von der Systemtheorie und den verhaltenstheoretischen Ansätzen vertreten wird. Die fragilitätsbewusste Haltung zur sozialen Realität, wie sie die interpretative Soziologie mit dem analytischen Konzept der Verlaufskurve im Zuge der Untersuchung von Erleidensprozessen gewinnen kann, schafft dann auch Sensibilität für eine nicht an normativer Erwartungssicherheit orientierte und nicht-rationalistische theoretische Konzeption von Interaktion, Situation, Biographie, Identität, Handlung, Arbeitsbögen, sozialen Welten und gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen – für eine nicht-rationalistische Theoriekonzeption, wie sie im ersten Drittel dieses Jahrhunderts von der Chicago-Soziologie angedacht und partiell vom Theorieansatz des Symbolischen Interaktionismus als dem legitimen Erben der Chicago-Soziologie unter Gesichtspunkten der Kontingenz, Emergenz und Kreativität weiterentwickelt worden ist.
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Anmerkungen 1
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Der vorliegende Text geht auf meine Antrittsvorlesung an der Universität Magdeburg im Sommersemester 1994 zurück. Er verdankt sehr viel meinen eingehenden Gesprächen mit Peter Straus, der dann auch später Anregungen für die Überarbeitung und Ergänzung des Drucktextes gemacht hat. Jeder, der die Thematik biographischer Verlaufskurven kennt, weiß zudem, wie sehr die folgenden Überlegungen von meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Anselm Strauss, Gerhard Riemann und Thomas Reim profitieren. – Erläuterungen, die für die nicht-sozialwissenschaftlichen Zuhörer gedacht waren (z.B. zum narrativen Interview), habe ich nicht eliminiert. Man beachte den nach Möglichkeit allgemeinverständlichen Charakter einer Antrittsvorlesung. Eigene ethnographische Beobachtung – vgl. auch Riemann/Schütze 1991. Obwohl in der Grundkonzeption von Weber und Schütz Tendenzen einer rationalistischen Sicht des Handelns und der sozialen Wirklichkeit einerseits nicht übersehbar sind (vgl. zu Schütz auch Maurenbrecher 1985, Kap. 2), ist gerade bei diesen zentralen Grundlagentheoretikern der Sozialwissenschaften andererseits aber auch wiederum eine besondere Sensibilität für solche Aspekte der sozialen Wirklichkeit ausgeprägt vorhanden, die gerade nicht mit rationalistischen Kategorien erfassbar sind: bei Weber die Analyse des Charismas und religiös-wertrationalen Handelns (Weber 1964, S. 157-188, 317-488) und bei Schütz die Analyse der höhersymbolischen Schichten der sozialen und psychischen Erfahrung, der abgegrenzten Sinnbereiche wie Traum, Phantasie und Religion (Schütz 1962, S. 207259; 1964, S. 135-158). Das symbolische Universum einer Gesellschaft (bzw. dessen grundlegende Interpretations-versionen von Gruppen und Individuen) stellt (bzw. stellen) für das kollektive Leben und die Biographie der Individuen letzten und umfassenden Sinn bereit (Berger/Luckmann 1966, S. 88-90; Schütze 1992, S. 197, 206). Ein suprasegmentaler Textmarkierer ist eine sprachliche Aktivität, die auf der Textebene des narrativen Interviews größere Erlebniszusammenhänge in Einleitungs-, Ergebnissicherungs- oder auch Höhepunktspassagen symptomatisch ausdrückt, semantisch anspricht oder auch propositional prädiziert – Erlebniszusammenhänge, welche über die Gesamtstrecke verschiedener Erzählsegmente (meistens in Reihung) hinweg sich entfalten bzw. präsentiert werden (vgl. Schütze 1984, S. 91f.; 1987, S. 111f., 127). Solche größeren biographischen Erlebniszusammenhänge sind längere Verlaufskurven-phasen der Fremdbestimmtheit und die damit verbundenen Erleidensprozesse, die Entfaltung eines künstlerischen Wandlungsprozesses, die Planungund Gestaltung eines biographischen Handlungsschemas der Lebensveränderung oder die Verfolgung eines Karrierehandlungsschemas. Der suprasegmentale Höhepunktsmarkierer für die propositionale Prädizierung des biographischen Handlungsschemas einer biographischen Veränderungsinitiative, mit der ein junger Müller seinen gefärdeten Mühlenbetrieb umkrempeln will, kann z.B. lauten: „Und ich hab mir immer gesagt: [...] wenn ich mich als Müller behaupten will, dann [...] muß irgend etwas geschehen“ (Schütze 1991, S. 216a). Im symbolischen Universum (Berger/Luckmann 1966, S. 88-90) eines gesellschaftlichen Zusammenhangs (z.B. dem des Nationalstaates) werden die elementaren Voraussetzungen des Weltbezuges, der Interaktionsgegenseitigkeit, des Zusammenlebens, der Haltungen des einzelnen zu Kollektivitäten und umgekehrt sowie der Beziehungen individueller und kollektiver Identitäten zu sich selbst ausgeprägt. Zum symbolischen Universum gehören grundlegende Konzeptionen der Welt und ihrer Bestimmungsprinzipien (z.B. Annahmen darüber, ob Solidarität, Selbstbestimmung, Individualität, Nutzenmaximierung, Gerechtigkeit, Gemeinwohl-Vernunft weltbestimmend sein sollen); grundlegende Aktortypisierungen bezüglich individueller und kollektiver Akteure, die als Erwartungsmuster und Vorbilder sozial vorherrschend sind (mit Vorstellungen darüber, wie Handlungsfähigkeit erfolgreich hergestellt und aufrechterhalten wird); grundlegende Gegenseitigkeitskonzeptionen auf der Ebene der Interaktion, welche die Interaktionspostulate bzw. Basisregeln des Sinneinverständnisses und der Kooperation (vgl. Kallmeyer 1979; Schütze 1978, 1980) inhaltlich interpretieren und als Orientierungsmuster formulieren; grundlegende Gegenseitigkeitskonzeptionen auf der Ebene der Wechselbeziehung zwischen kollektiven Identitäten und ihrer Geschichte, welche die formalen Konstitutionsleistungen derselben füreinander historisch-inhaltlich ausformulieren und Interpretationen des gegenwarts- und zukunftswirksamen historischen Prozesses für die kollektiven Identitäten dimensional festlegen; grundlegende Vorstellungen zu Biographieprojekten und -verläufen sowie zu den Wertkriterien biographischer Arbeit
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Fritz Schütze (wie Authentizität, Effektivität, individuelle Selbstverwirklichung, Opferbereitschaft usw.), welche die formalen Strukturen von biographischen Prozessen und Identitätskonstituentien inhaltlich ausformulieren; grundlegende Konzeptionen der Beziehungen des einzelnen zu kollektiven Identitäten und umgekehrt (grundlegende Arten des Engagements des einzelnen zu common causes; grundlegende Arten der Beeinflussung des einzelnen durch kollektive Identitätsmechanismen); grundlegende Vorstellungen zu gesellschaftlichen Krisen, sozialer Unordnung und sozialen Bewegungen sowie zu den individuellen und kollektiven Bearbeitungsmöglichkeiten derselben (wie Interpretations-Flexibilität, Vorsehen von Moratorien und Experimentalphasen, Vorhalten von Solidaritätsplattformen, Vorsehen von Beratungsverfahren); sowie grundlegende Konzeptionen zu den Auswirkungen des kollektiv-historischen Prozesses auf der Ebene individueller Lebensabläufe.
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III. Biographieforschung und Pädagogik der Lebensalter
Biographieforschung und pädagogische Kindheitsforschung Cathleen Grunert/Heinz-Hermann Krüger
Inhalt 1.
Einleitung
2.
Historische Entwicklungslinien
3.
Aktuelle kindheitstheoretische Diskurse
4.
Überblick über den Stand der Kindheitsforschung
5.
Qualitative Inerviews mit Kindern – Schwierigkeiten und Erfahrungen
6.
Forschungsdesiderata und -perspektiven
Literatur
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1. Einleitung Biographieforschung und Kindheitsforschung sind keineswegs neue Forschungsfelder der Erziehungswissenschaft, auch wenn sie in ihrem Überschneidungsbereich einer biographisch orientierten Kindheitsforschung vor allem seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erleben. Vielmehr ist die Sammlung und Auswertung von Kindheitserinnerungen und Autobiographien als entwicklungspsychologisch und pädagogisch bedeutsame Quelle so alt wie die Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin selbst. Sie gehen einher mit der Entdeckung der Kindheit als eigenständiger lebensgeschichtlicher Phase wie auch mit dem Beginn der wissenschaftlichen Pädagogik und ihres Interesses an den Innenansichten des Kindes Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Herrmann 1991a). Seitdem ist die biographische Erforschung von Kindheit, allerdings mit unterschiedlichen historischen Konjunkturen, ein zentrales Forschungsgebiet der Erziehungswissenschaft. Die aktuelle erziehungswissenschaftliche Biographieforschung untersucht erstens, gestützt auf autobiographische Materialien oder lebensgeschichtliche Interviews mit Erwachsenen, welche biographische Relevanz Kindheitserfahrungen für die weitere Sozialisations- und Bildungsgeschichte der Individuen haben. Dieses Interesse an der Bedeutung von Kindheitserfahrungen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung teilt sie mit der Psychoanalyse. Aber auch die neuere Entwicklungspsychologie der Lebensspanne sowie die Soziologie des Lebenslaufes untersuchen im letzten Jahrzehnt zunehmend die Frage, ob der Verlauf des späteren Lebens durch Kindheitserfahrungen beeinflusst wird, wobei sie sich allerdings primär auf quantitative Methoden und Daten beziehen (vgl. Thomae 1991; Huinink/Grundmann 1993). Auf der Basis von qualitativen Interviews mit Erwachsenen, aber auch unter Bezug auf andere Quellenbereiche (z.B. Elternratgeber) lassen sich zweitens die Bilder von Kindheit als kulturelle Muster und mentale Konstrukte von Erwachsenen analysieren (vgl. Honig 1993; Lenzen 1985). Ein dritter und erst in jüngster Zeit expandierender Untersuchungsbereich der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ist die biographisch orientierte Kindheitsforschung, die Kinder im Schulalter selber nach ihrer Lebensgeschichte fragt, um auf dieser Basis aktuelle Veränderungsprozesse der kindlichen Normalbiographie untersuchen zu können (vgl. z.B. Krüger/Ecarius/Grunert 1994). Oft werden in solchen Studien auch biographische Methoden durch andere qualitative oder manchmal auch quantitative Methoden und Datenbereiche ergänzt, um auf diese Weise generellere Veränderungen der Lebensbedingungen und des Alltags von Kindern analytisch fassen zu können. Damit werden zugleich die Übergänge zu einer Soziologie der Kindheit, die Kinder als soziale Statusgruppe begreift, fliessend (vgl. Honig/Leu/Nissen 1996, S. 21; Heinzel 2000). Ein vierter Forschungsschwerpunkt der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ist die historische Kindheitsforschung, die gestützt auf archivalische Quellenbestände und auf oralhistory-Interviews oder autobiographische Materialien auf die Rekonstruktion vergangener Sozialisationsbedingungen und Verlaufsformen des Erwachsenwerdens zielt, und die vielfältige Berührungspunkte zur sozialwissenschaftlichen Autobiographieforschung und zur Geschichtswissenschaft hat (vgl. dazu die Beiträge von Cloer und Glaser/Schmid in diesem Band). Ein weiteres vor allem in jüngster Zeit in der biographisch orientierten Kindheitsforschung in Deutschland wichtiger werdendes Untersuchungsfeld ist die ethnologische Kindheitsforschung, die sich an der Schnittstelle zwischen Pädagogik und Ethnologie herausgebildet hat und die sich mit dem Alltag von Kindern in verschiedenen Kulturen beschäftigt (vgl. den Beitrag von Renner in diesem Band).
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Wir werden im Weiteren in einem ersten Schritt die Traditionslinien einer biographisch orientierten Kindheitsforschung vor allem in der Geschichte der Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert in groben Zügen rekonstruieren. In einem zweiten Schritt werden wir die aktuellen theoretischen Diskurse und Sichtweisen auf die Welt der Kinder skizzieren und deren Relevanz für die biographische Kindheitsforschung diskutieren. In einem dritten Schritt werden wir einen exemplarischen Überblick über die Forschungslandschaft der biographisch orientierten Kindheitsforschung geben und einige spezifische Probleme und Möglichkeiten erläutern, die sich bei der Durchführung von biographischen Interviews mit Kindern ergeben. In einem abschließenden Ausblick werden wir dann einige Forschungsdesiderata der aktuellen Kindheitsforschung aufzeigen und daraus einige Perspektiven für die zukünftige Forschung ableiten.
2. Historische Entwicklungslinien Die ersten Versuche, eine wissenschaftliche Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert zu begründen, sahen in der Sammlung und Auswertung von Autobiographien und in der Beobachtung von Kindern die zentralen empirischen Grundlagen für eine Theorie und Praxis der Erziehung. So wies der Hallenser Theologie-Professor und Direktor der Franckeschen Waisenhäuser und Schulen Niemeyer in einem 1796 erschienenen Erziehungs-Kompendium darauf hin, dass ein zentrales Element des Pädagogik-Studiums die Anleitung der zukünftigen Pädagogen zur Selbstbeobachtung und Analyse ihrer eigenen Kindheits- und Jugenderfahrungen sein sollte (vgl. Hermann 1991a, S. 46). Und Trapp, erster Lehrstuhlinhaber für Pädagogik in Halle, sah in seiner Schrift „Versuch einer Pädagogik“ (1772/ 1971) in der teilnehmenden Fremdbeobachtung des Kindes eine der ausschlaggebenden Erkenntnisquellen der wissenschaftlichen Pädagogik. Aber auch Rousseau lenkte in seinem Erziehungsroman „Emile“ (1762/1989), die Aufmerksamkeit der Pädagogik auf die Kindheit als eigenständige Lebensphase und er wies der Erziehung dabei die Aufgabe zu, die sich zeigende und entwickelnde Subjektivität des Heranwachsenden zu unterstützen. Einen wichtigen Beitrag zur Begründung einer autobiographisch orientierten Kindheitsforschung lieferte im ausgehenden 18. Jahrhundert zudem Karl Philipp Moritz, der in dieser Zeit nicht nur die ersten Teile seines autobiographischen Entwicklungsromans „Anton Reiser“ veröffentlichte, sondern auch Erinnerungen und Selbstbeobachtungsprotokolle verschiedener Autoren, vornehmlich aus der frühen Kindheit, in denen er ein herausragendes Quellenmaterial für eine empirisch fundierte „Erfahrungsseelenkunde“ sah (vgl. Heinritz 1997, S. 342). Erlebten somit die Autobiographie- und Kindheitsforschung in der Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung eine erste Blüte, so wurden diese Traditionslinien in der Pädagogik des 19. Jahrhunderts zunächst nicht fortgesetzt, da diese in dieser Zeit vorrangig durch die Interessen an Bildungstheorie und Unterrichtswissenschaft bestimmt war. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance, zu einer enormen Expansion und auch zu einer sozialen Institutionalisierung einer biographisch orientierten Kindheitsforschung nicht nur im deutschsprachigen Raum, die durch die reformpädagogische Kritik an der herkömmlichen Erziehung und durch deren Interesse an der Förderung der Selbstbestimmungsrechte des Kindes und an der Entdeckung und Beschreibung der Eigenwelt von Kindern entscheidend angeregt worden war. Bereits 1882 veröffentlichte Preyer, Professor an der Universität Jena und einer der einflussreichs-
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ten reformpädagogischen Publizisten im deutschen Kaiserreich, eine Studie zur „Seele des Kindes“, die sich methodisch auf die Tagebuchbeschreibungen von der Entwicklung seiner eigenen Kinder stützte und die von der methodischen Anlage her Nachahmer zunächst im Ausland und dann auch in Deutschland fand (vgl. Dudek 1990, S. 137; Oelkers 1997). Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen eine Reihe von Anthologien mit Ausschnitten aus autobiographischen Kindheits- und Schülererinnerungen (vgl. etwa Bäumer/Droescher 1908; Graf 1912), die sich vor allem an Eltern und Erzieher wandten, um bei ihnen ein größeres Verständnis für Kinder und Jugendliche zu wecken. Im Umfeld des szientistischen Flügels der Reformpädagogik und teilweise von reformerischen Gruppen aus der Lehrerschaft selber eingerichtet und finanziert, entstanden allein in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum 26 Institute, die sich mit Fragen der Kindheits- und Jugendforschung beschäftigten (vgl. Krüger 1997, S. 290). Die berühmtesten waren sicherlich zum einen das von Meumann 1913 gegründete und nach dessen frühem Tod von Stern weitergeführte Hamburger Institut für Jugendkunde, das sich u.a. auf die Dokumentation und Interpretation der Selbstzeugnisse von Kindern und Jugendlichen konzentrierte. Meumann und vor allem Stern haben sich nicht nur selber in verschiedenen Arbeiten, u.a. auch gestützt auf qualitatives Material, mit den pädagogischen und psychologischen Problemen des Kindes- und Jugendalters sowie denen des Lernens in der Schule auseinandergesetzt. Vielmehr sind auch von den MitarbeiterInnen dieses Instituts eine Reihe von qualitativ orientierten Untersuchungen zur Kindheitsforschung durchgeführt worden, so etwa die Studie von Martha Muchow zur Lebenswelt und zur Raumaneignung von Grossstadtkindern (vgl. Dudek 1990, S. 229). Wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung einer biographisch orientierten Kindheitsforschung sind zum anderen von dem von Karl und Charlotte Bühler geleiteten Wiener Institut zur Kindheits- und Jugendforschung ausgegangen, in dessen empirischer Arbeit die Sammlung und Auswertung von Tagebüchern und Aufsätzen einen zentralen Platz einnahmen. Von den über 100 Studien der Wiener Gruppe befassten sich knapp die Hälfte mit Kindern im Alter bis zu sechs Jahren und ein Viertel mit Kindern im Schulalter (vgl. Hetzer 1982, S. 189). Aber auch eine Reihe von Einzelforschern haben in den 1920er Jahren zum Ausbau der qualitativen Kindheitsforschung mit beigetragen. Exemplarisch erwähnt seien in diesem Zusammenhang etwa Bernfelds auf der Auswertung von Tagebüchern basierende Analysen zur Pubertät oder die Studie des Nohl-Schülers Busemann (1926), der 4000 autobiographische Aufsätze von Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel auswertete, die entwicklungspsychologischen Aspekte und milieuspezifischen Einflussfaktoren beim biographischen Übergang von der Kindheit in die Jugend zu untersuchen (vgl. Dudek 1990, S. 291). An diese methodische Tradition knüpften auch Roessler (1957) und Bertlein (1960) in den fünfziger Jahren wieder an, die auf der Basis von Schüleraufsätzen das Selbstverständnis der westdeutschen Nachkriegsjugend herauszuarbeiten suchten. Ebenso griff Waltraud Küppers Anfang der sechziger Jahre die Tradition der Tagebuchforschung wieder auf, indem sie eine Sammlung und Interpretation von „Mädchentagebüchern der Nachkriegszeit“ (1964) veröffentlichte. Daneben waren es pädagogische Praktiker, wie der Lehrer Stückrath, der zusammen mit dem Hochschullehrer Wetzel, Anfang der sechziger Jahre eine von der Tradition der psychologischen Phänomenologie beeinflusste Studie „Vom Ausdruck des Kindes“ (1962) veröffentlichte, bei der es sich um das seltene Beispiel einer in Photos dokumentierten Ethnographie von Kindern im Unterricht handelt (vgl. Zinnecker 1995, S. 24). Allerdings waren diese Studien in der westdeutschen Erziehungswissenschaft der 1950er und 1960er Jahre eher Randerscheinungen. Nach der Ära des Nationalsozialismus, dessen zentrale
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Ideologeme – Rasse und Vererbung – den Prämissen biographischen Denkens widersprachen und der politisch dazu geführt hatte, dass eine Vielzahl von Forscherinnen und Forschern ihre Ämter verloren und emigrieren mussten, war es zunächst nicht zu einer umfassenden Renaissance der biographisch und qualitativ orientierten Kindheitsforschung gekommen. Erst seit den späten siebziger Jahren lässt sich in der westdeutschen Erziehungswissenschaft ein neu erwachendes Interesse an der Kindheitsforschung erkennen. So forderte Flitner in einem programmatischen Beitrag aus dem Jahre 1978, die Beschäftigung mit den Ausdrucks-, Tätigkeits- und Erlebnisweisen, mit den Lebensläufen und dem Alltag von Kindern wieder in den Mittelpunkt einer pädagogischen Kindheitsforschung zu stellen (vgl. Flitner 1978, S. 185). Wesentliche Impulse für die Wiederbelebung einer subjekt- und alltagsorientierten Kindheitsforschung gingen auch von den jüngeren VertreterInnen einer phänomenologischen Pädagogik (vgl. Lippitz/Meyer-Drawe 1986; Lippitz/Rittelmeyer 1991) aus, die in kritischer Weiterentwicklung der Arbeiten von Langeveld (1964) Kindheit als sinnkonstituierende und sinnaneignende Tätigkeit begreifen, die den Erwachsenen als eine fremde Eigenwelt entgegentritt (vgl. Krüger 1997, S. 121). Neu konturiert wurde die pädagogische Kindheitsforschung zudem seit den späten 1970er und in den 1980er Jahren durch die VertreterInnen einer sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungswissenschaft, die nicht nur wieder biographische und ethnographische Methoden ins Zentrum der Erforschung von Kindheit rückten, sondern die an die interaktionistischen, sozialökologischen und gesellschaftstheoretischen Diskurse in der Sozialisationsforschung anknüpften und die damit vielfältige Verbindungslinien zu neueren Ansätzen in der Entwicklungspsychologie der Kindheit und zu einer sich parallel herausbildenden Soziologie der Kindheit herstellten (vgl. Zinnecker 1990, S. 21).
3. Aktuelle kindheitstheoretische Diskurse Versucht man die aktuellen kindheitstheoretischen Diskurse in der Erziehungswissenschaft und den Nachbardisziplinen, der Psychologie und der Soziologie, systematisch zu bündeln, so lassen sich vor allem vier verschiedene theoretische Annäherungen an die Welt der Kinder unterscheiden: eine sozialisationstheoretische und entwicklungspsychologische Perspektive (vgl. Hurrelmann 1986, Krappmann 1991, Silbereisen 1986); eine sozialökologische Perspektive (vgl. Nickel/Petzold 1993, Zeiher/Zeiher 1994); eine gesellschaftstheoretische Perspektive (vgl. Nauk/Meyer/Joos 1996, Sünker 1993) und eine biographietheoretische Perspektive (vgl. Krüger/Ecarius/Grunert 1994). Die sozialisationstheoretische und entwicklungspsychologische Perspektive berücksichtigt den Prozess der Entstehung und Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten Umwelt. Dieses Konzept von Sozialisation und Entwicklung, gefasst als Handlung im Kontext, das an interaktionistische und handlungstheoretische Traditionen in der Soziologie und Psychologie anknüpft, ist im Verlaufe der 1980er Jahre gleichzeitig in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Sozialisationsforschung und der Entwicklungspsychologie herausgearbeitet worden (vgl. Hurrelmann 1986; Oerter/Montada 1982). In diesen Ansätzen werden einerseits sämtliche Umweltfaktoren als gesellschaftlich beeinflusste interpretiert und in ihren Auswirkungen auf kindliche Wahrnehmungsmuster analysiert. Andererseits werden Kinder als aktive Subjekte ihrer Realitätsverarbeitung begriffen, die in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt elementare kognitive, sprachliche und soziale Handlungskompetenzen herausbilden und spezifische kindheitstypische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben (vgl. Hurrelmann 1986, S. 164).
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Dieses entwicklungsorientierte Konzept von Sozialiation ist in den letzten Jahren von konstruktivistischen Theorieansätzen massiv infrage gestellt worden, die kritisieren, dass die Sozialisationsforschung Kinder stets als unfertige Wesen auf dem Weg zum Erwachsenensein betrachte. Stattdessen sei eine solche Erwachsenensicht auf Kinder konsequent zu brechen und nachzuzeichnen, wie Kinder im Handeln soziale Realität miteinander konkret herstellen (vgl. Kelle/Breidenstein 1996, S. 51). Eine solche Forschung, die nicht die Entwicklungsperspektive, sondern vor allem die Hier- und Jetzt-Kommunikation von Kindern in den Blick nimmt, ist sicher notwendig und legitim. Doch damit bleibt die Frage nach der Soziogenese von Handlungsfähigkeit zugleich als relevant bestehen (vgl. Tillmann 2004, S. 472). Einige Ansätze der neueren Entwicklungspsychologie rücken in den letzten Jahren zunehmend den ökologischen Kontext als wirksame Bedingung für die Entwicklung von Kindheit ins Zentrum ihrer Analyse. Dabei werden aus psychologischer Sicht Umwelten stets als räumlich und zeitlich strukturiert gefasst, wobei sie dabei weniger im Sinne einer physikalischen und geographischen Größe, sondern eher subjektiv-personal und sozial verstanden werden (vgl. Nickel/Petzold 1993, S. 85). Ähnliche ökologische Sichtweisen haben sich im vergangenen Jahrzehnt auch in der erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Kindheitsforschung etabliert, wo die verschiedenen ökologischen Dimensionen von kindlichen Lebenswelten bzw. die Raumaneignung von Kindern untersucht werden (vgl. Baacke 1993; Zeiher/Zeiher 1994). Den gesellschaftstheoretischen Ansätzen in der Kindheitsforschung ist gemeinsam, dass sie den Blick vor allem auf die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen von Kindheit richten. Dabei kann man zwischen einer strukturbezogenen Kindheitsforschung auf der einen Seite unterscheiden, die Kinder als eine sozialstrukturelle Bevölkerungsgruppe fasst, für die u.a. ein spezifischer Wohlfahrtsstatus kennzeichnend ist (vgl. etwa Nauk 1993). Davon lassen sich solche gesellschaftstheoretischen Ansätze abgrenzen, die sich auf modernisierungstheoretische, zivilisationstheoretische oder kultursoziologische Konzepte beziehen, um die Pluralisierungsprozesse von familialen und kindlichen Lebenslagen, den Wandel von Verhaltensstandards in Eltern-Kind-Beziehungen oder soziale Ungleichheiten in den kulturellen Freizeitpraxen von Kindern analysieren zu können (vgl. du Bois-Reymond/Büchner/Krüger 1994, Sünker 1993, Zinnecker 1995). Im Zentrum der biographietheoretischen Perspektive steht die Analyse von Kindheit als Teil des Lebenslaufes und der Versuch, die biographischen Wege des Erwachsenwerdens zu rekonstruieren. Hier geht es also darum, den Wandel von Kindheit biographieanalytisch zu untersuchen, die subjektiven, biographisch geformten Erfahrungen und Werte von typischen Kindheiten herauszuarbeiten. Ähnlich wie die sozialisations- und entwicklungspsychologischen Ansätze begreift auch das biographietheoretische Konzept Kinder als aktive Subjekte ihrer Realitätsverarbeitung und Lerntätigkeit. Darüber hinaus wird versucht, biographieanalytische Perspektiven mit modernisierungstheoretischen Ansätzen zu verknüpfen, um den Wandel von Kinderbiographien vor dem Hintergrund der Chancen und Risiken von Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen verorten zu können (vgl. Krüger/Ecarius/ Grunert 1994, S. 221; Zinnecker 1990, S. 31). So sinnvoll somit eine Differenzierung in unterschiedliche theoretische Sichtweisen auf Kindheit ist, um die verschiedenen Annäherungen an die Welt der Kinder systematisch sortieren zu können (vgl. dazu auch Heinzel 1997, S. 397) – einen ähnlichen Versuch unternehmen auch Honig, Leu und Nissen (1996, S. 20), indem sie zwischen einer subjekt- und lebensweltorientierten sowie einer sozialstrukturell orientierten Kindheitsforschung unterscheiden –, so wird es für die zukünftige Kindheitsforschung jedoch gerade darauf ankommen, solche vermeintlichen Trennungen in eine akteursbezogene und eine strukturbezogene
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Kindheitsforschung zu überwinden. Notwendig auch für eine biographisch orientierte Kindheitsforschung ist vielmehr die Entwicklung eines komplexen Theoriedesigns, das biographietheoretische, sozialökologische und gesellschaftstheoretische Ansätze mit dem Ziel miteinander verzahnt, die Prozesse kindlicher Biographieentwicklung im Kontext ökologischer und sozialer Lebensbedingungen analytisch fassen zu können. Dabei gilt es, eine Binnenperspektive, d.h. wie die Kinder selbst ihr Leben und ihren Alltag sehen, und eine Außenperspektive, die den Blick auf die meso- und makrosozialen Strukturbedingungen kindlicher Lebensläufe und Lebenswelten richtet, miteinander zu verbinden. Erst Binnen- und Außenperspektive zusammen, sich wechselseitig ergänzend und korrigierend, können ein komplexes Bild von aktuellen kindlichen Biographieverläufen und von deren Bedingungsfaktoren ergeben (vgl. du Bois-Reymond/Büchner/Krüger u.a. 1994; Zeiher 1996).
4. Überblick über den Stand der Kindheitsforschung Während sich in den 1980er Jahren eine sozialwissenschaftlich und empirisch orientierte Kindheitsforschung immer mehr etablierte, konzentrierten sich in dieser Zeit die Untersuchungen überwiegend auf umfassendere Fragestellungen wie die Wandlungen in der kindlichen Lebenswelt insbesondere seit der Nachkriegszeit (vgl. Preuss-Lausitz u.a. 1983; Fend 1988; Rolff/Zimmermann 1985). Die Veränderungen in der Lebensphase Kindheit werden hier im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen betrachtet und vor allem unter generationenvergleichender Perspektive analysiert. Ausgehend von diesen Ergebnissen, die Modernisierungstendenzen (vgl. Beck 1986) auch für die Kindheit diagnostizieren, lässt sich mit Beginn der 1990er Jahre ein Perspektivenwechsel in der empirischen Kindheitsforschung erkennen, der sich in einer Hinwendung zu detaillierteren und fallbezogenen Analysen ausdrückt (vgl. Fölling-Albers 1995). Ausschlaggebend hierfür war sicher nicht zuletzt die Einsicht, dass sich die herausgearbeiteten globaleren Entwicklungsprozesse nicht bei allen Kindern einheitlich und in gleicher Ausprägung vollziehen. Durch diese stärkere Betonung fallbezogener Untersuchungen werden in der empirischen Kindheitsforschung zunehmend auch Methoden der Biographieforschung für die Analyse des Alltags und der Kultur der Kinder genutzt (vgl. auch Krüger/Grunert 2002). Biographieforschung bedient sich zur Bearbeitung der jeweiligen Forschungsfrage unterschiedlicher Methoden der Datenerhebung. Zum einen sind dies Verfahren, bei denen das Material vom Forscher selbst erhoben wird. Er ist in diesem Fall der Produzent der Daten und wird damit gleichzeitig zum Akteur in der jeweiligen Erhebungssituation. Solche reaktiven Verfahren (vgl. Marotzki 1995) sind bspw. verschiedene Interviewtechniken, die teilnehmende Beobachtung oder die Gruppendiskussion. Zum anderen greift Biographieforschung zum Zwecke der Datenerhebung auch auf andere, bereits vorliegende Materialien zurück. In diesem Fall ist der Forscher „lediglich“ der Rezipient schon existierender Dokumente, wie bspw. Autobiographien, Tagebücher, Briefe, Filme etc. (nicht-reaktive Verfahren). In diesem Beitrag wollen wir uns jedoch auf die Forschungsprojekte im Bereich der Kindheitsforschung konzentrieren, die in erster Linie mit reaktiven Verfahren der qualitativen Datenerhebung arbeiten. Nicht-reaktive Verfahren (vgl. Marotzki 1995) werden in Untersuchungen zur aktuellen Situation von Kindern und Kindheit eher ergänzend angewandt und sind eher im Bereich der historischen Kindheitsforschung anzutreffen. Zudem soll der Fokus auf Forschungsprojekten liegen, die die Kinder selbst zu Wort kommen lassen, die
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also die Sicht der Kinder auf ihre Lebens- und Aufwachsbedingungen in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Aus methodischer Perspektive sind damit zum ersten Untersuchungen gemeint, die mit unterschiedlichen qualitativen Interviewtechniken arbeiten. Während diese in anderen Bereichen der empirischen Erziehungswissenschaft zweifellos zu den zentralen Erhebungsmethoden gerechnet werden können, wird einem solchen Vorgehen innerhalb der Kindheitsforschung noch häufig mit Skepsis begegnet. Zweifel an der Kompetenz der Kinder, ihre eigene Sicht auf die Dinge (und nicht die ihrer Eltern oder anderer Bezugspersonen) darzustellen und verständlich zu artikulieren, sind dabei die zentralen Kritikpunkte. Dennoch bedienen sich in der empirischen Kindheitsforschung immer mehr Untersuchungen solcher Interviewtechniken, um die jeweilige Fragestellung angemessen bearbeiten zu können. Allen qualitativen Interviews gemeinsam ist die mehr oder weniger offene Art der Gesprächsführung. D.h. die darin enthaltenen Vorgaben bzw. Erzählimpulse des Forschers lassen den Kindern Spielraum, ihre eigenen Vorstellungen zur Sprache zu bringen und selbständig Erzählinhalte auszuwählen. Ausgehend von dem Grad ihrer Strukturiertheit kann man zwischen offenen (narrativen) und teilstandardisierten Interviewformen unterscheiden, die in der empirischen Kindheitsforschung angewandt werden. Dabei sind Studien, die ausschließlich auf ein offenes bzw. narratives Vorgehen zurückgreifen bisher eher selten (z.B. Krüger/Ecarius/ Grunert 1994). Die Mehrzahl der Untersuchungen mit Kindern bedient sich unterschiedlicher Formen teilstandardisierter Interviewverfahren (z.B. Petillon 1993; Ziegler 1996), die häufig durch andere Erhebungsmethoden ergänzt oder ihnen nachgestellt werden (bspw. Behnken u.a. 1991; Kirchhöfer 1995; Krappmann/Oswald 1995; Lange 1996; Zeiher/Zeiher 1994). Eine zweites zentrales Erhebungsinstrumentarium in der empirischen Kindheitsforschung ist die teilnehmende Beobachtung, die wiederum ebenfalls separat (z.B. Mannhaupt 1996) oder ergänzend (Kirchhöfer 1993; Krappmann/Oswald 1995; Lange 1996; Zeiher/ Zeiher 1994) eingesetzt wird (vgl. im Überblick Heinzel 2000). Untersucht werden anhand solcher qualitativ arbeitender Forschungsprojekte vor allem Aspekte des alltäglichen Lebens von Kindern und ihrer Kultur. Die zentralen Fragestellungen gruppieren sich dabei um vier größere Bereiche kindlichen Alltagslebens: a) Forschungsprojekte, die sich mit kindlichen Biographieverläufen auseinandersetzen konzentrieren sich vor allem auf Lebensgeschichten von Kindern und ihre eigene Perspektive auf ihre Biographie und die darin enthaltenen Lebensentwürfe und Verselbständigungsschritte gegenüber der Familie (z.B. Sander/Vollbrecht 1985; Behnken/Zinnecker 1993; Krüger/Ecarius/Grunert 1994). Da solche biographieanalytisch arbeitenden Forschungsprojekte dem Anliegen des Beitrags am ehesten entsprechen, sollen diese bezüglich ihrer Fragestellungen und methodischen Zugänge etwas ausführlicher beschrieben werden. Einen ersten Versuch, sich der Lebenswelt von Kindern bzw. jüngeren Jugendlichen mittels offener biographischer Interviews zu nähern, stellt die Untersuchung von Sander und Vollbrecht aus dem Jahr 1985 dar. Ziel dieser Studie ist es, die Vorstellungswelten und Handlungspläne 13- bis 15jähriger im biographischen Zusammenhang möglichst detailliert zu rekonstruieren. Zur Bearbeitung dieser Fragestellung wurden mit 16 Personen dieser Altersgruppe statarisch-narrative Interviews durchgeführt. Allerdings orientiert sich die Auswertung nicht an dem Verlauf der lebensgeschichtlichen Erzählung, sondern folgt einem themenzentrierten-komperativen Auswertungsverfahren (Mehrperspektivenverfahren). Damit erfolgt die Analyse der Interviews in strenger Orientierung an den gewählten Kategorien
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„Deutungsmuster des Alltagslebens“, „räumlich-soziale“ und „zeitliche Struktur der Lebenswelten“. Die Lebensgeschichte der InterviewpartnerInnen als Ganzes wird dadurch kaum mehr deutlich und wird zugunsten eines themenzentrierten Auswertungsverfahrens außer Acht gelassen. So kommen Sander und Vollbrecht zu dem Schluss, dass auch jüngere Jugendliche bereits ein Konzept von Biographie haben, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden sind und einander bedingen. Differenzierungen in den einzelnen biographischen Konstruktionen sind insbesondere vom Selbstverständnis als Konstrukteur der eigenen Entwicklung, vom Grad der biographischen Reflexionskompetenz und von der Bewertung der momentanen Lebenssituation abhängig. Während sich die Untersuchung von Sander und Vollbrecht eher mit älteren Kindern bzw. jüngeren Jugendlichen beschäftigt, wenden Behnken u.a. (1991) einen biographisch narrativen Zugriff bereits bei 10-jährigen Kindern an. Ziel des Forschungsprojektes „Kindheit im Siegerland“ ist es, den Wandel von Kindheit im 20. Jahrhundert näher zu untersuchen. In diesem Zusammenhang werden kindliche Lebenswelten über drei Generationen hinweg sehr detailliert analysiert. Dabei beschränkt sich das methodische Vorgehen nicht allein auf narrative Interviews. Zusätzlich werden mit den Kindern, Eltern und Großeltern Leitfadeninterviews, teilstandardisierte Interviews zum Tagesablauf, zum Kindheitsraum, zur häuslichen Umwelt und zu Handlungs- und Besitzinventaren sowie Fotointerviews durchgeführt. Um diese enorme Vielfalt an Datenmaterial bearbeiten zu können, greift die Projektgruppe auf die Strategie der Erstellung eines wissenschaftlichen Quellentextes zurück. Damit sollen die Daten themenspezifisch in einen lesbaren Text übertragen werden, um diesen anschließend interpretieren zu können. Problematisch erscheint dieses Vorgehen in zweierlei Hinsicht. Zum einen enthält bereits die Versprachlichung und quasi Übersetzung der gesammelten Daten in die Sprache des Forschers Interpretationen des Beschriebenen. Andererseits können durch das selektive Vorgehen bei der Zusammenstellung der als relevant erachteten Materialien wichtige Informationen verlorengehen. Wichtig bei einem solchen Vorgehen ist, dass die unternommenen Schritte nachvollziehbar sind und die Erarbeitung eines wissenschaftlichen Quellentextes nicht Aufgabe einer Person sind, um der Gefahr der Subjektivität zu entgehen. Ausgewertet werden diese Monographien schließlich in Bezug auf unterschiedliche Aspekte der Diskurse um die Modernisierung von Kindheit, wie die zunehmende „Pädagogisierung“ (vgl. Pasquale/Behnken/Zinnecker 1995), „Verhäuslichung“ oder „Individualisierung“ von Kindheit. Ziel eines solchen Vorgehens ist es, zu untersuchen, ob und in welcher Weise von einem längerfristigen Wandlungsprozess von Kindheit gesprochen werden kann und wie die Akteure selbst mit den veränderten Lebensbedingungen umgehen. Die einzige Untersuchung, die sich ausschließlich mit lebensgeschichtlichen Erzählungen von Kindern befasst und deren Biographieverläufe als solche analysiert, ist die von Krüger/ Ecarius/Grunert (1994) zu Verselbständigungsschritten und Lebensentwürfen 12-jähriger Kinder. In unserer Studie standen die Kinderbiographien im Allgemeinen und die Übergangsphase vom Kindes- ins Jugendalter im Besonderen im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses. Dabei gingen wir von der Annahme aus, dass heutige Kindheit von gesellschaftlichen Modernisierungsschüben sowie von Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen betroffen ist. Diese wirken sich auf die einzelnen Biographieverläufe, soziokulturell bedingt, sehr unterschiedlich aus, so dass sich auch heute verschiedene Formen modernen Kinderlebens auffinden lassen müssten, die wiederum unterschiedliche Wege von der Kindheit in die Jugend bedingen. Dazu führten wir mit insgesamt 30 etwa 12-jährigen Heranwachsenden und deren Müttern bzw. Vätern narrative Interviews sowie gespiegelte offene Leitfadeninterviews durch. Die Auswertung orientierte sich an dem von Fritz Schütze (1983) vorgeschlagenen Verfahren
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zur Herausarbeitung biographischer Prozessstrukturen, mit dem Ziel, biographische Kinderportraits zu erstellen, die deutlich machen, in welcher Form die Heranwachsenden den Weg von der Kindheit in die Jugendphase durchlaufen. Diese einzelnen biographischen Verlaufsmuster wurden schließlich vorsichtig zu einer Typologie verdichtet, anhand derer mögliche Wege in die Jugendphase aufgezeigt werden können. Durch dieses Vorgehen haben wir ein breites Spektrum von kindlichen Biographieverläufen herausgearbeitet, das einerseits deutlich macht, dass heute nicht mehr von der Kindheit die Rede sein kann. Andererseits weist dies auf eine, aus der Perspektive der Modernisierungstheorie, historische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten hin, da in unserer Untersuchung sowohl eine hochmodernisierte Variante, eine moderne Variante, eine teilmodernisierte Variante, als auch eine traditionelle Variante von kindlichen Biographieverläufen aufgefunden werden konnte. Dabei ist ein beschleunigter (hochmodernisierter) Weg in die Jugendphase, ganz entgegen den Diskussionen um eine frühe Biographisierung von Kindheit, eher eine Ausnahme. Andere qualitativ arbeitende Projekte im Bereich der Kindheitsforschung, die sich zwar nicht mit kindlichen Biographieverläufen beschäftigen, jedoch wichtige Informationen zum Kinderalltag und zur Kinderkultur liefern, sind: b) Untersuchungen zu kinderkulturellen Praxisformen. Diese beschäftigen sich in erster Linie mit den Aufenthaltsorten und Tagesabläufen von Kindern, ihren Freundschaftsbeziehungen und Interaktionsmustern sowie mit ihren Freizeitaktivitäten (z.B. Büchner/Fuhs 1994; Krappman/Oswald 1995; Zeiher/Zeiher 1994; Breidenstein/Kelle 1998). So sind bspw. Krappmann und Oswald mittels teilnehmender Beobachtung und themenzentrierter Interviews der Frage nachgegangen, welchen Einfluss Gleichaltrige auf die Entwicklung sozialer Fähigkeiten haben und wie sich Interaktionsprozesse zwischen Kindern der ersten, vierten und sechsten Klassenstufe gestalten. Dabei tragen Aushandlungsprozesse zwischen Kindern einer Altersgruppe dazu bei, unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen und sich um deren Koordination zu bemühen. Büchner und Fuhs nutzten die Aussagen 12jähriger Kinder aus narrativen und Leitfadeninterviews sowie Listen zum KinderzimmerInventar, um außerschulisches Kinderleben hinsichtlich der Gestaltung durch die Kinder, ihrer Sozialbeziehungen und Handlungsspielräume zu analysieren. Vor dem Hintergrund der Modernisierungstheorie kommen Büchner und Fuhs zu dem Ergebnis, dass Kinder ihr außerschulisches Leben grundsätzlich relativ selbständig gestalten, sich jedoch unterschiedliche Modernitätsgrade in der Gestaltung des Kinderalltags auffinden lassen. Dabei ist eine hochmodernisiert-individualisierte kinderkulturelle Praxis insbesondere bei Kindern aus Familien mit einem hohen sozialen Status zu erkennen. Zeiher und Zeiher entwickeln in ihrer Untersuchung zur Alltagsorganisation in der mittleren Kindheit ein Erhebungsverfahren, in dem sie von etwa 10-jährigen Kindern Protokolle über deren Tagesablauf anfertigen ließen, anhand derer anschließend fokussierte Interviews zur Tätigkeitsfolge, zum Zustandekommen, zum Inhalt und zu den PartnerInnen der jeweiligen Handlung mit den Kindern durchgeführt wurden. Ziel dieser Studie ist es herauszuarbeiten, wie sich kindliches Alltagsleben gestaltet und inwieweit dieses von den Kindern selbst oder durch äußere Umstände bestimmt wird. Deutlich wird hier, dass Kinder keineswegs nur Opfer der sich verändernden Lebensbedingungen sind, sondern sich aktiv mit diesen auseinandersetzen und für sich nutzbar machen. c) Familiale Beziehungsmuster stehen bei Untersuchungen im Mittelpunkt, die sich mit Eltern-Kind-Beziehungen und Erziehungsstilen, Reglementierungen und Freiräumen im Familienleben beschäftigen (z.B. du Bois-Reymond 1994).
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In ihrer Untersuchung zu Eltern-Kind-Beziehungen bedient sich du Bois-Reymond Aussagen aus narrativen Interviews 12-jähriger niederländischer Kinder sowie Leitfadeninterviews der Kinder und deren Eltern. Ausgehend von A. de Swaans These einer zivilisatorischen Entwicklung vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt verfolgt sie die Frage, wie sich familiales Zusammenleben heute gestaltet. Die Analyse des Fallmaterials führt sie zu einer Typologie moderner Generationsbeziehungen, die sich an den Entwicklungstendenzen vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt orientiert. Darin unterscheidet du Bois-Reymond vier Muster moderner Eltern-Kind-Beziehungen: den traditionellen Befehlshaushalt, den modernisierten Befehlshaushalt, den Verhandlungshaushalt sowie die Ambivalenz (Erziehungsohnmacht). Die Mehrheit der untersuchten niederländischen Familien lässt sich dem Typus des Verhandlungshaushaltes zuordnen, der sich insbesondere durch einen partnerschaftlichen Umgang zwischen Eltern und Kindern auszeichnet. d) In Forschungen zu schulischen Handlungszusammenhängen werden bspw. Lerngewohnheiten und -schwierigkeiten, Beziehungen und Interaktionen zwischen SchülerInnen und LehrerInnen sowie Denkweisen und Verarbeitungsmuster von SchülerInnen herausgearbeitet (z.B. Petillon 1993). Hanns Petillon widmet sich in seiner Untersuchung zum Sozialleben des Schulanfängers der Frage, wie Erstklässler die neue Situation und die meist fremden MitschülerInnen wahrnehmen und dementsprechend ihr eigenes Handeln gestalten. Da sich diese Studie mit Kindern befasst, die erst 6 oder 7 Jahre alt sind, bedient sich Petillon zur Erhebung seiner teilstandardisierten Interviews verschiedener Hilfsmittel. Durch die Verwendung von Bildund Emotionskarten, Photos und Handpuppen sollte den Kindern im Einzelinterview die jeweilige Fragestellung veranschaulicht und eine Erzählung ihrerseits angeregt werden. Die Untersuchung wurde in Form einer Längsschnittuntersuchung durchgeführt, die circa je 250 Kinder zu Beginn der Schulzeit, am Ende des ersten Schuljahres sowie am Ende des zweiten Schuljahres in die Erhebung einschloss. So greift dann auch die Auswertung nicht auf qualitative, sondern auf quantitative Verfahren zurück. Dabei kommt Petillon zu dem Schluss, dass am Beginn der Schulzeit Beziehungen und Freundschaften zu den MitschülerInnen von großer Bedeutung sind und im Gegensatz zu der Person des Lehrers oder schulischer Lerninhalte im Mittelpunkt kindlicher Handlungen stehen.
5. Qualitative Interviews mit Kindern – Schwierigkeiten und Erfahrungen Das Vorhaben, qualitative Interviews mit Kindern durchzuführen, gestaltet sich in vielerlei Hinsicht schwieriger als bei Jugendlichen oder Erwachsenen. Insbesondere das Alter der Kinder bzw. die damit verbundene Kompetenz, über sich selbst, die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse erzählen zu können, stellt eine erste Einschränkung für die Auswahl eines solchen methodischen Vorgehens dar. Aufgrund der allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten erscheint es wenig sinnvoll, Kinder unter 5 Jahren mittels qualitativer Interviews zu untersuchen. Hingegen erwiesen sich bspw. bei Petillon (1993) 6- bis 8-jährige Kinder durchaus als in der Lage, über ihre Lebensumstände Auskunft zu geben. Allerdings wurden bei Kindern unter 10 Jahren bisher noch keine narrativen Interviews durchgeführt, da angenommen wird, dass diese aus entwicklungspsychologischen Gründen kaum ihre eigene Biographie
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als Ganzes erfassen und darstellen können. Bei Kindern dieser Altersgruppe werden vielmehr teilstandardisierte Interviews verwendet, bei denen häufig mit Hilfsmitteln, wie Bildkarten, Photos oder Handpuppen zum Erzählen angeregt wird (vgl. Fuhs 2000). Da wir in unserem eigenen Projekt zu Verselbständigungsschritten und Lebensentwürfen 12-jähriger Kinder in erster Linie mit narrativen Interviews gearbeitet haben, soll nun etwas näher auf unsere diesbezüglichen Erfahrungen eingegangen werden (vgl. Krüger/ Ecarius/Grunert 1994). Narrative Interviews mit Kindern durchzuführen, heißt zum ersten, diese vor eine bisher unbekannte Aufgabe zu stellen. Im Gegensatz zu Jugendlichen oder Erwachsenen, haben die meisten Kinder dieser Altersgruppe ihre Lebensgeschichte oder Teile dieser noch nie einer anderen Person erzählt und werden somit zum ersten Mal mit einer solchen Aufforderung konfrontiert. Aber nicht nur die Aufgabe, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, stellt für die Kinder eine neue Situation dar, sondern auch das Interviewgespräch weist bisher unbekannte Beziehungsformen auf. Anders als bei Interviews mit Erwachsenen, begegnen sich hier VertreterInnen unterschiedlicher Generationen. Die InterviewerInnen in unserer Forschungsgruppe waren zwischen 10 und 28 Jahre älter als die befragten Kinder und wurden von ihnen somit als Erwachsene betrachtet, denen gemeinhin der Status des Erfahrenen und Richtungsweisenden zugeschrieben wird. In der Interviewsituation kehren sich jedoch die Kompetenzzuweisungen zwischen Kindern und Erwachsenen um. Hier sind es die Kinder, die ihre Erfahrungen weitergeben und als ExpertInnen ihres eigenen Lebens betrachtet werden, die Erwachsenen hingegen nehmen die Rolle der Zuhörenden und Wissbegierigen ein. Eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Interview ist demnach die Bereitschaft der InterviewerInnen, diese Konstellation zu akzeptieren und sich auf das befragte Kind einzustellen. Eine diesbezügliche Schulung und ein Erfahrungsaustausch sollten deshalb als unbedingt notwendig angesehen werden. Zum anderen ist die Formulierung der Erzählaufforderung von entscheidender Bedeutung. Sie muss für die Kinder verständlich und nachvollziehbar sein. In unserer Untersuchung lautete der Erzählstimulus wie folgt: „Ich möchte gerne wissen, wie Dein bisheriges Leben verlaufen ist. Erinnere Dich bitte zurück an die Zeit als Du noch ganz klein warst und erzähle doch einmal ausführlich Dein Leben von dieser Zeit bis heute. Ich sage jetzt erst einmal gar nichts und höre Dir zu.“ Damit werden die Kinder darauf hingewiesen, was es bedeutet, seine Lebensgeschichte zu erzählen, nämlich an Vergangenes zurückzudenken und über diese Erinnerungen zu berichten. Gleichzeitig wird ihnen deutlich gemacht, dass sie für diese Aufgabe ausreichend Zeit zur Verfügung haben und die Interviewerin bzw. der Interviewer nun die Aufgabe des Zuhörens übernimmt. In unserem Projekt konnte diese Erzählaufforderung erfolgreich eingesetzt werden. In den meisten Fällen begannen die Kinder daraufhin mit ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung. Deutlich wurde aus unserer Untersuchung, dass zwölfjährige Kinder durchaus in der Lage sind, über ihr bisheriges Leben zu berichten, einzelne Lebensabschnitte zu reflektieren und Erlebtes zu bilanzieren.
6. Forschungsdesiderata und -perspektiven Zieht man eine Bilanz zum aktuellen Entwicklungsstand der Kindheitsforschung, so lässt sich feststellen, dass sich dieses Forschungsgebiet in der Erziehungswissenschaft wieder, in der Soziologie neu etabliert hat und dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern
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inzwischen nicht mehr eine vorrangige Domäne der Entwicklungspsychologie ist. Theoretisch haben sich die Sichtweisen auf die Welt der Kindheit in diesen drei Disziplinen im letzten Jahrzehnt angenähert, auch wenn die aktuelle Debatte um den Stellenwert des Sozialisationsparadigmas für die Kindheitsforschung zeigt, dass dieses Bündnis immer noch brüchig ist. So wird von einigen VertreterInnen einer soziologischen Kindheitsforschung (vgl. etwa Wilk/Bracher 1994, S. 12) kritisiert, dass die pädagogische und psychologische Kindheitsforschung, die Kinder als „Werdende“ und nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachte. Bei dieser Kritik wird jedoch die theoriegeschichtlich bedeutsame aktive Wendung sozialisationstheoretischer Ansätze gegen biologistisches Denken zu wenig beachtet und übersehen, dass auch der zukünftige kindheitstheoretische Diskurs die Dimensionen der Ontogenese kindlicher Handlungsfähigkeiten und der ökologischen und gesamtgesellschaftlichen Bedingungen des Kinderlebens gleichzeitig mit berücksichtigen muss (vgl. Heinzel 1997, S. 398; Zeiher 1996, S. 17). Empirisch wurden vor allem in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung im vergangenen Jahrzehnt eine Vielzahl von Projekten auch mit qualitativer bzw. biographischer methodischer Orientierung durchgeführt, die sich inhaltlich mit den biographischen Wegen von der Kindheit in die Jugendphase, mit familialen Lebenswelten und Eltern-Kind-Beziehungen, mit kinderkulturellen Freizeitpraxen sowie mit den sozialen Interaktionen und Lernprozessen von Kindern in der Grundschule beschäftigt haben. Kaum untersucht wurden jedoch bislang die Muster kindlicher Lebensführung und der Alltag von Kindern in anderen pädagogischen Institutionen, wie etwa im Kindergarten oder im Hort, Forschungsfelder und -themen, die gerade für die erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung wichtige zukünftige Herausforderungen darstellen (vgl. Zinnecker 1996, S. 50). Bei der Untersuchung dieser Forschungsbereiche ist die qualitative erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung auch auf den Einsatz spezifischer Erhebungsmethoden, wie z.B. teilnehmende Beobachtung oder die Sammlung von Kinderzeichnungen und Aufsätzen angewiesen, da narrative Interviewverfahren bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter noch nicht verwendet werden können. Ein zweites für die erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung noch zu bearbeitendes Forschungsthema sind die Bilder von Kindheit als kulturelle Muster und mentale Konstrukte in den Vorstellungen von PädagogInnen (vgl. Qvortrup 1993, S. 116). Hierzu haben Pasquale, Behnken und Zinnecker (1995) zwar erste Vorarbeiten vorgelegt, indem sie auf der Basis von qualitativen Interviews mit den Eltern elfjähriger Kinder unterschiedliche Bilder einer pädagogisierten Kindheit in den Wahrnehmungen vor allem der Mütter untersuchten. Noch weitgehend unerforscht sind hingegen die sozialen Konstruktionen von Kindheit in den Vorstellungswelten von professionellen PädagogInnen, z.B. von LehrerInnen oder SozialpädagogInnen. Eine dritte Forschungaufgabe, die sich für die zukünftige erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung stellt, ist die Analyse des historischen Wandels von Kindheit im 20. Jahrhundert. Bislang wurden in einigen historischen Regionalstudien (vgl. z.B. Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1989; Herrmann 1991b) gestützt auf oral-history Interviews und Archivmaterial die Veränderungen kindlicher Lebenswelten in städtischen und ländlichen Räumen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts analysiert. Es mangelt jedoch an Studien zur jüngeren und jüngsten Kindheitsgeschichte. Insbesondere für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind solche Untersuchungen zum Wandel von kindlichen Biographieverläufen und Alltagswelten in Westdeutschland und der ehemaligen DDR noch zu initiieren und durchzuführen.
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Ein viertes Forschungsfeld, das von der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung noch weitgehend neu zu erschließen ist, ist die kulturvergleichende Forschung. Zwar wurden im Kontext der ethnologischen Kindheitsforschung bereits eine Reihe von spannenden, auch qualitativ orientierten Studien zum Alltagsleben von Kindern in verschiedenen außereuropäischen Kulturkreisen vorgelegt (vgl. Renner 1995); und auch zur Kindheit in verschiedenen europäischen Ländern gibt es inzwischen erste Überblicke (vgl. z.B. Chisholm/Büchner/Krüger u.a. 1995), in denen u.a. auch unter Bezug auf qualitative Forschungsergebnisse über Aspekte kindlichen Aufwachsens in unterschiedlichen nationalen Räumen berichtet wird. Was jedoch weitgehend fehlt, sind komparativ angelegte qualitative Studien, die den Wandel von Kinderbiographien, Kinderalltag und kindlichen Lebenslagen in verschiedenen Ländern und Kulturen empirisch miteinander vergleichen (vgl. erste Ansätze in Bois-Reymond/Büchner/Krüger u.a. 1994). Solche Studien sind zudem mit dem Problem konfrontiert, dass eine Methodik qualitativ-interkultureller Forschung bislang noch kaum erarbeitet worden ist (vgl. Furstenberg 1993, S. 37). Angesichts der Tatsache, dass insbesondere im letzten Jahrzehnt in einer Vielzahl von europäischen und außereuropäischen Ländern die empirische, auch qualitativ orientierte Kindheitsforschung einen enormen Aufschwung erfahren hat und vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die sich aus der europäischen Integration und der Globalisierung kindlicher Lebenslagen für die wissenschaftliche Erforschung von Kindheit und für die Kinderpolitik ergeben, stellt gerade die internationale Vernetzung sowie die Ingangsetzung kulturvergleichender Studien ein zentrales Aufgabenfeld der zukünftigen erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung dar.
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Biographieforschung und pädagogische Jugendforschung Dieter Baacke/Uwe Sander
Inhalt 1. Geschichtliche Aspekte des Forschungsfeldes 2. Konzepte der pädagogischen Biographieforschung 3. Elemente der Gegenstandsbeschreibung 4. Neue Beobachtungen zur biographischen Jugendforschung 5. Forschungsperspektiven Literatur
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Dieter Baacke/Uwe Sander
1. Geschichtliche Aspekte des Forschungsfeldes Neben den literarisch in ihrem Form- und Gattungscharakter sowie in ihren Darstellungsweisen bestimmten Formen des Nekrologs, des Lebenslaufs, der Memoiren und der Autobiographie ist die Biographie die bedeutendste und im Umgreifen von Individualität auch tiefste Darstellung „der Lebensgeschichte eines Menschen“, und entsprechend definiert beispielsweise Alheit in einem Sachbuchartikel: „Biographie kann allgemein als individuelle Lebensgeschichte definiert werden, die den äußeren Lebenslauf, seine historischen gesellschaftlichen Bedingungen und Ereignisse einerseits und die innere psychische Entwicklung des Subjekts andererseits in ihrer wechselseitigen Verwobenheit darstellt.“ (Alheit 1990, S. 405). Während der Lebenslauf die für das öffentliche Interesse (bzw. bei einer Bewerbung) zum Zuge kommenden Lebensdaten enthält, stellt die Biographie eine „Verwobenheit“ objektiv nachprüfbarer Daten und der Artikulation subjektiv erlebter Handlungs- und Ereignisfolgen dar, die in den Memoiren (als eine Form von Lebenserinnerungen im Rückblick) bzw. im Nekrolog als Form der Würdigung eines Verstorbenen nach einem gelebten Leben gipfeln. Gerade an diesen letztgenannten Formen wird deutlich, dass ‚Biographie‘ immer auch Rückblick und Rekonstruktion auf einen längerwährenden Lebenszeitraum bedeutet, und insofern scheinen Jugendliche in diesem Sinne noch gar keine ‚Biographien‘ zu haben, weil der Identitätsbildungsprozess in der Adoleszenz erst im Gange, aber keinesfalls abgeschlossen ist. Jedoch: Mit dem Zeitalter der Aufklärung (etwa in 17. Jahrhundert) etabliert sich die Biographie nicht nur als eigenständiges literarisches Genre; vor allem in den folgenden Jahrhunderten werden Biographien zunehmend als innere Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Individuen verstanden, da die Jugendzeit (im allgemeinen Sinn) insofern als besonders bedeutungsvoll hervortritt, als hier einschneidende Ereignisse und kritische Momente besonders zu erwarten sind (vgl. Hornstein 1966, Gillis 1980). Daher werden Biographien nicht mehr nur als ganzheitliche Lebensbeschreibungen eines gelebten und insoweit abgeschlossenen Lebens aufgefasst, sondern auch als Abschnittsbeschreibung von besonderer Bedeutung und Gewichtung. Exemplarisch deutlich wird dies in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (Roman, erschienen 1795/96). Gemäß der Maxime, Irrtum könne nur durch Irren geheilt werden, durchschreitet Wilhelm unterschiedliche Stationen, von Szenerien des Theaters bis zum Geschäftswesen; Irrungen und Wirrungen des Herzens und die Begegnungen in einer „Turmgesellschaft“ zeigen, dass Wilhelms Weg kein Irrweg war: Was dem „Edelmann“ durch Geburt gegeben ist, nämlich eine personelle Ausbildung mit dem Ziel, eine „öffentliche Person“ zu werden (5. Buch 3. Kapitel), ist für Wilhelm als neuem Vertreter des Bürgertums als Suchaufgabe gestellt mit dem Ziel „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“ (ebd.). Solche inneren Bildungs- und Entwicklungsprozesse verlängern die humanistische Tradition der Antike und der Renaissance in die Modernität bürgerlicher Gesellschaft hinein mit einem neuen Selbstbewusstsein, in dem nicht mehr Erbschaft und ständische Zugehörigkeit zählen, sondern die persönliche Leistung, eine eigene Biographie zu erwerben, und diese beginnt als Lernbiographie schon beim Kinde und kulminiert im Jugendlichen. Entsprechend nehmen die biographischen Zeugnisse von Laien in dieser Zeit zu, und zum ersten Mal gibt es auch Frauen als Verfasserinnen von Biographien. Diese gerade auch das Jugendalter akzentuierende Darstellung kulminiert in Rousseaus „Confessiones“ (1781), Franklins „Autobiography“ (1778-1789), Goethes „Dichtung und Wahrheit“ (1831), Karl Philipps Moritz’ „Anton Reiser“ (erschienen 1785-1790). Dieser vom Autor
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selbst so betitelte „Psychologische Roman in vier Teilen“ erschließt zum ersten Mal die auch mit der Aufklärung begründete Orientierung an einer Verwissenschaftlichung der Biographieschreibung. Der als Fragment endende Roman thematisiert, so in der Vorrede zum 4. Band, den „Widerspruch von außen und innen“, der „bis dahin sein ganzes Leben“ war, und stellt der harmonisierenden eine spiegelbildlich-negative Variante zur Seite. Im 19. Jahrhundert geht es in der geisteswissenschaftlich orientierten Biographik darum, die sich bildende Innerlichkeit des Menschen als vor allem auch bedeutende Persönlichkeit zu erfassen (Beispiele: Rudolf Hayms „Humboldt“, 1856; Hermann Grims „Michelangelo“, 1860-1863; Wilhelm Diltheys „Schleiermacher“, 1870). Im 20. Jahrhundert versuchen dann vor allem Charlotte Bühler (1927, 1931, 1931, 1934) und Siegfried Bernfeld (1924, 1992) in einer Abwendung vom Geniedenken und im gestiegenen Interesse an „Normalität“, biographische Materialien für die Betrachtung und Deutung von Jugendalter und jugendlichen Entwicklungsverläufen fruchtbar zu machen. Die spezifische Zuwendung zur Jugendbiographie dokumentiert sich also im aufstrebenden Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts, zum ersten Mal besonders deutlich in der Epoche zwischen 1770 bis ins 20. Jahrhundert hinein, die Muchow zu einer „Großepoche“ (Muchow 1962, S. 147) zusammenzufassen sucht. Um 1770 erscheint die Gestalt des Jünglings (der erst um die letzte Jahrhundertwende in den Jugendlichen übergeht). Es sind vor allem die Söhne von Professoren, Pfarrern, Juristen und Lehrern, die dieser jugendlichen Altersgruppe ein neues Lebensgefühl vermitteln und der Jugendperiode einen eigenen biographischen Wert geben lässt. Ein Beispiel ist Christoph Kaufmanns Lebensgeschichte (1753 als jüngstes von 13 Kindern des Gerbermeisters und späteren zweiten Bürgermeisters von Winterthur geboren), der seine Jünglingsjahre zwischen 1769 und 1777 durchlebte. Er hat zwar selbst nichts geschrieben, kreuzte aber die Bahn vieler namhafter Männer und Jünglinge seiner Zeit (Herder, Hamann, Lavater, Klopstock, Goethe etc.) und nahm in seinem gelebten Rousseauismus – er zog mit wehendem mähnenartig flatterndem Haar, begleitet mit einem bis zum Nabel offenen Hemd und einem Lodenrock, bewaffnet mit einem Knotenstock durch die Lande – die Aufmerksamkeit auf sich, indem er gegen die ‚Hofkreise‘ einer altmodischen Kleiderkultur, Haarmode und Lebensstil des Modells des Rokoko protestierte und zur Modellfigur für die ‚Stürmer und Dränger‘ wurde, die sich als ‚Hainbündler‘ versammelten, gegen Zopf und Perücke zu Felde zogen und sich in der Universitätsstadt Göttingen (in pietistischer Säkularisierung) für Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, starke Gefühle und Freundschaftstugenden einsetzten. Kaufmann ist auch deshalb eine bis heute über sozialen Wandel hinweg exemplarische Figur, weil die Lebensperiode der Jugendlichkeit und des Jungseins die eigentlichen Impulse zu setzen schien. Später verblasst Kaufmanns Lebensgeschichte und verliert ihre biographische Faszination: Er heiratet, versucht sich (erfolglos) in der Landwirtschaft, lebt von Gnadengehältern eines Adeligen, schließt sich der Brüdergemeinde an, stirbt (mit 42 Jahren) in Herrnhut, von Freunden und Anhängern verachtet oder vergessen. Diese biographische Akme in der biographischen Jugendzeit rechtfertigt bis heute die Zuwendung zu diesem Gebiet in besonderer Weise. Bis heute hat die im engeren Sinn pädagogisch orientierte Jugendforschung ihre besondere Bedeutung vor allem darauf zurückgeführt, dass „das Interesse an der Jugend als Gradmesser für gesellschaftliche Problemlagen, Befindlichkeiten oder Entwicklungstendenzen nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch begründet war und auch weiterhin ist. Dass damit zumindest indirekt immer wieder zentrale Bestands- und Entwicklungsfragen der Gesamtgesellschaft thematisiert werden, liegt auf der Hand“ (Büchner 1993, S. 44). Zur sensiblen und differenzierten Erfassung eines sich wandelnden Zeitgeistes und der jeweils in
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ihr eingelagerten Jugendphase hatte schon S. Bernfeld Befragungen von Kindern und Jugendlichen mit feststehenden Fragen kritisiert und statt dessen ein qualitativ orientiertes Vorgehen vorgeschlagen als eine Art „Inventarforschung“ und mit Antworten, die nicht durch vorweg gestellte Fragen angeregt sind: „Alle Produkte jugendlicher, spontaner Tätigkeit sind als Material dieser Art verwertbar: Zeichnungen, Sammlungen, Gedichte, Tagebücher, Briefe, Notizen, Gespräche, Organisationen“ (nach Rosenmayr 1962, S. 30). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Psychologin Ch. Bühler, die sich als Pionierin der Tagebuchforschung versteht; sie bemerkt rückblickend in der 4. Auflage von „Das Seelenleben des Jugendlichen“ (1927, S. V/VI): „Mit Experiment und Erhebung war an wesentliche Grundprobleme zunächst nicht heranzukommen. So wurde ein neuer methodischer Weg gewählt und vorgeschlagen, nämlich der der systematischen Analyse ... der Tagebücher von Jugendlichen.“ Trotz des Gebots der Skepsis gegenüber der Verwertbarkeit von Selbstbeobachtungen setzt Bühler voraus, dass das Tagebuch vor allem geschrieben wurde, um „zu seiner eigenen Klärung“ beizutragen: Damit ist die in Goethes „Lehrjahren“ skizzierte Figuration eines Erkenntniswegs über Irrtümer als authentische Basis eigenen seelischen Erlebens vorgeschlagen und fortgeschrieben. Bühler und ihre Schülerin H. Hetzer (1926, 1931) haben auch Mädchen in ihre Tagebuchsammlungen aufgenommen, um ihre literarische Produktivität deutlich zu machen; die Beachtung des „Wandels der Zeiten im Tagebuch“ (Bühler 1994, S. 1) führt auch zur Beachtung des Generationenverhältnisses und des sozialen Wandels. Die spezifische Beachtung der pädagogischen Biographieforschung findet sich erst Ende der 1960er Jahre in deutlicher Form. Jürgen Henningsen (1961, 1962) und vor allem W. Loch („Erziehung und Lebenslauf“, 1979 u. 1978) versuchen, Bildungs- und Erziehungsprozesse im biographischen Horizont zu verstehen. In einer „bildungstheoretischen Biographieforschung“ geht es später darum, individuelle Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und subjektiver Erfahrungen durch die Verschriftlichung von narrativen Interviews zu erarbeiten (Kokemohr/Marotzki 1989, S. 127). Lebensgeschichten entstehen danach aus Interaktionen mit einem Gesprächspartner und begründen dadurch die besondere Dichte dieses Vorgehens. Mit einem anderen Akzent betont der Sammelband „Aus Geschichten lernen“ (Baacke/Schulze 1979) ein erziehungswissenschaftliches Erkenntnisinteresse, das aus verschiedenen Formen der autobiographischen Selbstthematisierung und Selbstauslegung bestehen sollte, denn Geschichten sind „handlungs- und ereignisnah und vermögen abstrakte Absichten in praktisch-pädagogische Prozesse zu transformieren.“ (Baacke 1979, S. 13). Im gleichen Duktus stehen reine Dokumentationen jugendlicher Biograhiekonstruktionen, die auf eine wissenschaftliche Reformulierung der Selbstzeugnisse verzichten, sondern bewusst das (häufig gesprochene und transkribierte) Wort in einer literarisch gereinigten Form dem Deutungsverhältnis von (jugendlichem) Autor und Leserschaft überlassen (vgl. Projektgruppe Jugendbüro 1978, Baacke/Sander/Vollbrecht 1994). Das Interesse an konkreten ‚Lebenswelten‘, die ,Wende zum Alltag‘, ergänzen solche biographischen Sichtweisen einer pädagogischen, in hermeneutischer Tradition stehenden (Jugend)Forschung (Fuchs 1984, Fuchs-Heinritz/Krüger 1991, Fuchs-Heinritz 1993, Combe/Helsper 1991, Baacke/Schulze 1985, Vollbrecht 1986), die sich derzeit in einer institutionellen Arbeitsgruppe der Biographieforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft als festen Diskussionsrahmen organisiert. Viele Arbeiten bzw. Publikationen zu methodischen Aspekten (etwa: Fischer/Kohli 1987, Voges 1987, Fuchs-Heinritz 1992, Haupert 1991, Jüttemann/Thomae 1998, Krüger/Marotzki 1995, Schütze 1981/1983/1987/1995) repräsentieren zur Zeit ebenso eine andauernde ,Konjunktur des Biographischen‘ in der Erziehungswissenschaft/ Pädagogik wie die unterschiedlichen methodischen Anwendungen der biographischen Me-
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thode in spezifischen Forschungsfeldern. Im Sinne einer unvollständigen Auswahl können hier genannt werden: biographische Rekonstruktionen jugendlichen Erlebens der sogenannten ,Wende‘ (von Wensierski 1994, Vollbrecht 1993), biograpische Studien jugendlicher ,Außenseiter‘ (Nölke 1994/1996/1997, Helsper/Müller/Nölke/Combe 1991, Haupert 1991a, Bohnsack 1996, Haupert 1991b), Kinder- (Krüger/Ecarius/Grunert 1994) oder Studentenbiographien (Kokemohr/Marotzki 1989, Marotzki/Kokemohr 1990), Biographie und Generativität (Ecarius 1995), Biographie und Nationalität (Sander 1995), Biographie und Zeit (Sander/Vollbrecht 1985, Fischer 1997), Biographie und Ethnizität (Meister 1997, Meister/Sander 1996), Biographie und Medien (Baacke/Sander/Vollbrecht 1990, Sander/Vollbrecht 1989a/ 1989b), Biographie als Zugang zur (Erziehungs)Geschichte (Herrmann 1991, Dittrich-Jacobi 1979, Heinze-Klusemann 1979).
2. Konzepte der pädagogischen Biographieforschung Während Charlotte Bühler, Siegfried Bernfeld u.a. sich eher einer psychologisch-orientierten, Lazarsfeld u.a. einer eher soziologisch-orientierten Biographieforschung zuwandten, sind die Ursprünge der pädagogischen Biographieforschung bereits im 19. Jahrhundert zu suchen, also zu der Zeit, als auch die Biographien das erstarkende bürgerliche Selbstbewusstsein in den Jugendbildern widerspiegelten. Vor allem Wilhelm Dilthey (1833-1911) bemühte sich in seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften um ein Konzept allgemeinen Menschenverstehens, das weniger psychologisch denn hermeneutisch bestimmt ist, mit den Leitbegriffen Leben (Erleben) Ausdruck und (vor allem) Verstehen (Dilthey 1957, 1958, dazu auch: Son 1997, S. 32ff.). Indem der Erlebende im Versuch, das Fließende des Lebens zu erfassen, diesem Bedeutungen zuschreibt, kann dies nur gelingen, wenn er diese in den Lebensverlauf selbst einträgt, also die biographische Konstruktion in den Zusammenhang des Lebens stellt: „Der Lebenslauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden. In allem Geistigen finden wir Zusammenhang; so ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt.“ (G.W. VII, S. 195). Das Geistige erschließt sich im Verstehen, und dieses reicht „von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Worten und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung.“ (G.W. V, S. 318f.). Alle diese verschiedenen Materialien finden sich wiederum am deutlichsten in den Selbstbiographien etwa eines Augustinus, Rousseau oder Goethe. In jeder dieser Biographien entsteht ein „Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt“ und jedes „Leben einen eigenen Sinn“ hat (G.W. VII, S. 199). Die Jugendgeschichte wird so im Rückblick der Gesamtdeutung ihrerseits ‚bedeutsam‘, indem alles, was geschieht, auf einen Zielwert, eine biographische Entelechie, ausgerichtet ist. Das dem Ersten Teil Goethes in „Dichtung und Wahrheit“ vorangestellte Motto „Ho me dareis anthropos u paideuetai“ (‚der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen‘) zeigt die pädagogische Dimension der – lange Zeit zu wenig beachteten – Biographiedeutung Diltheys sehr deutlich: Widersprüche, Irrtümer, Schwierigkeiten und problematische Widerfahrnisse erklären sich, rückblickend betrachtet, als sinnvoll und damit grundsätzlich gerechtfertigt.
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Werner Loch (geb. 1928) hat Diltheys Erziehungstheorie weiterentwickelt (1979) und die Besonderheit pädagogischen Verstehens herausgearbeitet, das sich im pädagogisch begründeten Erzieherhandeln als professionelle Kapazität deutlich macht: Das Kind muss in seinen individuellen Situationen verstanden werden, und dies geht nur, wenn der Pädagoge sich stets der Lernhemmungen des Kindes bewusst ist, die es aufzuheben gilt. Dieses Besser-Verstehen des Pädagogen führt freilich an die Grenzen des kindlichen/jugendlichen Subjekts, das seine eigenen Verstehensmomente nicht notwendig in denen des Erziehenden aufgehoben sehen muss. Otto Friedrich Bollnow (1952) geht wie Loch von einem Stufenmodell der Erziehung aus, betont aber in besonderer Weise (und dies ist ein weiterer konzeptioneller Fortschritt) die eigenständige Qualität jedes Lebensabschnittes, das den Jugendlichen nicht nur aus der Zielperspektive des gelebten Lebens, sondern aus sich selbst rechtfertigt: „... keine Altersstufe soll nur Mittel zur Erreichung einer höheren Stufe sein, die Kindheit insbesondere nicht bloßes und in sich selber sinnloses Durchgangsstadium, um möglichst bald das Ziel im Erwachsenendasein zu erreichen, sondern jede Stufe, hier die Kindheit, und später dann das Jünglingsalter, hat seinen Sinn ganz in sich selber. Zwischen den einzelnen Stufen besteht kein quantitativer Unterschied der Vollkommenheit, sondern ein qualitativer der individuellen Eigenart.“ (1952, S. 146). Jürgen Henningsen (1962) schließlich betont, durchaus unter Rückgriff auf die eben diskutierten Zusammenhänge, den Zusammenhang von Lern- und Lebensgeschichten nach dem Motto: „Lebenslauf ist Bildungsschicksal“ (Henningsen 1967, S. 43) Damit sieht Henningsen biographische Materialien nicht nur als historische Quelle etwa zur Kindheitserfahrung und zu vergangenen Schulereignissen, sondern vor allem als einen Bildungsprozess, in dem sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zu Erziehendem und Erzieher formuliert. Hier wird das subjektive Interesse des Kindes, sein Eigenrecht auf einen eigenen Lebensweg, in pädagogischer Denkform zurückgebunden an die Notwendigkeit, auch die Ansprüche der Gesellschaft in den Blick zu nehmen: „Es geht um eine Bestimmung des Begriffs ‚Bildung‘, der als solcher weder das Objektive noch das Subjektive betrifft, sondern beide Seiten in dialektischer Verschränkung.“ (Henningsen 1961, S. 176). Inzwischen hat sich eine derart eng geführte Konzeptionierung des Pädagogischen im Biographischen erweitert, damit freilich auch in seinen stringenten Traditionslinien aufgelöst. Das biographische Interesse von heute lässt sich längst nicht mehr aus pädagogischem Erziehungs- und Institutionenhandeln ausgrenzen; gerade die systematische Betrachtung des Alltags und des Alltäglichen und die Beachtung von ‚Lebenswelten‘ als umfassender Kategorie, die nicht in der pädagogischen Intentionalität aufgehen kann, führt wieder zu einer Verstärkung des subjektiven Faktors. Stärker als bisher ist heute Ausgangspunkt „die Unterstützung von Entfaltung von Subjektivität und Individualität“, weil diese angewiesen sind „auf das Verstehen der Sinn- und Selbstdeutungen der Individuen“; freilich wird die pädagogische Perspektive insofern nicht verlassen, weil die Frage bleibt, „wie aus Lebenswegen Lernwege werden und wie die Individuen über die Auseinandersetzung mit ihren biographischen Erfahrungen zu Selbsttätigkeit und schließlich zur Selbsterziehung befähigt werden.“ (Schulz 1996, S. 1). Die Spannung zwischen pädagogischer Intentionalität, Selbsterziehung und Erziehung bleibt erhalten, wenn auch gerade die Jugendforschung heute etwa das Tagebuch als eigene kulturelle Praxis empfiehlt und damit die Jugendlichen nicht nur als Gegenstand biographischer Betrachtung auffasst, sondern als soziokulturelle Produzenten von Ausdrucksformen, die entsprechend nur in ihrem Selbstdeutungshorizont angemessen gewürdigt werden können (Winterhager-Schmid 1997). Damit ist die skizzierte Konzeptbildung an Grenzen des pädagogischen Diskurses gelangt, weil nun auch Jugendbiographie als
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ein autonomes und selbstverantwortliches Produkt mit eigenen, auf es hin zu deutenden Selbstzuschreibungen gedeutet werden kann und muss.
3. Elemente der Gegenstandsbeschreibung Die Entstrukturierung der Jugendphase sowie Individualisierungs- und Subjektivierungsprozesse führen im Konzept sozialen Wandels zu der Frage, inwieweit der Gegenstand ‚Jugendliche(r)‘ überhaupt noch beschreibbar ist, da die subjektive Realität immer schwerer als ‚Jugend‘, ‚Jugendphase‘, ‚Jugendzeit‘ etc. zu erfassen und darzustellen ist. Die Integration der Jugendforschung in die Biographieforschung könnte dabei helfen, zum einen am biographischen Material detailgenauer zentrale Elemente von ‚Jugend‘ zu erfassen, ohne sie dem Konstrukt analytischer Kategorisierung zu unterwerfen; zum anderen könnten Übergangsprozesse bis ins zweite und dritte Lebensjahrzehnt (Ablösung von der Herkunftsfamilie, Aufbau einer Zweierbeziehung, Eintritt ins Berufsleben etc.) ermöglichen, die Zuordnung zu einer bestimmten Lebensphase als eher sekundär zu betrachten und nicht auf einer abgrenzbaren ‚Jugendphase‘ zu bestehen (Lenz 1990). Mit einem derart flexiblen Konzept wäre nicht so sehr auf ‚Jugend‘ als einer abgrenzbaren Stufenfolge von Entwicklung, Reifung und Identitätsbildung zu insistieren als vielmehr darauf, dass bestimmte Entwicklungsaufgaben und Selbstbestimmungsprozesse des Subjekts als verstehbare Erfahrung sowie als subjektiv getöntes Erlebnis zu beschreiben sind, die wir dann in einem nachfolgenden Deutungsmuster als ‚Jugend‘ bzw. ‚Jugendliche(r)‘ fassen, ohne dass diese der Verdinglichung vorab festlegender Theoriebildung unterworfen werden. Auf diese Weise könnte ein „Mentalitätswandel“ ausgemacht werden, der zum Teil in den „Individualisierungstendenzen in den Köpfen der Heranwachsenden“ vorweggenommen ist und sich in verschiedenen Lebensbereichen abzeichnet; dazu gehören (1) ein verstärktes Streben nach Individualität, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung; (2) ein Bedürfnis nach Lebensgenuss und materiellem Besitz, verbunden mit autonomen Entscheidungsmöglichkeiten im Konsumbereich und schließlich (3) ein Bedürfnis nach informellen Sozialkontakten (Büchner 1992, S. 51). Methodisch müsste die Gegenstandsbeschreibung im Gegensatz zu standardisierten Interviews, die vom Interviewer gesteuert werden, am ehesten über narrative Interviews erfolgen, die dem Befragten erlauben, seine Erlebensgeschichte ohne viel Einmischung und mit offenem Darstellungshorizont zu erzählen (Hermanns 1984, S. 421). Freilich bleibt die Frage, inwieweit gerade ein noch jugendlicher Erzähler in der Lage ist, seine eigenen Geschichten angemessen wiederzugeben (narrative Kompetenz des Erzählers); hinzu kommt die Sprechbereitschaft des Erzählers, die Dinge auch mitzuteilen, die dem Interviewer oder dem Erzähler selbst für wesentlich erscheinen. Auch die Gedächtnis- und Deutungsfähigkeit des Erzählers wäre jeweils kritisch zu prüfen. Dem folgend hat Marotzki (1990, 1991) versucht, eine bildungstheoretisch-orientierte Biographieforschung zu entwickeln, die dem Schützeschen Ansatz der Deutung narrativen Materials folgt und die Sprachlichkeit der Bildung, Bildungsprozesse in Stegreiferzählungen, Wandlungsprozesse als Bildungsprozesse und die Auswertung des Interviewmaterials im Hinblick auf die Bildungsprozesse in den Mittelpunkt rückt. Die Sprachlichkeit der Bildung etwa betont das Kommunikationsschema der Sachverhaltsdarstellung (Erzählung, Beschreibung, Argumentation), der Zugzwänge (Gestalt-Schließungszwang, Kondensierungszwang und Detaillierungszwang) und der Spon-
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taneität/Unverfälschtheit (Stegreiferzählungen) mit dem Ziel, die Schicht von Erfahrungen und deren Verarbeitung als Bildungsprozess zu betrachten. Die „Selbst- und Weltauslegung des Subjekts“ (Marotzki 1990, S. 132) wird dabei verstanden als „Modalisierung“ (ebd., S. 132), die in einer Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses des Subjekts in Richtung auf eine biographische Unverfügbarkeit des Individuums gedeutet werden kann. Auf diese methodische Weise könnten Gegenstandsbeschreibungen als vom Subjekt narrativ verfügt aufgefasst werden, und auf diese Weise könnten die Modalitäten sozialen Wandels über die Biographiekonstruktion am ehesten im Sinne einer die Eigenrechte des Gegenstands Jugend- und Jugendforschung betonenden Weise entwickelt werden. In diesem Zusammenhang werden zu Themenbereichen der Gegenstandskonstitution heute a) die schon angesprochene Durchlässigkeit von Jugendphasen auf andere Altersphasen hin, b) Regionalstudien, die lebensweltliche Kontexte im Mikromilieu aufzuspüren versuchen, c) eine mädchen- und frauenorientierte Forschung, die den Geschlechtscharakter biographischer Konstruktionen stärker als bisher erfasst, d) Themen der deutsch-deutschen Vereinigung als Frage nach geschichtlichen Durchlässigkeiten und historischen Brüchen, e) neue Tendenzen der Globalisierung und der Multikulturalität, die – in ergänzender Spannung zu Regionalstudien etwa – sozialökologische Entspezifizierung von Lebensräumen, f) Erfahrungen des Misslingens und Scheiterns, denen gerade die Jugendbiographie (sexuelle Nöte, Sitzenbleiberprobleme, Berufsfindung, Übergang von der kritischen Phase des Lernens in den der Familiengründung und Berufskonstitution) ausgesetzt ist, bisher wenig beleuchtete Zwischenstufen der Entwicklung, etwa zwischen später Kindheit und Adoleszenz. Ein Beispiel für eine derart aufgefasste jugendorientierte Biographieforschung wäre im Konzept einer „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ (Jakob/v. Wensierski 1997) zu finden. Die berufliche Selbstvergewisserung und Evaluation sozialpädagogischen Handelns, vermittelbar über Begriffe wie Professionalisierung, Fachlichkeit, Sozialpädagogische Diagnosen, Hilfeplangestaltung, Supervision, Selbstevaluation und lebensweltorientierte Methoden werden einerseits im Licht der Komplexität beruflichen Alltags der sozialen Arbeit, andererseits unter Betonung der subjektiven Perspektive und lebenspraktischen Autonomie des Klienten gesehen. Über die Selbstreflexion in der beruflichen Praxis soll sozialpädagogisches Verstehen bereits in der Ausbildung vermittelt und lernbar gemacht werden. Die soziale Wirklichkeit wird also verstanden „als Prozeß von subjektiven und sozialen Sinnkonstruktionen in der alltäglichen Lebenswelt“ (ebd., S. 10), und das Mandat aus „Kontrolle und Hilfe“ wird ergänzt durch das Doppelmandat von „Selbstkontrolle und Selbsthilfe“, über die die biographische Potenz des Subjekts betont wird. Kontakte Jugendlicher mit Strafverfolgungsbehörden, Erfahrungen in der Heimerziehung als Folge des Auseinanderfallens von Herkunftsfamilie und Einweisung in Institutionen der öffentlichen Erziehung führen (am Beispiel von Fallbeschreibungen) zu der Einsicht, dass die Jugendlichen „geschickt auf die strukturellen Paradoxien und institutionellen Widersprüchlichkeiten“ reagieren; sie demonstrieren die „Aussichtslosigkeit“ der Maßnahmen oder instrumentalisieren sie zu ihren Gunsten. Während sich einerseits zeitlich ausgedehnte Fluchthandlungsschemata aus Einrichtungen der öffentlichen Erziehung finden, auf die mit verschärfenden Maßnahmen geantwortet wird, lassen „sich ebenfalls Formen des Musters der provokativen und prinzipiellen Ver-
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weigerung finden.“ (ebd., S. 183). Es zeigt sich also, dass institutionelle Prozesse durch die spezifischen Interaktionsmuster von Jugendlichen derart modifiziert werden, „daß sich darin zentrale Strukturmuster und Analogien zu familialen Konflikttypen und -szenen wiederfinden. Hier werden Institutionen, wie Schulen, Pflegefamilien, Heime und deren Vertreter in eine emotionale Konfliktdynamik hineingezogen, deren Bedeutung sich erst vor dem Hintergrund einer biographischen Rekonstruktion sinnhaft erschließt. In dem Maße, wie diese Institutionen und das in ihnen arbeitende sozialpädagogische Personal in der Lage sind, übertragene emotionale Konfliktstrukturen zu erkennen, differenziert aufzunehmen und im Vollzug einer lebendigen und zukunftsoffenen Beziehungspraxis zu gestalten, werden sie ihrer beruflichen Aufgabe auch in biographischer Sachwalterschaft gerecht.“ (ebd., S. 190). Gescheiterte Sozialisationsversuche im institutionellen Raum sozialpädagogischer Intervention werden also biographisch gedeutet als Übertragungs- und Modalisierungsleistung und sollen helfen, nicht nur pädagogisch-institutionelles Eingriffshandeln verstehbar zu machen, sondern auch die Würde des Subjekts zu wahren. Grundzüge einer solchen Gegenstandsbeschreibung sind heute schwer hintergehbar.
4. Neue Beobachtungen zur biographischen Jugendforschung Die besondere Eigenschaft biographisch orientierter Sozialforschung, die Prozesshaftigkeit sozialer Phänomene ebenso erfassen zu können wie die in der neueren pädagogischen Forschung herausgearbeitete Zielbestimmung, Jugendliche von Objekten pädagogischer Maßnahmen zu autonomen Verlautbarungen ihrer subjektiven Existenzhaftigkeit zu veranlassen, und schließlich die dem sozialen Wandel zugeschriebene Einsicht, die Entstrukturierung und Individualisierung der Jugendphasen als eigenständigem Entwicklungsbereich könnten durch biographische Lebenslängsschnitte am ehesten aufgefangen werden, haben sich nicht nur als hinreichende Bestätigungen für qualitatives Vorgehen erwiesen, sondern auch ihre analytische, prognostische und damit pädagogische Fruchtbarkeit gezeigt. Ein Beispiel sind die Beobachtungen zu einer „neuen Jugendbiographie“ (du Bois-Reymond/ Oechsle 1990). Bisher scheinen Jugendliche vorwiegend an wenn auch widersprüchliche altersnormative Vorgaben gebunden zu sein, ohne dagegen eine eigene Zeitlinie entwickeln zu können, und insofern ähnelt ihr Weg bisher „dem befristeten Aufenthalt in einer totalen Institution“ (Fuchs-Heinritz u.a. 1990, S. 35). Neuerdings scheinen sich jedoch Normen mit festem Altersbezug aufzulösen, und zwangsbesetzte Formierungen wie der Aufenthalt in Internaten oder Heimen wird nicht mehr zur allgemeinen Regel. Im Gegenteil: An die Stelle von Normsetzungen und Totalitäten treten vielmehr eine Pluralität von Zeitlinien und Verlaufsformen, ein neuer Typus von ‚Eigenzeiten‘, vor allem bei der Herauslösung aus der Herkunftsfamilie, bei der vorbereitenden Entwicklung eines eigenen Privatlebens und im jugendlichen Cliquenleben, vor allem der Freizeit. Die biographischen Balancen lassen sich zunehmend schwer nach dem Alter in Lebensjahren messen, „das als Zeitdimension die meisten Typen fundiert, es sind vielmehr Zeitlinien in der Schule, der Familie, der Peers, die die Wege durch die Jugendphase heute strukturieren“ (ebd., S. 37). Wichtige Einschnitte, von der Familienablösung bis zur endgültigen Berufsfindung, finden heute zu verschiedenen Zeitpunkten statt und lassen sich schwer normieren. Es entsteht eine neue Flexibilität („Modalisierung“), die die Verlängerung der jugendlichen Lebensphase als Chance und nicht nur als Beeinträchtigung erleben lässt. Vor allem der spätere Eintritt und das frühere Verlassen der
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Arbeitswelt haben das soziale Lebensalter der Jugend von chronologischem Alter abgekoppelt; wesentlich ist heute die Entwicklungsaufgabe, Lösungen zu finden, „die zeitlich befristet und umkehrbar sind und die gegenüber Veränderungen durch innere oder äußere Umstände anpassungsfähig sind.“ (Leccardi 1990, S. 110f.). Auch bei den Frauen verlängert sich parallel zum Kinderrückgang die kinderlose Zeit, so dass auch diese verstärkt in der Lage sein müssen, „die eigene Zeit entsprechend den Phasen des Familienlebens zu strukturieren und zu restrukturieren, entsprechend dem relativen Rückgang der Aufgaben, die in ihrem Alltag mit der Mutterschaft verbunden sind.“ (ebd.) Pädagogisch betrachtet führen diese Beobachtungen zu einer ambivalenten Einschätzung. Die verstärkte Autonomie, Lebensphasen auch in der zeitlichen Einteilung und Durchstrukturierung selbst zu bestimmen, kann sich ebenso sehr als ein Aspekt der Selbstbestimmung verstehen lassen, wie auch eine untätige Anpassung an gegebene Verhältnisse, eine passive Welthinnahme denkbar sind. Dies wird besonders deutlich bei dem neuen kulturellen Modell der Selbstverwirklichung. An die Stelle von Selbstverleugnung und Askese als Modus des Umgangs mit sich selbst wird Selbstverwirklichung vor allem in neuen Arbeitsorientierungen angestrebt, und zwar in den Dimensionen des Interesses an Selbstbestimmung und relativer Autonomie sowie am Wunsch nach Kommunikation in der Arbeit. Auch hier zeigt sich die Ambivalenz: Neben einer Erweiterung von Wahlmöglichkeiten und damit der Entwicklung einer flexibleren und weniger starren Identität kann auch die Gefahr von Identitätsdiffusion, eines Verlustes von Orientierungen und das Risiko sozialer und ökonomischer Marginalisierung gesehen werden, etwa in Zeiten knapper Arbeitsplatzressourcen, spürbar spätestens beim Übergang von der Ausbildung in das Berufsleben (Oechsle 1990, S. 171). Damit entsteht das Problem, Identität haltbar zu machen, also Kennzeichen der Reife und des Erwachsenseins mit einer festen Kontur zu versehen. Häufig wird heute der misslingende Risikocharakter jugendlicher Identitätssuche hervorgehoben – bis zu dem Verzicht, überhaupt eine feste biographische Struktur anzustreben; dies wird verstärkt durch eine in verschiedenen Jugendkulturen dokumentierte Freizeitauffassung, die nicht den objektiven Zwängen der zeitmessenden Arbeitswelt unterworfen ist (Baacke 1999). Damit ist die Goethesche Gewissheit, jede Altersphase habe aufs Ganze und aufs Ende gesehen einen Sinn, radikal in Frage gestellt. Ob dieser in der biographischen Konstruktion aufzufinden sei, wird vielmehr zu einem aufgegebenen Problem, das darin besteht, eine Kontur des Selbst („Identität“) als haltbar und dauerhaft – auch im gesellschaftlich vertretbaren Zeitraster – zu festigen und zu legitimieren. Die neuen Entwicklungen der Informationsgesellschaft, in der Individuallagen durch Medien aller Art – vom Fernsehgerät bis zum Internet – zum einen standardisiert und globalisiert, zum anderen außerhalb jeder Zeitverpflichtung sich entwickeln, führen zu der Einschätzung, dass Risiken und Selbstbedrohungspotentiale in bisher unbekanntem Ausmaß freigesetzt werden. Eine solche „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) führt dazu, dass Individuallagen durch Massenmedien, Massenmarkt, Massenkonsum und freie Muster der Informationsverteilung zunehmend vereinzelt, zugleich standardisiert werden und das Biographiemuster jedes Individuums in neue Figurationen gerät, in der es möglicherweise nur dem Schein nach ‚mitbestimmt‘. Die gerade in der pädagogischen Biographieforschung hervorgehobenen Bildungs- und Lernprozesse beschleunigen dann zugleich Entsubjektivierungsprozesse. Am Beispiel dieser Überlegungen wird besonders deutlich, dass die Biographieforschung nicht nur Zeitdiagnosen zu stellen in der Lage ist, sondern auch relativ genaue Zeitbilder entstehen lässt, die schließlich in der jeweils persönlich zu entscheidenden Frage münden, ob die Überzeugung aufzugeben sei, Subjektivität, Individualität und autonome Selbstver-
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fügung seien nichts als ‚Schein‘, oder ob – im Anschluss bereits an Herbart – daran festzuhalten sei, es gehe gerade bei der Jugendbiographie um die „Aufdeckung der biographischen Unverfügbarkeit eines je höckerigen Individuums“ (Baacke 1993, S. 59f.). In letztgenannter Auffassung wird das Potential von Subjekthaftigkeit als grundlegende Kompetenz eingeschätzt, die bei Jugendlichen auch im sozialen Wandel entschieden zu fördern sei aufgrund der nicht vernichtbaren Würde jugendlicher Existenz.
5. Forschungsperspektiven Pädagogische Jugendforschung ist ihren Windeln längst entwachsen und hat nicht nur für diesen Bereich, sondern auch für das Verstehen von gesellschaftlichen Zusammenhängen, historischen Verweisungen und nicht zuletzt pädagogischen Deutungsversuchen bedeutsame Beiträge bereitgestellt, die die Verbindung von Biographieforschung und pädagogischer Jugendforschung derart eng haben werden lassen, dass beide zukünftig nur im Verweis aufeinander zu denken sind. Künftig wird es zunehmend darum gehen, qualitative Einzelstudien und Panoramastudien (Surveys wie die sog. „Shell-Studien“: vgl. die Bände „Jugendwerk der Deutschen Shell“ ab 1981) miteinander zu verbinden, um die in die Tiefe gehende biographische Reichweite durch repräsentative Daten anzureichern und vor allem für pädagogische Reflexion und Theoriebildung wie auch für praktisches professionelles Handeln verfügbarer zu machen. Längst hat sich der Streit darüber nicht nur entschärft, sondern als überflüssig dargestellt, der einst in der Spannung zwischen ‚qualitativen‘ und ‚quantitativen‘ Verfahren entstand. Wichtige Handbücher (Friebertshäuser/Prengel 1997; Krüger 1992; Krüger/Marotzki 1995; Krüger/Grunert 2002) haben die Bedeutsamkeit qualitativer Forschungsmethoden gerade im biographischen Kontext deutlich gemacht, ohne dass damit andere Zugangsweisen auszuschalten wären. Es geht darum, „unproduktive, erkenntnishemmende Polarisierungen“ zu überwinden: „die Alternative quantitative versus qualitative Forschung, die Hierarchisierungen zwischen Grundlagenforschung und handlungsorientierter Forschung und die Dreiteilung in geisteswissenschaftliche, empirische und kritische Denkweisen.“ (ebd., S. 13) Neben eine biographisch-qualitativ orientierte Methode und Methodologie tritt die wachsende Bedeutung in der wissenschaftlichen Aufarbeitung eines Zusammenarbeitens von Jugend-Biographie- und pädagogischer Forschung sowie pädagogischem Nachdenken. Wenn das aus dem Zeitalter der Aufklärung und dem 17. Jahrhundert stammende Konstrukt einer biographischen Entelechie tatsächlich durch zunehmend kritische Beschreibung sozialer Mutationen zu ersetzen ist, stellt sich die Frage nach dem pädagogischen Beitrag der jugendorientierten Biographieforschung. Hier geht es nicht nur um die Ergänzung bisher nicht zureichend bearbeiteter Felder – beispielsweise die eigenen biographischen Konstruktionen in der Alters-Zwischenphase von 13- bis 15jährigen (Sander/Vollbrecht 1985), die zunehmende (Wieder-)Entdeckung von Frauen als Tagebuchschreiberinnen und aktive Teilhaberinnen kultureller Praxen etc. –, sondern auch um die Einschätzung (und die sich damit verbindenden pädagogischen Schlussfolgerungen), inwieweit heute die Ansprüche an Autonomie und Selbstverwirklichung zu fördern und zu stützen seien – im Rahmen einer positiven, nicht ausschließlich problemorientierten Kompetenzzuschreibung junger Menschen, deren Biographiekonstruktionen zunehmend in der Ambivalenz von subjektiven Zeitverläufen und standardisierten Wahrnehmungsmustern bestehen könnten.
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Biographieforschung und SchülerInnenforschung Werner Helsper/Mechthild Bertram
Inhalt 1. Empirische Traditionen und theoretische Linien des Forschungsfeldes 2. Stand der biographischen Forschung zu SchülerInnen – ein Überblick über die Entwicklung seit den achtziger Jahren 3. Forschungsperspektiven Literatur
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Werner Helsper/Mechthild Bertram
Im engeren Sinne kann von „SchülerInnenbiographien“ natürlich erst seit dem Zeitpunkt gesprochen werden, an dem die Schule als Ergebnis funktioneller sozialer Ausdifferenzierungsprozesse institutionalisiert und zunehmend universalisiert wurde. Die zunehmende Durchsetzung der Schulpflicht im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts trug wesentlich zur Herausbildung moderner Kindheit als einer Lern-, Unterrichts- und Erziehungskindheit bei und war – in der langfristigen historischen Tendenz der Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten – wesentlich für die Herausbildung einer zwar unterschiedlich lang ausgedehnten, aber schließlich doch verallgemeinerten Lebensphase Jugend (vgl. Fuchs 1985, S. 216ff.; für die neunziger Jahre Silbereisen/Vascovics/Zinnecker 1996, S. 170ff.). Durch diese immer umfassendere Inklusion wurde die Biographie eines jeden Heranwachsenden zur „Schüler“-Biographie, da mit dieser Institutionalisierung die Standardisierung und Homogenisierung von Zäsuren des Eintritts und Austritts, der schulischen Karriere und der Übergänge zwischen Bildungsinstitutionen einher ging, die alle gleichermaßen betrafen. Die biographische Perspektive zielt nun aber gerade nicht auf diese Standardisierung und Normalisierung des Lebensweges, also auf den allen Heranwachsenden gemeinsamen Status „Schüler“, sondern auf das Singuläre und Einzigartige des jeweiligen Lebensweges aus der Perspektive des „Biographieträgers“ (vgl. Schütze 1981; Schulze 1993 u. 1997). In „SchülerInnenbiographien“ geht es also – im Unterschied etwa zum Lebenslauf – darum, wie die institutionellen schulischen Zäsuren, Übergänge, Regeln und Rollenanforderungen individuell erfahren, gedeutet, erzählt und in den lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingebettet werden. Damit ist implizit ein zweites mögliches Missverständnis des Begriffs SchülerInnenbiographie angesprochen: Die Hervorhebung des SchülerInnenstatus bedeutet natürlich nicht, dass die Schule vorab als der zentrale Lebensbereich bestimmt wird. Vielmehr wird hier die Jugendbiographie (vgl. Baacke/Sander in diesem Band) im Spannungsfeld unterschiedlicher Lebensbereiche verortet, so dass nicht vorentschieden ist, welche Sphäre Vorrang besitzt. Im Gegenteil: Gerade in dieser unterschiedlichen „Gewichtung“ und Bedeutung von Lebensräumen unterscheiden sich Biographien. Mit „Schüler“-Biographie ist somit lediglich zum Ausdruck gebracht, dass insbesondere die Bedeutung schulischer Lern- und Erfahrungsprozesse, schulisch-interaktiver Prozesse und institutioneller Rahmungen für die jeweilige Ausformung der Jugendbiographie hier besondere Beachtung findet.
1.
Empirische Traditionen und theoretische Linien des Forschungsfeldes
Im eigentlichen Sinne kann von einer methodisch begründeten biographischen SchülerInnenforschung erst seit den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts gesprochen werden. Allerdings gibt es Vorläufer und Traditionslinien, die weit zurückreichen. So ist Rousseaus „Emile“ als fiktionale Konstruktion einer Lebensgeschichte zu lesen, in der die zentralen Entwicklungsschritte und Fortschritte in der Entfaltung des „natürlichen“ Menschen um pädagogische Szenen und Situationen zentriert sind, in denen sich die Bildungsgeschichte entfaltet (Rousseau 1971). Es ist natürlich keine „Schülerbiographie“, aber die Konstruktion einer pädagogisch konstituierten Bildungsgeschichte, die als zukünftiges Modell und Deutungsfolie diente. Neben dieser fiktionalen Konstruktion waren es vor allem aufkommende Autobiographien (vgl. Heinritz 1997) und vor allem die Gattung des „Bildungsromans“ – etwa „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ oder „Anton Reiser“ – in denen Entwürfe des sich bildenden und vervollkommnenden Heranwachsenden als Lernbiographie ausgestaltet wurden. Schließlich sind die Ent-
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würfe von Karl Philipp Moritz und die schließlich über zehn Jahre erschienene „Erfahrungsseelenkunde“ ein frühes Plädoyer für die Aufnahme autobiographischer Dokumente und Darstellungen für die Etablierung einer auf Erfahrung, Beobachtung und Selbstbeoachtung sowie Beschreibung beruhenden „Seelenkunde“ (vgl. Schulze 1996). Aber sowohl diese frühen Anstöße als auch Diltheys Hinweise auf die Bedeutsamkeit des Selbsterlebens und der Biographie (vgl. Marotzki 1990, S. 72ff) fanden keine systematische Aufnahme. Erst im Rahmen der um die Jahrhundertwende entstehenden empirisch orientierten Kinder- und Jugendforschung (vgl. Gstettner 1979) finden sich systematisch angeleitete Forschungen, in denen autobiographische Dokumente und Zeugnisse, Darstellungen aus Lebensgeschichten und auch Befragungen von Kindern und Jugendlichen bedeutsam wurden. Hier ist als erstes das entstehende Interesse an jugendlichen Tagebüchern zu nennen (vgl. Bühler 1922 u. 1934; Bernfeld 1931; als Überblick Soff 1989; Winterhager-Schmid 1997). Allerdings zeigen sich hier nur marginale Bezüge auf die Schule (vgl. etwa Bühler 1975, S. 157ff., S. 181ff.), eine Tendenz, die sich auch in neueren Tagebuchdokumentationen und -analysen zeigt (vgl. Projektgruppe Jugendbüro 1978; Soff 1989, S. 141ff.). Ergaben sich aus der Tagebuchforschung wichtige Anstöße für Jugendtheorie und jugendbiographische Forschung, so blieben letztlich wenig Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Jugendleben, -biographie und Schule, außer dass schulisch-unterrichtliche Dimensionen im Tagebuch anscheinend von geringerer Relevanz sind. Eine zweite Linie zielte auf die Erhebung von Selbstzeugnissen, Selbstaussagen und Alltagsdokumenten: Hier ist etwa die frühe Befragung Grafs (1912) zu nennen, der schulische Szenen, Erinnerungen und autobiographische Rückblenden ehemaliger Schüler zusammenstellte. Breiter angelegt, aber ebenfalls mit deutlichen Bezügen zur Schule, ist die Arbeit Hellpachs, die die Sichtweisen und biographischen Deutungen „Erzogener über Erziehung“ dokumentierte (vgl. Hellpach 1954). Daneben finden sich autobiographische Bezüge in Sammlungen von Schüleraufsätzen (vgl. Busemann 1926; Berthlein 1960; Abels/Krüger/Rohrmann 1989). Eine Fortsetzung findet diese Linie in Studien und Zusammenstellungen seit den siebziger Jahren: Zum einen in der Sammlung und Kommentierung von Schülertexten, Schüleraufsätzen und Zeugnissen aus dem Schulalltag, etwa Bankkritzeleien, Toilettensprüchen, Graffity etc. (vgl. etwa Bornemann 1980 u. 1981; Searle 1975; Reinert/ Zinnecker 1979; Zinnecker 1981; Hilbig/Titze 1981). Zum zweiten in Studien, in denen die Sichtweisen und Deutungen – im methodisch anspruchsvolleren, an symbolisch-interaktionistische Konzepte anknüpfenden Studien auch die Deutungs- und Orientierungsmuster (vgl. etwa Arbeitsgruppe Schulforschung 1980; Lenz 1986; Bohnsack 1989) – Jugendlicher gegenüber der Schule erhoben werden (vgl. Schmidt-Wellenburg 1974; Projektgruppe Jugendbüro 1975; Rucht 1979; Hagstedt/Hildebrand-Nilshon 1980; Beisenherz u.a. 1982; Fromm 1987; Becker-Mrotzek 1989; Popp 1994; Nölle 1995; Kassis 1995; Schneider 1996). Allerdings bleibt ein Großteil dieser Studien bei einer paraphrasierenden Deskription der SchülerInnenerfahrungen stehen, die zudem nicht systematisch in einen biographischen Gesamtzusammenhang der SchülerInnen eingebunden werden. So liefern diese Zusammenstellungen und Studien zwar biographisch relevante Beiträge zum Verhältnis von Lebensgeschichte und Schule, ohne dass sie allerdings im engeren Sinne als Arbeiten zur Rekonstruktion von SchülerInnenbiographien einzuordnen wären. Eine dritte Linie kann im engeren Sinne der seit den siebziger Jahren verstärkt an Bedeutung gewinnenden historisch orientierten Sozialisationsforschung zugeordnet werden (vgl. als Überblick Schulze 1993; Klika 1997; Heinritz 1997). Hier werden zum einen Autobiographien als ein Beitrag zu einer Geschichte der Kindheit oder Jugend untersucht bzw. entsprechende Passagen aus autobiographischen Darstellungen für eine Analyse des Zusammenhangs von So-
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zialisationsprozessen und sozialen Rahmenbedingungen, etwa auch dem institutionalisierten Lebensraum Schule genutzt (vgl. etwa Schonig 1979; Flecken 1981; Hardach-Pinke/Hardach 1978; Herrmann 1991; Klika 1990). Der Beitrag dieser historisch-sozialisatorischen Perspektive zu einer Exploration von SchülerInnenbiographien besteht vor allem darin, zu verdeutlichen, in welcher Weise die sich herausbildende Sozialisationsinstanz der Schule in regionalen, klassen- und geschlechtsspezifischen Lebensgeschichten Bedeutung gewinnt und selbst in Lebensgeschichten eingreift. Ein weiterer bedeutsamer theorie- und forschungsgeschichtlicher Strang zur Exploration des Zusammenhangs von Schule und Biographie entstand im Rahmen des psychoanalytischen Ansatzes. In Freuds kleinem Beitrag zur 50-jährigen Gründungsfeier seines Gymnasiums „Zur Psychologie des Gymnasisten“ (Freud 1914) deutet sich die Grundfigur des Zusammenhanges von Lebensgeschichte und Schule an, wie sie für einen Großteil der nachfolgenden Fallbeispiele relevant blieb: Der pubertierende, männliche Gymnasiast wendet sich enttäuscht von seinem Vater ab, um an dessen Stelle eine idealisierte Lehrerfigur zu setzen, mit der schließlich die emotionalen Ambivalenzen stellvertretend inszeniert und durchlebt werden. In daran anschließenden, zumeist auf die individuelle Lebensgeschichte fokusierten psychoanalytischen Fallbeispielen – als Ergebnis der Einheit von „Forschen und Heilen“ aus der therapeutischen Arbeit resultierend – wurde die „Übertragung“ familialer Konflikte und Traumatisierungen von Schülern auf Lehrer und Klassenkameraden unter verschiedenen Schwerpunktsetzungen herausgearbeitet: unter der Perspektive von Leistungsangst und Leistungsdruck, Trennungsangst und „Schulphobie“, Strafpraktiken und Schuldgefühl, Sexualität und Scham, Schülerselbstmorden, jugendlichen Omnipotenzphantasien und schulischem Realitätsprinzip etc. (vgl. Bernfeld 1925; Aichhorn 1970; Zulliger 1951; Buxbaum 1973 a, b; Redl/Wineman 1970; Gottschalch 1981; Meng 1973; Ertle/Möckel 1981; Muck 1987; Büttner/Finger-Trescher 1991). Diese Linie setzt sich auch in neueren Studien fort – allerdings stärker erweitert um die institutionelle Generierung von Entthematisierungen und Unbewusstem im schulischen Zusammenhang (Wellendorf 1973): etwa in Beiträgen Treschers (vgl. Trescher 1993) oder ethnopsychoanalytischen Analysen zur kulturellen Bedeutung der Schule für die Lebensgeschichte und die adoleszente Entwicklung (vgl. Erdheim 1982; Bosse 1991 u. 1996). Die Bedeutung des psychoanalytischen Blickes auf das Verhältnis von Jugendlichen, lebensgeschichtlichen Entwicklungen und der Schule beruht vor allem darin, auf die latenten, unbewussten Dynamiken und die Verstrickungen der Lebensgeschichten von Heranwachsenden aufmerksam zu machen, auf die latenten Dynamiken im Zusammenspiel von Institution, schulischen Interaktionen und Lebensgeschichte. Eine fünfte Linie entwickelte sich aus der Rezeption symbolisch-interaktionistischer Ansätze und hier insbesondere der Aufnahme von Studien zur Bedeutung sozialer Regeln, Definitions- und Stigmatisierungsprozessen für die Identitätsbildung und die Entwicklung abweichender Karrieren im sogenannten „Labeling“-Ansatz (vgl. Goffman 1967 u. 1973; Lemert 1967; Becker 1973; Cicourel/Kitsuse 1975). Im Anschluss daran wurde die Bedeutung schulischer Ettikettierungsprozesse für kriminelle Karrieren und sekundäre Devianz, die Auswirkung negativer Leistungstypisierungen auf das Selbstbild von SchülerInnen und die Anerkennung durch bzw. Beliebtheit bei den Gleichaltrigen untersucht oder der Zusammenhang zwischen schulischen Regeln, Sanktionierungen, der Typisierung abweichenden Verhaltens und deren Auswirkungen auf die SchülerInnen ins Auge gefasst. Zunehmend wurden auch Formen des Selbstmanagements etikettierter Schüler, die Schülertaktiken und alltäglichen Verarbeitungsstrategien gegenüber den schulischen Regelanforderungen und Ettikettierungserfahrungn erhoben (Brusten/Hurrelmann 1973; Homfeldt 1974; Tornow 1978; Glötzl 1979; Asmus/Peuckert
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1979; Hargreaves/Hester/Mellor 1981; Holtappels 1987; Zielke 1993). Allerdings können diese Studien allenfalls als Vorarbeiten für eine systematische Rekonstruktion von SchülerInnenbiographien eingestuft werden, da zumeist nur verallgemeinernde und die Einzelbiographie verfehlende statistische Zusammenhänge ermittelt werden oder die Typisierungen und damit die soziale Generierung von Abweichung nicht auf den Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte bezogen werden. So verdeutlichen diese Studien die tiefreichenden Auswirkungen schulischer Stigmatisierungsprozesse auf das Selbst der Heranwachsenden, ohne aber die Diachronie biographischer Verläufe zu erfassen. Diese Perspektive wurde erst im Anschluss an die – auf symbolisch-interaktionistischen und ethnomethodologischen Theorien aufbauenden – biographietheoretischen Arbeiten von Fritz Schütze (1983) seit den achtziger Jahren begangen. Er verortet die Biographie in der Spannung von biographischem Handlungsschema, als einer aktiven, eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens, und der biographischen Verlaufskurve, in der sich das Individuum als fremdbestimmt und von außen definiert erlebt, als in passive Haltungen gedrängt und in Erfahrungen des Erleidens und Getrieben-Werdens verstrickt. In dieser Konzeption werden schulische Regelverstöße, Abweichungen, Stigmatisierungen und Ausgrenzungen auf die biographischen Prozessstrukturen insgesamt beziehbar, ein Ansatz, von dem wichtige Anstöße für aktuelle Studien zur Schülerbiographie ausgegangen sind (vgl. den folgenden Abschnitt, insbes. Nittel 1992). Schließlich ist mit der „Lebenslaufforschung“ eine sechste Linie zu erwähnen, die eine deutliche Nähe, aber auch deutliche Differenzen zu biographisch orientierter SchülerInnenforschung aufweist. Hier stehen Forschungen zur kindlich-jugendlichen Statuspassage, zu Markierern und bedeutsamen Ereignissen im Lebenslauf, zu institutionellen Zäsuren und zeitlichen Strukturierungen etwa der Jugendphase durch institutionelle Bildungsmarkierer oder den Zeitpunkt des Eintritts in Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt (vgl. Fuchs 1981 u. 1985; Behnken/ Zinnecker 1992; Silbereisen/Vaskovics/Zinnecker 1996, S. 145ff., 165ff., 185ff.; Büchner/ Fuhs/Krüger 1996, S. 99ff.). So wird deutlich, dass sich auch in den neunziger Jahren der allgemeine Trend zu einer weiteren Ausdehnung der Schulzeit fortsetzt, Jugend damit immer deutlicher als schulische und Bildungszeit in Erscheinung tritt. Und vor allem in Ostdeutschland hat sich mit der Einführung neuer Schulformen und -abschlüsse vor allem für die Siebzehn- und Achtzehnjährigen ein gravierender Anstieg des Verbleibs im allgemeinbildenden Schulsystem und damit eine deutliche Veränderung des Lebenslaufs ergeben. In Lebenslaufstudien der letzten Jahre, in denen Schülerkohorten über mehrere Befragungszeitpunkte hinsichtlich ihres Lebensverlaufs untersucht werden (vgl. Friebel 1983, 1985, 1990 u. 1996; Meulemann 1995) kann die Nähe, aber auch die Differenz zu biographischen Studien verdeutlicht werden: In der Studie von Meulemann wird eine Befragung von über 3000 Gymnasisten des 10. Schuljahres von 1970 Mitte der achtziger Jahre mit ca. 2000 inzwischen Dreißigjährigen derselben Stichprobe wiederholt und dabei der berufliche und private Lebenslauf erhoben. Zielpunkt der Studie ist dabei die Ermittlung der Zusammenhänge, die im Rahmen des Konzeptes eines sozial institutionalisierten „Normallebenslaufes“ zu Erfolg bzw. Misserfolg im privaten und beruflichen Lebenslauf beitragen. So ist der berufliche Normallebenslauf durch die Abfolge von Bildungsinstitutionen, Schulabschlüssen, Studienwahl, -zeiten und -abschlüssen, berufliche Einmündung, Einkommen und Status definiert und das Erfolgskriterium stellt die Wertschätzung des erreichten Status durch andere dar, also „Prestige“ (ebd. S. 30ff.). Der berufliche „Normallebenslauf“ des Gymnasiasten ist nun das durch die Abfolge der Bildungsinstitutionen vorgeprägte Muster des Lebenlaufs: über das Abitur, zum Studium und über den Studienabschluss in prestigeträchtige berufliche Positionen. Hier werden nun die Verteilungen der ehemaligen Gymnasiasten im Alter von dreißig Jahren nachvollzogen: „so schlagen insge-
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samt 45% der Gymnasiasten nach dem 10. Schuljahr mit Erfolg den normalen Lebensweg in hohe berufliche Positionen ein. Auf der Strecke bleiben 14% Langzeitstudenten mit oder ohne Examen, aber ohne Berufseintritt und 7% Studienabbrecher mit einem Übergang ins Erwerbsleben. Umgekehrt schaffen 9% der ehemaligen Gymnasiasten einen nachträglichen Aufstieg in das Studium. Schließlich haben 26% der Stichprobe nicht den für Gymnasiasten typischen Weg über ein Studium in höhere berufliche Positionen eingeschlagen“ (ebd. S. 88f.). Für diese unterschiedlichen „Lebenslauftypen“ werden nun die Faktoren und Zusammenhänge berechnet, die auf Erfolg und Misserfolg Einfluss nehmen: soziale Herkunft und familiale Ressourcen, Arbeitsmarkt, Schulleistung, eigene Lebenspläne und Leistungsaspirationen etc. Damit aber zeigen sich die Unterschiede dieser Schülerlebenslaufstudie zu biographischer Schülerforschung: Die Typen und „Sinnzusammenhänge“ des Lebenslaufes werden hier gewissermaßen von außen erschlossen, entlang objektiver, sozialer und institutioneller Markierer und für den vorab definierte Erfolg bzw. Misserfolg im Lebenslauf wird die Stärke des Einflusses unterschiedlicher Faktoren für die Stichprobe ermittelt, die aber nicht auf den Einzelfall übertragen werden kann. Demgegenüber können die biographischen Prozesse und Sinnkonstruktionen nur von „innen“, aus der Perspektive der Schüler und Schülerinnen erschlossen werden und dabei könnten sich – durch die Erschließung der biographisch konstituierten Sinnstrukturen – ganz andere Typenbildungen ergeben. Der Lebenslauftypus etwa des erfolgreichen Langzeitstudenten kann aus der biographischen Perspektive höchst heterogen sein und aus deutlich kontrastierenden biographischen Typen bestehen. Die Lebenslaufforschung zu SchülerInnen erfasst somit die Lebensgeschichte aus der objektivierten Sicht des „institutionellen Korsettes“ und der objektiven, sozialen Wirkungen und Einflussfaktoren „im Rücken“ der Individuen, während die biographische Forschung zu SchülerInnenn das „institutionelle Korsett“ und die objektiven, sozialen Rahmungen aus der Perspektive der individuellen Sinnkonstruktionen der biographischen Darstellungen in seinen divergenten Bedeutungen erscheinen lässt. Mit diesen Linien sind nun keineswegs alle Einflüsse und Anstöße für biographische Schülerforschung ausgelotet: So gehen von strukturalen, rhetorischen und vor allem objektivhermeneutischen Ansätzen (vgl. Kokemohr/Marotzki 1990; Marotzki 1990; Kokemohr/ Koller 1994; Bahrs u.a. 1993; Oevermann/Leber 1994) – häufig in Kombination mit narrativ-biographieanalytischen Verfahren (Schütze 1995) – wichtige Impulse für Studien zur Schülerbiographie aus (vgl. Helsper/Müller/Nölke/Combe 1991; Helsper 1995; Kramer/Busse 1999; Böhme/Helsper/Kramer/Lingkost 1999). Zugleich ist aber auch auf überraschende „Vakanzen“ zu verweisen: Obwohl gerade in den letzten Jahren Anstöße aus systemtheoretischer Perspektive für eine Reflexion von Lebensgeschichte und Lebenslauf ausgehen (vgl. Luhmann 1998), liegen bislang von systemtheoretisch-konstruktivistischer Seite keine Analysen zur Konstruktion der Schülerbiographie vor. Erstaunlich ist auch, dass aus dem phänomenologisch-erziehungswissenschaftlichen Ansatz – trotz der zentralen Arbeiten Lochs aus den siebziger Jahren und insbesondere den an autobiographischen Berichten und Kindheitsszenen ansetzenden phänomenologischen Studien von Lippitz, Meyer-Drawe und Rittelmeyer (vgl. Loch 1979; Lippitz/Meyer-Drawe 1987; Lippitz/Rittelmeyer 1990; Lippitz 1993) – bisher im engeren Sinne schülerbiographisch relevante Studien aus phänomenologischer Sicht fehlen. Insgesamt bleibt festzuhalten: Von einer im engeren Sinne biographischen, methodisch begründeten Forschung – darauf wurde bereits verwiesen – kann erst seit den achtziger Jahren gesprochen werden. Dieser im engeren Sinne biographischen SchülerInnenforschung wendet sich der nächste Abschnitt zu.
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Stand der biographischen Forschung zu SchülerInnen – ein Überblick über die Entwicklung seit den achtziger Jahren
Während frühe Studien aus den 1970er Jahren (vgl. Arbeitsgemeinschaft Hauptschule 1975; Wimmer 1976) kaum methodischen Standards genügen und eher deskriptive Portraits bieten, entstanden seit Anfang der achtziger Jahre methodisch anspruchsvollere Studien. Eine erste Gruppe von Untersuchungen besteht aus halbstrukturierten bis offenen Inteviews mit Jugendlichen zu biographischen Erfahrungen und ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen, die zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt wurden (vgl. Arbeitsgruppe Schulforschung 1980; Hurrelmann/Wolf 1986; Sander/Vollbrecht 1985; Baacke/Sander/Vollbrecht 1994; Friebel 1983, 1985, Friebel u.a. 1996). Die Studie von Sander und Vollbrecht an 13- bis 15jährigen enthält – wenn auch eher randständig – Analysen zur Bedeutung der Schule in den sieben präsentierten Fallstudien. Nahezu allen Jugendlichen gemeinsam sind Erfahrungen von schulischer Sinnlosigkeit, von Langeweile, Gefühle von Zwang und Ohnmacht, Ergebnisse, die durch andere Schülerstudien bestätigt werden (vgl. Helsper 1993). Diese gemeinsamen Alltagserfahrungen differenzieren sich aber dann aus, wenn die Jugendlichen unterschiedliche Bildungspläne für die Zukunft verfolgen. So erleben diejenigen Jugendlichen, die keine langfristigen Bildungskarrieren anstreben, die Sinnlosigkeit der Schule besonders drastisch und definieren die Schule besonders deutlich zu einem jugendkulturellen Ort der Hinterbühnenaktivitäten und des Treffens von Freunden um. Demgegenüber erleben jene Heranwachsende, die längerfristige Bildungs-, Status- und Aufstiegshoffnungen haben, die Schule zumindest in dieser Perspektive zukünftiger biographischer Entwürfe als bedeutsam und wichtig für ihr Leben. Leider werden diese schulisch-bildungsorientierten Linien in der Analyse der biographischen Selbstkonstruktionen, die acht Jahre später bei einem Teil dieser Jugendlichen erhoben wurden, nicht mehr systematisch aufgegriffen und ausformuliert, obwohl sich in den Thematisierungen der jungen Erwachsenen Bezüge zur Schulzeit und zum weiterem Bildungsweg finden (Baacke/Sander/Vollbrecht 1994, S. 14, 27ff., 48ff., 64, 73, 83, 97ff., 111ff.). So könnten zum einen die besonders deutlichen Distanzierungen und ablehnenden Haltungen gegenüber der Schule bei jenen Jugendlichen, die manuelle Arbeiten präferieren und keinen Aufstieg durch Bildung anvisieren systematischer an andere Studien angeschlossen werden, die diese Haltung im Kontext sozialer Randständigkeit und im Lebenszusammenhang sich auflösender Arbeitermilieus verorten (vgl. Projektgruppe Jugendbüro 1975 u. 1977; Willis 1979; Projektgruppe Schule und Subkultur 1983, Bietau/Breyvogel/Helsper 1984; Lenz 1986; Bietau 1989; Bohnsack 1989; Wexler 1992 u.1994; Combe/Helsper 1994). Zudem wäre der biographische Rückblick auf die eigene Schulzeit eines dieser Jugendlichen mit dem Fazit „verpaßte Chancen“ und „hättest du ... mal mehr getan“ (Baacke/Sander/Volbrecht 1994, S. 99) als eine langfristige biographische Nachwirkung scheiternder oder unbefriedigender Schulabschlüsse zu deuten, die weitere biographische Optionen einengen (vgl. auch Hurrelmann/Wolf im Folgenden). Auch wenn die Studie von Friebel u.a. eher als Lebenslauf- und Kohortenstudie zu bezeichnen ist, so arbeiten sie doch anhand von sechs Fällen ihres qualitativ erhobenen Samples (aus 64 von 252 einbezogenen Jugendlichen) die Entwicklung der Bildungskarrieren und der Bildungsidentität zwischen 1979 und 1994 heraus (Friebel u.a. 1996). Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern es diesen Jugendlichen, die einer Dilemma-Kohorte mit der paradoxen Erfahrung von „mehr Bildung, weniger Ausbildung und Arbeit“ (ebd. S. 62) angehören, über die Stationen Schule, Ausbildung, Beruf und Weiterbildung möglich war, eine kontinuierliche Bildungsidentität und -karriere zu entwickeln, sich entweder als aktive, die eigenen Bildungs-
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verläufe selbst gestaltende oder als von sozialen und institutionellen Zwängen und Bedingungen bestimmte Individuen zu entwerfen. Alle entwerfen sich als reflexive und aktive Subjekte ihrer Bildungsprozesse und -geschichte, obwohl in drei der sechs Fälle eher unverbundene, diskontinuierliche Segmentierungen des Bildungsprozesses vorliegen und obwohl alle sechs vom Ende der Schulzeit ab im fünfzehnjährigen Untersuchungszeitraum „mehr oder weniger dramatische Entwertungen, Verwerfungen ihrer beruflichen Qualifikationen erfahren (mussten)“ (ebd. S. 65). Dies verweist auf sinnstiftende Ideologisierungen bzw. biographische Illusionsbildungen (vgl. Bourdieu 1990). Innerhalb der Bildungsgeschichten erscheint die Schule im Vergleich der unterschiedlichen Bildungsräume in allen sechs, sehr verschiedenen Fällen im negativsten Licht, als heteronomer Bildungsraum, der für die eigene Bildungsgeschichte wenig Sinn stiftende Relevanz besitzt. Einschränkend ist aber auch für diese Studie festzustellen, dass die Relevanz der Schulzeit für die Bildungsbiographie nur sehr abkürzungshaft und fragmentarisch herausgearbeitet wird, zudem nicht auf den gesamten biographischen Verlauf bezogen ist und schließlich keine umfassende Kontrastierung und Typenbildung erfolgt. Berücksichtigen die beiden vorhergehenden Studien die schulischen Erfahrungen und Verläufe eher randständig oder beziehen sie nicht systematisch in die gesamte biographische Entwicklung ein, so stehen die schulischen Erfahrungen in der Studie von Hurrelmann und Wolf im Mittelpunkt. Von daher kann diese Studie als die erste Studie zur Schülerbiographie im engeren Sinne bezeichnet werden (Hurrelmann/Wolf 1986). Durch eine teilstrukturierte Befragung von Jugendlichen zu drei Zeitpunkten ihrer Jugendbiographie konnte für versagende und erfolgreiche SchülerInnen an Hauptschulen und Gymnasien verdeutlicht werden, welche Bedeutung die schulische Erfahrung von Erfolg und Versagen auch noch mehrere Jahre nach dem Ende der Schulzeit besitzt. Während die erfolgreichen Schüler – insbesondere die erfolgreichen Gymnasiasten und Gymnasiastinnen – sich einerseits ihren Erfolg selbst zuschreiben und zugleich die biographischen Erfahrungen der Schulzeit für sich abschließen und als abgeschlossene Phase ihres Lebens „marginalisieren“ können, schreiben sich die „versagenden“ Schüler – insbesondere die mit fehlendem Hauptschulabschluss oder mit „Abstiegserfahrungen“ von weiterführenden Schulen – auch ihr Versagen vor allem selbst zu. Dabei gelingt es ihnen nicht, ihre Schulzeit biographisch „abzuschließen“, da sie den „vertanen Chancen“ ihrer Schulzeit nachtrauern, die in ihrem Leben in Form fehlender Bildungsabschlüsse ständig präsent sind. So kann die Studie zum einen die Problematik für Jugendliche verdeutlichen, der Schule einen nicht instrumentellen biographischen Sinn zu verleihen und zum anderen die gravierende biographische Relevanz schulischer Anerkennungsprozesse, von Erfolg, Versagen, Klassenwiederholung oder „Schulabstieg“ für die Jugendbiographie herausarbeiten. Allerdings bleibt auch gegenüber dieser Studie relativierend anzumerken, dass die Interpretationen zumeist paraphrasierend an der Oberfläche bleiben und aufgrund der methodischen Vorgehensweise keine umfassende Schülerbiographie erstellt wird, sondern lediglich punktuell die Veränderung oder Konstanz von Deutungen gegenüber der Schule zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Jugendbiographie ermittelt werden. Zudem werden keine Fallkontrastierungen innerhalb der unterschiedlichen Schülergruppen, z.B. der versagenden Hauptschüler oder der erfolgreichen Gymnasiasten vorgenommen, so dass ein Fall – relativ undifferenziert – exemplarisch für alle steht. Die Interpretationen zu den versagenden bzw. erfolgreichen SchülerInnen bleiben darüber hinaus eher dichotom und berücksichtigen nicht die durchaus auch mögliche biographische Ambivalenz schulischen Erfolgs. Die Studie von Dieter Nittel wendet sich der Biographie und Identitätsentwicklung von Gymnasiasten und Gymnasiastinnen zu, nimmt Erkenntnisse der Studie von Hurrelmann und Wolf auf, um sie auszudifferenzieren und weiter zu entwickeln. Sie fusst auf dem biographie-
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theoretischen und -analytischen Konzept des „narrativen Interviews“ von Fritz Schütze (Schütze 1983) und kann somit als die erste, anspruchsvollen methodologischen Standards genügende Studie zur Schülerbiographie bezeichnet werden (vgl. auch die Kritik am methodischen Vorgehen von Hurrelmann/Wolf in Nittel 1992, S. 18ff.). Die Studie basiert auf der Grundlage von zwanzig biographischen Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die das Abitur abgeschlossen oder zumindest einige Zeit das Gymnasium besucht hatten, so dass sie auf ihre Schulzeit zurückblicken können, aber die Statuspassage zum Erwachsenenalter (Heirat, Beruf) noch nicht durchlaufen hatten. Die Auswahl der Interviewpartner und -partnerinnen erfolgte nach dem Konzept des „theoretical sampling“ und dem Prinzip maximaler und minimaler Kontrastierungen. Dabei wird der gesamte biographische Verlauf rekonstruiert und die institutionellen, schulischen Ablaufmuster, die Auf- und Abstufungen sowie die daran ansetzenden Bewältigungsformen, Handlungs- oder Fluchthandlungsschemata können damit in ihrer Bedeutsamkeit für die gesamte Biographie herausgearbeitet werden. Nittel kann in diesen detaillierten biographischen Analysen zu den ehemaligen GymnasiastInnen – hier durchaus Ergebnisse von Hurrelmann und Wolf bestätigend und gleichzeitig ausdifferenzierend – die tiefreichenden biographischen Beeinträchtigungen längerdauernden schulischen Scheiterns verdeutlichen: Es kommt zu Eskalationen der Verlaufskurve, der Intensivierung von Erfahrungen des passiven Erleidens und von außen erfolgender Bestimmungen während der Schulzeit, Erfahrungen, die sich auch nach der Schulzeit in Form von psychischen Verletzungsanfälligkeiten, ständigen Abbrüchen und Wechseln sowie „Fluchthandlungsschemata“ äußern (ebd. S. 286ff. u.311ff.). Aber auch bei passageren oder nur kurzfristigen schulischen Versagenszeiträumen bleiben „wunde Punkte“ der Schulzeit zurück, in denen eine biographisch sedimentierte Verletzungsanfälligkeit des Selbst wurzelt und etwa Zweifel über die eigene Leistungsfähigkeit und Kompetenz erhalten bleiben. Gegenüber derartigen im schulischen Rahmen erlittenen Verletzungen des Selbst (vgl. auch Wexler 1992, 1994; Combe/ Helsper 1994) werden immer wieder Bewältigungsformen des Ausblendens, der Entemotionalisierung, der Abschwächung der Ereignisse – also Mechanismen relevant, die biographischen Verletzungsdispositionen im Sinne „biographischer Verblendungen“ oder Illusionierungen zu minimieren oder zu entthematisieren. Vor allem aber kann Nittel aufgrund des sequenzanalytischen biographischen Zugangs auch die Ambivalenz des schulischen Erfolgs von Gymnasiasten verdeutlichen, etwa in Form der „Anpassungs-Verlaufskurve“ (vgl. S. 319ff. u. 333f.), eine Dimension, die in der Studie von Hurrelmann und Wolf eher unterbelichtet bleibt. Zum einen zeigen sich in diesen Schülerbiographien, vor allem bei „Aufstiegsbiographien“, teilweise schmerzhafte „Entfremdungen“ gegenüber dem Herkunftsmilieu. Daneben werden auch Marginalisierungen im Rahmen der Peers kenntlich, die teilweise mit der Stigmatisierung als „Streber“ einhergehen. Die Unterwerfung der eigenen Jugendzeit unter institutionelle schulische Erfordernisse und Zeitrhythmen bedeutet auch, dass dies häufig auf Kosten eines jugendkulturellen Lebens und dessen Erfahrungsmöglichkeiten gegangen ist. Insgesamt zeigt sich eine Dominanz instrumentellstrategischer Haltungen – somit „biographische Kosten“ schulischen Erfolges durch die Unterwerfung des Jugendlebens unter die schulischen Erfordernisse. Vor dem Hintergrund dieser biographischen Verläufe kann auch die Bedeutung der Familie, der Peers, der alltäglichen Interaktionen mit den Lehrern, die nicht nur als Inhaltsvermittler, sondern auch als biographische Sachwalter oder Berater fungieren, für die biographischen Prozesse herausgearbeitet werden. Hier sollen nur einige Aspekte exemplarisch herausgegriffen werden. So verdeutlicht Nittel, dass Lehrer und Lehrerinnen – wenn auch eher selten – als signifikante Andere fungieren, also als biographisch und emotional hoch bedeutsame, nicht einfach ersetzbare Bezugspersonen, so dass in diesen Fällen ein Lehrerwechsel für diese
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Schüler und Schülerinnen dramatische Folgen haben kann (ebd., S. 411ff. u. 420ff.). Dabei zeigt sich, dass Lehrer als „signifikante Andere“ vor allem für jene Schüler und Schülerinnen bedeutsam werden, die entweder aus unvollständigen oder hoch problembelasteten und konflikthaften Familien stammen und familial enttäuschte Erwartungen und Wünsche auf schulische Bezugspersonen richten. Dieses Ergebnis kann auch durch eigene biographische Schülerfallstudien bestätigt werden, in denen die hohe emotionale und stützende Bedeutsamkeit von Lehrern und Lehrerinnen gerade bei problematischen Familienkonstellationen von Schülern deutlich wird, sich aber teilweise auch drastisch zeigt, in welche Konflikte Lehrer als „signifikante Andere“ in den universalistisch geprägten schulischen Zusammenhängen geraten und wie schnell sich auch grundlegende Enttäuschungen und familialisierte Konfliktdynamiken zwischen diesen Lehrern und Schülern ergeben können (vgl. Combe/Helsper 1994, S. 77ff.; Helsper 1998, S. 188ff. u. 1999). Obwohl die Studie von Nittel sowohl methodisch wie inhaltlich eine wesentliche Weiterentwicklung im Bereich der Forschung zu Schülerbiographien darstellt, sind auch hier relativierende Anmerkungen erforderlich: So erscheint die typologische Unterscheidung zwischen der „Schulversagens-“ und der „Anpassungsverlaufskurve“ für das breite Spektrum gymnasialer Biographien zu dichotom und weiter ausdifferenzierbar. Zudem schließt Nittel vor dem Hintergrund erzähltheoretischer Annahmen von den biographischen Erzählungen auf institutionelle Strukturen. Darin wurzelt das methodische Problem, dass in den aufgeschichteten Erfahrungen Jugendlicher mit der Schule zwar der biographische Niederschlag der Institution sowie die Handlungs- und Bewältigungsmuster des jeweiligen Individuums gegenüber institutionellen Vorgaben „ablesbar“ sind. Damit kann die fallspezifische Wirkung institutioneller Strukturen rekonstruiert werden. Was aber an institutioneller Struktur in den Blick gerät, ist bereits immer durch die fallspezifische Selektivität der jeweiligen Biographie geführt. Hier liegt eine Grenze des biographischen Zugangs, der zwar die fallspezifische Sedimentierung institutioneller Erfahrungen erschließen kann, aber nicht die Rekonstruktion der institutionellen Struktur anhand institutioneller Szenen und Texte ersetzt. Auf diese Grenze sind wir in einem früheren Projekt bei dem Versuch gestoßen, über biographische Interviews den Anteil verschiedener Institutionen – Familie, Institutionen der Jugendhilfe, Schule etc. – an der Generierung von scheiternden Bildungsverläufen von Jugendlichen zu bestimmen. So folgerten wir, dass die biographische Analyse sehr gut geeignet ist, um das komplexe Zusammenspiel verschiedenster Lebenssphären bei der Entstehung von Marginalisierung und deren Verlauf aus der Logik der biographischen Fallspezifik zu verdeutlichen. Andererseits wurde aber auch klar, dass in narrativen-biographischen Interviews „biographische Ereignisse oftmals nur lückenhaft dargestellt (werden), und es wäre sinnvoll, bei der Analyse bestimmter Entwicklungen auch die Perspektive anderer beteiligter Personen und Institutionen zu berücksichtigen. Ergänzende Erhebungen werden daher wichtig...“ (Helsper u.a. 1991, S. 261f.). Kann mittels des biographischen Zugangs – vor allem durch stark kontrastierende Fälle – verdeutlicht werden, wie Biographien durch institutionelle Erfahrungen strukturiert und beeinflusst werden und daraus auch auf Strukturprobleme sozialisatorischer Institutionen geschlossen werden, so bleibt die institutionelle Struktur selbst in diesem Zugang doch eher ein blinder Fleck. Die Vermittlung von Biographie und Institution bedarf somit gerade der zweiseitigen Rekonstruktion: Sowohl von seiten der Erschließung institutioneller Szenen, Interaktionen und Regeln als auch von Schülerlebensgeschichten. Dies leistet auch die – ansonsten ausgezeichnete und weiterführende – schülerbiographische Studie von Wiezorek (2005) nicht. Allerdings kann diese Studie, die zudem auch biographische Rekonstruktionen aus dem nicht gymnasialen Spektrum berücksichtigt, ein-
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dringlich verdeutlichen, von welch großer Bedeutung die schulischen Erfahrungen für die Jugendbiographie sind. Insbesondere – und hier liegt der zentrale weiterführende Gehalt der Studie – wird deutlich, dass die Schule hinsichtlich ihrer organisierenden Kraft für die biographischen Verläufe von eminenter Bedeutung für die Ausgestaltung von Anerkennungsbeziehungen ist. An einem Fall kann sie exemplarisch herausarbeiten, dass die Schule als Instanz der Vergesellschaftung fungiert, indem über die schulischen sozialen Wertschätzungen in die gesellschaftlichen Erwartungen eingeführt und das Funktionieren und die Bedeutung gesellschaftlicher Anforderungen exemplarisch erlernt werden. Zugleich geht dies – durchaus ein Parallele zur „Anpassungsverlaufskurve“ (Nittel 1992) – mit einer gebremsten Individuation einher. Während schulische Anerkennung hier vor allem als Einübung in und Anpassung an gesellschaftliche Erwartungshaltungen in der Biographie in Erscheinung tritt, wird sie im Fall eines fest im Arbeitermilieu verwurzelten Jugendlichen als Instanz der Generierung manifester Anerkennungsprobleme für den biographischen Verlauf kenntlich. Denn die Schule vermag seinen milieuspezifischen Haltungen nicht mit Anerkennung zu begegnen, so dass er im Rahmen der Schule auf eine Entwertung seiner aus dem Arbeitermilieu stammenden Haltungen trifft, was in Machtkämpfe mit Lehrern und Verweigerungshaltungen mündet. Damit aber wird dieser Jugendliche auf sein Milieu zurückverwiesen, kann es nicht transzendieren und die Schule kann für ihn nicht die Bedeutung einer dezentrierenden, sozial erweiternden Instanz gewinnen. In einem dritten Fall kann schließlich die große Bedeutung der über schulische Leistungen verlaufenden Anerkennung für die Biographie und das Selbst verdeutlicht werden, wobei die institutionelle Anerkennung über Leistung gerade nicht begrenzt werden kann, sondern auf die ganze Person ausstrahlt. Damit kann die sozialisatorische Bedeutung der Schule für die Ausgestaltung der Biographie in der Spannung zwischen der Beförderung autonomer Handlungsfähigkeit und der Initiierung biographischer Verlaufskurven verdeutlicht werden. Dies vollzieht sich über die schulischen Anerkennungsbeziehungen im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Schule, den institutionellen Lehrer-Schüler-Beziehungen sowie den Anerkennungsbeziehungen im Kontext der schulischen Peers und Klassengemeinschaften (vgl. Wiezorek 2005, S. 336ff.). Studien, in denen institutionelle Analysen der Schule mit biographischen Rekonstruktionen verknüpft werden, liegen inzwischen als Ergebnisse eines eigenen Forschungsvorhabens (vgl. schon Helsper 1995) vor. Derartige Studien, in denen institutionelle Analysen mit biographischen Rekonstuktionen vermittelt werden, liegen bislang für schulische Sozialisationsverhältnisse kaum vor (vgl. ansatzweise Helsper 1995). Hier setzt nun – aufbauend auf Nittels Studie – ein eigenes Forschungsvorhaben zum Verhältnis gymnasialer Schulkulturen und Schülerbiographien an. In dieser Studie werden an vier ausgewählten und deutlich kontrastierenden Gymnasien in Ostdeutschland – womit die teilweise gravierenden Unterschiede zwischen Schulen derselben Schulform berücksichtigt werden – in einem ersten Schritt die Sinnstrukturen und Regeln der Schulkultur erschlossen. Insbesondere interessierte uns der über mikropolitische Aushandlungsprozesse institutionalisierte dominante Schulmythos, der über die grundlegenden Antinomien und Strukturprobleme der jeweiligen Schule hinweg einen übergreifenden pädagogischen Sinnentwurf kreiert. Darin ist zugleich auch der Schattenriss eines idealen Schülerselbst enthalten, als anzustrebender Bildungsentwurf für die jeweilige Schule. Die jeweilige Schulkultur mit ihren partizipativen Verhältnissen, inhaltlichen Profilen und den pädagogischen Sinn- und idealen Schülerentwürfen des jeweiligen Schulmythos bildet nun den einzelschulspezifisch ausgeformten institutionellen Raum für die Anerkennung bzw. Ablehnung differentieller
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Selbstentwürfe, Lebensformen und Lebensgeschichten von Schülern und Schülerinnen (vgl. Böhme 1999; Helsper/Böhme 1998; Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1999). Hier wurden nun für jede Schule ca. fünfzehn biographische Interviews mit Schülern und Schülerinnen durchgeführt, sowohl mit Vorzeige- und Profilschülern, mit leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern, aber auch mit „Problem“-Schülern und solchen, die die jeweilige Schule verlassen müssen oder wollen. Hier zeichnet sich nun – obwohl die Studie noch nicht abgeschlossen ist – ab, dass neben dem Kriterium der Leistung, das zudem in den unterschiedlichen Gymnasien verschieden stark gewichtet wird, einzelschulspezifisch variierende Bildungsvorstellungen, Schulmythen und Schülerideale bestehen, die darüber entscheiden, welche SchülerInnen mit welchen biographischen Hintergründen und habitualiserten Lebensformen als exzellent gelten, welche noch akzeptiert bzw. nicht mehr geduldet werden. So werden etwa in einer Schule, in der die Auseinandersetzung mit Sinn- und Transzendenzfragen einen zentralen Aspekt des Schulmythos und Bildungsentwurfs darstellt, gerade die Jugendlichen, die eine krisenhafte Biographie aufweisen und in starke adoleszente Sinnprobleme und gegenkulturelle Suchbewegungen verstrickt sind, als eine besondere pädagogische Herausforderung wahrgenommen. Ihnen wird viel Aufmerksamkeit und pädagogisches Engagement entgegengebracht, um sie biographisch zu stabilisieren und ihre Schullaufbahn zu sichern. An einer anderen Schule, mit dem Schulmythos einer entmodernisierenden Traditionsstiftung und einer um die Metapher des „Steuermanns“ zentrierten Vorstellung des pädagogischen Generationsverhältnisses, sind es gerade diese Jugendlichen, die besonders deutlich von Sanktionierungen und drohenden Ausgrenzungen betroffen sind. Indem schließlich für die Schülerbiographien – aufgrund der Kombination von objektiver Hermeneutik und biographischer Analyse – auch die Strukturproblematik bzw. Selbstspannung der Lebensgeschichte herausgearbeitet werden kann, ist es möglich, für die unterschiedlichen Gymnasien die Verschränkung der institutionellen, schulkulturellen Strukturprobleme mit den strukturellen Problemen des Selbst und der Biographie von Jugendlichen herauszuarbeiten. Hier deutet sich an, dass jene Jugendlichen, deren Biographie durch Selbstspannungen gekennzeichnet ist, die homolog zu den zentralen Strukturproblemen der jeweiligen Schulkultur sind, besonders deutlich in die schulkulturellen Widerspruchsverhältnisse zwischen hohen Erwartungen, Hoffnungen, widersprüchlichen Erfahrungen und Enttäuschungen hineingezogen werden: Etwa die lebensgeschichtliche Suche nach einer vergemeinschafteten Wiederbeheimatung, die durch den schulkulturellen Anspruch einer verschworenen pädagogischen Schulgemeinde Nahrung erhält und zugleich tief enttäuscht wird oder etwa die Hoffnung auf das Aufgehobensein in einer christlich-humanistischen, solidarischen Lebensform, die durch den christlichen Anspruch eines Gymnasiums Hoffnung erhält und zugleich durch die doch dominante Leistungsorientierung und profane Kompromisse enttäuscht wird (vgl. Kramer/Busse 1999, Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1999). Durch diese Vorgehensweise wird das Zusammenspiel zwischen den einzelschulspezifisch ausgeformten Regeln und Bedeutungsstrukturen für die Abweisung, Ablehnung bzw. Degradierung, aber auch für die Anerkennung und Hervorhebung von Schülern und Schülerinnen und deren jeweiliger Lebensgeschichte und Selbstentwürfe deutlich, die in bislang vorliegenden Studien nicht differenziert werden konnten. So kann Böhme (2000) in ihrer Studie zu oppositionellen Schülern an einem exklusiven Gymnasium mit Internat rekonstruieren, dass gerade jene Jugendlichen, die sich in einer schuloppositionellen Distanz zu diesem traditionsreichen Gymnasium situieren, darin als Bürgen für den Schulmythos dieser Schule fungieren. Ihre lebensgeschichtliche Suche nach Vergemeinschaftung und Wiederbeheimatung erhält in diesem schulkulturellen Raum insofern Nahrung, als der schulische Anspruch sich auf die Erzeugung einer verschworenen, ex-
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klusiven und auserwählten Schulgemeinde mit höchster Bildungsberufung richtet. Die tiefreichende Enttäuschung dieses Anspruches, den diese Schüler tragen und ernst nehmen, führt sie schließlich – paradoxerweise als Schüler, die den Bildungsidealen der Schule entsprechen – in die innerschulische Opposition. Insbesondere der Studie von Kramer gelingt es aber die Analyse der Schulkultur mit der schülerbiographischen Perspektive zu verbinden. Er arbeitet exemplarisch für ein Gymnasium die Passung zwischen der spezifischen Schulkultur und unterschiedlichen Schülerbiographien anhand von sechs Fällen heraus (vgl. Kramer/Helsper 2000; Kramer 2002). Kramer entwickelt in einem mehrstufig angelegten rekonstruktiven Strukturvergleich zwischen der schulkulturellen Ordnung und den Schülerbiographien das Strukturmodell der „schulbiographischen Passung“. Ausgehend von Passungsbestimmungen zwischen Schule und Familie wird die Passung zwischen den Schülern und dem familiären Entwurf, die primäre Passung im Übergang zur Grundschule, die Passung beim Übergang von der Grundschule auf dieses spezifische Gymnasium sowie die daran ansetzende Auseinandersetzung und Transformation der Passung im weiteren Verlauf der Schülerbiographie rekonstruiert. Mit Bezug auf die Bestimmungen zum Realen, Symbolischen und Imaginären der schulkulturellen Ordnung (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001)kann verdeutlicht werden, wie komplex die Bezüge zwischen der institutionellen und der biographischen Ordnung sind: Scheinbar harmonische Passungen erweisen sich als durchaus spannungsreich und inkonsistente Passungen können im Laufe der Schülerbiographie durchaus stimmige Ausprägungen annehmen. In einem abschließenden Gesamtmodell differenziert Kramer das Konzept der schulbiographischen Passung weiter aus und kann die Typen der „harmonischen“, der „inkonsistenten“ sowie der „antagonistischen Passung“ mit internen Strukturvarianten und minimalen Kontrasten unterscheiden. Damit liegt in diesen Arbeiten (vgl. Helsper/Böhme/ Kramer/Lingkost 2001; Böhme 2000; Kramer 2002; Helsper 2006) ein ausformuliertes Modell der Vermittlung von institutioneller bzw. von Kultur- und Biographieanalyse für den schulischen Zusammenhang unter besonderer Berücksichtigung der Einzelschule vor. Durch diese Arbeiten kann das Zusammenspiel der einzelschulspezifischen Schulkultur und deren Regeln und Bedeutungsstrukturen mit der jeweiligen Lebensgeschichte und der Entfaltung der Schülerbiographie verdeutlicht werden. Darin werden die Modi der Abweisung und Anerkennung von Schülern im Spannungsfeld von schulkultureller und biographischer Ordnung sichtbar. Vor allem in dieser zweiten Linie der bisher skizzierten Studien – als Ausgangspunkt die Studie von Hurrelman und Wolf, auf die sich Nittel kritisch und differenzierend bezieht, wobei Nittels Studie wiederum einen kritisch reflektierten Anknüpfungspunkt für die Studie von Helsper u.a. ist – lassen sich somit systematische Weiterführungen, methodische Fortschritte, vor allem in der Aufnahme biographieanalytischer und hermeneutisch-rekonstruktiver Verfahren von Schütze und Oevermann, sowie inhaltliche Ausdifferenzierungen zur Schülerbiographie seit den frühen achtziger Jahren feststellen. Daneben ist auf eine dritte Forschungslinie seit den achtziger Jahren hinzuweisen: So liegen einige Studien vor, die sich vor allem dem Zusammenhang von Lern- bzw. Bildungsbiographien bzw. dem Verlauf von „Bildungsgängen“ und den spezifischen inhaltlichen und pädagogischen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen von Reform- und freien Schulen zuwenden, etwa für das Oberstufenkolleg (Gruschka 1985), für Gesamtschulen (vgl. Helsper 1995 u. 1999), für Waldorfschulen am Beispiel der Hiberniaschule (vgl. Gessler 1988) insbesondere für die Bielefelder Laborschule (Bambach/Thurn 1984; Döpp 1988; Kleinespel 1990; Döpp/ Hansen/Kleinespel 1996) oder etwa auch die Freie Schule Bochum (vgl. Maas 1999). Es sind
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damit vor allem auch (selbst)evaluative Studien über die Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten von Schülern und Schülerinnen in reformorientierten pädagogischen Schulräumen. In den biographischen Portraits von sehr unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen der Laborschule wird eine Methodenkombination gewählt, die unterschiedliche Perspektiven zur Geltung bringen soll: So werden schulische Dokumente, etwa die Berichte zum Lernprozess herangezogen, ein „biographisches“ Interview mit Fokus auf die Laborschulerfahrungen ausgewertet, schließlich Gruppendiskussionen mit den Lehrern und Lehrerinnen durchgeführt und die erarbeiteten biographischen Schülerfallstudien schließlich mit den Lehrern kommunikativ validiert (Döpp/Hansen/Kleinespel 1996, S. 24ff). Ziel dieser Studien ist es – im Sinne einer selbstevaluativen Reflexion – die Möglichkeiten und Grenzen der Laborschule in ihrer integrativen Zielsetzung aufzuzeigen, sehr unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen im Sinne einer Pädagogik der Vielfalt gerecht zu werden (ebd. S. 201ff.). So zeigt sich etwa anhand eines Mädchens aus der Unterschicht, das die Laborschule vielfältige Fördermöglichkeiten besitzt und Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet, aber doch die Konflikte und Probleme, die aus sozialen Unterschieden, den „niederen“ und den „höheren“ Kreisen resultieren, nicht aufheben kann. So hat die ermöglichte Förderung und Aufstiegsorientierung bei diesem Mädchen auch die Seite der „Anpassung“, des „Dazwischen“, des „Mädchens mit den zwei Gesichtern“ (ebd. S. 169ff.). Übrigens ein Ergebnis, dass an die „Anpassungs-Verlaufskurve“ auftiegsorientierter Gymnasiasten in der Studie Nittels erinnert. Schließlich zeigt sich bei einem sehr leistungsstarken Schüler, der pädagogisch hoch ambitionierte Eltern hat und selbst höchste Leisungsansprüche an sich stellt, dass hier die Laborschule ein emotionaler und sozialer Stabilisierungsraum ist, der für diesen Schüler wichtige Erfahrungen bereitstellen kann. Gleichzeitig zeigen sich aber auch deutlich kritische Haltungen dieses Jungen gegen die integrative Beschulung, wünscht er sich teilweise Noten und leistungshomogenere Schülergruppen, indem er sich kontrastierend auf gymnasiale Schulräume bezieht. In einer biographisch orientierten Fallstudie zu einem Jungen mit erheblichen familialen Problemen, schulischem Versagen und Schulwechseln, der erst im 9. Jahrgang zur Freien Schule Bochum wechselte, kann Michael Maas verdeutlichen, welche Möglichkeiten der emotionalen Stabilisierung dieses offene und durch viele Freiräume gekennzeichnete schulische Lernmilieu bietet (Maas 1999). Dabei wird vor allem die Bedeutung der Gleichaltrigen als sozialkognitiver Lernraum für die Bearbeitung der sozialen und emotionalen Problematiken dieses Jugendlichen deutlich. Zugleich zeigt sich aber auch die Kehrseite des freien und wenig zwangsförmigen pädagogischen Milieus: Die egozentrischen, Absprachen und gemeinsame Vereinbarungen häufig ignorierenden Haltungen dieses Jugendlichen eskalieren zwar durch die freiheitlicheren Regelungen weniger konflikthaft und führen weniger zu Verweigerungen und aggressiven Dynamiken. Aber gleichzeitig bleibt diese Problematik aufgrund teilweise mangelnder Strukturbildung auch tendenziell unbearbeitet. In diesen Studien – die von ihrer Zielsetzung her teilweise weniger auf methodologische Stringenz achten – wird somit der Zusammenhang von hoch ambitionierten, reformorientierten schulischen Milieus sowie Bildungsmöglichkeiten und biographischen Prozessen von Schülern und Schülerinnen ins Auge gefasst. Damit sind diese Studien auch als ein Beitrag zum Verhältnis von innovativer Institutionalisierung, Bildung und Biographie zu lesen, wobei allerdings in der methodischen Absicherung der komplexen Vermittlung von Institution, Bildungsverlauf und Biographie deutliche Probleme auftreten. Daneben ist auf eine vierte – bislang kaum ausgeschöpfte – Forschungslinie hinzuweisen: So sind – seit Anfang der achtziger Jahre – zunehmend auch methodologisch anspruchsvolle biographische Forschungsarbeiten zu Jugendlichen entstanden (vgl. als Überblick Krüger/ Ma-
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rotzki 1995; Baacke/Sander in diesem Band). Etwa – wenn auch mit deutlichen methodischen Schwächen – die Jugendprotraits im Rahmen der Shell-Jugendstudien (Jugendwerk 1981, 1985, 1992 u. 1997). Neben Forschungen zur Jugendbiographie allgemein (vgl. Lenz 1988; du Bois-Reymond/Oechsle 1990; Fuchs-Heinritz/Krüger 1991; Diezinger 1995) stehen Studien zu unterschiedlichen Teilaspekten der Jugendbiographie: z.B. zum Verhältnis von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Biographie (vgl. Krüger u.a. 1985; Ahlheit/Glaß 1986; Baethge u.a. 1988; Zoll u.a. 1989; Helsper u.a. 1991; Diezinger 1991 u. 1995; Dies u.a. 1983), von beruflichen Biographien und sozialen Identitäten (Scherr 1995), zur Situation ausländischer Jugendlicher bzw. von Aussiedlerjugendlichen in Deutschland (vgl. mit methodischen Einschränkungen Popp 1994; die biographischen Portraits in Tertilt 1996; Meister 1997), zu ostdeutschen Jugendbiographien vor dem Hintergrund der Wendeproblematik (vgl. von Wensierski 1995) bzw. von Übersiedlerjugendlichen (Bertram/Helsper/Stelmaszyk 1991; Vollbrecht 1994; Stelmaszyk 1999), um nur einige Facetten zu nennen. Eine systematische Sichtung dieser jugendbiographischen Studien unter der Perspektive des Verhältnisses von Jugendbiographie und Schule steht noch aus. Hier liegen u. E. bislang ungehobene, aber sekundäranalytisch zu hebende Erkenntnisschätze zur Schülerbiographie. Dies soll exemplarisch anhand einer Studie von Fuchs-Heinritz, Krüger u.a. verdeutlicht werden, die keineswegs als Schülerbiographiestudie angelegt ist, sondern in der, aus einer kritischen Sichtung des „Altersnormenkonzepts“ heraus, der Frage nachgegangen wird, inwiefern die Statuspassage Jugend inzwischen grundlegend pluralisiert und biographisiert ausgestaltet ist (vgl. Fuchs-Heinritz/Krüger 1991). So stoßen die Autoren tatsächlich auf vielfältige Ausprägungen von Jugendbiographien, wobei sie sieben Typen mit nochmaligen Binnendifferenzierungen unterscheiden und zugleich konstatieren, dass weitere Ausformungen der Jugendbiographie durchaus denkbar sind (vgl. S. 220ff. u. 224ff.). Von besonderer Relevanz für den Zusammenhang von Schule und Biographie ist aber das Ergebnis, dass das Verhältnis, das Heranwachsende zu schulisch-institutionellen Ablaufmustern und Anforderungen einnehmen, für die Ausformung der Jugendbiographie hoch bedeutsam ist. Zwischen den Polen einer Orientierung an festen, institutionalisierten „Fahrplänen“ (z.B. Jugendzeit gleich Schulzeit, ebd. S. 58ff.) und eher antiinstitutionellen „Eigenzeiten“, kommt es zu vielfältigen, aufgrund der Widerspruchskonstellationen nicht einfach herzustellenden Balancemustern zwischen Schule und familialer Ablösung, Schule und Privatleben bzw. zwischen Schule und Ciquenzeiten (vgl. ebd. S. 29-206). Hier sind dann – in der vergleichenden Sichtung stärker schulbiographisch orientierter Studien – Ergänzungen möglich: So weisen die Autoren darauf hin, dass sich in ihrem Sample keine als schulische Bildungsbiographie konstruierte Jugendbiographie fand. Sie vermuten diese – wenn überhaupt – in besonders exponierten schulischen Milieus. Sowohl in der Studie von Nittel, dort im Zusammenhang von Lehrern als signifikanten Anderen, aber auch in eigenen Studien etwa im Zusammenhang von Gesamtschulmilieus (Helsper 1988, S. 21ff., Helsper 1998) und im Rahmen eines hoch bildungsambitionierten, gymnasialen Internats mit langer Tradition (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1999) ergeben sich Hinweise auf schulisch dominierte, durch signifikante Lehrer angestoßene Bildungsprozesse geprägte Jugendbiographien. Insgesamt kann die Studie von Fuchs-Heinritz und Krüger eindrucksvoll ausdifferenzieren, welche Bedeutung das Verhältnis zu schulisch-institutionellen Markierern und die Gewichtung des Lebensbereiches Schule für die Ausformung unterschiedlicher Jugendbiographien besitzt und dass aus der Expansion der Schul- und Bildungszeiten, der „Scholarisierung“ der Jugendphase, keinesfalls eindimensional auf deren Dominanz für den Verlauf und die Strukturierung der Jugendbiographie geschlossen werden darf. Allerdings bleibt diese Studie deutlich unter dem Explikationsgrad des Zusammenhanges von Jugendbio-
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grapie und schulischen Erfahrungen, den die Studie von Nittel ermöglicht, was allerdings nicht verwunderlich ist, da der Fokus nicht auf das Verhältnis von Biographie und schulischen Erfahrungen bzw. Deutungen der Jugendlichen eingestellt war. Zusammenfassend kann damit zum Forschungsstand festgehalten werden: Trotz des erstaunlichen Aufschwungs methodisch anspruchsvoller biographischer Forschungen seit den achtziger Jahren sind Studien zum Verhältnis von Jugendbiographie und Schule doch eher noch selten. Die vorliegenden Studien geben zwar relevante und zunehmend differenzierte Hinweise für die biographische Bedeutung von Erfolg und Versagen in der Schule (Hurrelmann/Wolf 1986; Nittel 1992; Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1999), die Relevanz der Schule für die Entstehung marginalisierter Jugendbiographien (z.B. Helsper u.a. 1991), auf die deutlich divergierende Bedeutung schulischer Zeitmarkierer und institutioneller Ablaufmuster für die Ausformung unterschiedlicher jugendbiographischer Typen (Fuchs-Heinritz/ Krüger 1991), auf die biographischen Kosten auch von erfolgreichen schulischen Aufstiegs- und Anpassungsprozessen (Nittel 1992) sowie die Möglichkeiten bzw. Grenzen innovativer, reformorientierter schulischer Milieus für Bildungsprozesse und Jugendbiographien (vgl. Gruschka 1985; Döpp/Hansen/Kleinespel 1996; Maas 1999; Helsper 1999). Aber diese einzelnen Studien ergeben noch keine umfassende Sichtung des Verhältnisses von Schule, als der zentralen sozialen Institution des Jugendalters und den biographischen Verläufen Jugendlicher über verschiedene Milieus, Lebensformen und Schulformen hinweg. Der zusammenfassenden Bilanzierung der biographischen Forschung zu Schule und Jugend von Klaus Jürgen Tillmann ist auch drei Jahre später nichts wesentlich anderes hinzuzufügen: „Allerdings ist es noch ein weiter Weg, um von diesen Einzelstudien (die oft sehr spezifische Situationen z.B. in Reformschulen analysieren) zu einer Theorie des Zusammenhangs zwischen Institution und Biographie zu gelangen. Insofern sind weitere biografische Studien zur schulischen Sozialisation dringend erforderlich.“ (Tillmann 1995, S. 192)
3.
Forschungsperspektiven
Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Forschungsdesiderate und daraus resultierende Forschungsperspektiven festzuhalten: 1.
ist der Stand biographischer Analysen für unterschiedliche Schülergrupppen und über verschiedene Schulformen hinweg keineswegs zufriedenstellend. Am ehesten liegen noch für den gymnasialen Bereich Studien vor, während für Hauptschüler, Realschüler aber auch Gesamtschüler deutliche Defizite bestehen. Aber nicht nur für Schüler und Schülerinnen unterschiedlicher Schulformen wären weitere biographische Studien erforderlich, sondern vor allem auch für spezifische Schülergruppen: Etwa biographische Studien zu ethnischen Schülergruppen, zu besonders deutlich aufstiegsorientierten Schülern bzw auch zu schulischen Problemgruppen, wie etwa Schulversagern oder gewaltorientierten Jugendlichen. 2. Besonders schwerwiegend ist in diesem Zusammenhang das weitgehende Fehlen von Studien zur Geschlechtsspezifik im Verhältnis von Schule, Bildungsverläufen und biographischen Verläufen. Zwar gibt es in den skizzierten Studien Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede (z.B. Fuchs-Heinritz/Krüger 1991, S. 226ff.), aber systematisch vergleichende Studien zur Schülerbiographie – etwa zur unterschiedlichen Relevanz gymnasialer Aufstiegsorientierung bei weiblichen und männlichen Jugendlichen – oder Studien
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zur Bedeutung schulischer Bildungs- und Interaktionsprozesse für die Herausbildung der Geschlechtsidentität im Verlauf der Jugendbiographie liegen kaum vor. 3. steht eine systematische Sichtung der inzwischen breit ausgefächerten Biographieforschung unter der Perspektive aus, was sich daraus „sekundäranalytisch“ über das Verhältnis von Biographie und schulischer Institution zusätzlich zu den schülerbiographisch fokussierten Studien erschließen lässt. Dass hier unausgeschöpfte Erkenntnismöglichkeiten ruhen, konnte an der Studie von Fuchs-Heinritz und Krüger (1991) verdeutlicht werden. Dabei wäre hier durchaus auch an eine „sekundäranalytische“ Interpretation und Analyse von vorliegenden biographischen Interviews zu denken. 4. Vor allem aber ist das Verhältnis von Schülerbiographie, Schulkarriere und den institutionellen Bedingungen, den (einzel)schulspezifischen Rahmungen und Regeln weiterhin zu klären. Dafür bedarf es – im Sinne einer Vermittlung von Biographieforschung und Kultur- oder Institutionenanalyse (vgl. Bohnsack/Marotzki 1998) – einer Ergänzung der biographischen Analyse durch die davon unabhängige Rekonstruktion institutioneller Strukturen, die in einem dritten Schritt zueinander vermittelt werden können: Z.B. können schulische Sanktionierungsszenen (Klassenkonferenzen, Bestrafungen, Lehrergespräche, Elterngespräche etc.) mit der biographischen Analyse betroffener Schüler und Schülerinnen vermittelt werden und hier die Angemessenheit institutioneller Maßnahmen und die Folgen für biographische Prozesse detailliert erschlossen werden. Oder Szenen schulischer Anerkennung zwischen Hervorhebung und Entwertung bzw. Degradierung können rekonstruiert und in ihrer Bedeutung für unterschiedliche Lebensgeschichten von Schülern verdeutlicht werden. 5. In ähnlicher Form könnten auch ethnographische Milieustudien mit der Analyse von Schülerbiographien verbunden werden und damit der Zusammenhang von sozialer Herkunft, habitualisierten Lebensformen und Lebensführungsprinzipien, Schülerbiographie und Bildungsverläufen erhellt werden. Wenn die Analyse von Schülerbiographien darüber hinaus mit der Rekonstruktion schulischer und unterrichtlicher Handlungsmuster bzw. von inhaltlichen Lernprozessen verbunden wird, wären daraus wichtige Hinweise auf den Zusammenhang lebensgeschichtlicher Erfahrungen und schulischer Lernprozesse zu erhalten. Gerade aus derartigen komplexen Forschungsperspektiven der Vermittlung biographischer Analysen mit institutionellen und milieuspezifischen Studien wären weitreichende Erkenntnisgewinne zu erzielen. Dass hier bislang kaum fundierte Studien vorliegen, resultiert wohl nicht zuletzt daraus, dass derartige Forschungsvorhaben sehr komplex, voraussetzungsreich, methodisch aufwendig und vor allem zeit- und personalintensiv sind. Keine allzu guten Voraussetzungen für Forschungsförderung, der aber – um der gerade hier möglichen Erkenntnisgewinne – Mut zum Risiko zu wünschen wäre.
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StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven biographieanalytischer Zugänge Barbara Friebertshäuser
Inhalt 1. Das Primat quantitativer Methoden in der Hochschulforschung 2. Paradigmawechsel: Linien der Biographieforschung in der StudentInnenforschung 3. Theoretische und methodische Zugänge im Überblick 4. Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in der StudentInnenforschung 5. Biographieforschung als Frauenforschung in der Hochschule 6. Probleme und Kritik der Biographieforschung 7. Perspektiven der qualitativen StudentInnenforschung Literatur
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1.
Barbara Friebertshäuser
Das Primat quantitativer Methoden in der Hochschulforschung
StudentInnenforschung gehört zu den großen Bastionen quantitativer Forschung und das hat gute Gründe. Politik, Hochschulen und Gesellschaft benötigen Zahlen, Daten, Fakten: zum Beispiel zum Studienfachwahlverhalten der Studierenden, zur Studienzufriedenheit, der Absicht zum Studienfachwechsel, über die Anzahl von Bafög-Empfängern unter den Studierenden, ihre ökonomische und soziale Lage, sowie über bundesdeutsche Studierende im internationalen Vergleich. Große Zahlenberge werden alljährlich in bundesweiten Repräsentativerhebungen zu diesen und vielen anderen Themen angehäuft. Seit 1951 veranstaltet beispielsweise das Deutsche Studentenwerk in etwa dreijährigen Abständen, mit finanzieller Förderung der Bundesregierung, Sozialerhebungen. Seit mehr als 40 Jahren wird auf diese Weise jede Studentengeneration mindestens einmal umfassend zu ihrer sozialen Situation befragt.1 Einen zentralen Stellenwert im Rahmen der quantitativen StudentInnenforschung nehmen inzwischen die umfassenden Veröffentlichungen der HIS-GmbH Hochschulinformationssystem in Hannover ein, die im Rahmen staatlicher Auftragsforschung breite Erhebungen über die bundesdeutsche Studentenschaft vorlegen.2 Zu den großen Forschungsprojekten gehört auch das Konstanzer Projekt zur Hochschulsozialisation, das seit 1982 zahlreiche Publikationen der als Längsschnittstudien angelegten Forschungen über Studierende in den 1980er Jahren vorgelegt hat (vgl. Bargel/Framheim-Peisert/Sandberger 1989; Dippelhofer-Stiem 1983), und bundesdeutsche Studierende im internationalen Vergleich untersuchte (Framhein/Langer 1984; Dippelhofer-Stiem/Lind1987). Gegenwärtig geben zahlreiche Studien, beispielsweise die Langzeitstudien des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufsund Hochschulforschung an der Universität-Gesamthochschule Kassel, interessante Einblicke, insbesondere auch zu Problemen des Berufseinstiegs von HochschulabsolventInnen (Teichler/Schomburg/Winkler 1992).3 Auch im Rahmen quantitativer Erhebungen werden biographische Fragestellungen verfolgt. So untersuchte unser Projekt „Studium und Biographie“ auch mittels Fragebogenerhebungen den biographischen Hintergrund von Studierenden unterschiedlicher Fachkulturen.4 Unser Interesse an den biographischen Lebensdaten der Studierenden wurde gespeist von der Annahme, dass die Studentinnen und Studenten bereits vor dem Studium spezifische Dispositionen erworben haben, die ihre Orientierungen im Studium, die Bewältigungsstrategien, den Lebensstil und den gesamten Prozess der Hochschulsozialisation beeinflussen. Apel (1993) verfolgt entlang dieser Daten, inwieweit das studentische Handeln und Entscheiden im Hinblick auf Studienfachwahl und Studiengestaltung auf den soziokulturellen Familienhintergrund, schulische und andere biographische Einflüsse bezogen bleibt. Engler (1993) geht den in Verhaltensweisen und Geschmackspräferenzen eingeschriebenen sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nach und untersucht dabei auch die lebensgeschichtlichen Verankerungen von Präferenzen der Studierenden unterschiedlicher Fachkulturen (beispielsweise in Kinderspielen und Schulfachpräferenzen). Der Umfang des Forschungsbereiches zur StudentInnenforschung ist enorm, Schneider (1985) ermittelt bereits für die Jahre 1958 – 1983 an die 300 Studien zu diversen Themenbereichen in der StudentInnenforschung. Einen umfassenden Überblick über den Stand der Hochschulsozialisationsforschung gibt Huber (1991), dort finden sich auch zahlreiche Literaturhinweise. In der Mehrzahl handelt es sich bei den quantitativen Studien in der StudentInnenforschung um Repräsentativerhebungen (hochschulspezifische, regionale oder bundesweite). Diese arbeiten in der Regel mit der Methode der postalischen, schriftlichen, standardisierten
StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven
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Fragebogenerhebung. Die generelle Kritik an dieser Methode sei mit einigen Stichworten in Erinnerung gerufen: fehlende Situationskontrolle bei der Beantwortung der Fragebögen (vielleicht haben gleich mehrere Studierende den Fragebogen beantwortet), Problematik der Zuverlässigkeit der Daten, soziale Erwünschtheit der Antworten oder Stichproben-Repräsentativität. Problematisch am ausschließlichen Einsatz solcher Verfahren in der StudentInnenforschung sind allerdings auch tiefergehende Aspekte. So basiert die FragebogenKonzeption auf Hypothesen, Vorannahmen und Konstrukten der Forschenden über bedeutsame Kategorien zur Erfassung studentischer Lebenslagen. Welche Bedeutung diese in Fragen verpackten Annahmen tatsächlich für Studierende oder Prozesse studentischer Sozialisation in der Hochschule besitzen, muss immer wieder kritisch daraufhin befragt werden, welche Konstruktion hier vorgenommen wird, welche Normvorstellungen darin einfließen und welche weiteren Aspekte ausgeblendet bleiben. Auch lässt sich aus den Aussagen nicht mehr herausfiltern, inwieweit Selbstkonstruktionen, Orientierung an gesellschaftlichen Normvorstellungen, Geschlechtsstereotype, gegenwärtige Befindlichkeiten oder schlichte Missverständnisse, alles Aspekte die den Befragten selbst nicht bewusst sein müssen, ihre Antworten bestimmt haben.5 Das methodische Vorgehen der quantitativen Forschung wird vielfach kritisiert, insbesondere auch von Seiten der Biographieforschung (vgl. Baacke 1985, S. 5ff). Denn in der quantitativen Forschung ergeben sich weitere Probleme. In den großen Zahlenbergen, die alljährlich beispielsweise über Studentinnen und Studenten angehäuft werden, verschwindet das konkrete Leben der Einzelnen, wird abstrahiert zu einem Element einer statistischen Größenangabe und subsumiert in statistischen Angaben über repräsentative Stichproben. Die quantitativen Auswertungen interessieren sich für Häufigkeitsverteilungen bestimmter Merkmale. Über Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen vermögen aber selbst Kohorten- oder Clusteranalysen nur sehr begrenzte Aussagen zu machen. Gibt es bsw. einen Zusammenhang zwischen schulischen Erfahrungen, politischen Orientierungen, Studienfachwahl und Studienstrategien? Eine Clusteranalyse kann hier die quantitativen Daten entsprechend gruppieren. Aber wer sind dann diese Studierenden, die mit guten Schulnoten, einer Präferenz für grüne Politik und mit dem Wunsch „um zu sozialen Veränderungen beizutragen“ sich für ein Diplomstudium der Erziehungswissenschaft entscheiden und angegeben haben, dass sie im Studium vor allem ein Interesse am „Erlernen praktischer Fähigkeiten“ haben. Sind das Studentinnen, aus welchem Herkunftsmilieu stammen sie, was verstehen sie unter „grüner Politik“, „sozialen Veränderungen“, „persönlicher Entfaltung“, wie sind diese Einstellungen biographisch entstanden und was motiviert sie, nun gerade dieses Studienfach zu studieren? Diesen anders gewichteten Fragestellungen und Zusammenhängen widmet sich die Biographieforschung. Hier stehen die subjektiven Erfahrungen, Selbstund Weltdeutungen, Bewältigungsstrategien und Orientierungen der Studierenden im Kontext ihrer bisherigen Biographie im Zentrum des Interesses. Qualitative Forschung interessiert sich für die Komplexität, Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit sozialer Phänomene. Der Mensch im Kontext seiner historischen, gesellschaftlichen und sozialen Umwelt als deutendes und interpretierendes Wesen, das sich aktiv mit der Welt auseinandersetzt, rückt ins Zentrum des Interesses.
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2.
Barbara Friebertshäuser
Paradigmawechsel: Linien der Biographieforschung in der StudentInnenforschung
Dieser Abschnitt geht der Frage nach, wie in der Biographieforschung selbst der Nutzen dieses methodischen Ansatzes allgemein und speziell in der StudentInnenforschung begründet wird und welche Entwicklungen und Richtungen sich auf diesem Feld finden. Dabei können nur einige grobe Linien gezeichnet werden. Die Geschichte der (pädagogischen) Biographieforschung besitzt bereits einige frühe Wurzeln im 18. Jahrhundert (vgl. Krüger 1997, S. 44ff). In der bundesrepublikanischen StudentInnenforschung begann man erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts biographieanalytische Verfahren zur Erforschung studentischer Lebensläufe einzusetzen.6 Wissenschaftstheoretisch betrachtet basiert diese veränderte Perspektive auf einem Paradigmawechsel (vgl. Kuhn 1967/1991). Das in der Erziehungswissenschaft in den sechziger Jahren von Heinrich Roth (1962) eingeführte empirisch quantitative methodische Vorgehen wurde in seiner Ausschließlichkeit in Frage gestellt und anknüpfend an hermeneutische Traditionen durch qualitative Forschungszugänge ergänzt und erweitert.7 Zeithistorisch lässt sich das neu erwachende Interesse an Biographien mit verschiedenen Entwicklungen erklären. Zum einen produzierte die Studentenbewegung auch biographische Zeugnisse über die Bewegung und damit eine neue Reflexionsebene über die Hochschule.8 Die Öffnung der Hochschulen auch für bildungsferne Schichten und die allgemeine Expansion der Studierendenzahlen, sowie die steigende Anzahl von studierenden Frauen schufen neue Forschungsfragen und Problemlagen, die es zu erforschen galt. Und auf theoretischer Ebene rückte im Zuge der Rezeption des „symbolischen Interaktionismus“ das aktive „produktiv, realitätsverarbeitende Subjekt“ (Hurrelmann 1983) ins Blickfeld der Sozialisationsforschung und beeinflusste damit auch die Hochschulsozialisationsforschung (vgl. Huber 1991). Zusätzliche Impulse vermittelte die These von der „Individualisierung“ (Beck 1986). Denn wenn in der modernen Gesellschaft der Grad der Entscheidungskompetenz der Einzelnen – jenseits traditioneller Zuschreibungen und struktureller Barrieren – gestiegen ist, dann stellt sich die Frage danach, auf welcher Basis die Einzelnen nun ihre Optionen (z.B. für ein bestimmtes Studienfach) treffen. In den Lebensläufen der Einzelnen treffen individuelle Lebensperspektive und gesellschaftlicher Wandel zusammen und werden verarbeitet zu einer Biographie, die für Forschende spannende Einblicke in individuelle und allgemeine Verarbeitungsmuster eröffnet. Im Zuge dieses Paradigmawechsels und den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen folgte ein Boom an biographieanalytischen Arbeiten in der StudentInnenforschung zu den verschiedensten Themenbereichen (von der Studienfachwahl, dem Studienverhalten bis zum Studienabbruch oder Wechsel in den Beruf), auf den später noch eingegangen wird. Denn es galt nun, die Forschungslücken zu schließen und qualitative Studien vorzulegen. „Unter Biographieforschung werden alle Forschungsansätze verstanden, die als Datengrundlage (oder als Daten neben anderen) Lebensgeschichten haben, erzählte bzw. berichtete Darstellungen der Lebensführung und der Lebenserfahrung aus dem Blickwinkel desjenigen, der sein Leben lebt.“ (Fuchs 1984, S. 9) Diese Gemeinsamkeit auf der Ebene des Datenzugangs splittert sich jedoch in unterschiedliche theoretische Perspektiven auf, wenn es um das jeweilige Erkenntnisinteresse geht. Denn in einer Biographie treffen individuelle Lebensperspektive und gesellschaftlich, struktureller Kontext eines Lebenslaufes zusammen.9 Entsprechend differieren die theoretischen Interessen an Biographien. Hier lassen
StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven
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sich drei wesentliche Richtungen unterscheiden (vgl. Fischer-Rosenthal 1990, S. 18ff). Die Sinnperspektive knüpft an Konzepte der verstehenden Soziologie, insbesondere in der Tradition des symbolischen Interaktionismus, an. Analysiert werden das biographisch erworbene Erfahrungsreservoir und die Sinnhorizonte, mit denen die Befragten im Austausch mit ihrer sozialen Umwelt subjektiven Sinn produzieren. Von besonderem Forschungsinteresse sind dabei persönliche und gesellschaftliche Krisenereignisse, an denen es zu Umdeutungen oder Neudefinitionen kommt (z.B. Statuspassagen, Glaser/Strauss 1971). Erhoben werden die Daten meist durch die Methode des „narrativen Interviews“ und ausgewertet mittels der entsprechenden Analyseverfahren (Schütze 1981; 1983; 1984).10 Kennzeichnend ist eine Fokussierung auf die Perspektive des Befragten. In der Funktionsperspektive wird Biographisches als Ausdruck und Funktion allgemeiner sozialer Prozesse verstanden. Individualisierungsprozesse (Beck 1986) werden im Hinblick auf ihre biographischen Folgen betrachtet. Fuchs (1983) beschreibt, dass die erweiterten Handlungsräume und Freiheiten auch größere Anforderungen an die Einzelnen stellen, er spricht von einer „Individualisierung und Biographisierung der Lebenspraxis“ (S. 369). Die Strukturperspektive fragt nach den Strukturen „latenten Sinnstrukturen“, die sich in den biographischen Erzeugnissen aufdecken lassen. Im wesentlichen wird diese Richtung durch Vertreter einer „objektiven“ oder „strukturalen Hermeneutik“ in der Tradition Oevermanns verfolgt (vgl. Garz/Kraimer 1994; Garz 1997). Auch wenn die verschiedenen Richtungen der Biographieforschung jeweils eine etwas anders ausgerichtete Forschungsperspektive einnehmen, vereint sie doch eine Anschauung, die den einzelnen einen anderen Stellenwert einräumt. Einzelfallstudien werden im Hinblick auf ihre Erkenntnismöglichkeiten ausgelotet, wobei auch dem Besonderen im Allgemeinen eine wichtige Bedeutung zugesprochen wird. Biographieforschung analysiert Lebensverläufe in ihrer Vielfältigkeit auf der Folie individueller, gesellschaftlicher, historischer und sozialer Tatsachen. Erhoben werden sollen die für die befragten Personen relevanten Sachverhalte, ihr Orientierungswissen, ihre biographischen Erfahrungen und Entscheidungen jenseits der durch den Forschenden methodisch oder theoretisch vorgegebenen Vorannahmen, Konstrukte, Intentionen und Ausblendungen. Unter dem gemeinsamen Dach der Biographieforschung versammeln sich Vertreter unterschiedlicher Disziplinen, auch finden sich unterschiedliche Vorgehensweisen und Fragestellungen. In der biographieanalytisch orientierten StudentInnenforschung lassen sich verschiedene Richtungen ermitteln. Als ein grobes Unterscheidungsmerkmal kann der methodische Zugang dienen, hier reicht die Palette von den erzählgenerierenden Verfahren der Datenerhebung, insbesondere mittels eines „narrativen Interviews“ und leitfadengestützter Interviewtechniken.11 Unterschiedlich sind auch die Erkenntnisinteressen, hier lassen sich die bereits oben von Fischer-Rosenthal eingeführten verschiedenen Perspektiven wiederfinden: Sinnperspektive, Funktionsperspektive und Strukturperspektive. Eine weitere Differenzierung des Feldes der Biographieforschung im Bereich der StudentInnenforschung sei hier noch benannt. Die jeweiligen Autorinnen und Autoren solcher Studien gehören unterschiedlichen Fachdisziplinen an und formulieren ihr Erkenntnisinteresse vor dem Hintergrund ihrer disziplinären Verortung. Insbesondere in der Soziologie sind viele Studien zum Thema Studierende angesiedelt, häufig verknüpft mit einem spezifischen Interesse am Zusammenhang von gesellschaftlichen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf Biographien (Funktionsperspektive) oder an der Repräsentanz gesellschaftlicher Strukturmomente in den einzelnen Biographien (Strukturperspektive). Die psychologische Forschung fragt nach Prozessen der Identitätsentwicklung, sie lässt sich nur bedingt einer „Funktionsperspektive“ zuordnen, sondern verfolgt eher theoriegeleitete Auswertungsstrategien, bei denen die Kon-
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Barbara Friebertshäuser
zepte aus Modellen des Faches entwickelt werden und als Raster an die Biographien angelegt werden, hier würde ich den Bereich der Bewältigungsforschung ansiedeln und die Arbeiten zur Identitätsentwicklung im Studium. Die Sinnperspektive gehört allerdings ebenfalls zu den soziologischen Fragerichtungen, so dass die obige Differenzierung nicht unbedingt geeignet ist, trennscharfe Linien zwischen Disziplinen zu ziehen, sondern sie markiert lediglich dominante Fragerichtungen. Auffällig ist allerdings, dass die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung sich insbesondere zur Sinnperspektive hingezogen fühlt. Diese Orientierung, die mit einer starken Fokussierung auf das Individuum verknüpft ist, erklären ein Stück weit die folgenden Aussagen von Vertretern einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Programmatisch weisen Baacke und Schulze in ihrem bereits 1979 zuerst erschienen Sammelband „Aus Geschichten lernen“ darauf hin, „daß Lebensgeschichten zuerst und vor allem Lerngeschichten sind“ (Baacke/Schulze 1993, S. 9) und dadurch gerade für die Erziehungswissenschaft besonders spannende Dokumente von Bildungsprozessen darstellen. „Transkribierte Stegreiferzählungen sind Resultate solcher Biographisierungsprozesse, die der Informant zum Interviewzeitpunkt vollzogen hat. Sie dürfen als Resultate von Bildungsprozessen insofern verstanden werden, als in ihnen die Welt- und Selbstsicht des Informanten in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zur Darstellung kommt.“ (Marotzki 1991, S. 96) Damit rückt der einzelne Mensch und – in der Tradition der Fallstudien – das einzelne Schicksal in den Fokus der Aufmerksamkeit. Marotzki versteht – anknüpfend an Dilthey – Biographie in hermeneutischer Tradition als Dialektik des Einzelnen und des Allgemeinen. Die enge Verzahnung von Subjekt und Welt ist damit zentral bezeichnet. Und zugleich tritt die Individualität des Subjekts programmatisch in den Vordergrund (vgl. Marotzki 1991, S. 89).12 Damit wird die Frage bedeutsam, wie die Individuen sich selbst und ihre Welt sehen, wie sie ihrem Leben und den Ereignissen Sinn verleihen. Für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung ergeben sich auf dieser Folie gegenwärtig vielfältige Fragestellungen. Insbesondere die gesellschaftliche Anforderung des „lebenslangen Lernens“ wirft die Frage auf, wie die Individuen dies bewältigen und welche biographischen Voraussetzungen dafür geschaffen sein müssen, damit der Einzelne in dieser Weise zum Manager seiner eigenen Lern- und Bildungsprozesse wird. Es muss angenommen werden, dass biographisch erworbene Lernmuster und der Prozess der Subjektbildung dabei eine zentrale Rolle spielen. Diesem komplexen Verhältnis von Identität, Lernen und Bildung geht die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung empirisch nach (vgl. Nittel/Marotzki 1997, S. 6f.). Die Herausgeber formulieren in ihrer Einleitung zu dieser spannenden Fallstudie eine ganze Reihe von Fragen, denen die Autoren in diesem Band nachgegangen sind, die sich aber auch ganz allgemein für eine erziehungswissenschaftliche Biographieforschung innerhalb der StudentInnenforschung stellen: „Wie verdichten sich die auf der Ebene der Alltagszeit virulenten situativen Lernprozesse in dauerhafte Handlungsmuster? Wie schichten sich Alltagserlebnisse im Zuge des lebenslangen Lernens zu einem bildungsspezifischen Habitus auf? Welche Zusammenhänge ergeben sich zwischen Erfahrungen, die Menschen machen, und der Art und Weise, wie sie lernen?“ (a.a.O., S. 7)
StudentInnenforschung – Überblick, Bilanz und Perspektiven
3.
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Theoretische und methodische Zugänge im Überblick
Um einen Überblick über die verschiedenen biographieanalytischen Studien im Bereich der StudentInnenforschung zu geben, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Klassifizierung, die im Folgenden kurz entwickelt werden. Die dabei in Klammern gesetzten Verweise auf Studien verstehen sich als exemplarische Hinweise und erheben – angesichts der Fülle von Arbeiten zu diesem Bereich – keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Einige theoretische und methodische Zugänge der biographieanalytischen StudentInnenforschung werden dann noch einmal ausführlicher behandelt. Der Betrachtungsausschnitt wird hier jedoch auf die bundesrepublikanische Hochschulforschung beschränkt. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) dominierte in der Studentenforschung das quantitative Paradigma.13 Nach Fachrichtung klassifiziert zeigt sich, dass die verschiedenen Disziplinen auch innerhalb der biographieanalytisch orientierten StudentInnenforschung jeweils eine dominante fachspezifisch geprägte Fragerichtung entwickeln, auch wenn es GrenzgängerInnen in jedem Fachgebiet gibt. Das besondere Interesse der Soziologie gilt den „Lebensweltanalysen“ (vgl. Heinze/Klusemann/Soeffner 1980), gefragt wird nach den Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen für die einzelnen (Buttgereit 1987) und nach Prozessen der Identitätsentwicklung im Studium (Vogel 1986). Die psychologische Forschung interessiert sich besonders für Bewältigungsstrategien von Studierenden (Halsig 1988). Die Kulturanthropologie bewegt sich zwischen Alltagsforschung und „Anthropologie des Selbst“ (Greverus 1993) untersucht Studierende der Kulturanthropologie und ihren Weg zu einem selbstbestimmten Lebensentwurf (Groffmann/Möhrlein/Moscon1993) auch unter Einbeziehung studentischer Wohn- und Lebensräume (Schmidt-Hornstein 1993). Biographieanalytische Studien in der Erziehungswissenschaft fokussieren auf den Bildungsaspekt des Studiums (Kokemohr/Marotzki 1989; Marotzki/Kokemohr 1990; Kokemohr/Prawda 1989; Marotzki 1997), den Umgang mit gesellschaftlichen und biographischen Umbrüchen (Schwibbe 1993; Grunert 1997) oder analysieren studentische Sozialisationsprozesse auf der Folie des Diplomstudiengangs Erziehungswissenschaft und interessieren sich dabei für die Übergangsphase des Studienbeginns (Friebertshäuser 1992), den Studienverlauf (Sturzenhecker 1993) oder den Wechsel in den Beruf (Prawda 1990; Nittel/Marotzki 1997). Dabei stehen Bildungsprozesse, Bewältigungsstrategien und Verlaufskurven im Zentrum des Interesses. Die biographieanalytischen Studien in der StudentInnenforschung lassen sich auch danach klassifizieren, Studierende welcher Fachdisziplin sie untersucht haben. Während die zuletzt genannten Studien Studierende der Erziehungswissenschaft oder Ethnologie untersucht haben, interessierte sich die Biographieforschung auch für Studierende anderer Fachdisziplinen. Den akademischen Habitus von Studierenden in den Fächern Biologie und Psychologie untersuchte Frank (1990), Ingenieure untersuchen Hermanns/Tkocz/Winkler (1984), Studenten der Fachrichtung Maschinenbau werden von Scherr (1995) befragt.14 Bei einer Klassifizierung nach dem methodischen Vorgehen lassen sich unterschiedliche Strategien finden. Neben narrativen Interviews, die sich auf die Analyse eines Einzelfalls konzentrieren, finden sich leitfadengestützte Interviewtechniken, die größere Gruppen befragen oder eine Längsschnittstudie durchgeführt haben, sowie Analysen von Vergleichsgruppen und methodenkombinierte Verfahren. Bei der Auswahl der Befragten dominieren folgende Verfahren: Die Befragten ergeben sich nach einem Zufallsprinzip. Die Forschenden praktizieren „theoretical sampling“ nach dem Konzept der Grounded Theory (vgl. Strauss 1991), wobei die Kategorien im Laufe des Forschungsprozesses gebildet werden. Oder die Interviewauswahl erfolgt theoriegeleitet, d.h. die Merkmale, die auf die Befragten
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zutreffen sollen, wurden bereits durch Vorstudien oder auf der Basis theoretischer Konstrukte festgelegt. Teilweise fehlen allerdings auch die Angaben dazu, wie die Auswahl der Befragten zustande kam. Bei methodenkombinierter Forschung können Kategorien für die Auswahl der Interview-PartnerInnen aus vorangegangenen Analysen entstehen (z.B. Teilnehmenden Beobachtungen, Fragebogenerhebung oder Gruppendiskussionen).15 Auch auf der Ebene der Auswertungsstrategien reicht das Spektrum vom biographieanalytischen Vorgehen, über das Paraphrasieren bis zur Quantifizierung. Auch existieren theoriegeleitete Auswertungsverfahren neben Projekten, die gegenstandsbezogene Theoriebildung anstreben. Die Ebene der Ergebnisse bleibt hier notwendig unterbelichtet, denn der Vielfalt der methodischen Studien entspricht auch eine Fülle von Ergebnissen, die mittels der Biographieforschung in der StudentInnenforschung zu Tage gefördert wurden.
4.
Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in der StudentInnenforschung
Im Kontext dieses Beitrages sind die biographieanalytischen Studien in der Erziehungswissenschaft von besonderem Interesse. Sie sollen etwas ausführlicher vorgestellt werden. Da die Studien im Rahmen dieses Beitrages nicht vollständig präsentiert werden können, konzentriert sich die Darstellung auf die jeweiligen Fragestellungen und Begründungen für den gewählten biographieanalytischen Zugang. Auf diese Weise wird das Spektrum der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung innerhalb der StudentInnenforschung sichtbar und dies kann vielleicht die Neugier wecken, sich die interessierenden Studien selbst genauer anzuschauen. Mit „Biographien in komplexen Institutionen“ setzt sich das Hamburger Projekt „Studentenbiographien“ auseinander. In der ersten Phase konzentrierte sich das Projekt auf geisteswissenschaftliche Studiengänge (Kokemohr/Marotzki 1989). In der zweiten Phase standen Studierende aus Studiengängen mit einem „harten Curriculum“ im Zentrum (Marotzki/ Kokemohr 1990). Dabei interessierten sich die Autoren für folgende Themen: Inwieweit liegen Studienschwierigkeiten (z.B. problematische Lernprozesse, die Verarbeitung krisenverursachender Erlebnisse) in biographischen Erfahrungen und Dispositionen begründet. Wie verhalten sich wissenschaftsbezogene Professionalisierungsprozesse und Prozesse individueller Identitätsbildung zueinander. Und wie werden die Statuspassage Studium und das damit verbundene Moratorium von den Individuen im Sinne eines Bildungsprozesses gestaltet, in denen sich Welt- und Selbstauslegungen wandeln. Weitere konkrete Fragerichtungen des Projektes seinen im Folgenden benannt. Koring (1990) interessiert sich in diesem Kontext für den ausgebildeten „professionellen Habitus und seine universitären Sozialisationsbedingungen“. Denn: „Der Kampf um die Aneignung des jeweiligen Faches bringt nicht nur abfragbares Wissen in die Köpfe, sondern prägt auch einen besonderen Habitus.“ (a.a.O. S. 7) Koring entwickelt den Begriff des „Lernhabitus“, um das latente Geschehen in universitären Bildungsprozessen damit zu fassen. „Man kann davon ausgehen, daß auch zur Partizipation an universitärer Bildung ein spezifischer Lernhabitus ausgeprägt werden muß. Dieser Lernhabitus hat – so meine These – die Funktion, Lern- und Prägungsprozesse auch dann möglich werden zu lassen, wenn sie momentan für die Studenten rational noch nicht vollständig einsehbar sind. (...) Universitäre Sozialisation produziert für die Studenten im-
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mer auch Latentes.“ (a.a.O., S. 12f.) Daraus leiten sich verschiedene Fragestellungen ab, die sich für die Bedingungen der Aneignung eines solchen Lernhabitus und die dabei bedeutsam werdenden Faktoren interessieren (vgl. Koring 1990, S. 15ff.). Wellner und Bauer (1990) interessieren sich für die „Verarbeitungsformen von Hochschulerfahrung und ihre Bedeutung für die Identitätsentwicklung“ (a.a.O., S. 45). Der biographische Zugang soll dabei helfen, „die Erlebnis- und Orientierungsrahmen, die für die Verarbeitung und Aneignung von Erfahrungen vor Studienbeginn bestimmend waren, so weit zu rekonstruieren, daß auch die bis dahin ausgebildeten Identitäts- und Persönlichkeitsstrukturen – zumindest in Umrissen – erkennbar werden.“ (a.a.O., S. 45) Auf diese Weise soll der sozialisatorische Effekt von Studiengängen und allgemeiner von Hochschulerfahrungen erfasst werden. Hildenbrand (1990) fragt nach „familiensozialisatorischen Voraussetzungen und Hindernissen“ für die Orientierungsleistungen von Studenten innerhalb der Universität (S. 110ff.). Kubli (1990) forscht danach, welchen Beitrag die Institution Universität zur Identitätsbildung der Studenten liefern kann. (a.a.O., S. 120ff.) Marotzki (1990b) fokussiert seine Analysen auf die durch das Studium angestoßenen Bildungsprozesse. Dabei interessieren ihn die dabei entstehenden „Reflexivitätsfiguren“, im Sinne von spezifischen „Selbst- und Weltreferenzen“. „Denn gerade in Biographisierungsprozessen besteht die Möglichkeit, sich in eine klärende Distanz zu der eigenen vergangenen, gegenwärtigen und der möglichen zukünftigen Entwicklung zu begeben. Der einzelne kann das zurückliegende Leben im Bewusstseinsstrom Revue passieren lassen und kann ihm sprachliche Gestalt geben. Dem erinnerten Leben eine Gestalt geben, heißt auch, es zum Zwecke der Selbstvergegenwärtigung zu strukturieren. (...) In sprachlichen Biographisierungsprozessen erzeugen wir unsere Selbst- und Weltorganisation. Daraus folgt dann auch, dass die hier interessierenden Reflexivitätsformen anhand dokumentierter sprachlicher Biographisierungsprozesse einer Analyse zugänglich gemacht werden können.“ (a.a.O., S. 136f.) Unter der Perspektive eher verschulter Studiengänge und den dort herrschenden spezifischen Formen von Lernprozessen fragt Marotzki danach, „wie sich innerhalb solcher Lernprozesse reflexive Figuren entfalten können. Anders gefragt: Welche Folgen haben universitäre Lernprozesse auf die Selbst- und Weltauslegung der Subjekte?“ (a.a.O., S. 137f.) Er nennt seine Studie „eine bildungstheoretische Mikrologie“ und analysiert so „die kleine Welt eines Falles, die vom Biographieträger von innen mit Sinn erfüllt wird.“ (a.a.O., S. 172) Kokemohr begründet in seinem Beitrag noch einmal den möglichen Erkenntnisgewinn eines biographischen Zugangs in der StudentInnenforschung: „Fallanalysen studentischer Biographien lassen erkennen, dass institutionell ähnliche Studienangebote von verschiedenen Studenten unterschiedlich verarbeitet werden. Was im einen Fall als undurchschaubares Dickicht oder als quälend auferlegtes Wissenssystem erfahren wird, kann in einem anderen Fall als befreiendes Angebot zur Teilnahme am Wissenschaftsprozess wahrgenommen werden. Der Sachverhalt ist trivial. (...) Trivial ist auch der Hinweis, dass Deutungsdispositionen mit Lebensgeschichten, mit sozialstrukturellen und mit institutionellen Bedingungen zusammenhängen, so dass nicht jeder jederzeit zu jedweder Deutung in der Lage ist. Aber nicht trivial ist die Frage, ob es typische Formen, Muster oder Schemata gibt, die zu verschiedenen Deutungen führen.“ (a.a.O., S. 197) Daraus ergibt sich für ihn die Frage: „Gibt es rekonstruierbar typische Verarbeitungsformen studienspezifischer Kommunikationserfahrungen? Universitäre Beratungspraxis zeigt, daß die Frage sinnvoll ist.“ (a.a.O., S. 197) Wer sich also für Studierende, ihre Studien- und Bewältigungsstrategien, Lernund Bildungsprozesse und ihre Identitätsentwicklung interessiert, findet in den oben genannten Studien eine Fülle von aufbereitetem Datenmaterial und Erkenntnissen. Bedingt durch den gemeinsamen Projektkontext begegnet man in den genannten Studien den Interviews mit Willi und Albert mehrfach. Das eröffnet die Chance, verschiedene theoretische Perspektiven auf
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identisches Datenmaterial kennenzulernen und dort wo die Betroffenen selbst zitiert sind, sich selbst als Interpret zu betätigen oder die Interpretationen nachzuvollziehen. Die Koppelung von individuellen Problemlagen mit institutionellen Studienbedingungen wird auch in der Studie von Sturzenhecker (1993) anschaulich. Er analysiert anhand von Fallbeispielen aus einer studienbiographischen Längsschnittstudie den Hochschulsozialisationsprozess von Studierenden im Diplom-Pädagogik Studiengang. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Erfahrungen mit Wissenschaft und Theorie im Verlauf des Studiums und nach dem Prozess der Wissensaneignung. Die Interviews wurden mittels eines Leitfadens erhoben, so dass der Rahmen der Erzählung bereits stark durch das Forschungsinteresse eingeschränkt wurde. Spannend ist allerdings die Anlage als studienbegleitende Längsschnittstudie, bei der die Studierenden in jedem Semester erneut befragt wurden. Zentrale Fragen, die den Studierenden in jedem Semester neu gestellt wurden, bezogen sich auf ihre Gründe für die Wahl des Studienschwerpunktes, ihre Erfahrungen mit dem Besuch von Lehrveranstaltungen, ihre Auseinandersetzung mit Theorie, ihre Erfahrungen mit der Praxis in pädagogischen Handlungsfeldern und auf ihre private Lebenssituation (vgl. a.a.O., S. 38ff.). Sturzenhecker analysiert den Studienverlauf eines Studenten und einer Studentin und benutzt das institutionelle Selbstverständnis des Diplom-Studiengangs als Folie, um Probleme der Studierenden aus diesem Kontext heraus verständlich zu machen. Die Theorie-Praxis-Vermittlung wird dabei zum zentralen Problem. „Es bleibt unklar, wie aus den Inhalten der Wissenschaft im Sozialisationsprozess an der Hochschule bei den Studenten das Wissen und Handeln von erziehungswissenschaftlichen Praktikern entstehen soll.“ (a.a.O., S. 256) Friebertshäuser (1992) analysiert die Gründe für den Studienabbruch einer Studentin vor dem Hintergrund der studentischen Fachkultur des Diplom-Studiengangs in der Erziehungswissenschaft. Ausgehend von den in der Fachkultur-Forschung (Liebau/Huber 1985; Portele 1985) entwickelten theoretischen Instrumenten und auf der Basis eigener Feldforschungen wird der fachspezifische Habitus des Studiengangs Erziehungswissenschaft in Form einer Fallstudie ergründet. Dabei spielen auch die biographischen Vorerfahrungen der Studierenden dieses Studiengangs eine zentrale Rolle, die eine standardisierte Fragebogenerhebung zu erfassen sucht, dazu gehören u.a. die Bereiche: familiäre Situation, Schulerfahrungen, pädagogische Vorerfahrungen und Vorbilder. Die Studie interessiert sich für die Bedeutung biographischer Vorerfahrungen bei der Gestaltung der Statuspassage Studienbeginn und fragt nach den fachspezifischen Besonderheiten des Diplom-Studiengangs Erziehungswissenschaft. Die Gestaltung von Statuspassagen ist in modernen Gesellschaften mit der Anforderung zur Selbstinitiation verbunden. Damit rücken die einzelnen mit ihren Strategien ins Zentrum des Interesses. Bei der Bewältigung der mit dem Studienbeginn verbundenen Anforderungen wird auf biographisch erworbene Muster zurückgegriffen, das belegen die biographischen Interviews, die dazu erhoben wurden. Mittels des von Bourdieu (1983) entwickelten Habitus-Konzeptes wird die soziale Logik der individuellen Strategien im Kontext der bisherigen Lebenslage und der biographischen Vorerfahrungen zu entschlüsseln gesucht. Der Bedeutung der Schicht- und Geschlechtszugehörigkeit wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Mit dem Konzept der „fachkulturellen Passung“ wird die vorhandene Übereinstimmung zwischen individueller Disposition und der jeweiligen Fachkultur begrifflich gefasst. „Die fachkulturelle Passung beschreibt den Grad der Übereinstimmung zwischen den biographisch erworbenen Dispositionen, Bewältigungsstrategien und Haltungen einer Studentin oder eines Studenten und dem fachspezifischen Habitus der studentischen Fachkultur.“ (Friebertshäuser 1992, S. 77) Dieses Konzept hilft die Probleme einer Studentin zu verstehen, die nicht ins Schema bisheriger Erklärungsmo-
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delle passt, weil sie trotz akademischem Herkunftsmilieu und guten Studienvoraussetzungen ihr Studium der Erziehungswissenschaft abbricht. Die biographische Fallstudie sucht dieses Phänomen zu entschlüsseln. Welche Ergebnisse die genannten Interpretationen biographischer Zeugnisse zu Tage gefördert haben, bleibt an dieser Stelle nun ausgeklammert, hier sei auf die genannten Publikationen verwiesen. Ausgespart geblieben sind an dieser Stelle jene biographieanalytischen Studien, in denen die Befragten das Studium bereits abgeschlossen haben, jedoch in den Retrospektiven ihrer biographischen Erzählungen darauf Bezug nehmen. Exemplarisch für diesen Typus biographieanalytischer Studien seien hier nur einige interessante Studien kurz benannt. Winkler (1987) beschäftigt sich mit den biographischen Folgen eines Auslandsstudiums für Studenten aus Entwicklungsländern auf der Basis von Briefen, Dokumenten und Selbstzeugnissen. Eine Fallstudie über Pädagogen in der Privatwirtschaft präsentieren Nittel und Marotzki (1997). Verschiedene Interpretationsansätze entschlüsseln auf der Basis eines biographischen Interviews die Bedingungen, Schwierigkeiten, Problemlagen einer Pädagogenkarriere in verschiedenen betrieblichen Umfeldern und rekonstruieren die biographischen Voraussetzungen, die in Familie, Schule und dem Pädagogikstudium zu deren Bewältigung geschaffen wurden.
5.
Biographieforschung als Frauenforschung in der Hochschule
Ein großer Bereich der biographisch orientierten StudentInnenforschung entstand im Kontext der Frauenforschung. Die neue Frauenbewegung erforscht seit den siebziger Jahren die Situation von Frauen in den Hochschulen (vgl. Mohr 1987; den Überblick bei Ecarius 1988). Auch hier spielten quantitative Zugänge jeweils eine bedeutsame Rolle, denn es galt die zahlenmäßige Unterrepräsentanz von Frauen auf allen Hierarchieebenen nachzuweisen16 (vgl. Schumacher 1986). Mittels biographieanalytischer Zugänge gingen die Forscherinnen auch der Geschichte des Frauenstudiums und dem Leben von Frauen in der Wissenschaft nach. Einige wenige Beispiele von studierenden Frauen in früheren Jahrhunderten (vgl. Feyl 1983) und Institutionen, an denen Frauen bereits im 19. Jahrhundert studieren konnten (vgl. Kleinau 1996) wurden durch die Frauenforschung wiederentdeckt, beispielsweise die ersten Studentinnen in der Schweiz (vgl. Schmidt-Harzbach 1977; 1981; Schlüter 1986) oder in Tübingen (Glaser 1992). Denn erst 1908 genehmigte man in Preußen die Zulassung von Frauen zum normalen Studium, allerdings noch immer mit Einschränkungen (vgl. Ellwein 1997, S. 179), erst 1918 erhielten sie das Habilitationsrecht (vgl. Schlüter 1986, S. 22). Aber auch die Biographien von Frauen in der Pädagogik (vgl. Brehmer 1990), von Pionierinnen der Sozialarbeit (Hering/Kramer 1984) und der ersten Professorinnen, beispielsweise in der Pädagogik (vgl. Kraul 1990) wurden nun erforscht. Neben historischen Studien finden sich zum Thema „Wissenschaftlerinnen“ auch zahlreiche Arbeiten, die mittels biographischer Verfahren der Situation von Professorinnen und Dozentinnen in der Gegenwart nachgehen (vgl. Wetterer 1985; Schuchardt 1986; Hagemann-White/Schultz 1986; Schultz 1990). Die historische Entwicklung des Frauenstudiums und die steigenden Anteile von Studentinnen in den Hochschulen seit den siebziger Jahren ließ vermuten, dass biographische Veränderungen in der Lebensgestaltung von jungen Frauen stattgefunden haben, aber auch wiederum durch das Studium angestoßen werden, die sich lohnen, biographieanalytisch zu erschließen. In der biographisch orientierten Studentinnenforschung konzentrierte sich die
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Frauenforschung darauf, diesen Wandlungen nachzugehen, fragte danach, wie das Studium erlebt und verarbeitet wird. Zu Beginn wurde auch nach geschlechtsspezifischen Diskriminierungen von Studentinnen gefragt, eine Reduzierung, die später methodisch kritisiert wurde. Erforscht wurden: Aspekte der bisherigen Biographie (insbesondere fokussiert auf die weibliche Sozialisation) und ihre Auswirkungen auf das Studium, Differenzen zwischen Studentinnen und Studenten innerhalb einer Fachrichtung und deren biographische Wurzeln bis hin zu psychischen Problemen und Bewältigungsstrategien bei Studentinnen (vgl. dazu die Beiträge in: Bock/Braszeit/Schmerl 1983, sowie in Clemens u.a. 1986). Im Laufe der Zeit entstanden viele Untersuchungen, die sich auch mit den fachspezifischen Besonderheiten auseinandersetzten und vor diesem Hintergrund die Biographien der Studentinnen analysierten, es wurde nun auch begonnen, mit Vergleichsgruppen zu arbeiten. Die soziologische Frauenforschung untersuchte im Rahmen von Biographieforschung die Situation von Frauen in verschiedenen Studiengängen, insbesondere konzentrierten sich die Forscherinnen auf die wenigen Studentinnen und Absolventinnen in den Natur- und Technikwissenschaften (vgl. Berghahn u.a. 1984; Janshen/Mandelartz 1986; Janshen/Rudolph 1987). Mit den Mitteln der Biographieforschung wurde auch die Situation von Arbeitertöchtern an der Hochschule untersucht (Bublitz 1980). Auch biographisch angelegte vergleichende Untersuchungen entstanden, beispielsweise von Arbeitertöchtern und Akademikertöchtern (Rauch 1993). In der psychologischen Forschung wurden auf der Basis von narrativen Interviews mit Studentinnen Aspekte der Stressbewältigung im Studium herausgearbeitet (vgl. Vollrath 1988). Da sich dieser Beitrag auf die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung innerhalb der Studentinnenforschung konzentriert, rücken Studien, die hier angesiedelt sind, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das Kritierium „erziehungswissenschaftliche“ Biographieforschung lässt sich in diesem Bereich nur schwer ermitteln, weil die Frauenforschung sich interdisziplinär versteht und dadurch auch in den Publikationen disziplinäre Grenzen weitgehend aufgelöst sind. Exemplarisch sollen deshalb zwei in der Erziehungswissenschaft angesiedelte biographieanalytische Studien kurz vorgestellt werden, die zudem auch Studentinnen der Erziehungswissenschaft erforschten. Theling (1986) untersuchte mit Hilfe von „Intensivinterviews“ Arbeitertöchter, die an der Universität Münster im Hauptstudium mehrheitlich in einem pädagogischen oder sozialpädagogischen Bereich studierten. Theling geht davon aus, dass sich Arbeitertöchter in der Hochschule in einem von bürgerlichen Standards geprägten Umfeld bewegen, das ihrem milieubedingten und geschlechtsspezifischen Erfahrungszusammenhang nicht entspricht und deshalb Probleme produzieren wird. Sie fragt vor diesem Hintergrund nach der Lebenswelt und den biographischen Erfahrungen in Familie, Schule und Hochschule, sowie nach den Zukunftsvorstellungen. Dabei interessiert sie sich besonders für die Identitätskonzepte von Arbeitertöchtern. Schlüter (1993) geht den Mobilitätserfahrungen bei Aufstiegsprozessen von Arbeitertöchtern über ein Studium nach. Auf der Folie der Individualisierungsthese von Beck (1986) fragt sie nach der Widerspiegelung dieses theoretischen Konzeptes in den Biographien der von ihr befragten Studentinnen unter der Fragestellung „Studium als Freiheit von der sozialen Herkunft?“ Ihre Forschungsfrage formuliert sie so: „Anhand der Beschreibung und Analyse der Bildungsbiographien studierender Arbeitertöchter möchte ich fragen, ob das Studium die Befreiung von der sozialen Herkunftskultur bringen kann, und welche mobilisierenden Faktoren und Mechanismen vorhanden sind oder waren oder auch: Über welche Ressourcen und Strategien muß eine Arbeitertochter für das biographische Management im Mobilitätsprozeß verfügen?“ (Schlüter 1993, S. 128) Mittels Biographieforschung untersucht sie die Konstruktionen des gelebten Lebens. „Dabei gehe ich
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von folgendem Verständnis von Biographieforschung aus: Ziel der Biographieforschung kann es nicht sein, individuelle Lebensläufe in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit aufzuzeigen, sondern vor einem sozioökonomischen Hintergrund die Genese subjektiven Handlungspotentials zu rekonstruieren ...“ (a.a.O., S. 128) „Frauen stehen im Allgemeinen zwei Mobilitätsmuster zur Verfügung. Aufstieg über Heirat ist das traditionelle Muster für Frauen gewesen. Das Modell, das sich für Frauen heute abzeichnet, ist der Weg über die eigenen Bildungs- und Berufskarrieren.“ (a.a.O., S. 130) Die jeweiligen Mobilitätsprozesse zeichnet sie anhand von verschiedenen Biographien von Arbeitertöchtern nach und kommt zu der Schlussfolgerung: „Soziale Ungleichheiten in den Startbedingungen werden durch Individualisierungsbedingungen nicht zum Verschwinden gebracht, sondern lassen sie sogar besonders deutlich hervortreten.“ (a.a.O., S. 145) Damit muss der kleine Einblick in die biographisch orientierte Frauenforschung innerhalb der Studentinnenforschung an dieser Stelle enden.
6.
Probleme und Kritik der Biographieforschung
Ein Grundproblem der Biographieforschung sei hier exemplarisch aus der Sicht einer Frauenforscherin benannt: Wie soll damit umgegangen werden, dass der von der Sozialforscherin in einem Interview entschlüsselte Sinn nicht mit dem subjektiv intendierten identisch sein muss, sondern dadurch entsteht, dass das Gesagte gerade „gegen den Strich gelesen“ wird, so dass die Befragten mit dem von ihr rekonstruierten Sinn nicht unbedingt einverstanden wären (vgl. Wetterer 1984, S. 124f.). So bewegt sich die Forscherin zwischen zwei Klippen: „Der nicht nur in der Frauenforschung inzwischen weit verbreitete Grundsatz, von der Sicht der Betroffenen auszugehen und ihnen nicht Erklärungsmuster überzustülpen, die nicht ihre eigenen sind. (...) Gleichzeitig zu wissen, dass Wissenschaft sich nicht beschränken kann auf die Verdoppelung des Alltagsbewusstseins. Mein Versuch, zwischen beiden Klippen durchzusegeln war: Die Aussagen der Betroffenen ebenso ernst zu nehmen wie die Analyse der objektiven Situation, mit der sie sich herumzuschlagen haben; das eine nicht gegen das andere auszuspielen, sondern aufeinander zu beziehen.“ (a.a.O., S. 125) Die Bedeutung der Gegenüberstellung von subjektivem Sinn und objektiven Strukturen formuliert Bourdieu (1990) in noch radikalerer Weise. Er stellt die Frage, ob es sich bei einer Biographie nicht um eine „biographische Illusion“ handelt, in die Erzähler wie Forscher sich verfangen. „Man kann also eine Laufbahn (...) nur verstehen, wenn man vorher die aufeinander folgenden Zustände des Feldes, in dem sie sich abgespielt hat, konstruiert hat, also das Ensemble der objektiven Beziehungen, die den betreffenden Akteur – mindestens in einer gewissen Zahl anhaltender Zustände – vereinigt haben mit der Gesamtheit der anderen Akteure, die im selben Feld engagiert sind und die demselben Möglichkeitsraum gegenüberstehen.“ (Bourdieu 1990, S. 80f.) Dieser Umweg der Konstruktion des Raumes, in dem sich die Lebensgeschichte ereignet, erscheint ihm evident, denn „wer würde davon träumen, sich eine Reise vorzustellen, ohne eine Idee von dem Land zu haben, in dem sie sich ereignet?“ (a.a.O., S. 81)17 Diese Thematik gewinnt gerade im Bereich der StudentInnenforschung besondere Bedeutung durch die spezifische Lebenssituation, in der sich Studierende befinden. Verglichen mit anderen Gleichaltrigen, die beispielsweise bereits über ein eigenständiges Einkommen verfügen, zeigt sich bei Studierenden eine relative Homogenität ihres gesellschaftlichen
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Status, der von dem gemeinsamen Bestreben der Aneignung von kulturellem Kapital in Form von Bildungstiteln geprägt ist. Lebensgeschichtlich befinden sie sich in einer transitorischen Phase, die durch relative Kapitalschwäche einerseits und hohen Freiheitsgraden andererseits gekennzeichnet werden kann. Verkleinert man jedoch den Betrachtungswinkel, dann zeigen sich innerhalb der Gruppe aller Studierenden große fachspezifische Besonderheiten, zwischen geisteswissenschaftlichen und natur- oder technikwissenschaftlichen Studiengängen, aber auch zwischen den verschiedenen Studiengängen finden sich zahlreiche Spezifika, so dass man von verschiedenen Fachkulturen (Liebau/Huber 1985; Huber 1991) sprechen kann, in denen die Studierenden sozialisiert werden. Auch eine biographisch orientierte StudentInnenforschung kann von diesen Differenzen nicht absehen. Das zeigt sich in der Forschung daran, dass die verschiedenen Studien zunehmend fachspezifisch ausdifferenziert sind. Das wirft allerdings die Frage auf, wie die Biographieforscher eine Vorstellung von dem jeweiligen „Land“ erhalten, das die Befragten gerade durchwandern. In der StudentInnenforschung zeigt sich, dass die ForscherInnen meist mit dem jeweiligen Studiengang vertraut sind, von dem die Erzählenden berichten (oder sie machen sich im Laufe der Analyse damit vertraut). Auf diese Weise können die biographischen Daten auf der Folie einer gewissen Feldkenntnis eingeordnet und interpretiert werden. Die Biographieforschung benötigt immer auch Kontextwissen, um Allgemeines und Spezielles überhaupt entdecken und interpretieren zu können. Die biographische Analyse bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen Individualgestalt und allgemeinem Begriff (vgl. Allert 1993, S. 329). Bei der Familienanalyse wird die Biographie im Zusammenspiel von „Milieukontext und Familienkontext“ (a.a.O., S. 330) betrachtet. In jedem Fall werden die biographischen Entscheidungen, wird ein Lebenslauf, erst vor dem Rahmen der gesellschaftlichen Kontextbedingungen und des Möglichkeitsrahmens einer Person – die immer auch Teil einer spezifischen, historisch geprägten Studentengeneration in einer studentischen Fachkultur ist – plausibel und interpretierbar. Vor diesem Hintergrund können erweiterte methodische Zugänge insofern interessant werden, als hier der Versuch unternommen wird, das Kontextwissen systematisch zu erheben. Neben biographischen Interviews wird dabei auch nach geeigneten methodischen Instrumenten gesucht, um das jeweilige historische, soziale und kulturelle Feld, in dem die Biographie sich ereignet hat, mit zu erforschen.
7.
Perspektiven der qualitativen StudentInnenforschung
Als methodischen Zugang zu Biographien setzen die ForscherInnen gegenwärtig – auch in der StudentInnenforschung – vorwiegend das (narrative) Interview ein. Die Einengung ausschließlich auf diese Datenbasis wird allerdings von einigen Forschenden und Projekten ergänzt und erweitert. Bereits die klassische Studie von Thomas/Znanieki (zuerst 1918-1922 erschienen), die mit den Mitteln der Biographieforschung nach Amerika ausgewanderte polnische Bauern untersucht, nutzt viele Materialien: Sammlungen von Briefen, Leserbriefe, Presseartikel und den Lebensbericht von Wladek W., seine Autobiographie, die er im Auftrag der Autoren zum Zweck der Veröffentlichung geschrieben hat (vgl. Fuchs 1984, S. 98ff.). Auch Fuchs empfiehlt der biographischen Forschung, sich auf eine breite Datenbasis zu stellen und weitere Materialien hinzuzuziehen: Tagebücher, Erinnerungsberichte, Reisebeschreibungen, Briefe, Zeugnisse, Fotoalben der Familie, Sammlungen, Zeitungsausschnit-
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te, Leserbriefe bis hin zu amtlichen Unterlagen, wie dies bsw. in der Shell-Jugendstudie 1981 bereits verwirklicht wurde.18 Diese Form der Methodenkombination, die in der Literatur unter dem Stichwort „Triangulation“19 diskutiert wird, dient einerseits dazu, die Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität gesellschaftlicher und personaler Realität einzufangen und andererseits erhöhen sich damit die Möglichkeiten, methodische Artefakte zu erkennen, da die verschiedenen Methoden geeignet sind, sie zur wechselseitigen Kontrolle bei der Auswertung zu nutzen. Methodenkombination erscheint als Lösung vieler Probleme qualitativer Forschung und wird in vielen Projekten bereits praktiziert. Welche Probleme – beispielsweise auf der Ebene der Auswertungen – dabei erneut produziert werden, bleibt an dieser Stelle ausgeklammert. Am Beispiel unseres eigenen Projektes „Studium und Biographie“ (vgl. Apel u.a. 1995) möchte ich am Ende dieses Beitrages noch eine neu entwickelte und bisher noch wenig genutzte Methode vorstellen und damit für eine Erweiterung der methodischen Zugänge – auch in der StudentInnenforschung – plädieren, weil damit zusätzlich Dimensionen des studentischen Lebens erfasst werden können. Im Kontext biographischer (narrativer) Interviews mit Studierenden entwickelte sich als eigenständiges Erhebungsinstrument das Fotointerview, das wir genutzt haben, um studentische Wohnräume als biographisch relevante Lebenswelten visuell und verbal einzufangen. Nach dem biographischen Interview haben wir in einem zweiten Termin die Zimmer und Räume der Studentinnen und Studenten und die darin vorfindlichen Gegenstände fotografiert, parallel dazu erzählen die Studierenden Hintergründe und kommentieren so ihre Wohnumwelt. Das Fotointerview besteht somit aus zwei Teilen, die gleichzeitig erhoben werden: die Fotodokumentation (ein Fotograph/eine Fotographin dokumentiert die Wohnung und darin befindlichen Objekte) und das Wohninterview (ein Interviewer/eine Interviewerin) befragt die Studentin oder den Studenten zur Wohnsituation, zur Wohngeschichte und (biographischen) Bedeutung der Wohnungsobjekte.20 Das Interview wird auf Tonkassette aufgezeichnet.21 Die Einbeziehung und Untersuchung solcher Vergegenständlichungen des Lebenslaufes, in Form von biographischen Ablagerungen in Räumen, könnte der Biographieforschung neue Perspektiven eröffnen. Elemente der lebensgeschichtlichen Bedeutung des Wohnens vermag dieses methodische Instrumentarium zu Tage zu fördern. In unseren biographischen Interviews wurde diese Dimension von den Befragten selbst relativ wenig beleuchtet. Zudem gehört das Wohnen zu jenem habitualisierten Lebensstil, der sich generell nur schwer verbalisieren lässt. Dies leitet über zu dem grundsätzlichen Problem von mündlichen Befragungen. Erhoben werden auch in Interviews die verbalen Selbsteinschätzungen und Einstellungen der Befragten, welche tatsächliche Handlungsrelevanz diese besitzen bleibt offen. Verbalisierung setzt Reflexivität voraus, die angesichts habitualisierter Handlungsmuster nicht unbedingt gegeben sein muss. An dieser Stelle erschien uns oftmals die stumme Botschaft von Räumen und die teilnehmende Beobachtung des Handelns der Studierenden wesentlich aussagekräftiger als verbale Äußerungen. In jedem Fall eröffnet ein anderer Forschungszugang wiederum neue Perspektiven. Auch inhaltlich stellen sich für die Biographieforschung in der StudentInnenforschung eine Fülle von Fragen. Gegenwärtige gesellschaftliche Modernisierungsprozesse mit ihren Konsequenzen, wie Abwertung akademischer Qualifikationen, Akademikerarbeitslosigkeit, Anforderungen zu lebenslangem Lernen, Wandel der Geschlechtsrollen und veränderte Familienverhältnisse, werfen Fragen danach auf, wie diese Entwicklungen sich auf den biographischen Stellenwert des Studiums und die Studiengestaltung auswirken und wie sie individuell erlebt und verarbeitet werden. Die Möglichkeiten einer eigenständigen Lebensge-
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staltung sind vielfältiger geworden. Das stellt die Empiriker vor Probleme, denn die Prognostizierbarkeit von Ereignissen auf der Basis statistischer Daten sinkt dadurch. Viele Phänomene bedürfen einer tiefgreifenden Analyse der historischen, gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhänge und ihrer individuellen Verarbeitung, um erfassbar zu werden. Die Entscheidungen für ein Studium, ein spezifisches Studienfach, einen Hochschulort und die daraus folgenden Studienstrategien und Zukunftsvorstellungen basieren auf einem höchst komplexen Bündel von individuell verarbeiteten gesellschaftlichen Gegebenheiten, persönlichen Ressourcen, Dispositionen, Selbstkonzepten und Vorstellungen, die mit der jeweiligen Biographie verbunden sind. Um vor diesem Hintergrund Entscheidungen in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen, benötigt die StudentInnenforschung biographieanalytische Zugänge. Erst durch ein offenes, exploratives Vorgehen wird es möglich, neue Faktoren zu entdecken, die über die bisherigen Annahmen hinausgehen. Biographieforschung und qualitative Forschung insgesamt zielen auf die Entdeckung von Neuem. Oft ist es der konkrete Fall, die lebendige Empirie, die uns zu einem tieferen Verständnis führt, aber auch Dinge in neuem Licht zeigt. Vermutlich lebt Forschung immer von Überraschungen und neuen Herausforderungen. In der qualitativen Forschung, so schreiben Nittel/Marotzki (1997, S. 6) ist das „Christoph-Kolumbus-Syndrom“ weit verbreitet: „Der Forscher bewegt sich in eine ganz bestimmte Richtung; er ist darauf fixiert, ein nur unvollkommen oder gar nicht ergründetes (Wissens-)Gebiet zu erschließen und stößt auf ein ganz anderes, ebenfalls faszinierendes Territorium.“
Anmerkungen 1
Die Studien werden publiziert unter dem Titel: „Das soziale Bild der Studentenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks“. Seit der 10. Sozialerhebung liegt die Durchführung bei der HIS-GmbH. 2 HIS-Publikationen und Kurzinformationen können unter folgender Adresse bestellt werden: HIS Hochschul-Informations-System GmbH, Goseriede 9, 30159 Hannover, Tel.: 0511/1220-0. 3 Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Universität Gesamthochschule Kassel, Henschelstraße 4; 34109 Kassel, Tel.: 0561/804-2415. 4 Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt arbeitete mit einem methodenkombinierten Feldforschungsansatz (vgl. Apel u.a 1995). 5 Vgl. zu dieser Kritik auch Friebertshäuser 1988, S. 23f. 6 Jedenfalls sind mir keine früheren Studien bekannt geworden. Autobiographische Zeugnisse über das Studium sind allerdings älter und weiter verbreitet. So findet man beispielsweise bei Wilhelm von Humboldt in seinen Tagebüchern auch Zeugnisse über seine Studienzeit in Frankfurt/Oder und Göttingen und über seinen Besuch an der Marburger Philipps-Universität (vgl. Wilhelm von Humboldts Tagebücher, hrsg. von Albert Leitzmann. Gesammelte Schriften 1918, Band XIV, S. 17ff.). 7 Eine Bilanz der Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft ist nachzulesen in dem von Hoffmann (1991) herausgegebenen Sammelband. 8 Vgl. als exemplarisches Beispiel einer frühen – auch biographieanalytischen – Annäherung an die „Hochschulrevolte“ Werner Fuchs (1977). 9 „Lebenslauf“ bezeichnet hier die objektiven, sozial-strukturellen validen Fakten und „Biographie“ die subjektiv hergestellten Bedeutungs- und Sinngehalte eines lebensgeschichtlichen Ablaufs (vgl. Marotzki 1991, S. 81). 10 Vgl. dazu auch die Darstellung bei Jakob 1997. 11 vgl. zu dieser Unterscheidung Friebertshäuser 1997. 12 Vgl. dazu auch Marotzki 1990a.
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13 Allerdings arbeitete man dort mit großen Längsschnitt-Untersuchungen, die auch biographische Studienverläufe von einzelnen anonym nachzuzeichnen erlaubten, auch wenn sie nicht mit den Mitteln der Biographieforschung erhoben und auch nicht biographieanalytisch ausgewertet wurden (vgl. Schauer 1991). 14 Die Studien aus dem Kontext der Frauenforschung stellt ein gesondertes Kapitel später vor. 15 Vgl. zum Stichprobenproblem in der qualitativen Forschung auch Merkens (1997). 16 Zur Begründung für eine quantitative oder qualitative Forschung in der Frauenforschung siehe die Argumente im Beitrag von Becker-Schmidt/Bilden (1991). 17 Vgl. dazu auch Liebau (1990); sowie die Kommentare von Niethammer (1990) und Koller (1993). 18 vgl. auch Zinnecker (1983, S. 15-291). 19 vgl. dazu die Darstellung von Flick (1992). 20 Während die biographischen Interviews jeweils in gleichgeschlechtlichen Arrangements stattfanden, wurde das Wohninterview nun von einem gegengeschlechtlichen Interviewenden geführt. Ausgehend von der Annahmen, dass das Geschlecht des Interviewenden das Interview in Stil und Inhalt beeinflusst, stellt dieses Design den Versuch dar, „blinde Flecken“ in den lebensgeschichtlichen Erzählungen besser auszuleuchten. 21 Vgl. zum methodischen Vorgehen Apel u.a. (1995, S. 359ff.) und zur Fotografie in der qualitativen Sozialforschung Fuhs (1997).
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Das Erwachsenenleben aus der Sicht der Biographieforschung Dieter Nittel
Inhalt 1. Das Erwachsenenleben als Altersstufe 2. Die Entdeckung der Altersstufe des Erwachsenen durch die Pädagogik 3. Von der Sozialisations- zur Biographieforschung 4. Überblick über Befunde in ausgewählten Forschungsfeldern 5. Das Signum des Erwachsenen-Daseins in der Moderne: Die Gleichzeitigkeit von gesteigerter Individualisierung unter den Bedingungen eines neuen Modus der Vergesellschaftung Literatur
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1.
Dieter Nittel
Das Erwachsenenleben als Altersstufe
Gleichgültig, aus welchem Sinnuniversum heraus der Versuch unternommen wird, die Kategorie des „Erwachsenen“ zu definieren, konnotative Unschärferelationen aufgrund der gleichzeitigen Geltung lebensweltlicher Normalitäts- und wissenschaftlicher Reflexionsansprüche sind dabei unvermeidbar. Gilt „der Erwachsene“ vom Standpunkt des common sense aus als die Inkarnation des normalen Gesellschaftsmitgliedes und das Erwachsenenalter als Prototyp von Stabilität und Festigkeit, so versucht die moderne Wissenschaft gerade den Schleier solcher Normalitätsunterstellungen zu lüften und die Landkarte der Lebensphasen als soziale Konstruktion per excellence zu entschlüsseln. Vor gar nicht so langer Zeit war eine Einigung auf eine hypothetische Definition der folgenden Art leicht zu erzielen: „Das soziale Etikett des ,Erwachsenen‘ wird Gesellschaftsmitgliedern zugeschrieben, die als fertige Menschen nach einer gewissen Vorbereitungszeit (Kindheit, Jugend) voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und den Normalformerwartungen (vgl. Cicourel 1976) des jeweiligen sozio-kulturellen Milieus entsprechen“. Doch selbst eine solch unverfänglich klingende Arbeitsdefinition kann heute kaum noch überzeugen. Statt dessen provoziert sie kritische Nachfragen: Welche normativen Setzungen verbergen sich hinter dem Etikett „fertiger Mensch“? Grenzt die Definition aufgrund der Einschränkung „volle Teilnahme“ nicht bestimmte Personengruppen aus dem Gefüge des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionszusammenhangs aus? Kann mit Blick auf die Zerfaserung sozialer Milieus heute noch von tragfähigen Normalformerwartungen gesprochen werden? Im Gegensatz zum Rechtssystem – dieses ist im besonderen Maße auf kalendarisch fixierte Altersgrenzen angewiesen – liefern die Sozial- und Erziehungswissenschaften der Öffentlichkeit kaum verlässliche Anhaltspunkte, um die Rolle, den Status und andere wichtige Merkmale des Erwachsenen im Zeitalter einer „reflexiven Modernisierung“ (Giddens 1995, S. 52) einigermaßen präzise zu bestimmen. Statt verlorengegangene, auf das Erwachsenenleben bezogene Orientierungsmuster und Erwartungserwartungen (Luhmann) zu substituieren, stellt die moderne Sozial- und Erziehungswissenschaft viel eher einen Reflexionsraum zur Verfügung, der die Ursachen des Problematisch-Werdens des Erwachsenenalters als längste Phase in der Normalbiographie in immer neuen Analyseanläufen zu ergründen versucht. In der Vergangenheit haben in erster Linie Soziologie, Kulturanthropologie, Ethnologie und Sozialgeschichte die unterschiedlichsten Gesellschaftsformationen und deren Mitglieder in diversen historischen Epochen dabei beobachtet, wie sie die Zeit zwischen Geburt und Tod sequentiell aufgliedern, Lebensstufen konstituieren und diese in eine sinnhafte Ordnung integrieren. Linton hat in seiner klassischen Studie „Age and Sex Categories“ 1942 nachzuweisen versucht, dass die sozio-kulturelle Überformung von biologischen Prozessen des Alterns bzw. die „Naturalisierung“ des Lebens eine gleichsam universelle Erscheinung und der Altersstatus des Erwachsenen in Kombination mit geschlechtsspezifischen Kategorien in den menschlichen Gesellschaften allgegenwärtig ist. Sieben soziale Kategorien hat Linton als durchgängig präsent identifizieren können: Kleinkind, Junge, Mädchen, erwachsener Mann und erwachsene Frau, alter Mann und alte Frau. Andere Untersuchen jüngeren Datums belegen (vgl. die Übersicht bei Rosenmayr 1978), dass quer durch alle Epochen in allen uns bekannten lebenslaufbezogenen Ordnungsmustern – angefangen vom Phasenmodell der griechischen Antike, den Dokumenten der römischen Dichtkunst und Philosophie, den Altersstufenmodellen des Mittelalters bis hin zu neuzeitlichen Lebenslaufeinteilungen – der Erwachsene als Sinnbild des reifen Vollmitgliedes gegenwärtig ist.
Das Erwachsenenleben aus der Sicht der Biographieforschung
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Theoriestrategisch und methodologisch hat die Entscheidung, den Erwachsenen im begrifflichen Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Altersdifferenzierung unter den Leitkategorien „Altersklasse“, „Altersschicht“ oder „Altersstufe“ zu subsumieren, sehr weitreichende Folgen. Unter dem Blickwinkel der „Altersklasse“ wurde das Erwachsenenalter zum ersten Mal von dem Ethnologen Heinrich Schurtz 1902 einer dezidiert sozialwissenschaftlichen Analyse unterzogen. In der Studie „Altersklassen und Männerbünde“ wurden Altersklassen als eine der frühesten Gesellungsformen überhaupt bezeichnet, die nicht mehr der bloßen Geschlechtsgenossenschaft oder Blutsverwandtschaft als konstituierenden Faktoren, sondern auch anderen Dimensionen, wie z.B. wechselseitige Sympathie oder bestimmte Interessenlagen, zur Entfaltung verhalfen. „Altersklasse“ setzt kalendarische Altershomogenität und einen recht hohen Organisationsgrad mit großer Rigidität voraus. Doch weder dieser Terminus noch der Begriff „Altersschichtung“, der eine eindeutige statistische Klassifikationsmöglichkeit und ein einheitliches sozio-demographisches Profil präjudiziert, haben sich als Referenzkategorien zur sozialwissenschaftlichen Erschließung des Erwachsenenalters durchsetzen können. Als bewährt und sachlogisch adäquat hat sich vielmehr der auf Radcliff-Brown zurückgehende Grundbegriff der „Altersstufe“ erwiesen (vgl. Radcliffe-Brown 1929). Die Zugehörigkeit zu einer Altersstufe hat per se einen transitorischen Charakter, so dass automatisch Fragen nach einem „Nicht-Mehr“ und nach einem „Noch-Nicht“ aufgeworfen werden. Der temporär altersspezifische Status schließt zwar ein Set an klar definierten Verhaltensanforderungen ein, ohne dass damit jedoch rigide Handlungsverpflichtungen verbunden wären. Mit dem Begriff „Altersstufe“ wird ausgedrückt, dass das biologisch bedingte Möglichkeitsspektrum eines Menschen in einer bestimmten Lebensphase seine Identitätsdispositionen keineswegs determiniert, sondern dem Entfaltungsspielraum und der Persönlichkeitsvariation gewisse Grenzen setzt, so dass Natur und Kultur gleichsam beide zu ihrem Recht kommen. Kein altersstufenspezifischer Status steht für sich allein, sondern er markiert immer ein Teil in einer Reihe; das Geflecht von Altersstufen in einer bestimmten Gesellschaftsformation ist mit dem Prinzip der kommunizierenden Röhren in der Physik zu vergleichen, d.h., „die Merkmale einer Altersstufe können nur in Beziehung zu denen anderer Altersstufen verstanden werden“ (Eisenstadt 1966, S. 15). Aus dem Blickwinkel dieser Theorietradition wäre das Schema „Kindheit, Jugend, frühes, mittleres und das höhere Erwachsenenalter“ die minimale Form, den Lebensablauf nach Altersstufen zu ordnen. Mit dieser Einteilung würden das Greisenalter und andere Altersstadien unter das höhere Erwachsenenalter fallen, was einerseits einen egalisierenden Effekt hätte, weil die Verteilung von gesellschaftlichen Rechten und Pflichten bei Erwachsenen auf die Phase der Hochaltrigkeit appliziert würde; andererseits könnten die Besonderheiten der Alterssituation aus dem Blick treten, so dass das notwendige Maß an Schonung und Rücksichtnahme, etwa gegenüber Menschen im Greisenalter, unterminiert werden würde.
2.
Die Entdeckung der Altersstufe des Erwachsenen durch die Pädagogik
Grundlagentheoretisch ist das Interesse der Pädagogik an Altersstufen im Allgemeinen und an der des Erwachsenenalters im Besonderen als Reflex auf den sowohl der Disziplin als auch den der Profession wesenseigenen Klienten- bzw. Adressatenbezug interpretierbar. Schon Aristoteles verband mit der Ergründung der Spezifika von Kindheit und Alter in Re-
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lation zu den besonderen Merkmalen des Erwachsenenlebens die Erwartung, dass der von ihm vielfach beschriebene Rhetor sein Publikum auf der Grundlage eines solchen Wissens adressatengemäß anzusprechen vermag, so dass es weder über- noch unterfordert wird. Alle späteren Varianten in den pädagogischen Subdisziplinen einer „Zielgruppen“- „Adressaten“und „Teilnehmerorientierung“ oder eines „kindgerechten Unterrichts“ stehen in Bezug zu diesem klassischen Motiv. Insbesondere die Schriften von Comenius (vgl. Comenius 1960) zeigen, dass Pädagogen sehr früh den Altersstufen im Gefüge des gesamten Lebensablaufs und der spezifischeren Problematik des Erwachsenenalters mit einer großen Offenheit und starkem Interesse gegenüberstanden. Comenius erklärte die Welt als ganze sowie den Lebenslauf des einzelnen zu einer pädagogischen Anstalt, indem er insgesamt sieben Lebensphasen als „Schulen“ konzeptualisierte. Diese Blickrichtung und Herangehensweise dienten ihm dazu, die Hauptaufgabe der Erziehung – die Menschen nach der Maßgabe Gottes zu formen – auf Dauer zu stellen, intentionale Erziehung in einem teleologischen Sinne zu einer lebensbegleitenden Handlungsfigur auszubauen. Bei der Vervollkommnung des Menschen durch eine spezifische Form der „Pflege“ (Pampaedia) komme prinzipiell jeder Mensch in Betracht, und zwar unabhängig von Geschlecht, Stand, Volkszugehörigkeit oder Altersstufe (vgl. ebd., S. 17). Comenius’ ursprünglich auf den gesamten Lebenslauf abzielende Pädagogik fand in dem damals nur recht schwach entwickelten Geflecht an Erziehungs- und Bildungsinstitutionen keinen materiellen Widerhall; das Lebensalter des Erwachsenen als Ort der Erziehung und die zugrunde liegende Idee einer lebensbegleitenden Bildung waren über Jahrhunderte hinweg organisationsgeschichtlich folgenlos. Gestaltbildend für die Ordnung der Altersstufen sollte sich demgegenüber die „soziale Erfindung“ der Schule erweisen. Im Zuge der Industrialisierung und des Übergangs zur Fabrikarbeit musste, um die anstehenden Probleme bei der Umstellung des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionskreislaufes im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zu bewältigen, zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ein neuer Lebensabschnitt plaziert werden. Mit der massenhaften Expansion des durch die Gesellschaft verliehenen pädagogischen Mandats an Lehrer, eine Qualifikations-, Selektionsund Sozialisationsfunktion zu erfüllen (vgl. Fend 1981), wurde die sequentielle Gliederung des Lebensablaufs in den letzten Jahrhunderten nachhaltig verändert. Zunächst führte die Schule Mitglieder verschiedener jugendlicher Geburtsjahrgänge zusammen, später wurden diese dann in Jahrgangsklassen zusammengefasst, wodurch eine altersspezifische Separierung gefördert wurde (vgl. Flitner/Hornstein 1964). Die Entstehung des Jugendalters als gesellschaftlich anerkannte Altersstufe ist somit mit der pädagogischen Erfindung „Schule“ untrennbar verbunden, und dies hatte Folgen im Hinblick auf das „verspätet“ einsetzende Erwachsenenalter bzw. die Institutionalisierung eines Entwicklungsmoratoriums. Die von der Schule bedienten Lebensalter genossen in der Pädagogik über viele Jahre ein eindeutiges Prä. Die Thematisierung des Erwachsenen in der Erziehungswissenschaft wird seit der realistischen Wende gemeinhin als Aufgabe der pädagogischen Anthropologie (vgl. Ballauf 1978; Pöggeler 1964) betrachtet. Auffällig ist, dass sich die Erwachsenenbildung auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erschließung des Erwachsenenalters ausgesprochen zurückhaltend zeigt (vgl. Ruprecht/Sitzmann 1978) und nur wenig eigenständige Forschungspraxis vorzuweisen hat. Die pädagogische Anthropologie (vgl. Beck 1992; Zdarzil 1976) konfrontierte die Erziehungswissenschaft mit der Erkenntnis, dass in früheren Erziehungs- und Bildungskonzeptionen der Erwachsene als Inkarnation und als Vollform des Menschseins galt;
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demgegenüber wurden Kinder und Jugendliche als Diminutivformen des Menschseins oder als Vorstufe zum Erwachsensein betrachtet. Ein Zäsur leitete die radikale Reformpädagogik ein, weil diese das Verhältnis z.T. umkehrte und das Kind als den „genuinen Menschen“ und den Erwachsenen lediglich als „Werk des Kindes“ (Montessori) schematisierte. Spätestens seit die Entwicklungspsychologie (vgl. Olechowski 1976) für die Theoriebildung in der Pädagogik einschlägig und jedes Lebensalter auch als „Wertgestalt“ (Guardini) perzipiert wurde, reifte das bildungsphilosophische Postulat der Gleichrangigkeit der Lebensphasen zur weitgehend akzeptierten Leitmaxime der pädagogischen Anthropologie heran. Zwischen der detachierten und abgeklärten Haltung zur Lebensstufe des Erwachsenen auf seiten der zur allgemeinen Erziehungswissenschaft zählenden pädagogischen Anthropologie und der pädagogischen Teildisziplinen gab und gibt es beträchtliche Differenzen. Obwohl die Position von der Gleichwertigkeit aller Lebensalter abstrakt Zuspruch fand, wurden vom partikularen Standpunkt anderer pädagogischer Subdisziplinen unter der Hand doch wieder Präferenzen eingeführt, wie zum Beispiel die, dass „die Kindheit als die Mitte der Pädagogik“ (Röhrs 1969, S. 194) zu gelten habe. Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit war lange Zeit auf jene Lebensalter gerichtet, die eine größere Nähe zur Schule als dem heimlichen Zentrum der pädagogischen Welt aufweisen konnten. Das Verhältnis von pädagogischer Anthropologie und den pädagogischen Subdisziplinen (insbesondere die Schulpädagogik) reproduzierte im Grunde nur das Hierarchiesystem einer auf Einrichtungen und Organisationen fixierten Pädagogik: Auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen abgestimmte pädagogische Institutionen mit dem Anspruch einer flächendeckenden Versorgung konnten den größten Reflexionsbedarf anmelden und das größte empirische Forschungsinteresse wecken. Inzwischen ist jedoch eine deutliche Loslösung der Erziehungswissenschaft vom heimlichen Zentrum Schule zu beobachten (vgl. Krüger/Rauschenbach 1994), was eine Verschiebung auch des Interesses an einzelnen Altersstufen bewirkt zu haben scheint. Die allmähliche Aufwertung des Erwachsenen als Element des Erziehungssystems, wie wir sie seit circa fünfzehn Jahren beobachten können (vgl. Kade 1997), ist nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Pädagogisierung des Lebensablaufs als solchem angemessen zu verstehen. Die Expansion von mit der organisierten Erwachsenenbildung befassten Institutionen und die Zunahme von sozialen Welten, Räumen und Orten, die – ohne dies zu intendieren – faktisch die Bildung der Erwachsenen betreiben (vgl. Kade/Nittel 1995), bilden als materieller Rahmen nur die eine Seite der Medaille. Erst durch die Hervorbringung des „Erziehungsgedankens als eine sich verselbständigende Utopie der Neuzeit“ (Rosenmayr 1978) seit dem 18. Jahrhundert nimmt die Sinn-, Wissens- und Handlungssphäre der Pädagogik vollständig und irreversibel Einfluss auf die Gestaltung der zeitlichen Ordnung des Lebens, und zwar weit über die Schule hinaus. Heute sehen wir uns der Situation gegenüber, dass eigentlich kein Übergang im Lebenslauf nicht von pädagogischen Maßnahmen begleitet, abgefedert, gefördert oder in anderer Weise gesteuert wird (vgl. Nittel 1996). In dem Maße, wie die Vorstellung vom kognitiven und mentalen Steigerungspotential „des Menschen“ von biologischen Determinismen gereinigt wurde und kontextbezogenes Denken Einzug hielt, war ein Resonanzboden dafür geschaffen, dass die teleologische Figur vom „lebenslangen Lernen“ selbst zu einer kulturellen und ökonomischen Produktivkraft sui generis mutieren konnte. Das gesellschaftliche Fortschrittsmodell, das sich durch unbegrenzte Ressourcenausbeute und Machbarkeitsmythen auszeichnet, konnte sich so gesehen in abgewandelter Form auch in der Normalbiographie als Sinnquelle durchsetzen. Die Orientierungsfigur vom „lebenslangen Lernen“ hat sogar gegen den Widerstand gesell-
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schaftlicher Rahmenbedingungen (Ende der Bildungsreform) ihre Attraktivität unter Beweis stellen können. Und ihre Orientierungskraft wirkt um so stärker vor dem Hintergrund technologischer Innovationen und Beschleunigungsschübe, etwa in der Telekommunikation und der Computertechnik, die einen Umschlag der Quantitäten, was die Umweltveränderungen angeht, in neue Qualitäten des Lernens und der Bildungszumutungen zu bewirken scheinen. Heute sind die Folgen dieser Entwicklungslinien unübersehbar: Auch das frühe, das mittlere und das späte Erwachsenenalter werden unter dem folgenreichen Aspekt „potentieller Bildungsbedarf“ betrachtet, u.a., weil sozialpolitische Problemlagen in pädagogische umdefiniert werden. Die Aufwertung der Erwachsenenphase als „Lernzeit“ und als „Bildungsraum“ hat natürlich auch die Aufmerksamkeitsleistungen der Erziehungswissenschaft und ihre Reflexions- und Forschungsbemühungen beeinflusst. Da sich der Lebenslauf sowohl als Form wie auch als Medium des modernen Erziehungs- und Bildungssystems (vgl. Luhmann 1996) durchzusetzen beginnt und demnach als systemspezifisches Abgrenzungskriterium akzeptiert zu werden scheint, ist in den nächsten Jahren mit einer deutlichen Umstellung der Relevanzkriterien bei der Auswahl potentieller Forschungsthemen zu rechnen, etwa in der Weise, dass „mitlaufende“ Modi des Wissenserwerbs bzw. schleichende Formen des Lernens als Forschungsthemen zunehmend attraktiver werden.
3.
Von der Sozialisations- zur Biographieforschung
Häufig wird als Begründung für die stiefmütterliche Behandlung des Erwachsenenalters durch die Humanwissenschaften die These angeführt, dass unkalkulierbare Probleme des Aufwachsens bei Kindern und Jugendlichen einerseits sowie Risiken des Alters (als Zustand) und des Alterns (als Prozess) andererseits eng mit grundlegenden Bestandsproblemen der Gesellschaft korrespondieren (vgl. Nittel 1998). Während Jugendkonflikte und Probleme im Umgang mit alten Menschen den Nerv des Gemeinwesens tangieren würden, gelte das Erwachsenenleben gleichsam als Hort gesellschaftlicher Stabilität (vgl. Kohli 1977, S. 626). Untersuchungen aus dem Umkreis der Erwachsenensozialisations-Forschung stellen die eigentlichen Vorläufer von biographieorientierten Arbeiten jüngeren Datums über zentrale Bereiche dieser Altersstufe dar. Eingeleitet durch den vielbeachteten Aufsatz von Brim (1974), richtete sich das Forschungsinteresse in den Vereinigten Staaten seit den sechziger Jahren und in Deutschland ungefähr seit Anfang der siebziger Jahre auf die Prozesse des Neu-, Dazu- und Verlernens bei Erwachsenen sowie auf die Frage, inwieweit die scheinbare Kontingenz im Lebensschicksal erwachsener Gesellschaftsmitglieder durch bestimmte regelgeleitete Mechanismen und wiederkehrende Entwicklungsphasen geordnet werde. Einen Überblick über die deutsche Rezeption und eigene Forschungsimpulse verschaffen die Reader von Nave-Herz (1981) und Griese (1979). Die frühen Arbeiten waren von der Grundidee geleitet, dass die in Kindheit und Jugend vollzogene Ausstattung mit Wissen, Werten und Kompetenzen unter den Bedingungen einer Gesellschaft, die den Wandel zum einzig stetigen Faktor erhoben zu haben scheint, „keine angemessene Vorbereitung auf die Aufgaben in späteren Jahren sein“ könne (Brim 1974, S. 18). Das grundlagentheoretische Verständnis dieses Forschungszweiges wurde einerseits stark von der Tradition des Strukturfunktionalismus (vgl. Parsons 1955), andererseits vom Symbolischen Interaktionismus (vgl. Becker 1964; Glaser/Strauss 1971) geprägt; flankiert wurde diese Grundkonstellation durch
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weitere einflussreiche Referenztheorien wie die Psychoanalyse (vgl. Erikson 1966) und Persönlichkeitstheorien aus dem Umkreis des Marxismus (vgl. Ottomeyer 1977). Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen in den siebziger Jahren Sozialisationsinstanzen wie Beruf und Familie usw., wobei das Erkenntnisinteresse nicht selten darauf abzielte, die Prägekraft der jeweiligen Instanz in Relation zu einer anderen einzuschätzen. Als wichtigste Forschungsfelder lassen sich a) Familie, Elternschaft und Partnerschaft (vgl. Berger/Kellner 1965; Herlyn 1981); b) Sozialisation in den Beruf und Sozialisation während des Berufs, Hochschulausbildung (vgl. Großkurth 1979; Lempert 1977); c) Massenmedien und schließlich d) soziale Bewegungen und religiöse Welten (vgl. die Übersicht bei Kohli 1984) nennen. Paradoxerweise wurde mit dieser Fixierung auf „Sozialisationsagenturen“, der eigenen prozessorientierten Programmatik zuwiderlaufend, ein eher querschnittbezogenes und statisches Denken gefördert. Eine konstruktive methodologische Diskussion kam aufgrund der Fixierung an den „grand theories“ kaum zustande; zudem blieb die Entwicklung eines gegenstandsangemessenen bzw. eines prozesssensiblen Erhebungsverfahrens aus. Die Erforschung der Erwachsenensozialisation, die u.a. mit der Programmatik angetreten ist, eine Öffnung gegenüber dem ganzen Lebenslauf vorzunehmen, ist an eben diesem Anspruch gemessen und schließlich relativiert worden. Auf aktuelle Problemlagen hat dieser Forschungszweig nicht sonderlich flexibel reagieren können, was unter anderem daran ablesbar ist, dass Verlängerungstendenzen im Jugendalter (Postadoleszenz) sowie die Ausdifferenzierung neuer Phasen im späten Erwachsenenalter aufgrund der Erhöhung des durchschnittlichen Lebensalters keine verstärkte interdisziplinäre Kooperation mit Jugendsoziologie und Gerontologie in Gang gesetzt haben. Da die Erwachsenensozialisations-Forschung aber gerade in der Abgrenzung zur Jugendsoziologie und zur Gerontologie wissenschaftliche Identität zu erringen versuchte, wirkten sich die eben angedeuteten realen Verwerfungen und Veränderungen im Erwachsenenleben eher ungünstig auf die Konsolidierung der Forschungspraxis und die Theoriebildung aus. Denn wissenschaftspolitisch erschien zur Schärfung des eigenen Profils eine Abgrenzung gegenüber Jugendsoziologie und Gerontologie opportun, während sachlogisch – von der objektiven Entwicklung der Altersstufen in der Gesellschaft her gedacht – eine engere Kooperation mit Jugendsoziologie und Entwicklungspsychologie auf der einen und Alterssoziologie und psychologisch akzentuierter Gerontologie auf der anderen Seite angesagt war. Auf die genauen Ursachen des zwischenzeitlich beobachtbaren Stillstandes in der Erwachsenensozialisations-Forschung kann hier nicht eingegangen werden. Nicht von der Hand zu weisen scheint die Vermutung zu sein, dass der Aufschwung der „biographischen Methode“ in den verschiedensten Wissenschaften (vgl. Fuchs 1984) Anfang der achtziger Jahre, der später einsetzende Richtungswechsel zur soziologischen Biographieforschung (vgl. Fischer-Rosenthal 1990) und zur Lebenslaufforschung sowie die Revitalisierung einer erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einer folgenreichen Neuvermessung des Gegenstandsbereiches „Erwachsenensozialisation“ geführt haben. Schon ein flüchtiger Blick in Literaturübersichten (vgl. Heinritz 1988; Nittel 1994, S. 113-139) zeigt, dass das von der Erwachsenensozialisations-Forschung in den siebziger Jahren vorrangig bearbeitete Themenspektrum seit Mitte der achtziger Jahre besonders von seiten der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Biographieforschung erschlossen worden ist (vgl. Marotzki 1998). Die von Vertretern der Erwachsenensozialisations-Forschung vollzogene Öffnung des Erwachsenenlebens gegenüber dem Lebenslauf als ganzem hat sich zwar vollzogen – aber um den Preis eines gewissen Profilverlustes im angestammten Forschungszweig.
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4.
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Überblick über Befunde in ausgewählten Forschungsfeldern
Schon ein flüchtiger Blick in die Tagungsdokumentationen der letzten Jahre und die Würdigung der abgeschlossenen wie der laufenden Forschungsprojekte werfen die (ironische) Frage auf: Welche interessanten Facetten des Erwachsenendaseins sind bislang von der Gemeinschaft der Forscher als potentielle Gegenstandsbereiche biographischer Fallstudien eigentlich noch nicht bearbeitet worden? Die beeindruckende Fülle an Literatur zu den unterschiedlichsten Themenbereichen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Biographieforschung zwar viele existentiell wichtige Lebensbereiche von Erwachsenen untersucht hat, die Aufgabe dieser Forschungsrichtung jedoch nicht darauf reduziert werden darf, sich ausschließlich mit dieser Altersstufe zu beschäftigen. Es bedarf einer aufwendigen Reinterpretation der Befunde, einer Neugewichtung der zentralen Forschungsergebnisse, um aus den diversen Teilerkenntnissen ein aussagekräftiges Bild der Altersstufe des Erwachsenen in unserer Zeit zu gewinnen. Dieser Schritt steht im Grunde noch aus, so dass hier von einem gewichtigen Forschungsdesiderat gesprochen werden kann. Dass die Lebenspraxis des Erwachsenen in modernen Gesellschaften trotz der einen oder anderen anderslautenden Diagnose nach wie vor maßgeblich von dem Dreigestirn „Arbeit – Bildung – privater Reproduktionszusammenhang“ bestimmt wird, spiegeln die Publikationsschwerpunkte wider.
4.1. Arbeit und Beruf Lag am Ende der siebziger und am Anfang der achtziger Jahre das Interesse ganz eindeutig auf der Erforschung des Bewusstseins und der Lebenslage von Industriearbeitern (vgl. Brock/Vetter 1979, 1982; Bahrdt 1975), so haben sich zwischenzeitlich auch andere Berufe und Professionen als Forschungsgegenstände in den Vordergrund geschoben. Neben Studien zu beschäftigungslosen Hochschulabsolventen (Schlegelmilch 1987) und akademischen Berufen wie Ingenieur (Hermanns u.a. 1984), Lehrer (Klewitz 1987), Naturwissenschaftler (Straub 1993), Publizisten (Möding/von Plato 1989; Klaus 1993), liegen so unterschiedliche Arbeiten wie die über die Problematik berufsbiographischer Rekrutierungsprozesse in der Landwirtschaft (Hildenbrand 1992), über erwerbsbiographische Diskontinuitäten in Ostund Westdeutschland (Mutz 1995) und über den beruflichen Werdegang von ErzieherInnen (Schildmann/Völzke 1994) vor. Diese breite Auffächerung des Forschungsspektrums hat aber keineswegs zur gänzlichen Erlahmung des Interesses an den Lebensläufen von Arbeitern geführt (vgl. Alheit/Dausien 1985). In einer umfangreichen Studie über das Gesundheitsverhalten von Industriearbeitern haben z.B. Giegel u.a. nachweisen können, dass die berufliche Tätigkeit von Lohnarbeitern die Betroffenen nicht nur unvermeidlich hohen gesundheitlichen Risiken aussetzt, „sie zwingt ihnen, über die Ausbildung berufsbiographischer Orientierungsmuster, gleichzeitig auch Orientierungen auf, die verhindern, dass sie die ihnen verbleibenden Chancen, diese Risiken so weit wie möglich einzudämmen, nutzen“ (Giegel u.a. 1988, S. 402). Für ein tieferes Verständnis von „Beruf – Arbeit – Professionalität“ wäre es wichtig, systematischer nach solchen möglicherweise neuartigen „strukturellen Fallensituationen“ im Berufsleben Ausschau zu halten. Einen weiteren berufssoziologischen Schwerpunkt in der Biographieforschung stellen Phänomene dar, die auf historisch neue Formen der Arbeit hindeuten. So konnte am Beispiel
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von ZeitarbeitnehmerInnen gezeigt werden, dass unter dem gesellschaftlichen Einfluss einer Deinstitutionalisierung des Lebensablaufs nicht nur eine Entkoppelung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis stattfindet und überraschende Varianten eines „Diskontinuitätenmanagements“ auftreten, sondern auch neue Formen der bürokratischen Herrschaft und der betrieblichen Vergemeinschaftung möglich werden (vgl. Brose/Wohlrab-Sahr/Corsten 1993; Brose/ Wohlrab-Sahr 1986). Folgebereitschaft im Berufsleben wird bei Erwachsenen mehr und mehr nicht durch äußeren Zwang, sondern durch viel subtilere Mechanismen erzeugt. Als weiterer wichtiger Schwerpunkt sind Forschungsberichte zu nennen, die sich mit den biographischen Verarbeitungsformen des Massenschicksals der Arbeitslosigkeit beschäftigen; hier gibt es historische Vorbilder, wie die berühmte Studie über die Arbeitslosen von Marienthal (Jahoda u.a. 1960). Inwieweit die Betroffenen unter dem Eindruck des Verlustes von Arbeit auf der Ebene der Alltags- wie auch der Lebenszeit ihre Zeitstrukturen verändern, ist Gegenstand einer Studie von Heinemeier (1991), der Interviews von Facharbeitern, Führungskräften und Angestellten mit Interviews von Ungelernten verglichen und festgestellt hat, dass die Erfahrung der Arbeitslosigkeit und der sozialen Isolierung die „Problematik des haltlosen Driftens durch heterogene Zeitstrukturen“ (Heinemeier 1991, S. 293) erzeugen kann. Lässt man die verschiedenen Arbeiten unter dem Fokus ihrer prognostizistischen Qualitäten Revue passieren, so sind nur recht allgemeine Aussagen möglich. Eine häufig geäußerte These lautet folgendermaßen: Sollte es in den nächsten Jahrzehnten zu dramatischen Umstrukturierungen im Arbeitsleben kommen, so wird die Problematik des zeitlichen Anteils der Arbeit am Tagesablauf nicht isoliert von der Frage zu diskutieren sein, wie die Relation Arbeit – Bildung – Freizeit im gesamten Lebenslauf zu gestalten ist. Phasen der Diskontinuität in der Erwerbsbiographie aufgrund erzwungener Arbeitslosigkeit und anderer (gewählter) Konstellationen (Sabbathjahr, Umschulung) werden zukünftig nicht die Ausnahme, sondern mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Normalfall darstellen. In dem gleichen Maße, wie durch strukturelle Veränderungen im Arbeitsleben und die Auflösung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsprogramme die Erwartungssicherheit bei der Gestaltung von Berufsbiographien zurückgeht, steigt umgekehrt proportional die Notwendigkeit, systematischer den Umgang und die Bearbeitung beruflicher Störungs- und Risikopotentiale – die gekonnte Planung des Unplanbaren – einzuüben (vgl. Nittel 2003a). Was das Themenfeld „Bildung und Erziehung“ angeht, so erstreckt sich die Mehrzahl der Arbeiten auf den relativ überschaubaren Bereich der institutionalisierten Bildung (Schule, Hochschule, sozialpädagogische Einrichtungen, organisierte Fort- und Weiterbildung usw.) und eine Minderheit auf den eher unübersichtlichen Bereich des „selbstorganisierten“ bzw. nichtintentionalen Lernens außerhalb von Einrichtungen des Erziehungssystems. Dass jenseits dieser Polarität auch interessante Zwischenformen existieren, zeigt die Studie von Kade/Seitter, die sich mit der Zwitterfunktion des Funkkollegs als Bildungsinstitution und als „Lebensform“ beschäftigt. Die Autoren gelangen u.a. zu dem Ergebnis, dass neben dem defizitorientierten Rekrutierungs- und Lernmechanismus, der erwachsene Gesellschaftsmitglieder zu Adressaten der Bildung macht, in der Moderne sukzessiv der differenzbezogene Lerntypus Oberhand gewinnt. Dieser sorgt dafür, dass Diskrepanzen zwischen wirklicher Lebenspraxis und biographischem Möglichkeitsraum durch prinzipiell endlose Lernbewegungen sowohl kleingearbeitet als auch im Sinne einer Autopoiesis in neuer Gestalt wiederkehren (vgl. Kade/Seitter 1996), so dass virtuelle oder reale Lernanlässe nie versiegen. Ein wichtiges Forschungsgebiet sind die durch pädagogische Institutionen, Ämter und Interventionen abgestützten biographischen „Fahrpläne“ von der Jugend- in die Erwachsenenkultur (vgl. Bohnsack 1989; Combe/Helsper 1991; Krüger u.a. 1993).
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4.2. Jung-Sein versus Erwachsen-Sein Die Analyse religiöser, ökonomischer und rechtlicher Sinnwelten (A. Schütz) in modernen Gesellschaften zeigt, dass keine unter ihnen die alleinige Definitionsmacht hat, um „den Erwachenen“ zu bestimmen. In der sich formierenden Aushandlungsordnung (vgl. Nittel 2003b) spielt die Pädagogik in einer spezifischen Weise eine besondere Rolle. Die durch defizitäre Sozialisations- und Erziehungsprozesse in „natürlichen“ pädagogischen Umwelten produzierten Störungen beim Übergang von der Altersstufe des Heranwachsenden zur Altersstufe des Vollmitgliedes der Gesellschaft werden nämlich durch pädagogische Programme „zweiter Ordnung“ bearbeitet und zu beheben versucht. Pädagogische Interventionen in der Jugendphase haben daher immer eine Doppelfunktion: Sie sollen für die reibungslose Übernahme der mit dem Erwachsenenstatus verbundenen commitments sorgen, tragen aber, da sie ihrerseits Zeit beanspruchen, faktisch zur verzögerten Übernahme des Erwachsenenstatus bei. Lebensstile und die modische Inszenierung des Körpers haben den früher durch Rituale geordneten Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen weitgehend ersetzt. In der ästhetischen Alltagspraxis und im dazugehörenden Lebens- und Bekleidungsstil sowie in der Mediennutzung sind die Unterschiede zwischen Jugend- und Erwachsenenkultur kaum noch zu registrieren. „8jährige knacken Computersysteme von Staatsbehörden, 17jährige Gymnasiasten spekulieren an der Börse, während hochmobile Frührentner in Nike-Turnschuhen und mit aufgestülptem Walkman bei McDonald’s sitzen und haufenweise Chicken-McNuggets in sich hineinstopfen“ (Spiegel 9/1997, S. 223). Der rhetorische Effekt solcher „Meldungen“ beruht auf der überraschenden Diskrepanz zwischen altersstufenspezifischen Normalformerwartungen und der vermeintlichen Realität. Doch trotz solch dramatischer und weniger dramatischer Angleichungstendenzen und Verwerfungen in den Lebensstilen dürfen die Ernsthaftigkeit und die Dramatik des Übergangs von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter nicht unterschätzt werden. Auch durch juvenile Inszenierungspraktiken und eine auf populäre Modetrends abzielende Symbolik kann die Verpflichtung, das eigene Ich als Handlungszentrum zu begreifen, sowohl in materieller wie auch in jeder anderen Hinsicht die Autonomie der Lebenspraxis zu gewährleisten und die antizipierten und nichtantizipierbaren Folgen des individuellen Handelns sich selbst zuzurechnen, zwar kaschiert und aufgeschoben, aber nicht gänzlich suspendiert werden. Mit dem Schlagwort „Ende offen“ und dem weniger reißerischen Begriff der „Postadoleszenz“ wurde die „verlängerte Jugend im dritten Lebensjahrzehnt“ (Meulemann/Wiese 1989, S. 64) als spätes Produkt der Bildungsreform gekennzeichnet. Diskrepanzen und Asynchronitäten bei der Übernahme erwachsenenspezifischer Rechte und Pflichten sind schon seit Jahrzehnten der Normalfall; sie stellen sowohl das Produkt als auch den Gegenstand pädagogischer Interventionen dar. Die Reversibilität von Bildungslaufbahnentscheidungen scheint den Mythos genährt zu haben, dass auch andere zentrale biographische Weichenstellungen ebenso rückgängig zu machen sind. Spektakuläre Beobachtungen (vgl. Seidl 2005) in den Medien und im Erziehungs- oder im Freizeitverhalten (Streben nach schnellem Genuss) haben den amerikanischen Gesellschaftskritiker Robert Bly veranlasst, von der Infantilisierung des Erwachsenenlebens zu sprechen (vgl. Bly 1997). So pointiert die Kategorie „Infantilisierung“ die nicht nur in der amerikanischen Kulturindustrie beobachteten Szenarien auch auf den Punkt zu bringen vermag, sie besitzt den Nachteil, dass das gleichzeitige Eindringen der Erwachsenenwelt in die Kinderwelt aus dem Blick zu geraten droht. Dass die Infantilisierung der Erwachsenenkultur durch die spiegelbildartige Tendenz, nämlich eine Erosion des Schonraums des Kindes,
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begleitet wird, ist seit längerer Zeit Gegenstand einer pädagogisch kolorierten Zeitkritik: Die frühe Konfrontation mit medial vermittelter Gewalt, die zunehmende Auflösung von kindlichen Erfahrungs- und Handlungsräumen (Straßensozialisation) und die instrumentelle Ausnutzung von Kindern und Jugendlichen als Käuferpotential deuten in diese Richtung. Die eben genannten Phänomene bieten in der kritischen Öffentlichkeit entweder Anlässe für Über- oder Untertreibungen. Die empirisch gestützte Beobachtung, dass Jugendliche heute viel früher über politische Ereignisse informiert sind und auch über entsprechende Handlungskompetenzen verfügen, bietet manchen Jugendforschern und Bildungspolitikern ein Motiv, daraus juristische Konsequenzen zu ziehen, sprich: den Vorschlag in die Diskussion zu bringen, das Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Bei der Übernahme von Familien-, Eltern- und Berufsrollen ist schon seit längerer Zeit nicht nur eine beträchtliche Zeitversetzung zu beobachten. Vielmehr zeichnet sich entweder eine gänzliche Entkoppelung ab oder aber die Konstitution von neuen, für Außenstehende spielerisch wirkenden Formen der Integration: „Die Verbindung von Merkmalen von Ernsthaftigkeit mit solchen des Experiments verleiht den entsprechenden Lebensformen die Qualität oder den Anschein des Inszenierten und Simulierten. Für die Beteiligten handelt es sich oft um gespielte Ernsthaftigkeit im gleichen Maße wie um ein überaus ernstes Spiel“ (Robert 1990, S. 108). Seit dem Erscheinen der Shell-Studie „Jugend ’81“, in welcher erstmals in größerem Maßstab qualitativ-biographische Erhebungsverfahren eingesetzt wurden (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1985), gilt es als ausgemacht, dass die Jugendphase ihren Rang als bloßer Übergang, als Vorbereitungszeit auf das „eigentliche Leben“ eines Erwachsenen eingebüßt und statt dessen die Gestalt einer „Jugendbiographie“ angenommen hat. Obwohl es viele plausible Indizien für diese Diagnose gibt (vgl. Fuchs 1983) – ganz überzeugend ist die These schon allein deswegen nicht, weil die Existenz einer „Jugendbiographie“ auch schärfere Kontraste einerseits zur Kindheit und andererseits zur Erwachsenenphase evozieren würde. Denn mit dem Zugewinn an binnenspezifischer Gestaltbildung einer Altersstufe müsste folgerichtig auch ein Zuwachs an externer Differenz einhergehen, doch diesen sucht man bei der „Jugendbiographie“ vergeblich. Statt der Tendenz einer deutlicheren Markierung von Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenbiographie scheinen die Zeichen der Zeit viel eher auf eine größere Unsicherheit in der „Ordnung der Altersstufen“ hinzudeuten. Diese schlägt sich in einer stärkeren Durchmischung altersabhängiger und lebensphasenbezogener Kategorien, Etikettierungen, Verhaltensweisen und kultureller Formtraditionen nieder. Die altersspezifischen Codes (vgl. Langehennig 1986) im Zeitalter der „neuen Übersichtlichkeit“ besitzen stark situative Anwendungsregeln, und das bietet wiederum Raum für spielerische Gestaltungsaktivitäten, für Möglichkeiten des Aushandelns von altersstufenspezifischen Etikettierungen. In dem Maße, wie Gesellschaftsmitglieder die Chance nutzen, sich von Altersstereotypen zu distanzieren, scheinen Etikettierungen wie alt oder jung vom chronologischen Alter abgekoppelt zu werden, so dass es immer mehr „normal“ wird, (kalendarisch) alte Menschen als jung oder „kindlich“ einzustufen und vice versa. Die Klärung, ob ein bestimmtes Gesellschaftsmitglied erwachsen ist oder nicht, ist heute also weniger von dem Vorhandensein typischer Insignien der Erwachsenenkultur (Haus, Auto, Garten) oder von konventionellen sozialen Identitäten (Berufsrolle, Ehepartnerrolle, Staatsbürgerrolle), sondern von den Eigendefinitionen und den in der Selbstinszenierung artikulierten Ambitionen abhängig – wobei bei der Ratifikation der Erwachsenenrolle letztlich doch auf die Einhaltung gewisser Commitments und die Verwirklichung einer autonomen Lebenspraxis geachtet wird.
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Für das bessere Verständnis des Erwachsenenlebens ist besonders eine auf die Schärfung von Generationsprofilen abzielende Untersuchungsstrategie instruktiv. In der Mitte der achtziger Jahre sind Jugendliche und Erwachsene einem in der Forschung seltenen Generationsvergleich unterzogen worden (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1985). Einer der erstaunlichsten Befunde dieser Studie waren die Ähnlichkeiten in den Prioritäten, die Jugendliche wie Erwachsene bei der Selbst- und Fremdkritik setzten. Auch die Einstellungsmuster gegenüber dem Lernen zeigten beachtenswerte Übereinstimmungen: „Es sind nicht nur 88% der Jugendlichen, sondern auch 76% der Erwachsenen der Meinung, dass Erwachsene von Jugendlichen etwas lernen können. Nur ein Viertel der Erwachsenen, die zugleich ja auch die Elterngeneration der heutigen Jugendlichen bilden, beharrt darauf, dass Lernprozesse in einer Richtung, von den Älteren zu den Jüngeren zu erfolgen haben. Ein solches Ergebnis signalisiert das Ende eines Erwachsenen-Monopols: Im Alltagsverständnis heutiger Erwachsener ist Erwachsenen-Alter zum Lernen freigegeben“ (ebd., S. 12f). Gesellschaftlich präformierte Bildungseinstellungen und Lernhaltungen erwachsener Gesellschaftsmitglieder haben Vertreter der Erwachsenenbildung schon seit den fünfziger Jahren (vgl. Schulenberg 1957) mit besonderem Interesse untersucht. In der einschlägigen Studie „Bildung und gesellschaftliches Bewusstsein“ (Strzelewicz/Raapke/Schulenberg 1966) bietet sich dem Betrachter ein völlig anderes Bild als in der Shell-Studie aus den achtziger Jahren: Die meisten Befragten, d.h. 35%, waren der Überzeugung, organisiertes Lernen für Erwachsenen sei „nicht normal“, und immerhin noch 31% waren der Auffassung, Lernangebote für Erwachsene seien „bedingt normal“. Die Kontrastierung dieser von der Anlage her völlig unterschiedlichen Studien zeigt mit großer Eindringlichkeit, dass in den Einstellungsmustern bei Erwachsenen gegenüber dem Lernen beinahe von einem epochalen Wandel gesprochen werden kann. Ist heute die Mehrheit der Erwachsenen fest davon überzeugt, dass sie von Jugendlichen eine Menge lernen können, so war Anfang der sechziger Jahre für die Mehrheit der Erwachsenen Lernen als solches eine höchst legitimationsbedürftige Aktivität, eine Handlungsform, für die man als Erwachsener eigentlich zu alt ist. Der dramatische Wandel in den Bildungseinstellungen wird insbesondere in dem gesellschaftlich präformierten Verhältnis von Arbeit und Lernen evident: Während früher die Zeitspanne des Erwachsenenlebens durch Erwerbsarbeit und Nichtlernen beherrscht war, avanciert heute für das Gros der Bürger Lernen zu einer selbstverständlichen Sozialitätsform, entweder um durch prophylaktische Risikovorsorge einer Diskontinuität in der Erwerbsbiographie vorzubeugen oder um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, als Arbeitsuchender wieder in das Erwerbsleben eingegliedert zu werden (vgl. Weymann 1987).
4.3. Schulische Sozialisation – Vorbereitung auf das Erwachsenenleben? Natürlich ist nicht der gesamte Kosmos an Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend für die spätere Lebenspraxis, die soziale und persönliche Identität im Erwachsenenleben ausschlaggebend. Weitgehend konsensfähig ist unter Erziehungswissenschaftlern allerdings die Position, dass Art und Qualität der Schullaufbahn einschließlich des für die schulische Sozialisation konstitutiven „hidden curriculum“ (Zinnecker 1976) die spätere Identitätsformation eines Erwachsenen stark beeinflusst. Die Befunde einer eigenen Studie (Nittel 1992) bestätigen den generellen gesellschaftlichen Trend einer Deritualisierung. Ebenso wie kirchliche Rituale, wie etwa die Konfirmation, keine nennenswerten biographischen Orientierungsleistungen auf dem Weg in die Erwachsenenkultur erbringen, markiert auch das
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Abitur höchstens eine Zwischenetappe innerhalb einer langen Reihe weiterer Schritte im Prozess des Erwachsen-Werdens. Das Ende der Schulzeit gilt viel eher als eine selbstverständlich vorausgesetzte Weichenstellung, um die Jugendphase zu verlassen, aber weit weniger als eine zielgerichtet erbrachte Vorleistung, den Erwachsenenstatus aktiv zu erringen. Die Studie arbeitet die zentralen schulbiographischen Prozessstrukturen heraus. Darunter sind sequentiell großflächige Ordnungsmuster zu verstehen, die Biographien oder Teile von ihnen sowohl unter dem Gesichtspunkt der faktischen Ereignisabläufe als auch unter dem Fokus der Handlungs- und Erleidensperspektive des/der Betroffenen in den Blick nehmen. Schulbiographische Prozessstrukturen gewährleisten also, dass die Untersuchung nicht nur auf die Zur-Kenntnis-Nahme institutionell vorgesehener Einschnitte, Phasenunterteilungen, Wendepunkte und/oder Stationen reduziert und die Leistung der Akteure bei der Konstruktion von Realität gewürdigt wird. Eine dieser Prozessstrukturen, nämlich die der „Anpassungsverlaufskurve(,) zielt auf Erscheinungsformen im Leben jener Schüler ab, die sich unter weitgehendem Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den schulischen Inhalten und unter Vermeidung einer reflexiven Haltung gegenüber der eigenen Identität gleichsam mimetisch an die organisatorischen Handlungspläne und -regeln anpassen. Und in dem gleichen Maße, wie sich der Schüler distanzlos den organisatorischen Arrangements einfügt, wird er von ihnen prozessiert und getrieben“ (Nittel 1992, S. 449). Mit Hilfe der Kategorie der Anpassungsverlaufskurve, die unter Berücksichtigung eines komplexen Geflechtes familiärer und schulischer Bedingungen entwickelt wurde, sind gewisse Alltagspathologien im Erwachsenenleben auf defizitäre Erscheinungen in unserem Schulsystem zurückführbar, wie z.B. exzessive Karrieresucht, Tendenzen der Deprofessionalisierung innerhalb der altehrwürdigen Professionen oder die Kolonialisierung kommunikativ strukturierter Bereiche unserer Lebenswelt durch strategisches Handeln. Im Unterschied zur Sozialisationsforschung, deren Vertreter davon ausgehen, dass die affektgesteuerte Konstitution eines spezifischen „Charakters“ in der primären Sozialisation abgeschlossen sei und in der sekundären Sozialisation nur noch Veränderungen einer im Wesentlichen festgelegten individuellen Konstitution wahrscheinlich wären, ist die Biographieforschung gegenüber der Variabilität der Persönlichkeit sowie der Weiträumigkeit und Tiefe des Lernens im Erwachsenenalter weit weniger festgelegt. Die Entwicklung eines prozessadäquaten Erhebungsinstrumentes in Form des (autobiographisch-)narrativen Interviews (vgl. Schütze 1984, 1987) und diesbezüglicher Analyseverfahren hat den analytischen Blick auf ganz unprätentiöse und unauffällige Prozesse des Lernens und Verlernens von Erwachsenen geschärft. Der wissenschaftliche Fortschritt ist u.a. daran ablesbar, dass die Qualität der Daten aus narrativen Interviews Veränderungsprozesse empirisch zugänglich macht, die von ihrer Tragweite und Dynamik gewissermaßen unterhalb der Konversion, d.h. einer totalen Persönlichkeitsveränderung, und oberhalb schleichender, dem Bewusstsein kaum zugänglicher Beeinflussungen auf der Ebene der Alltagszeit (vgl. Fischer 1982) angesiedelt sind. Die Kategorien der biographischen Wandlung (vgl. Schütze 1981, 1984) oder der tiefgreifenden Identitätsveränderung (vgl. Nittel 1992) sind Varianten eines inzwischen recht breiten Korpus an gegenstandsbezogenen Kategorien zur Beschreibung von Veränderungen im Erwachsenenleben. Die Forschungstradition im Umkreis des (auto)biographisch-narrativen Interviews könnte mit dazu beitragen, einen Schritt näher an das Ziel zu gelangen, die Dimensionen des „normalen Erwachsenenlebens“ zu erschließen und die Forschungspraxis nicht gänzlich der Ägide eines „social problem approach“ zu überlassen.
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4.4. Kritische Würdigung und phasenspezifischer Zuordnungsversuch Der spontane Eindruck der Zersplitterung und Zerfaserung, der entsteht, wenn man sich vergegenwärtigt, auf welch vielfältige Weise sich die Biographieforschung dem Erwachsenenalter genähert hat, muss selbst als empirisches Datum ernstgenommen werden. Das Bild der Zersplitterung besitzt insofern eine gewisse Aussagekraft, als es das konstitutive Phänomen des Gegenstandsbereiches widerspiegelt, dass das Erwachsenenalter in modernen Gesellschaften ja keineswegs einen homogenen Zeitabschnitt darstellt, sondern ein durch eine Vielzahl von Diskontinuitäten, Subphasen und Statuspassagen geprägter Zeitabschnitt von mehreren Jahrzehnten ist. Ein klares Schwergewicht der empirischen Forschung in bezug auf einzelne Lebensabschnitte im Erwachsenenleben ist von seiten der Biographieanalyse nicht feststellbar. Aus den unterschiedlichsten Gründen wird auf die Ausdifferenzierung von „Entwicklungsphasen“ oder „Entwicklungsstufen“, die auf die gesamte Biographie oder das Erwachsenenleben bezogen sind (wie sie insbesondere in der Psychologie des Erwachsenen lange diskutiert wurden), in der Biographieforschung verzichtet. Da die vorliegenden Phasentheorien aufgrund ihrer normativen Färbung nicht sonderlich erhellend erscheinen, wird bei der zeitlichen Binnendifferenzierung des Erwachsenenalters mit einem eher konventionellen, an alltagsweltlichen Einteilungen angelehnten Schema operiert. Ein Vorhaben, das die Systematik und die gesellschaftliche Prägung der sequentiellen Einteilung des Erwachsenenlebens sozialhistorisch und wissenssoziologisch untersucht und dabei auch die Präsuppositionen bisheriger wissenschaftlicher Kategorisierungsversuche analysiert, steht noch aus. Aus der Sicht der allgemeinen Erziehungswissenschaft wäre eine solche Forschungsperspektive dringend notwendig, schließlich basieren die Arbeitsteilung zwischen pädagogischen Institutionen und auch die sozialpolitischen Entscheidungen nur selten auf einer reflektierten Vermischung alltagsweltlicher Altersstereotypen und -bilder mit aus anderen Sinnwelten stammenden „Lebenslauftheorien“. Ohne sich auf kalendarische Altersangaben festlegen zu wollen, kann in einem eher heuristischen Sinne zwischen einem frühen, mittleren und späten Erwachsenenalter sowie einer Altersphase vorläufig unterschieden werden, wobei die Lebensmitte als Orientierungspunkt besonders wichtig zu sein scheint. Nahezu alle lebensweltlichen und wissenschaftlichen Einteilungsversuche konstatieren die Existenz einer Lebensmitte, wobei damit das ungefähre Alter zwischen 40 und 50 Jahren gemeint ist. Dieser Lebensabschnitt ist im Gegensatz zum späten Erwachsenenalter (vgl. Nittel 1989; Rosenmayr 1978; Kohli u.a. 1993) stark vernachlässigt worden, obwohl er insbesondere unter erwachsenenpädagogischen Gesichtspunkten ausgesprochen interessant ist, weil die offenen oder verdeckten Konfliktpotentiale in der Lebensmitte (midlife crisis) auf gesteigerte Lerndispositionen hindeuten. Die Lebensmitte wird, was das individuelle Zeitgefühl angeht, als eine Art Wasserscheide begriffen: Bis zu diesem Zeitpunkt herrscht bei den meisten Menschen die Grundhaltung vor, dass die Zukunft einen tendenziell unbegrenzten Raum an Optionen und Gestaltungsmöglichkeiten darstellt, während ab der Lebensmitte immer mehr die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Lebens in den Vordergrund tritt. Die Lebensmitte gilt gleichsam als die Phase, in der die „Einlagen“ an investierter Kraft und Energie auf ihre Erträge hin gemessen werden; gleichzeitig wächst die Einsicht in die Begrenztheit aller Dinge, was die Akzeptanz der Realität und Unvermeidbarkeit des eigenen Todes einschließt. Kohli markiert die Lebensmitte als eine zentrale biographische Übergangsphase: Diese zeichne sich durch das Kernproblem aus, dass die Gesellschaftsmitglieder die Diskrepanz zwischen Aspirationen und Realität, zwischen familiären, beruflichen und biographischen Erwartun-
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gen und dem faktischen Ist-Zustand zu bearbeiten haben. Hier werde ein Komplex an Differenzerfahrungen tangiert, die eng mit der Diskrepanz zwischen Gleichheitsnormen und faktischer Ungleichheit korrespondieren. Statistisch belegt ist, dass die meisten Menschen in der Lebensmitte ihre Eltern durch deren Ableben verlieren. Der Tod des letzten Elternteils kann, aber er muss nicht zu einer Krise führen. Diese soziale Verlusterfahrung hat ein „endgültiges Erwachsensein“ zur Folge, denn das Gesellschaftsmitglied hört definitiv auf, das Kind einer bestimmten Person zu sein. Mit dem Tod des zweiten Elternteils „verlieren die Abkömmlinge vollends die elterlichen ,Hüter ihrer Geschichte‘; sie hören auf, ,erwachsen‘ zu werden, werden ,sterblicher‘“ (Doehlemann 1987, S. 195). Da die Lebensmitte in der Regel mit Krisen und insbesondere bei Frauen auch mit körperlichen Veränderungen einhergeht, kann es sogar zu einer Art Revitalisierung der Adoleszenz kommen. Viele Gesellschaftsmitglieder fühlen sich in diesem Lebensabschnitt der Anforderung ausgesetzt, die Dimensionen der eigenen Identität neu zu vermessen, also zu klären, wer, wie und was man ist. Da in dieser Lebensphase eine gleichsam „natürliche“ Empfänglichkeit für Reflexion und Lernen besteht, wäre sie der ideale Zeitabschnitt, um eine zweite, durch institutionalisierte Weiterbildungsangebote flankierte Lernphase zu beginnen. Überlegungen in Richtung einer Neuverteilung des Verhältnisses von Ausbildungs-, Arbeits- und Freizeit im Lebenslauf tragen nur selten dem Tatbestand Rechnung, dass die Lebensmitte aus pädagogischer und entwicklungspsychologischer Sicht große Affinitäten aufweist, um Hilfe und Unterstützung bei einer denkbaren berufsbiographischen Umorientierung oder einer veränderten Familiensituation zu vermitteln. Die starke Präsenz von Frauen nach der Phase der Kindererziehung in den diversen Bildungseinrichtungen muss auf der Folie der hier dargelegten Problematik interpretiert werden. Ungeklärt ist, welche neuen Handlungsschemata in der Lebensmitte eher durch Lernen in Institutionen und welche auch durch außerinstitutionelles bzw. selbstorganisiertes Lernen realisierbar sind. Dass die staatlichen Instanzen sich außerordentlich reserviert gegenüber konkreten Umsetzungsschritten zeigen, das lebenslange Lernen zu institutionalisieren, hat nicht nur finanzielle, sondern möglicherweise auch tiefergehende strukturelle Gründe. Anders als in der schulischen und universitären Erstausbildung können bei der Wiederaufnahme der Bildungslaufbahn in der Lebensmitte jene TeilnehmerInnen, die an den Anforderungen scheitern und/oder ihre Aufstiegsintentionen nicht realisieren können, durch institutionalisierte Cooling-out-Prozesse – z.B. Vertröstungen auf ein besseres Später – kaum befriedigt werden. Das Potential an Unzufriedenheit, das mit enttäuschten Aufstiegsintentionen und anderen Frustrationen im Anschluss an die Frequentierung von Weiterbildungsangeboten in der Lebensmitte einherginge, würde gesellschaftliche Folgeprobleme aufwerfen, die unkalkulierbar sind und die Maxime des Wohlfahrtsstaates – Bildung schaffe Chancengleichheit – nachhaltig konterkarieren könnten. Mit der Schaffung zusätzlicher Bildungsofferten allein wären die hier nur angedeuteten Legitimationsprobleme mit Sicherheit nicht zu lösen. Die eben nur grob umrissene Fülle des von der Biographieforschung generierten Wissens über die Altersstufe des Erwachsenen hinterlässt nicht nur einen positiven Eindruck, sondern auch das Bild der Unübersichtlichkeit. Es entsteht der Bedarf nach einem systematisierenden Ansatz, um das breite, auf den ersten Blick ungeordnete Spektrum der Forschungsbefunde zu bündeln und zu reorganisieren. Auf Beck und Giddens zurückgehende Modernisierungsansätze scheinen für diese Zwecke des Kondensierens und Reinterpretierens besonders geeignet zu sein. Inwieweit die theoretische Position, die von der widersprüchlichen Einheit von Individualisierungs- bzw. Deinstitutionalisierungstendenzen einer-
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seits und Prozessen der Standardisierung des Lebenslaufs andererseits ausgeht, die zentralen Phänomene im Erwachsenenleben in der nachindustriellen Wissens- und Informationsgesellschaft auf einer der Biographieforschung gemäßen mittleren Abstraktionsstufe zu treffen vermag, bedarf der unvoreingenommenen und genauen Überprüfung.
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Das Signum des Erwachsenen-Daseins in der Moderne: Die Gleichzeitigkeit von gesteigerter Individualisierung unter den Bedingungen eines neuen Modus der Vergesellschaftung
Der Schlüsselbegriff „Altersstufe“, mit dem dieser Beitrag eingeleitet worden ist, leistet auch bei der Schließung des Argumentationsbogens gute Dienste. Die Vagheit der normativen Erwartungen, die dem Begriff der Altersstufe immanent sind, kann analytisch nur von Vorteil sein. Denn auf diese Weise wird die Kategorie der Altersstufe anschlussfähig an die widersprüchlichen und emergenten Entwicklungen in der Moderne. Der Flusscharakter von sozialer Realität, von dem heutige Identitätsformationen immer mehr infiziert zu werden scheinen, erfordert eine Abkehr von starren anthropologischen Vorstellungen über den Menschen, wie sie in der Pädagogik lange Zeit gang und gäbe waren. Statt von einem normativ überhöhten Menschenbild (vgl. Ballauf 1978; Beck 1992) auszugehen, legt die Verfasstheit der modernen Gesellschaft und damit die normative Kraft des Faktischen eine genuin diachrone, biographietheoretisch geschulte Perspektive zwingend nahe. In dem gleichen Maße, wie intermediäre Institutionen (Familie, Betrieb) als Instanzen der lebenslangen Sozialisation ihre frühere Prägekraft einbüßen, scheint ein verändertes, unmittelbar an das Subjekt adressiertes Vergesellschaftungsprogramm wirksam zu werden, das alle Altersstufen in seinen Bann gezogen hat (vgl. Mader 1995). Unter Rückgriff auf die Beckschen Vorschläge einer Zeitdiagnose (vgl. Beck 1983, 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994) lassen sich grundlegende Aussagen über den Erwachsenen aus der widersprüchlichen Einheit von Individualisierungs- und Standardisierungstendenzen in den Lebensläufen der Gesellschaftsmitglieder ableiten (vgl. Kohli 1978, 1985). Die Spannungen und Probleme für das einzelne Gesellschaftsmitglied wie für das Gemeinwesen, die aus dem gleichzeitigen Herauslösen der Subjekte aus angestammten Milieubindungen sowie der Aushöhlung traditioneller Lebensformen einerseits und der Zunahme von entscheidungsabhängigen Lebenssituationen andererseits erwachsen, sind keineswegs genuin neue Entdeckungen (vgl. Strzelewicz 1979). Schon mit dem Verweis auf Durkheim – „Niemand bestreitet heute mehr den verpflichtenden Charakter der Regel, die uns befiehlt, eine Person und immer mehr eine Person zu sein“ (Durkheim 1977, S. 445) – oder das auf Parsons zurückgehende Diktum vom „institutionalisierten Individualismus“ ist die lange Tradition der Individualisierungsthese in der Soziologie aufzeigbar. Die soziologische Tradition gegen die momentan diskutierten zeitdiagnostischen Ansätze auszuspielen wäre jedoch verfehlt. Im Ausgang dieses Jahrhunderts erfahren die aus der Gleichzeitigkeit von Individualisierungs- und Standardisierungstendenzen im Lebenslauf herrührenden Spannungen, Ambivalenzen und Paradoxien der Erwachsenenrolle eine Steigerung, die historisch ohne Beispiel zu sein scheint. Die quantitative Zunahme von Situationen im Erwachsenenalter, in denen an das Individuum die Erwartung gerichtet wird, biographisch folgenreiche Entscheidungen zu treffen, zwischen unterschiedlichen Optionen zu wählen, hat zu einem qualitativen Sprung – zu einer Enttraditionalisierung und zu einem Reflexiv-Werden dieser
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Phänomene – geführt: „We habe no choice but to choose“ (Giddens 1991, S. 81). Insbesondere die u.a. aus der Biographieforschung stammenden Erkenntnisse über Veränderungen des familiären Zusammenlebens sind geeignet, das historisch Neue der reflexiven Modernisierung zu verdeutlichen und auf die Entstehung neuer Formen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung hinzuweisen (vgl. Ecarius 1995; Corsten 1993; Wagner-Winterhagen 1988; Beck/Beck-Gernsheim 1994). (Beck hat einmal in einem methodischen Aperçu darauf hingewiesen, dass er die Impulse zur Entwicklung der Individualisierungsthese keineswegs aus großangelegten Umfrageforschungen oder Einstellungsmessungen, sondern durch die sensible Rezeption von Interviewmaterialien erhalten habe.) Die eben angedeuteten Friktionen und Reibungen zwischen Individualisierung und Standardisierung drücken sich u.a. in der widersprüchlichen Einheit von wachsenden Entscheidungsspielräumen und Handlungsoptionen auf der einen und neuen Zwängen und raffinierteren Formen der sozialen Kontrolle auf der anderen Seite aus. Generell ist zu sagen: Kennzeichnend für das Erwachsenen-Dasein bis in die späten sechziger Jahre ist die soziale Erwartungserwartung (Luhmann) der Stabilität, Konsistenz und Festigkeit. Diese Basisidealisierungen scheinen aufgrund der allseitigen Beschleunigung des sozio-kulturellen Lebens und der Durchsetzung einer generalisierten Lernbereitschaft sukzessive von neuen Erwartungserwartungen (Flexibilität und Wandlungsfähigkeit) ersetzt zu werden. Eine verbindliche Minimalausstattung, die ein erwachsenes Gesellschaftsmitglied benötigt, um an der universalisierten Bürgergesellschaft zu partizipieren, ist heute keineswegs konsensfähig, sondern Gegenstand fortlaufender Aushandlungsprozesse: Wer vermag heute noch zu definieren, was zu den allgemeinen Kulturtechniken und zum Allgemeinwissen gehört, um „selbständig existieren“ zu können? Welche Instanz ist in der Lage, das für eine spezialisierte Berufsausbildung notwendige Fach- und Expertenwissen und die für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens notwendige Normenreflexion einigermaßen präzise zu bestimmen? Die Normalbiographie des Erwachsenen avanciert wenn nicht zu einer spektakulären Wahlbiographie oder zu einer Bastelbiographie, so aber doch zu einer Risikobiographie (vgl. Kade 1997). Insbesondere die Beteiligung an Bildungsveranstaltungen hat bei Erwachsenen immer weniger vergangenheitsorientierte Funktionen, wie die der Kompensation, sondern dient eher der prophylaktischen Bearbeitung potentieller Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit). Erwachsen-Sein heißt heute, nicht nur für die unmittelbaren Folgen des eigenen Handelns geradezustehen, sondern auch die nichtantizipierbaren Handlungsfolgen eigenen Handelns zumindest zu bedenken und das damit verbundene Risikopotential abzuwägen. Die von der Kultur- und Konsumgüterindustrie bereitgestellten und durch Selbstinszenierungspraktiken unterfütterten Präsentationsfassaden, das „Identitätsmanagement“, auf die Gesellschaftsmitglieder heute im Arbeits- und Freizeitleben angewiesen sind, vermitteln nur eine trügerische Sicherheit, um die Risiken und Gefahren in der biographischen Lebensführung zu kontrollieren: „Der falsche Beruf oder die falsche Branche, dazu die privaten Unglücksspiralen von Scheidung, Krankheit, Wohnungsverlust – Pech gehabt!“ (Beck/BeckGernsheim 1994, S. 13). Beschränkte sich biographische Arbeit als eine spezifische Form einer von allen Gesellschaftsmitgliedern vollzogenen Selbst- und Fremdthematisierung in früheren Zeiten noch auf die Bearbeitung von kritischen Lebensereignissen oder den Umgang mit problematischen Erfahrungen und/oder Statuspassagen, so wird sie heute fast schon zu einer Dauertätigkeit der alltäglichen Lebenspraxis. Die in den sechziger Jahren von einem bekannten Sozialphilosophen provokativ gestellte Frage: „Ist Dauerreflexion möglich?“ kann heute mit dem Hinweis: „Ja – aber sie ist auch notwendig“ beantwortet
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werden. Um sich des eigenen Ichs als verlässliches Handlungszentrum in einer unzuverlässigen Welt gewiss zu sein, muss der Erwachsene spezifische Formen der Aneignung der eigenen Lebensgeschichte entwickeln. Das Subjekt ist dem durch gesellschaftliche Erwartungen produzierten Druck, sich als Individuum zu präsentieren, nur gewachsen, wenn es dem Schritt der kritischen Aneignung der eigenen Lebensgeschichte nicht ausweicht – ein Prozess, der untrennbar mit einer Art „Bürgschaft“, einer Kontinuitätsverpflichtung gegenüber dem „generalisierten anderen“ (Mead) verbunden ist, auch im Wechsel der äußeren Verhältnisse und inneren Zustände als der aufzutreten, der mit sich selbst identisch ist. Das dabei zu mobilisierende Negationspotential resultiert daraus, dass es nicht nur um die Beantwortung der Frage geht, wer man (früher) war und (heute) ist, sondern auch, wer man (morgen) sein möchte, wodurch eine naturwüchsige Spannung zwischen personaler Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Autonomiebestrebungen und heteronomen Bedingungen konstituiert wäre. Doch die zwischen reiner Heteronomie und reiner Autonomie liegenden lebenspraktischen Lösungen sind kostbar und selten. Als „erwachsen“ ist z.B derjenige (diejenige) zu bezeichnen, der (die) in biographischen Krisensituationen über soviel innere Autonomie verfügt, dass er (sie) zur Sicherung des eigenen Selbstbildes nicht gänzlich auf den „Spiegel“ der anderen angewiesen ist, ohne mit den sozialen Netzwerken der eigenen Mit- und Umwelt zu brechen. Dass ein solcher kritischer Aneignungsprozess keineswegs frei von moralischen Implikationen ist, hat Habermas herausgearbeitet. Er koppelt die Lebensgeschichte als „Prinzip der Individuierung“ daran, „daß sie durch einen Akt der Selbstwahl in eine selbstverantwortete Existenzform überführt wird. Dieser extraordinäre Entschluß zur Selbstsetzung ... resultiert aus dem Anspruch des Einzelnen, im ethischen Leben mit sich identisch zu sein“ (Habermas 1988, S. 203). In dieser mit ethischen Implikationen verbundenen Selbstvergewisserung ist von vornherein ein über die Singularität hinausschießender Bedeutungsgehalt enthalten. Denn mit der Selbstdefinition des erwachsenen Gesellschaftsmitgliedes, eine zurechnungsfähige Person zu sein, ist immer auch der performative Anspruch verbunden, dass freie Stellungnahmen der anderen die vorgenommene Selbstdefinition ratifizieren. Nichts wäre also falscher, als die Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft als eindeutigen Ausdruck von „menschlicher Vereinzelung“, „Verlust von Solidarität unter Erwachsenen“, als „Symptom sozialer Kälte“ usw. zu interpretieren. Von Erwachsenen wird heute ein Surplus an spezifischen Eigenleistungen erwartet, denen – anders als manche zynischen Vertreter der Modernisierungstheorie meinen – eine bestimmte Moralität innewohnt. Was Erwachsene heute leisten müssen, „ist jene Art von moralischer und existentieller Selbstreflexion, die nicht möglich ist, ohne dass der eine die Perspektiven der anderen übernimmt. Nur so kann sich auch eine neue Art der sozialen Einbindung der individualisierten einzelnen herstellen. Die Beteiligten müssen die sozial-integrierten Lebensformen selber erzeugen, indem sie einander als autonom handlungsfähige Subjekte und überdies als Subjekte, die für die Kontinuität ihrer verantwortlich übernommenen Lebensgeschichte einstehen, anerkennen“ (Habermas 1988, S. 240). In diesen Zusammenhang gehört auch die nicht unstrittige Position, dass die individuelle und gesellschaftliche Handlungsmaxime der Generativität auch unter den Bedingungen der Individualisierung eine hohe Priorität besitzt (vgl. Nittel 2003b). Auf den hier angedeuteten Bedarf an neuen Formen der Moralität in der reflexiven Moderne hat die Biographieforschung u.a. in der Weise reagiert, dass vereinzelt nach für die Moderne spezifischen Kompetenzen bei Erwachsenen gefragt wurde. Unter Rekurs auf eigene empirische Arbeiten und mit Blick auf die Individualisierungstendenzen in modernen
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Gesellschaften hat Alheit eine für heutige Erwachsene grundlegende Kompetenz, nämlich die der Biographizität, beschrieben (vgl. Alheit 1990, 1994). Darunter wird die Befähigung verstanden, „moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren“ (Alheit 1990, S. 66). Hierbei handelt es sich keineswegs um eine triviale Kompetenz, sondern – wie man an Fallbeispielen sehen kann (vgl. Alheit 1993) – um eine elaborierte Disposition der Kombinations- und Rekombinationsbefähigung, die über die kognitive Dimension weit hinausgeht, da sie nur im praktischen Handeln zur Geltung kommt und die Vereinzelung der singulären Akteure durch neue Formen der Assoziation überwinden hilft. Es spricht einiges dafür, dass die in der neuzeitlichen Erwachsenenidentität per se eingebauten Paradoxien, so zu sein wie alle anderen (soziale Identität) und so zu sein wie kein anderer (persönliche Identität) (vgl. Habermas 1973) oder sich in andere durch den Akt der Rollenübernahme einzufühlen und gleichzeitig Distanz zu wahren, unter den Bedingungen der Informations- und Wissensgesellschaft sich zu multiplen Paradoxien in der Erwachsenenrolle steigern werden. So gibt es schon jetzt eine unversöhnliche Konkurrenz zwischen der Verpflichtung zu eigenverantwortlichem Handeln bzw. der Basisidealisierung der Zurechenbarkeit des Handelns und der unaufhaltsamen Tendenz in den Alltagstheorien der Gesellschaftsmitglieder, dass die Aktivitäten des einzelnen von den Sachzwängen des Systems, den Imperativen großer Institutionen prozessiert bzw. „fremdgesteuert“ werden. Im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften, in denen das Erwachsensein eine zugewiesene und hingenommene Lebensfigur war, ist diese heute unter dem Eindruck einer Verwissenschaftlichung zu erwerben und zu konstruieren; erwachsene Männer und Frauen fühlen sich heute dem Zugzwang ausgesetzt, das eigene Erwachsensein neu erfinden zu müssen, wobei die momentane Lebenspraxis den Charakter von Hypothesen hat, die es entweder zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt. Vermutlich wird im Zuge dieser Umdefinition und/oder Neuerfindung des Erwachsenen die Sozialitätsform der organisierten und der selbstgesteuerten „Bildung“ eine strategisch noch wichtigere Rolle spielen, dann etwa, wenn die Betroffenen mit den Zumutungen und Herausforderungen der sich formierenden Wissensgesellschaft zurechtzukommen oder unter dem Eindruck einschneidender Veränderungen ihr Selbst- und Weltverhältnis neu auszuloten versuchen. Einzelne Vertreter der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Zeitdiagnose vertreten die Auffassung, dass die traditionellen kulturellen, ökonomischen und sozialen Mechanismen, um erwachsene Personen gesellschaftlich zu integrieren, entweder verbraucht oder nicht geschmeidig genug sind. Deshalb sollten das einzelne Gesellschaftsmitglied und die Gesellschaft als ganze im Modus der Bildung bzw. des „Experiments ihrer Selbstdeutung, Selbstbeobachtung, Selbstöffnung, Selbstfindung, ja Selbsterfindung“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, S. 36) versuchen, ihre Zukunftsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Inwieweit der exorbitante Beitrag, welcher implizit der Bildung in diesen Bestrebungen der Zukunftssicherung als einem der eingeführtesten selbstreflexiven Mechanismen zugeschrieben wird, realistisch ist, bleibt ein wichtiges Thema der pädagogischen Reflexion.
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Biographieforschung und Altersforschung Cornelia Schweppe
Inhalt 1. Alter als verallgemeinerte Lebensphase – Über die Schwierigkeiten ihrer Bestimmung 2. Biographieforschung und Altersforschung – Über die Gründe einer kaum etablierten Forschungstradition 3. Altersforschung und Biographieforschung – Überblick über erste Forschungsbemühungen 4. Alter und Biographie – Biographieforschung als Perspektivenwechsel in der Altersforschung Literatur
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1.
Cornelia Schweppe
Alter als verallgemeinerte Lebensphase – Über die Schwierigkeiten ihrer Bestimmung
Eine erste Schwierigkeit, die sich bei der Diskussion des Gegenstandes ,Alter(n)sforschung und Biographieforschung‘ ergibt, ist die Frage, welcher Lebensabschnitt eigentlich zu dieser Lebensphase gehört. Dass sich Alter zu einer eigenständigen und verallgemeinerten Lebensphase entwickelt hat, ist ein relativ neues Phänomen, das an die Entwicklung moderner Gesellschaften gekoppelt ist. Die Altersphase im Lebenslauf ist nicht „eine Kodifizierung des natürlichen Rhythmus des Lebens“ (Kohli 1992, S. 234), sondern sie ist ein soziales Konstrukt der Moderne, das allerdings – so könnte ein verkürztes Verständnis des Konstruktivismus nahelegen – nicht ohne größere Probleme wieder rückgängig gemacht werden kann, da die Altersgliederung und die Herausbildung der Altersphase eng an andere Dimensionen der Gesellschaftsstruktur gekoppelt sind, die nicht einfach verändert werden können (vgl. ebd.). In vormodernen Gesellschaften, in denen das kalendarische Lebensalter bei der Ordnung des Lebens kaum eine Rolle spielte, wurde Altern als biologischer Prozess verstanden. Erst mit dem Wandel von relativ altersirrelevanten Lebensformen zu solchen, in denen das chronologische Alter zu den zentralen Strukturprinzipien gehört, entwickelt sich die Altersphase zu einer durch das chronologische Alter von anderen Lebensabschnitten abgegrenzten Lebensphase. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs (vgl. Kohli 1985) und die damit einhergehende Einführung von Pensions- bzw. Rentensystemen spielt bei der Herausbildung der Altersphase eine zentrale Rolle. Die Einführung von starren Berechtigungsaltern, durch die das kalendarische Alter die entscheidende Größe wird, die zum Erhalt einer Pension bzw. Rente zugrunde gelegt wird, kann als „Wendepunkt“ (Borscheid 1992, S. 58) zur Konstituierung des modernen Ruhestandes bewertet werden. Mit der Kopplung der Pensions- bzw. Rentenzahlungen an ein bestimmtes Alter gilt jemand als alt, der/die ein bestimmtes Alter erreicht hat. Das Ruhestandsalter gilt als Eintritt in die Altersphase1. Alter wird von der individuellen Biologie getrennt und ist nicht mehr an die individuelle Leistungsfähigkeit gebunden. Mit der Einführung von Renten- und Pensionssystemen wird neben der Einführung eines festgelegten Alters als Beginn der Altersphase ein zweites Element eingeführt, das untrennbar mit der Altersphase verbunden ist, nämlich die Entpflichtung des Alters von Erwerbsarbeit. Die so konstituierte Altersphase ist damit eine „chronologisch definierte, arbeitsfreie und sozialpolitisch abgesicherte Lebensphase“ (Conrad 1984, 12). Einer wesentlichen Bedeutung zur Herausbildung einer verallgemeinerten und eigenständigen Altersphase kommen auch den demographischen Veränderungen und der damit in Zusammenhang stehenden Verlängerung der Lebensdauer zu. In seiner Analyse der demographischen Veränderungen der letzten 300 Jahre spricht Imhof (1981) in diesem Zusammenhang von den ,gewonnen Jahren‘. Bis zur Jahrhundertwende war das höhere Alter marginal. Erst durch die Verlängerung der Lebenszeit wurde es möglich, dass ein wachsender Bevölkerungsteil das festgesetzte Ruhestandsalter überhaupt erreicht und ein Leben nach der Erwerbsarbeit erleben kann (vgl. Kohli 1992). Eine am Eintritt in den Ruhestand definierte Altersphase war jedoch schon immer problematisch. Eine solche Definition orientiert sich stark an männlichen Erwerbsbiographien und wird aufgrund der Umschichtungen in der Arbeitswelt immer brüchiger. Menschen scheiden immer früher aus dem Erwerbsleben aus, sei es freiwillig oder unfreiwillig durch die Einführung flexibler Arbeitssgrenzen, die Absenkung des durchschnittlichen Alters des
Biographieforschung und Altersforschung
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erstmaligen Bezuges von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, die Einführung und den Ausbau betrieblicher Instrumentarien zur Lösung von Personalproblemen (z.B. Tarifrenten, Sozialpläne), die Zunahme von Langzeitarbeitslosen jenseits des 45. oder 50. Lebensjahres, die keine Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz haben (vgl. Dieck u.a. 1988, S. 70) oder durch die wirtschaftlichen Umstellungen in den neuen Bundesländern, durch die ArbeitnehmerInnen bereits vom 50. Lebensjahr an massenhaft vom vorzeitigen Ausscheiden aus dem Berufsleben betroffen sind (vgl. Knopf 1996; Schwitzer 1993). Die zunehmend in frühere Jahre des Lebenslaufs verlagerte Entpflichtung aus dem Arbeitsleben bedingt einen am Ausscheiden aus dem Erwerbsleben definierten Beginn der Altersphase bereits im mittleren Erwachsenenalter. Die Altersphase würde so bereits nicht selten mit 45. oder 50. Lebensjahr beginnen und den Selbsteinschätzungen über Altsein und Altwerden bei weitem nicht mehr entsprechen. Während die so definierte Altersphase einen immer früheren Beginn hat, wird sie durch die Konzentration des Todes in ein zunehmend höheres Lebensalter immer später beendet. Die Vorverlegung des Beginns und die spätere Beendigung haben dazu geführt, dass die Altersphase mittlerweile die Gruppe der 45/50- bis 100-jährigen umfasst (vgl. Dieck u.a. 1988) und damit eine mit anderen Lebensphasen bei weitem nicht zu vergleichende Lebensspanne umschließt. Der Historiker Laslett schlägt deshalb vor, von einem sozial definierten ,dritten Alter‘ als eigentlich kollektive Altersphase und einem biologisch definierten ,vierten Alter‘ auszugehen, welche die Phase des physischen und psychischen Verfalls bezeichnet (vgl. Laslett 1995, auch Mayer/Baltes 1996). Allerdings läuft dies Gefahr, der Ausgrenzung des ,abhängigen Alters‘ weiter Vorschub zu leisten (vgl. Zeman 1997). Eine Bestimmung, welchen Zeitabschnitt die Altersphase im Lebenslauf umfasst, ist schwer geworden. Während das Ende durch Tod biologisch festgelegt ist, ist ihr Beginn ungewiss. Zeman (1997) ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass aufgrund des lebenslangen, auf vielen unterschiedlichen Ebenen und intra- und interindividuelle differenziert verlaufenden Prozesses des Alterns, in dem die subjektiven und objektiven Wahrnehmungen häufig asynchron gegenüber stehen, exakte Altersgrenzen nur normativ gesetzt werden können. Zusätzlich ist zu fragen, ob es überhaupt noch spezifische Kennzeichen der Altersphase gibt, die sie von anderen Phasen des Lebenslaufs unterscheidet. Löst sich Alter möglicherweise aufgrund der Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen (vgl. Karl 1991a; Tokarski 1993; Voges/Pongratz 1988) auch in dieser Lebensphase und der Verflüssigung von ehemals mit einzelnen Altersphasen verbundenden und sie leitenden Altersnormen auf, so wie es der Diskurs über die alterslose Gesellschaft (vgl. z.B. Neugarten 1981; Young/Schuller 1991; Zeman 1996) will?1
2.
Biographieforschung und Altersforschung – Über die Gründe einer kaum etablierten Forschungstradition
Eine zweite Schwierigkeit des Gegenstandes ,erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und Alter(n)sforschung‘ ergibt sich aus der brüchigen Allianz von Alter und der Erziehungswissenschaft. Die Erziehungswissenschaft postuliert zwar angesichts ihrer sich deutlich konturierenden Ausdifferenzierungsprozesse hin zu einer professionellen Lebensbegleitung und zur Wissenschaft des Lebenslaufs (vgl. Lenzen 1997) die Öffnung zur gesamten Lebensspanne und impliziert die Erkenntnis, dass sie sich angesichts der durch Mo-
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Cornelia Schweppe
dernisierungsprozesse brüchig werdenden Lebensentwürfe und Lebenswelten pädagogische Unterstützung nicht mehr auf spezifische Zielgruppen oder auf die historisch mit dieser Disziplin verbundenen Lebensphasen der Kindheit und Jugend (und eventuell noch des Erwachsenenalters) beschränken kann, sondern auch die Lebenssphase des Alters einschließt. Realiter ist die Öffnung hin zur Alterphase jedoch wenig systematisch, sondern eher rudimentär und zufällig. Eine Berücksichtigung des Alters findet am ehesten noch in der Erwachsenenbildung statt, die über die Orientierungsfigur des ,lebenlangen Lernens’ die Altersphase durch Maßnahmen der Altenbildung inkluiert. In der Sozialpädagogik dagegen, der zwar auch immer wieder bescheinigt wird, dass ihr Vorhandensein und ihre Inanspruchnahme mittlerweile „auf allen Ebenen und in nahezu jeder Hinsicht zur Normalität geworden ist“ (Lüders/Winkler 1992, 364), kann man sich zum Teil des Eindruck einer systematischen Exklusion der Altersphase nicht erwehren. Fragen des Alters haben in der allgemeinen sozialpädagogischen Theorieentwicklung bisher wenig Platz gefunden (Ausnahmen bilden Böhnisch 1996; Mennemann 2005; Schweppe 1999, 2005a; Winkler 2005). Als sozialpädagogisches Arbeitsfeld hat die soziale Arbeit mit alten Menschen nicht annähernd eine Identität und ein fachliches Selbstverständnis entwickelt wie bspw. die Arbeit in vielen Feldern der Jugendhilfe (vgl. Otto/Schweppe 1996; Schweppe 2005b). Dass die Erziehungswissenschaft angesichts dieser Entwicklung kaum eine eigenständige Forschungspraxis zum Themenkomplex ,Alter‘ aufweisen kann, geschweige denn auf eigene biographierorientierte Forschungstraditionen zurückgreifen kann, überrascht dann kaum noch. Wirft man einen Blick auf die soziale Gerontologie, d.h. auf jenen Wissenschaftszweig, der sich eigens der Altersphase zuwendet und in der die Erziehungswissenschaft bislang ebensowenig einen nennenswerten Raum eingenommen hat, wird man hinsichtlich des hier diskutierten Gegenstandes kaum fündiger. Die mangelnde Verankerung der Biographieforschung erklärt sich sowohl aus ihrer bisherigen Forschungspraxis als auch ihrer Theorieentwicklung. In der Forschungspraxis der sozialen Gerontologie lässt sich ein eindeutiges Übergewicht quantitativ angelegter Untersuchungen erkennen. Das wiedererwachte Interesse an der qualitativen Sozialforschung seit den siebziger Jahren ging zwar nicht ganz unbeachtet an der sozialen Gerontologie vorbei, wobei sich dieser Trend allerdings sehr viel deutlicher in den USA als in Deutschland abzeichnet.2 Trotz dieser Öffnung hat die qualitative Forschung in der sozialen Gerontologie ihre marginale Stellung beibehalten. Ihre Forschungspraxis orientiert sich immer noch an quantifizierbaren und messbaren Fragestellungen und steht im Dienste der Hypothensenüberprüfung. Qualitative Forschungsverfahren kommen Bedeutung in Vorstudien zu und dienen z.T. der Hypothesengewinnung von anschließend weitergehenden quantitativen Studien. Im wesentlichen ergänzen und bereiten sie Datenerhebungen quantitativer Untersuchungen vor (vgl. Kaiser 1995). Auch in der bisherigen Theorieentwicklung zu Alter und Alternsprozessen lassen sich Erklärungen für die mangelnde Hinwendung zu qualitativen Forschungsverfahren finden. Nachdem die Sozial- und Humanwissenschaften den menschlichen Lebenslauf als einen Untersuchungsgegenstand und das chronologische Alter als sozial relevante Kategorie entdeckt hatten, war es zunächst die Medizin, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Definition von Alter prägte (vgl. Ehmer 1990). Im Gegensatz zu dem bis dahin gültigen Verständnis von Alter als biologischer Prozess, in dem Altersschwäche eine natürliche Begleiterscheinung der zweiten Lebenshälfte und Alter als naturgesetzlich hingenommen worden war, erklärte die Medizin Alter von nun an als Krankheit und Funktionsstörung (vgl. Borscheid 1992). Die 1854 von dem Franzosen Maxime Durand-Fardel verfasste Publikati-
Biographieforschung und Altersforschung
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on „Traité clinique et pratique des maladies des vieillards“ avancierte zum Standardwerk und ermöglichte den Durchbruch der medizinischen Definition von Alter. So unterschiedlich die einzelnen medizinischen Theorien auch waren, sie hatten gemeinsam, Alter als Degeneration, pathologischen Zustand, Arbeitsunfähigkeit und der Rückbildung körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit zu verstehen (vgl. Borscheid 1992). Auch die Psychologie forcierte zunächst dieses Verständnis. Es ist der Psychogerontologie zu verdanken, dieses auch heute im Alltagsbewusstsein immer noch verankerte Defizitmodell des Alters zu überwinden. Ihre Ergebnisse sind in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen hat sie durch eine Fülle von empirischen Belegen deutlich machen könnn, dass eine erhebliche interindividuelle Variabilität in bezug auf psychologische, biologische und soziale Aspekte des Alters besteht (vgl. Lehr/Thomae 1987; Maddox 1987; Nelson/Dennefer 1992, Shock u.a. 1984, Mayer/Baltes 1996). Sie konnte belegen, dass Alter nicht mit einem automatischen Abbauprozess geistiger und physischer Kräfte einhergeht und Alter höchstens eine Variable der vielen Determinanten von geistiger und physischer Leistungsfähigkeit im Alter ist. Das geistige Leistungspotential kann bis ins siebte, achte oder neunte Lebensjahrzehnt erhalten bleiben bzw. gar gesteigert werden. Ähnliches gilt für den Gesundheitsbereich. Die gängige Gleichsetzung von Alter mit Krankheit muss korrigiert werden. Dies gilt sowohl für den physischen als auch psychischen Bereich. Zum anderen und für den hier diskutierten Zusammenhang vielleicht noch entscheidender wurde deutlich, dass Alter nicht unabhängig von der Lebensgeschichte, sondern als ein biographisch verankerter Prozess verstanden werden muss (vgl. Kruse 1989). Obwohl bereits in den Arbeiten von Charlotte Bühler (1933) Hinweise auf die Bedeutung lebenslanger Entwicklung zu finden sind, ist es vor allem die differentielle Gerontologie, die dem Verständnis von Alter als lebenslangem Prozess zum Durchbruch verhalf. Alter ist ein biographischer Entwicklungsprozess, der nicht ohne seine Vorgeschichte nachvollzogen werden kann, aber auch mit eigenen Entwicklungspotentialen verbunden ist. Die so in den Vordergrund gerückte Kategorie der Biographie fand zunehmend Berücksichtigung in der gerontologischen Forschung. Biographie wird gar als Methode der Altenforschung deklariert (Lehr 1990). Allerdings bleibt diese Forschungsrichtung bei entwicklungspsychologischen Fragestellungen stehen, die fast ausschließlich im Hilfe quantitativer Methoden durchgeführt werden. Nittel ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Die Lebensverläufe und die lebensgeschichtlichen Prozessse älterer Menschen sind in der Alternsforschung bislang relativ einseitig, nämlich vorwiegend unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten untersucht worden. Biographie hat dabei weniger den Rang eines eigenständigen Forschungsthemas eingenommen, den es mit gegenstandsadäquaten Methoden zu verstehen und zu rekonstruieren gilt, als vielmehr den Status einer Variablen unter anderen. Ein ursprünglich prozessualer Phänomenbereich ist unter Zuhilfenahme entsprechender Auswertungsverfahren vielfach stillschweigend zu einem verteilungstheoretisch zu analysierenden Objektbereich umdefiniert worden“ (Nittel 1989, 66).
Die bisherige Theorieentwicklung zu Fragen des Alters hat es weitgehend versäumt, Alter im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und den paradoxen Anforderungen einer Lebensführung innerhalb einer reflexiven Moderne zu thematisieren. Eine solche Theoriebildung würde der Kategorie ,Biographie‘ nicht nur wie bisher eine entwicklungspsychologische Bedeutung zukommen lassen, sondern sie ins Zentrum der Lebensbewältigung und Lebensgestaltung im Alter rücken (vgl. Punkt 4) sowie die Verankerung der Biographieforschung innerhalb der Alter(n)sforschung nahelegen und sie zur Erfassung von Alternsprozessen in den Vordergrund rücken.3
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3.
Cornelia Schweppe
Altersforschung und Biographieforschung – Überblick über erste Forschungsbemühungen
Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es wenig, dass bisher nur sehr vereinzelt biographisch angelegte Studien vorliegen, die kaum in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können. Ob die Sammelbände von Mader (1995a) und Birren u.a. (1996), in denen zentrale Ergebnisse der bisherigen Biographieforschung zu Fragen des Alters gebündelt publiziert wurden, als Wendepunkt einer neuen Forschungstradition in der Alter(n)sforschung bewertet werden können, wird sich erst in der Zukunft erweisen. Bei der bisherigen biographisch angelegten Alter(n)sforschung lassen sich zwei grobe Forschungsrichtungen unterscheiden: eine zielt auf die Erfassung von Prozessen des Altwerdens und auf die Lebenssituation im Alter, die andere wendet sich den Maßnahmen der sozialen Altenhilfe und Altenbildung zu. Biographisch angelegte Studien zu Fragen des Altwerdens und Altseins So unterschiedlich akzentuiert die vereinzelt durchgeführten Studien zu diesem Themenkomplex auch sein mögen, so zielen ihre Ergebnisse dennoch in die gleiche Richtung: „Die heimliche Stoßrichtung (...) ist, gegen schnelle Stereotypen der heute Alternden die reichhaltige und komplexe Vielfalt zu setzen, mit der alte Menschen schon heute ihr Leben gestalten, einrichten und bewerten. Fast könnte man sagen, dass sich in den Lebenslagen alter Menschen (...) schon längst eine innere und äußere ,Multikulturalitä‘ – möglicherweise unbegriffen – entwickelt hat. (...) Kaum noch vergleichbare ökonomische Lebenslagen mit ganz eigenen Zeichen- und Deutungssystemen (Sprachen) und Partizipationswirklichkeiten stehen wie verschiedene Kulturen im Leben alter Menschen nebeneinander. Und gerade in dieser Verschiedenheit der Alternden findet jeder einzelne die ihm mögliche und notwendige einmalige Kontinuität in Gestalt einer mitalternden Biographie“ (Mader 1995b, S. 9). In einer umfangreichen finnischen Altersstudie wird Alter und Altern lebensgeschichtlich rekonstruiert und eine Typologie von Lebensweisen im Alter entwickelt (vgl. Öberg/ Ruth 1995, Ruth/Öberg 1996). Die AutorInnen ordnen die Lebensweisen des ,bitteren Leben‘ und des ,Lebens als Fallgrube‘ problematischen bzw. dysfunktionalen Alternsprozessen zu. Beide Typen zeichnen sich durch die mangelnde Einflussnahme auf das eigene Leben, einen schlechten Gesundheitszustand und Depressionen aus. Den Typen ,Leben als Hürdenlauf‘, das ,Leben als stumme Hingabe‘, das ,Leben als Berufsausübung‘ und das ,süße Leben‘ werden dem erfolgreichen Alter zugeordnet. Das in der sozialen Gerontologie bekannte Ergebnis, dass Altern nicht losgelöst vom restlichen Lebensverlauf verstanden werden kann, wird hier in einem der wenigen Versuchen aus lebensgeschichtlicher Sicht unterlegt. Biographie und lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtungen werden zu zentralen Kategorien, um Altern in seiner Prozesshaftigkeit zu rekonstruieren: „Altern“ muss als integrierter Teil eines gelebten Lebens verstanden werden, in dem das Alter die Sinngebung mit Bezug auf das gesamte Leben erhält“ (168). In einer ähnlichen, mit Hilfe der Methode der ,guided autobiography‘ (vgl. Birren/Birren 1996) durchgeführten Studie in Südkalifornien wurde nach den zentralen Lebensthemen (,core themes‘) und deren Bedeutung für das Leben im Alter gefragt (Ruth u.a. 1996). Die in dieser Studie entwickelte Typologie umfasst folgende Typen: ,living is achieving‘, ,living is being social‘, ,living is loving‘, ,living is familiy life‘ und ,living is struggling‘. Im Ge-
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gensatz zur o.g. finnischen Studie werden in einem Vergleich der Typen untereinander deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede sichtbar. Während die Typen ,living is loving‘ and ,living is family life‘ im Wesentlichen bei Frauen vertreten sind, korrespondieren die Typen ,living is achieving‘ und ,living is being social‘ mit männlichen Lebensverläufen. Die AutorInnen machen deutlich, dass in diesen geschlechtsspezifischen Differenzen auch generationenbezogene Lebenslagen zum Ausdruck gebracht werden. Traditionelle geschlechtsspezifische Lebensentwürfe, die prägend für die untersuchten Altenpopulation waren, schlagen hier zu Buche. Auf die Bedeutung der Generationenlagen für das Erleben im Alter macht auch die von Heikkinen (1995) ebenso in Finnland durchgeführte Studie deutlich. Neben der individuellen Formung des Lebens arbeitet sie das Konzept der ,kollektiven Subjektivität‘ heraus und meint damit die geteilte Wahrnehmung der Welt bei Menschen, die dieselbe historische Zeit durchlebten. Mit Fragen des Alterns im ländlichen Raum beschäftigen sich drei weitere Studien im deutschsprachigen Raum. Sie verdeutlichen, dass Altwerden auf dem Land nicht losgelöst von den spezifischen Sozialwelten des ländlichen Raums und den damit verbundenen Deuungs- und Handlungsmustern betrachtet werden kann. Die Untersuchung von Langen/ Schlichting (1990), die im Rahmen eines Praxisprojektes zum Aufbau eines Laienhelfersystems für alte Menschen im ländlichen Raum durchgeführt wurde, macht dies besonders anhand familialer Generationenbeziehungen und Pflegemuster deutlich. Die Autorinnen beschreiben den ländlichen Sozialisationshintergrund insbesondere des älteren Teils der Altenpopulation durch das Eingebundensein in die Mehrgenerationenfamilie als Produktionsund Reproduktionsgemeinschaft, in Kirche und Arbeit, das die individuelle Gestaltung der Lebensführung kaum zuließ. Die mit diesen Einbindungen verbundenen Orientierungen haben für sie bis heute Gültigkeit und leiten die Lebensführung auch im Alter. So berufen sich alte Menschen z.T. auf ihr selbstverständliches Eingebundensein in die Mehrgenerationenfamilie und die Übernahme von Aufgaben, die traditionell alten Menschen zugeordnet waren, was erhebliche Generationskonflikte zur Folge haben kann, wenn dieses Verständnis auf eine jüngere Generation trifft, die Unabhängigkeit von der Altengeneration für sich einklagt. Erhebliche Generationenkonflikte rekonstruiert auch Kundrun (1989) in ihrer volkskundlichen Studie über das Altern in Mehrgenerationenfamilien im ländlichen Raum. Im Hinblick auf Pflegeleistungen stellen Langen/Schlichting (1990) fest, dass diese durch den Rückgriff auf traditionelle Hilfe- und Pflegemuster geprägt sind und fast alternativlos im Rahmen der Familie geleistet werden. Familiale Pflege scheint als etwas Unveränderliches, das keine Alternativen zulässt. Das „kollektive Gewissen im Dorf“ (S. 72) und seine ausgeprägte soziale Kontrolle sorgt seinerseits dafür, dass familiale Pflege als einzige akzeptable Hilfeform gilt. Die mit familialer Pflege einhergehenden erheblichen Belastungen und Einschränkungen werden von Pflegenden ebensowenig wie Wünsche nach Unterstützungsmöglichkeiten thematisiert, da dies als persönliches Versagen und persönliche Unzulänglichkeit erlebt wird. Die von Schweppe (2005) biographisch angelegte Studie zu Altern im ländlichen Raum macht jedoch auf die Notwendigkeit der Differenzierung aufmerksam. Obwohl auch in dieser Studie solche Lebensformen vorgefunden wurden, verweist sie auf die Pluralisierung der Altenbevölkerung. Zur Erfassung der Lebenssituation im Alter im ländlichen Raum konnten vor allem zwei Dimensionen herausgearbeitet werden. Die erste Dimension bezieht sich auf das Verhältnis von Individuum und dörflicher Sozialwelt und die Frage nach der Übernahme der durch die dörflichen Lebenszusammenhänge vorgegebenen Lebenswege als eigenen
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biographischen Entwurf. Die zweite Dimension betrifft die Frage der Bewältigung bzw. Bearbeitung des im Laufe des Lebens sich wandelnden dörflichen Lebensrahmens, der insbesondere Freisetzungsprozesse aus vorgezeichneten Lebenswegen und der Einbettung in dörfliche Gemeinschaften zur Folge hat. Die Bearbeitung bzw. Bewältigung des veränderten Lebensrahmens hängt eng mit der Frage der subjektiven Deutung und des Verhältnisses des Individuums zur ursprünglichen traditionellen dörflichen Sozialwelt und den damit verbundenen biographischen Ressourcen zusammen. Diese Ressourcen sind entscheidend bei der Frage, inwieweit jede(r) einzelne eine biographische Anschlussfähigkeit an die veränderten Lebensverhältnisse findet. So ist es möglich, dass Menschen aus den traditionellen Vergemeinschaftungsformen des ländlichen Raums freigesetzt werden, an den damit verbundenen Sinnorientierungen und Deutungsmustern aber festhalten und ihre Lebenssituation im Alter als biographische Diskontinuität erleben. Andere werden durch die Freisetzungsprozesse des ländlichen Raums in städtische Lebensformen hineingezogen, was aber nur ansatzweise mit einer ,inneren Modernisierung‘ einhergeht und im Alter mit biographischen Ambivalenzen und Unsicherheiten einhergeht. Wird die traditionelle dörfliche Sozialwelt als biographischer Konflikt erlebt, kann dies im Alter biographische Wandlungsprozesse und die Entwicklung neuer Lebensentwürfe zur Folge haben. Dabei bringt der je individuell entworfene Weg spezifische Problematiken für den Lebensentwurf im Alter mit sich, die sich in Form von Ungleichzeitigkeiten zwischen subjektiven bzw. biographischen Orientierungen und den vorhandenen Lebensverhältnissen ausdrücken, in Orientierungsdilemmata zwischen unvermittelten neuen und alten Orientierungen sowie der ungelösten Suche nach eigenen biographischen Entwürfen. Ein weiterer Themenkomplex der bisherigen biographisch angelegten Forschung beinhaltet Fragen des Umgangs und Erlebens des Übergangs in den Ruhestand bzw. Vorruhestand. Zwar mit einer deutlich soziologisch ausgerichteten Fragestellung verfolgt, aber auch von erziehungswissenschaftlicher Relevanz, ist jene Untersuchung von Kohli u.a. (1993), die danach fragt, inwieweit die Vergesellschaftungsleistung von Erwerbsarbeit durch alternative institutionalisierte Tätigkeitsformen außerhalb des privaten Bereichs in Familie, Freundschaft und Nachbarschaft ersetzt werden kann. Anhand von sechs Dimensionen (biographische Kontinuität, soziale Interaktion, Erfahrungen gesellschaftlicher Veränderungen, Identität, zeitliche Strukturierung des Alltags, biographische Antizipation und Planung) werden die Vergesellschaftungsleistungen von Teilzeitarbeit, selbständiger Arbeit, ehrenamtlicher Arbeit im sozialen Bereich, ehrenamtlicher Arbeit in politischen Selbstorganisationen und Aktivitäten im organisierten Hobbybereich untersucht. Die Ergebnisse der Studie können belegen, dass die Leistungen der Erwerbsarbeit in der aktiven Erwerbsphase durch die analysierten Tätigkeitsformen in vielerlei Hinsicht substituiert werden können. Neben dieser in qualitativer Hinsicht zu bejahenden Frage der Substituierbarkeit der Erwerbsarbeit durch andere Tätigkeitsformen im Alter, weisen die Autoren allerdings auf quantitative Probleme hinsichtlich der Verallgemeinbarkeit dieser Tätigkeitsformen hin und verweisen auf strukturelle Limitierungen als auch lebensgeschichtliche und aktuelle Probleme der Lebenssituation, die den Zugang zu diesen Tätigkeitsformen erschweren können. In der Bereitstellung und der Erleichterung des Zugangs zu solchen Tätigkeitsformen liegt dementsprechend nicht nur eine sozialpolitische, sondern auch eine erziehungswissenschaftliche Bedeutung dieser Studie. Mit Fragen des Übergangs in den Ruhestand beschäftigen sich auch die Studien von Amann u.a. (1985, vgl. auch Amann 1988) und Wolf (1986, 1988). Nicht zuletzt seien mit den Arbeiten von Dießenbacher (1985) zur Witwenschaft und Freese (1995a,b) über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung weiblicher Identität
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und historischen Zeiteinflüssen auf erste Ansätze einer geschlechtsspezifischen, biographisch angelegten Alternsforschung hingewiesen. Studien zu Maßnahmen der sozialen Altenarbeit und Altenbildung Die Studien zu Maßnahmen der sozialen Altenarbeit und Altenbildung wenden sich in erster Linie den eher traditionellen Angeboten der Freizeitgestaltung (vgl. zur Entwicklung der offenen Altenarbeit Schmidt/Schweppe 1996) und dem Pflegebereich4 zu. In der Mehrzahl sind sie weniger biographisch als ethnographisch5 ausgerichtet. Historisch zuerst entstanden sind dabei die von der Arbeitsgruppe Interpretative Alternsforschung des Deutschen Zentrums für Altersfragen mit Hilfe von Ansätzen der ethnographischen Feldforschung durchgeführten Arbeiten. Die auf die Freizeitaktivitäten zielende, in zwei Berliner Seniorentagesstätten durchgeführte Studie wendet sich der Lebenswelt älterer Menschen zu. Zentrale Ergebnisse dieser zwischen 1977 und 1979 durchgeführten Studie wurden in einem Sammelband (DZA 19872) veröffentlicht. Knopf (1987) widmet sich dabei der Frage nach den Gesellungs- und Aktivitätsformen von BesucherInnen der beiden untersuchten Seniorenfreizeittagesstätten und fragt, wie sich die BesucherInnen die Programmatik dieser Einrichtungen, die sich am Leitbild des ,aktiven Seniors‘ orientiert, aneignen und entsprechend ihren Bedürfnissen und Interessen umformen. Er macht deutlich, dass diese Programmatik eine Binnendifferenzierung der BesucherInnenschaft forciert, welche sich in die eher ,selbstgenügsamen Tischgemeinschaften‘ und den ,Aktivgruppen‘ unterteilt. Innerhalb dieses Prozesses treten deutlich gegenseitige Stigmatisierungsprozesse in Erscheinung. Während die genügsamen Alten von den Aktiven als Gruppe bezeichnet wird, die nichts zu tun habe, sich nicht allein beschäftigen könne und zu keinen niveauvollen Aktivitäten in der Lage sei, müssen die ,Aktiven‘, um der Programmformel des ,aktiven Seniors‘ gerecht zu werden, immer wieder ihr Anspruchsniveau und ihre vielfältigen Beschäftigungen unter Beweis stellen. Knopf zeigt, dass die an der Programmformel des ,aktiven Seniors‘ orientierte Altenarbeit z.T. gerade das verstärkt, was sie versucht zu verhindern, nämlich die aus einer Defizitorientierung formulierten Zuweisungen des Alters. Zeman (1987) fragt in diesem Band nach den eigentheoretischen Vorstellungen von Alter und den alternsbezogenen Orientierungsmustern der Beteiligten in den untersuchten Seniorenfreizeittagesstätten. Er zeigt, dass die Bezeichnung und das Erleben von Altsein nicht eine einmalig festgelegte und definierte Kategorie ist, sondern je nach Situation, InteraktionspartnerInnen und sozialem Kontext einem permanenten Wandlungs- und Aushandlungsprozess unterzogen ist: „... Altern und Alter (stellen) keine mit absoluten Maßstäbe zu definierende Prozesse und Zustände (dar). Alter bestätigte sich als relationaler Begriff, der in ständigem Vergleichen einer konstanten Klärung bedarf, um handlungswirksam werden zu können“ (219). Dadurch ist auch erklärbar, warum die gleiche Person völlig widersprüchliche Orientierungsmuster von Alter haben kann. Allerdings arbeitet Zeman fünf thematische Dimensionen heraus, innerhalb derer die Thematisierung von Alter und altersspezifische Orientierungsmuster erkennbar werden. Dazu gehören: Beziehung und Vergleich zwischen den Generationen, körperliche Verfassung und Erscheinung, Veränderungen im Denken und Fühlen, Aktivitäten, Zeitgestaltung und materielle Rahmenbedingungen. Eine weitere aus diesem Forschungszusammenhang hervorgegangene Studie von Langehenning (1987) fragt danach, wie im Rahmen institutioneller Altenhilfemaßnahmen Deutungsmuster für das Altern angeboten und individuell angeeignet werden. Langehenning (1987) arbeitet zwei Interpretationsmuster heraus, und zwar zum einen den Alten-Code und zum anderen den Senioren-Code, anhand dessen Maxime das Leben innerhalb der Frei-
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zeitstätte geregelt wird. Während der Alten-Code die Maximen wie: ,Find Dich mit Deinem Leben ab‘, ,Sei den Betreuern gegenüber dankbar‘ enthält, umfasst der Senioren-Code etwa Maximen: ,Dein ,wirkliches‘ Altern soll kein Thema sein!‘, ,Laß Dich nicht abhängen, sondern sei aktiv!‘, ,Als ,moderner Senior‘ muss Du mit der Zeit gehen‘ (S. 34). Im Gegensatz zu diesen ethnographisch ausgerichteten Studien, sind jene, die auf den Pflegebereich gerichteten sind, eher biographisch angelegt. Knobling (1985) richtet ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf Konfliktsituationen in Altenheimen. Sie rekonstruiert diese im Kontext der Lebensgeschichte der Beteiligten und ordnet sie im Rahmen eines komplexen Beziehungsgefüges ein. Daraus ableitend entwickelt sie Überlegungen für die Aus- und Weiterbildung und das professionelle Handeln von Pflegekräften. Ebenso dem Pflegebereich gewidmet ist die Studie von Dunkel (1994), der sich der Lebensführung von Altenpflegerinnen zuwendet und deren Berufstätigkeit als Teil ihrer Lebensführung rekonstruiert. Auch sei auf die von Zeman (1996) durchgeführte Feld-Exploration zum Aushandlungsgeschehen zwischen lebensweltlichen und professionellen Helfersystemen im Rahmen häuslicher Altenpflegearrangements hingewiesen. Er erfasst informelle-formelle Pflegearrangements nicht nur als instrumentelle zweckbestimmte Prozesse, sondern macht auf die komplexen Beziehungs- und Kommunikationsgeflechte dieser Arrangements aufmerksam. Auf die belastenden Folgen familialer Pflege geht eindringlich die Studie von Bracker u.a. (1988) ein, die den treffenden Titel „Zwischen Pflichterfüllung und eigenen Lebensansprüchen“ trägt. Anhand der Pflegebereitschaft von Töchtern werden die personalen Kosten in deren Leben deutlich gemacht, die nicht nur physische und psychosomatische Probleme, sondern insbesondere auch radikale Lebenseinschränkungen (z.B. Reduzierung von Kontakten zu Freunden, Isolierung, Mangel an Freizeit) umfassen. Für die Erwachsenenbildung von besonderer Relevanz ist die Untersuchung von Gühne/ Heinzelmann (1995), die der Frage nachgehen, zu welchem Zeitpunkt Bildungsinteressen im Alter entstehen. Da die Studie am Seniorenkolleg der Martin-Luther Universität in Halle durchgeführt wurde, sollte insbesondere auch die Bedeutung der sich seit 1989 vollzogenen politischen und gesellschaftlichen Wende nachgezeichnet werden. Die Autorinnen kommen in einer vorläufigen Auswertung zu dem Ergebnis, dass die Systemwende die Motivstrukturen für ein bildungszugewandtes Altern nicht wesentlich beeinflusst hat. Bildungsaktivitäten erfahren zwar – so die Autorinnen – mit gesellschaftlichen und biographischen Brüchen Erschütterungen und Umstrukturierungen, aber im Grundmuster weisen sie Kontinuität auf: „Es hat den Anschein, dass bei älteren Menschen eine aus der Biographie erwachsene, individuelle Kontinuität von Bildungsmotiven gegenüber den durch gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufene Neuorientierungen dominiert“ (S. 206). Eher unter einer lernpsychologischen Fragestellung durchgeführt, aber für die Erwachsenenbildung als auch die soziale Altenarbeit wichtige Erkenntnisse liefernd, ist die mit Hilfe von problemzentrierten Interviews durchgeführte Studie zur Bedeutung von altersstereotypen Zuschreibungen beim EDV-Lernen älterer Erwachsener (Lödige-Röhrs 1995). Die Studie macht deutlich, wie traditionelle Altersstereotypen Lernerfolge hemmen können und in einem Prozess der ,self-fulfilling profecy‘ ständig aufs neue Bestätigung finden. Die Autoren kommen zu den Ergebnis, dass beobachtbare Verhaltens- und Leistungsunterschiede zwischen jüngeren und älteren Lernenden nicht durch eine altersbedingte Leistungsminderung zu erklären sind, sondern ungünstige Fremdzuschreibungen, auch der MitarbeiterInnen, und eine Misserfolgsmotiviertheit eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
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Alter und Biographie – Biographieforschung als Perspektivenwechsel in der Altersforschung
Wie bereits angedeutet sind die bisherigen theoretischen Annäherungen an die Altersphase dadurch gekennzeichnet, dass gerontologische Spezifika aus gesellschaftlichen Entwicklungen herausgelöst werden. In theoretischen Überlegungen zur Modernisierung der Gesellschaft findet Alter als Strukturmerkmal wenig Beachtung (vgl. Naegele/Tews 1993); umgekehrt ist Alter bisher kaum unter Berücksichtigung modernisierungstheoretischer Fragestellungen und Theoriekonstrukten thematisiert worden (Ausnahmen bilden Kade 1994a; Schweppe 1996; 1998). Kategorien, wie Subjekt, Biographie, Risiko, Individualisierung, Pluralisierung etc., die beispielsweise in der Jugendforschung zum Standardrepertoire gehören (vgl. Karl 1991b), haben die Diskussion über Alter und Altern nur in ersten Ansätzen erreicht (vgl. auch Ray 1996). Betrachtet man Alter im Rahmen jener Prozesse reflexiver Modernisierung, die die gegenwärtige Gesellschaftsdynamik kennzeichnen, wird deutlich, dass Altern inmitten von Freisetzungs-, Pluralisierungs- und Detraditionalisierungsprozessen geschieht, durch die Lebensentwürfe und Lebensformen nicht (mehr) von vornherein auf festgelegte und standardisierte Lebensentwürfe und Lebenswege fixiert und durch eine fixes Koordinatensystem antizipierbarer Lebensumstände vorhersehbar sind. Alter geschieht inmitten sozialer Räume und Möglichkeiten, die im Hinblick auf Tätigkeiten, Beziehungen, Wohnformen, Lebensstile, Lebenssinn, Freizeitgestaltung, Familienbeziehungen nicht durch verbindliche und kollektiv gültige Muster festgelegt und standardisiert sind. Alter kann nicht mehr durch den Rückgriff auf verbindliche kulturelle Altersbilder, -normen und -modelle, die alte Menschen in ihrem Handeln orientieren könnten, gestaltet werden. Traditionelle Leitbilder für die Altersphase sind brüchig geworden. Ein „übergreifendes kulturelles Konzept“ (Zeman 1992, S. 36), das der mittlerweile entwickelten Vielfalt von Lebensformen und Lebensstilen besser gerecht und die Ambivalenzen der Altersphase, d.h. ihre Verluste und Gewinne, Stärken und Schwächen, Zwänge und Freiheiten, Chancen und Risiken, aufgreifen würde, gibt es jedoch nicht. Alter ist zu einer Lebensphase geworden, die kaum mit einer verbindlichen gesellschaftlichen Aufgabe bzw. einem kulturellem Aufgabenbereich verbunden ist, die dieser Lebensphase zugeschrieben wäre (vgl. Mader 1994). Die Freisetzung aus vorgezeichneten Lebensformen im Alter bedeutet einerseits den Verlust von relativ stabilen sozialen Beziehungen, Bindungen und Sinnorientierungen, sie geht andererseits aber auch mit der Erweiterung von Lebensgestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten einher. Freisetzungsprozesse und die Auflösung von vorgegebenen sozialen Lebensformen sind allerdings auch in der Altersphase mit neuen, durch gesellschaftliche Institutionen und Instanzen bedingte Prägungen, Orientierungen, Zwänge, Kontrollen, Abhängigkeiten und Standardisierungen der Lebensführung verbunden. Die Lebensgestaltung wird abhängig von den Vorgaben, Regelungen, Zwängen und Bestimmungen gesellschaftlicher Institutionen; sie bilden die Folie, auf der individualisiertes Alter gestaltet werden muss, ohne dass hierdurch verbindliche bzw. orientierende Leitfiguren und Leitbilder für die Lebensführung oder die Einbindung in neue verbindliche Muster der Lebensführung im Alter bereitgestellt würden. Obwohl auch die Frage nach der Institutionenabhängigkeit des Alters, ihren Auswirkungen und Ausprägungen bisher weitgehend wissenschaftliche Analysen entbehrt, lassen sich vielfältige Anzeichen für die Institutionenabhängigkeit des Alters finden. So hat der Markt die Alten schon seit Jahren als finanzkräftige Bevölkerungsgruppe entdeckt und stellt
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sich auf ihre Kapitalressourcen und Konsumbedürfnisse ein. Die sozialstaatliche Institutionalisierung des Alters durch die staatlich organisierte Rentenversicherung und arbeitsrechtliche Regulierungen sowie die Einführung der Pflegeversicherung lässt sich ebensowenig übersehen. Die private und öffentliche Altenhilfe greift ebenso in die Lebensführung im Alter ein. V. Kondratowitz macht in diesem Zusammenhang auf die Normativität der an alte Menschen gerichteten bzw. altenpolitischen Institutionen und Maßnahmen aufmerksam. Während sich einerseits ein Zweifel an der schlüssigen Befindbarkeit von eindeutigen, kontinuitätssichernden und verpflichtenden gesellschaftlichen Altersnormen, -bildern und modellen angesichts der Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Pluralitäten der Altersphase nachweisen lässt, wird andererseits versucht, ihn hektisch zu kompensieren „mit der oft forcierten Präsentation von normativ aufgeladenen Modellen und Konzeptionen, die neue Identifikationsmöglichkeiten und Integrationsperspektiven zu vermitteln versprechen“ (1990, S. 231). Es ist in diesem Spannungsverhältnis zwischen abnehmenden Verbindlichkeiten von kollektiven Lebensmustern, dem Brüchigwerden traditioneller Lebensmuster im Alter und der damit verbundenen Erweiterung und Verfügbarkeit von Entscheidungs-, Orientierungsund Handlungsalternativen sowie der Einbindung in neue Regulierungen, Anforderungen und Zwänge, durch die die Biographie zur Lebensgestaltung auch im Alter an Bedeutung gewinnt. Die Altersphase ist gestaltbar und gestaltungsnotwendig geworden und muss durch eigenes Handeln, ohne den Rückgriff auf gemeinsam geteilte Lebensformen hergestellt werden. Die Altersphase wird zunehmend biographisiert, d.h. biographisch relevante Ereignisse und Situationen werden selbstreferenziell behandelt und thematisiert. Der Biographie kommt als regulativer Mechanismus zur Öffnung sozialer Räume und zum identitätsstiftenden Zusammenhalt eine wachsende Bedeutung zu (vgl. Brose/Hildenbrand 1988; Mader 1994). Freisetzungsprozesse und erweiterte Handlungs- und Gestaltungsspielräume führen dazu, dass die Altersphase nicht mehr nur eine Restzeit ist, die unter vorgegebenen Vorzeichen und Bedingungen reaktiv und vorgezeichnet zu durchleben ist. Auch in dieser Lebensphase entfallen zunehmend die zwischen Individuum und Gesellschaft kollektiven Vermittlungen. Alter kann kaum noch durch generationsübergreifende Vergesellschaftungsformen und durch den Rückgriff auf gemeinsam geteilte Lebensstile, Werte und Überzeugungen durchlebt werden (vgl. Mader 1994). Individuum und Gesellschaft stehen auch in der Altersphase in einem direkten Verhältnis, durch das alte Menschen zur Gestaltung ihrer Lebenswege zunehmend auf sich zurückgeworfen werden (vgl. Karl 1993). Das individuelle Lebensschicksal wird zunehmend dem einzelnen aufgebürdet (vgl. Nittel 1991) und muss durch Eigenleistungen hergestellt werden. Alte Menschen sind die „auf die Ressourcen, die ihnen aus ihrer Biographie zufließen und die sie durch die biographische Konstruktion ihrer Lebensgeschichte mobilisieren können (angewiesen). Für alte Menschen bedeutet Individualisierung zumeist extreme Biographienotwendigkeit und Abhängigkeit von den im Lebenslauf angesammelten Ressourcen“ (Mader 1994, S. 96). Die Biographisierung gilt sowohl für die klassischen mit der Altersphase verbundenen und auch heute noch weiter existierenden Problemlagen wie Pflegebedürftigkeit, Einsamkeit etc. als auch für die Bewältigung der der Altersphase inhärenten lebenszyklischen Entwicklungsaufgaben, wie die Bewältigung der gehäuft auftretenden kritischen Lebensereignisse und Übergangsphasen (z.B. Übergang in den Ruhestand, Auszug der Kinder, Partner- bzw. Partnerinnenverlust, Verlust nahestehender Personen) ebenso wie für die Bewältigung der durch den sozialen Wandel mitgebrachten neuen Anforderungen an die aktive Gestaltung von Lebensentwürfen. Die Normalisierung biographisierten Lebens im Alter „... kann (...) durchaus als ein Zu-
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rückholen oder eine Reintegration des höheren Erwachsenenalters in die Normalität postmoderner Gesellschaften (Hervorhebung im Original, C.S. ) bezeichnen (werden)“ (Schmidt 1994, S. 62). Allerdings bedeutet dies nicht, dass hierdurch die Spezifika der Altersphase aufgelöst und obsolet werden und sich Lebensformen im Alter unter die des restlichen Erwachsenenalters subsumieren lassen. Vielmehr werden diese Entwicklungen durch die spezifischen Anforderungen, die Ressourcen und die Gegebenheiten der Lebensphase Alter ,altersspezifisch geprägt‘. Die Biographieabhängigkeit der Altersphase geht mit neuen Ambivalenzen und Risiken dieser Lebenssphase einher. Sie ist mit der Notwendigkeit biographischer Umorientierungsprozesse verbunden, die sich zum einen aus der biographischen Vergangenheit und Generationenlage der heutigen Alten ergibt. Ein mit aller Vorsicht zu interpretierender Trend gemeinsam geteilter Bedingungen des Aufwachsens der heutigen Altenpopulation weist darauf hin, dass sie in einer Zeit groß geworden ist und einen Teil ihres Erwachsenenalters, teilweise sogar ihres hohen Erwachsenenalters, in einer Zeit gelebt hat, deren Spielräume zur aktiven Gestaltung von Biographien und Lebensräumen durch materielle, finanzielle, geschlechtsspezifische, bildungsbezogene und schichtspezifische Zwänge für eine Mehrheit eher begrenzt waren. Die heutigen Alten werden dann im Laufe ihres Erwachsenenlebens mit Anforderungen einer biographisierten Lebensführung konfrontiert, die ein dynamisches Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte bzw. Biographie zur Voraussetzung der Lebensbewältigung macht. Das Verharren in und der Rückgriff auf alte Wissensbestände und Verhaltensmuster kann für das Alter eher Hindernisse, gefährliche Diskontinuitäten (vgl. Mader 1995c) und problematische Lebenskonstellationen bedeuten. Eine Reinterpretation der Lebensgeschichte und lebensgeschichtlicher Deutungsmuster (vgl. Kade 1994b) ist erforderlich, um dem Fremdwerden der eigenen Biographie entgegenzuwirken (vgl. auch Tietgens 1994, 1991). Umorientierungsprozesse sind jedoch nicht nur aufgrund der biographischen Vergangenheit notwendig, sondern die sich schnell verändernden Lebensbedingungen machen auch im Alter fortwährend Veränderungs- und Anpassungsleistungen erforderlich, und es stellt sich die Frage, inwieweit alte Menschen über die nötigen biographischen Voraussetzungen verfügen, um den Anforderungen einer modernen Lebensführung gerecht werden zu können. Da Biographie nie etwas in sich Abgeschlossenes, Beendetes ist und einem lebenslangen Umdeutungsprozess unterliegt, liegen gerade in diesen lebenslangen biographischen Umdeutungsprozessen auch die Möglichkeiten für das Alter, notwendige Umorientierungen und Anpassungsprozesse zu vollziehen. Allerdings sind solche Prozesse nicht beliebig und unbegrenzt möglich. Neue Erfahrungen und neues biographisches Wissen (vgl. Alheit/Hoerning 1989) entstehen nicht losgelöst von der bisherigen Lebensgeschichte, sondern sind aufs engste mit ihr verbunden und durch sie begrenzt. Ebenfalls muss darauf hingewiesen werden, dass die nötigen Umorientierungs- und Anpassungsleistungen den besonderen lebenszyklischen Bedingungen und Bedürfnisse der Altersphase ausgesetzt sind und hierdurch Begrenzungen erfahren (können). Altersgestaltung und Altersbewältigung gehen einher mit dem Bedürfnis des einzelnen Menschen, seine Lebensgeschichte so zu konstruieren, dass sie nicht in mehrere Einzelteile zerfällt, sondern sie mit einem roten Faden versehen ist, durch den eine Lebensgeschichte eine sequentielle Logik erhält und die Lebensereignisse verknüpft werden. Obwohl sich die Kontinuitätsfrage in allen Altersphasen stellt, stellt sie sich in der Altersphase mit besonderem Nachdruck. Durch die Endlichkeit des Lebens, durch die die Vergangenheit und auch die Gegenwart zunehmend den Charakter des Endgültigen annehmen (vgl. Kade 1994b), wird von alten Menschen die Notwendigkeit, (zurückliegende)
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Ereignisse in eine umfassende und kohärente Ordnung zu bringen, herausgestellt (vgl. Kruse 1990). Durch das Bedürfnis nach ,Abrundung des Lebens‘ am Lebensende und nach Kontinuität wird gegen Erfahrungen, die mit dem bisherigen Leben nicht in Einklang zu bringen sind oder ihm gar diametral entgegenstehen, eher abwehrend und resistent gegenüber reagiert. Während bisher die Anforderungen an die Subjektseite zur Gestaltung und Bewältigung einer biographisierten Altersphase und auf mögliche Ungleichzeitigkeiten zwischen vorhandenen und notwendigen subjektiven Ressourcen hingewiesen wurde, stellen sich die gleichen Fragen im Hinblick auf die Strukturen und Bedingungen der Lebensrealität von alten Menschen, die den Handlungsrahmen und die Handlungsspielräume zur Gestaltung der Altersphase darstellen. Inwieweit haben sich gesellschaftliche Strukturen auf die veränderte Altersphase eingestellt und entsprechen ihr? Inwieweit findet die mit den Individualisierungsprozessen einhergehende Vervielfältigung sozialer Kategorien im Alter ihre Entsprechung in gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen? Inwieweit lassen sich Ungleichzeitigkeiten und Diskrepanzen zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Möglichkeiten und den Bedürfnis- und Lebenslagen der Alten finden? Riley/Riley (1992) gehen von einer strukturellen Diskrepanz zwischen den individuellen und den gesellschaftlichen Potentialen des Alters aus. Die Pluralität der Lebenslagen und -formen im Alter und das mit ihr verbundene individuelle Potential fände keine angemessene Entsprechung in gesellschaftlichen Strukturen und Optionen. Auch Baltes (1996) meint, dass auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen die sozial verfasste Welt älterer Menschen relativ leer sei und alte Menschen einem Unterangebot an Opportunitätsstrukturen gegenüber ständen. Riley/Riley (1992) sprechen von einem „cultural lag“, einem Hinterherhinken gesellschaftlicher Strukturveränderungen gegenüber den Veränderungen der Altersphase. Obwohl der Diskurs des ,cultural lags‘ Gefahren in sich birgt, weil er z.T. auf ungeprüften Annahmen basiert, die schnell zu neuen Normalitätsvorstellungen führen, wie dies etwa im neuen Wiederverpflichtungsdiskurs (vgl. Tews 1996) von alten Menschen zum Ausdruck gebracht wird, trifft er das gegenwärtige Verhältnis zwischen alten Menschen und gesellschaftlichen Institutionen in einigen Facetten richtig. Es gibt vielfältige Anzeichen dafür, dass sich die gesellschaftlichen Institutionen kaum den veränderten und vervielfältigten Lebensformen im Alter angenähert haben bzw. sogar im Widerspruch zu den Lebenslagen und Risiken im Alter stehen. Man denke beispielsweise an den Wohnbereich. Zwischen Alleinleben, den gefürchteten Sonderformen, z.B. Altenheime, und den wenigen, nicht selten ghettoähnlichen Formen des betreuten Wohnens und Altenwohnanlagen gibt es oft genug keine alternative Wohnformen, die z.B. Möglichkeiten zum Knüpfen sozialer Netzwerke oder neuer Hilfebeziehungen fördern (vgl. zu neueren Wohnformen z.B. Klünder/Sinclair 1996; Otto 1996). Es sind diese Spannungsverhältnisse zwischen den verbesserten Handlungsräumen und Lebensmöglichkeiten des Alters, die diese Altersphase mit neuen Chancen der Lebensgestaltung verbindet, aber biographische, nicht immer einfach zu bewältigende und riskante biographische Umorientierungsprozesse erfordern sowie die Diskrepanzen zwischen dem biographisierten Altwerden und gesellschaftlichen Zuschreibungen und Möglichkeiten (vgl. Böhnisch 1996), die Alter nicht selten wieder auf überholte Lebensentwürfe versuchen festzuzurren, durch die die Altersphase mit neuen Ambivalenzen verbunden ist. Es sind diese riskanten Chancen und chancenreichen Risiken, durch die nicht nur innerhalb der Erziehungswissenschaft ein bisher weitgehend ignoriertes Aufgabenfeld der Lebensbegleitung und Lebensbewältigung im Alter eröffnet wird, sondern sie verweisen insbesondere auch
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auf die Bedeutung der Verankerung der Biographieforschung in der Alter(n)sforschung, wenn sie nicht gar ihre Notwendigkeit zwingend erforderlich machen.
Anmerkungen 1 2
3.
4 5
Kohli (1992) weist darauf hin, dass feste Altersnormen nicht mehr zum Gegenstand moderner Gesellschaften passen, die ihre Betonung auf Leistung und damit auf erworbenen und nicht zugeschriebenen Merkmalen als Basis für die Zuteilung von gesellschaftlichen Rechten und Pflichten legen (241f.). Die Gründe für die Hinwendung zu qualitativen Forschungsverfahren in der Gerontologie lässt sich aus einer Kritik an ihrer bisherigen Forschungspraxis erklären, die v. Kondratowitz (1991) in drei Punkten zusammenfasst. Erstens: Die mangelnde Tiefenschärfe quantitativer Verfahren insbesondere im Hinblick auf die Analyse der Alltagswelt und alltäglichen Lebensformen. Zweitens: Die Unfähigkeit vieler Studien, die Bedeutung kultureller und ethnischer Einflüsse für das Leben im Alter zu reflektieren und widerzuspiegeln (vgl. auch Applewhite 1997). Drittens: Eine zunehmende Bereitschaft, die Trennung in privat und ,professionell‘ definierte Wissensformen in Frage zu stellen und damit auch ein bestimmtes Wissensverständnis kritisch zu reflektieren. Im Gegensatz zur wenig entwickelten Forschung zu biographischen Prozessen im Alter lassen sich in der sozialen Altenarbeit und der Altenbildung vielfältige Ansätze des biographischen Arbeitens finden (vgl. z.B. Birren/Deutchmann 1991, Blimlinger u.a. 1994, Burnside 1996, Gearing/Coleman 1996, Randell 1996, Kade 1994, Schweppe 1996). Pitzschke (1990) weist in ihrem Aufsatz auf einige grundsätzliche Möglichkeiten und Grenzen der Biographieforschung zur Erfassung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit im Alter hin. Vgl. den grundlagentheoretisch orientierten Aufsatz zur Feldforschung in der Altenforschung von Langehenning (1987).
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IV. Biographieforschung in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen
Biographieforschung in der Historischen Pädagogik1 Edith Glaser/Pia Schmid
Inhalt 1. Einleitung 2. Geschichte des Forschungsfeldes 3. Grundbegriffe und theoretische Bezüge 4. Überblick über den Forschungsstand 5. Konkrete Forschungsarbeiten – ein Beispiel 6. Forschungsdesiderata und -perspektiven Literatur
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1. Einleitung Gegenstand der Historischen Pädagogik ist neben der Wissenschaftsgeschichte die Geschichte von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden Theorien untersucht, die Vorstellungen einer guten und richtigen Erziehung bzw. Bildung – meist aus der Kritik vorgefundener Praxis heraus – formulieren. Diese Ideen gehen in der Regel von einer Vorstellung vom guten Leben aus, enthalten gesellschaftskritische oder utopische Aussagen, und sie basieren in der Regel auf Vorstellungen von der Natur des Menschen, treffen anthropologische bzw. psychologische Aussagen. In diesem Gegenstandsbereich geht es darum, was in der Geschichte über Erziehung, Bildung und Sozialisation gedacht wurde, besonders von den pädagogischen Klassikern. Biographieforschung hat es hier vor allem mit den Biographien pädagogischer Theoretiker und Theoretikerinnen zu tun. Zum anderen fragt die Historische Pädagogik nach den vergangenen Praxen von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen. Sie untersucht Institutionen (Familie, Kindergarten, Schule, Universität) und in neuerer Zeit auch informelle Zusammenhänge (Straße, Jugendgruppen), Lebensphasen (Kindheit, Jugend), Berufsgruppen (Lehrer und Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen), einzelne Handlungsfelder (Entstehung der sozialen Arbeit) sowie einzelne und Gruppenbiographien. In diesem zweiten Bereich geht es darum, wie Erziehung, Bildung und Sozialisation „gemacht“ wurden, wie sie beschaffen waren. Biographieforschung findet sich in diesem zweiten Feld der Historischen Pädagogik in nahezu allen Bereichen. Biographieforschung stellt einen Gegenstandsbereich qualitativer empirischer Forschung dar. Das Gemeinsame findet sie in ihrem Datenmaterial, also biographischen Texten im weitesten Sinne. Nach Theodor Schulze geht es der Biographieforschung um Biographie als Leben(szusammenhang) und um Biographie als Text (Schulze 1995, S. 14f.). Biographisches Material werde interpretiert, gedeutet, kontextualisiert, es werde als eigene Textgattung untersucht. Dieses Kriterium lässt sich nicht auf alle Forschung anwenden, die als Biographieforschung gilt bzw. sich als solche versteht. Denn häufig wird biographisches Material ausschließlich zur Illustration verwendet. Wie alle historische Forschung steht und fällt auch die biographische Forschung in der Historischen Pädagogik mit ihren Quellen und mit ihrer Quellenkritik. Das Spektrum an Quellen ist breit. Es können – veröffentlichte oder nicht veröffentlichte – (auto-)biographische Texte sein wie Memoiren, Autobiographien, Tagebücher (auch solche über Entwicklungen von Kindern), Briefe, Nekrologe, aber auch eher offizielle Bewerbungsschreiben beispielsweise für ein Stipendium oder eine Stelle als Lehrerin, curricula vitae. Inwieweit auch unfreiwillige Aussagen zur Person in Akten (Gerichts-, Gemeinde-, Personalakten) oder „auch nicht-schriftliche Dokumente wie beispielsweise Foto und Fotoalben, Erinnerungsstücke, Hausrat, Möbel, usw.“, die für Theodor Schulze (1991, S. 149) Ego-Dokumente darstellen, als biographische Quellen zu sehen sind, darüber existiert kein Konsens. So betont Benigna von Krusenstjern (1994, S. 463) im Unterschied zu Schulze als entscheidendes Kriterium eines Ego-Dokumentes die „Selbstthematisierung durch ein explizites Ich“ (vgl. auch Rutz 2002, S. 2-9). Für die jüngere Geschichte können auch Interviews und narrative Erzählungen herangezogen werden. Diese biographischen Materialien sind in sehr unterschiedlichen Situationen und für ganz unterschiedliche Zwecke entstanden, und als Textsorten stehen sie in unterschiedlichen Traditionen; dies zu reflektieren, ist Aufgabe der
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für eine Analyse historischen wie biographischen Materials unabdingbaren Quellenkritik. Biographische Texte sollten wir lesen als „diskursive Konstruktionen, die in spezifischen historischen Kontexten produziert wurden“ (Weiler 1997, S. 642) und als „individuelle Formen der Verarbeitung gesellschaftlicher und individueller Erfahrungen“ (Marotzki 1991, S. 186). Nehmen wir zum Beispiel Tagebücher: Ein Schriftsteller kann sein Tagebuch von vorneherein in der Absicht verfasst haben, es später zu veröffentlichen, wie wir es von Thomas Mann wissen. Dagegen war im 19. Jahrhundert eine Publikation ihres Tagebuches für ein Mädchen auf einem der Trecks in den nordamerikanischen Westen erst gar nicht denkbar. Bei nicht mit Publikationsabsicht verfassten Tagebüchern ist weiter zu überlegen, ob die Schreiberin oder der Schreiber denn damit rechnen mussten, dass das Tagebuch dritten Personen in die Hand fallen könnte. Thomas Mann in seinem Arbeitszimmer, seinen Verleger oder sein Publikum im Blick, das Mädchen auf dem Planwagen mit der Mutter vor Augen unterscheiden sich erheblich – abgesehen von ihren literarischen Fähigkeiten – in ihrem Autoren-Selbstverständnis. Die Entstehungssituationen an sich sagen allerdings nichts über die Authentizität von autobiographischen Texten – das Mädchen ist nicht authentischer als der Schriftsteller, nur weil sie nicht mit Publikationsabsicht schrieb. Dennoch müssen diese bedacht werden, um Auslassungen, Forcierungen, Stilisierungen u.a. berücksichtigen zu können. Wer über sich selbst schreibt, darauf hat Bourdieu hingewiesen (1990, S. 76), ist eben immer auch als „Ideologe seines eigenen Lebens“ zu sehen. Als weiteres wichtiges Spezifikum autobiographischer Texte hat Philippe Lejeune (1975/1994) in deren narratologischer Analyse den autobiographischen Pakt zwischen Autor und Leser herausgearbeitet. Wie in anderen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft nehmen auch in der Historischen Pädagogik biographisch orientierte Forschungen zu2. So wurden in einem Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik (2004) unterschiedliche Arten von Egodokumenten daraufhin analysiert, was und wie sich mit ihnen Subjektivität und Geschichte erforschen lassen (Häder 2004a und b, Habermas 2004, Schmid 2004). Darin kommt die wachsende Aufmerksamkeit für „subjektorientierte Forschungsperspektiven und Methoden“ (Rosenthal 1988, S. 3) zum Ausdruck, die seit der in den 1970er Jahren ansetzenden Kritik an der Dominanz strukturaler Fragestellungen in der bisherigen Sozial- und Sozialisationsforschung zu verzeichnen ist und dagegen auktoriale Perspektiven stark macht. In diesem Kontext steht auch die interdisziplinär angelegte Zeitschrift „BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History“, deren erstes Heft 1988 erschien und deren Herausgeber ihre Zeitschrift als ein Forum „für Fragestellungen und methodische Wege in mehreren Disziplinen, die sich mit biographischen Dokumenten befassen“ (Editorial 1988, S. 3) verstehen.
2. Geschichte des Forschungsfeldes Die Hinwendung zu biographisch orientierten Forschungen in einer wieder mehr Beachtung erfahrenden Historischen Pädagogik hatte sich bereits in den 1970er Jahren angedeutet. Im Vorwort zu der 1975 in deutscher Übersetzung erscheinenden „Geschichte der Kindheit“ (Original 1960) des französischen Historikers Philippe Ariès fragte Hartmut von Hentig „nach der Möglichkeit und dem Sinn einer ,historischen Wendung der Gesellschaftswissenschaften‘ (insbesondere der Pädagogik)“ (S. 7). Ulrich Herrmann (1974) hatte in einem Handbuchartikel die „historisch-systematischen Dimensionen der Erziehungswissenschaft“ skizziert und damit sowie mit weiteren Aufsätzen den Ansatz der Historischen Sozialisa-
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tonsforschung (Herrmann 1980) vorbereitet (ausführlich dazu der Beitrag von Cloer in diesem Band). Bisher liegt keine Gesamtdarstellung über die Entwicklung biographischer Forschung in der Historischen Pädagogik vor.3 Ebenso fehlt eine systematische Darstellung der Arbeit mit biographischem Material in der Geschichte der Pädagogik. Daher kann hier nur auf einzelne Aspekte hingewiesen werden, die eine gewisse Kontinuität von Biographieforschung in der Historischen Pädagogik belegen sollen.4 Eine Geschichte der literarischen Gattung Autobiographie vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert als eine Geschichte der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins begann bereits 1907 der Schüler Wilhelm Diltheys und spätere Professor für Philosophie an der Universität Göttingen, Georg Misch. Dieses zu einem Lebenswerk ausgeweitete Vorhaben wurde schließlich 1949 abgeschlossen. Es war Wilhelm Dilthey, der der Autobiographie – wie er es in seiner Abhandlung über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ darlegte – eine zentrale Bedeutung beimaß, weil hier die bedeutungsordnende und sinnherstellende Leistung der Einzelperson zum Ausdruck gebracht wird und diese Ausdruckformen „nachzuerleben und denkend zu erfassen“ (Dilthey 1910, S. 340). Neben dieser geisteswissenschaftlichen Auffassung war und ist Biographieforschung in der Historischen Pädagogik von den Methoden- und Theoriediskussionen anderer Disziplinen beeinflusst. Als Leitdisziplin ist die Geschichtswissenschaft anzusehen und mit ihr folgte die Geschichtsschreibung in der Pädagogik um die Jahrhundertwende dem Historismus. Er brachte u.a. gelungene Charakterisierungen historischer Persönlichkeiten hervor, überbetonte aber gleichzeitig die „großen Männer“, die „Geschichte machen“ (vgl. dazu Jaeger/Rüsen 1992). Dieser Historismus fand in der Historischen Pädagogik zum einen ihre Entsprechung in Abhandlungen wie „Große Erzieher. Eine Darstellung der neueren Pädagogik in Biographien“ (1897), „Die großen Erzieher. Ihre Persönlichkeit und ihre Systeme“ (Lehmann 1907), „Deutsche Schulwelt des neunzehnten Jahrhunderts in Wort und Bild“ (Beyer 1903) u.a., die in unterschiedlicher Güte und Ausführlichkeit Leben und Werk nebeneinander vorstellen. Zum anderen schlug sich diese Auffassung in den Lehrbüchern und -plänen nieder. Gerade pädagogischer Lehrbücher sind ein Beispiel für die pädagogische Biographieforschung der Verfasser. Sie bezogen sich in ihren Darstellungen in der Regel auf veröffentlichtes biographisches Material.5 Der Weißenfelser Seminardirektor August Schorn und die nachfolgenden Neubearbeiter verfassten für ihre „Geschichte der Pädagogik, in Vorbildern und Bildern“ (1873, 291914) zahlreiche Lebensbeschreibungen von Luther bis Lotze, die sie deren in Auszügen abgedruckten pädagogischen Schriften nachstellten und als Zusammenfassung eine Würdigung folgen ließen. Der Hinweis im Titel auf die Bilder und Vorbilder verweist vielmehr auf das Bildungsziel des Lehrbuchs, denn „das Wesentliche aus der Geschichte der Erziehung und des Unterrichts [soll] in lebendigen Bildern der bedeutendsten Männer“ gelernt werden, weil dies die Achtung und den Dank gegenüber früheren Pädagogen vergrößert, „hilft, wenn sie konkret und individuell die Lebensgestalten zeichnet, nach Schleiermachers gutem Wort durch inneres Erfassen der Individualität vollendeter Männer die eigene ausgestalten“ (ebd., S. III) u.a.m. Den Seminaristen wurde auf den späteren Beruf bezogenes biographisches Material als Bilder von „großen“ Pädagogen, als Vorbilder präsentiert und damit auch Orientierungshilfen skizziert. Ob diese pädagogische Absicht Wirkung zeigte, steht auf einem anderen Blatt. In dem uns vorliegenden Exemplar, dem Exlibris
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zufolge im September 1916 von dem Lehrer Ernst Schmidt erworben, sind in den biographischen Teilen nur die äußeren Daten des Lebenslaufs unterstrichen und nochmals am Rande gekürzt wiederholt. Dieses hier an einem Lehrbuch gezeigte Lernen aus Pädagogen-Biographien hatte bereits 1835 der Berliner Seminardirektor Adolph Diesterweg begonnen. Bei ihm waren es nicht Lebensbeschreibungen „großer Pädagogen“ vergangener Jahrhunderte sondern „Selbstbiographien jetzt lebender deutscher Erzieher und Lehrer“, mit denen er sich an Erziehende gewandt hatte. Diesterweg begründete in einer ausführlichen Einleitung über „Wesen, Zweck und Werth der pädagogischen Biographie“ seine Zielsetzung. „Die pädagogische Biographie [hat] die Aufgabe zu lösen, darzustellen, wie und durch welche Einwirkungen, durch welche Erziehungs- und Bildungsfactoren der Einzelne das geworden ist, was er geworden ist, welche Einflüsse die Richtung bestimmt haben, die er eingeschlagen, welche Kräfte vorzugsweise bei seiner Erziehung thätig gewesen“ (Diesterweg 1835, S. 7) waren. Seine Autobiographiensammlung sollte zum einen für die Praktiker Anschauung und Lernhilfe sein, um sich selbst, die Kinder und die Erziehungsgrundsätze anderer Lehrer kennen zu lernen und zum anderen für die Theoretiker „Basis seines Systems“ (ebd., S. 11). Also auch bei Diesterweg: Aus Biographien lernen. Ein weiterer Beleg für die Orientierung der Historischen Pädagogik an der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft und zugleich aber auch ein Hinweis auf eine bisher nicht nur für die Biographieforschung noch unbearbeitete Quelle, ist die „Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte“6 und die von ihr herausgegebenen Werke. Die Historiker hatten ihre „Monumenta Germaniae Historica“, die deutschen Schulmänner gründeten ihre „Monumenta Germaniae Paedagogica“ (1884). Die 1890 gegründete „Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte“7, deren Zweck die „systematische und allseitige Erforschung derselben durch möglichst vollständige Sammlung, kritische Sichtung und wissenschaftliche Veröffentlichung des in Archiven und Bibliotheken zerstreuten Materials, soweit es Bezug hat auf die Erziehungs- und Schulgeschichte in den Ländern deutscher Zunge“ war, sammelte neben Schulordnungen, Schulbücher auch pädagogische Miscellaneen „wie Biographie und Tagebücher von hervorragendem pädagogischen Wert“ (Mitteilungen 1891, S. 13). Veröffentlicht wurden die Forschungsergebnisse, die „den Weg der deutschen Bildung durch die Jahrhunderte hindurch aufhellen und hierdurch auch die pädagogischen Bestrebungen der Gegenwart“ (ebd., S. 5) fördern sollten, in den „Monumenta Germaniae Paedagogica“ und in den Mitteilungen der Gesellschaft. Daneben erschien seit 1908 noch jährlich ein „Historisch-pädagogischer Literatur-Bericht“, in dem kulturgeschichtliche Abhandlungen, Biographien u.ä. aufgenommen worden waren. Der Berichterstatter klagte zwar bereits in der ersten Ausgabe: „Aber in der Regel sind es nur curiosa, die dargestellt werden, nicht das alltägliche Leben, das freilich keinen so farbenbunten Eindruck macht [...]. So sieht man denn nur selten eine wirkliche Spiegelung der historischen Schulwelt“ (Historisch-pädagogischer Literatur-Bericht 1908, S. 7f.). Er stellte dann doch einige Veröffentlichungen vor, denn „Biographie, Selbstbiographien, Briefwechsel, Tagebücher und ähnliche Schriften von Männern und Frauen, die auf den verschiedensten Gebieten gewirkt haben, enthalten oft lehrreiche Mitteilungen schulund erziehungsgeschichtlicher Art.“ (ebd., S. 11) Dazu gehörte z.B. die Biographie eines Straßburger Ratsherrn, der eine Studienstiftung an der Universität im 16. Jahrhundert eingerichtet hatte; die Kritik an einer Neuausgabe von Karl Philipp Moritzens „Anton Reiser“; die Erinnerungen der Freifrau von Zedlitz und Neukirch an ihre Schulzeit im Altenburger Magdalenenstift, die der Berichterstatter als „anmutige, mit ungewöhnlichem Plaudertalent
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abgefassten Erinnerungen [...], die auch feinsinnige Bemerkungen zur Psychologie des Kindes enthalten.“ (ebd., S. 14) würdigte. Aus Marie von Ebner-Eschenbachs „Meine Kinderjahre“ hob er die Berichte über die „Schreckensherrschaft einer Gouvernante“ hervor und erwähnte die Lehrbücher im Hause Dubsky. In den nächsten drei Jahren fehlten dann die Literaturhinweise auf biographische Veröffentlichungen. Erst nach der Umgestaltung der Literaturberichte wurden diese Literaturhinweise dann sowohl unter der Hauptrubrik „Perioden und Personen“ als auch im Anhang unter dem Titel „Schulgeschichtliche Ergebnisse biographischer Arbeiten“ fortgesetzt. Die erste biographisch orientierte Monographie in der „Monumenta Germaniae Paedaogigca“ erschien 1904. Es war die Jugend- und Erziehungsgeschichte von Friedrich Wilhelm IV und Wilhelm I. (Schuster 1904). Nicht nur Lehrerinnen und Lehrer sollten aus Biographien lernen, auch ihre Schülerinnen und Schüler. Mit der fachdidaktischen und erzieherischen Funktion von Biographien in der Schule beschäftigte sich zusammenfassend Josef Spieler (1929; 1930). Die „rein biographische Methode“, d.h. die gesamten Bildungsinhalte des Geschichtsunterrichtes nur durch Biographien zu vermitteln, war schon von Zillig (1908) auf das entschiedenste abgelehnt worden. Spieler betonte in fachdidaktischer Hinsicht vor allem den illustrierenden Charakter von Biographien für den Geschichts-, Deutsch- und Religionsunterricht, in erzieherischer Hinsicht die Vorbildfunktion, aber für deren Wirkung müssten gewisse Voraussetzungen von Seiten der Jugendlichen und von der Biographie gegeben sein, d.h. nicht jede Biographie passt zu jeder Zeit für jeden Jugendlichen, und – sich auf Diesterweg beziehend – die Lernfunktion für Lehrer. Schulgeschichte nicht nur auf der Basis von Lehrplänen, Lehrbüchern und Methodiken zu schreiben, sondern für die Rekonstruktion der Innenansicht von Schule auf autobiographisches Material ehemaliger Schüler zurückzugreifen, dies schlug Julius Ziehen 1909 vor. Er ging sogar noch weiter, indem er Schuldirektoren aufforderte, in den Schulberichten über ehemalige Schüler zu informieren und vor allem die Schulzeit der „ganz Grossen“ biographisch zu dokumentieren, wie beispielsweise durch den Abdruck von Protokollen des Schülervereins in einer Festschrift des Altonaer Christianeums Aspekte des Schülerlebens eines Theodor und Tycho Mommsens dokumentiert wurden. Dabei ging es nicht nur um die Sammlung biographischen Materials, sondern auch um Traditionsbildung. Nicht nur die Verwendung von biographischem Material für Forschungsarbeiten in der Historischen Pädagogik, auch die Reflexion dieser Quellen traten in den 1920er Jahren zunehmend in den Vordergrund. So arbeitete Otto Menne (1922) in seiner Dissertation über die Autobiographie der Volksschullehrer beispielsweise heraus, dass diese reine Berufsbiographien seien und erklärt die Vorherrschaft des Berufs mit der mangelnden Tradition. Erziehung in der Familie rekonstruierten in der Weimarer Republik u.a. Margarete Dyck (1922) und Wilhelm Melchers (1929) auf der Grundlage von Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Memoiren. Maria Müller (1928) beschrieb Leben und Arbeit der bekanntesten Fröbelianerinnen. Käte Silber, die 1931 mit einer Biographie über Anna PestalozziSchulthess bei Eduard Spranger in Berlin promoviert hatte, ging es darum zu zeigen, warum Pestalozzi „überhaupt die Frau in den Mittelpunkt seiner Pädagogik rückt?“, und sie fragte: „Hat es eine Frau gegeben, die als lebendiges Urbild seiner Gertrud auf Erden gelebt hat?“ (Silber 1931/1993, S. 77) Sehr nah an den Quellen – Briefe, Tagebuch, Haushaltungsbuch, Familienchronik – rekonstruierte Käte Silber das Leben von Anna Pestalozzi und konnte dabei zeigen, dass die Ehefrau Anna nicht das Vorbild gewesen war. Vorrangig methodologische Fragestellungen bearbeiteten Johanna Nohl (1932), die sich mit den Grenzen der Erinnerung befasste, und Kurt Uhlig (1936), der die Autobiographie
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hinsichtlich ihres „erziehungswissenschaftlichen Quellenmaterials“ untersuchte.8 Er arbeitete dabei verschiedene – u.E. auch für heutige Untersuchungen noch wichtige – Sinnstrukturen der Autobiographie „hinsichtlich ihrer Beziehung zum Gegenstand, [...] zum Autor [...], zum Leser“ (S. 121) heraus, die dann „ein Bericht vom eigenen Leben“ (ebd.), „eine Selbstdarstellung des Autors“ (ebd.) und „eine zweckgerichtete Mitteilung“ (ebd.) sein kann. Jede einzelne Sinnstruktur enthielte erziehungswissenschaftliches Material: der Bericht „anschauliche Schilderungen von der lebendigen Schul-, Unterrichts- und Erziehungswirklichkeit“ und „innerseelische Erziehungswirklichkeiten“ (S. 122). Und da Uhlig die Selbstdarstellung, das „Lebensbild“ „als die höchste Form des Selbstbewusstseins eines reifen Menschen“ und die Autobiographie als „die einzige und spezifische Ausdrucksform dieses Bewusstseinsbezirkes“ (ebd.) charakterisiert, wären wir wieder bei Diltheys Hochschätzung der Autobiographie angelangt. Quellenkundlich und quellengeschichtlich hatte sich auch Siegfried Bernfeld mit autobiographischem Material beschäftigt. In seiner 1931 veröffentlichten Studie über Trieb und Tradition im Jugendalter, die auf der Analyse von Tagebüchern basierte, stellte er nicht nur den Unterschied von Tagebuch und Autobiographie, sowie die „Formmomente“ des Aufschriebs und die Motive für den Aufschrieb heraus, er zeichnete auch die Geschichte des Tagebuchs von den Haushaltungs- und Geschäftsbüchern hin zum „Journal des Herzens“ (S. 120) nach. Bereits im Sisyphos (1925) machte Bernfeld auf einen anderen Aspekt der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung aufmerksam: „Wer immer über Kindheit und Jugend nachdenkt, steht unter einer psychischen Konstellation, die das Denkergebnis affektiv gefährden will. Ein Kind kennt er mit unvermeidlicher Aufdringlichkeit und Lebendigkeit: sich selbst als Kind.“ (Bernfeld 1925/1970, S. 15f.) Bernfeld verfolgte diesen Gedanken leider nicht weiter. Erst in den späten 1970er Jahren wird er wieder in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung von Werner Loch aufgegriffen (vgl. dazu den Beitrag von Loch in diesem Band).9 Zusammenfassend können für die hier nur in Ausschnitten skizzierte Entwicklung biographischer Forschung in der Historischen Pädagogik folgende Schwerpunkte festgehalten werden: – – – – – –
Sammlung autobiographischen Materials; große Frauen und Männer, besonders aus der Pädagogik, als Vorbilder für Lehrerinnen und Lehrer sowie für Schülerinnen und Schüler; Anfänge einer Schul-, Jugend-, Familien- und Berufsgeschichte auf der Basis autobiographischen Materials; Anfänge einer den Zusammenhang von Biographie und Werk betonenden Forschung; Quellenkunde und Quellenkritik autobiographischen Materials; Anfänge einer Methodologie biographischer Forschung.
3. Grundbegriffe und theoretische Bezüge Biographieforschung in der historischen Pädagogik hat keine „einheimischen Begriffe“. Sie macht Anleihen in Geschichtswissenschaft, Soziologie, Literaturwissenschaft und Volkskunde bzw. Europäischer Ethnologie. Daher lassen sich eigene Begriffe für die Biographieforschung in der Historischen Pädagogik nicht benennen. Theoretisch und methodisch be-
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zieht sie sich vor allem auf die Geschichtswissenschaft, insbesondere auf Kultur- und Sozialgeschichte sowie Historische Anathropologie. Diese wurde in den letzten Jahrzehnten, wie die Geisteswissenschaften überhaupt, von zwei Verschiebungen bestimmt. Mit dem so genannten „linguistic turn“ wurde die Bedeutung von Sprache und Narrativität ins Zentrum gestellt. Einerseits wendete man sich der „historischen Semantik der Begriffe und Wörter“ zu, andererseits den „Strukturen und Möglichkeiten des Erzählens“ (Raulff 1987, S. 7). In diesem Kontext entstand das große begriffsgeschichtliche Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Die andere weniger klar konturierte Wende wurde von Ethnologie und Anthropologie angeregt. Hier wurde zum einen der Mensch als bedeutungsschaffendes Wesen ins Zentrum gerückt, zum anderen betont, dass eine bestimmte Zeit oder Gesellschaft als vollständiges soziales System zu betrachten sei. Zum Teil in der Tradition der alten Kulturgeschichte, zum Teil im Kontext der Sozialgeschichte entstanden Mentalitätsgeschichte, Zivilisationsgeschichte, new cultural history (Chartier 2002), Mikrohistorie und historische Anthropologie (Burghartz 2002) sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte (Habermas 2002). War Geschichte lange Zeit vordringlich Ideengeschichte oder die große Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, so brachten diese beiden Wenden eine fortschreitende Erweiterung der geschichtswürdigen Gegenstände mit sich. Bislang wenig beachtete Personengruppen wie „kleine Leute“, wie Frauen, Kinder und Jugendliche oder auch die Dorfbevölkerung wurden zu wenig beachteten Thematiken erforscht wie Alltag, privatem Leben, Tod, Armut oder auch Kindheit. In diesem Kontext entstanden unter anderem die von Philippe Ariès und George Duby herausgegebene „Geschichte des privaten Lebens“ wie auch die von Michelle Perrot und George Duby herausgegebene „Geschichte der Frauen“. Zwei Perspektiven scheinen uns besonders wichtig: die „Perspektive von unten“, die das Spektrum der historischen Akteurinnen und Akteure merklich vergrößert hat, und die „Perspektive von innen“, die die Erfahrungen dieser Akteurinnen und Akteure zu rekonstruieren sucht und nach den Bedeutungen fragt, die sie nicht nur eigenem Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln, sondern auch dem anderer Menschen beigemessen haben. Mit dieser Aufmerksamkeit für Innenperspektiven oder für die „Subjektseite“ gelangen biographische Materialien und Zugänge ins Zentrum und mit ihnen die Frage nach ihrer Erschließung und Deutung. Historische Pädagogik muss sich dabei immer im Klaren bleiben, dass sie es bei (auto-)biographischem Material mit erinnertem Leben zu tun hat.
4. Überblick über den Forschungsstand10 4.1. Konzepte In den letzten 30 Jahren sind einige Texte entstanden, die entweder die Validität bzw. Authentizität bestimmter Quellen für biographische Forschungen in der (Historischen) Pädagogik zu bestimmen suchen oder generelle Perspektiven und Forschungsfragen in diesem Feld skizzieren und dies häufig eher als Entwurf formulieren denn als ausformulierte Theorie. Als Vorläufer ist Kurt Uhligs Studie zur „Autobiographie als erziehungswissenschaftliche Quelle“ (1936) zu sehen. Bereits 1962 hatte Jürgen Henningsen vorgeschlagen, Autobiographien als „sprachlich gestaltete Bildungsschicksale“ (Henningsen 1962) zu lesen, in den 1970er Jahren stellte
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er, wie Rotraut Hoeppel (1983, S. 63-73) gezeigt hat, statt Bildung „Identität“ ins Zentrum und sah Autobiographien als Ergebnis von Identitätsbildungsprozessen. Dafür, die Autobiographie als Quelle zur Sozialgeschichte der Erziehung zu nutzen, plädierten Eckard Dittrich und Juliane Dittrich-Jacobi (1978) und führten das für die bürgerliche und die proletarische Biographie aus. Lebensgeschichtliche Selbstreflexion als Gegenstand der Erziehungswissenschaft hat Rotraut Hoeppel (1983) in ihrer Dissertation theoretisch gefasst und exemplarisch an Autobiographien aus der frühen bürgerlichen und der neuen autonomen Frauenbewegung untersucht. Hoeppel setzt ihren eigenen lebensgeschichtlich-identitätstheoretischen Ansatz, der Autobiographien als Bedeutungsganzes mit einem Mitteilungszweck sehe, gegen einen erziehungsund sozialgeschichtlichen Ansatz, der Autobiographien lediglich als Quellenmaterial zu bestimmten Fragestellungen auswerte. Ulrich Herrmann (1980,1990) hat Konzepte bzw. Desiderate historischer Sozialisationsforschung formuliert (vgl. Cloer in diesem Band) und auf die Bedeutung der „Innenansichten“, wie sie die Biographieforschung bietet, als Korrelat der gesellschaftsgeschichtlichen „Außenansichten“ hingewiesen. Überlegungen zur erziehungshistorischen Erforschung vormoderner Lebensläufe hat Erhard Wiersing (1994) vorgelegt, und Hedwig Röckelein hat es anhand autobiographischer Texte zweier Mönche aus dem Hochmittelalter als eines der Spezifika mittelalterlicher Biographik bezeichnet, „Ort der Reflexion über Erziehung und Sozialisation“ (Röckelein 1995, S. 45) zu sein. Dorle Klika geht in ihrem Überblick über „methodische Zugänge zur historischen Kindheitsforschung“ (1997) auf einschlägige biographische Zugänge ein. Charlotte Heinritz (1994, S. 166) fragt nach dem Kind in der autobiographischen Kindheitserinnerung, danach, wie „Autobiographen die Einheit von erzählendem und erzählten Ich (...) in der Zeit, bevor dieses ‚Ich‘ überhaupt existierte, (herstellen)“. Weiter hat sie sich mit Autobiographien als erziehungswissenschaftlichen Quellentexten auseinandergesetzt (Heinritz 1997) und sich in ihrer umfassenden Untersuchung deutscher Frauenautobiographien um 1900 zu Theorie und Methode autobiographischer Forschung geäußert (Heinritz 2000); sie geht davon aus, dass „die Logik der Autobiographie (...) nur über die Logik des Erzählens erfasst werden“ könne (ebd., S. 26) und schlägt deshalb vor, sich methodisch an den Verfahren zu orientieren, mit denen narrative Interviews analysiert werden. Drei weitere Konzepte zielen auf die Zusammenschau von Biographie und Werk: In Werner Lochs (1979) biographischer Pädagogikforschung steht mehr der Gegenstand Erziehung im Zentrum; bei Klaus Pranges (1987, 1989) biographischer Pädagogenforschung mehr die Lebensgeschichte des einzelnen Pädagogen; für die Analyse wissenschaftsinterner Kommunikationsprozesse als Basis einer kontextuellen Disziplingeschichtsschreibung plädieren Karin Priem und Edith Glaser (Priem/Glaser 2002; Glaser/Priem 2002, 2004).
4.2. Kindheits- und Jugendforschung Die „Geschichte der Kindheit“ als Forschungsgegenstand fängt mit Philippe Ariés’ gleichnamigem Werk an, 1960 ist sie im Original, 1975 in Deutsch mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig erschienen. Während Ariés die Geschichte der Kindheit von zunehmender Gettoisierung geprägt sieht und sie als Verfallsgeschichte schreibt, konzipiert Lloyd de Mause (1977) sie als Fortschrittsgeschichte, bewirkt durch zunehmende Empathie der Eltern für ihre Kinder. Beide ziehen u.a. biographische Quellen heran, z.T. sogar die gleichen, wie beispielsweise das Tagebuch des Arztes Héroard über die Kindheit von Ludwig XIII, mit dem sie ihre konträren Sichten der Geschichte der Kindheit untermauern. An deutschsprachigen Untersuchungen folgten Ingeborg Weber-Kellermanns kulturgeschichtliche Un-
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tersuchung „Die Kindheit“ (1979), in der sie Kleidung, Wohnen, Arbeit und Spiel vom Mittelalter bis in die Gegenwart untersuchte und dazu gelegentlich auch aus Autobiographien zitierte. Eine breite Quellensammlung, in der 36 Autobiographien von Arbeitern, Bauern, Kleinbürgern, Bürgern und Adligen des 18. und 19. Jahrhunderts in Auszügen (in Hinblick auf Bezugspersonen, materielle und soziale Umwelt, Lernen, Arbeit, Spiel) wiedergegeben werden, haben Irene Hardach-Pinke und Gerd Hardach vorgelegt und in einem ausführlichen Einleitungsessay eine Sozialgeschichte der Kindheit skizziert sowie die Quelle Autobiographie gewürdigt.11 Mit der alltags- und sozialgeschichtlichen Skizze von Hardach und Hardach-Pinke fängt die Biographieforschung in der deutschsprachigen historischen Kindheitsforschung an. Die Kindheit bürgerlicher Mädchen im 18. und 19. Jahrhundert untersuchten Gottfried Kößler (1979), Juliane Jacobi-Dittrich (1983), Ira Spieker (1990) und Irene Hardach-Pinke (2000) und nutzten das autobiographische Material, um es mit normativen Weiblichkeitsentwürfen zu kontrastieren. Weiter wurden Arbeiterkindheiten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erforscht. Margarethe Flecken (1981) zeigte anhand der ersten Arbeiterautobiographien, wie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich auch im Proletariat eine eigene Kindheitsphase herausbildet. Arbeiter- und Bürgerkindheit und -jugend wurden von Ernst Cloer u.a. (1991), Dorle Klika (1990) und Michael SeyfarthStubenrauch (1985) untersucht. Diese Gruppe verfolgte den Ansatz einer „pädagogischbiographischen historischen Sozialisationsforschung“ (Cloer u.a. 1991, S. 71), die Individual- und Kollektivbiographien rekonstruieren und Sozialisations- und Bildungsverläufe empirisch und theoretisch erarbeiten wollte (vgl. zur Historischen Sozialisationsforschung Cloer in diesem Band). Bürgerliche Kindheit im „langen 19. Jahrhundert“ kann als einer der Bereiche gelten, auf den sich biographische Forschung konzentriert, was sicher auch der autobiographischen Mitteilungsfreude des zeitgenössischen Bürgertums geschuldet ist. So hat Gunilla-Friederike Budde (1994, 1995) im Rahmen von Bürgertumsforschung Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien zwischen 1840 und 1914 anhand von etwa 400 Selbstzeugnissen verglichen, ohne allerdings diese ganz unterschiedlichen Selbstzeugnisse – Autobiographien, Tagebücher, Briefe, Familien- und Hauschroniken, Interviews – in ihrer Spezifik quellenkritisch zu fassen. Für Kindheiten im wilhelminischen Bürgertum sind Geschwisterbeziehungen in ihrer Bedeutung als Gegenpol zu den fernen gottähnlichen Eltern und in unterschiedlichen Typologien untersucht worden (Berg/Schröder 1995), die Vielfalt von Vatererfahrungen – es gab eben nicht nur den autoritären Vater – herausgearbeitet worden (Krome 1995) und die Bedeutung der Kindermädchen nachgewiesen worden, die keineswegs dem in der Ratgeberliteratur gezeichneten Negativbild entsprachen, sondern bis etwa zum 6. Lebensjahr für die Bürgerkinder oft wichtiger, näher waren als die Mütter (Becher 1995). Zum ländlichen Bereich liegen zwei Studien vor, die sowohl mit Archivalien als auch mit Interviews in dem württembergischen Arbeiterdorf Ohmenhausen gearbeitet haben. Dem Gesamtprojekt ging es um die Klärung der Frage, „wie sich intentionale Erziehungsund Bildungsmaßnahmen verhalten zu den funktionalen Sozialisationseffekten der ‚Dinge‘ und der ‚Umstände‘“ (Herrmann/Gestrich/Mutschler 1983, S. 72). Susanne Mutschler (1985) untersuchte die ländliche Kindheit um 1900, Andreas Gestrich (1986) die dörfliche Jugend(kultur) zwischen 1800 und 1920. Mit weiblicher Jugend der Unterschichten aus der Weimarer Republik hat sich Christina Benninghaus beschäftigt; als Quellenmaterial dienten ihr u.a. anonym verfasste Berufsschulaufsätze, die Fortbildungsschülerinnen (und Schüler) im Kontext früher Jugendforschung schrieben zu den Themen „Meine Mutter“, „Mein Beruf“, „Wie ich mir ein schönes Leben vorstelle“, „Was bedeutet mir meine Familie?“ und
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„Wie verbringe ich meine freie Zeit?“ (Benninghaus 1995, S. 259; 1999). Benninghaus untersucht Selbstwahrnehmung und Zukunftserwartungen (1995), und sie dekonstruiert den so gut in einen feministischen Opferdiskurs passenden Mythos vom Arbeitermädchen, das für die männlichen Familienmitglieder Hausarbeit leistet (1996). Sonja Häder (1998) hat Schülerkindheit in Ost-Berlin für den Zeitraum 1945 bis 1958 untersucht und dafür u.a. Zeitzeugeninterviews und Fotografien ausgewertet. Wolfgang Gippert hat Kindheit und Jugend im Danzig 1920 bis 1933 u.a. auf der Grundlage biographischer Interviews im Hinblick auf Identitätsbildung im sozialistischen und im konservativen Milieu untersucht. In einem historisch-vergleichenden zivilisationstheoretisch ausgerichtetem Projekt haben Imbke Behnken, Manuela Du Bois-Reymond und Jürgen Zinnecker(1989) soziale Kindheitsräume (Wiesbaden und Leiden) untersucht anhand biographischer Interviews. Mit „Narrativen Landkarten“ haben Manuela Lutz, Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker (1997) ein neues Verfahren zur Rekonstruktion aktueller und biographisch erinnerter Lebensräume dargestellt. Um erinnerte Jugend im Rahmen einer Geschlechtergeschichte der Jugend im 19. und 20. Jahrhundert geht es in mehreren Beiträgen eines von Christina Benninghaus und Kerstin Kohtz (1999) herausgegebenen Sammelbandes. Mary Jo Maynes untersucht Modelle des Aufwachsens von Mädchen in deutschen und französischen Autobiographien, Johanna Gehmacher rekonstruiert Jugenderfahrungen in österreichischen NS-Organisationen, Juliane Jacobi geht anhand der beiden Autobiographien Klaus Manns auf Konstruktion und Dekonstruktion von Selbstentwürfen ein und Charlotte Heinritz untersucht Mädchenjahre in Frauenautobiographien um 1900. Juliane Jacobi-Dittrich (1988) hat „Erfahrungsformen des Jugendlebens“ anhand von Autobiographien von vier Generationenpaaren – jeweils eine Frau und ein Mann – analysiert und dabei herausgearbeitet, wie sich Jugend als Altersphase, jeweils geschlechtsspezifisch reflektiert, im Bürgertum zwischen 1870 und 1960 gewandelt hat. Eine Vermittlung verschiedener, auch biographischer Zugänge zur Geschichte der Pädagogik versuchte 1984 Ludwig Fertig. Seine „Geschichte der Pädagogik für Nichtpädagogen“ präsentiert nicht nur die „großen Ideen großer Männer“, sondern auch „das Leben von Kindern und Heranwachsenden“. Dabei rücken Themen wie die Geschichte der Strafe, des Spiels, von armen Kindern, der Mädchenbildung und der Berufspädagogik in den Mittelpunkt, die im „comenianischen Prinzip des Nebeneinander von Bild und Text“ präsentiert werden (Fertig 1984, S. IX-XI). Das von Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker herausgebene Handbuch „Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte“ (2001) ist mit seinen zahlreichen historischen Beiträgen ein Beleg für die Ausdifferenzierung biographischer Kindheitsforschung; das gilt für Materialien, Fragestellungen und Methoden. In der von Egle Becchi und Dominique Julia herausgegebenen „L’histoire d’enfance en occident“ (1998) werden in zahlreichen Beiträgen autobiographische Quellen herangezogen; Michael Goodich untersucht darin die als Exempel tradierte Kindheit der heiligen Elisabeth, Christine Klapisch-Zuber die Thematisierung von Kindern und Tod in italienischen Familien- und Tagebüchern des 14. und 15. Jahrhunderts. Der niederländische Historiker Rudolf M. Dekker(1999) analysiert, wie in holländischen Autobiographien vom Goldenen Zeitalter bis zur Romantik Kindheiten thematisiert werden (zu Autobiographien von Kindern S. a. Baggermann/Dekker 2004).
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4.3. Historische Jugendbewegung und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert Im Bereich der Forschungen zu Jugendbewegung, zu Jugend in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland liegen mehrere Untersuchungen vor, die mit Verfahren der Oral History gearbeitet bzw. Autobiographien herangezogen haben. Die Wandervögel, die freideutsche Jugend und die Bündische Jugend haben selbst die Geschichte ihrer Bewegung geschrieben (vgl. Kindt 1963, 1968, 1974). Hinrich Jantzen veröffentlichte 1972 eine fünfbändige Biographiensammlung von Mitgliedern der Jugendbewegung. Einen gemeinsamen Arbeits- und Lebenszusammenhang zu entwickeln, „zu siedeln“, strebten viele Jugendbewegte an, manche realisierten ihn, bei nur wenigen hatte er Bestand. Eine dieser Siedlungen war die Frauensiedlung Schwarze Erde in Rhön. Ihre Geschichte und die ihrer Gründerinnen arbeitet Ortrud Wörner-Heil (1996) auf und geht dabei der Frage nach, warum diese Siedlung Bestand hatte. Indem der Lebenslauf von Walter Fränzel, Mitglied des Serakreises – einer jugendbewegten Gruppe von Studentinnen, Studenten und jungen Mädchen aus dem Jenaer Bürgertum – nachgezeichnet wird, versucht Meike Werner (2003) anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen mit anderen Seramitgliedner zu zeigen, warum er an der Siedlungsidee – bei ihm war es eine Schulgründung – festhielt. Sabine Andresen (1997) hat die soziale Konstruktion von Mädchenjugend in der bürgerlichen Jugendbewegung untersucht und dabei normative Aussagen aus Jugendbewegungspublikationen mit biographischen Aussagen aus teilstandardisierten Leitfadeninterviews kontrastiert. Ebenfalls mit diesen beiden Quellengattungen arbeitete Jutta Hetkamp (1994) in ihrer Publikation zur Geschichte der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1913 und 1933. In Sammelbänden, die Jugend(kulturen) im 20. Jahrhundert untersuchen, wird in zahlreichen Beiträgen mit Verfahren der oral history und mit biographischen Interviews gearbeitet (Krüger 1985; Breyvogel/Krüger 1987; Deutscher Werkbund 1986).
4.4. Tagebuchforschung Tagebuchforschung ließe sich zu einem großen Teil auch unter Jugendforschung behandeln, soll hier aber, zumal in neuerer Zeit auch Erwachsenentagebücher erforscht werden, als eigener Punkt behandelt werden. Unter dem autobiographischen Material nimmt das Tagebuch insofern eine Sonderstellung ein, als es, abgesehen von literarischen Tagebüchern, nicht in der Absicht geschrieben wurde, es zur veröffentlichen, wie es bei Memoiren und Autobiographien der Fall ist, und weil Tagebuch zu schreiben die am meisten verbreitete Variante autobiographischer Schreibpraxis darstellt (vgl. Zinnecker 1985, S. 298). Tagebücher, und zwar zumeist Jugendtagebücher, werden seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts wissenschaftlich erforscht (zur Methode vgl. Winterhager-Schmid 1997). Historischen Fragestellungen gingen dabei zuerst Charlotte Bühler (1934) nach und Siegfried Bernfeld (1931/1970). Mit „Trieb und Tradition im Jugendalter“ hat Bernfeld die bis heute wichtigste Untersuchung zu Tagebüchern vorgelegt, in der er u.a. herausarbeitet, dass das scheinbar so einzigartige Tagebuchschreiben trotzdem innerhalb einer Formtradition steht; weiter hat Bernfeld gezeigt, dass Tagebücher dazu dienen, sich mit einem „virtuellen Selbst“ (Bernfeld 1931/1970, S. 39) auseinanderzusetzen. Magdalene Heuser (1982) untersuchte an 20 Mädchentagebüchern dieses Jahrhunderts den Zusammenhang von Tagebuchschreiben und Problemen der weiblichen Pubertät als Identitätskrise und rückte damit in der aktuellen Ju-
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gendtagebuchforschung erstmals Mädchen als Tagebuchschreiberinnen ins Zentrum. Marianne Soff (1989) befasste sich mit Entwicklungsverläufen von Jugendlichen und bezog sich bei ihrer Generationen vergleichenden Studie auf die Tagebuchsammlungen von Charlotte Bühler, Waltraud Küppers (1964) und auf eine eigene Sammlung. Dorothee Wierling (1989) hat das Tagebuch einer Schülerin aus der Zeit des Nationalsozialismus besonders auf die unterschiedlichen Sprach- und Erfahrungsmuster hin untersucht, Sigrun Putjenter (1997) Tagebücher, die nordamerikanische Mädchen während der Migration in den Westen verfassten. Die bisher umfassendste Studie zum Tagebuch hat der Literaturwissenschaftler Gustav René Hocke (1963/1978) vorgelegt. Dieses Werk bietet zum einen eine umfangreiche Sammlung von Ausschnitten aus Tagebüchern, zum anderen eine Rekonstruktion von „Grundmotiven europäischer Tagebücher“. Im Bereich der Erforschung historischer Erwachsenentagebücher hat Susanne zur Nieden (1993) für die Zeit 1943-1945 großteils unveröffentlichte Frauentagebücher – gegen Kriegsende nahm offensichtlich das Tagebuchschreiben zu – untersucht; sie ging der Frage der persönlichen Beteiligung von Frauen am Nationalsozialismus und dem Zusammenhang zwischen Schreiben und Krisenbewältigung nach. Im Rahmen eines Projektes über Sozialisation in Frauentagebüchern vom Kaiserreich bis in die Gegenwart sind unveröffentlichte Frauentagebücher Generationen vergleichend untersucht worden (Behnken/Schmid 1996b); dies u.a. unter der Perspektive von Selbstentwürfen zu Liebe, Ehe und Partnerschaft (Melchior 1998), der Thematisierung von Religion (Behnken/Schmid 1996a) oder der Anfangserzählungen in Tagebüchern (Melchior/Piezonka 1997). Hermann Francks „Tagebuch für Hugo“ (1847-1855), das dieser nach dem Tod seiner Frau für seinen Sohn schrieb, hat Hartmut von Hentig (1997) in der Einführung zu diesem Tagebuch vorgestellt und interpretiert. Dies Tagebuch hat Egle Becchi (1999) neben dem Héroards über Ludwig XIII und Marie Bonapartes Cahiers de bêtises daraufhin untersucht, was sich diesen (auto)biographischen Texten zu Kulturen des Kindes entnehmen lässt.
4.5. Briefe Briefsammlungen, meist im Rahmen von Gesamtausgaben editiert, sind auch Selbstzeugnisse, die über die Subjektivität der Schreiber, ihr wissenschaftliches bzw. privates Leben Auskunft geben. Sie spiegeln gleichzeitig Distanz und Nähe zwischen den Briefpartnern.12 Dabei entscheidet die Briefauswahl der Editoren über den Mitteilungscharakter der Briefausgabe. Unterschiedliche Ziele kommen dabei zum Tragen: Briefausgaben als wissenschaftliche oder berufspolitische Selbstdarstellungen, als Einblicke in Selbstvergewisserungen und als zeitgeschichtliche Dokumente. Dieter Silberzweig wählte, weil er „ein Bild des Menschen und des Kulturpolitikers Adolf Grimme“ zeichnen und „die ganze Vielfalt der persönlichen Verbindungen und des Wirkens des Schreibers widerspiegeln“ (Silberzweig 1967, S. 286f.) wollte, aus dem mehrere tausend Briefe umfassenden Briefbestand ein möglichst breites Spektrum von Korrespondenzpartnern aus. Im Briefwechsel zwischen dem Philosophen Martin Heidegger und der Pädagogin Elisabeth Blochmann erfährt man mehr über das antimoderne Denken Heideggers, seine Stellung zum Nationalsozialismus und seine (Nicht-)Reflexionen über den Nationalsozialismus als über seine Korrespondenzpartnerin Elisabeth Blochmann (Storck 1990). Von ihr verfasste Korrespondenzen umfassen nur ein Fünftel der zum Abdruck gekommenen Briefe und Postkarten. Diese geben Einblick in ihre berufliche Situation 1933 – sie war im Mai
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1933 im Zuge der Umsetzung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum aus ihrer Position als Professorin an der Pädagogischen Akademie Halle entlassen worden – und über ihre Anfangsjahre im englischen Exil in Oxford. Die Briefausgaben von Eduard Spranger (Bähr 1978) und Adolf Reichwein (Schulz 1974) sowie die Korrespondenz Spranger – Kerschensteiner (Englert 1966) sind von anderen Kriterien bestimmt. Während sich für Englert in dem Briefwechsel Kerschensteiner – Spranger die politische und „pädagogische Situation“ der Jahre zwischen 1912 und 1938 „äußerst lebendig widerspiegelt, von zwei Großen der Zeit erlebt, mitgestaltet und kritisch betrachtet“ (S. 9) wird und die Entwicklung einer Freundschaftsbeziehung zeigt, berichtet Hans Walter Bähr, dass Spranger bei der Auswahl seiner Korrespondenzen – und nur diese kamen zum Abdruck – selbst mitgewirkt habe und es darum ging, „viele Einblicke in wissenschaftliche Positionen und Forschungsleistungen seiner Epoche“ (S. 463) zu geben. Ging es bei den Spranger-Briefen vor allem darum, die Leistungen eines Menschen, wie er sich selbst sah, im Spiegel der Briefe darzustellen, so verfolgte die Reichwein-Briefedition ein anderes Ziel: Die „Wandlung vom pädagogischen zum politischen Menschen“ sollten die Briefe widerspiegeln und die an „hohen idealen Zielen [...] ausgerichteten Lebensvorstellungen mögen für einen Teil der heutigen Jugend wieder von neuem verständlich sein.“ (Schulz 1974, S. 5) Briefe und Tagebücher werden gemeinhin als authentischere Zeugnisse als Autobiographien angesehen. Aber wie die obigen Beispiele zeigen, sind Briefe zwar zeitgenössische Reaktionen und Kommunikationen, aber die Auswahl der Briefe, ob von fremder oder eigener Hand, ordnen und selektieren die Selbstdarstellungen.
4.6. Berufsgeschichten – Schulgeschichten13 Biographisches Material wurde auch in den Untersuchungen zur Geschichte des höheren Mädchenschulwesens und der Lehrerinnenausbildung in Deutschland mit einbezogen. James Albisetti (1988/2006) stützt sich auf veröffentlichte Autobiographien von in der Frauenbewegung aktiven Lehrerinnen, während Elke Kleinau (1997) sich vor allem auf Personalakten bezog, um Berufsbiographien von Lehrerinnen Hamburger privater und öffentlicher Mädchenschulen darzustellen. Neben den in Personalakten abgelegten Lebensläufen nutzt Karin Ehrich (1995) ergänzend autobiographische Äußerungen in Familienchroniken und Seminaristinnenzeitungen in ihrer Untersuchung über die Lehrerinnenausbildung in Hannover, um Motive der Berufswahl in Erfahrung zu bringen. Ebenfalls auf Lebensläufe, aber hier sind es solche, die für die Aufnahme in das Lehrerinnenseminar geschrieben wurden, zieht Barbara Stolze (1995) für die Frage nach der Berufswahl der Münsteraner Seminaristinnen heran.14 Ist in diesen Untersuchungen die Arbeit mit autobiographischem Material nur ein Aspekt, so bildet bei Gisela Danz (1990) autobiographisches Material die Basis ihrer qualitativen Studie.15 Sie analysiert fünf in offenen Interviews erhobene Lebens- und Berufsgeschichte von Volksschullehrerinnen der Geburtsjahrgänge 1901-1906 hinsichtlich der „persönlichen Wahrnehmung und Wirklichkeit“, systematisiert und vergleicht deren „Erfahrungen und Erleben“ (S. 13) bezüglich der Themen Berufswahl, Ausbildung, pädagogisches Selbstverständnis u.a.m., und schließt diesem Teil ein ausführliche Erörterung der methodischen und theoretischen Einbettung der Erhebung an. Walburga Hoff (2005) hat berufsbiographische Interviews mit Männern und Frauen geführt, die 1960 und 1990 Gymnasien leiteten, und Verfahren der objektiven Hermeneutik dazu genutzt, Karrieremuster geschlech-
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ter- und generationenvergleichend zu rekonstruieren. Ihr Augenmerk gilt besonders den unterschiedlichen Bewährungsmythen als individuellen Sinnstiftungen, die Schulleiterinnen und Schulleiter der beiden Generationen als Entscheidungsgrundlage für ihren beruflichen Aufstieg und ihre professionelle Handlungspraxis dienen. Eher der Historischen Sozialisationsforschung zuzurechnen ist die Untersuchung von Klewitz (1987), die in zwei biographische Fallstudien über eine Berliner Volksschullehrerin und einen Studienrat versucht, deren berufliche Handlungsspielräume während des Nationalsozialismus zu analysieren. In diese Richtung geht auch Schonig (1994). Neben der neu entdeckten Quelle „Klassenrundbrief“ (Heinritz 1991, Jansen 1991, Jantzen/Niehuss 1997) liegen zwischenzeitlich einige gedruckte Sammlungen schul- und berufsgeschichtlicher Interviews (mit Lehrerinnen und Lehrern u.a. Du Bois-Reymond/Schonig 1982, Biller 1988, Dick 1988; mit Schülerinnen: u.a. Conradt/Heckmann-Janz 1985; mit Sozialarbeiterinnen: u.a. Hering/Kramer 1984), die aber noch der systematischen biographischen Auswertung harren.
4.7. Historische Bildungsforschung Jürgen Henningsen hat in mehreren Falldarstellungen – am Beispiel einer Sequenz aus Jakob Grimms Selbstbiographie (1964), an unterschiedlichen Selbstdarstellungen August Hermann Franckes zu seinem Bekehrungserlebnis (1977) und an Max Frischs Autobiographie (1971) – Autobiographien als „sprachlich gestaltete Bildungsschicksale“ untersucht. Wie im deutschen Bildungsbürgertum um 1800 Bildung gelebt wurde, hat Pia Schmid (1985) u.a. anhand der Lebensgeschichten von Rahel Varnhagen und Friedrich Wackenroder dargestellt. Ulrich Herrmann (1987/1991, S. 303) hat darauf hingewiesen, „daß sich pädagogisches Reflektieren und Theoretisieren (...) von seinem modernen Anfang an im Medium der Konstruktion und Rekonstruktion von Lebensläufen seiner spezifischen Denkformen und plausiblen Argumentationsmöglichkeiten vergewisserte“ und dies an vier klassischen literarischen Entwürfen veranschaulicht, unter denen sich mit Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und Karl Philipp Moritzens „Anton Reiser“ auch zwei klassische Autobiographien finden. Insgesamt allerdings sind Bedeutung und Funktion biographischer Materialien und Verfahren für die Frühphase der Pädagogik noch nicht systematisch erforscht. Erste Ansätze dazu finden sich bei Heidrun Diele (2000) und Pia Schmid (2001), die anhand der von Joachim Heinrich Campe angeregten Tagebücher von Vätern über die Entwicklung ihrer Kinder im ersten Lebensjahr die Anfänge der empirischen Erforschung von Kindern in der Entstehungsphase der Disziplin Pädagogik untersuchen. Dass sich für eine bildungs- und sozialgeschichtlich orientierte Familienforschung biographische Ansätze und Materialien ganz besonders eignen, hat Carola Groppe (2004) in ihrer Untersuchung über die Seidenfabrikantenfamilie Colsman im Bergischen Land gezeigt.
4.8. (Auto-)Biographien von Pädagoginnen und Pädagogen – Lebensgeschichtliche Fundierung pädagogischen Denkens16 Der Zusammenhang zwischen pädagogischer Theoriebildung und den Lebensgeschichten von Pädagogen und Pädagoginnen beschäftigt die Erziehungswissenschaft seit ihren Anfängen – schließlich ist, wer über Erziehung schreibt, immer auch selbst erzogen worden. Nie-
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dergeschlagen hat sich dieses Interesse im 20. Jahrhundert neben einzelnen Autobiographien (z.B. Oestreich 1947; Wagenschein 1983; Flitner 1986; Giesecke 2000) in teils mehrbändigen Sammelwerken, in denen bekannte Pädagogen und auch einige Pädagoginnen sich selbst darstellen (Hahn 1926/27; Pongratz 1975-82; Winkel 1984; Kaiser/Oubaid 1986). Unter dem Titel „Verführung, Distanzierung, Ernüchterung“ hat Wolfgang Klafki (1988) Auseinandersetzungen von Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern mit ihrer eigenen Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus zusammengestellt. Diese Einzel- und Sammelbiographie sind selbst wieder Quellen für historisch-pädagogische Forschungen. Neben diesen autobiographischen Zugriff sind auch Anfänge einer biographischen Erzieherforschung zu beobachten; Prange (1987) sieht in zahlreichen Erziehungstheorien – er deutet es für einige Reformpädagogen an – eine Pädagogisierung individuell-lebensgeschichtlicher Motive und fordert die Auseinandersetzung mit solchen biographischen Momenten. Entsprechende biographische Analysen haben Joachim Burmeister (1987) für Wilhelm Flitner und Klaudia Schultheis (1991) für Paul Oestreich vorgelegt. Karin Priem (2000) fragt nach der empirischen und lebensgeschichtlichen Basis pädagogischer Theoriebildung und danach, inwieweit Frauen diese beeinflusst haben. Am Beispiel des geisteswissenschaftlichen Pädagogen Eduard Spranger, dessen private Korrespondenzen mit Frauen als Quellen herangezogen werden, weist sie an ausgesuchten Beispielen nach, wie Sprangers Veröffentlichungen auf diesem brieflichen Austausch aufbauten. Ebenfalls auf Briefe, und zwar auf die von Hermann Nohl, greift Dorle Klika (2000) in ihrer Untersuchung zurück. Im Gegensatz zu diesen klassisch-hermeneutisch verfahrenden Studien rekurriert Volker Kraft (1996) auf psychoanalytische Verfahren, um zu belegen, dass Mangelerfahrung für etliche Pädagogen – er zeigt es für Pestalozzi – in ihren Lebensläufen, aber auch in ihrer Theoriebildung bestimmend waren. – Abschließend sollen noch zwei Bücher erwähnt werden, die nur bedingt in den hier dargestellten Bereich gehören: Ilse Brehmer (1990) hat eine Sammlung von Lebensläufen deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts herausgegeben, C. W. Müller mit seinem Zweibänder „Wie helfen zum Beruf wurde“ (1988) eine Methodengeschichte der sozialen Arbeit entlang von sozial-, professions- und theoriegeschichtlich gerahmten Biograpien geschrieben.
5. Konkrete Forschungsarbeiten – ein Beispiel Das gewählte Beispiel ist Teil einer größeren Untersuchung über die Berufsgeschichte von Lehrerinnen im Königreich Sachsen zwischen 1856 und 1914. Da die in der Literatur immer wieder zu findende These, dass Frauen vordringlich aus ökonomischen Zwängen den Lehrberuf ergriffen, in Zweifel gezogen wurde, mussten Quellen erschlossen werden, die über die Berufsmotivation von Lehrerinnen Auskunft geben konnten. Veröffentlichte Autobiographien von in Sachsen ausgebildeten Lehrerinnen sind fast keine vorhanden, unveröffentlichte Lebenserinnerungen, Tagebücher oder Briefsammlungen sind nicht Archivgut geworden, weil es sich nicht um „große Frauen“ gehandelt hat. Dieses autobiographische Material existiert zwar, aber es ist verstreut über die einzelnen Länder des wilhelminischen Kaiserreichs. Darauf zurückzugreifen, war sowohl hinsichtlich der Gesamtanlage der Untersuchung, als auch in Bezug auf die Interpretation autobiographischen Materials nicht sinnvoll, weil die schulischen, die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich waren.
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Als aussagekräftige Quellen erwiesen sich jene 271 Lebensläufe – geschrieben zwischen 1860 und 1878 –, die Lehramtsaspirantinnen bei der Anmeldung zur Prüfung einreichen mussten. Da diese Lebensläufe weder der Form, noch dem Stil und dem Informationsgehalt nach mit heutigen Lebensläufen zu vergleichen sind – diese Schriftsätze umfassen eine bis dreißig Quartseiten und folgen keinem starren Gliederungsschema, die Autorinnen setzten selbst die Schwerpunkte – wurde nach Vorbildern für diese Quellen im Sinne von Bernfelds „Formtradition“ gesucht. Warum mussten die Lehramtsaspirantinnen einen Lebenslauf einreichen? Wer hat diese Bestimmung verfügt? An wem orientierten sich die sächsischen Kultusbürokraten beim Erlass dieser Zulassungsvorschrift? Bei der Aufarbeitung der Geschichte dieser Quelle entfalteten sich schul- und personengeschichtliche Zusammenhänge, die bei der Ausarbeitung der Geschichte der sächsischen Lehrerinnenseminare gar nicht augenfällig geworden wären: das Kaiserswerther Lehrerinnenseminar Theodor Fliedners war sowohl in der äußeren Gestaltung als auch in der religiösen Ausrichtung das Muster für das erste sächsische Lehrerinnenseminar. Die Lebensläufe wurden zunächst – ohne schon von der eben beschriebene Verbindung nach Kaiserswerth Kenntnis zu haben – in Anlehnung an den Ansatz der grounded theory ausgewertet. Ein Ergebnis war eine Rankingliste der Motive: finanzielle Zwänge fanden sich erst auf den hinteren Plätzen, Spitzenreiter war das Motiv „Liebe zu Kindern“, dicht gefolgt von „selbständig bzw. nützliches Glied der Gesellschaft werden“. Diese Reihenfolge erklärt sich nicht mit dem Argument, hier seien öffentlich akzeptierte Meinungen wiedergegeben worden, um zur Prüfung zugelassen zu werden, oder mit der herrschenden Weiblichkeitsideologie. Sie erklärt sich durch andere Passagen in den Lebensläufen, wo der Besuch eines Fröbel-Kindergartens, das Aufwachsen im Pfarrhaus, der Müßiggang nach Abschluss der Schule geschildert werden (vgl. Glaser 1998, 2000, 2006).
6. Forschungsdesiderate und -perspektiven Zwei Desiderate, die zugleich auch Perspektiven sein können, haben sich herausgeschält: 1. Reflexion der Quellen und Erschließung neuer Quellengattungen für die Historische Pädagogik Autobiographisches Material wird in manchen Untersuchungen noch immer normativen Quellen gleichgesetzt. Um das zu vermeiden, muss, wer mit biographischem Material arbeitet, sich über die Entstehungsbedingungen der jeweiligen Quelle Rechenschaft ablegen. In (auto-)biographischem Material geht es um erinnertes Leben. Der zeitliche Abstand zum Erinnerten kann lang oder kurz sein – Briefe und Tagebücher sind daher anders zu beurteilen als nachgereichte Autobiographien oder Memoiren. Weiter ist nach den Adressaten zu fragen und danach, ob der Text mit Veröffentlichungsabsichten verfasst worden ist. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Berücksichtigung der Formtradition (Bernfeld 1931/1970), in der die jeweilige Quelle steht. Generell lässt sich sagen, dass Biographieforschung als eine Forschung, die die Spezifik ihrer Quelle würdigt und die Texte als retrospektive Konstruktionen von Lebensgeschichten liest oder als soziale Praxis versteht (Habermas 2004), erst am Anfang steht. Biographieforschung in der Historischen Pädagogik hatte und hat ihren Schwerpunkt auf der Darstellung von Kindheit, Jugend, Schule, Familie bürgerlicher und adeliger Schichten, also derjenigen Kreise, die Autobiographien, Biographien, Briefe und Tagebü-
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cher selbst produziert hatten. Durch Emmerichs (1974) Sammlung proletarischer Lebensläufe ist ansatzweise autobiographisches Material unterbürgerlicher Schichten erschlossen. Mit Hilfe der „oral history“-Technik kann – wie es Gestrich (1986) und Mutschler (1985) für ein württembergisches Dorf getan haben – Jugendleben bildungsferner Schichten untersucht werden. Aber da der „oral-history“ natürliche Grenzen gesetzt sind, gilt es weiteres (auto-)biographisches Material zu erschließen. Welcher Art dieses Material sein kann und welchen Aussagewert es hat, darauf finden sich Hinweise in dem von Winfried Schulze (1996) herausgegebenen Sammelband „Ego-Dokumente“. Der niederländische Historiker Jacob Presser führte bereits 1958 diesen Begriff für jene Dokumente ein, in denen „,ein ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt‘“ (zit. nach Schulze 1996, S. 14), und Schulze fügt den „klassischen“ Selbstzeugnissen „Befragungen oder Willensäußerungen im Rahmen administrativer, jurisdiktioneller oder wirtschaftlicher Vorgänge (Steuererhebung, Visitation, Untertanenbefragung, Zeugenbefragung, gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör, Einstellungsbefragungen, Gnadengesuche, Kaufmanns-, Rechnungs- und Anschreibebücher, Urgichten, Testamente etc.)“ hinzu (Schulze 1996, S. 21). Dass sich anhand derartiger Quellen beispielsweise die Geschichte eines Dorfes als Kollektivbiographie schreiben lässt, hat der holländische Historiker Th. van Deursen (1997) für das Dorf Graft im 17. Jahrhundert gezeigt. 2. Biographisches Handbuch der Pädagogik Zwar gibt es zahlreiche Biographien über, Festschriften für, Nachrufe auf Pädagoginnen und Pädagogen, eine Sammlung bedeutender Schulpädagogen (Glöckel 1973) und Berliner Lehrer sowie eine Zusammenstellung von „Frauen in der Geschichte des Kindergarten“ (Berger 1995) und von „Lebensläufen deutscher Pädagoginnen“ (Brehmer 1990; Brehmer/ Ehrich 1993), des Lehrpersonals der Pädagogischen Akademien und Hochschulen für Lehrerbildung in Preußen (Hesse 1995) und von Mitgliedern der historischen Jugendbewegung (Jantzen 1972), aber eine Geschichte der Pädagogik als narrativ oder analytisch angelegte Kollektivbiographie von Pädagoginnen und Pädagogen bleibt noch zu schreiben.
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Für Anregung und Kritik danken wir Juliane Jacobi und Karin Priem. Um es zu quantifizieren: die Verwendung biographischen Materials als Kriterium genommen, sind in den drei bislang erschienenen Jahrbüchern für Historische Bildungsforschung, die als Publikation der Historischen Kommission in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft durchaus Tendenzen in der Forschung belegen können, von insgesamt 41 Beiträgen 15 der Biographieforschung zuzurechnen. Dies hängt u.E. damit zusammen, dass das Gebiet Biographieforschung erst dabei ist, sich innerhalb der Erziehungswissenschaften zu etablieren (Vgl. Krüger 1995, Schulze 1995). Eine Skizze zu biographischen Zugängen in der Historischen Pädagogik findet sich bei Tenorth (1990, S. 183-188). Zu Entwürfen einer wissenschaftsgeschichtlichen Gesamtdarstellung der Historischen Pädagogik vgl. Herrmann 1974, 1975 und 1978. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Entwicklung in Deutschland. Die Entwicklung einer biographisch orientierten Historischen Pädagogik in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten sowie deren Rezeption bzw. Nichtrezeption in Deutschland wäre sicher sehr aufschlussreich. Wenn sie für den Schul- und Seminarunterricht zugelassen werden wollten, mussten die Autoren sich an den Lehrordnungen für die Seminare bzw. an den Lehrplänen für die Schulen orientieren.
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Einen ersten Überblick gibt Krause-Vilmar (1972), der im wesentlichen die Zielsetzungen und die Strukturen der Gesellschaft darstellt. Zum Kuratorium gehörten neben zahlreichen Schulräten, Seminardirektoren, Archivaren, Gymnasialprofessoren und Universitätsprofessoren u.a. Wilhelm Dilthey, Adolf von Harnack, Wilhelm Rein, Otto Willmann und Theodor Ziegler. Für die Literaturwissenschaft war dies bereits von Hans Glagau (1903) und für die Geschichtswissenschaft von Hans W. Gruhle (1923) erarbeitet worden. Charlotte Bühler (1933) bezog in ihre Untersuchung über den „menschlichen Lebenslauf als psychologisches Problem“ nicht nur Autobiographien, sondern auch Anamnesen, Biographien, Dokumente, Texte und statistische Erhebungen mit ein. In Hinblick auf eine „biographische Vorgeschichte der hermeneutisch-pragmatischen Pädagogik“ (S. 8) skizzierte bereits 1964 Ernst Lichtenstein die Generationsgemeinschaft von Herman Nohl, Aloys Fischer, Theodor Litt, Eduard Spranger und Peter Petersen. Für alle dargestellten Forschungsfelder gilt, dass sowohl Studien vorliegen, die auf biographisches Material als zentrale Quellenbasis zurückgreifen, wie auch solche, die dieses Material als eines unter vielen verwenden. In Teilgebieten der Pädagogik (z.B. Religions- oder Sonderpädagogik) haben in den letzten Jahren historisch biographischer Arbeiten stark zugenommen; auf diese wird hier nicht eingegangen. In der Darstellung des Forschungsstandes enthalten wir uns, darauf sei hingewiesen, bewusst jeglicher Wertungen. Weitere Quellensammlungen bzw. Anthologien mit (auto)biographischen Texten von Emmerich 1974, Dornemann/Goepfert 1988, Hirsch 1981, Könnecker 1978, Schenk 1992, Rutschky 1983, Schlumbohm 1983, Voß 1979,1982. Dass Briefe „großer Pädagogen“ veröffentlicht werden, bedarf anscheinend keiner Begründung, wo hingegen die Veröffentlichung der Briefe unbekannter Menschen gerechtfertigt werden muss (Hammerstein 1988) Zu den in diesen Bereich gehörenden biographisch orientierten Arbeiten zur Geschichte des Frauenstudiums vgl. Glaser 1997. Die Veränderungen der Berufs- und Familienrollen von Lehrerinnen im höheren Schulwesen Frankreichs von der berufsorientierten, allein stehenden Lehrerinnen hin zu den „erziehenden und lehrenden Mütter“ analysiert auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews Marlaine Cacouault-Bitaud (1994). Die Technik der oral history kombiniert mit der Auswertung bildungspolitischer Dokumente nutzt Penny Summerfield für die Geschichte der „Schulerziehung in Lancashire 1900-1950“. Die Geschichte der englischen Sekundarschullehrerinnen beschreibt sie als eine „Verlustgeschichte“, denn mit der Einführung der Koedukation und der zunehmenden staatlichen Unterstützung verringern sich Aufstiegschancen, Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von Lehrerinnen. (1987/1994) Kraul (1996) beschreibt auf der Basis von Briefen das Leben einer Lehrerin in der Nachkriegszeit. Auf die zahlreichen Biographien über Pädagoginnen und Pädagogen gehen wir hier nicht weiter ein, wollen aber darauf hinweisen, dass die Absicht der Biographinnen und Biographen vergegenwärtigt werden muss: Über den verehrten Lehrer zu schreiben (Blochmann 1969) beinhaltet eine andere Perspektive als beispielsweise demokratische Traditionen der Pädagogik hervorzuheben (u.a. Amlung 1991, Hansen-Schaberg 1992).
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Biographieforschung in der Schulpädagogik Aspekte biographisch orientierter Lehrerforschung Sabine Reh/Carla Schelle
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„Im Unterschied zur historischen Erziehungs- und Sozialisationsforschung nehmen Arbeiten mit biographischem Akzent in den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen, etwa der Schulpädagogik, der Erwachsenenbildung oder der Sozialpädagogik bislang noch einen eher bescheidenen Raum ein“ beurteilte Krüger noch 1997 die Bedeutung des biographischen Ansatzes in der Schulpädagogik (Krüger 1997, S. 47). Seitdem hat die Situation sich allerdings verändert. Geschichte, Ergebnisse, vor allem aber Methoden und Verfahrensweisen dieser Forschungsrichtung im Bereich der Schulpädagogik und die Fruchtbarkeit erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung für schulpädagogische Fragestellungen sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Bevor dieses geschehen kann, muss erläutert werden, was unter Schulpädagogik, was unter Biographieforschung und schließlich unter schulpädagogischer Biographieforschung verstanden werden kann.
1. Biographieforschung und Schulpädagogik – Definitionen Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung wird – Marotzki folgend – definiert als qualitative Bildungsforschung, die den inhaltlichen Grundannahmen des interpretativen Paradigmas folgt und sich bezieht auf individuelle Lebens-, Bildungs- und Lernprozesse (vgl. Marotzki 1995, S. 55-59). Dabei können in solchen Prozessen durchaus Strukturen erkannt werden, die das individuell Besondere mit dem gesellschaftlich Allgemeinen vermitteln. Individuelle Lebens-, Bildungs- und Lerngeschichten – vorliegend in narrativen Texten – sind kulturell strukturiert; sie folgen wie soziales Handeln überhaupt einer Regelhaftigkeit bzw. produzieren diese, so folgen sie beispielsweise den Regeln von Erzählungen und verändern diese. Zu unterscheiden davon ist eine „quantitativ orientierte Lebenslaufforschung“ (vgl. Marotzki/Bauernfeind/Stoffers 1989, S. 30/31), die sich eher mit dem Vergleich von Lebensverläufen verschiedener Kohorten befasst, „mit der gesellschaftlichen Prägung von Lebensverläufen, der Verteilung und Ungleichheit von Lebensverläufen innerhalb einer Gesellschaft sowie deren Veränderungen im Kontext des gesellschaftlichen Wandels“ (Mayer 1987, S. 54). Schulpädagogik als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft kann zunächst als die „Wissenschaft vom Lehren und Lernen in der Schule“ verstanden werden, die sich umfassend mit den Gegenstandsfeldern Unterricht und Schule beschäftigt (Melzer/Sandfuchs 2004, S. 428). Wir orientieren uns im Verständnis dessen, was theoretische Perspektiven sind, unter denen die Schulpädagogik ihre Fragestellungen formuliert, leicht modifiziert an Tillmanns Systematisierungsversuch, den er ausgehend von Benner entwickelt (vgl. Benner 1978, S. 365-367). Zu unterscheiden ist demnach zwischen drei Perspektiven: erstens der Perspektive einer Theorie schulischer Vermittlungs- und Aneignungsprozesse im Unterricht, zweitens derjenigen einer Theorie der Schule und drittens einer Theorie schulischer Sozialisation (vgl. Tillmann 1993, S. 413). Wenn man davon ausgeht, dass die Erforschung von SchülerInnen- und LehrerInnenbiographien als Rekonstruktion von Bildungs- und Entwicklungsgeschichten Aufschlüsse über Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Lernen, Arbeiten und Leben in der Institution Schule gibt, kann die Biographieforschung mithin für alle schulpädagogisch relevanten Perspektiven Bedeutung gewinnen. Die Biographien Jugendlicher sind durchaus nicht selten Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung; sie wurden bis weit in die 1990er Jahre hinein allerdings selten in schulpädagogischen Zusammenhängen analysiert. Helsper stellte 1993 fest: „Obwohl die Entstehung der Jugend auf das engste mit der Verallgemeinerung und Ausdehnung des
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Schulbesuchs einhergeht, blendet die Jugendforschung, insbesondere die dominierende Subkultur- und Stilforschung der letzten Jahre, die zentrale Bedeutung der Schule für Jugendliche allzu oft aus“ (Helsper 1993, S. 351). Zu den wenigen Ausnahmen zählten die Studien von Hurrelmann/Wolf (Hurrelmann/Wolf 1986) und die Arbeit Nittels (Nittel 1992). Hurrelmann/Wolf zeigten zuerst auf, dass Schullaufbahnen, Schulerfolg und Schulversagen zentrale Bezugspunkte für sich anschließende biographische Deutungen der je eigenen Lebensgeschichte durch die Jugendlichen werden; Nittel analysiert anhand der Rekonstruktion gymnasialer Schullaufbahnen den Beitrag der Schule zur Identitätsentwicklung. In den letzten Jahren nun sind verschiedene Forschungsarbeiten erschienen, die die Vermittlung von Biographie und Schule untersuchen, indem sie die „Passungsverhältnisse“ von je schulspezifisch ausgeformten kulturellen Praktiken und subjektiven Identitätsentwürfen rekonstruieren. Die einzelne Schule wird hier jeweils als Raum für Anerkennung oder Ablehnung individueller Identitätsentwürfe analysiert (Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001, Kramer 2002, Idel 2004). Wiezorek bestätigt – ebenfalls ausgehend von Fallanalysen – diese Ergebnisse und stellt heraus, dass Schule generell als gesellschaftliche Institution begriffen werden muss, die im Hinblick auf die Biographie des Einzelnen eine „Strukturierungsinstanz unterschiedlicher Anerkennungsproblematiken ist, an die wiederum biographische Prozesse von Identitätsbildung und fortlaufender Identitätsherstellung gebunden sind“ (Wiezorek 2005, S. 305). Auch in Forschungen zum schulischen Umgang mit Heterogenität werden zunehmend häufiger dessen Auswirkungen auf biographische Prozessstrukturierungen und Formen der Identitätskonstruktion von Schülern und Schülerinnen anhand biographischer Erzählungen untersucht (z.B. jüngst Hummrich 2002; Weber 2003; Fürstenau 2004; Baur/Mack/Schroeder 2004). Kleinespel, die ebenfalls früh schon Schülerbiographien zu ihrem Forschungsgegenstand machte (Kleinespel 1990; Döpp/Hansen/Kleinespel 1996), versucht „das didaktische Konzept der Laborschule im Medium der Bildungsbiographien von Absolventinnen und Absolventen zu rekonstruieren und zu evaluieren“ (Kleinespel 1990, S. 56). Darüber hinaus allerdings fehlen weitgehend Untersuchungen, die im einzelnen nachweisen, inwiefern für das Unterrichtsgeschehen, in dem es immer an entscheidender Stelle um die Vermittlung einer Sache geht, lebensweltliche Erfahrungen von zentraler Wichtigkeit sind und daher auch von einer biographischen Strukturiertheit des Aneignungsprozesse auszugehen ist. Für den Bereich der politischen Bildung etwa konnte gezeigt werden, dass Sichtweisen zu gesellschaftspolitischen Konflikten mit der eigenen Lebenssituation zu tun haben, biographisch bedeutsam sind und dass Auseinandersetzungen mit Gesellschaft Anknüpfungspunkte für die Bildung eines Selbst- und Weltverhälnisses bei Jugendlichen darstellen (Schelle 1995, 2003). Angesichts der Tatsache, dass in Lehrplänen der Bezug der Unterrichtsinhalte zur Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen gefordert, in didaktischen Konzepten der biographische Aspekt betont wurde – etwa die Bedeutung von „Lerngeschichten“ in der Theorie des „Offenen Unterrichts“ (vgl. Wallrabenstein 1991, S. 128) –, außerdem die „pädagogische Biographieforschung“ schon vor einiger Zeit als ein für die Didaktik „interessanter Ansatz qualitativer Forschung“ deklariert wurde (Jank/Meyer 1991, S. 127), verwundert der vergleichsweise geringe Stellenwert, der den Schüler- und Schülerinnenbiographien in der schulpädagogischen Forschung bis Ende der 1990er Jahre tatsächlich zukam. Gruschka sprach von einer „Ausblendung der realen Bildungsprozesse der Schüler“ in der Didaktik und macht hierfür die „mißlungene Zivilisationsform Unterricht“ verantwortlich, der als Fachunterricht nicht wirklich biographisch bedeutsame Lernprozesse der Schüler und Schülerinnen organisieren und verfolgen kann (Gruschka 1994, S. 261).
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Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Lehrerforschung zu einem Kernbereich der Erforschung der Institution Schule und ihrer Veränderungsmöglichkeiten entwickelt: „Lehrerforschung boomt“ hieß es 1997 im ersten Band des „Jahrbuch(s) für Lehrerforschung“ (Buchen/Carle/Döbrich/Hoyer/Schönwälder 1997, S. 3), dem weitere folgten (vgl. Carle/ Buchen 1999; Beetz-Rahm/Denner/Riecke-Baulecke 2002). In deren Rahmen hat der biographische Ansatz an Bedeutung gewonnen (vgl. Stelmaszyk 1999; Kunze/Stelmaszyk 2004). Dafür spielt neben dem allgemeinen Trend, einer Konjunktur der Biographieforschung insgesamt in den Sozialwissenschaften (vgl. Marotzki/Bauernfeind/Stoffers 1989, S. 24) und verspätet in der Erziehungswissenschaft (vgl. Krüger 1997, S. 45f.), eine große Rolle der Veränderungsdruck, der gegenwärtig auf den Schulen lastet und die Erkenntnis, dass verordnete Reformen ohne Rücksicht auf die handelnden Personen, auf deren Erfahrungen und das heißt deren Biographien, im Sande verlaufen, mindestens nicht die gewünschten Effekte erzielt werden. Gemessen an der Zahl der Veröffentlichungen stellt die biographische Lehrerforschung immer noch einen Schwerpunkt schulpädagogischer Biographieforschung dar. Auch wenn dieses – im Verhältnis zu den Potentialen der Biographieforschung (vgl. Fabel-Lamla/Wiezorek 2006) – eine Verengung darstellt, werden wir unsere Darstellung im Folgenden auf diesen Bereich fokussieren und Ergebnisse der wichtigsten biographischen Forschungen über Lehrer und Lehrerinnen referieren. Im Anschluss daran folgt eine Charakterisierung des methodischen Vorgehens der Studien. Aus einem biographisch orientierten Lehrer-Forschungsprojekt (vgl. Reh 1996, 1999, 2003) wird dann ein kurzer autobiographischer Text vorgestellt und interpretiert. Exemplarisch soll hier aufgezeigt werden, an welche zentralen schulpädagogischen Fragestellungen die biographisch orientierte Lehrerforschung heranreicht und welche methodischen Probleme sich ihr stellen.
2. Entwicklung und Stand der biographischen Lehrerforschung Terhart hat an verschiedenen Stellen Vorläufer und Entstehungsgeschichte der biographisch orientierten Lehrerforschung dargestellt. Während das Lehrerbild der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bis in die 1940er Jahre hinein durch seine normativ-idealistischen Züge gekennzeichnet war, versuchte Caselmann Ende der 1940er Jahre erkennbare Lehrerindividualitäten zu Typen zusammenzufassen. Mit der Hinwendung der bundesrepublikanischen Erziehungswissenschaft seit Mitte der 1960er Jahre zu modernen soziologischen Theorien und zur empirischen Forschung war auch ein neuer Ansatz in der Lehrerforschung verbunden. Von Interesse war nun die „gesellschaftliche Eingebundenheit des Lehrers und seiner Position“, die Lehrerrolle, bis bald darauf die subjektive Übernahme dieser Rolle, die berufliche Sozialisation, mithin biographische Prozesse, und schließlich Fragen nach der Besonderheit der Arbeit des Lehrers bzw. der Lehrerin als Angehörige einer Profession und die Entwicklung von Professionalität in den Mittelpunkt des Blickfeldes zu rücken begannen. Der biographische Ansatz in der Lehrerforschung setzte sich im Laufe der 1980er Jahre durch; Terhart spricht von einem Wechsel „vom Sozialisations- zum Biographie-Paradigma“ in der Lehrerforschung (u.a. Terhart 1990; Terhart u.a. 1994; Terhart 1995a). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen – und das machen gerade auch Terharts eigene Forschungen deutlich –, dass ein größerer Teil der frühen Untersuchungen über Lehrer bzw. Lehrerinnen und ihre berufliche Entwicklung sich nicht in einem engen Sinne für subjektive Ent-
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wicklungs- und Lerngeschichten, sondern für Typen beruflicher Entwicklung interessiert. In einem engen Sinne verstanden, folgen sie weder dem „interpretativen Paradigma“, noch gehen sie fallrekonstruktiv vor; eher könnte man bei diesen Studien von einer Art „Berufslebenslaufforschung“ sprechen. Ausgehend von verschiedenen anglo-amerikanischen Forschungen zur Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen werden in den Arbeiten dieser Forschungsrichtung Phasenmodelle der Entwicklung beruflichen Selbstverständnisses und beruflicher Kompetenz bzw. beruflicher Handlungsfähigkeit (vgl. Terhart 1991), Modelle unterschiedlicher Entwicklungsverläufe solcher Kompetenz entworfen bzw. aus dem erhobenen Material abstrahiert und schließlich die kritischen Phasen bzw. Ereignisse und Personen, die zu Veränderungen und Übergängen von einem Entwicklungsstadium zum anderen führen, untersucht (etwa Hubermann 1989; Hirsch 1990; Kelchtermans 1990; Terhart u.a. 1994). Neben den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit dem Beruf bzw. der eigenen beruflichen Tätigkeit, die abhängig sind von der Anzahl der Berufsjahre, werden ausschlaggebend für Differenzen in den berufsbiographischen Entwicklungsverläufen vor allem das Geschlecht und die Schulform, für die eine Lehrerausbildung gemacht wurde bzw. an der die jeweilige Person unterrichtet. Terhart und andere haben in einer großen Untersuchung, die unter dem Titel „Berufsbiographien von Lehrern und Lehrerinnen“ 1994 veröffentlicht wurde (Terhart u.a. 1994) dargestellt, dass auch die Belastungen, die der Lehrerberuf bereithält, und deren Bewältigungsmöglichkeiten nicht nur in den verschiedenen Altersstufen bzw. Dienstjahren, sondern ebenfalls je nach Geschlecht unterschiedlich ausfällt. Offensichtlich stellt der Praxisschock beim Berufseinstieg für die Betroffenen – jedenfalls im Nachhinein betrachtet – keinen so großen Einschnitt dar, wie zunächst in der Forschung angenommen wurde. Vielmehr scheint die Belastbarkeit der Kollegen und Kolleginnen nach eigenen Aussagen mit der Zeit zu sinken, auch wenn die Einschätzung der eigenen beruflichen Eigenschaften und Fähigkeiten konstanter wird. Sorgen und Ängste – so die Interpretation – werden mit den Jahren meist spürbarer; Enttäuschung, Verbitterung, Mut- und Hoffnungslosigkeit nähmen zu. In den Berufsbiographien von Lehrern und Lehrerinnen konnten charakteristische Unterschiede festgestellt werden. Das Verhältnis der Lehrerinnen zur Berufstätigkeit ist immer durch einen doppelten Bezug, nämlich den auf die Haus- bzw. Familienarbeit und die Berufstätigkeit gekennzeichnet; geschlechtstypische Unterschiede wurden auch in den pädagogischen Orientierungen beobachtet. Für die Autoren ist all dieses noch einmal ein Plädoyer dafür, die berufliche Sozialisation als lebenslangen Prozess zu sehen, ein Plädoyer also für eine berufsbiographische Perspektive in der Lehrerforschung. Terharts These – Professionalisierung könne als eine berufsbiographische Entwicklung verstanden werden – ist in jüngerer Zeit nicht unwidersprochen geblieben. Gehrmann etwa betont als Ergebnis eines Vergleiches von standardisierten Lehrer-Befragungen, dass der behauptete berufsbiographische Einstellungs- und Erfahrungswandel im Rahmen des empirisch-analytischen Forschungsparadigmas nicht zu belegen sei und spricht demgegenüber von „berufsbiographischen Plateaueffekten“ (Gehrmann 2003, S. 459). Drei zentrale professionelle Orientierungsmuster – so seine Argumentation – begegnen über unterschiedliche Berufsalterstufen hinweg in etwa gleichen Anteilen: den 30% beruflich unzufriedenen, „desintegrierten Lehrkräfte“ stehen immer etwa 70% Berufszufriedene, die sich unterscheiden lassen in „konservativ Zufriedene“ und „liberal Zufriedene“, gegenüber (Gehrmann 2003, S. 460). Forschungen zur Professionalität von Lehrern und Lehrerinnen, die diese wie Terhart (vgl. Terhart 1995b, S. 238) als ein berufsbiographisches Entwicklungsproblem analysieren
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(etwa Schönknecht 1997; Herrmann/Hertramph 1997, Hericks 2005) machen allerdings deutlich, wo die Gewinne einer fallrekonstruktiv arbeitenden, biographisch orientierten Lehrerforschung liegen. Bezweifelt werden kann vor deren Hintergrund nämlich, ob die in standardisierten Einstellungserhebungen gefundene gleich bleibende „Berufszufriedenheit“ und die Persistenz bestimmter pädagogischer Einstellungen bzw. „beliefs“ Kompetenzzuwachs, Lernen in Erfahrung und die Ausprägung eines bestimmten berufsbiographischen Lernmodus ausschließt oder darüber überhaupt etwas aussagt. Schönknecht geht es darum, „in einem biographischen Ansatz die professionelle Entwicklung und den Berufsalltag aus der Sicht innovativer Grundschullehrerinnen“ als subjektive Lerngeschichten in unterschiedlichen Phasen zu untersuchen (Schönknecht 1997, S. 228). Für die Entwicklung innovativer Energien sind Schlüsselpersonen von Bedeutung, etwa die eigenen Kindern, oder kritische Ereignisse in außergewöhnlichen Situationen, etwa die Tätigkeit in anderen Schularten, fachübergreifender oder fachfremder Unterricht und ähnliche Konstellationen, in denen ausgetretene Pfade verlassen werden müssen. Schönknecht kann drei Strategien ausmachen, mit denen es den Lehrerinnen gelingt, berufszufrieden zu arbeiten und innovative Energien freizusetzen: „Auf sich selbst und die Kinder achten“, „Den eigenen Weg gehen“, „Erfahrungen machen und reflektieren“ (vgl. Schönknecht 1997, S. 234-236). Innovationsbereitschaft, Umgang von Lehrkräften mit „Schulmodernisierung“ untersucht auch Brüsemeister. In der Analyse berufsbiographischer Interviews aus Deutschland und der Schweiz arbeitet er unterschiedliche Gruppen bzw. Typen von Lehrkräften heraus, deren „Aufmerksamkeitsreichweite“ unterschiedlich groß ist. Diejenigen Lehrkräfte, die sich aufmerksam gegenüber dem Unterricht, der Klasse und der Schule als Ganzes zeigen, dabei offensichtlich eine hohe operative Flexibilität an den Tag legen, engagieren sich auch in hohem Maße für schulische Modernisierungen. Die Gruppe dieser Lehrer mit hoher „Aufmerksamkeitsreichweite“ bestand im Sample Brüsemeisters ausschließlich aus älteren Lehrkräften (Brüsemeister 2004). Eine biographische Studie zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern ist von Hericks (2006) vorgelegt worden. Die Basis bildet eine qualitative Längsschnittstudie mit Hamburger Lehrkräften, die über zwei Jahre in diese Phase hinein begleitet und im Rahmen ausführlicher narrativer Interviews regelmäßig zu ihren beruflichen Erfahrungen, subjektiven Prioritätssetzungen und Handlungsstrategien befragt wurden. Professionalisierung wird hier als Lern- und Bildungsprozess von Lehrkräften in der Wahrnehmung und Bearbeitung so genannter beruflicher Entwicklungsaufgaben rekonstruiert. Untersucht wird, wie sich biographisch und gesellschaftlich geformte Handlungsdispositionen einer Person – verstanden als Habitus – in individuellen Situationsdeutungen und Bewältigungsstrategien niederschlagen. Untermauert wird die starke Rolle des eigenen Unterrichts als Kern des beruflichen Handelns und damit auch der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern. Fehlende Reflexion und Auswertung der eigenen Unterrichtserfahrungen zieht Stagnation in außerunterrichtlichen Anforderungsfeldern (z.B. im Bereich des Beziehungsaufbaus zu den Schülerinnen und Schülern) nach sich und hat deprofessionalisierende Tendenzen zur Folge. Weitere, zeitlich nach geordnete, auf Dauer jedoch ebenso begünstigende Faktoren für eine gelingende Professionalisierung sind die Fähigkeit zu kooperativem Handeln mit Kolleginnen und Kollegen sowie eine kompetente Nutzung der institutionellen Strukturen als Ressourcen für eigene Ziele. Ein in diesen Studien immer wieder beschriebener spezifischer Lernmodus steht im Mittelpunkt des von Bauer entworfenen Strukturmodells professionellen pädagogischen
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Handelns. Diejenige Instanz, die zwischen „Handlungsrepertoire“, „Diagnosekompetenz“, den eigenen pädagogischen Werten, Zielen und den verinnerlichten Erwartungen eines vorgestellten, verallgemeinerten kritischen Beobachters vermittelt, nennt der Autor „professionelles Selbst“ (vgl. Bauer 2000, S. 65f., vgl. auch Bauer 1998). Dieses, durch Verarbeitung von Erinnerungen und Erfahrungen aus dem „professionellen Bewusstsein“ entstanden, ist biographisch strukturiert und sichert Kontinuität und Konsistenz im professionellen Entwicklungsprozess. Eine Steigerung zu „biographischer Reflexivität“ erfährt dieses von Bauer entworfene Modell in der biographisch orientierten Professionalisierungsforschung von Dirks (vgl. Dirks/Hansmann 1999; Dirks 2000). Hier wird ausgehend von der Rekonstruktion geglückter Anpassung im deutsch-deutschen Transformationsprozess herausgestellt, dass im Hinblick auf Lernbereitschaft und Flexibilität biographische Sinngebung in Geschichten, „Biografisierung“ notwendig ist; erst „biographische Standortklärung“ setze innovative Kräfte des Professionellen frei. Gegenüber einer solchermaßen essentialistischen Betrachtung eines identifizierbaren Persönlichkeitskerns des Professionellen und einer auf bekenntnishafte Biographie- und Identitätsarbeit abstellenden Konzeption schulischer Innovationspolitik setzen Reh und Schelle auf eine radikale Perspektivierung beruflichen Wissens durch sprachliche Verfügbarkeit über die vielen eigenen Berufsgeschichten und ihre Episoden, die deren unterschiedliche Deutbarkeit aufscheinen lässt (vgl. Reh/Schelle 2000; Reh 2004). Eine große Anzahl von Forschungsprojekten hat sich in den letzten zehn Jahren mit den Biographien von Lehrerinnen und Lehrern in den neuen Bundesländern befasst. Fast allen gemeinsam ist der Versuch, Muster biographischer bzw. berufsbiographischer Verarbeitung einer unsicheren, höchst ungeordneten Situation nach der „Wende“, eines Transformationsprozesses oder eines „doppelten Modernisierungsprozesses“ herauszuarbeiten und diese schließlich in den Kontext professionshistorischer und -theoretischer Fragen zu stellen, z.B. „Professionalisierungspfade“ zu beschreiben. Die interpretative Rekonstruktion einzelner Fälle konnte dabei zeigen, inwiefern für die Muster „biographische Ressourcen und Vorerfahrungen“ (Fabel 2004, S. 48) entscheidend wurden. (etwa Dirks u.a. 1995, Dirks 1997, 2000; Fabel 2004; Fabel-Lamla 2004; Händle 1998; Köhler 2000; Krause/Wenzel 1998, Neumann 1997; Meister/Wenzel 2002; Reh 1996, 1999, 1999a, 2003; Woderich 1997). Die verschiedenen Verarbeitungs- oder Professionalisierungstypen, die in den einzelnen Studien rekonstruiert sind und gewissermaßen die Verallgemeinerung des Einzelfalles darstellen, wurden bisher allerdings noch kaum zueinander in Beziehung gesetzt. Ein weiteres Problem dieser Forschungsarbeiten stellen die oftmals implizit höchst normativen Beschreibungen im besten Falle von Reaktionsweisen, im schlechtesten Falle von persönlichen Haltungen – etwa „trotzig-ablehnend“ oder „offen-gestalterisch“ – dar. Lehrerbiographien sind aber nicht erst und nicht nur im Kontext der erwähnten „Berufslebenslaufforschung“ und der Theorien über Professionalisierung Gegenstand schulpädagogischen Interesses geworden. Längere Tradition hat es, sich Lebensläufe von Lehrerinnen und Lehrern erzählen zu lassen, gewissermaßen historische Quellen zu erzeugen und diese zu kommentieren bzw. methodengeleitet zu interpretieren. Insbesondere zur NS-Zeit liegen eine Reihe solcher Dokumentationen vor. In historischer Perspektive tragen sie ebenfalls zur Erforschung der Institution Schule und der Handlungsspielräume in dieser Institution bei (z.B. Du Bois-Reymond/Schonig 1982; Dick 1988; Danz 1990; Klewitz 1987). So können die Erzählungen zu „Überlebensstrategien“, den „Tricks“ der Lehrer zur Umgehung staatlicher Anforderungen an sie in Schulen eines totalitären Systems, bis dahin gültige schulpädagogische Interpretationsmodelle in Frage stellen: „Damit machen die LehrerErzähler uns darauf aufmerksam, daß wir vielleicht zu ganz anderen Forschungsfragen und
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-methoden kommen müssen, wenn wir Veränderungen im Schulwesen untersuchen“ (Du Bois-Reymond/Schonig 1982, S. 211). Diesen Arbeiten zur Seite stehen einige Projekte, in denen Berufspraxis und Lebensgestaltung verschiedener Lehrergenerationen analysiert wurden. Biographische Selbstreflexion, autobiographisches Erzählen wurden zum Material, in dem man zum Beispiel versuchte, den spezifischen beruflichen Habitus der 68er-Generation aufzuspüren bzw. hermeneutisch zu rekonstruieren (Combe 1983; Bastian 1988). Petra Gruner hat einem solchen Forschungsinteresse gegenüber in der Analyse der Neulehrer-Generation in der SBZ/DDR deutlich gemacht, dass eine Sozial- und Bildungsgeschichte von Lehrergenerationen kaum ohne eine Analyse der politisch-historischen, öffentlichen Diskurse zu verfassen ist. In den von ihr untersuchten biographischen Erzählungen der Neulehrer etwa konnte sie einen engen Zusammenhang zwischen den tragenden biographisch-symbolischen Konstruktionen und den Mythisierungen des Neubeginns nach 1945 in der DDR herausarbeiten (Gruner 2000). In ähnlicher Weise hat Reh analysiert, wie die im Gespräch mit westdeutschen Erziehungswissenschaftlern produzierten berufsbiographischen Erzählungen ostdeutscher Lehrer und Lehrerinnen dem Kontext abwertender politischer und wissenschaftlicher Diskurse über die pädagogische Praxis der Schulen in der DDR nicht entkommen konnten. Dieser Kontext ließ die Lehrer und Lehrerinnen berufsbiographische Texte gestalten, die fast alle die Form erzählender Bekenntnisse annahmen. Viele sahen sich offensichtlich gedrängt, ihre Berufstätigkeit als Pädagogen nach der „Wende“ zu rechtfertigen, indem sie ihre Berufsgeschichten als Wirksamwerden akzeptierter Motive und Prinzipien pädagogischen Handelns – z.B. der Liebe zum Kind, des Interesses an einer „menschlichen“ Beziehung zu den Schülern und Schülerinnen, der Vorliebe für reformpädagogische Unterrichtsmethoden oder der Konzentration auf eine Vermittlung der Sache – gestalteten (Reh 2003).
3. Methoden in der biographischen Lehrerforschung Anhand von drei ausgewählten Beispielen soll veranschaulicht werden, in welcher Weise sich das methodische Instrumentarium und damit auch die methodologische Reflexion in der biographisch orientierten Lehrerforschung entwickelt hat. Eine gewisse methodische Naivität im Umgang mit erzählten Lebensgeschichten bietet der frühe, schon 1982 von Manuela Du Bois-Reymond und Bruno Schonig veröffentlichte Band „Lehrerlebensgeschichten“, in dem Erzählungen von Lehrerinnen und Lehrern aus Berlin und Leiden (Niederlande), die um die Jahrhundertwende geboren wurden, dargelegt sind. Eine Berliner und eine Leidener Forschergruppe haben pensionierte Lehrer und Lehrerinnen zu ihrer beruflichen Lebensgeschichte befragt und die Gespräche mit Tonband aufgezeichnet. Die in einem mehrschrittigen Arbeitsprozess erstellten Erzähltexte, denen in der Veröffentlichung jeweils kurze Beschreibungen zur Interviewsituation vorangestellt wurden, sind montierte Wortprotokolle, die weitgehend uninterpretiert und unkommentiert bleiben. Die Autoren grenzen sich mit diesem Verfahren, das einen deutlichen Bezug zur „Oral History“ aufweist, von standardisierten Befragungen und dem klassischen Quellenstudium ab, bringen gleichsam erst „lebendiges“ Material hervor, das auszudeuten sich lohnt: „Anders als in den herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Berufs- und Lehrerrollenanalysen, in denen von außen kommende, objekthafte Aussagen gemacht werden, produzieren sich in den Erzählungen die Subjekte selbst“ (Du Bois-Reymond/Schonig 1982, S. 209).
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Die Autoren sind geneigt, die produzierten Lehrererzählungen im Sinne eines allgemeineren Lehrergedächtnisses zu verstehen, welches über den Einzelfall hinaus berufsgeschichtlich und gesellschaftshistorisch bedeutungsvoll ist. Deutlich wird in allen Erzählungen, „daß das Berufsspezifische, die Arbeit des Lehrers, eingebettet ist in gänzlich andere Lebensbereiche und Lebenserfahrungen“ (Du Bois-Reymond/Schonig 1982, S. 210), sie also biographisch verstanden bzw. rekonstruiert werden muß. Im Zuge einer Konsolidierung der Biographieforschung entwickelte sich zusehends ein Bewusstsein für methodologische Fragen der Erhebung und Auswertung von biographischen Daten auch in der Lehrerforschung. Gerade jene Untersuchungen, die nach Phasen und Typen beruflicher Entwicklung fragen, orientieren sich dabei vor allem an Vorgehensweisen bzw. Methoden der soziologischen Lebenslaufforschung. Vielfach werden in entsprechenden Forschungsprojekten gleichzeitig unterschiedliche Methoden angewandt: „Wie inzwischen generell in den Sozialwissenschaften, so wird auch in der Lehrerforschung die Frage der geeigneten Forschungsmethoden vergleichsweise entspannt und gelassen behandelt. Nicht selten trifft man auf Methodenkombinationen zwischen ‚quantitativen‘ und ‚qualitativen‘ Forschungsstrategien“ (Terhart 1995b, S. 246). Ein Beispiel dafür stellt Terharts Projekt dar. Neben dem Einsatz von Fragebögen mit geschlossenen und offenen Fragen, die inhaltsanalytisch ausgewertet wurden, gibt es auch sogenannte „Intensivinterviews“, über deren Durchführung und Auswertung nicht im Einzelnen berichtet wird (vgl. Terhart u.a. 1994, S. 246f.). Untersuchungen zu Entwicklungsphasen und -typen waren zunächst weniger interessiert an der spezifischen Logik des Einzelfalles, der selten ausführlich interpretiert wird; das Vorgehen bei der Auswertung ist eher subsumtiv. Exemplarisch kann dieses aufgezeigt werden an der von Hirsch durchgeführten Schweizer Studie „Biographie und Identität des Lehrers. Eine typologische Studie über den Zusammenhang von Berufserfahrungen und beruflichem Selbstverständnis“ (Hirsch 1990). Sie stellt eine Sekundäranalyse von Untersuchungsmaterial dar, das aus Interviews mit 120 Zürcher Oberstufenlehrern entstanden ist. Die Autorin wendet Webers Verfahren der Idealtypenbildung an. Am Ende kommt die Autorin zu 6 Lehreridentitätstypen (u.a. Stabilisierungstyp, Entwicklungstyp, Problemtyp). Sie betont einschränkend: „Zu einer Missdeutung der Lehreridentitätstypen ganz anderer Art kann es kommen, wenn man vergisst, dass es sich um idealtypische Lehreridentitäten handelt. Idealtypen sind analytische Hilfsmittel, die als Deutungsschemata für gewisse Aspekte des Selbstverständnisses von Lehrern dienen können. Sie sind nicht dazu geschaffen und auch nicht dazu geeignet, das Selbstverständnis konkreter Lehrer genau, vollständig und distinkt zu beschreiben und sie danach zu klassifizieren“ (Hirsch 1990, S. 170). In der Arbeit von Hirsch geht es nicht um eine Interpretation und Rekonstruktion am erhobenen Material, sondern stärker um Bündelung, Kategorisierung und Typisierung unter bestimmten Gesichtspunkten. Den durchgeführten narrativen Interviews, deren ersten Teil Stegreiferzählungen der Befragten bilden, lag für den Nachfrageteil ein Leitfaden, der teils offene, teils geschlossene Fragen enthielt, und eine Art Itemliste vor. Die Interviews wurden nicht mit Tonband aufgezeichnet. Ein Kodierungssystem mit insgesamt 283 Kodes diente zur Verschlüsselung der Stegreiferzählungen in 7 Bereiche (etwa Bewältigungsfähigkeiten, Verhältnis zur Schule u.a.). Diejenigen Stegreiferzählungen, die keinem der 12 von Hirsch gebildeten Berufsbiografiemuster zugeordnet werden konnten, wurden nicht mit dem Kodiersystem ausgewertet. Die Autorin interpretiert und deutet die einzelnen Erzähltexte offensichtlich nicht extensiv. Die Erhebung der Daten in dieser Studie wird – betrachtet man es kritisch – Qualitätsan-
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sprüchen rekonstruktiver Forschung nicht gerecht. Es erfolgte keine genaue Dokumentation. Die Aussagen der Interviewten liegen nicht wortwörtlich vor, sie sind nur aus der Sicht der Protokollführung zu erfahren. Entsprechend ist schwer nach zu vollziehen, wie die Interviewten im Gesprächsverlauf ihre Sichtweisen hervorgebracht haben. In dieser Studie wird deutlich, dass nicht allein aufgrund der Erhebungsmethode der Anspruch qualitativer Sozialforschung schon als erfüllt betrachtet werden kann, sondern dass es vor allen Dingen darauf ankommt, diesen Anspruch in der Phase der Auswertung einzulösen. Die seit dem Ende der 1990er Jahre erschienenen biographisch orientierten Studien über Lehrer und deren Professionalität dokumentieren allesamt ein stark gewachsenes Bewusstsein für methodische Fragen. Sie greifen – wie in anderen Feldern der Biographieforschung auch – auf das von Fritz Schütze entwickelte Verfahren zur Produktion und Analyse narrativer autobiographischer Texte zurück (z.B. Dirks 2000; vgl. dazu Schütze 1981, 1983, 1984; vgl. dazu auch Jakob 1997; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997). An Bedeutung gewonnen hat auch ein methodisches Vorgehen entsprechend dem Vorgehen einer „Objektive Hermeneutik“ (vgl. dazu Oevermann 1983, 1996; auch Garz 1997; Reichertz 1997; Wernet 2000), teilweise wird auch auf die Dokumentarische Methode Bohnsacks Bezug genommen (vgl. dazu Bohnsack 1993) bzw. es werden diese methodischen Verfahren kombiniert (z.B. Fabel-Lamla 2004; Hericks 2006). Ein frühes Beispiel für die Fruchtbarkeit des Ansatzes der Objektiven Hermeneutik ist die Untersuchung von Arno Combe und Sylvia Buchen über die „Belastung von Lehrerinnen und Lehrern“ (Combe/Buchen 1996). Es geht hier im Kern darum, Aspekte von Belastung nicht quantitativ zu erfassen, sondern die qualitative Dimension von Belastung ausgehend von der Strukturlogik pädagogischen Handelns als offen und risikohaft zu begreifen. Die rekonstruierten Belastungsempfindungen, sind, so zeigen es die Interpretationen der verschiedenen Fälle, mit biographischen und berufsbiographischen Aspekten eng verwoben. Methodisches Prinzip der Untersuchung ist eine interpretative Fallrekonstruktion, „die ja erst eine schärfere und typologisch prägnante Fassung der sich reproduzierenden Handlungskreisläufe und ihres Zusammenhangs mit der Binnensicht der Beteiligten“ (Combe/ Buchen 1996, S. 19), von Handlungskreisläufen und ihrer subjektiven Bewertung als belastend, ermöglichen. Die Autoren gehen davon aus, dass im Einzelfall immer auch Allgemeines enthalten ist, weil „sich ein Praxisfeld keinesfalls in einer beliebigen, vielmehr in einer von anderen Praxisfeldern unterschiedlichen Weise geschichtlich und gesellschaftlich ausgeformt hat“ (Combe/Buchen 1996, S. 19). Sie haben „den Anspruch, regelhafte Grundmuster von Abläufen sowie deren subjektive Motiviertheit und Verarbeitung typologisch“ soweit herauszupräparieren, „daß jeweils grundsätzliche Vergleichsfolien“ entstehen (Combe/ Buchen 1996, S. 19). Der Untersuchung von Combe und Buchen liegen transkribierte Gespräche, Transkriptauszüge von Unterrichtsverläufen, aber auch schriftliche Notizen zugrunde. Es werden verdichtete Sequenzen interpretiert, in denen jeweils eine Ausgangshandlung und eine Anschlusshandlung zueinander in Bezug gesetzt werden: „Dieser quasi-gesetzlichen, intuitiv-regelhaft praktizierten Verkettung von Handlung und Anschlußhandlungen folgen wir bei der Interpretation“ (Combe/Buchen 1996, S. 17). Sie versuchen zu vermeiden, dass „Facetten eines konkreten Handlungsproblems durch die Maschen eines schablonierten, von außen an das konkrete Handlungsfeld herangetragenen Erfassungsmuster fallen“ (Combe/Buchen 1996, S. 13). Ein eigenes Verfahren entwirft Reh in ihrer Untersuchung berufsbiographischer Texte ostdeutscher Lehrkräfte. Ausgehend von einer methodologischen Kritik an der Biographie-
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forschung, der sie u.a. Unklarheiten und Ungenauigkeiten in Bezug auf ihr Referenzobjekt – gelebtes, erzähltes Leben oder Text – und mangelnde Reflexion auf die Biographieforschung als soziale Praxis, auf deren performativen Charakter vorwirft, entwickelt sie ein dreistufiges methodisches Verfahren einer reflexiven schulpädagogischen Biographieforschung. Ihrer Auffassung nach seien berufsbiographische Interviews und die transkribierten Texte 1. Bestandteile gesellschaftlicher Diskurse – im untersuchten Falle der Diskurse, in denen Wissen über ostdeutsche Lehrer und Lehrerinnen, Objektfelder und legitime Subjektpositionen dieses Wissens diskursiv produziert werden – , sie seien 2. institutionalisierte Interaktionen – im untersuchten Falle also interaktional aktualisierte Auseinandersetzungen mit den Regeln des sozialwissenschaftlichen, narrativen Interviews zwischen westdeutscher Erziehungswissenschaftlerin und ostdeutschen Lehrkräften – und 3. figurale Konstruktionen, textuelle Gestaltungen einer metaphorischen Referenz, keine Reproduktion des Gewesenen – im untersuchten Falle der Nutzung von Erzählmustern zur Darstellung von Bekenntnissen. Infolgedessen sollen ihrer Ansicht nach berufsbiographische Texte in drei Schritten analysiert werden. Zum ersten werden Diskurse, in dem der zur Debatte stehende „Gegenstand“ diskursiv erzeugt wird, in einem an Foucault anschließenden diskursanalytischen Verfahren als kohärente diskursive Praktiken und als „Kontext“ der Interviews beschrieben; zum zweiten werden die Strukturen der jeweiligen interaktionalen „Verhandlungspraktiken“ der einzelnen Interviews mit dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik interpretiert; zum dritten werden die figuralen Konstruktionen der Interviews einer rhetorischen Lektüre unterzogen, in der die Figuralität des Textes, d.h. seine Sinnproduktion auf unterschiedlichen Ebenen des Textes – von verschiedenen Erzählmustern bis zu den Tropen, zur metaphorischen Rede über Schule etwa – re- und dekonstruiert wird (Reh 2003, insbesondere S. 21-91). Auch wenn in der Lehrerbiographieforschung auf durchaus unterschiedliche Verfahren der Erhebung und Interpretation zurückgegriffen wird, lassen sich an dieser Stelle dennoch einige Kriterien im Hinblick auf Erhebung, Analyse und Dokumentation von Material aufstellen, die es in der Zukunft einzuhalten gilt, will man nicht hinter Erreichtes zurückfallen: a) Die Erhebungsverfahren müssen es den Beforschten auch erlauben, ihre „eigenen Geschichten“ hervorzubringen. b) Für die Auswertung autobiographischer Texte sollte bei einzelnen Textstellen, deren Auswahl zu begründen ist, ein kleinschrittiges Vorgehen, Satz für Satz, Sequenz für Sequenz, ein Vorgehen, das den Text wörtlich nimmt, unabdingbar sein, um zu vermeiden, dass lediglich – unter Umgehung der Interpretation des Einzelfalles – subsumtiv gearbeitet wird. c) Das Aufführen unterschiedlicher, konkurrierender Lesarten im Interpretationsverfahren dient ebenso wie d) die angemessene Dokumentation der entstandenen autobiographischen Texte bzw. des Materials der Transparenz. Der Leser oder die Leserin muss nachvollziehen können, auf welcher Grundlage die (Interpretations-) Ergebnisse des Forschers bzw. der Forscherin zustande gekommen sind. e) Unter Umständen und je nach Fragestellung könnte es außerdem günstig sein, wenn Dokumente, die vom Lehrerhandeln zeugen – also etwa Unterrichtsvideos bzw. -beobachtungen oder Unterrichtsvorbereitungen und -mitschriften des Lehrers bzw. der Lehrerin – die autobiographischen Texte um eine andere Perspektive ergänzen.
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4. Ein Interpretationsbeispiel Im Folgenden soll es darum gehen, die oben aufgeführten Kriterien der qualitativen Analyse berufsbiographischer Lehrerinterviews zu veranschaulichen. Es kommt an dieser Stelle darauf an zu zeigen, welchen Reichtum an Interpretationsfolien die sequentielle Interpretation liefern kann, deren Nutzen immer wieder bestritten und die im konkreten Forschungsprozess oft auch nicht realisiert wird. Selbstverständlich kann hier keine vollständige Interpretation eines autobiographischen Textes bzw. eines biographisch orientierten Gespräches vorgenommen werden. In der Analyse eines kurzen Gesprächsausschnittes1 wird der Versuch unternommen, den „Fall“ des Herrn Müller bzw. seine Darlegungen hermeneutisch zu rekonstruieren. Der vorliegende Gesprächsausschnitt entstammt einem Interview, das im Rahmen eines Forschungsprojektes durchgeführt wurde, in welchem es um die Analyse unterschiedlicher Strukturmodelle der Veränderung bzw. des Erhalts beruflicher Identität bei Lehrern und Lehrerinnen in den neuen Bundesländern, d.h. im Kontext von Transformations- und Modernisierungsprozessen geht (vgl. Reh 1996, 2003). Die Untersuchung dieser Transformationsprozesse in ihren Auswirkungen auf die Konstruktion der eigenen Berufsgeschichte ist im Rückblick zu einem entscheidenden Motor der schulpädagogischen Biographieforschung geworden und kann bis heute die biographisch bedeutsame Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Schulentwicklung dokumentieren.
4.1 Transkriptauszug2: „Interviewerin: (...) haben sie sich denn nach der Wende eigentlich mal Unterricht in Westberlin oder wo auch (Herr Müller: ja) immer oder Nordrhein-Westfalen angeguckt? Herr Müller: ja, also ich war viel in Berlin hospitieren, in drei Schulen, da hat man mir auch ohne weiteres die Möglichkeit dazu gegeben, (beiläufig) das war interessant, aber, ja da kam meine Feststellung, daß auch nur mit Wasser gekocht wird, das heißt sie haben dieselben Probleme, die Lehrer, die Schüler, gerade Berlin, sind ganz andere, gewesen, jetzt muß ich dazu sagen, jetzt gleicht sich das so ein bißchen an, das heißt also, die Schüler waren lebhafter, offener, direkter zum Lehrer, da fehlte, da fehlte oftmals, ja, (gedämpft) wo ich am Anfang bissel erschrocken war, nicht Abstand, kann man nicht sagen, aber, so ein gesunder ne gesunde Akzeptanz des Lehrers, war manchmal gar nicht da, da hab ich gedacht, um Gottes Willen, hab ich nicht so richtig verstanden und muß ich sagen, versteh ich auch bis heute nicht, ich bin bestimmt kein Lehrer, der einen autoritären Unterricht macht, auf keinen Fall, aber ich sage mir auch, ich muß versuchen, ne gewisse Ordnung zu wahren, die muß da sein und ich muß mich als Persönlichkeit wahren können, das hab ich öfter festgestellt, das war nicht mehr gegeben, habe auch sehr guten Unterricht gesehen. (…)“
4.2 Interpretation Der Gesprächsabschnitt beginnt mit einer Frage der Interviewerin. Noch bevor sie ihre Frage zu Ende bringt, bestätigt Herr Müller mit einem „ja“. Der entstandene Klärungsbedarf enthält Hinweise über das Setting der Gesprächssituation. Zu vermuten ist, dass es der Interviewerin um die Abstimmung von Voraussetzungen geht, weil es sonst passieren könnte,
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dass man über etwas redet, das nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die Formulierungen „eigentlich mal“ und „wo auch immer“ wären in diesen Bezügen weiteren Deutungen zu unterziehen. Herr Müller beantwortet die Frage der Interviewerin positiv: „Ja, also ich war viel in Berlin hospitieren“. Er beschreibt einen abgeschlossenen Vorgang, macht eine unspezifische Mengenangabe, nennt Berlin (Ost oder West? Oder beides?) und verwendet einen Fachbegriff („hospitieren“). Dann folgt die Präzisierung, er betont: „in drei Schulen“ und fährt fort: „da hat man mir auch ohne weiteres die Möglichkeit dazu gegeben“. Unklar bleibt, wer mit „man“ gemeint ist (die Schulen bzw. Schulleitungen der Schulen, die er besucht hat oder seine Dienststelle?). Dass es für ihn erwähnenswert ist von einer „Möglichkeit“ zu reden, die ihm „ohne weiteres gegeben“ (i.U. zu eine Möglichkeit haben) wurde, deutet darauf hin, dass dies kein selbstverständlicher Vorgang war, sondern eher so etwas wie ein Angebot darstellte, das er für sich alleine in Anspruch genommen hat. Es bleibt unklar, ob er aus eigener Initiative hospitiert hat und die Möglichkeit dazu eingeräumt bekam oder, ob er, weil er die Möglichkeit dazu hatte, von dem Angebot Gebrauch machte. Herr Müller geht auf die Frage der Interviewerin ein, er hätte es auch zunächst bei einem einfachen ja belassen können. Offenbar hat er rekonstruiert, dass sie hier mehr wissen will, und er ist motiviert, sich umfassender zu äußern. Die in der Frage angelegte Option, möglicherweise keinen Unterricht angeguckt zu haben, kann er verwerfen. Er war sogar an mehreren Schulen und betont dies. Mit der näheren Beschreibung „das war interessant“ stellt er – wenn auch beiläufig betont – in Aussicht, dass er dort etwas Besonderes erlebt hat. Als interessant werden gewöhnlich Beobachtungen beschrieben, die die Aufmerksamkeit besonders auf sich ziehen, die anders sind als erwartet und daher erinnert werden. Die Formulierung deutet auf einen Zuwachs von Erfahrung/(-swissen) hin: hier ist jemand einen Schritt weitergekommen (vgl. Schütz/Luckmann 1994). Mit dem darauffolgenden „aber“ wird eine Einschränkung, eventuell ein Widerspruch angekündigt und mit dem anschließenden „ja“ bekräftigt: „da kam meine Feststellung“. Auffällig ist der Begriff „Feststellung“, weil Herr Müller hier nicht über gleichsam objektiv feststellbare Tatsachen, sondern über Erfahrungen bzw. Interpretationen kommunikativer Prozesse spricht. Er erläutert metaphorisch: „daß auch nur mit Wasser gekocht wird“ (vgl. Combe/Buchen 1996, S. 191f.). Gefragt werden kann hier, ob die Redewendung über eine Stereotypisierung hinaus weitere Funktionen erfüllt. Handelt es sich um ein Argumentationsmuster, das dazu dient, eine erlebte Infragestellung der eigenen Arbeit und damit auch der eigenen Person zurückzuweisen? Es fällt auf, dass der Hinweis: „auch nur“ eine zweifache Abwertung enthält und im vorliegenden Zusammenhang sicherlich gemeint ist, dass es im Westen nicht anders ist als Herr Müller es aus dem Osten kennt, nicht besser also als im Osten. Hatte Herr Müller tatsächlich die Erwartung, dass in Berlin nicht nur „mit Wasser gekocht“ wird? Oder überträgt Herr Müller eine Abwertung, die das ostdeutsche Bildungssystem durch seine westdeutschen Beobachter erfuhr und teilweise noch erfährt, jetzt auf diese selbst: die sind genauso schlecht, wie sie den Ostlern immer unterstellen zu sein? Deutlich wird, dass der die ostdeutschen Lehrer abwertende pädagogische Diskurs nach der „Wende“ Spuren in Herrn Müllers subjektivem Erleben sowie in seinen berufsbiographischen Konstruktionen hinterlassen hat. Er fährt mit den Worten fort: „das heißt, sie haben dieselben Probleme, die Lehrer“. Er trifft eine weitreichende Aussage. Von Problemen zu reden bedeutet, dass irgendetwas kri-
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senhaft, konflikthaft ist bzw. auf ihn so gewirkt hat. Welche Probleme sind gemeint? Worin besteht das Vergleichbare? Wer hat dieselben Probleme, womit? Auffallend ist der Modus der Vergemeinschaftung. Man erfährt nichts Konkretes, außer, dass Herrn Müller Probleme aufgefallen sind, die Strukturähnlichkeiten mit Problemen aufweisen, die er kennt. Die verallgemeinernde Perspektive ist entlang dem Motto entwickelt: da ist es nicht besser als hier, denen geht es nicht besser als uns. Herr Müller erläutert: „die Schüler, gerade Berlin, sind ganz andere, gewesen“. Während er bezogen auf „die Lehrer“ zuvor eine Gemeinsamkeit beschrieben hat, gibt es bezogen auf nicht näher beschriebene Schüler eine Besonderheit, die damit zu tun haben muss, dass diese in Berlin zur Schule gehen. Was ist damit gemeint? Meint er die Schüler3 in Ostberlin vor der „Wende“? Meint er die Schüler in Westberlin nach der „Wende“? Meint er, dass sich die Schüler in Ostberlin und Westberlin, von denen seines Wohnortes unterscheiden? Der Text lässt offen, auf welche spezielle historische und gesellschaftspolitische Situation sich die Rede bezieht – eröffnet damit Deutungsmöglichkeiten und vermeidet an dieser Stelle „Feststellungen“. Merkwürdig ist, dass er für die Lehrer dieselben Probleme ausmacht, während die Schüler doch andere sind. Es stellt sich die Frage, worin die Probleme dann liegen können. Mit den Worten „jetzt muß ich dazu sagen“ bezieht er sich vermutlich auf die nachstehende Aussage. Er schließt relativierend an: „jetzt gleicht sich das so ein bißchen an“. Die zeitliche Setzung „jetzt“ legt nahe, dass er sich in diesem Punkt auf die aktuelle Situation (Januar 1996) bezieht. Aber was gleicht sich an? Zunächst beschreibt Herr Müller näher, worin das „ganz andere gewesen“ bestand: „das heißt also, die Schüler waren lebhafter, offener, direkter zum Lehrer“. Im Grunde beschreibt er sozial anerkannte Verhaltensweisen, wünschenswertes Schülerverhalten. Mit den Begriffen lassen sich spontan Assoziationen verbinden: mit lebhaft z.B. freudig aufgeregt, mit offen vor allem zugänglich, nicht verschlossen und mit direkt etwa geradeaus, ohne Umschweife. Die Aussage ist in eine pauschale Argumentationsfigur eingebunden. Herr Müller spricht unpersönlich und anonym von den Schülern und Lehrern. Er strukturiert eine komplexe Erfahrung gedanklich und teilt sie in knappen Worten mit, geschlechtsspezifische Beschreibungen macht er nicht. Er scheint stillschweigend vorauszusetzen, dass die Interviewerin schon weiß, was er meint. Thematisiert ist die Lehrer-Schüler-Beziehung, die in der Regel emotional aufgeladen ein Kernproblem pädagogischen Handelns und ein Kernthema pädagogischer Reflexion darstellt. Der Sprachgestus von Herrn Müller ist eher distanziert, so als würde er Bericht erstatten. Stockend fährt er fort „da fehlte, da fehlte oftmals“. Er zielt auf ein beobachtetes Defizit, das quantifiziert wird. Was mit „da“ gemeint ist bleibt unklar. Es folgt ein „ja“, mit dem der Redefluss unterbrochen ist, und er erläutert dann in einem gedämpften Tonfall: „wo ich am Anfang bissel erschrocken war“. Er stellt eine neue Erfahrung in Aussicht, die mittlerweile abgeschwächte Wirkung auf ihn hat, zu Beginn offensichtlich aber mit einer starken affektiven Reaktion, einer emotionalen Betroffenheit verbunden war. Kann man sich wirklich ein bisschen erschrecken, oder wählt Herr Müller hier eine rhetorische Form, um sein Empfinden – vielleicht ironisch – zum Ausdruck zu bringen? Nun folgt zu „da fehlte oftmals“ die Anschlussäußerung: „nicht Abstand, kann man nicht sagen, aber so ein gesunder ne gesunde Akzeptanz des Lehrers“. Herr Müller macht hier wieder eine weitreichende Äußerung. Nicht der Abstand (räumliche Größe/Distanz), sondern die Akzeptanz (soziale Größe/Kategorie) ist offenbar krisenhaft, wird als problematisch dargestellt. Und obwohl es sich bei der Akzeptanz des Lehrers um ein soziales Phänomen handelt, formuliert der Text hier metaphorisch: Werden aus der Sicht des Inter-
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viewten die von ihm beobachteten Lehrer häufig von den Schülern nicht akzeptiert, so handelt es sich dabei – könnte im Umkehrschluss gelten – um ein krankhaftes Verhalten oder Verhältnis – das einerseits nicht natürlich ist, aber andererseits auch nicht moralisch zu bewerten. Abstand und Akzeptanz scheinen Indikatoren für verschiedene Dimensionen, auf denen sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis für Herrn Müller als ein gleichzeitig nicht gesellschaftlich vermitteltes abtragen und beschreiben lässt. Ob hier „oftmals“ etwas fehlt oder nur „manchmal“ gar nicht da ist, bleibt letztlich unbestimmt. Dieses könnte Ausdruck dafür sein, dass Herr Müller die widersprüchliche Lage von Lehrpersonen, deren unsichtbare, anstrengende Beziehungsarbeit nach dem Verlust „distanzgebietender Werte“ (Combe/Buchen 1996, S. 66) erfährt. Im Verlauf des gesamten Interviews wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler bzw. das Verhältnis zu ihnen für Herrn Müller eine wichtige Bedeutung hat. Aus seinen Schilderungen geht hervor, dass er z.B. Vertrauenslehrer gewesen ist, dass sich Schüler in prekären Situationen für ihn eingesetzt haben. An einer späteren Stelle des Interviews sagt er: „ich bin Lehrer geworden, weil ich gerne mit Kindern arbeite“. Vielleicht sind die Beobachtungen zum Lehrer-Schüler-Verhältnis deshalb für ihn so einschneidend. Anschließend legt er dar: „hab ich nicht so richtig verstanden und muß ich sagen, verstehe ich auch bis heute nicht“. Unklar bleibt, ob hier eine neue Erfahrung vorliegt, die nicht in den vorhandenen Wissensvorrat, in das Erfahrungswissen integriert werden kann, weil sie für Herrn Müller fremd ist, oder ob er eine sprachliche Floskel wählt, mit der er indirekt zu verstehen geben will, dass er hier etwas nicht für gut heißt? In diesem Fall würde das zuvor beschriebene Schülerverhalten „lebhafter, offener, direkter“ nachträglich herabqualifiziert werden. Nachdem er zunächst einen Horizont entfaltet hat: Lehrer, die er beobachtete, folgt dann der Gegenhorizont (vgl. Bohnsack 1993): Lehrer, so wie er einer ist: „ich bin bestimmt kein Lehrer, der einen autoritären Unterricht macht“. Er muss sich zu dieser Aussage, diesem Bekenntnis, veranlasst sehen. Möglicherweise hat er – aus seiner Sicht – einen Verlust an Kontrolle und Führung durch Lehrer wahrgenommen; für ihn setzen sich die beobachteten Lehrer nicht genügend durch; aber das kann nicht gesagt werden, ohne gleichzeitig zurückzuweisen, was ihm tatsächlich keiner in dieser Situation unterstellt hat: jemand zu sein, der autoritären Unterrichtet befürwortet. Er bekräftigt noch einmal seine letzte Äußerung „auf keinen Fall“; er grenzt sich ab und schließt spannungsreich an: „aber ich sage mir auch, ich muß versuchen, ne gewisse Ordnung zu wahren“. Der Text schränkt ein: nur eine „gewisse Ordnung“. Mit „Autorität“ und „Ordnung“ sind im Text nun Merkmale aufgerufen, die im pädagogischen Nach-“Wende“Diskurs immer wieder mit Unterricht, Lehrerhandeln und pädagogischen Werten in der DDR verbunden werden. So ist vielleicht zu verstehen, dass im Text gleichzeitig eine Distanzierungsbewegung und eine Neubegründung zu erkennen sind; hervorgehoben wird nämlich gleichzeitig: „und ich muß auch mich als Persönlichkeit wahren“. Das geht möglicherweise nur mit „Abstand“ und „Akzeptanz“ und die wiederum haben mit einer „gewissen Ordnung“ zu tun. Hierin wird ein berufliches Selbstverständnis von Herrn Müller zum Ausdruck gebracht, er formuliert sein Verständnis der Lehrerrolle. Einem solchermaßen formulierten Anspruch scheinen gerade die von Herrn Müller in Berlin beobachteten Lehrer – so jedenfalls legt es der Text nahe – häufig nicht zu erfüllen: Pädagogisches Handeln misslingt und die persönliche Integrität der Lehrperson bleibt nicht gewahrt. Herr Müller konstruiert in diesem Text ein Bild davon, wie er nicht werden will. Abschließend fasst er noch einmal zusammen: „das hab ich öfter festgestellt, das war nicht mehr gegeben“.
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Er schließt mit den Worten: „habe auch sehr guten Unterricht gesehen“, womit er eine plötzliche Wendung hin zu positiven Erfahrungen markiert; insgesamt ist ein Perspektivenwechsel eingeleitet, der die Frage aufwirft, warum nicht zuerst die positiven Erfahrungen geschildert werden. Vielleicht, weil die Probleme einen tieferen Eindruck hinterlassen haben, ihn verunsichern? Möglicherweise lenkt er als ehemaliger DDR-Lehrer die Aufmerksamkeit darauf, dass es Probleme gibt, die man gemeinsam diskutieren kann und die Interviewsituation bietet ihm ein Forum, seine Haltung dazu anzudeuten.
4.3 Resümee Die dargelegten Erfahrungen reihen sich in die „Wende-“ bzw. „Nachwendezeit“, die ein wichtiges Ereignis im Leben des Herrn Müller ist und insbesondere berufsbiographisch bedeutungsvoll bleibt, weil er sich umorientieren muss, der Arbeitsplatz unsicher geworden ist u.v.m. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen sind Auslöser für die geschilderte Auseinandersetzung, ohne dass an dieser Stelle geklärt werden kann, inwiefern hier symptomatisch Besonderheiten des sogenannten Vereinigungsprozesses deutlich werden. Das Interview ist gekennzeichnet von einer Spannung bzw. Disharmonie zwischen einer freundlichen Form, einem freundlichen Umgangston und inhaltlichen Botschaften, die kritische Anspielungen enthalten. Der Text reproduziert Klischeevorstellungen. Er formuliert Widersprüche. Deutlich wird seine eigentümliche Struktur etwa daran, dass immer wieder mit positiven Setzungen begonnen wird und dann weit reichende Einschränkungen gemacht werden. So haben die „interessanten“ Unterrichtsbeobachtungen im Westen letztlich doch gezeigt, dass auch dort nur „mit Wasser gekocht“ wird; die wünschenswerten „lebhaften, offenen“ Schüler sind gleichzeitig diejenigen, die den Lehrer zu wenig akzeptieren. Die Rede des ostdeutschen Lehrers macht den Eindruck, als ginge er davon aus, dass die Interviewerin schon weiß, auf was er hinaus will; es klingt so, als setzte er ihr Einverständnis in der Sache voraus, so als teile sie seine Einstellung und seine pädagogische Haltung. Gleichzeitig dokumentiert der Text immer wieder das beharren auf Beobachtungen von Fremdheitsgefühlen („versteh ich auch bis heute nicht“) und Wahrnehmungen von Differenz („die Schüler, gerade Berlin, sind ganz andere gewesen“). Die hier vorgenommene Interpretation eines kurzen Interviewauszuges verdeutlicht, dass auf diese Art Erkenntnisse gewonnen werden, die auf den ersten Blick nicht ins Auge fallen. Klingen Herrn Müllers Beschreibungen/Zuschreibungen zunächst pauschal und häufen sich latente Andeutungen an, so lassen sich Zug um Zug daraus Arbeitshypothesen formulieren, die anhand der Interpretation weiterer Interviewabschnitte geprüft werden müssten. Es kann vorläufig festgehalten werden: (a) Herr Müller kommt am Ende dieser Interviewpassage zur Darlegung seines professionellen Selbstverständnisses: Die Integrität von Lehrpersonen muss gewahrt bleiben. (b) Herr Müller zielt in seinen Reflexionen auf eine Problemlage ab, die sich angesichts von Modernisierungsprozessen auch andernorts findet – Kernpunkt der von ihm beobachteten krisenhaften Situation in den Schulen ist ein labiles Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schülerschaft – die Lehrer-Schüler-Beziehungsarbeit spielt für ihn eine besondere Rolle und stellt eine Herausforderung für sein künftiges Handeln da. Möglicherweise nimmt Herr Müller eine Entwicklung in den Schulen wahr, die etwas mit dem zu tun hat, was Combe/Buchen mit der „Umstellung von entlastenden Traditionen auf
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Ich-Leistungen“, als einen Modernisierungsprozess beschreiben (Combe/Buchen 1996, S. 280; vgl. aber auch S. 220). Offensichtlich kann immer weniger zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen Lehrer bzw. Lehrerin und Schüler bzw. Schülerin auf vorgegebene Rollenmuster zurückgegriffen werden. Jeweils neu muss die Balance von Nähe und Distanz in den einzelnen Begegnungen, den einzelnen pädagogischen Situationen gefunden werden – es gibt kein Entkommen aus dieser Situation, in der der Lehrer oder die Lehrerin jeweils wieder neu die Integrität der eigenen Person wahren muss.
5. Fazit und Ausblick Schulpädagogische Biographieforschung, als deren Gegenstand hier insgesamt die Lern-, Arbeits- und Lebensgeschichten von Lehrpersonen und Schülern und Schülerinnen in der Schule bestimmt wurde, hat sich zunächst entwickelt als biographisch orientierte Lehrerforschung; in jüngster Zeit sind aber auch Schüler und Schülerinnen stärker ins Blickfeld einer biographisch orientierten schulpädagogischen Forschung gerückt. Von einer zunächst eher randständigen Position aus entwickelte sich die Biographieforschung bis heute zu einem fast schon integralen Bestandteil schulpädagogischer Forschung, die Beiträge zu zentralen Fragestellungen der Schulpädagogik liefert. So stehen etwa im Mittelpunkt der biographisch orientierten Lehrerforschung zwei zur Zeit generell zentrale Fragen, nämlich diejenige nach der Professionsentwicklung und die nach den Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Schulen. Insgesamt betrachtet hat die Biographieforschung bisher wichtige Beiträge zu allen Theorieperspektiven der Schulpädagogik geleistet – ob es sich nun um Fragestellungen einer Theorie unterrichtlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse, um schultheoretische oder sozialisationstheoretische Fragestellungen handelt. Erkenntnisse geliefert hat sie über: – – –
die Bedeutung der Schule und schulischer Anerkennungs- und Partizipationskulturen für die biographischen Konstruktionen der Schüler und Schülerinnen; die Struktur pädagogischer Tätigkeit in der Schule als einer professionellen und Professionalisierung als eines spezifisch biographischen Entwicklungsprozesses und Lernmodus, Bedingungen von schulischen Innovationsprozessen – individuell auf Seiten der Lehrer und Lehrerinnen im Sinne spezifischer biographischer Ressourcen und organisatorisch auf der Ebene der einzelnen Schule als Notwendigkeit, Räume für biographische Reflexivität zu schaffen.
Sicherlich ist aber das Potential schulpädagogischer Biographieforschung damit noch nicht ausgeschöpft. Beschreibungen von unterrichtlicher Tätigkeit und Darstellungen von pädagogischen Szenen in biographischen Erzählungen, die im einzelnen in ihrer jeweiligen sprachlichen Form und Figuralität zu rekonstruieren sind, werden es möglicherweise erlauben, deutlicher als bisher biographische Strukturen als Gelingens- oder Misslingensbedingungen unterrichtlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse zu rekonstruieren. Viele der in den letzten Jahren durchgeführten biographisch orientierten schulpädagogischen Studien sind mit zunehmend größerer methodischer Umsicht konzipiert und entsprechen Qualitätsanforderungen an fallrekonstruktiv-interpretativ verfahrende Forschung. Dennoch entgehen sie in der Darstellung ihrer Ergebnisse nicht immer den Gefahren einer
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„Folklore der Fälle“, in der am Ende die Biographien von der Wissenschaftlerin oder dem Wissenschaftler neu, richtig und besser erzählt sind. Dabei werden nicht immer psychologisierende Werturteile über die angemessene oder unangemessene „Verarbeitung“ von Modernisierung, Transformation oder anderen Schlüsselereignissen vermieden. Gleichzeitig – und möglicherweise damit zusammenhängend – scheint die Verallgemeinerung des in den Fallrekonstruktionen produzierten Wissens in „Typen“ oder „Mustern“, in Theorien über gesellschaftlich vermittelte subjektive Praxisformen noch nicht wirklich überzeugend, findet doch die schulpädagogische Biographieforschung selbst nicht immer Anschluss an ihr eigenes Wissen.
Anmerkungen 1
2 3
Das Gespräch fand am 16.1.1996 in einem Vorort Berlins statt. Die Gesprächsdauer insgesamt beträgt etwa 110 Minuten. Die Interviewerin ist ausgebildete Lehrerin und Erziehungswissenschaftlerin aus den alten Bundesländern. Herr Müller ist zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt. Er unterrichtete in der DDR die Fächer Geschichte und Staatsbürgerkunde. Seit 1995 ist er Lehrer an einer Förderschule und studiert berufsbegleitend Lernbehindertenpädagogik. Der folgenden Interpretation ging eine sequenzanalytische Bearbeitung der Anfangssituation dieses Interviews in einem Forschungskolloquium an der Universität Hamburg voraus. Es liegt eine einfache Form der Transkription vor. In (…) befinden sich Anmerkungen zur Intonation, die sich auf die nächsten Worte beziehen. Das Gespräch dauert bis zu dem hier abgedruckten Abschnitt etwa eine Stunde. Herr Müller benutzt in dem hier vorliegenden Interviewausschnitt nur die männliche Form: der Lehrer, der Schüler. Entsprechend wird auch in unserer Interpretation diese Form benutzt.
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Biographieforschung in der Berufspädagogik Klaus Harney/Andreas Ebbert
Inhalt 1. Schule und Beruf als Referenzen der beruflichen Biographie und des beruflichen Lebenslaufs 2. Ungleichzeitigkeit und Segmentierung 3. Die Verarbeitung von Differenzierungsprozessen 4. Die Berufsbiographie als Anregungspotential 5. Fazit Literatur
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1. Schule und Beruf als Referenzen der beruflichen Biographie und des beruflichen Lebenslaufs Der Gegenstand der Biographieforschung ist die in Selbstbeschreibungen, Erzählungen und Deutungen gegebene Selbstzugänglichkeit des Lebenslaufs. Insofern ist nicht nur die Biographie im engeren Sinne, sondern mit ihr immer auch der Lebenslauf das ihr in objektivierten Stationen und Zyklen beigegebene Verlaufssubstrat. Indem Biographien auf der Selbstzugänglichkeit des eigenen Lebens aufruhen, verweisen sie auf die Struktur- wie auch auf die Akteursseite, die biographischen Prozessen gleichermaßen anhaftet. Auf der strukturellen Seite kommen institutionelle Veränderungen, Zäsuren, zeitgeschichtliche Ereignisse von kollektiver Bedeutung, Soziallagen und Milieus zum Tragen, die – so könnte man sagen – das Material der Selbstzugänglichkeit bilden. Auf der Akteursseite entsteht Selbstzugänglichkeit dadurch, dass Menschen ihren Lebenslauf höchstens abkürzen, aber nicht vermeiden können: In ihren handelnden und deutenden Bezugnahmen auf ihr Leben bauen die Menschen die Akteursseite ihres Lebens auf, durch die dessen strukturelle Seite erst zur Biographie wird. Die Biographie erzeugt dann eine eigene – durch biographische Kommunikation (vgl. Nassehi 1994) – selbstgeschaffene Realität, die weitere Prozesse dynamisiert, Anschlüsse gleichermaßen ermöglicht und begrenzt sowie Lern- und Entwicklungsräume konstituiert. Biographien arbeiten die kollektivbildenden Strukturen ab, die der Lebenslauf enthält, wie umgekehrt auch die kollektivbildenden Strukturen durch Biographien laufend herausgefordert und auf ihre Integrationsfähigkeit geprüft werden. Deshalb wird im Folgenden auf sowohl die Biographie- wie auch die Lebenslaufforschung zurückgegriffen. Die Biographie stellt den sich und anderen mitteilenden und deutenden Akteur des Lebens, der Lebenslauf dagegen stellt die kollektivbildende Struktur (ablesbar an Bezeichnung wie der Abiturient, der Azubi etc.) in den Mittelpunkt, in die der analytische Beobachter die Biographie einordnet (vgl. Nittel 1991). Zum Lebenslauf gehört insofern auch die kollektivbildende Struktur der an Arbeitsmarktzyklen und zeitgeschichtliche Zensuren gebundenen Generationenlage, durch die die Erfahrbarkeit der Gesellschaft in generationenspezifische Erfahrungsräume aufgeteilt wird (vgl. am Beispiel der 68er Generation Bude 1995; von Arbeitsmarktzyklen Hillmert 2004; vom Generationenwechsel in Organisationen Kade 2004). Ergebnisse der Biographie- und Lebenslaufforschung verweisen aufeinander, ohne allerdings ineinander aufgehen zu können. Die Berufspädagogik hat in diesem Sinn keine als Struktur erkennbare eigene Biographieforschung und auch keine eigene Lebenslaufforschung ausdifferenziert (vgl. Arnold 1995). Berufspädagogen beteiligen sich an der Biographie- und Lebenslaufforschung. Innerhalb der Berufspädagogik stellt sie im Gegensatz zum Berufsbegriff selbst kein selbstbezügliches Segment der fachinternen Kommunikation dar, wie die systematischen und disziplingeschichtlichen Ausführungen von Arnold/Gonon (2006) deutlich machen. Vielmehr bietet die in siebziger Jahren aufkommende neuere Biographie- und Lebenslaufforschung den Zusammenhang von Beruf und Biographie als Ressource berufspädagogischen Wissens an. Gleichzeitig überlappen Segmente der an Biographie und Lebenslauf interessierten Forschung in der Berufspädagogik mit der auf Erwerb und Beruf gerichteten Biographieforschung selbst, so dass eine disziplinäre Aufteilung eher künstlichen Charakter hat (vgl. Heinz 1995). In der Thematisierung des Berufs durch die Biographieforschung kreuzen sich also strukturelle Rekonstruktionen einer sozusagen objektivierten Lebenslaufumwelt mit der identitäts-
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bezogenen Rekonstruktion biographiebezogenen Textmaterials. Für die Einordnung der Forschungsergebnisse und vor allem für die Verwendung des Berufsbegriffs ist wichtig zu sehen, dass die Biographieforschung den Berufsbegriff auf zwei Ebenen benutzt: Zum einen auf der Ebene der institionellen Räume und der dort vertretenen Formen und Konventionen der Arbeit; zum andern auf der Ebene der erwerbsbezogenen Stellung generell sowie des mit ihr verbundenen Aufbaus gesellschaftlichen Ansehens und beruflicher Identität. Sowohl in struktureller wie auch in akteurbezogener Hinsicht gehen beide Ebenen vielfältige Verbindungen ein. Insofern stößt die berufliche Lebenslauf- und Biographieforschung bei der Rekonstruktion von Lebensläufen und Biographisierungsprozessen auf unterschiedliche Formen und Traditionen der Arbeit: – – – –
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die betriebliche Form, für die der Status des Ungelernten typisch ist die Form des ordensgemeinschaftlichen und diakonischen Dienstes, aus der die Verschulung und Verberuflichung der pflegerischen, gesundheitsbezogenen und sozialen Dienstleistungen hervorgegangen ist die aus der Entstehung der Beamtenschaft hervorgegangene Form der schulischen/hochschulischen Laufbahn, auf deren Grundlage die akademischen Professionen wie auch die Führungsebenen in Staat und Wirtschaft ihre hierarchische Positionierung aufbauen die Form der hausgemeinschaftlichen, aus dem familialen Arbeits- und Pflichtenzusammenhang erwachsenden Unterordnung, die die Vorstellung vom natürlichen Beruf der Frau bestimmte, und die entweder verschwand oder ebenfalls in Schul- und Berufskarrieren transformiert wurde die Form der korporativ bewachten Arbeit, die aus dem Handwerk stammt, sich in die Industrie wie auch in Dienstleistungssektoren hinein ausgedehnt hat und die Grundlage des heutigen Berufsbildungssystems bildet (vgl. Mayer 1996; Harney 1997).
Der in der Zwischen- und Nachkriegszeit fortschreitende Wandel der Erwerbsstruktur sowie die ebenfalls fortschreitende Verrechtlichung und Institutionalisierung der beruflichen Bildung hat die genannten Formen der Reproduktion des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens heute auf zwei Formen konzentriert: auf die der schulischen Vermittlung und des schulischen Laufbahnsystems einerseits und auf die der beruflichen Lehre und des beruflichkorporatistischen Ausbildungssystems andererseits. Generell kann man sagen, dass Schule und Beruf die anderen Reproduktionsformen sozusagen in sich aufsogen, wobei die Reproduktionsform „Beruf“ im Verhältnis zur Reproduktionsform „Schule“ die Definitionsmacht und primäre Stellung im außerschulischen und hochschulischen Ausbildungssektor erlangt hat und sich dabei – wie Konietzka/Lempert (1998) an Daten aus der Lebensverlaufsstudie (s.u.) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und Harney/Geselbracht/Weischet (1999) an Daten des Sozioökonomischen Panels zuletzt gezeigt haben – als Erwerbsmuster hat behaupten können. Die Rangordnung der Berufe differenziert ein Regime stabiler/instabiler Übergänge aus (Konietzka 2002). Die immer wieder behauptete Erosion des Berufs lässt sich empirisch nicht nachweisen. Allerdings hat sich infolge der Bildungsexpansion das durchschnittliche Bildungsniveau gesteigert, das dem Eintritt in die berufliche Ausbildung vorausgeht. Die Ausschlusswirksamkeit schwacher bzw. fehlender Schulabschlüsse hat sich dadurch erhöht (Solga 2005, S. 97ff.). Schule und Beruf sind allgemeine institutionelle Ressourcen für die Karrierisierung des Lebenslaufs. Ihre Integrationskraft ist vor allem negativ bestimmt: nämlich als Macht der von Schulmisserfolg und Berufslosigkeit ausgehenden Exklusion (Kurtz 2001, S. 198). Sie fungieren als Chiffren für die Distribution gesellschaftlicher Anerkennung. Schule und Be-
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ruf sind gleichzeitig institutionelle Markierungen einer an die Schrift als Medium gebundenen industriegesellschaftlichen Tradition. Wer die Schrift nicht beherrscht, hat entweder keine Berufsbiographie oder eine Berufsbiographie, die sich die Nischen der Nicht-Schriftlichkeit und der Verheimlichung des Defekts suchen muss. In ihrer Studie über Biographien funktionaler Analphabeten macht Eglof (1997) auf diesen Preis der Normalität aufmerksam: Berufsbiographien setzen ein bereits einsozialisiertes Niveau der Normalität voraus. Gleiches gilt auch für die Arbeit selbst, die Normalität stiftet, und deren Verlust mit Verlusten an Selbstachtung und gesellschaftlicher Anerkennung eng verbunden sein kann (vgl. Heinemeier/Robert 1984). Der Verlust der Arbeit setzt deshalb – und zwar weil er die Biographie genauso wie man das am Analphabetismus sehen kann aus der gesellschaftlichen Normalität herauslöst – Verweisungsgehalte und Zeitstrukturen normalen alltäglichen Lebens außer Kraft. Hatebur (1991) zeigt das an arbeitslosen Maßnahmenteilnehmern aus dem Metallbereich auf, die – aufgrund der dort verstärkt stattfindenden Rationalisierungsmaßnahmen (Automobilbau) – zum Untersuchungszeitpunkt als besonders schwer vermittelbar galten. Der Autor kommt zu dem Befund, dass die meisten Lehrgangsabsolventen die Maßnahme als weitgehend sinnlos verausgabte Zeit empfanden, weil ihnen der Verweisungsgehalt ihres Lebens auf Arbeit und Beruf prekär geworden war. Ahlheit/Glaß (1986) weisen darauf hin, dass im Fall der Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen erwerbsarbeitsbezogene tendenziell durch schulbereichsbezogene Lebensformen ersetzt werden. Diese verzögern die soziale Selbstverortung, indem sie Bindungen und Realitätserfahrungen aufschieben (vgl. Lutz 2003, S. 206). Daran wird deutlich, dass der Lebenslauf selbst den Charakter einer Institution hat, durch die die Biographien der Menschen in eine Umgebung sozialer Kontrolle und erwarteter Sukzession gestellt werden. Innerhalb dieser Umgebung wird die Arbeitslosigkeit in ein breites Spektrum biographischer Bearbeitungsformen eingepasst. Arbeitslosigkeit ist dann zwar noch in institutioneller, aber nicht mehr in biographischer Hinsicht als Kollektivtatsache beschreibbar. Heinemeier/Robert (1984) rekonstruieren am Fall eines arbeitslosen Technikers das Aufeinandertreffen beider Ebenen: Im biographischen Prozess werden Handlungsschemata aufgebaut, die in der Auseinandersetzung mit der institutionellen Unterfütterung des Lebenslaufs durch Schule, Arbeitslosenversicherung, Studium, Betrieb etc. weiterwirken und dann die in den institutionellen Rahmungen der Arbeitslosigkeit enthaltene Degradierung zur fallspezifischen Erfahrung werden lassen. Die Studie von Heinemeier/Robert analysiert den paradoxen Ausgang der handlungsschematisch begründeten Unterbrechung eines gesicherten Erwerbsverhältnisses: Der Versuch, das durch frühe Familiengründung unterbrochene bildungsbezogene Handlungsschema mit dem Abschluss einer Technikerfortbildung einzulösen, führt den Probanden in die Arbeitslosigkeit und konstituiert damit eine negative Verlaufskurve mit hohem biographischem Belastungs- und Anforderungspotential (ebenda). Die lebenszeitliche Funktion von Karrieren wird daran deutlich: Sie strukturieren vergangene Zeit im negativen wie im positiven Sinne. Ereignisse werden verkettet, erzeugen auf- und absteigende Linien und werden im Sinne strukturierter Zeit verarbeitet. Karrieren schaffen abgeschlossene Vergangenheiten – im Unterschied zur abgelaufenen Zeit, die noch vieles offen lässt, und in der die Vergangenheit noch nicht zum Abschluss gekommen ist (vgl. Brose 1984). In jedem Fall setzen Karrieren die Integration der Menschen in Arbeitsverhältnisse voraus. Insofern sind Karrierechancen abhängig von Wirtschafts- und Beschäftigungszyklen, die dafür sorgen, dass das Auftreten von Instabilität und Heterogenität in Lebensläufen nicht nur Individuen, sondern auch ganze Generationen voneinander unterscheidet: Die Generati-
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on der heutigen Rentner und Pensionäre konnte in der vom Wirtschaftsaufschwung begleiteten Aufbauzeit ihres Erwerbszyklus deutlich homogenere Erwerbsverläufe begründen als das jungen Erwerbstätigen heute möglich ist (vgl. Berger/Sopp 1992). Karrieren drücken sich im Status aus, den Personen erreichen, und geben dem Lebenslauf damit so etwas wie ein gesellschaftliches Gesicht. Für die Berufspädagogik und für die berufliche Biographieforschung interessant ist die Mehrdimensionalität des sozialen Status. Sozialer Status setzt sich aus verschiedenen Statusdimensionen zusammen, aus Bildung und beruflicher Stellung, aber auch aus Einkommen, aus Titeln, Reichtum etc. Durch die Differenz von Lebenslauf und Karriere ist die biographische Selbstbeschreibung von Menschen an Prozesse des Statusaufbaus und der statusbezogenen Konsistenzbildung gebunden. Jedenfalls werden Aufstiege durch ein gewisses Maß an Statusinkonsistenz (die dann sozusagen abgearbeitet wird) gefördert (vgl. Becker/Zimmermann 1995).
2. Ungleichzeitigkeit und Segmentierung Die Lebenslauf- und Biographieforschung hat es heute mit kontrastierenden zeitlichen, sozialen und kulturellen Perspektiven zu tun, in die Prozesse der Statusbildung und Karrierisierung gesellschaftlich eingelagert sind. Beharrung und Wandel folgen genauso wie die Statusbildung selbst keiner eindimensionalen Entwicklungslogik, sondern treten gleichzeitig auf, überlagern sich und geraten in Spannung zueinander. Unter kulturellem Aspekt kann man von Ungleichgewichten zwischen funktionalen, die individuelle Leistungsfähigkeit und Karriereorientierung nachfragenden Ausdifferenzierungsprozessen einerseits und dem vergleichsweise verzögerten Abbau traditioneller, an Kollektivlagen wie Schicht und Geschlecht ausgerichteten Mustern der gesellschaftlichen Chancenverteilung und Segmentierung sprechen. Kohortenanalysen von Mayer (1991) und Mayer/Blossfeld (1990) konnten zeigen, dass die zunehmende Beteiligung am Bildungssystem kollektivlagenbestimmte Mechanismen der Chancenwahrnehmung und sozialen Selektion nicht einfach außer Kraft setzt, sondern dass diese ihre sozusagen subkutane Wirksamkeit in den kollektiven Mustern der Lebensführung behalten. Anderseits ist das Verhältnis zwischen kollektiven Mustern der Lebensführung und den Lebenslauf definierenden und sequenzierenden Institutionen als Prozess zu begreifen. Bestimmte kulturelle Traditionen behalten ihre Wirksamkeit länger als andere: So zeigt die Bildungsforschung, dass sich die Bildungsbeteiligung von Mädchen und Jungen an weiterführenden Schulen längst angeglichen hat, und dass auch regionale sowie konfessionelle Formen der Kollektivbindung von schulbezogenen Übergangsprozessen an Bedeutung verloren haben (vgl. Köhler/Zymek 1981). Auch die Erwerbsneigung von Frauen gleicht sich mit steigendem Bildungsniveau der der Männer an (vgl. Tölke 1989). Die Gleichzeitigkeit von Traditionalität und Fortschritt wird andererseits an den Übergangsstrukturen ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem deutlich. Dort herrschen erkennbar geschlechtsspezifische Segmentierungen vor (vgl. Krüger/Born 1991; Krüger 1996). Diese Segmentierungen beziehen sich auf das Berufespektrum, in das Frauen einmünden bzw. an dessen frauentypisches Rekrutierungsbild sie sich anpassen. Frauen werden also nicht für die Neigung zu frauentypischen Aufgaben sozialisiert, sondern passen sich einem für sie als wählbar geltenden Berufespektrum an (Krüger 2003, S. 260). Dieser Prozess wird dann im Sinne einer biographischen Konstruktion als neigungsbedingte Berufswahl angegeben (ebenda). Sie beziehen sich außerdem auf die Vermischung von Familien- und Erwerbspe-
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rioden nach der ersten Mutterschaft (Berger/Sopp 1992, S. 172). Für die Berufspädagogik und für die Berufsbildungsforschung in diesem Zusammenhang bedeutsam ist der intergenerationelle Wandel des Ungelerntenstatus, der eine deutlich geschlechtsspezifische Komponente hat: Anhand von 1981-83 erhobenen Daten der Lebensverlaufsstudie des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung weist Blossfeld (1988) die von Kohorte zu Kohorte steigende Bedeutung der beruflichen Ausbildung nach. Dies gilt für Frauen wie auch für Männer – allerdings auf unterschiedlichem Niveau. Bei den Frauen der jüngsten Kohorte lag der Ungelerntenanteil im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren bei ca. dreißig Prozent (ebenda, S. 31). Davon stellten die Volksschulabgängerinnen den größten Anteil. Die entsprechende Quote bei den Männern lag um ca. fünfzehn Prozent. Frauen der Geburtsjahrgänge bis 1920 ohne Kinder waren ein Jahr nach ihrer ersten Heirat noch zu 45% Hausfrauen, in den Geburtsjahrgängen 1951-1968 waren sie das nur noch zu 2,1%. (Berger/Sopp 1992, S. 172). D.h.: Die zweckfreie kulturelle Selbstverständlichkeit des Hausfrauenstatus hat zu Gunsten der Normalität der Erwerbsbeteiligung abgenommen bzw. hat sich in die funktionale Benachteiligung von Frauen im Rahmen der familialen Lastenteilung hinein verlagert. Die vor dem Krieg geborenen Frauen haben die klassische familiale Aufgabenübernahme überwiegend noch als Normalität wahrgenommen. Heute gilt sie vor allem – und zwar im Zusammenhang mit Kindern als – operative Problematik mit strukturellen Nachteilen für die Frauen. Im Unterschied zu früheren Generationen neigen Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen heute auch dann, wenn Kinder da sind, nicht mehr dazu, längere Erwerbspausen inkaufzunehmen (Tölke 1989, S. 43). Veränderungen im Sinne einer größeren Offenheit und Individualität von Übergängen beziehen sich auf Segmente und Sequenzen des gesellschaftlichen Lebens, nicht jedoch auf die Reproduktion stratifikatorischer sozialer Ungleichheit insgesamt. Der Wandel des Bildungs- und Ausbildungsverhaltens und die durch die steigende Bildungsbeteiligung bewirkten Veränderungen bedeuten nicht, dass sich soziale Verteilungseffekte zwischen den und durch die institutionellen Kontexte „Schule“ und „Beruf“ dadurch aufgelöst hätten. Segmente in der Reproduktion sozialer Ungleichheit haben sich aufgelöst, ohne dass man dies für das Reproduktionsmuster selbst sagen könnte. Beruf und Schule als die grundlegenden institutionellen Kontexte für die Generierung beruflicher Lebensläufe und beruflicher Biographien sind an der Rahmung und Einbettung von Karrieren in einer Weise beteiligt, die soziale Unterschiede und statusbezogene Verteilungsprozesse zwischen den Kontexten immer noch aufrecht erhält (vgl. Solga 2005). In einer Längsschnittanalyse analysiert Toth (1990) Hamburger Schulabgänger aus Haupt- und Realschulen und Gymnasien von 1980 bis 1986. Der Autor untersucht, inwieweit sich in dieser Kohorte typische Karriereverlaufsmuster abzeichnen. Das duale Ausbildungssystem ist der Normalfall für Jugendliche ohne Abitur. Für über die Hälfte der Jugendlichen führt es zum Berufsstart. Es rekrutiert in hohem Maße Jugendliche aus dem Milieu der kleinen Angestellten und ist geschlechtsspezifisch segmentiert. Frauen finden sich vor allem in den kaufmännischen Berufen. Gleiches gilt für berufliche Vollzeitschulen. Sie stellen eine Frauendomäne mit allerdings geringeren und instabileren Karriereaussichten dar. Das Studium ist der komplementäre Ausbildungsraum, ist der Normalfall für Abiturienten, für Kinder von höheren Beamten, Angestellten und Führungskräften (vgl. ebenda, S. 68). Generell wird, wie Friebel und Friebel-Beyer (1990) an der Hamburger Schulabschlusskohorte zeigen, mit der sozialisatorischen Nähe zum Lernen und zum Bildungserfolg auch die lebenspraktische Bedeutung der Weiterbildung gesteigert (S. 143). Um Kontinuitäten zwischen beruflicher Erstausbildung und beruflicher bzw. betrieblicher Weiterbildung zu
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stiften, reichen solche Vorprägungen alleine jedoch nicht aus. Dazu müssen in der Berufsausbildung enthaltene Anregungsbedingungen (Anwendung von DV-Technologien, Ausbildungsqualität), betriebliche Interessen (Refinanzierung) und vor allem der wahrgenommene Nutzen für Arbeit und Karriere hinzutreten: Erst im Ensemble dieser Bedingungen entsteht die Bereitschaft zu erwerbsbezogener Weiterbildung über die berufliche Erstausbildung hinaus (Stender 1997).
3. Die Verarbeitung von Differenzierungsprozessen Strukturen der Erwerbs- und Bildungsbeteiligung sind in Prozesse der Biographisierung eingelagert. Sie stellen Normalität in einem kollektiven und abstrakten Sinne her (etwa im Sinne der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen, des Besuchs weiterführender Schulen, des Eintritts in eine Berufsausbildung etc.), bedürfen aber auf der biographischen Ebene der sinnhaften Einarbeitung in Entscheidungen, Selbstbilder und Erinnerungen. Berufsbiographien im engeren Sinne zeichnen sich dann dadurch aus, dass sich in ihnen biographische Deutungs-, berufliche Sinnpotentiale und die kulturellen Gehalte der mileuspezifischen familialen Herkunft von Jugendlichen miteinander vermischen. Berufsbiographien beginnen mit der Ablösungsproblematik vom Elternhaus. Sie sind insofern keiner zweckrationalen Handlungslogik unterworfen, sondern sind eine der Ausdrucksformen jener Problematik (die durch elterliche Delegationen oft verschärft wird). Das Milieu der Jugendlichen, zu dem natürlich auch die Ausdifferenzierung der Kontakte zu peers gehört, wie auch die im schulischen Bewertungsprozess aufgebauten Selbstbilder begrenzen den Horizont der Berufswahl. Gleichzeitig steuern sie diesen Prozess auf der Grundlage von Idealisierungen, die – solange noch keine Erfahrungen mit der betrieblichen Berufswirklichkeit möglich sind – an deren Stelle treten. Insofern drückt der Übergang in die Berufsbiographie immer auch die gegenseitige differenzierungsbedingte Fremdheit zwischen den daran mitwirkenden Institutionen der Familie, der Schule, der Ausbildung und der betrieblichen Arbeitswelt aus. Entscheidend für die Auslösung biographischer Berarbeitungsprozesse sind die im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess auftretenden bzw. mit ihm identischen institutionellen Differenzierungen. Diese Differenzierungen schlagen sich nicht nur in der angesprochenen Abgrenzbarkeit von Statusdimensionen und in der daraus resultierenden Konsistenzproblematik nieder. Sie äußern sich zunächst einmal in der Differenzierung von privat und öffentlich, von Freizeit und Arbeitszeit: Berufsbiographien arrangieren diese Differenzierung im Sinne der Kompensation der Bereiche, ihrer Verschränkung, ihrer wechselseitigen Austarierung oder auch der Sequenzierung erwerbsspezifischer bzw. -unspezifischer Lebensphasen. In seinen berufsbiographischen Untersuchungen arbeitet Brock (1990) vier Tendenzen heraus: (1) Eine Tendenz zur verstärkten Berufsorientierung, die eine Reaktion auf berufliche Anforderungen darstellt – und das Risiko impliziert, in Konflikt mit dem Privatleben zu geraten, (2) eine „Abspaltungstendenz“, in der der Beruf als notwendiger „Job“ definiert wird und sinnvolle Tätigkeiten in den Freizeitbereich verlagert werden, (3) die Tendenz, soziale Aspekte sowohl in der Arbeit als auch in Familie, Nachbarschaft und Bekanntenkreis in den Vordergrund zu rücken und (4) die Tendenz, die individuelle Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt des Lebensentwurfs zu stellen.
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Die Differenzierungen zwischen beruflicher Ausbildung/beruflicher Expertenschaft und betrieblicher Verwertung, zwischen Freizeit und Arbeitszeit, Wohnen und Arbeiten, privat und öffentlich etc. lassen nicht nur den Erhalt von Beruf und Arbeit, sondern auch den der Freizeit und Privatheit zum biographischen Projekt werden. Am Generationenwechsel in dörflichen Milieus zeigt Brock (1991) die biographische Entkoppelung auf, die zwischen der Integration in räumlich entfernte Erwerbsverhältnisse und der Aufrechterhaltung traditioneller im Status des Hausbesitzes repräsentierter Formen der Sesshaftigkeit zustandekommen kann. Die Differenzierung zwischen abstrakter Arbeitskraftverwertung und konkretem heimatbezogenem Traditionalismus bildet sich dann in der sozialräumlichen Segmentierung von Lebensverhältnissen wieder ab (ebenda). In den verschiedenen Arrangements der Verbindung von Arbeits- und Freizeit kommt die Unterschiedlichkeit berufstypischer Sinn- und Verweisungsgehalte zwischen Berufen (z.B. zwischen Arbeitern und Krankenpflegern) zum Tragen, die sich dann mit dem Fallbezug von biographischen Prozessen und Verarbeitungsstilen vermengt. Berufe wie die des Sozialarbeiters oder auch des Lehrers vermischen sich mit der privaten Zeit in anderer Weise als das etwa beim Beruf der Verkäuferin oder auch des KfZ-Mechanikers der Fall ist (vgl. Hoff/Lempert 1990). Bei Arbeiterinnen geraten Arbeitszeit und private Zeit aufgrund der Doppelbelastung in ein besonderes biographisches Spannungsfeld. Beide Zeiträume stehen sich indifferent gegenüber. Anders als bei männlichen Arbeitern gibt es für Arbeiterinnen keine Praktiken des sozialen Ausgleichs an dieser Stelle. Statt dessen werden sie einer doppelten – familialen und arbeitsbezogenen – Hierarchisierung ausgesetzt, für deren Verarbeitung keine sozialen Strukturen, sondern lediglich die eigene Biographie zur Verfügung steht (vgl. Becker-Schmidt 1983). Aus der Sicht der genannten Studien kommt die Biographie als Ressource für die Verarbeitung berufs- und betriebstypischer Muster der Aufteilung privaten und öffentlichen Lebens in den Blick. Das Umgekehrte trifft jedoch auch zu: dass nämlich Betriebe die Biographien von Bewerbern gerade auch in ihren privaten Anteilen beobachten und zum Ausgangspunkt von Rekrutierungsentscheidungen machen (vgl. Hohn/Windolf 1988). Institutionelle Differenzierungen äußern sich darüber hinaus im Verweisungs- und Zukunftsgehalt, den die Institutionen des Bildungs- und Beschäftigungssystems füreinander haben. Der Anteil des Bildungssystems am Lebenslauf hat sich ausgedehnt. Zeiten stabiler Beschäftigung entstehen für die 1970 und später Geborenen oft erst im vierten Lebensjahrzehnt. Die ausgedehnte Zeit der beruflichen Integration verknappt und verzögert die Perioden im Lebenslauf, die für die Familiengründung und für die Erziehung von Kindern eingesetzt werden können (vgl. Mager 2004). So ist das Ende des Erwerbslebens, der Austritt aus der arbeitsbezogenen Normalität (S. o.) durch den idealisierende Vorgriff auf das Rentenalter geprägt. In diesem Vorgriff drücken sich die in der Erwerbszeit aufgebauten Dispositionen und Selbstbilder aus. Amann (1990) beschreibt den Übergang zur Pension als symmetrische Spiegelung, in der die biographische Vergangenheit als Zukunftsprojektion erscheint: Die Sicht auf die eigene Pensionszukunft, die Vorstellungen, Erwartungen, Wünsche etc. werden, so seine These, „von den jeweilig erlernten Dispositionsspielräumen, resp. ihren inhaltlichen Festlegungen geprägt“ (S. 186). Die Frage, ob die Pensionierung subjektiv als Bruch wahrgenommen wird, hänge einerseits von der gegenwärtigen Balance, „dem ,Gefühl‘ der Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst“ (S. 187) und andererseits von der „biographischen Linie durch die Zeit, die den Begriff der ,eigenen Geschichte‘ zulässt“ (ebd.) ab. Schülerbiographien sind im Hinblick auf Beruf, Ausbildung und betriebliche Arbeit ebenfalls durch eine Art Vorgriff geprägt, in dem sich Interessen, Fähigkeiten und Idealisie-
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rungen zu Berufswahlprozessen verdichten. Die berufliche Biographie- und Lebenslaufforschung beschreibt den Verlust des Vorgriffs, so wie er sich dann im Unterschied zu Rentnern nicht durch den Kontaktverlust, sondern gerade durch den Kontakt mit der betrieblichen Arbeitswelt vollzieht, als einen Prozess der Ernüchterung wie auch der Erwartungsanpassung an den neuen sozusagen ent-illusionierten Erfahrungsbereich (vgl. Kruse/Kühnlein/Müller 1981). Der Prozess der Ernüchterung ist allerdings nicht mit Resignation gleichzusetzen. Viel mehr bleiben Potentiale subjektiver Identifikationsbereitschaft mit dem Arbeitsprozess erhalten. Sie werden durch den Verlust des Vorgriffs in die Arbeit begleitende laufende Arbeit am berufsbiographischen Selbstentwurf transformiert (Baethge u.a. 1988). Auszubildende projizieren ihre Selbstverwirklichungsinteressen im Unterschied zu Gymnasiasten nicht mehr in einen von den materiellen und prestigebezogenen Seiten des Berufslebens entkoppelten, ihm im wahrsten Sinne des Wortes alternativ gegenüberliegenden Vorstellungsraum. Für sie stellen Einkommen, Selbstentfaltung und Prestige sich wechselseitig einschließende Dimensionen des beruflich-betrieblichen Einsatzfelds dar (Heyn/Schnabel/ Roeder 1997, S. 297). Für Berufsbiographien entscheidend ist die betriebliche, mit der Organisation des Arbeitsalltags und ihrer Dynamik verbundene Brechung der Idealisierungen, die den Status der Berufsinhaberschaft generell unterfüttern. Der Verlust des Vorgriffs erweist sich dabei keineswegs nur als Ausdruck mangelnder Betriebserfahrung. Er enthält auch die sehr viel grundsätzlichere Vermittlungsproblematik, die zwischen den Sinngehalten der beruflichen Expertenidentität einerseits und denjenigen ihrer Verwertung und Einschmelzung in betriebliche Reproduktionspraktiken andererseits besteht (vgl. Helsper 1996). Berufliche Leitbilder, berufliche Kompetenzen und berufliche Idealisierungen müssen im Betrieb respezifiziert werden (vgl. Lempert 1986). Für die individuelle biographische Aneignung dieser Respezifikationserfahrung hat die berufliche Biographieforschung den Begriff der mentalen Mitgliedschaft entwickelt (Hartz 2004; Harney/Hartz 2001). Im Ausbildungsprozess zeigt sich dies in der differierenden Ausbildungsqualität von Betrieben, in der Ernüchterung, die sich bei Auszubildenden einstellt, wenn sie die Verwertungspraxis beruflicher Kompetenz erleben, und schließlich auch in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen der Ausbildungssystematik, die Betrieben ihren Auszubildenden anbieten können (Mayer u.a. 1981). Unsystematisch ausbildende Betriebe greifen sehr viel eher auf disziplinund konformitätsorientierte Praktiken der Einsozialisation und Eingliederung Jugendlicher in den Arbeitsprozess zurück als das bei Betrieben mit systematischer Ausbildungsausdifferenzierung der Fall ist (ebenda). Generell können Betriebe, die qualifizierte Ausbildung und Gestaltungsspielräume bei der Arbeit anbieten mit größerer Betriebstreue rechnen (vgl. Häfeli/Kraft/Schallenberger 1988). Berufsbiographische Prägungen resultieren aus der über individuelle Deutungsarbeit ausgetragenen Vermittlung zwischen beruflicher Identität und betrieblicher Zugehörigkeit. So ziehen Ingenieure ihre Expertenidentität aus Vorstellungen der Objektbeherrschung, der technischen Ästhetik und der Gestaltung soziotechnischer Systeme. Die Berufsbiographie stellt sich als Eingliederungsprozess dieser für die Konstitution des Expertenbewusstseins unverzichtbaren Berufsthemen in die betrieblichen Anerkennungsarenen dar. Die Anerkennungsarenen spiegeln die Expertenidentität zurück, erzwingen identitätsbezogene Umformungs- und Anpassungsprozesse und konstituieren letztlich die Karriere. Das Paradoxon der berufsbiographischen Erfolgserfahrung besteht darin, dass der Erfolg des Experten nicht durch seine berufliche Kompetenz hinreichend begründet wird, wie Hermanns/Tkocz/ Winkler (1984) eindrücklich gezeigt haben. Die für den Erfolg und die auf ihm beruhende Bekräftigung der beruflichen Identität entscheidende Prämisse ist die gelingende Transfor-
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mation beruflich-fachlicher in betriebliche Relevanzen. Die Bewältigung dieser Differenz ist an die Ausdifferenzierung einer auf den Berufsinhaber zugeschnittenen beziehungsgestützten Plattform gebunden, von deren Zustandekommen und deren Reichweite es abhängt, inwieweit Berufsinhaber Annahmewahrscheinlichkeiten für die aus dem Berufsthema erwachsenden Relevanzen stabilisieren bzw. steigern können. Die Sequenzierung berufsbiographischer Perioden nach erster Stelle, Bewährung, Aufstieg, Ernte etc. wie auch die Formierung novizenbezogener Sozialbeziehungen (Vater-Ziehsohn-Verhältnisse) sind nur aufgrund der Besonderheiten des berufsbiographischen Prozesses verständlich, in dem es um die Unterscheidbarkeit und um die Aufrechterhaltung einer auf die Beruflichkeit der eigenen Stellung im Betrieb gegründeten Anerkennung geht (ebenda). Brose (1984) zeigt in einer Fallstudie über Zeitarbeitnehmerschaft die Folgen auf, die entstehen, wenn der Beruf zwar erhalten bleibt, die betrieblichen Seiten der Plattformbildung jedoch entfallen. In diesem Fall stehen betriebliche Sozialisationsprozesse, in denen die Akzeptanz der eigenen Arbeit informell erfahren und abgestützt wird, nicht mehr zur Verfügung. Andererseits können sich aber die Dispositions- und Zukunftserwartungen gerade durch die Schwäche vergrößern, die dem Betrieb als Plattform dann zukommt. Betriebliche Erwerbsverhältnisse stellen immer auch ein biographisches Ungewissheitspotential dar, das sich aus den Zugriffsrechten des Managements, aus seinen Dispositionen im Zusammenhang mit Betriebsverkäufen, mikropolitischen Kampfsituationen, Auslagerungen, Produktlebenszyklen und Rationalisierungsstrategien ergibt. Deshalb kann der Ausfall bzw. die biographische Schwächung des betrieblichen Bezugsfelds einer sozusagen selbstbezüglichen Plattformbildung Raum geben, die die Wahrung der beruflichen Expertenschaft stärker an individuelle Entscheidungen anschließt (ebenda). Unter Bedingungen eines normalen beruflichen Erwerbsverhältnisses ist die Sichtbarkeit der Expertenschaft nur im Betrieb möglich, was bedeutet, dass technologische Veränderungen biographische Belastungssituationen heraufbeschwören und eine Art Kampf um den Erhalt der Beruflichkeit auslöst. Umgekehrt können Aufstiegsprozesse zur Auszehrung der Beruflichkeit führen und genau dadurch die Betriebsbindung stärken (vgl. Brose 1983). Die strukturelle Ermöglichung der beruflichen Plattform im betrieblichen Arbeitsalltag ist daran gebunden, dass das Berufswissen als Korpus erkennbar ist und in die Konstitution der für die Profession spezifischen, ihre Anerkennung und ihren Autonomieanspruch begründende Fallproblematik eingeht. Man könnte in Anlehnung an den Verlaufskurvenbegriff aus der Biographieforschung (der die prozessualen Anteile des Lebens anspricht, denen die Menschen ausgesetzt werden) von einer institutionellen Verlaufskurve sprechen, die vom Wissen über die klinische Praxis bis hin zur Fallkonstitution reicht. Dabei müssen es, wie Wernet (1997) in seiner Studie über die Juristen gezeigt hat, nicht notwendigerweise Klienten sein, an denen sich die Fallkonstitution vollzieht, sondern es können auch Ordnungszusammenhänge (Rechtsordnung) und handlungslogische Differenzen (Differenz zwischen formaler und materialer Rationalität) sein, die dies leisten. Im Unterschied zu beispielsweise Ingenieuren und Juristen gehören Lehrer und Pädagogen zur Gruppe derjenigen akademischen Berufe, die auf unterbrochene bzw. segmentierte institutionelle Verlaufskurven verweisen, in deren Rahmen m.a.W. der fallbegründende Charakter des Professionswissens unscharf bleibt und eine klinische Kultur der Ausbildung wie auch der Wissenserzeugung nicht oder nur in abgespaltener Weise (Referendariat) vorhanden ist (vgl. Helsper 1996). Lehrer begegnen dieser berufsbiographischen Herausforderung mit einem Praktikermodell des Handelns, aus dem der Zusammenhang von Professionswissen und Fallbegründung verschwindet (vgl. Terhart u.a. 1994). Im Berufseinsatz von Pädagogen kommt es
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zum Rückgriff auf vorberuflich einsozialisierte Dispositionen der Wirklichkeitsauffassung und Handlungsausrichtung sowie charismatische Formen der Arbeitsgestaltung (vor allem im Beratungssektor) (vgl. Harney/Nittel 1995; Gieseke 1996; Rottmann 1997). Der Sammelband von Nittel/Marotzki (1997) führt über diese Perspektive hinaus, in dem er auf die Lernmöglichkeiten, krisenhaften Verarbeitungsprozesse und gesellschaftlichen Anerkennungsprobleme von Professionen schlechthin verweist, die im Prozess der Plattformbildung des beruflichen Verwertungszusammenhangs enthalten sind. Der Beitrag von Kade (1997) verweist auf die institutionellen Referenzen von Wissen und Nicht-Wissen, die im berufsbiographischen Prozess wechselnd erfahren werden und die berufliche Identität formieren: Erfahrungen der Beschränkung, der ausbleibenden Anerkennung und des Nicht-Wissens in Schul- und Ausbildungsphasen bedeuten nicht, dass der Anspruch auf den beruflichen Eigensinn in späteren Erwerbsphasen aufgegeben wird. Eher kann man sehen, wie die Ausbildungszeit als biographische Periode mit späteren biographischen Perioden verschmilzt und dort Deutungen der Arbeit antreibt, in der die verbrachte Ausbildungsperiode nicht einfach verschwindet, sondern im Bewusstsein von Ansprüchen und Aufgaben erhalten bleibt. Am Fall eines in der betrieblichen Personalentwicklung arbeitenden Pädagogen rekonstruiert Kade die Übersetzung der Differenz von Wissen und Nicht-Wissen in ein biographisches Handlungsschema, das Abarbeitung des Nicht-Wissens, als Suche nach der Perfektion in einem gesellschaftlichen Zusammenhang beschrieben werden kann, der die Problematik des Nicht-Wissens in besonderer Weise dramatisiert. Im biographischen Handlungsschema wird die institutionelle Seite des Zusammenhangs verkannt bzw. in das (unerreichbare) Leitbild des heroischen Professionalismus übersetzt (ebenda).
4. Die Berufsbiographie als Anregungspotential Durch eigenes Versagen oder durch zeitgeschichtliche Ereignisse (Krieg/Nachkriegszeit) unterbrochene schulische Verlaufskurven können, wie Harney/Kade (1990) in einer Fallstudie über Industriemeister zeigen, sowohl Motive für die berufliche Weiterbildung stiften wie auch die eigene arbeitsbezogene Identität beeinflussen. Die Generation derer, die den Zweiten Weltkrieg und die Folgen miterlebt haben, konnte abgebrochene oder auf niedrigem Niveau zu Ende gebrachte Schulzeit unter Hinweis auf die Schicksalhaftigkeit ihres Lebens deuten („Uns wurde nichts geschenkt“), sich eine sozusagen praktische, in der Bewältigung der Betriebspraxis wurzelnde Identität geben und so den unerfüllten Wünschen im nachhinein eine gewisse Aura verschaffen. Darüber hinaus nehmen verwehrte Bildungschancen oft auch die Bedeutung einer biographischen Ressource für die Generierung von beruflicher wie auch von außerberuflicher Weiterbildungsaspiration an (ebenda). Generell stellen sozialisatorische Vorerfahrungen Einflusslinien bereit, die die Berufsbiographie zur Kompromisszone heterogener Vorbilder und Verarbeitungsleistungen werden lassen können – im Gegensatz zu einer schlichten Justierung der berufsbiographischen Verlaufskette an vorgegebenen Schemata (vgl. Nittel 2003). In diesem Sinne stiftet die generationenbedingte Erfahrbarkeit des Zweiten Weltkriegs heterogene Erfahrungsräume. Er bedeutet eine Zäsur im berufsbiographischen Verhältnis der Generationen zueinander dar. Die Vorkriegsgenerationen benötigten längere Phasen des Haushaltsaufbaus und hatten einen generell niedrigeren Lebensstandard, dem die Normalität von Urlaubsreisen, Fernsehen, modischer Kleidung, weiterführendem Schulbesuch usw. völlig fremd war. Bei Facharbeitern verband sich der erreichte
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Lebensstil mit Mustern der Betriebstreue, des Sicherheitsbewusstseins und der Status quo – Orientierung (vgl. Deppe 1982). In ähnlicher Weise stellt auch die Auflösung der alten DDR im Bewusstsein der Menschen in den Neuen Bundesländern eine Zäsur dar, die für kollektive Identität sorgt. Diskontinuitäten in der Erwerbsbiographie werden nicht nur als individuelles Thema erlebt, sondern in ein WirBewusstsein eingeordnet, in dem sich der gemeinsame Bezug auf Zäsuren und Verlaufskurven im Sinne kollektiv geteilter Unterscheidungen zwischen früher/heute, alt/neu usw. ausdrückt (Mutz 1995). Diese kollektivbiographische Markierung geht dann allerdings ein in die auf den individuellen Fall verweisende Integration der Wende in biographische Handlungsschemata. Solche Handlungsschemata leisten auch unter veränderten Lebens- und Erwerbsbedingungen erneut die Funktion der Orientierung: Das Erleben von zeitgeschichtlichen Zäsuren und strukturellen Brüchen (s.o.) führt von sich aus noch nicht zur Erosion, sondern eher zur Anpassung bereits erworbener Handlungsschemata an die neu formierte Umwelt (vgl. Weihrich 1993). An einer fallvergleichenden Rekonstruktion der Berufsbiographie von drei Industriearbeitern, deren Betrieb geschlossen wurde, zeigt Weihrich (1993) auf, wie unterschiedliche Muster der alltäglichen Lebensführung, die unter den gesellschaftlichen Bedingungen der DDR keine Auswirkungen auf die Karriere hatten, unter den veränderten Bedingungen neu bewertet werden und nunmehr auch die soziale Positionierung neu bestimmen. Die biographischen Handlungsschemata werden hier gerade dadurch änderungswirksam, dass sie erhalten bleiben und somit in ihrer Bedeutung als Ressource für die Erlangung von Status und gesellschaftlicher Anerkennung neu definiert werden (ebenda). Für die biographische Selbstzugänglichkeit des Lebenslaufs stellen objektive Statusattribute, die den Lebenslauf im Sinne eines Prozesses markieren, eine Art Anregungspotential dar. Zunächst verbindet sich mit ihnen der statistisch verbreitete und durchschlagende Kumulationseffekt von Bildung, sozialem Status und Weiterbildung (vgl. Harney/Geselbracht/Weischet 1999). Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass das Vorhandensein objektiver Statusattribute unter spezifischen Bedingungen, nämlich dann, wenn zeitgeschichtliche Ereignisse oder familiäre Konstellationen als äußeres Hindernis für eine Schul- bzw. Hochschulkarriere wahrgenommen werden, eine Art kompensatorische Bereitschaft zur Weiterbildung auslösen können. Meulemann/Birkelbach (1996) weisen auf der Grundlage einer Paneluntersuchung von Gymnasiasten nach, dass die biographische Reflexivität von Menschen im Hinblick auf Intensität, kritische Bewertung und Beachtung der negativen Seiten der eigenen Lebensgeschichte abnimmt, wenn der Lebensverlauf als erfolgreich beschrieben werden kann. Sie zeigen ferner, dass dieser Zusammenhang sich beim Vorliegen objektivierter Lebenserfolgszusammenhänge wie Berufsprestige, Einkommen, Heirat etc. stärker ausprägt als bei subjektiven, auf Zufriedenheit gegründeten Erfolgszuschreibungen. Subjektive Zufriedenheit ebnet die Bereitschaft und die Notwendigkeit zur Reflexion über das eigene Leben tendenziell ein. Das Erreichen objektivierter Erfolge im Privatleben (z.B. Heirat, Elternschaft) wird eher auf lebensphasenbezogene Selbstbeschreibungen im Sinne des Erwachsenseins („Reife“) bezogen als das bei Erfolgen im Berufsleben („Fachkompetenz“) der Fall ist: hier dominieren vornehmlich lebensphasenneutrale Markierungen. Den Forschungen von Corsten/Lempert (1997) zum berufsbiographischen Aufbau von Moralbewusstsein kann man entnehmen, dass die Limitierung der Reflexionsbereitschaft aktiven Konstruktionsleistungen aufruht, durch die im Laufe des Erwerbslebens bestimmte Niveaus der Person-UmweltInteraktion und der damit verbundenen reflexiven Bezugnahme auf das eigene Leben eingespielt und routinisiert werden (S. 169). Biographisch vollziehen sich im Lebensverlauf eher Prozesse der Einschränkung von Umweltbeziehungen, der zunehmenden Selektivität von
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selbstgeschaffenen Wirklichkeiten und des Verzichts auf Entscheidungsparameter. Die Formel vom Lebenslangen Lernen erweist sich vor diesem Hintergrund als Programmatik mit appellativer Bedeutung. Die von Corsten/Lempert untersuchten berufsbiographischen Selbstbeschreibungen zeigen eine deutliche Kovarianz zwischen Anregungspotentialen sowohl betrieblicher wie auch beruflicher Art einerseits und dem Aufbau moralisch-kognitiver Reflexivität andererseits. Der abwägend distanzierte Umgang mit Regeln und Normen – der ja der Komplexität des modernen Arbeitslebens am ehesten entspricht – ist an Freiheitsgrade des Arbeitshandelns, an die Wahrnehmung professioneller Kompetenz und Verantwortungszurechnung gebunden (ebenda). Diese Faktoren sind es, die die Herausbildung einer auf Prinzipien statt auf konventionelle Folgebereitschaft gegründeten beruflichen Identität unterstützen. Generell verweisen die Forschungen zum berufsbiographischen Aufbau moralischen Bewusstseins auf den Entwicklungsaspekt biographischer Herausforderungen. Die Biographie wird aus ihrer Sicht zur Umwelt für ein an Niveauhierarchien ausgerichtetes Fortschrittsmodell des personenbezogenen Kompetenzaufbaus. Neben die Unterscheidung moralischer Reflexions- tritt dabei diejenige von Kontrollniveaus, auf deren Grundlage Menschen Ereignisse und Prozesse des beruflichen Lebens nach internen, in der eigenen Personen verankerten oder externen, in die Umwelt verlegten Gründen ordnen. Komplexe Ordnungsgebilde, die sich durch die eigene Beobachtung und Abwägung der Interaktion von internalen und externalen Kontrollzurechnungen auszeichnen, entstehen durch Verantwortungsübernahme, Konfliktbewältigung und durch qualifizierte, in Kooperationsbeziehungen integrierte Anforderungen an die eigene Arbeit. Es sind Übergänge, mitunter auch Krisen, die den Prozess der Routinisierung von Person-Umwelt-Beziehungen (s.o.) aufbrechen und die Voraussetzungen für Niveausteigerungen schaffen (Hoff/Lempert 1990). Ähnlich – nämlich ebenfalls auf der Grundlage eines strukturellen Fortschrittsmodells – argumentieren Kärtner/Otto/Wahler (1986), die die berufsbiographische Entwicklung auf vier Handlungsstrukturtypen beziehen, die nach Aktivität und Distanz geordnet sind (distanziert Aktive, instrumentell Inaktive, distanziert Inaktive, angepasste Aktive). Die Berufsausbildung führt zu mehr Distanz und vergrößert den Anteil derjenigen, die in einen aktiven Handlungsstrukturtypus hineinwachsen (S. 111). Die Besonderheit berufsbezogener Anerkennungen und Zuschreibungen verweist auf den Charakter der Erwerbsarbeit im Sinne einer spezifischen Arena für identitätswirksame soziale Spiegelungen, die in anderen Arenen des Alltags – vor allem der Familie – nicht bereitstehen. Diese Bedeutung stellt Krüger (1996) auf der Grundlage ihrer Untersuchungen über die Erwerbsbiographien von Frauen heraus. Sie zeigt, dass Übergänge von der Familien- in die Erwerbsarbeit durch sozioökonomische Faktoren (Verdienst des Mannes, Arbeitsmarkt etc.) nicht ausreichend erklärt werden können, sondern mit biographischen Deutungsleistungen zusammenfallen, in denen es um die Herstellung einer durch die familiale Intimität nicht schon vorgezeichneten Identität in objektivierten Leistungszusammenhängen geht (ebenda, S. 140). Die so zustandekommende Berufstypik der Erwerbsbeteiligung von Frauen rekonstruiert Born (1993) am Beispiel der differentiellen Erwerbsunterbrechung bei Kinderpflegerinnen, Friseurinnen, Verkäuferinnen, Bürofachkräften und kaufmännischen Angestellten. Sie zeigt, dass diese Berufe unterschiedliche berufsbezogene Normalitätsentwürfe anbieten, die in die biographischen Deutungsleistungen eingehen und dann auch die Art der Erwerbszyklen steuern. So werden bei Friseurinnen und Kinderpflegerinnen Fristigkeitsnormen wirksam, die bei kaufmännischen Angestellten nicht wirksam werden, und die zur Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit in berufsfremden Einsatzbereichen führen (ebenda, S. 28f.).
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5. Fazit Insgesamt gesehen stellen Berufsbiographien biographisch transformierte „institutionelle Scripte“ (Corsten 1995) dar. Berufe sind Muster der Vergesellschaftung und Normalisierung des Erwerbslebens (vgl. Sackmann/Wingens 1995). Aus systemtheoretischer Sicht koppelt die Form des Berufs die Funktion des Bildungs- an die des Wirtschaftssystems – und umgekehrt. D.h.: Für Berufe wird gleichermaßen gebildet und gezahlt (vgl. Kurtz 2005). Insofern differenzieren sie Anforderungen und Sinngehalte der Erwerbsarbeit und indirekt – im Sinne der Abgrenzung und Kontrastierung – auch solche der familialen und ehrenamtlichen Arbeit aus, die aber für sich genommen den individuellen Lebensverlauf nicht allein steuern bzw. prägen können. Dazu bedarf es der Einpassung in die verschiedenen Verwertungsarenen beruflicher Kompetenz wie auch der Einpassung in die Geschichte individueller Verlaufskurven und identitätsbezogener Deutungen. Insofern stellen Berufe unvermeidliche Markierungen und relationale Anhaltspunkte, jedoch keine Wegweiser und auch keine institutionellen Abziehbilder der Berufsbiographie dar. Der Beruf als institutionelles Skript kann in der Berufsbiographie nur in Grenzfällen gespiegelt werden. Die Berufsbiographie ist eine Ressource eigener Art, die den Beruf eigensinnig umarbeitet und ihn dann in individuelle wie auch kollektiv typisierbare Fallgeschichten hinein zersetzt. Die Normalität und Dauerhaftigkeit des Berufs bestehen in dem Maße wie diese Art der Bearbeitung und biographischen De- und Umkomposition des Berufs strukturell erforderlich ist und immer wieder abverlangt wird.
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IV. Biographieforschung in verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen
Biographieforschung in der Erwachsenenbildung Peter Alheit/Bettina Dausien
Inhalt 1. Zur Entwicklung biographischer Fragestellungen und Gegenstandsfelder in der Erwachsenenbildung 2. Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne: Theoretische Probleme und Bezugsmöglichkeiten 3. Methodenentwicklung im Bereich biographieorientierter Erwachsenenbildung 4. Zur biographischen Konstruktion von Bildungsprozessen. Ein empirisches Beispiel 5. Forschungsdesiderata und Forschungsperspektiven Literatur
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Peter Alheit/Bettina Dausien
Die zeitdiagnostischen Trends, die sich in den Sozial- und Bildungswissenschaften zum Ende des letzten Jahrhunderts behauptet haben, koinzidieren in der empirisch gut belegbaren Feststellung, dass die Organisation des sozialen Lebens modernisierter moderner Gesellschaften – und ganz besonders der Lebenspraxis Erwachsener – mit deutlich ansteigender Tendenz dem Einzelnen selbst zugemutet wird. Diese Pointe der sogenannten „Individualisierungsthese“ (stellvertretend Beck 1986, S. 205ff.) hat die reflexive Wende zumal in der Erwachsenenbildung zugespitzt und den gesamten Lebenslauf zu einem Lernfeld werden lassen. Wir beobachten dabei eine Art „Universalisierung der Pädagogik“ in modernen Gesellschaften (stellvertretend Kade 1989b, 1997), die sich nicht allein auf soziale Räume und soziale Gruppen, sondern auch auf die zeitliche Organisation des sozialen Lebens bezieht. Kaum eine Statuspassage des Lebenslaufs wird nicht von pädagogischen Maßnahmen flankiert. Jede Altersstufe begegnet ihren spezifischen pädagogischen Inszenierungen. Ausdruck dieser Entwicklung ist die Aktualität des Konzepts lebenslangen Lernens (stellvertretend Alheit/Dausien 2002). Diese „Orientierungsfigur“ (Nittel) hat freilich nicht nur eine institutionelle Seite. Sie charakterisiert auch den informellen Anpassungszwang sozialer Akteure an veränderte gesellschaftliche Bedingungen. Der Lebenslauf hat seine normative Kraft eingebüßt. Populäre Zeitdiagnosen wie das „Verschwinden der Kindheit“(Postman) oder die „Infantilisierung“ des Erwachsenenstatus (Bly) machen dies überaus deutlich. Die um eine Arbeitsbiographie herum organisierte soziale „Institution“ Lebenslauf (stellvertretend Kohli 1985) wird offensichtlich diffuser. Die problemlose Abfolge von Vorbereitungsphase, Aktivitätsphase und Ruhephase, die ohnedies nur für einen privilegierten Teil der männlichen Erwerbstätigen gegolten hat (Dausien 1990), hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Immer neue und immer riskantere Statuspassagen entstehen (stellvertretend Weymann/Heinz 1995; Heinz 2000). Das Individuum wird zur Agentur eines zwangsläufig selbstorganisierten Lernprozesses, dessen Ergebnis eine unverwechselbar einzigartige, aber durchaus fragile Biographie darstellt. Riskant ist diese moderne Biographie, weil die Sinnhorizonte, auf die sie sich beziehen könnte, diffus geworden sind. Es existiert kein einheitliches symbolisches Universum mehr, das die individuellen Entscheidungen synthetisiert und ordnet. Vielmehr bewegt sich der Einzelne durch eine Fülle unterschiedlicher Teilsysteme und „Sinnprovinzen“ (Hitzler/Honer 1994) und steht vor der Aufgabe, Konsistenz und Kontinuität der vielfältigen Erfahrungen – also biographische Identität – in zeitlicher Abschichtung erst herstellen zu müssen (vgl. Nassehi/Weber 1990). Das Nebeneinander konkurrierender Sinnofferten wird zu einem mehr oder weniger plausiblen biographischen Nacheinander. Dieser Zwang zur „Sinnbastelei“ (Hitzler 1994) und zum „Patchworking“ (Keupp 1988; Alheit 1995a), die Notwendigkeit zu einer ganz neuartigen Form der „Lebensführung“ (Voß 1991) macht biographisches Lernen zur Basisstruktur von Bildungsprozessen im Erwachsenenalter (vgl. Alheit 1993a; Dausien/Alheit 2005). Biographieforschung ist deshalb von der Peripherie ins Zentrum wissenschaftlicher Erwachsenenbildung gerückt (vgl. auch Kade/Nittel 1997; Kade/Nittel/Seitter 1999; van Felden 2003). Die Rekonstruktion individueller Lebensführung in modernisierten modernen Gesellschaften deutet auf ein neues Paradigma des Lernens (Alheit 1993a). Diese „starke“ Hypothese soll in den folgenden Überlegungen begründet und gefestigt werden. Wir gehen dabei zunächst auf die junge Geschichte biographischer Ansätze in der Erwachsenenbildung ein (1), diskutieren dann allgemeinere theoretische Konzepte, die für Lernen im Lebenslauf relevant sind (2), führen anschließend in aktuelle Methodenfragen ein (3), stellen exemplarisch eine biographische Fallstudie vor (4) und verweisen schließlich knapp auf relevante Forschungsdesiderate und mögliche Forschungsperspektiven (5).
Biographieforschung in der Erwachsenenbildung
1.
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Zur Entwicklung biographischer Fragestellungen und Gegenstandsfelder in der Erwachsenenbildung
Gewiss ist der Hinweis trivial, dass Menschen ein Leben lang lernen, und doch scheint die Vorstellung von der Bildbarkeit Erwachsener – zweifellos eine Entdeckung der Moderne (Alheit/Brandt 2006) – selbst eine Lernidee in biographischer Perspektive zu enthalten. Erwachsenen-Bildung schließt also ein Basiskonzept biographischen Lernens bereits ein. Um so erstaunlicher ist es, dass die professionspolitisch relevante Einführung des Biographietheorems (zu Ausnahmen vgl. Nittel in diesem Band; Hof 1995; schon Alheit 1984a) erst in die 1980er Jahre fällt (vgl. Kade/Nittel 1997). Hier erst konturieren sich vier durchaus unterschiedliche, aber doch komplementäre biographiebezogene Einsichten über Lernprozesse und innovative Lernsettings im Erwachsenenalter: (a) die Notwendigkeit, aus biographischen Krisen zu lernen; (b) die Explikation quasi „mitlaufender“ biographischer Lernprozesse; (c) die Entdeckung des autopoietischen Potentials biographischer Selbstreferentialität und (d) der zunehmende Anwendungsbezug biographischer Forschung. (zu a) Die bereits angedeuteten Individualisierungsprozesse enthalten zweifellos ein beträchtliches Risikopotential krisenhafter biographischer Entwicklung. Es erscheint daher nur konsequent, dass die erste, theoretisch nachhaltige Berührung von Erwachsenenbildung und Biographieorientierung an der Nahtstelle zwischen Bildung und Therapie zustandekommt. Seit Schmitz im Anschluss an Oevermanns Professionalisierungskonzept Erwachsenenbildung mit dem Label der „stellvertretenden Deutung“ versehen hat (Schmitz 1983, 1984), lässt sich unter Professionellen in der Erwachsenenbildung die latente Bereitschaft nachweisen, andragogische Interventionen von pädagogischen auf quasi-therapeutische Zielsetzungen zu verlagern (vgl. die vorübergehende Prominenz des Critical-Life-Event-Konzepts: etwa Breloer 1984; Siebert 1984; Kade 1985; vor allem jedoch Schuchardt 1980, 1987). Die Vorstellung, dass jedes Individuum „unter dem prinzipiellen Zwang steht, die einzelne Handlung mit den in seiner Biographie aufgeschichteten Handlungsentwürfen und Gestaltungsregeln vereinbar zu halten“ (Schmitz 1983, S. 64), ist biographietheoretisch bedeutsam und hat zugleich einen therapeutisch-kompensatorischen Impetus, denn sie schließt die Antizipation des Scheiterns ein: „Wenn die Wirklichkeit ein sozial konstruierter Bedeutungszusammenhang ist, dann bedeutet dies, dass dieser Bedeutungszusammenhang für den einzelnen immer nur so lange wirksam ist, wie er ihn in bedeutungsvollen Interaktionen ... fortwährend vermittelt erhält“ (Schmitz 1984, S. 118). Für den Fall der Infragestellung dieser „Wirklichkeit“ kann Erwachsenenbildung eine gewisse Distanz zur unmittelbaren Verunsicherung herstellen, sie kann durch Wissensvermittlung mögliche Widersprüche zwischen „subjektiver“ und „objektiver Wirklichkeit“ ausräumen, und sie übernimmt schließlich die Moderatorfunktion zur Herstellung entlastender Diskurse (vgl. Schmitz 1984, S. 120f.). D.h. sie ist in einem paradigmatischen Sinn therapeutisch tätig, ohne die professionelle Grenze zum therapeutischen Setting – der Arbeit an der „inneren Realität“ – unreflektiert zu überschreiten (Schmitz 1984, S. 119). Dabei kommt der Erwachsenenbildung Oevermanns „weiter“ Therapiebegriff entgegen. Fortgesetzte Modernisierungsschübe machen personale Sinngebung zu einem prinzipiellen Problem. Sinn wird immer weniger durch fraglose Teilhabe der Individuen an Kultur und Gesellschaft gewährleistet; seine Erzeugung bleibt den strukturell überforderten Subjekten selbst überlassen (Oevermann 1981; Nassehi 1996). In diesem Prozess entstehen keines-
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Peter Alheit/Bettina Dausien
wegs nur pathologische, sondern durchaus auch „normale“ Integritätsdefizite. Der Bedarf an quasi-therapeutischem Handeln professioneller Instanzen der Problembearbeitung steigt drastisch an (vgl. auch Dominicé 1990). Und er bezieht sich nicht allein auf die Heilung von Pathologien im klinischen Sinn; auch Erwachsenenbildung übernimmt „therapeutische“ Funktionen (ausführlich Koring 1987). Trotz berechtigter Einwände gegen diese spezifische Wendung biographischer Sensibilität in der Erwachsenenbildung (ausführlich Alheit 1993a, 1995a, 1996) lässt sich nicht leugnen, dass sie die Perspektive professioneller Identität eher befruchtet hat (vgl. noch einmal Koring 1987). In einer Kombination mit der zweiten „Entdeckung“, der zunehmenden Bedeutung mitlaufender biographischer Lernprozesse, könnte sie sogar für eine Innovation professioneller Handlungsumwelten sorgen. (zu b) „Mitlaufende“ Bildungsprozesse sind in den vergangenen Jahren auf verschiedenen Ebenen theoretisch und praktisch ernster genommen worden als in traditionellen Lehr-LernKonzepten. Biographische Kommunikation (Nittel/Völzke 1993; Behrens-Cobet/Reichling 1997) ist ja durchaus Bestandteil konventioneller Diskurse in der Erwachsenenbildung (schon Alheit 1984a). Dabei hat die explizite und implizite Beschäftigung mit Lebensgeschichten z.B. in der politischen (Arbeiter-)Bildung (schon Mahnkopf 1978; Alheit/Wollenberg 1982, 1992; Buschmeyer/Behrens-Cobet 1990; Buschmeyer 1995; Behrens-Cobet/Reichling 1997), der Frauenbildung (stellvertretend Schmeling 1988; Schiersmann 1993; Kaschuba/Reich 1994; Kaschuba 1996), der interkulturellen Erwachsenenbildung (stellvertretend Apitzsch 1989, 1990a, 1990b; Seitter 1996; schon Alheit 1984b) oder der Altenbildung (stellvertretend S. Kade 1994; Mader 1995b) eine gewisse Schlüsselfunktion. „Aus Geschichten“ soll „gelernt“ werden (Baacke/Schulze 1979), denn Geschichten sind handlungs- und ereignisnah und vermögen abstrakte Einsichten in praktisch-pädagogische Prozesse zu übersetzen (vgl. Baacke 1985, S. 13). Autobiographisches Lernen in diesem konkreten Sinn bedeutet das Entdecken einer „Landschaft“ Biographie, die bis dahin gleichsam naiv in der unhinterfragten oder nur temporär problematisch gewordenen Ich-Identität aufgehoben war: unterschiedliche Erfahrungsschichten, die Eigenart der umgebenden Lebenswelten, Brüche und Übergänge, Situationen und Konstellationen als Ausgangspunkte von Entwicklungen, Wege und Einbahnstraßen, Zukunftsentwürfe (ausführlich Schulze 1985, 1991). Autobiographisches Lernen ist in Bildungssituationen andererseits immer schon biographische Kommunikation, die Basisvoraussetzung gelingenden Fremdverstehens (Nittel/Völzke 1993; Hanses 2000). Das Neuartige dieses Zugangs liegt darin, dass Biographie als vielschichtiger, diskursfähiger Prozess und nicht nur als Resultat betrachtet wird. Ziel ist nicht vordringlich die Deutung der Lebensgeschichte, sondern zunächst ihre praktische Rekonstruktion. Womöglich ist die Entwicklung persönlicher Identität weniger auf „stellvertretende“ Identitätsangebote als auf die narrative Rekapitulation autobiographischen Erlebens selbst angewiesen. Dabei geht es nicht um eine naiv-emphatische Aufwertung des Erzählens in biographischen Lernprozessen, sondern um die strukturelle Bedeutung der Narrativität für die Aufklärung biographischen Handelns: „An der Grammatik von Erzählungen lässt sich ablesen, wie wir Zustände und Ereignisse, die in einer Lebenswelt auftreten, identifizieren und beschreiben; wie wir die Interaktion von Gruppenangehörigen in sozialen Räumen und historischen Zeiten zu komplexen Einheiten vernetzen und sequenzialisieren; wie wir die Handlungen von Individuen und die Ereignisse, die ihnen zustoßen, wie wir die Taten von Kollektiven und die Schicksale, die sie erleiden, aus der Perspektive der Bewältigung von Situationen erklären.
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Mit der Form der Erzählung wählen wir eine Perspektive, die uns ‚grammatisch‘ nötigt, der Beschreibung ein Alltagskonzept von Lebenswelt als kognitives Bezugssystem zugrunde zu legen.“ (Habermas 1981, II, S. 207) Gerade unser intuitives biographisches Wissen – jene „Grammatik von Erzählungen“ – verfügt also über Verweisungszusammenhänge, die im pädagogischen Prozess expliziert werden können. Dabei beginnen wir nicht allein uns selbst, sondern auch die Reproduktionsbedingungen unserer Lebenswelt besser zu verstehen. Wir entdecken eine Art Schlüsselqualifikation moderner Lebensführung, die als „Biographizität“ bezeichnet werden könnte: „die Fähigkeit, moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren“ (Alheit 1993a, S. 387; vgl. auch Alheit 1995b; Egger 1995; Dausien 1996). (zu c) Solche Einsichten „en passant“ haben in der jüngeren Theoriediskussion der Erwachsenenbildung zu hochinteressanten Zuspitzungen geführt, die einerseits über das Biographiekonzept hinausreichen, andererseits freilich gerade für ein anspruchsvolles theoretisches Verständnis biographischen Lernens von Nutzen sind. Sie haben den analytischen Blick für die Konstruktionsleistungen der Subjekte in Lernprozessen geschärft. Diese auch von neueren Erkenntnissen der Biowissenschaften, besonders der Neurobiologie (stellvertretend Maturana/Varela 1988) profitierende Öffnung für konstruktivistische Wirklichkeitsinterpretationen hat nicht nur eine radikale Revision didaktischer Prinzipien in der Erwachsenenbildung eingeleitet (stellvertretend Siebert 1994, 1995, 1996; Schäffter 1995; Arnold 1995, 1996; Arnold/Siebert 1995), sie präzisiert auch das Konzept einer andragogischen Biographieorientierung (vgl. Alheit 1996; Alheit/Dausien 1996; Dausien/Alheit 2005; Dausien 2003). Die Einsicht, dass Lernprozesse nicht als inputs verstanden werden können, denen erwartbare outputs der lernenden Subjekte entsprechen, sondern als „intakes“ (Schäffter 1995), als vom Lernenden selbst und seinem Erfahrungsfundus gestaltete Verarbeitungsergebnisse, setzt eine biographische Perspektive bereits voraus. Wir lernen in einem spezifischen Sinn selbstreferentiell (Alheit 1997b; Alheit/Dausien 2000). Das Erfahrungsfremde, das uns im Laufe unserer Biographie begegnet, muss erst in den je eigenen „Erfahrungscode“ übersetzt werden, bevor es prägende Wirkung entwickeln kann. Dieser Code ist jedoch das Ergebnis biographischer Erfahrungsaufschichtung (Alheit 1993a, 1996, 1997b). Er repräsentiert also einerseits das unverwechselbar einzigartige Resultat eines Verarbeitungsprozesses in der Zeit, bleibt aber andererseits an die lebensweltliche Semantik der umgebenden Sozialwelt anschließbar, weil die zu verarbeitenden Lernimpulse in der Regel aus dieser Sozialwelt stammen. Biographische Lernprozesse folgen daher dem Prinzip einer „nach außen offenen Selbstreferentialität“ (Alheit 1997b, S. 947), sind sozial bedingte biographische Konstruktionen (Alheit/Dausien 1996, 2000). (zu d) Damit ist ein anspruchsvoller konzeptioneller Rahmen geschaffen, der einen professionspolitisch relevanten Anwendungsbezug erlaubt und eine Entwicklung systematisch fortsetzt, die sporadisch in den späten 1980er Jahren bereits begonnen hat. Untersuchungen biographieorientierter Teilnehmer- und Adressatenforschung (stellvertretend Kade 1985, 1989b; Kokemohr/Marotzki 1989; Marotzki/Kokemohr 1990; S. Kade 1992, 1994; Kade/ Seitter 1996; Dausien 2003), wichtige Einsichten in die erwachsenenpädagogische Professionsforschung (stellvertretend Gieseke 1989; Harney/Nittel 1995; Nittel/Marotzki 1997), Ansätze institutionenbezogener Biographieforschung (Kade 1989; Harney/Keiner 1992), zunehmend auch Impulse für die Didaktik der Erwachsenenbildung (Buschmeyer 1995; Siebert 1996; Behrens-Cobet/Reichling 1997; Dausien/Alheit 2005), aber auch für Perso-
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nalentwicklungskonzepte, für spezielle Weiterbildungsberatung und Coaching-Ansätze schaffen ein breites Spektrum relevanter Anwendungsbezüge des Biographieparadigmas. Dabei zeigt sich, dass die Gegenstandsbereiche nicht unbedingt vergleichbar sind. Die Grenze zwischen eher forschungs- und eher praxisrelevanten Anwendungsbezügen ist fließend. Die Fruchtbarkeit der Biographieforschung erweist sich vor allem bei einer Fülle grundlagentheoretisch relevanter Studien zur Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsprozessen (Kokemohr/Marotzki 1989; Kade 1989a; Kade/Seitter 1996; Nittel/Marotzki 1997). Die Aufdeckung so subtiler Aneignungsstrategien wie die prominente „diffuse Zielgerichtetheit“ in Weiterbildungsprozessen, die Kade (1985) in einer Fallstudie herausarbeitet, oder der Nachweis nichtintendierter Effekte organisierter Bildungsangebote (Alheit/Dausien 1996) lassen erahnen, wie sehr Bildungsverhalten in der Vergangenheit ausschließlich auf institutionelle Bedarfe bezogen definiert wurde, statt auf subjektive Aneignungsstrategien. Geradezu generalisierbare Beobachtungen zur biographischen Konstruktion von Bildungsverläufen kumulieren in empirischen Untersuchungen zu Frauen (stellvertretend Dausien 1996) oder Migrationsbiographien (stellvertretend Apitzsch 1990a). Dabei überrascht vor allem die Entdeckung, dass die Konzidenz ungleichheitsverschärfender Faktoren in Bildungskarrieren (z.B. Frau und Angehörige einer ethnischen Minorität zugleich zu sein) u.U. zu unerwarteten biographischen Handlungsautonomien führen kann (Apitzsch 1990b; Alheit 1993b). Ebenso fruchtbar wie in der neu entstehenden adressatenbezogenen Grundlagenforschung erweisen sich biographische Ansätze auch in der Bildungsarbeit mit bestimmten Teilnehmergruppen – so vor allem in der Altenbildung (S. Kade 1992, 1994a; Mader 1995b). Die Notwendigkeit biographischer Selbstverständigung und der Erfahrung sozialer Zugehörigkeit nimmt mit dem Alter eher zu (S. Kade 1994a,b). Hier aber zeigen sich Arrangements der biographischen Kommunikation als außerordentlich hilfreich. Mitlaufende Verständigungsprozesse können didaktisch genutzt und unterstützt werden. Die Zielgruppe älterer Menschen erscheint hier freilich eher idealtypisch, weil sie häufig besonders hart mit Übergangserfahrungen (Ausscheiden aus dem Beruf, Verlust des Partners etc.) konfrontiert ist, die biographische Bilanzierung nahelegen. Grundsätzlich machen jedoch viele soziale Akteure während ihres Erwachsenenlebens sehr ähnliche Erfahrungen (Arbeitslosigkeit, Scheidung, Migration u.ä.) und erscheinen deshalb prinzipiell offen für die Inszenierung biographischer Kommunikation. Diese Entwicklung offenbart allerdings zwei Seiten: Sie belegt die ungewöhnlich produktive Wirkung biographischer Ansätze auch für die Erwachsenenbildungspraxis; zugleich deutet sie jedoch auf eine gewisse Beliebigkeit der gewonnenen Ergebnisse und der strategischen Plazierung biographiebezogener Forschung. Zweifellos besteht also noch intensiver Verständigungsbedarf über den theoretischen Status, die strategische Reichweite und den innerfachlichen Stellenwert biographischer Forschung in der Erwachsenenbildung. Dieses Defizit legt zunächst eine Ortsbestimmung des Biographiekonzepts in bezug auf andere theoretische Rahmenkonstrukte nahe, die das Terrain des Lernens in der Lebensspanne klassischerweise besetzen.
Biographieforschung in der Erwachsenenbildung
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Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne: Theoretische Probleme und Bezugsmöglichkeiten
Die „Entdeckung“ des Lebenslaufs und die Relevanz der Altersstufen als Institutionen der gesellschaftlichen Organisation wie der individuellen Orientierung lässt sich in verschiedenen Strängen sozial- und erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung verorten (vgl. Nittel in diesem Band). Im Folgenden sollen nur die wichtigsten theoretischen Bezüge diskutiert werden, die in der Erwachsenenbildung eine Rolle gespielt haben: (a) das Konzept der Sozialisation, (b) das Theorem der Individualisierung und (c) das Biographie-Konzept. (zu a) Die Durchsetzung des Sozialisationsparadigmas seit den späten 1960er Jahren ist eng mit der „erziehungswissenschaftlichen Wende“ in der Pädagogik verknüpft. Die Frage, wie Individuen jenseits von Erziehungsprozessen im engeren Sinn in eine Gesellschaft „hineinsozialisiert“ und zu einer aktiven „Rollenübernahme“ als kompetente Mitglieder befähigt werden, beinhaltet von vornherein einen Doppelaspekt: die Reproduktion und Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und die subjektive Leistung der Ausbildung von Identität und Handlungskompetenz angesichts einer immer komplexer werdender Sozialwelten. Mit dieser Öffnung eines enggefassten pädagogisch-psychologischen Lernbegriffs zur Seite der Gesellschaft hin wird auch die Konzentration auf Kindheit und Jugend prinzipiell aufgehoben. Die programmatische Forderung eines lebenslauftheoretischen Ansatzes begleitet die Sozialisationsforschung seit den 1970er Jahren (vgl. Brim 1974; Hurrelmann 1976; Kohli 1991). Das damit verknüpfte Thema der Erwachsenensozialisation (vgl. Griese 1979; NaveHerz 1981; Kohli 1984) wird zunächst unterstützt durch ein theoretisch-politisch motiviertes Interesse am Zusammenhang von Arbeit und Persönlichkeit bzw. beruflicher Sozialisation. Fragen des Alterns als Prozess und der Differenzierung des Alters als aktiver Lebensund „Lernphase“ sind weitere Themen im Kontext einer Prozessperspektive von Sozialisation über die gesamte Lebensspanne hinweg (vgl. auch Hoerning 1989), die in der Folge zu einer Fülle empirischer Forschungen anregen. Dennoch ist diese programmatische Öffnung bis heute nicht in eine befriedigende Theorieentwicklung überführt worden. Wie Kohli (1991, S. 303) in seiner Neufassung des einschlägigen Handbuchartikels resümiert, ist „die theoretische Diskussion über Sozialisation im Lebenslauf (...) kaum über den Stand von 1980 hinausgekommen“. Ohne die Gründe für diese theoretische Stagnation ausführlich zu diskutieren, lassen sich einige Faktoren benennen, die für das Sozialisationskonzept insgesamt bezeichnend sind: Mit der inhaltlich und politisch motivierten Fokussierung der wissenschaftlichen Debatte auf die Klassen- und Geschlechterfrage (schichtspezifische und geschlechtsspezifische Sozialisation) wird in der programmatischen Anfangsphase des Konzepts stärker die Reproduktion (und Veränderbarkeit) gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen betont als der individuell-biographische Aspekt. Empirische Forschungen richten sich eher darauf, die Ergebnisse der gesellschaftlichen „Prägung“ sichtbar zu machen und damit die soziale Bedingtheit klassen- und geschlechtsspezifischer Differenzen zu belegen, als die Prozesse der Differenzierung zu rekonstruieren. Die Suche nach Ursachenfaktoren, „Sozialisationsagenten“ und „-instanzen“ mündet in den 1980er Jahren in eine breite empirisch ausgerichtete Sozialisationsforschung, die nun eine Vielzahl weiterer Dimensionen und Bereiche zum Gegenstand wählt (Medien, Gesundheit, Sport, Körper u.v.a.; vgl. zum Überblick Geulen 1991). Der Streit um ein angemesse-
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nes theoretisches Konzept wird in dieser Konsolidierungsphase des Paradigmas allerdings in einem Konsens auf der Meta-Ebene stillgestellt: Das von Hurrelmann und anderen entwickelte Rahmenkonzept des „produktiv-realitätsverarbeitenden Subjekts“ und das „Mehrebenenmodell“ der Sozialisation (vgl. Hurrelmann 1983, 1986) leisten eine Systematisierung des Forschungsfeldes, ohne jedoch Entscheidungen über einzelne Theorien oder inhaltliche Konzepte zu fällen. Diese bestehen seither in pragmatischer Koexistenz nebeneinander. Die Konstruktionslogik des Modells bleibt im Übrigen den klassischen Dichotomien abendländischen Denkens verhaftet: Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur, Subjekt und Objekt, Innen und Außen (vgl. Geulen 1991). Diese Dualismen werden als Dimensionen bzw. Ebenen in das Sozialisationsmodell aufgenommen, ihre wechselseitige Bezogenheit bleibt allerdings weitgehend abstraktes Programm. Statt dessen legt die additive Anordnung der dichotomischen Kategorien innerhalb der theoretischen Matrix eine arbeitsteilige Forschung nahe. Psychologische Ansätze befassen sich mit dem Individuum, soziologische thematisieren eher institutionelle oder strukturelle Aspekte der Gesellschaft, „lifespan“-Forschungen verfolgen Lernprozesse in der Perspektive der Lebensspanne, „Erwachsenensozialisation“ konzentriert sich auf eine abgrenzbare Lebensphase. In diesem Spektrum erscheint auch die Frage nach der biographischen Dimension nur als ein möglicher Zugang, nicht aber als eine konsequente theoretische Herausforderung an das Sozialisationskonzept insgesamt (Dausien 2002). In dieser Matrix können sich empirische Forschungen in einzelnen Feldern oder Ebenen verorten, ohne explizite theoretische Bezugnahme. Es kommt zu einer relativen Entkoppelung von Theorie und Empirie. Das Rahmenkonzept von Sozialisation bezeichnet keinen empirisch fassbaren Gegenstand, sondern eher eine hochabstrakte Perspektive, unter der nahezu jeder Gegenstand betrachtet werden kann. Daraus wiederum resultiert eine relative Beliebigkeit hinsichtlich der anzuwendenden Forschungsmethoden und –methodologien. Wo keine konsequente Verbindung zwischen Theorie und empirischem Gegenstand besteht, macht auch die Forderung einer gegenstandsangemessenen Methodologie und Methodik wenig Sinn. Im Gegenteil, eine Vielzahl der vorliegenden empirischen Forschungen konterkariert in ihrer quantitativ-statistischen Ausrichtung gerade den Prozesscharakter des Konzepts und verfehlt auch die theoretische Herausforderung, jenes Ineinandergreifen von Individuum und Gesellschaft qualitativ zu beschreiben. So stellt sich in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund einer etablierten empirischen Sozialisationsforschung die Frage nach der theoretischen Dignität des Konzepts. Die Chance zu einer erneuten Theoriediskussion könnte sich nicht zuletzt durch die de-konstruktivistische Kritik an der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung und ihren „Reifikationstendenzen“ (vgl. stellvertretend Bilden 1991; Dausien 1999, 2006) entwickeln, also an einem der Ausgangspunkte des Konzepts. Das vorliegende Meta-Modell – soviel ist deutlich geworden – weicht der eigentlichen Herausforderung des Sozialisationskonzepts aus, nämlich jene „subjektive Aneignung der sozialen Welt“ oder die „Verinnerlichung gesellschaftlicher Strukturen“ in einer Prozessperspektive theoretisch zu begreifen. Für die Erforschung lebenslangen Lernens und biographischer Prozesse ist das bestehende Sozialisationsparadigma deshalb nur begrenzt geeignet. Die Perspektive des Lebenslaufs zerfällt in eine abstrakte theoretische Programmatik einerseits und eine Vielzahl empirischer Einzelforschungen, die häufig die Subjektperspektive ignorieren, andererseits. Ein überzeugender Ansatz zur Erforschung biographischer Lernprozesse, der zwischen diesen beiden Polen vermitteln könnte, bleibt ein Desiderat. Hier ist die soziologische Biographieforschung deutlich weiter entwickelt, ohne bislang von der etablierten Sozialisationsfor-
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schung angemessen zur Kenntnis genommen zu werden. Die von Nittel diagnostizierte Umorientierung der erziehungswissenschaftlichen Erwachsenenbildung „von der Sozialisationsforschung zur Biographieanalyse“ (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) ist deshalb vermutlich mehr als eine kurzfristige Modeerscheinung. Allerdings ist das Sozialisationskonzept in seiner Funktion als Leitparadigma in den 1980er Jahren nicht durch „Biographie“ abgelöst worden, sondern durch ein anderes Konzept, das einen ähnlichen Boom erlebt hat wie Sozialisation in den 1970er Jahren. (zu b) Gemeint ist die eingangs zitierte Individualisierungsdebatte. Auch hierbei handelt es sich weniger um eine geschlossene Theorie als um einen paradigmatischen Versuch, jene Doppelperspektive von Vergesellschaftung und Individualisierung in einem umfassenden historischen und gesellschaftstheoretischen Entwurf zu fassen. Die Argumentationslinie der Individualisierungsthese ist in der breiten – auch internationalen – Diskussion der letzten 20 Jahre (vgl. Giddens 1995; Beck/Giddens/Lash 1996) facettenreicher geworden, lässt sich aber im Kern immer noch mit der ursprünglichen Beck’schen Fassung umreißen: Im Verlauf der Moderne werden die Individuen immer mehr zu „Zentren“ von Handlungen und Entscheidungen (Beck 1986, 1993; Beck/Beck-Gernsheim 1994). Ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv – einem sozialen Milieu, einer Familie, einer Genusgruppe – genügt nicht mehr, um die immer komplexer werdende soziale Welt zu organisieren und Wandlungsprozesse zu bewältigen. Statt dessen wird ein neuer Vergesellschaftungsmodus funktional, der an den Individuen direkt ansetzt und in einer Art „Ablaufprogramm“ Regeln bereitstellt, die institutionelle Anforderungen und individuelle Handlungen zeitlich abschichten und damit zugleich Handlungsspielräume und Flexibilität für soziale Wandlungsprozesse schaffen (vgl. Weymann 1989). Wie Kohli (1985) mit seiner Institutionalisierungsthese beschrieben hat, stellt der Lebenslauf jenes moderne Regelsystem bereit, ein Regelsystem freilich, das selbst zunehmend weniger verbindlich wird und Anzeichen einer erneuten „De-Institutionalisierung“ aufweist (Kohli 1994). Parallel zu dem gewachsenen institutionellen Regelungsbedarf ist auch auf Seiten der Individuen die Notwendigkeit zur Selbstregulation, d.h. zur Lebensplanung und aktiven Gestaltung der eigenen Biographie, dramatisch gestiegen. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Handlungsfelder und Institutionen, rascher sozialer Wandel und nicht zuletzt soziodemographische Veränderungen wie die markante Verlängerung des erwartbaren Lebenslaufs (vgl. Imhof 1984, 1988) verlangen dem Individuum in erhöhtem Maß identitätsund kontinuitätssichernde Leistungen ab, und zwar über die gesamte Lebensspanne hinweg bis ins hohe Alter (vgl. Naegele/Tews 1993; Birren et al. 1995; Mader 1995a). Dass damit andererseits auch die individuellen Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten gestiegen sind, betont die Zwiespältigkeit des Individualisierungsprozesses als Zwang und Chance zur Autonomie (vgl. Habermas 1988; Brose und Hildenbrand 1988). Genau an dieser Stelle wird die Individualisierungsdebatte für die Erwachsenenbildung relevant. Die gestiegenen Anforderungen an Selbstreflexivität und Selbstregulation, was die Organisation des eigenen Lebens angeht, lassen sich auch als Notwendigkeit lebenslangen Lernens (Dohmen 1996) interpretieren. Es stellt sich zum einen die grundlagentheoretische Frage, wie Individuen diese biographischen Lernprozesse, vor allem also jenes „mitlaufende Lernen“, im Rahmen ihrer Lebensspanne strukturieren und gestalten. Zum anderen muss auf Basis dieses Wissens untersucht werden, welche Rolle mehr oder weniger organisierte Bildung in und außerhalb der Institutionen und insbesondere die unterschiedlichen Formen der Erwachsenenbildung in diesem Prozess spielen bzw. spielen könnten. Der Praxisbezug die-
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ser Forschungsperspektive macht deutlich, dass es nicht in erster Linie um ein abstraktes Theoriemodell biographischen Lernens geht, sondern um die differenzierte Untersuchung unterschiedlicher Personengruppen und Problemlagen in konkreten Praxisfeldern. In gewisser Weise verbietet die Individualisierungsthese bereits in ihrer Konstruktionslogik die Annahme universaler Lernprinzipien oder Bildungsmodelle. Es ist deshalb zu fragen, welche Beiträge die Individualisierungsdiskussion für die Erwachsenenbildung und die Erforschung biographischer Lernprozesse leisten kann. Der Schwerpunkt der vorliegenden Forschungen liegt auf der Strukturierung von biographischen Statuspassagen durch gesellschaftliche Institutionen (Arbeitsmarkt, Wohlfahrtssystem, Berufs- und Bildungssystem, Familie u.a.), also auf der institutionellen „Meso-Ebene“ (vgl. Heinz 1991a,b, 1992; Leisering et al. 1993 u.a.). Die Verknüpfung von Institution und Biographie schafft eine neue, eigenständige Regulationsebene sozialen Lebens (vgl. Hoerning/ Corsten 1995; Weymann/Heinz 1995), wobei Bildungsprozessen eine steigende Bedeutung zukommt. Kritische Analysen über Bildungs- und Erwerbsbiographien von Frauen (z.B. Dausien 1996; Krüger 1995; Born/Krüger 1993; Born/Krüger/Lorenz-Meyer 1996; RabeKleberg 1993, 1990; Wohlrab-Sahr 1993) zeigen darüber hinaus, dass die Geschlechter auf unterschiedliche Weise in Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse einbezogen werden, dass Institutionalisierungsprozesse immer schon „vergeschlechtlicht“ sind und ihrerseits zur „Konstruktion von Geschlecht“ beitragen. Theoretisch interessant ist dabei, dass die Lebenslaufmuster von Frauen institutionell weniger eindeutig reguliert sind als die (auch schon brüchig werdende) „männliche Normalbiographie“. Sie werden durch widersprüchliche Anforderungsstrukturen in Beruf, Bildung und Familie systematisch „gestört“. Die interindividuelle Varianz der konkreten biographischen Verläufe ist beträchtlich. Auf seiten der Subjekte bedeutet dies den Verlust einer „funktionierenden“ Orientierung, wie sie etwa durch das „Drei-Phasen-Modell“ der Kombination von Familie und Beruf suggeriert wird. Angemessener erscheinen deskriptive Modelle wie „Patchwork“ (Sichtermann 1987; Alheit 1995a) oder „Puzzle“ (Krüger/Born 1991). „Strukturelle Unplanbarkeit“ (Krüger et al. 1991) und „biographische Unsicherheit“ (Wohlrab-Sahr 1993) sind typisch für die Lebensverläufe von Frauen; sie werden jedoch zunehmend zu einem allgemeinen Merkmal von Biographien in der „zweiten Moderne“. Wie aber gehen die Subjekte mit dieser Unsicherheit um? Hier gibt das Individualisierungstheorem für sich genommen noch keine Auskunft. Die Stärke des Ansatzes liegt zweifellos in der Analyse institutioneller Modernisierungsprozesse, doch kann das Einschieben der „Meso“-Ebene jenes Auseinanderfallen zwischen gesellschaftlicher Modernisierung und „Biographisierung“ als Pendant auf der Subjektseite ebensowenig verhindern wie im Sozialisationsmodell. Für die pädagogische Perspektive eines lebensbegleitenden Lernens wäre jedoch gerade ein Konzept erforderlich, mit dem das Ineinandergreifen individueller und gesellschaftlicher Prozesse am konkreten Fall theoretisch und empirisch zugänglich wird. Und hier liegt das zweite Problem des Individualisierungsansatzes: Zwar werden „Selbststeuerung“ und „Selbstorganisation“ im Lebenslauf als Konsequenz der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse theoretisch ableitbar, doch muss auch an dieser Stelle ein Bruch zwischen theoretischem Postulat und empirisch-methodischer Forschung konstatiert werden. Hinter den Begriffen des lebenslangen Lernens und der Selbstorganisation verbergen sich sehr unterschiedliche Konzeptionen: angefangen von eher kleinräumigen Prozessen „selbstgesteuerten Lernens“ etwa bei der Aneignung konkreter Fertigkeiten und Informationen im Rahmen von Schulungsprogrammen bis zu selbstorganisierten Basisinitiativen im Bereich des Umweltschutzes, von philosophisch unterlegten
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Schulungskonzepten zur Selbstorganisation im Management bis zu Internetcafés, von Volkshochschulkursen mit lebensgeschichtlichem Ansatz bis zu anspruchsvollen theoretischen Konzepten einer Prozessstruktur biographischer Erfahrungsaufschichtung (vgl. Beispiele im Themenheft des Report 39; sowie Dohmen 1997). Auch in der Forschung wird die „Arbeit der Subjekte“ – gewissermaßen die Seite der „individuellen Modernisierung“ (Alheit 1997b) – mit den unterschiedlichsten Methoden und Indikatoren empirisch untersucht: mit hochaggregierten Querschnittsdaten, statistischen Lebensverlaufsanalysen, „rationalchoice“-Modellen, qualitativen Fallstudien und diversen anderen Methoden und in den unterschiedlichsten Gegenstandsfeldern, ohne dass dies durch eine theoretische Konzeption begründet würde. Die allgemeine Interpretationsfolie der Individualisierung reicht hierfür kaum aus. (zu c) Statt dessen käme es darauf an, dass „Prozesse des Lernens, Umlernens und Verlernens mikrologisch am konkreten Fall untersucht werden können“, um „das komplexe Verhältnis von Identität, Lernen und Bildung empirisch in den Blick zu nehmen“ (Nittel/Marotzki 1997, S. 7). Ein solcher Forschungsansatz muss die gesellschaftlichen Makrostrukturen keineswegs ausblenden, aber er thematisiert sie aus der Perspektive des konkreten Falles. Statt Individualisierung (als Kennzeichnung eines abstrakten Vergesellschaftungsmodus) bietet sich hier der Begriff der „Biographisierung“ an, der mehrere Vorteile besitzt. Zunächst setzt er den Akzent deutlicher auf die Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess. Dann knüpft er unmittelbar an Konzepte der Selbstdeutung und des Alltagshandelns an. Dies hat erhebliche forschungsstrategische Vorteile, denn es erlaubt – im methodologischen Rahmen des interpretativen Paradigmas –eine begründete Verknüpfung zwischen Theorie, Forschungsgegenstand und Methoden. Schließlich bietet der Begriff Anknüpfungspunkte zum theoretischen Konzept der Biographie und zur Biographieforschung. Und damit ist der dritte theoretische Bezugskontext benannt. Der entscheidende Unterschied zu den vorgenannten theoretischen Konzepten besteht darin, dass in dem Phänomen „Biographie“ schon auf der Ebene der Sozialwelt jene beiden Aspekte von Struktur und Handeln, Subjekt- und Objektperspektive, Gesellschaft und Individuum integriert sind, und nicht erst durch nachträgliche Theoretisierung zusammengebracht werden müssen (vgl. Fischer/Kohli 1987; Alheit 1993a, 349ff.). Biographien als konkret gelebtes Leben beinhalten immer beides: Emergenz und Struktur. Biographisches Handeln und biographische Sinnkonstruktionen als subjektive Leistungen sind gerade in ihrem Charakter der historischen Einmaligkeit und der relativen Offenheit gegenüber der Zukunft angewiesen auf gesellschaftliche Strukturen, auf Orientierungsmuster, institutionalisierte Prozeduren, geronnene interaktive Formen und Regeln, die als Gerüststrukturen „hinter dem Rücken“ je konkreter biographischer Prozesse wirksam sind (vgl. Alheit 1993a). Diese Dialektik ist jedoch nicht als Wechselwirkung oder Reiz-Reaktions-Verkettung konzipiert. Individuen „antworten“ mit ihren Biographien nicht auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, ihr Lernen folgt nicht einfach dem Muster gesellschaftlich vorgegebener Anforderungsstrukturen. Es ist in Termini von „Bewältigung“, „Coping-Strategien“ oder „Verarbeitungsmustern“ nur unzureichend erfasst. Und auch der Begriff der Biographisierung meint mehr als die subjektive Entsprechung zur gesellschaftlichen Modernisierung. Mit dem Biographiekonzept wird jene Doppelheit vielmehr als eine biographische Prozessstruktur interpretiertbar, als „biographischer Code“, der die einmalige biographische Organisation von Erfahrungen im sozialen Raum als eine Temporalstruktur fasst (vgl. Alheit 1997b). Die Verknüpfungslogik ist keine Kausalkette, sondern die narrativ rekonstruierbare Geschichte
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eines Falles, eine generative Struktur, die zugleich strukturiertes und strukturierendes Element im gesellschaftlichen Prozess ist (vgl. Giddens 1988). Damit wird einerseits auf die sequentielle Struktur von Biographien verwiesen, zugleich jedoch auch auf ihre grundsätzlich soziale Verfasstheit (vgl. Alheit 1993a). Individualität meint nicht die isolierte oder isolierbare Geschichte eines Individuums, sondern das „Organisationsprinzip“, die soziale Form eines komplexen interaktiven Konstruktionsprozesses. Biographien sind also immer beides zugleich: die besondere Lebensgeschichte einer Person und konkretes Dokument einer allgemeinen – im Sinn einer kollektiv geteilten – gesellschaftlich-historischen Geschichte (vgl. dazu Habermas 1981, II, S. 206ff.; Schulze 1997). Erzählte oder in anderen Medien und kommunikativen Formen repräsentierte Lebensgeschichten dokumentieren diese Dialektik am je konkreten Fall. Biographische Repräsentationen im letzteren Sinn bilden das Material für wissenschaftliche Forschungen ebenso wie für biographische Lernprozesse. Die besondere pädagogische Relevanz dieser Perspektive ist offenkundig. Wenn Lernprozesse als „intakes“ durch den je besonderen biographischen Erfahrungscode strukturiert werden, neue Erfahrungen also nicht durch die „externe“ Struktur des Gegenstandes, die curriculare Logik oder die Widerständigkeit der sozialen und materiellen Welt determiniert, sondern in die gewordene Struktur einer Lebensgeschichte hineingenommen und perspektivisch verarbeitet werden, dann muss man die Lebensgeschichte in Bildungsprozesse reflexiv einbeziehen. Diese Forderung gilt prinzipiell für Lernprozesse in allen Lebensphasen, aber sie stellt sich für die Erwachsenenbildung mit besonderer Brisanz, da hier das gelebte Leben bereits eine komplexe individuelle und soziale Struktur ausgebildet hat. Wir sind immer schon in Geschichten verstrickt, wenn wir neue Erfahrungen machen oder alte Erfahrungen neu verarbeiten. In gewisser Weise „lernen“ wir also immer „aus Geschichten“. Diese Voraussetzung kann vom Status einer anthropologischen Grundkonstante in ein reflektiertes methodisches Konzept gewendet werden. Der von Baacke und Schulze (1979) vorgelegte Ansatz markiert eine eigenständige pädagogische Tradition (vgl. Baacke/Schulze 1979, 1985; Hansen-Schaberg 1997), die „lebensgeschichtliches“ und „curriculares Lernen“ als zwei Aspekte der biographischen Bildungsprozesse thematisiert (vgl. Schulze 1985). Damit ist einerseits eine wissenschaftliche Forschungsperspektive eröffnet worden, die sich im Anschluss an soziologischen Theorien und Methoden der Biographie- und Erzählforschung (vgl. Schütze 1983, 1984; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997; Alheit 1984a, 1993a u.v.a.) seit mehr als zwanzig Jahren zu einer theoretisch und empirisch elaborierten erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung entwickelt hat (zum Überblick Nittel 1991; Krüger/Marotzki 1995). Andererseits bildet der Ansatz des „Aus-Geschichten-Lernens“ auch die Grundlage für vielfältige Methoden und Konzepte der Erwachsenenbildungspraxis.
3.
Methodenentwicklung im Bereich biographieorientierter Erwachsenenbildung
Die Leistung des Biographiekonzepts für Erwachsenenbildungsforschung und -praxis scheint vor allem in der Tatsache zu liegen, dass es – im Gegensatz zum Sozialisationsbegriff oder dem Individualisierungstheorem – an Wirklichkeitskonstruktionen „ersten Grades“, also an die alltägliche Deutungspraxis und die „biographische Arbeit“ (Fischer-Rosenthal 1995) gewöhnlicher Teilnehmer von Lebenswelten, anschließt. Aufgrund dieser Tatsache hat sich ein eigenständiger methodologischer Rahmen etablieren können, der einerseits (a) fallre-
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konstruktive empirische Erhebungs- und Auswertungsverfahren für die Erwachsenenbildung weiterentwickelt und im Ansatz sogar zu einer Art fachspezifischer Grundlagenforschung geführt hat, andererseits (b) aber auch das Arsenal pädagogisch-praktischer Interventionsmethoden ausdifferenziert und durch eine breite Evaluationspraxis als erwachsenenpädagogisches Handlungswissen gesichert hat. (zu a) Die zunehmende Bedeutung systematischer Fallrekonstruktionen kann sich zunächst auf die Entwicklung qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren berufen, deren Standards und wissenschaftlicher Status sich parallel zur sozial- und erziehungswissenschaftlichen „Karriere“ des Biographiekonzepts erheblich verbessert haben. In diesem Zusammenhang ist vor allem das von Schütze entwickelte Konzept des narrativen Interviews (stellvertretend Schütze 1983) und seine wissenssoziologische Grundlegung in den „kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“ (Schütze 1984) zu erwähnen, das gerade bei der Rekonstruktion komplexer und widersprüchlicher Bildungskarrieren in der Bildungsforschung wichtige Resultate zutage gefördert hat (stellvertretend Alheit 1984b; Alheit/Dausien 1985, 1996; Alheit/Glass 1986; Kokemohr/Marotzki 1989; Apitzsch 1990a; Nittel 1991, 1992; Nittel/Marotzki 1997; Schlüter 1999; Schlüter/Schell-Kiehl 2005). Ähnlich stimulierende Folgen haben zweifellos auch zunehmend standardisierte hermeneutische Verfahren, die sich im Umfeld der Tradition der Oevermannschen objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik entwickelt haben (vgl. hier den erziehungswissenschaftlich einflussreichen Sammelband von Garz/Kraimer 1994; neuerdings noch Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997). Im Bereich der Erwachsenenbildung sind in diesem Kontext vor allem die empirischen Studien von Jochen Kade und Mitarbeitern zu nennen, die zur Identifizierung latenter Bildungsstrategien und „möglicher Bildungswelten“ beigetragen haben (stellvertretend Kade 1985, 1989a; Kade/Seitter 1996). Der besondere Stellenwert vergleichbarer Methoden der Fallrekonstruktion besteht darin, dass die Beziehung zwischen einer Wirklichkeitsdeutung „ersten Grades“, also den Interpretationen der Sozialwelt, wie sie von den befragten Individuen selbst vorgenommen werden, und den Deutungen „zweiten Grades“ der professionellen Forscher, transparent bleibt. Theorien über bestimmte Problemlagen oder Problemgruppen sind gegenstandsbezogen und werden in der Regel abduktiv durch eine systematische Konfrontation sensibilisierender Konzepte über das Forschungsfeld mit den erhobenen Daten gewonnen (stellvertretend Alheit/Dausien 1996). Solches Vorgehen erzeugt im Prinzip praxisrelevantes Wissen, das sich in Bildungsinstitutionen umsetzen lässt und auch den Teilnehmern von Bildungsprozessen nützt. Für die paradigmatische Innovation dieser Methoden in der erwachsenenpädagogischen Grundlagenforschung spricht indessen noch eine andere, methodologisch interessante Beobachtung. Die klassischen „harten“ Ergebnisse der Bildungsstatistik sind – auch wo sie sich systematisch auf aggregierte Lebenslaufdaten beziehen (etwa Becker 1993) – zunehmend weniger in der Lage, tatsächliche Bildungsverläufe zu deuten (vgl. Alheit 1993b; Nittel 1996). Verteilungstheoretisch konstatierte Segmentierungsprozesse bilden allenfalls die Oberfläche institutionellen Handelns ab, erreichen jedoch fast nie die Ebene informeller Lernstrategien in biographischer Perspektive. Solche subtilen (Nittel 1996), häufig gar nicht intendierten Handlungsmuster (Alheit/Dausien 1996) entstehen im Prozess individueller Erfahrungsaufschichtung und sind nur fallrekonstruktiv zu identifizieren. Gleichzeitig erscheinen diese qualitativen Informationen für moderne Bildungsinstitutionen aber unverzichtbar, wenn die Idee einer „lernenden Gesellschaft“ mit lernfähigen Organisationen Wirklichkeit werden soll (vgl. Dohmen 1996; Alheit 1998).
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(zu b) Gerade in der Erwachsenenbildungspraxis zeigt nämlich der Umgang mit biographischen Methoden, dass die „Enttypisierung“ festgefügter Klischees von den „anderen“ ein zentrales Lernziel darstellen könnte (Behrens-Cobet/Reichling 1997, S. 51ff.). Biographische Kommunikation ist offensichtlich eine Art Basistraining in Selbst- und Fremdwahrnehmung (Nittel/Völzke 1993), dessen Bedeutung im Laufe des Lebens nicht abnimmt. Das belegt namentlich der erfolgreiche Einsatz biographischer Methoden in der Bildungsarbeit mit älteren Menschen (vgl. S. Kade 1994a; Mader 1995b). Biographisches Lernen kann zunächst als eine neue Disposition der Selbstwahrnehmung definiert werden. Angeleitete Erinnerungsarbeit führt zu lebensgeschichtlichen (Teil-) Erzählungen, die wir ihrerseits als fortwährende produktive Umdeutungen der Lebensgeschichte betrachten können (S. Kade 1994a). Dabei sind verschiedene „Impulsgeber“ hilfreich: die Nachfrage nach lebensgeschichtlich relevanten Ereignissen z.B., private Fotografien oder autobiographische Zeugnisse zur Selbstpräsentation (vgl. Behrens-Cobet/Reichling 1997, S. 36ff.; s. Kade 1994a, S. 57ff.). Selbstwahrnehmung ist freilich ohne die Versicherung sozialer Zugehörigkeit nicht denkbar. Biographische Exposition setzt also zumindest virtuelle biographische Kommunikation voraus. Lebensgeschichtliches Erzählen dient auch der Verständigung. Hier kann die „Geschichte in der Lebensgeschichte“ ein zentrales Thema sein (Ereignisgeschichte, Ortsgeschichte, Geschichte einer Organisation oder Bewegung etc.), auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede in verschiedenen Lebensgeschichten. Auch das Gespräch zwischen den Generationen lässt sich durch biographische Kommunikation anregen, gerade der vorsichtige Diskurs über Verdrängtes und Verschwiegenes. Neue Lernumwelten wie Erzählcafés, filmische Inszenierungen von Zeitzeugenberichten, szenische Darstellungen individueller oder kollektiver Erfahrungen stellen innovative Impulse dar (anregende Hinweise und nützliche Projektdokumentationen bei Buschmeyer/Behrens-Cobet 1990; s. Kade 1994a; Buschmeyer 1995; Behrens-Cobet/Reichling 1997; Gieschler 1999). Geht es bei den angedeuteten Beispielen vorwiegend um die pädagogische Rahmung mitlaufender Lernprozesse, sind selbstverständlich auch themengelenkte didaktische Arrangements denkbar. Eine elaborierte Variante solcher Ansätze, die von James E. Birren entwickelte Guided Autobiography (stellvertretend Birren/Hedlund 1987), hat Mader (1989) in die deutsche Diskussion eingeführt. Wesentliches Kennzeichen dieses Vorgehens ist ein „topical approach“, eine thematisch angeleitete Rekonstruktion der Biographie. Mit Hilfe einer begrenzten Anzahl generativer Themen (z.B. Familie, Tod, Körper, Geld u.ä.) werden über einen längeren Zeitraum individuell, in festen Kleingruppen und in Plenardiskussionen autobiographische Erfahrungen erinnert, ausgetauscht und aufgearbeitet (vgl. Mader 1989, S. 148ff.). Dabei entsteht die Chance, gleichsam durch verschiedene Fenster auf die Lebenslandschaft anderer zu blicken und zugleich anderen unterschiedliche Zugänge zum eigenen Leben zu ermöglichen (vgl. s. Kade 1994a, S. 66f). Universelle Lebensthemen erschließen eine spezifische Form biographischer Reflexivität. Interessant ist vielleicht die Beobachtung, dass der Begriff biographisches Lernen bzw. biographische Kommunikation bis jetzt vorwiegend in der allgemeinen und politischen Erwachsenenbildung Verwendung findet, während sich in der beruflichen Weiterbildung eher das Konzept „selbstgesteuertes lebenslanges Lernens“ durchzusetzen beginnt (vgl. Dohmen 1997; auch Mader 1997). Diese Tatsache scheint allerdings Folgen für die Konstruktion der damit verknüpften Lernpersönlichkeit zu haben: Während biographische Kommunikation mögliche Bildungswelten anstrebt, in denen soziale Akteure ihre selbstgewählten biographischen Lernprozesse machen können, scheint dem selbstgesteuerten lebenslangen Lernen der
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„hyperflexible, teamfähige Mikrounternehmer“ vorzuschweben (Mader 1997, S. 132), dessen Aufgabe es ist, zwischen den überforderten Organisationen zu vermitteln. In der Praxis der Erwachsenenbildung gibt es mittlerweile langjährige Erfahrungen mit biographieorientierten Methoden und Konzepten, die biographisches Lernen in den unterschiedlichsten Kontexten ermöglichen sollen. Angesichts der Vielzahl der Ansätze und Praxismethoden, die keineswegs alle wissenschaftlich fundiert sind, stellt sich die Frage nach einer Systematisierung und Qualitätssicherung vorliegender Konzepte. Zwei zentrale Momente einer professionellen Biographiearbeit sind zweifellos die Fundierung durch Theorien und Befunde der Biographieforschung und die Nutzung qualitativer Forschungsmethoden, insbesondere fallrekonstruktiver und narrationsanalytischer Konzepte. Diese systematisch in der Qualifikation von ErwachsenenbildnerInnen zu verankern – im akademischen Studium und in der beruflichen Fortbildung – ist allerdings noch keineswegs selbstverständlich, entsprechende Qualifizierungskonzepte für die pädagogische Praxis sind erst vereinzelt zu finden (vgl. Dausien/Rothe 2005). Entscheidend für eine weitere Professionalisierung biographieorientierter Arbeit ist, dass nicht nur Methoden oder Konzepte aus der Wissenschaft in die Bildungspraxis „übersetzt“, sondern auch umgekehrt, die Erfahrungen der Bildungspraxis wissenschaftlich rekonstruiert und reflektiert werden. Ziel eines derartigen Entwicklungsprozesses wäre es, nicht nur die unmittelbare pädagogische Situation, sondern auch den institutionellen und gesellschaftlichen Rahmen für „biographische Bildungsarbeit“ im je konkreten Fall systematisch zu reflektieren und ggf. neu zu entwerfen (vgl. Dausien 2005). Das oben skizzierte sozialwissenschaftliche Verständnis von Biographie als Brückenkonzept zwischen Individuum und Gesellschaft kann mit Blick auf pädagogische Praxis als Reflexionsrahmen und als kritisches Korrektiv gegenüber individualisierten Lernverständnissen oder subjektivistischen Verkürzungen biographischer Ansätze dienen.
4.
Zur biographischen Konstruktion von Bildungsprozessen. Ein empirisches Beispiel
Im Folgenden soll das fallrekonstruktive Vorgehen anhand eines konkreten Beispiels aus der Forschungspraxis veranschaulicht werden. Die Lebensgeschichte von Gisela K. wurde mit der Methode des narrativen biographischen Interviews im Rahmen eines Forschungsprojekts über Arbeiterbiographien erhoben (vgl. Alheit/Dausien 1985) und in einem späteren Kontext erneut unter geschlechtervergleichender Perspektive analysiert (vgl. Dausien 1996). Zunächst verdeutlicht ein für die vorliegende Darstellung erheblich gekürztes Portrait den biographischen Verlauf und einige zentrale Interpretationslinien zur „Struktur des Falles“ (a). Im Anschluss daran werden exemplarisch Erfahrungen im Kontext organisierter Erwachsenenbildung rekonstruiert (b). Ziel der Präsentation ist es zu demonstrieren, wie die innere Konstruktionslogik der Lebensgeschichte, jener biographische „Erfahrungscode“, Lernprozesse im Erwachsenenalter strukturiert und organisierte Bildungsangebote eigensinnig in die Lebensgeschichte „einbaut“ und verarbeitet (vgl. die ausführlichere Falldarstellung in Alheit/Dausien 1996). (zu a) Biographisches Portrait: Gisela K. wird Ende der 1930er Jahre als erstes von drei Geschwistern in einem kleinstädtischen Facharbeitermilieu geboren. Die Mutter ist Kindergärtnerin, übt ihren Beruf aber nicht mehr aus, der Vater ist Feinmechaniker. Als geschick-
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ter Handwerker und Gewerkschafter mit vielen sozialen Beziehungen, aber auch als engagierter Vater ist er die prägende Figur in Giselas Kindheit. Trotz eingeschränkter materieller Bedingungen wachsen die Kinder „frei“ auf und erhalten vielfältige Anregungen von den Eltern. Giselas Schulkarriere ist durch die ökonomischen Verhältnisse begrenzt. Trotz guter Leistungen und Interesse am Lernen können die Eltern den Besuch des Gymnasiums nicht finanzieren. Nach Abschluss der Volksschule Mitte der 1950er Jahre erweist sich die Lehrstellensuche als schwierig. Erst nach mehr als zwei Jahren, in denen Gisela verschiedene Arbeitserfahrungen sammelt und ihre eigenen Interessen auslotet, mündet sie in ein reguläres Ausbildungsverhältnis als Köchin. Typisch für das damalige Gaststättengewerbe ist die Lehre durch rigide hierarchische Strukturen geprägt, die von sexistischer Anmache über engmaschige Kontrolle des Privatlebens bis hin zu körperlicher Züchtigung reichen. Dennoch hält Gisela an ihrem Berufswunsch fest. Sie erwirbt fachliche Kompetenzen und Selbstbewusstsein und besteht erfolgreich ihre Gesellenprüfung. Danach steigt sie in die berufstypische Saisonarbeit in verschiedenen Hotels und Gaststätten ein. Bemerkenswert an Giselas Ausbildungsweg ist, dass sie von Kindheit an eine ausgeprägte Doppelorientierung entwickelt. Sie beschreibt rückblickend, dass ihre Eltern die zeittypische Geschlechtsrollenerwartung geteilt haben: „Irgendwie war das schon eingeimpft ... wurdest du praktisch so automatisch darauf hinprogrammiert – du heiratest.“ Während diese Orientierung aber eher „automatisch“ weitergegeben wird, d.h. einem tief verwurzelten gesellschaftlichen Konsens entspringt und durch vielfältige alltägliche Kodierungen abgestützt ist, haben die Eltern andererseits einen expliziten Auftrag an ihre Tochter: „Davon abgesehen – ich kriegte gesagt, ’n Beruf musst du lernen, nech, also, Gesellenbrief musst du haben, damit du immer später sagen kannst: hier ich hab meinen Beruf. Kannste was werden.“ Hinter dieser „prätentiösen“ Orientierung, die für ein Mädchen aus einer Facharbeiterfamilie in den 1950er Jahren keineswegs die Regel gewesen sein dürfte, steht nicht nur das ökonomische Kalkül, im Notfall auch unabhängig von einem Ehemann die soziale Existenz sichern zu können. Die Berufsorientierung ist darüber hinaus mit einer expliziten Bildungsidee verknüpft, mit der Perspektive, „etwas zu werden“. Damit sind Bildung und Beruf zum Gegenstand und Medium biographischer Planungen und Aspirationen geworden. Das zeigt sich bereits in der Phase der Berufswahl, in der es nicht nur um den prinzipiellen Zugang zum Arbeitsmarkt geht, sondern um eine inhaltliche Perspektive. Die Eltern hegen keine hochfliegenden Aufstiegspläne für ihre Tochter, aber sie wollen ihr ein solides Maß an Qualifikation (Gesellenbrief) und eine über den Beruf definierte soziale Position innerhalb des vertrauten Facharbeitermilieus sichern. Gisela selbst füllt die ihr angetragene Option mit eigenen biographischen Phantasien. Für sie sind beide Bereiche, Familie und Beruf, positive, mit vielfältigen inhaltlichen Gestaltungsvorstellungen und Verwirklichungsansprüchen verknüpfte Lebensziele. Mit der Berufsperspektive verbindet sie die Idee der Entwicklung von Fähigkeiten und Interessen, die Option auf ein Stück „Selbstverwirklichung“ oder, anders gesagt, den Entwurf einer Biographie. „Etwas zu werden“ heißt auch für sie nicht, sozial aufzusteigen und „etwas besseres zu werden“, sondern „sie selbst zu werden“. Diese Perspektive bestimmt nicht nur die Berufserfahrungen, sondern auch die Familiengründung. Als Gisela mit Mitte Zwanzig heiratet, ratifiziert sie zwar das ihr aufgetragene gesellschaftliche „Programm“, aber sie macht es zum eigensinnigen Teil ihrer Biographie. Sie hält an ihrer Berufstätigkeit fest und zögert den baldigen Kinderwunsch ihres Mannes um zwei Jahre hinaus. Die Geburt des ersten Kindes verbindet sie dann jedoch mit
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der bewussten Entscheidung, den Beruf aufzugeben. Drei Jahre später wird das zweite Kind geboren. Die Familie stellt für Frau K. eine selbstgewählte Gestaltungsaufgabe dar, die sie – auf Basis der Erfahrungsressourcen aus der eigenen Kindheit und des im Beruf erworbenen Selbstbewusstseins – mit vielfältigen Aktivitäten und Ideen füllt. Die Familie ist Teil der Verwirklichung ihres eigenen biographischen Entwurfs. Andererseits setzen die konkreten Lebensbedingungen deutliche Grenzen: Herr K. hat Anfang der 1960er Jahre seinen Beruf wechseln müssen und arbeitet nun als Schichtarbeiter in einem Großbetrieb. Die finanziellen Verhältnisse der Familie sind äußerst knapp, die Wohnverhältnisse beengt. Frau K. leidet unter der Isolation als Hausfrau. Die Schwiegermutter lebt am Ort und versucht, in die Ehe hineinzuregieren. Besonders belastend ist jedoch die Organisation des Alltags mit der Schichtarbeit. Diese „Familienphase“ dauert insgesamt 15 Jahre. Dann gelingt es Frau K., wieder eine Vollzeitstelle in ihrem gelernten Beruf zu finden. Die Anerkennung in der Arbeit und vor allem die neuen sozialen Kontaktmöglichkeiten im Beruf tragen dazu bei, dass sie ihr altes Selbstbewusstsein und eine handlungsschematische Haltung zu ihrem Leben zurückgewinnt. Obwohl dieser Verlauf retrospektiv wie eine gelungene Verbindung von Frau K.’s doppeltem Lebensentwurf aussehen mag, ist er doch weder planbar, noch in seiner biographischen Dynamik vorhersehbar gewesen. Eine genauere Analyse offenbart die Widersprüche des biographischen Prozesses zwischen lebensgeschichtlichem Entwurf und heteronomen Strukturbedingungen. Gerade die Familienphase ist hochambivalent. Die in der selbstbewussten Entscheidung für die Familienrolle enthaltenen Handlungsentwürfe stoßen im Familienalltag rasch an Grenzen, werden gebrochen oder gehen in den täglichen Notwendigkeiten verloren. Je länger der beschriebene Zustand andauert und die alltägliche Wiederholungsstruktur dieser Erfahrung dominiert, desto mehr verliert die Biographie den Aspekt von subjektiver Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Anfängliche Konflikte und aktive Auseinandersetzungen mit den von der Familienrolle ausgehenden Fesselungsversuchen weichen einer resignierten Haltung. Aus dem individuellen Projekt wird die Erfüllung jenes normalbiographischen „Programms“, das die Frau auf Ehe und Familie verpflichtet. Die alltägliche Anpassung hat die biographische Perspektive „aufgefressen“. Der auf Lernen und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit angelegte Entwurf wird nach der Aufgabe des Berufs in einem schleichenden Prozess eingefroren. Frau K. beschreibt diese Erfahrung mit einem hohen Maß an Selbstreflexivität: „Mein ganzes Selbstbewusstsein, das hat sich immer weiter abgebaut. Ich wurde immer irgendwie unzufriedener, deprimierter. Also, mir hat überhaupt nix mehr richtig gepasst.“ Die Hausarbeit und die Kinderbetreuung füllen sie nicht aus. Und auch die Partnerbeziehung kann diese Situation nicht „kompensieren“, sondern wird eher konfliktreicher. Frau K. beschreibt einen „Abbau“ biographischer Perspektiven, einen Prozess des Verlernens. Die Erfahrungen in der Familie reichen offensichtlich nicht aus, um ihr genügend Selbstbewusstsein und das Gefühl persönlicher Weiterentwicklung zu geben. Dieses kann sie auch nicht aus der Beziehung zu ihrem Mann gewinnen. Realistisch sagt sie am Ende ihrer biographischen Erzählung: „Im Grunde kann Peter mir nie das Selbstbewusstsein geben, was ich brauche. Das muss ich mir immer alles selber erarbeiten.“ Sie bewertet damit ihre Biographie als einen Prozess der „Arbeit an sich selbst“ – einen Prozess des Selbstbewusst-Werdens, wie er bereits zu Beginn ihrer Biographie als Entwurf ausgemacht werden konnte. – Dass es Frau K. gelingt, diese Entwicklung umzusteuern, wieder in den Beruf zu gehen und damit an ihren ursprünglichen biographischen Entwurf anzuknüpfen, kann in diesem Sinn als Prozess der Selbst-Bildung beschrieben werden. Einige Aspekte dieses Prozesses
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haben mit organisierten Bildungserfahrungen zu tun. Sie sollen im Folgenden etwas genauer diskutiert werden. (zu b) Bildung als biographische Konstruktion: Nach jahrelanger Unzufriedenheit in der Familiensituation erfährt Frau K. zufällig von einem Vormittagsseminar der örtlichen Kirchengemeinde. Dieses Datum wird rückblickend zum Beginn eines Entwicklungsprozesses: „Da fing das an, dass ich über mich selber son bisschen nachgedacht habe.“ Angestoßen durch diese Erfahrung besucht Frau K. in den folgenden Jahren verschiedene Volkshochschulkurse, in denen sie Erfahrungen macht, die allmählich zum Aufbau eines neuen Selbstbewusstseins beitragen. Erst auf dieser Basis traut sie sich schließlich den schwierigen Wiedereinstieg in den Beruf zu – Erwachsenenbildung als Anstoß zur sozialen Autonomie sozusagen. Bei näherem Hinsehen verläuft der Prozess weniger geradlinig und lässt sich vollends nicht als Resultat organisierter Bildungsangebote interpretieren. Erstaunlich ist zunächst, dass Frau K. keineswegs „zielgruppenorientierte“ Seminare besucht, die auf die Bedürfnisse von Hausfrauen oder Berufsrückkehrerinnen zugeschnitten sind. Aus ihrer Erzählung lässt sich die zeitliche Abfolge der Kurse als „Stationen“ ihres Bildungsprozesses rekonstruieren: Frau K.’s erster Kurs ist eine „Einführung in den Marxismus“, Anfang der 1970er Jahre gewiss kein ungewöhnliches Angebot, das seitens der Lehrenden vermutlich Lernziele intendierte wie politische Aufklärung und Wissensvermittlung, womöglich auch emanzipatorische Lernprozesse. Frau K. allerdings erzählt nichts über die Kursinhalte, sondern schildert detailliert ihr eigenes Erleben: Das beginnt mit dem Kirchenblatt im Briefkasten, das in einer Situation großer Unzufriedenheit von ihr als „Möglichkeit“ aufgegriffen wird, „irgendwas zu tun“ und ihre isolierte Hausfrauensituation zu verlassen. Aus dem Kurs selbst erinnert sie die Angst, sich in einer fremden sozialen Umgebung zu bewegen und vor allem „vor so einer großen Menge – waren fünfundzwanzig Mitglieder da – was zu sagen“. Sie fühlt sich durch ihren Dialekt gehemmt und wird obendrein mit „unheimlich vielen Fremdworten“ konfrontiert. Frau K. besucht den Kurs nicht bis zum Ende, aber lange genug, um die für sie entscheidende Lernerfahrung zu machen: „Ich habe nur gemerkt, dass da jetzt auch andere Frauen sind, die genauso wenig Selbstbewusstsein hatten wie ich.“ Dass sie die fremden Inhalte des Kurses nicht nur als abschreckend erlebt, sondern trotz allem „etwas hängenbleibt“, das Interesse für politische Fernsehsendungen, eine größere Offenheit für Fremdwörter, hat mit dieser Grunderfahrung zu tun. Im sozialen Vergleich mit anderen Frauen beginnt Frau K., sich selbst zu erfahren und über sich „nachzudenken“. Aus der Perspektive organisierter Bildung mögen diese Lernerfahrungen „äußerlich“, „extrafunktional“ oder „zufällig“ erscheinen, sie haben jedoch mit der inneren Logik des biographischen Prozesses zu tun. Ermutigt durch diese Erfahrung meldet sich Frau K. zu ihrem zweiten Seminar an, einem Kurs über „Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts“, den sie sich aus dem Volkshochschulprogramm herausgesucht hat. Ein vager Bezug auf den Großvater genügt Frau K., um die inhaltliche Seite ihres Lernprozesses zu begründen, die sie im Übrigen erneut als eher passiven Prozess des „Hängenbleibens“ beschreibt: „Hab’ ich gedacht, na ja, bildest dich da’n bißchen weiter – die Maler mehr kennenzulernen, die Malstile und so weiter – mit der Zeit ... bleibt was hängen, nech, kennst’ die dann wieder.“ Wie beim Marxismuskurs liegt der eigentliche Lernprozess auf einer anderen Ebene. Frau K. ist begeistert von der Kursleiterin, die sie als eine kompetente Frau erlebt, „die zwei Stunden ununterbrochen ... enorm klasse erzählen“ kann. Aber auch die TeilnehmerIn-
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nen sind aktiv gefordert: Sie besuchen gemeinsam das Museum und sollen ihre Bildeindrücke wiedergeben. Frau K. lernt schrittweise, sich in neuen sozialen Räumen und im Vergleich zu anderen Personen zu erfahren und zu erproben, über ihre Erfahrungen mit anderen zu sprechen und sie im Gespräch zu reflektieren. Dieser Prozess braucht Zeit und immer wieder die Möglichkeit, sich sozial zugehörig zu erleben, sich mit anderen Kursteilnehmerinnen, die auch „so kleine Lichter“ sind, zu vergleichen. Ehe sie öffentlich „spricht“, vergehen noch mehrere Kurse und eine erlebnisreiche Wochenendfahrt. Zunächst macht Frau K. erste Gesprächsversuche mit ihrem Mann. Der Dialog mit ihm reflektiert einerseits ihren eigenen „Fortschritt“ und unterstützt ihr wachsendes Selbstbewusstsein. Andererseits verschiebt sich dadurch die Balance in der Beziehung und eine neue Konfliktebene tut sich auf. Herr K., der einen ähnlichen biographischen Entwurf des „Selbst-Werdens“ entwickelt hat, erlebt die Entwicklung seiner Frau als – durchaus konkurrierende – Herausforderung an sich selbst (zur interaktiven „Passung“ biographischer Konstruktionen bei Ehepaaren vgl. Dausien 1996). Wenn man die einzelnen Kurse rekapituliert – Marxismus, Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts, moderne Kunst, eine Wochenendfahrt nach Amsterdam und sozialkritische Malerei – so lässt sich allenfalls eine oberflächliche thematische Verbindung feststellen, die weder von den Bildungsanbietern intendiert, noch von Frau K. legitimiert wird. Aus ihrer Erzählung lässt sich vielmehr ein „heimlicher Lehrplan“ rekonstruieren, der durch den biographischen Prozess gesteuert wird. Jenseits der „dünnen“ curricularen Struktur der Seminare findet ein „dichter“ Prozess lebensgeschichtlichen Lernens statt, dessen Komplexität und Gerichtetheit in der gebotenen Kürze nur angedeutet werden kann: Da ist zunächst die rekonstruierbare Ebene nichtintendierter Lernprozesse, ein in der Pädagogik keineswegs unbekanntes Phänomen. Frau K. eignet sich nicht nur Informationen und Wissen an, sie macht vor dem Hintergrund ihrer individuell-biographischen Situation (neue) soziale Erfahrungen. Hierher gehören die Wahrnehmung sozialer Differenzen und verschiedener sozialer Milieus, die durch die KursteilnehmerInnen repräsentiert werden; das Einüben neuer Sprech- und Interaktionsmöglichkeiten, die „Erfahrung“ neuer kultureller und regionaler Räume etwa bei der Fahrt nach Amsterdam, die auch mit der Überwindung persönlicher Angstschwellen verbunden ist; das Heraustreten aus dem „Privatraum“ Familie in eine soziale Öffentlichkeit; die Begegnung mit anderen Frauen in einer ähnlichen biographischen Situation, die Möglichkeit, soziale Zugehörigkeit zu erfahren u.a.m. Eine zweite Ebene des Lernprozesses betrifft die Reflexivität und Selbstorganisation dieser Erfahrungen. Der Lernprozess lässt in der Verknüpfung der Einzelerfahrungen zu einer sequentiellen Struktur tatsächlich eine „Selbststeuerung“ erkennen, die von der Biographieträgerin nur zum Teil bewusst geplant oder handlungsschematisch (vgl. Schütze 1984) vorangetrieben wird, zum größeren Teil aber auf der Ebene „impliziten Wissens“ bleibt. Dieses kann jedoch in Momenten der Reflexion (im Interview wie in damaligen kommunikativen Situationen) expliziert und (neu) strukturiert werden. Ein Beispiel für die innere Verknüpfungslogik der Lernerfahrungen ist die öffentliche Diskussion mit dem Direktor der städtischen Kunstgalerie, die von den TeilnehmerInnen des letzten Kurses initiiert wird. Die selbstbewusste Auseinandersetzung mit dem Experten wird in gewisser Weise zum Prüfstein und zur Gestaltschließung des mehrsemestrigen Lernprozesses, der retrospektiv als konsequenter „Selbst-Bildungsprozess“ erkennbar (und auch für Frau K. selbst erfahrbar) wird. Schließlich ist die Kette der Seminarerfahrungen Teil einer biographischen Gesamtgestalt. Die Weiterbildungsgeschichte beginnt nicht zufällig in einer biographischen Situation,
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in der die Protagonistin ihre handlungsschematische Prozessstruktur zunehmend verloren hat, nachdem sie aus dem einen zentralen Strang ihrer biographischen Konstruktion, dem Beruf, gewissermaßen „ausgestiegen“ ist. In dieser Situation tritt „Bildung“ allerdings nicht einfach an die Stelle von „Arbeit“. Die Kursbesuche können die entstandene „Lücke“ nicht kompensieren, aber sie leiten einen allmählichen – für das Subjekt selbst zunächst nicht vorhersehbaren – Prozess der Rückgewinnung von Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein ein, der dann am Ende auch den beruflichen Wiedereinstieg ermöglicht. Danach besucht Frau K. keine weiteren Seminare, aber sie setzt ihren Selbst-Bildungsprozess mit anderen Mitteln fort (im Beruf, durch die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative u.a.). Diese Entwicklung ist kein Automatismus. Nicht alle Frauen in der Situation von Frau K. könnten von Weiterbildungsangeboten in ähnlicher Weise profitieren. Die Kurse sind in ihrer Lebensgeschichte eine „Brücke“, und zwar eine individuelle biographische Brückenkonstruktion. Sie ist aus spezifischem „Material“ gebaut: Es ist nicht zufällig, dass Frau K. organisierte Bildungsangebote wahrnimmt und nicht etwa eine Selbsterfahrungsgruppe für Hausfrauen aufsucht. Sie knüpft damit an biographisch frühere Bildungsperspektiven an, die oben als Lebensentwurf zur „Selbst-Bildung“ beschrieben worden sind. Die „Brücke“ verbindet lebensgeschichtliche Erfahrungsstränge miteinander, die in ihrer je individuellen Bedeutung rekonstruiert werden müssen. Dabei wird auch sichtbar, dass der gemachte Bildungsprozess die biographische Struktur selbst verändert. Mit den Seminaren nimmt Frau K. biographische Perspektiven wieder auf, die bereits in früheren Arbeitszusammenhängen nicht gelebt werden konnten. Sie findet einen Spielraum für soziales Handeln und Selbstreflexion, für Autonomiegewinn und die (Wieder-)Aneignung biographischer Perspektiven, den sie zuvor im Beruf nicht erlebt hat. Die Bildungserfahrungen besitzen eine eigenständige „Logik“, die sich nach der Rückkehr in den Beruf nicht einfach wieder auflöst. Frau K. ist eine andere geworden, wenn sie nach 15 Jahren Familienpause wieder in den Beruf einsteigt. Die Geschichte von Frau K. ist nicht nur ein Beispiel für die konkrete Individualität biographischer Lernprozesse, sie verdeutlicht auch das allgemeine Prinzip lebensgeschichtlichen Lernens, das in der Erwachsenenbildung grundsätzlich vorauszusetzen ist. Wie weit es methodisch und konzeptionell berücksichtigt wird, ist nicht zuletzt eine Frage weiterer Forschung.
5.
Forschungsdesiderate und Forschungsperspektiven
Tatsächlich wissen wir noch zu wenig über informelle, mitlaufende Lernprozesse. Die plausible Idee einer biographischen Konstruktion von Bildung ersetzt keineswegs empirische Forschungspraxis zu einzelnen Aspekten der Synchronisation individueller Bildungsstrategien und gesellschaftlich-institutioneller Integrationskapazitäten. So haben wir noch erheblichen Forschungsbedarf, was die informellen und institutionellen Chancen interkultureller Bildungsprozesse angeht. Auch die Beziehung von Weiterbildung und Geschlecht ist in biographischer Perspektive noch immer unzureichend erforscht. In einer „alternden Gesellschaft“ (Mader 1995) tritt das Verhältnis der Generationen immer deutlicher in den Vordergrund und damit auch die Frage intergenerationaler Tradierung von Bildung und Lernerfahrungen (vgl. Herzberg 2004). Wir mögen ermessen, was dies für biographische Kommunikation bedeuten könnte; die institutionellen Konsequenzen sind freilich noch völlig unaufgeklärt. Individualisierung, De-Institutionalisierung und Flexibilisierung haben ja keines-
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wegs nur zu „riskanten Freiheiten“ beigetragen (Beck/Beck-Gernsheim 1994), sie führen auch zu einer Überforderung der Institutionen und Organisationen, die ihre Funktionen nur noch unzureichend erfüllen. Sind auch Organisationen lernfähig? Vermögen sie auf aktuelle Individualisierungs- und Biographisierungsprozesse angemessen zu reagieren? Schließlich: Welche neuen Verwerfungen erzeugt die „Informationsgesellschaft“ auf individueller und institutioneller Ebene? Wird sie einen verschärften Biographisierungsschub erzeugen oder biographische Integrationsleistungen ad absurdum führen? Ist die atomisierte Gesellschaft die Konsequenz, oder gibt es Anzeichen für neue Assoziationsprozesse? Biographieforschung in der Erwachsenenbildung ist nach wie vor ein hochaktueller Ansatz – sowohl zur theoretischen und empirischen Rekonstruktion von Bildungsprozessen als auch mit Blick auf die Professionalisierung und Reflexion pädagogischer Praxis.
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Biographische Forschung in der Sozialpädagogik Hans-Jürgen von Wensierski
Inhalt 1. Entwicklungslinien biographischer Ansätze in der Sozialpädagogik 2. Forschungsschwerpunkte der sozialpädagogischen Biographieforschung 3. Resümee und Perspektiven Literatur
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Hans-Jürgen von Wensierski
Das Interesse an Lebensgeschichten und Autobiographien hat in der Sozialpädagogik eine lange Tradition, die bis zum Anfang des Jahrhunderts zurückreicht. Diese frühe Geschichte der biographischen und fallanalytischen Methoden in der Sozialpädagogik verweist dabei auf spezifische Strukturmerkmale der Sozialen Arbeit in Wissenschaft und Praxis, in denen sich eine besondere Nähe zur qualitativen Sozialforschung dokumentiert. An vier zentralen Merkmalen lässt sich diese Affinität festmachen: –
–
–
–
Zunächst an der Fallförmigkeit des sozialpädagogischen Handelns, wobei die Orientierung am Einzelfall sich nicht nur auf die zu planenden sozialpädagogischen Interventionen bezieht, sondern auch die Reflexion des sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns umfasst. Das Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ als programmatisch-pädagogisches Leitmotiv der Sozialen Arbeit erweist sich tendenziell als ein selbstreflexiver Zwang der Sozialarbeiter zur Antizipation der subjektiven Perspektive der Klienten bzw. zur Berücksichtigung der lebensweltlichen Ressourcen des Klienten. Für die sozialpädagogische Forschung bedeutete das eine Orientierung an Methoden, die sich für Lebensweltanalysen und für die Rekonstruktion subjektiven Sinns eigneten. Jugend als zentrale Zielgruppe der Sozialpädagogik: Auf den spezifischen Zusammenhang von ,Jugend‘ und qualitativer Forschung hatte bereits Fuchs hingewiesen (vgl. Fuchs 1988). Spätestens seit der Jugendbewegung standen darüber hinaus auch in sozialpädagogischer Sicht die gesellschaftskritischen, kulturell-kreativen, und selbsterzieherischen Impulse des modernen Konstrukts ,Jugend‘ im Mittelpunkt einer Jugendpädagogik. Eine sozialpädagogisch orientierte Jugendkunde musste somit vor allem auch an Selbstzeugnissen und eigenständigen kulturellen Ausdrucksformen interessiert sein, wie sie etwa in Briefen, Tagebüchern, Aufsätzen usw. zur Verfügung standen. Die biographische Dimension von Sozialarbeit und Sozialpädagogik: Der Zusammenhang von Biographie und sozialen Problemen im Kontext Sozialer Arbeit erzwang jenseits des allgemeinpädagogischen Aspekts der erzieherischen Einflussnahme frühzeitig den Blick auf die latenten sozialen Strukturen, in die das einzelne Leben, aber auch das sozialarbeiterische Handeln eingebettet war. Anders als in der Schulpädagogik zeichnete sich die Sozialpädagogik stets durch einen skeptischeren Blick auf die Reichweite der eigenen bildungsoptimistischen Einflussmöglichkeiten aus. Diese blieben stets gebrochen angesichts der Dominanz sozialer und gesellschaftlicher Problemlagen, denen die spezifische Klientel der Sozialen Arbeit ausgesetzt war. Für die Soziale Arbeit bedeutete das frühzeitig die Suche nach verstehenden Methoden, mit denen sich gerade auch die latenten und ungeplanten Einflussfaktoren im sozialpädagogischen Kontext empirisch fassen ließen.
Im Folgenden sollen in einem ersten Teil zunächst die verschiedenen Entwicklungslinien biographischer Forschung im Kontext der Sozialpädagogik skizziert werden. Im zweiten Teil sollen dann die zentralen Forschungsschwerpunkte und Befunde einer biographisch orientierten Sozialpädagogik dokumentiert werden.
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1. Entwicklungslinien biographischer Ansätze in der Sozialpädagogik Verengt man den Blick nicht vorschnell auf die Konzepte der neueren sozialwissenschaftlich orientierten qualitativen Sozialforschung, dann kann man für die Geschichte der biographischen Ansätze in der Sozialpädagogik wohl vor allem vier zentrale Traditionslinien unterscheiden: – – – –
die psychoanalytische Pädagogik die soziologischen Studien im Kontext des „Interpretativen Paradigmas“ in der Tradition der „Chicago School“ die sozialpädagogische Kasuistik sowie die Aktions- und Handlungsforschung.
1.1 Psychoanalytische Sozialpädagogik Lassen sich erste Überlegungen zu pädagogischen und implizit sozialpädagogischen Implikationen der Psychoanalyse schon in frühen Texten von Freud selbst ausmachen, so waren es doch nach 1910 vor allem einige Freud-Schüler bzw. Pädagogen, wie Ferenczi (1908); Oskar Pfister (1913) oder Hans Zulliger (1921), die sich um eine psychoanalytisch aufgeklärte Erziehung und Pädagogik bemühten. Einen ersten systematischen und institutionellen Zusammenhang erhielt dieser Kontext in den zwanziger Jahren durch die Formierung einer psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung, die sich von 1926 an unter dem Dach der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ versammelte und hier u.a. zahlreiche Fallstudien aus der pädagogischen und sozialpädagogischen Praxis diskutierte. Zu den bekanntesten Autoren in diesem Umfeld gehörten etwa Anna Freud, August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Hans Zulliger u.a. Resümiert man diese ersten Ansätze einer qualitativen Forschung im Kontext sozialpädagogisch-psychoanalytischer Arbeiten (vgl. Bernfeld 1921, Aichhorn 1925; Zulliger, 1921, 1935), dann lässt sich feststellen, dass die Psychoanalyse in verschiedener Hinsicht befruchtend und innovativ auf die Pädagogik nach der Jahrhundertwende wirkte. Wie immer man die manchmal unbefangene und rein instrumentelle Anwendung psychoanalytischer Techniken in pädagogischen Kontexten auch methodologisch bewerten will, mit diesem psychoanalytisch orientierten Zugriff war Pädagogen erstmals die Möglichkeit eröffnet worden, auf der Basis eines methodisch begründeten wissenschaftlichen Vorgehens, Erziehungswirklichkeit empirisch zu untersuchen. Die psychoanalytischen Instrumente und Methoden stellten dabei nicht nur ein Verfahren zum Fallverstehen von Klienten und Erziehungssituationen zur Verfügung, sie lenkten die Aufmerksamkeit auch auf die biographischen Dimensionen von Erziehungsprozessen und machten latente und unbewusste Faktoren des Erziehungsgeschehens zum erforschbaren Bestandteil einer empirischen Wirklichkeit. Mit dem Nationalsozialismus endete in Deutschland für lange Zeit auch die Ära der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Pädagogik. Die bedeutendsten Vertreter gingen im Verlauf der 1930er Jahre in die Emigration nach England oder in die USA: Anna Freud (1938), Siegfried Bernfeld (1934), Bruno Bettelheim (1939), Fritz Redl (1936), Michael Balint. Mit der Emigration verlagern sich auch kreative neue Ansätze und innovative empirische Studien im Bereich der psychoanalytisch orientierten Sozialpädagogik in den angel-
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sächsischen Raum – vor allem in die USA. Hier entstehen gleich nach Ende des Krieges einige Studien, die inzwischen zu Klassikern auf ihrem Gebiet geworden sind und in denen deutlich der Charakter der Psychoanalyse als vorrangiges Therapieverfahren in Richtung Sozialforschung überschritten wird: etwa die Studien von Fritz Redl und David Wineman: „Kinder, die hassen“ (1951) oder die Trilogie von Bruno Bettelheim über die „Orthogenic School“, einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung in Chicago (1950, 1955, 1967). Die psychoanalytisch orientierten Studien von Bettelheim und Redl/Wineman basierten auf Forschungen, die bereits in den 1940er und 1950er Jahren in den USA stattfanden, in Deutschland aber erst mit der ,Wiederentdeckung‘ der Psychoanalyse seit Ende der 1960er Jahre übersetzt und rezipiert wurden. Im Gefolge dieser psychoanalytischen Renaissance (vgl. Cremerius 1971) erlebte dann seit den 1960er Jahren aber nicht nur die psychoanalytische Pädagogik neuen Auftrieb, auch die Methodologie der Psychoanalyse wurde einer kritischen Revision unterzogen. Im Mittelpunkt stand insbesondere auch die Frage nach der Bedeutung einer tiefenhermeneutischen Methodik im Kontext empirischer Sozialforschung, wie sie etwa von Habermas (1973, S. 263) im Sinne einer kritischen Sprach- und Textanalyse konzipiert wurde. Bedeutende theoretische und methodologische Grundlagen zu einer solchen sozialwissenschaftlichen Tiefenhermeneutik wurden dann insbesondere von Devereux (1967) und Lorenzer (1973) beigetragen, während diese sozialwissenschaftliche Reformulierung der Psychoanalyse dann seit den 1970er Jahren zum einen im Konzept einer empirisch ausgerichteten psychoanalytischen Sozialpsychologie (vgl. Leithäuser u.a. 1977) sowie in der Ethnopsychoanalyse auch forschungspraktisch fruchtbar gemacht wurde (vgl. Erdheim 1992; Schröder 1991). Die Fortschritte in der Institutionalisierung der psychoanalytischen Pädagogik seit den 1980er Jahren (vgl. Datler u.a. 1994) haben in jüngster Zeit allerdings die gemeinsame fallanalytische Tradition von Psychoanalyse und Sozialpädagogik wieder verstärkt in den Blick gerückt (vgl. Müller 1991). Als Beispiele für neuere empirische Studien dieser Richtung im Bereich der Pädagogik und Sozialpädagogik können zum einen das Buch von Bittner/Thalhammer (1989), eine Sammlung von psychoanalytisch orientierten Fallanalysen über Selbstwerdungsprozesse körperbehinderter Kinder, zum anderen der Sammelband von Reiser/Trescher (1987) mit kleineren Fallstudien zu verschiedenen pädagogischen Feldern und Themen genannt werden. Für diesen Rückbezug auf die fallanalytische Tradition einer psychoanalytisch orientierten Sozialpädagogik stehen auch die Beiträge von Fatke und Müller (1995). Teilweise in expliziter Erinnerung an die pädagogisch-psychoanalytischen Traditionen untersuchen die Autoren das Verhältnis von Einzelfall und Allgemeinem im wissenschaftlichen Fallverstehen, wobei insbesondere der Zusammenhang der verschiedenen theoretischen Wissensbestände innerhalb der Fallanalyse im Mittelpunkt steht: z.B. als Frage nach der theoriegenerierenden Bedeutung von Fallanalysen (Fatke 1995a) oder als Frage nach einem multiperspektivischen sozialpädagogischen Fallverstehen im Rahmen einer „pragmatischen Netzwerkhermeneutik“ (Müller 1995).
1.2 Sozialpädagogische Biographieforschung im Kontext des Interpretativen Paradigmas Die zweite Traditionslinie biographischer Konzepte in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik reicht ebenfalls in die 1920er Jahre zurück, und zwar in das Umfeld der sog. Chicago
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School of Sociology. Die hier entstandenen Ansätze einer qualitativen Sozialforschung (vgl. Paul 1979) zeichneten sich durch sozialpolitisch und explizit sozialarbeiterisch ausgerichtete Forschungsperspektiven aus, die nachhaltige Wirkungen auf die Entwicklung der Methoden und der Theorie von Sozialarbeit und Sozialpädagogik hatten. Die empirischen Studien umfassten das ganze Spektrum sozialarbeiterisch relevanter Problemlagen, z.B. polnische Aussiedler, Obdachlosigkeit, Prostitution, jugendliche Delinquenz und Bandenbildung, Armut usw. Wurden in den 1920er Jahren mit den Arbeiten der Chicagoer Soziologen erste bedeutsame methodische und forschungspraktische Grundlagen für den daraus entstehenden „Symbolischen Interaktionismus“ gelegt, so war es dann in den 1950er Jahren einer gleichsam zweiten Generation vorbehalten, diese ersten Versuche zur eigenständigen Methodologie einer interaktionistisch qualitativ ausgerichteten Sozialforschung auszubauen. Diese Arbeiten von Erving Goffman, Anselm L. Strauss, Howard S. Becker, Barney G. Glaser u.a. waren gerade auch im Blick auf sozialpädagogische Fragestellungen wegen ihrer theoretischen Konzepte und der empirischen Analyse von Professionalisierungs- und Institutionalisierungsfolgen sozialer Dienste eine bedeutsame Weiterentwicklung der frühen Chicago-School. Beispiele für die Generierung gegenstandsbezogener Theorie, die insbesondere auch die Sozialpädagogik in Deutschland stark beeinflusst haben, sind etwa die Konzeptualisierung der biographischen Dimension im Spannungsfeld zwischen Identitätsbildung und institutionellen Prozessstrukturen, die Forscher wie Goffman, Garfinkel, Glaser und Strauss insbesondere anhand der Untersuchung krisenhafter, institutionalisierter Lebensverläufe entwickelten (vgl. Glaser/Strauss 1971; Goffman 1973). Die aus diesen Forschungen hervorgegangen Ansätze der Stigma-Forschung, des Labeling-Approach und der Ethnomethodologie wurden in Deutschland zunächst durch Mollenhauer (1972) und Thiersch (1973) für die Sozialpädagogik rezipiert und fruchtbar gemacht. Die Ergebnisse und Theoreme der Stigma- und Devianzforschung erwiesen sich in den 1970er Jahren dann als ausgesprochene Katalysatoren für eine ganze Reihe von qualitativ empirischen Studien innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (vgl. Peters/CremerSchäfer 1975; Bonstedt 1972; Beneke u.a. 1976, Kasakos 1980). Dominierte in diesen Forschungen allerdings zunächst gleichsam die Perspektive der Verregelung und sozialen Kontrolle von Lebensgeschichten und professionellen Interaktionsverhältnissen, während die Analyse des Alltags und der eigenständigen Lebensvorstellungen der sozialpädagogischen Klientel eher zu kurz kamen, so lässt sich ein Perspektivenwechsel innerhalb dieser rekonstruktiven sozialpädagogischen Forschung erst im Gefolge der sog. „Alltagswende“ in der Sozialpädagogik (vgl. Thiersch 1978, 1986) und in Zusammenhang mit der ,Wiederentdeckung‘ der „Biographischen Methode“ in der Soziologie (vgl. Kohli 1981) und in der Pädagogik ab Ende der 1970er Jahre (vgl. Baacke/Schulze 1979) ausmachen. Diese neu entstehende sozialwissenschaftliche Biographieforschung findet ihre methodologischen Bezugspunkte im Spannungsfeld zwischen Oral History, interaktionistischer und sozialphänomenologischer Alltagssoziologie und dem neuen methodologischen Konzept einer „Objektiven Hermeneutik“ (Oevermann u.a. 1979) und führt dann in den 1980er Jahren – auf der Basis einer an subjektiven und latenten Sinnstrukturen, Alltagswissen, Alltagsgeschichte und Biographieverläufen orientierten Forschungsperspektive – zu einer weitreichenden Ausdifferenzierung der qualitativen Forschung auch in der Pädagogik und Sozialpädagogik. Frühe sozialpädagogische Beispiele sind hier etwa die Studien von Kieper (1980) und Scarbath u.a. (1981), in denen die untersuchten sozialpädagogischen Klienten jetzt nicht mehr als bloße stigmatisierte Abziehbilder repressiver institutioneller
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Strukturen erschienen, sondern als handelnde Akteure ihrer Lebensgeschichte in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt in Familie, Schule und Heim. Nach einer ersten Phase der programmatischen Selbstvergewisserung, der methodologischen Grundlagenforschung und der Etablierung der forschungsmethodischen Instrumente zu Beginn der 1980er Jahre lassen sich dann seit etwa Mitte der 1980er Jahre Konsolidierungsprozesse beobachten, in denen die methodologischen Grundsatzfragen zurücktreten gegenüber einer breit gefächerten empirischen Forschungspraxis. Die Erfolgsgeschichte dieser gelungenen Etablierung rekonstruktiver Verfahren neben den quantitativen, statistischen Methoden hat dann seit Anfang der 1990er Jahre zu einer ersten Bilanzierungsphase geführt, in der auf der Basis von Lehr- und Handbüchern die bisherigen Ergebnisse, die Reichweite und die Qualität der verschiedenen Verfahren und Studien kritisch reflektiert werden (vgl. Lamnek 1989; Flick u.a. 1991; Krüger/Marotzki 1996; König/Zedler 1995).
1.3 Sozialpädagogische Kasuistik Die dritte Entwicklungslinie einer fallanalytisch und biographisch orientierten Sozialpädagogik lässt sich im Kontext sozialpädagogischer Kasuistik verorten. „Kasuistik – die Kunst, eine Fallbeobachtung in eine Falldarstellung zu überführen und mit einer Fallanalyse zu verbinden – ist ein ursprüngliches Stück Pädagogik, ja sie ist, historisch und systematisch gesehen, Prinzip, Anfang und Ursprung jeder pädagogischen Theorie.“ (Binneberg 1979, S. 397) Die Besonderheit der pädagogischen Kasuistik als rekonstruktives empirisches Verfahren liegt darin, dass es hier nicht einfach um die empirische Analyse pädagogischer Praxis aus der teilnehmenden, aber unbeteiligten Beobachterperspektive des handlungsentlasteten Sozialforschers geht. Fallanalyse im Rahmen einer pädagogischen Kasuistik zielt vielmehr auf das „Erfahrungsurteil des reflektierenden Praktikers“ (Binnenberg 1979, S. 399). Dieser Anspruch verleiht der pädagogischen Kasuistik ihre spezifische Dignität, aber auch einen prekären Status als kontrollierbare Methode wissenschaftlicher Erkenntnis. ,Spezifische Dignität‘, weil zum einen in der pädagogischen Fallanalyse par excellence eine selbstreflexive Instanz gegeben ist, in der Einzelerfahrung und pädagogische Absicht in einem verallgemeinerungsfähigen theoretischen Zusammenhang analysiert und überprüft werden können. Zum anderen ist pädagogische Kasuistik ein exklusives Erkenntnismittel, weil nur durch sie eine Rekonstruktion pädagogischer Prozesse gleichsam aus der Binnenperspektive des pädagogisch Handelnden möglich ist. Für die historische Analyse kasuistischer Traditionen im Kontext der Sozialen Arbeit nach der Jahrhundertwende muss zunächst, aufgrund der unterschiedlichen wissenschaftlichen Bezüge, zwischen sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Fallbeschreibungen unterschieden werden. Die frühen Beispiele einer sozialpädagogischen Kasuistik verweisen auf die Herausbildung einer institutionalisierten und zunehmend wissenschaftlich begründeten Jugendpflege zu Anfang des Jahrhunderts. Ein Interesse an Fallbeschreibungen und -analysen erwuchs hier zum einen aus dem Kontext von Jugendbewegung und Reformpädagogik (z.B. Bernfeld, Wyneken, u.a.), zum anderen im Gefolge der Entstehung einer eigenständigen wissenschaftlichen Jugendkunde (vgl. Dudek 1990) mit ihrem Interesse an psychologisch oder pädagogisch geschulten Beschreibungen kindlicher und jugendlicher Biographien, vor allem aber auch an jugendlichen Selbstzeugnissen als Quellenmaterial einer wissenschaftlichen Jugendkunde (vgl. Bernfeld 1914/15; Bäumer/Droescher 1916; Bühler 1925).
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Die Entwicklung der Kasuistik im Kontext der frühen Sozialarbeit um die Jahrhundertwende steht demgegenüber in Zusammenhang mit der Herausbildung der Einzelfallhilfe als spezifischer sozialarbeiterischer Methode, wobei auch hier insbesondere amerikanische Einflüsse (Richmond 1917) an der Wiege dieses deutschen social casework Pate standen (vgl. Salomon 1926). Die rekonstruktive Dimension der Fallanalyse ist in diesen frühen Beispielen des deutschen casework allerdings reduziert auf die Frage nach den methodisch instrumentellen Fertigkeiten und Kompetenzen des Sozialarbeiters als Ermittlungsbeamter für soziale Probleme. Fallarbeit wird hier nicht aus der Perspektive des Klienten und seiner Persönlichkeitsproblematik begründet, sondern aus der des Sozialarbeiters und dessen administrativen Problemen. Eine grundlegende Neubestimmung erfährt der Fallbegriff innerhalb der Sozialarbeit erst in den 1950er Jahren im Gefolge einer neuerlichen Rezeption des amerikanischen casework, wie sie bereits 1950 von Hertha Kraus und 1955 von Lattke u.a. eingeleitet wurden. Gegenüber den frühen Arbeiten von Salomon zeichnet sich dieser Perspektivenwechsel durch eine durchgreifende Psychologisierung der Einzelfallhilfe aus, wobei insbesondere psychoanalytische Konstrukte in diese Neustrukturierung einer deutschen Einzelfallhilfe eingingen (vgl. Lattke 1951, S. 5f.) und die Fallanalyse jetzt im Sinne einer Kunstlehre explizit als „Verstehensprozess“ konzipiert wird (Bang 1958, S. 19ff.). Außerhalb des deutschen casework bleibt die Kasuistik bis in die 1960er Jahre hinein innerhalb von Pädagogik und Sozialpädagogik allerdings mehr ein implizites Verfahren zur Reflexion von pädagogischen Erfahrungen als ein explizierter und methodologisch reflektierter wissenschaftlicher Zugang zur Erziehungswirklichkeit. Der programmatische Vorschlag von Gamm (1967), die Kasuistik als eine eigenständige empirische Forschungsmethode der Pädagogik zu konzeptualisieren, deren exklusiver Forschungsgegenstand der „Entscheidungscharakter des Erzieherischen in der Situation“ sei, die sich andererseits aber öffne für die Perspektiven und Ergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften (Gamm 1967, S. 328) wurde innerhalb der Pädagogik der 1960er und 1970er Jahre nicht weiter aufgegriffen. Implizite Bezüge, etwa in der Methodenwahl, in der kritischen Struktur- und Fallanalyse sozialpädagogischer Erziehungswirklichkeit und der Öffnung gegenüber sozialwissenschaftlichen Diskursen, lassen sich in der Sozialpädagogik gleichwohl ausmachen (vgl. Hofman 1967; Hundertmarck 1969; Wenzel 1970). Im Gefolge der ,Alltagswende‘ und der Wiederentdeckung qualitativer und hermeneutischer Forschung und Forschungsmethoden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kommt es dann seit Anfang der 1980er Jahre zu einem regelrechten Boom an Fallstudien und Fallanalysen. Zwei Linien lassen sich unterscheiden, die in unterschiedlicher Weise innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädagogik rezipiert werden. Als „Pädagogische Kasuistik“ (vgl. Binneberg 1979, 1985) lässt sich hier ein Diskussionsstrang zusammenfassen, dem es um die Entwicklung eines Konzepts pädagogischer Fallstudien sowohl für die Praxisreflexion wie für die pädagogische Forschung geht. Für die Sozialpädagogik bleibt der Ertrag dieser „pädagogischen Kasuistik“ aber eher bescheiden. Statt dessen entwickelt sie sich im Verlauf der 1980er Jahre zunehmend zu einer Fallstudiendidaktik der Schule und des Unterrichts (vgl. Kaiser 1983; Biller 1988). Konzepte zu einer spezifisch auf sozialpädagogische Themen bezogenen Kasuistik (vgl. Müller u.a. 1986) entwickeln sich demgegenüber aus einem anderen – eher soziologisch sozialwissenschaftlich fundierten – Kontext heraus. Als theoretischer Ausgangspunkt für diese Entwicklungslinie können dabei die methodologischen und methodischen Arbeiten von Fritz Schütze (1976, 1979) und Ulrich Oevermann (1979) gelten.
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Beiträge zu einer sozialpädagogischen Kasuistik, die sich im Kontext dieser beiden Ansätze verorten lassen, liefern etwa Aufenanger (1986) und Gildemeister (1992), die beide in Anlehnung an Oevermann Überlegungen zu einer „Kunstlehre des Fallverstehens“ (Gildemeister) als wissenschaftliche Fundierung einer professionellen Kasuistik in der Sozialen Arbeit entwickeln. Anregungen für eine neuere sozialpädagogische Kasuistik gingen auch von der Adaption biographischer Methoden aus. Abgesehen von den inzwischen zahllosen empirischen Studien im Kontext der pädagogischen und sozialpädagogischen Biographieforschung (vgl. Krüger/Marotzki 1996; Krüger/von Wensierski 1995) hat sich das narrative Verfahren des biographischen Gesprächs auch im Sinne einer Kasuistik innerhalb der sozialpädagogischen Praxis etabliert (vgl. Knobling 1985; Kraimer 1994). Als Beispiele, die sich teilweise in Anlehnung, teilweise in Abgrenzung gegenüber den explizit sozialwissenschaftlich fundierten Fallanalysen in der Sozialpädagogik entwickelt haben, können abschließend das Konzept einer qualitativen und prozessbegleitenden Selbstevaluation von Heiner (1988, 1994), das handlungsleitende Konzept einer sozialpädagogischen Hermeneutik und Diagnose von Mollenhauer/Uhlendorf (1992), sowie der Ansatz des multiperspektivischen Fallverstehens von Burkhard Müller (1993) genannt werden. Gemeinsam ist diesen drei Ansätzen, dass sie bemüht sind, Anregungen und Elemente aus dem Kontext der qualitativen Sozialforschung aufzugreifen, deren elaborierte methodische Analyseverfahren aber gleichsam pädagogisch pragmatisch zu brechen, um sie so für die Reflexion sozialpädagogischer Berufspraxis aber auch für die Gestaltung sozialpädagogischer Bildungsprozesse unter den Bedingungen eines alltäglichen Handlungsdrucks fruchtbar zu machen.
1.4 Aktions- und Handlungsforschung als Kontext einer qualitativen sozialpädagogischen Forschung Die vierte Entwicklungslinie einer qualitativen sozialpädagogischen Forschung verweist auf die Herausbildung der Aktions- und Handlungsforschung in den 1960er Jahren. Im Gefolge der realistischen Wende und der Einflüsse einer kritischen Erziehungswissenschaft hatte sich auch in der Sozialpädagogik eine grundlegende Kritik an den „affirmativen“ und „positivistischen“ Methoden der traditionellen quantitativen Sozialforschung entwickelt. Das Konzept der „action research“ – von Kurt Lewin (1953) in den 1940er Jahren entwickelt – wurde vor diesem Hintergrund als methodologischer Königsweg einer offensiven, handlungsorientierten und parteilichen Sozialforschung angesehen. Mit der Aktionsforschung schien damit nicht nur das alte Theorie-Praxis-Problem überwunden, sondern gleichzeitig auch noch der Hiatus von wissenschaftlicher Analyse und politischer Veränderung überbrückt und dies im Zeichen eines gesellschaftlich-kritischen Fortschritts und wissenschaftlicher Rationalität. Die programmatische Spannbreite der Handlungsforschung lässt sich verorten zwischen den Polen einer „kritischen Praxisforschung“ (Bittner/Flitner 1969) und dem Entwurf der Sozialforschung als „politische Aktion“ (Fuchs 1970/71): Der Anspruch an die empirische Sozialforschung, kritische Gesellschaftsanalyse zu sein, wird hier zum politischen Auftrag an den Sozialforscher, Gesellschaft nicht nur zu analysieren, sondern sie auch zu verändern. Diese forschungsprogrammatische Strategie zielte dabei erstens auf die Emanzipation der Adressaten durch Politisierung, zweitens auf die konfliktorientierte Skandalisierung sozialer
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Probleme und drittens, auf die Entwicklung sozialpolitischer Reformansätze im Zentrum der Forschungsvorhaben. Die Adressaten und Zielgruppen dieser Forschung waren entsprechend im Umfeld sozialer Randgruppen (vgl. Hering 1972), ethnischer Minderheiten sowie in problembelasteten Stadtvierteln (vgl. Bahr/Gronemeyer 1974; „Jetzt reden wir“ 1975) angesiedelt: Obdachlose (vgl. Haag 1971), Ausländer, Gefängnisinsassen, arbeitslose Jugendliche oder Suchtkranke (vgl. Haag u.a. 1972; Spöhring 1989, S. 285; zum sozialpädagogischen Kontext vgl. auch Breiteneicher u.a. 1972; Bahr/Gronemeyer 1974). Aktionsforschung im Sinne einer kritischen und aktivierenden Praxisforschung zielte demgegenüber eher auf die kritische Analyse sowie auf die Entwicklung, Reform und Innovation spezifischer (sozial)pädagogischer Handlungsfelder und Institutionen. Sie suchte einen methodisch begründeten Zugang zum Alltag und der Lebenswelt ihrer Adressaten. Und sie suchte nach neuen Reflexions- und Evaluationsinstrumenten für das eigene pädagogische Handeln und die pädagogische Ausbildung (vgl. Heinze u.a. 1975, Schweitzer u.a. 1977, Fiedler/Hörmann 1978; auch Wahl u.a. 1980). Was ihren empirischen Ertrag angeht, blieb die Aktions- und Handlungsforschung unter dem Postulat, „gesellschaftsverändernde Praxis“ zu sein, vor allem eine Episode des reformpolitischen Optimismus der 1970er Jahre. Parallel zu der spätestens in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts einsetzenden sozial- und bildungspolitischen Ernüchterung verlor auch dieses Forschungsprogramm zusehends an Bedeutung und Überzeugungskraft. Die methodologischen Einwände insbesondere gegenüber der Synthese aus wissenschaftlichem Forschen und politischer Praxis erwiesen sich letztlich als grundlegend und wurden zudem sukzessive durch die Erfahrungen aus den empirischen Projekten untermauert (vgl. Gstettner 1979; Bonß 1991, S. 37). Innerhalb der theoretischen und methodologischen Diskussion lassen sich denn auch ab Ende der 1970er Jahre verstärkt konzeptionelle Vorschläge ausmachen, die Aktionsforschung gleichsam von ihrem ideologischen Ballast und ihrer methodischen Selbstüberforderung zu befreien, gleichzeitig aber ihre konstruktiven und konsensfähigen Fragestellungen für ein entschlacktes Programm von eher „mittlerer Reichweite“ zu erhalten. Im Vordergrund stand jetzt nicht mehr die globale gesellschaftsverändernde, politisierende Dimension des Handlungskonzepts, sondern die Selbstbeschränkung des Aktivierungskonzepts auf die rekonstruktive Freilegung vorhandener Veränderungspotentiale in klar abgrenzbaren und überschaubaren Interaktionszusammenhängen, sozialen Räumen und pädagogischen Fragestellungen. Handlungsforschung besann sich hier letztlich auf die Entwicklungslinie einer „kritischen Praxisforschung“, die seit den Vorschlägen von Bittner/Flitner (1969) in unterschiedlichen Varianten stets im Kontext dieses anwendungsorientierten Forschungszusammenhangs enthalten war. Stichworte für diese Strömung sind etwa die verschiedenen Konzepte einer angewandten Sozialforschung wie die praxisbezogene Evaluationsforschung, verschiedene Konzepte einer Praxisforschung, die „subjektivitätsorientierte Betroffenenforschung“, die Konzepte einer Organisationsentwicklungsforschung die verschiedenen Konzepte einer praxisbezogenen Begleitforschung (Spöhring 1989, S. 280; vgl. Flick u.a. 1991; Wensierski 1997, S. 110f.)
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2. Forschungsschwerpunkte der sozialpädagogischen Biographieforschung Ungeachtet der langen historischen Tradition einer qualitativ und vor allem biographisch orientierten sozialpädagogischen Forschung und ungeachtet der weiten Verbreitung qualitativer Methoden in der aktuellen Forschungslandschaft der Sozialen Arbeit, hat die Sozialpädagogik erst seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend systematisch die eigenen qualitativen Forschungstraditionen, Methodologien und Forschungsarbeiten reflektiert und diskutiert. Einen ersten Ansatz dazu lieferte etwa der Band von Jakob/Wensierski (1997). Unter dem Begriff der „rekonstruktiven Sozialpädagogik“ wird dabei der methodische Zusammenhang sinnrekonstruierender Verfahren im Kontext der Sozialen Arbeit sowohl für die Ebene der methodologischen Grundlagen, der Forschungsmethoden und -ergebnisse, aber auch in ihrer Bedeutung für die fallförmige und fallanalytische Struktur sozialpädagogischen Handelns und beruflicher Selbstreflexion systematisch untersucht. Unter dieser mehrdimensionalen Perspektive werden nicht nur die vielschichtigen methodischen Verfahren und die empirischen Ergebnisse sozialpädagogischer Forschung in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit sichtbar (vgl. Jakob 1997). Als Spezifik einer qualitativen und biographisch orientierten sozialpädagogischen Forschung erweist sich vielmehr die besondere Verzahnung und Wechselwirkung der Sozialpädagogik als Wissenschaftsund pädagogisches Handlungssystem in dem „intermediären Feld eines Wissenschaft-PraxisDiskurses“: d.h. eines eigenständigen und überaus vielschichtigen Feldes methodisch kontrollierter rekonstruktiver Praxisforschung und Praxisreflexion (Wensierski/Jakob 1997, S. 15). Inzwischen gibt es eine beachtliche Zahl von Lehrbüchern, Handbüchern und Sammelbänden, in denen auf verschiedenen Ebenen die Bedeutung von Biographieforschung bzw. qualitativer Forschung im Kontext der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit untersucht und diskutiert wird (vgl. Glinka 1998; Shaw/Gould 2001; Friebertshäuser/Prengel 2003; Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003; Schweppe 2003; Schweppe/Thole 2005; Hanses 2004, Rauschenbach u.a. 1993; Rauschenbach/Thole 1998 sowie das Journal „Qualitativ Social Work“ seit 2002) Jakob hat in ihrer systematischen Analyse der qualitativen sozialpädagogischen Forschungslandschaft nicht nur den forschungsmethodischen Ausdifferenzierungsprozess seit den 1980er Jahren aufgezeigt, sondern auch auf das Spektrum der thematischen Forschungsschwerpunkte und Fragestellungen innerhalb der sozialpädagogischen Handlungsfelder hingewiesen (vgl. Jakob 1997). Untersucht man dieses Feld unter dem spezifischen Aspekt biographischer Forschung, dann fällt auf, dass Handlungsfelder und Zielgruppen sozialpädagogischer Studien höchst ungleich vertreten sind. Trotz aller institutionellen und konzeptionellen Ausdifferenzierungen der Sozialen Arbeit – bei den biographischen Studien dominieren im Grunde die klassischen Zielgruppen und Felder der Sozialarbeit und Sozialpädagogik: die Jugend; die Heimerziehung und der Bereich der Armut. In systematischer Perspektive lassen sich m.E. fünf Schwerpunkte sozialpädagogischer Biographieforschung ausmachen: erstens, eine sozialpädagogische Jugendforschung; zweitens, biographische Forschung zu stationären sozialpädagogischen Betreuungsformen; drittens, eine biographische Armutsforschung, viertens eine sozialpädagogische Professionsforschung; in einem fünften Schwerpunkt ist in den letzten Jahren erfolgreich das fallanalytische Potenzial sozialpädagogischer Kasuistik und biographischer Methoden für die Ausarbeitung einer eigenen sozialpädagogischen Diagnostik fruchtbar gemacht worden.
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2.1 Sozialpädagogische Jugendforschung Unbeschadet aller Ausdifferenzierungsprozesse zu einer „Sozialpädagogik der Lebensalter“ prägt auch heute noch das Thema ,Jugend‘ mehr als jede andere Altersgruppe die aktuelle sozialpädagogische Biographieforschung. Die Übergänge zur soziologischen Jugendforschung sind dabei fließend, sind es doch vor allem deren theoretische Konzepte und Begriffe, die entscheidend auch zum Verständnis einer „Sozialpädagogik des Jugendalters“ beigetragen haben: z.B. Stigmatisierung, Devianz und Marginalisierung, aber auch die Bedeutung von Jugendkulturen und jugendlichen Gruppenstilen; Peer-Groups und Jugendcliquen; Individualisierungsprozesse im Jugendalter; sozialräumliche Konzepte, die Bedeutung von Territorialität usw. Im Spektrum dieser jugendsoziologisch fokussierten Aufmerksamkeitsrichtung entwickelt die sozialpädagogische Jugendforschung drei zentrale Forschungsschwerpunkte: Der erste ergibt sich aus ihrer (exklusiven) gesellschaftlichen Zuständigkeit für die sozialen Probleme im Jugendalter. Unter biographietheoretischer Perspektive stellt sich dieser Komplex als Frage nach der sozialen Konstruktion und den biographischen Prozessstrukturen gescheiterter oder belasteter Bildungskarrieren; sowie nach dem Zusammenhang von devianten oder delinquenten Handlungsmustern und gesellschaftlichen Marginalisierungsprozessen. Sozialpädagogisch-biographische Jugendforschung untersucht hier also biographische Prozesse bei jugendlichen Randgruppen, bei jungen Straffälligen, bei Trebegängern und Heimjugendlichen, bei jugendlichen Ausreißern, Straßenkindern, Strichern, Drogenabhängigen usw. (vgl. Kieper 1980; Helsper u.a. 1991;; Heitmeyer u.a. 1992; Bohnsack u.a. 1995; Juhasz 2003; Inowlocki 2000; Köttig 2004) Der zweite Forschungsschwerpunkt zielt auf das Spannungsverhältnis zwischen eigenständigen Jugendkulturen und Sozialpädagogik. Auch hier ist die Forschungsperspektive ganz der traditionellen Ambivalenz sozialpädagogischer Jugendarbeit verpflichtet. Denn wie die Jugendarbeit spiegelt auch die Forschung den fürsorglich-besorgten Blick auf die jugendlichen peer-groups und Selbstinszenierungen. Ausgestattet mit dem doppelten Mandat aus „Hilfe und Kontrolle“ versucht sie einerseits die sozialisatorische, gesellschaftskritische und kulturelle Bedeutung jugendkultureller Praxen und Stile auszuloten und andererseits die potentiellen Risiken massiver Stigmatisierung und Marginalisierung jugendlicher Sozialformen und damit möglicher gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse herauszuarbeiten, um so Ansatzpunkte für mögliche sozialpädagogische Handlungsstrategien zu finden. Als Tendenz innerhalb dieser Forschung lässt sich hier vielleicht eine Akzentverschiebung gegenüber den 1980er Jahren verzeichnen. Stand insbesondere in der ersten Hälfte der 1980er Jahre im Gefolge der bundesdeutschen Jugend(sub)kulturforschung das kritischkreative, identitätsbildende und sozialisatorische Potential autonomer jugendlicher Handlungsräume und jugendkultureller Gruppenstile im Mittelpunkt (vgl. Becker u.a. 1984; May 1986; Thole 1991), so steht in den Studien der letzten Jahre eher die Frage im Vordergrund, inwieweit sich in den verschiedenen Jugendkulturen – etwa in actionbetonten, gewaltbereiten und rechten Szenen – gleichzeitig auch die Ambivalenzen und Risiken gesellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse widerspiegeln und was das für die Entwicklung sozialpädagogischer Handlungskonzepte in diesem Feld bedeutet (vgl. Hafeneger/Stüwe/Weigel 1993; Tertilt 1996; Schröder 1998; Heitmeyer u.a. 1992; Bohnsack 1989; Bohnsack u.a. 1995). Eben diese Frage nach den sozialpädagogischen Antworten auf gesellschaftliche Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse und den Strukturwandel der Jugendphase durchzieht auch den dritten Schwerpunkt einer sozialpädagogisch-biographischen Jugend-
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forschung. Hier geht es um die biographische Bedeutung der sozialpädagogischen Lebenswelten in den institutionellen Kontexten von Jugendarbeit und Jugendverbänden. Die offene Jugendarbeit – traditionell eher ein Stiefkind der empirischen sozialpädagogischen Forschung – ist allerdings auch in den qualitativen Studien nur mit einzelnen Beiträgen mehr oder weniger explizit vertreten, so etwa in der Lebensweltanalyse von Strack (1987) über die Bedeutung eines Jugendzentrums im Leben seiner Besucher oder in der Studie von Müller/Rosenow/Wagner (1994), die in der vergleichenden Analyse einer ostund einer westdeutschen Dorfjugend die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Jugendclubs, Jugendcliquen und der dörflichen Lebenswelt der Erwachsenen herausarbeiten. Hill (1996) liefert eine Synthese aus elaborierter ethnographischer Forschung (jugendliche Rockbands) und sozialpädagogischem Modellprojekt in der offenen Jugendarbeit („Rockmobil“). Birmschas/Schröder (2003) interessieren sich unter psychoanalytischer Perspektive für die Bedeutung von Beziehungsstrukturen in Jugendarbeit und Adoleszenz. Im Bereich der Jugendverbände ist ebenfalls seit Ende der 1980er Jahre eine Reihe von qualitativen Studien entstanden, die sich etwa mit dem Spannungsverhältnis aus Jugendkultur und Verbandsarbeit (Radde 1988) beschäftigen, mit dem Verhältnis von Jugendverband und Persönlichkeitsbildung (Schröder 1991), oder mit der Rolle von Frauen in Jugendverbänden (Niemeyer 1994). Insbesondere die komplexe Biographiestudie von Reichwein/Freund (1992) greift alle diese Aspekte auf und macht überdies auf die integrative und orientierungsstiftende Bedeutung eines Binnenpluralismus großer Jugendverbände vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse aufmerksam.
2.2 Biographische Forschung zu stationären sozialpädagogischen Betreuungsformen Unter allen sozialpädagogischen Handlungsfeldern und Kontexten ragt bis heute ein Bereich hervor, der offenbar wie kein zweiter die verschiedenen qualitativen Forschungstraditionen vom Anfang des Jahrhunderts bis heute angezogen und herausgefordert hat. In keinem anderen Arbeitsfeld gibt es einen vergleichbaren Umfang an qualitativer und biographischer Forschung wie in der Heimerziehung. Die Gründe dafür liegen vermutlich in der Struktur dieses pädagogischen Arrangements. Stärker als jedes andere pädagogische Milieu vereint die Heimerziehung in sich zugleich das Spannungsverhältnis aus pädagogischem Erziehungs- und Bildungsoptimismus und der selbstzweiflerischen Skepsis über die Reichweite pädagogischen Handelns und pädagogisch inszenierter Bildungsprozesse angesichts gesellschaftlicher Strukturen und sozialisatorischer Prägungen des Individuums. In keinem anderen pädagogischen Arrangement sind Kinder und Jugendliche in einem so umfassenden Sinne der Obhut der Sozialpädagogen anvertraut und damit ihrem exklusiven erzieherischen Einfluss ausgeliefert. Heimerziehung, das war immer auch die institutionalisierte Illusion vom biographischen Neubeginn und vom pädagogisch inszenierten und kontrollierten therapeutischen ,Milieu‘ als Alternative zu den problembelasteten familiären Lebenswelten der Heimzöglinge. Qualitative und vor allem biographische Forschungen in diesem Bereich hatten mithin immer auch die Funktion und Bedeutung einer methodisch kontrollierten Desillusionierung gegenüber dieser latenten pädagogischen Chuzpe der Heimerziehung. Die sozialpädagogischen Studien weisen denn auch genau diese beiden strukturellen Problembereiche der Heimerziehung auf: Zum einen geht es um die Frage der biographi-
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schen Prozesse und Prägungen der Heimjugendlichen. Zum anderen geht es um die Qualität und die sozialen Strukturen des Heims als institutionalisierter Alltag und pädagogisch inszenierter Lebenswelt. Der Zusammenhang von biographischen Prozessen, familialer Sozialisation und milieuspezifischen Strukturen im Kontext sozialpädagogischer Fremdplazierung ist nicht nur Thema bei Kieper (1980), sondern auch bei Nölke (1994) oder auch, unter dem Fokus weiblicher Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, bei Hartwig (1990). Die biographischen Erfahrungen und Verselbständigungsprozesse im Anschluss an eine sozialpädagogische Heimbetreuung stehen im Mittelpunkt weiterer Studien, wobei Wieland u.a. (1992) sowie Normann (2003) sich auf der Basis von Fallstudien insbesondere mit der biographischen Bedeutung der Heimerziehung aus der Perspektive ehemaliger Heimbewohner beschäftigen. Bier-Fleiter/Grossmann (1989) untersuchen demgegenüber die biographischen Lebensbewältigungsmuster sozial benachteiligter junger Mütter aus einem MutterKind-Heim. Die zunehmende Öffnung sozialpädagogischer Forschung gegenüber jugendlichen Migranten spiegelt sich bei Deniz (2001), deren Biographiestudie die Heimerfahrungen männlicher türkischer Jugendlicher rekonstruiert. Zu den Studien des zweiten Typs gehören etwa die Analysen von Tegethoff (1987) über Interaktionsstrukturen und soziale Prozesse in Jugendwohngemeinschaften; die heimkritische Studie von Freigang (1986), der anhand exemplarischer biographischer Fallanalysen das Scheitern der Erziehungspraxis im Heim im Kontext ihrer resignativen Verlegungs- und Abschiebepraxis beleuchtet; oder auch die psychoanalytisch orientierte Studie von Bieniussa (1986), der entlang eines Fallbeispiels „heimliche Regeln pädagogischen Handelns“ im Heimalltag entziffert. Landenberger-Trost erweitern das traditionelle Modell von der ,totalen Institution‘ Heimerziehung um die Frage nach dem Eigensinn und der identitätsbildenden Funktion einer jugendlichen Heimsubkultur (Landenberger/Trost 1988). Wolf (1999) untersucht in einer umfangreichen Studie die Machtstrukturen und -prozesse im Erziehungsheim im Spannungsfeld zwischen Beziehungsstrukturen, Abhängigkeiten und institutionellen Settings. Die Rekonstruktion institutioneller und interaktionistischer Strukturen innerhalb geschlossener Heime vor dem Hintergrund biographischer Erfahrungen von Heimjugendlichen ist schließlich auch das Thema von Wolffersdorff/Sprau-Kuhlen (1990) (vgl. auch Bühler/Bühler-Niederberger 1988; Kindschuh-van-Roje 1989). Außerhalb der Heimerziehung lassen sich einzelne fallanalytisch und biographisch orientierte Studien zu stationären sozialpädagogischen Einrichtungen nur noch im Bereich der Altenheime finden, so die Arbeit über Interaktionsprozesse und Konfliktsituationen im Altenheim aus der Sicht alter Menschen von Knobling (1985), die aktenanalytische Studie von Dießenbacher/Schüller (1993) über die heiminterne Gewalt von Altenpflegern und Pflegerinnen sowie die Untersuchung von Dunkel (1994) über die Lebensführung von Altenpflegerinnen im Spannungsfeld zwischen Lebensgeschichte und Berufsbiographie. Auffällig ist in diesen Studien die thematische Schwerpunktsetzung der Analysen. Es geht vor allem um die Untersuchung von Konflikten und Gewaltpotential. Die Strukturen stationärer sozialpädagogischer Einrichtungen bewegen sich auch im Blick der Forschung anscheinend immer noch in der Nähe totaler Institutionen.
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2.3 Biographische Armutsforschung Die Entwicklung hin zu einer biographisch orientierten Armutsforschung im Kontext der Sozialpädagogik steht offenbar in engem Zusammenhang sowohl mit der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik wie auch (in Zusammenhang) mit den entsprechenden sozialpolitischen und wissenschaftlichen Debatten, die diesen sozialen Wandel begleiteten, analysierten und kommentierten. Die Prozessstruktur dieses empirischen Armutsdiskurses lässt sich sowohl mit Blick auf die wandelnden Zielgruppen der Forschung wie auch auf die diese Untersuchungen leitenden theoretischen und methodischen Konzepte beschreiben. So stand in den 1960er und 1970er Jahren Armut zunächst als Phänomen spezifischer Randgruppen und devianter Subkulturen im Fokus der Forschung. Zentrale Zielgruppe waren hier vor allem die Obdachlosen (vgl. Iben 1968, 1971), während andere Formen von Armut kaum Gegenstand empirischer Studien wurden. Mit zunehmender und andauernder Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren etabliert sich neben dieser Randgruppenforschung (vgl. Weber 1983; Giesbrecht 1987) ein neuer Bereich der Armutsforschung – die Arbeitslosenforschung (vgl. Heinelt/Macke 1985; Alheit/Glaß 1986). Seit Ende der 1980er Jahre trat, bedingt durch den gravierenden und dauerhaften Anstieg der Sozialhilfempfänger und nicht zuletzt im Gefolge der Debatten um Neue Armut und die Sozialstaatskrise (vgl. Leibfried u.a. 1995), die Erforschung der Sozialhilfekarrieren als dritte Säule einer biographisch orientierten Armutsforschung hinzu. Die theoretischen und methodischen Konzepte entstammten in den 1970er Jahren vorrangig der amerikanischen Labeling- und Stigmaforschung. Die biographische – eben lebenszeitliche – Dimension wurde in dieser Perspektive vor allem mit einem Karrierebegriff gefasst, der Armut als „zwangsläufiger unumkehrbarer sozialer Abstieg“ (Ludwig 1996, S. 12) erscheinen ließ. Einen Abschied von solchen deterministischen Karrieremodellen in Richtung handlungs- und biographietheoretischer Konzepte brachten innerhalb der empirischen Forschung erst die biographischen Ansätze seit den 1980er Jahren (vgl. Matthes u.a. 1981) sowie der Einfluss der „dynamischen Armutsforschung“ mit ihren amerikanischen Wurzeln. Die neueren Studien zielen dabei nicht nur auf eine Differenzierung höchst heterogener Verlaufsmuster von Armutskarrieren, sondern auch auf die Rekonstruktion von Alltagsstrukturen, sozialen Handlungskonzepten, biographischen Bewältigungsstrategien und institutionellen Hilfesysteme in ihrem komplexen Zusammenwirken (vgl. Giesbrecht 1987; Buhr 1995; Ludwig 1996). Neben den traditionellen Zielgruppen Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose treten dabei zunehmend auch die Armutsprozesse bei Kindern und Jugendlichen in den Blick (vgl. Pfennig 1996; Bodenmüller 1995; Chassè u.a. 2005; überblicksartig: Butterwege u.a. 2004; Zander 2005).
2.4 Forschung zu sozialpädagogischen Berufsbiographien – Professionsforschung Zu den traditionellen Forschungsfeldern der Sozialpädagogik gehören die Fragen nach den beruflichen Kompetenzen und Professionalisierungsprozessen innerhalb der Sozialen Arbeit. Anders als andere personenbezogene Dienstleistungsberufe und Professionen sah sich die Soziale Arbeit in den Bemühungen um eine berufsständische Selbstvergewisserung stets mit den Aporien des eigenen Berufsfeldes, aber auch mit eigenen sozialethisch begründeten Skrupeln, oft genug auch mit den ernüchternden Befunden über die Folgen des eigenen
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Handelns konfrontiert. Da wo sie fachlich werden wollte, orientierte sie sich seit Alice Salomon bis zur heutigen FH-Ausbildung allzu bereitwillig an den benachbarten Leitdisziplinen (Psychologie, Medizin, Recht, Soziologie); da wo sie helfen wollte, stand ihr Helfersyndrom unter dem Verdacht der fürsorglichen Bevormundung mit unklarer Motivlage, da wo sie Institution und Sozialadministration war, war sie immer auch soziale Kontrolle im Auftrag der jeweiligen Trägerideologie mit der fatalen Neigung zur Etablierung totaler Institutionen. Ihre Alltagsorientierung stand stets unter dem Verdacht des latenten Dilettantismus, ihre Methodisierung und Verwissenschaftlichung unter dem Vorwurf der latenten Sozialtechnokratie. War Soziale Arbeit also eine unvollständige, eine bescheidene oder vor allem eine verunsicherte Profession? Die qualitative empirische Professionsforschung entziffert vor diesem Hintergrund professionelles Handeln als soziale Konstruktion professioneller Deutungsmuster, Handlungslogiken und institutioneller Ablaufroutinen, die im Kräfteparallelogramm zweier Einflussfaktoren entstehen: den sozialen und institutionellen Strukturen des Feldes zum einen und den biographischen Ressourcen der Sozialpädagogen zum anderen. Die vorliegenden qualitativen Studien konzentrieren sich vorwiegend jeweils auf einen dieser Pole. D.h. sie untersuchen entweder die soziale Konstruktion von Handlungsstrukturen und sozialen Regeln in sozialpädagogischen Situationen und Interaktionen. Oder sie interessieren sich vor allem für die biographische Lagerung der sozialpädagogischen Orientierungs- und Handlungsmuster. Zum ersten Typus gehören etwa die Studien von Wolff (1983), Greca (1989), Klatetzki (1993), Sahle (1987). Neuere Studien widmen sich etwa der professionellen Reflexion in der Erziehungsberatung (Tiefel 2004). Die methodischen Zugänge folgen in diesen Studien naturgemäß weniger dem Kanon der Biographieforschung als den ethnographischen und ethnomethodologischen Verfahren: Konversationsanalyse, Interaktionsanalyse, teilnehmende Beobachtung und dichte Beschreibung. Teilweise kommt auch die Objektive Hermeneutik zum tragen. Die biographisch orientierte Professionsforschung (vgl. Hanses 2004) weist ihrerseits zwei verschiedene Erkenntnishorizonte auf: Zum ersten interessiert sie sich für die biographische Lagerung und Strukturierung des Professionalisierungsprozesses von Sozialpädagogen. Im Vordergrund steht also die Frage nach den biographischen Wurzeln, Einflüssen auf dem Weg zum Sozialpädagogenberuf, bzw. die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen biographischen und milieuspezifischen Prägungen und professionellen Handlungsmustern (vgl. Thole/Küster-Schapfl 1996; Heinemeier 1994; Nagel 1996; Reim 1993), aber auch nach dem Zusammenhang von subjektiven Aneignungsprozessen und institutionellen Strukturen (Hartz 2004). Der zweite Forschungsschwerpunkt widmet sich der biographischen Analyse der explizit Nicht-Professionellen – also den ehrenamtlichen Mitarbeitern in der sozialen Arbeit (vgl. Jakob 1993; Wessels 1994; Bartjes 1996, Bimschahs/Schröder 2003). Jakob betont in diesem Zusammenhang die „Entmystifizierung sozialen Engagements“ (Jakob 1997, S. 145) ehrenamtlicher Helfer, zeigen die biographischen Studien doch die vielschichtige biographische Verankerung eines sozialen Engagements.
2.5 Biographieanalyse als methodisch reflektiertes Handeln – sozialpädagogische Diagnostik Die Modernisierungs- und Professionalisierungsprozesse der Sozialen Arbeit haben in den letzten Jahren die Frage nach geeigneten analytischen und diagnostischen Methoden ver-
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stärkt in den Blickpunkt gerückt. Dabei hat sich die Diskussion zunehmend um den Begriff einer „sozialpädagogischen Diagnostik“ gruppiert, der insgesamt auf einen vielfältigen Diskurs von Ansätzen und Konzepten verweist, in denen es um eine methodisch begründete und verfahrenstechnisch ausgearbeitete Analyse fallbezogener Sozialpädagogik geht – etwa im Bereich der Hilfen zur Erziehung, der Beratung, klinischer Handlungsfelder, aber auch in Supervision, Evalution und in der Qualitätsentwickung. Bei den diagnostischen Verfahren in der Sozialpädagogik geht es nicht eigentlich um Forschungsverfahren, sondern dezidiert um fallanalytische Verfahren in den beruflichen Handlungsfeldern der Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Diagnostik ist hier immer schon interventionsorientiertes Fallverstehen. Das diagnostische Fallverstehen zielt dabei vor allem auf die Begründungs- und Gestaltungsfunktion der zu planenden Interventionen. Während in der Vergangenheit das Verständnis von Diagnostik vor allem durch die Leitdisziplinen Medizin und Psychologie (Salomon 1926; Harnach-Beck 1995) geprägt war, hat sich, nicht zuletzt unter dem Einfluss kasuistischer Debatten der 1980er Jahre (s.o.), aber auch der Hilfeplandebatte im Gefolge des §36 KJHG seit den 1990er Jahren sukzessive ein explizit sozialpädagogisches Konzept entwickelt (Mollenhauer/Uhlendorff 1995-99), das biographisch-analytische, interventionsorientierte und partizipatorische Perspektiven miteinander zu verbinden sucht (vgl. Heiner 2004; Schrapper 2004; Krumenacker 2004). War sozialarbeiterisches Handeln immer schon diagnostisch und interventionistisch ausgerichtet, so zeichnen sich die neuen Konzepte vor allem durch einen elaborierten selbstreflexiven Methodendiskurs und vielfältige methodische Verfahren; durch die Anerkennung biographischer Prozessdimensionen, durch die Evaluation und Reversibilität von Interventionsentscheidungen sowie durch eine konsequente Betroffenenbeteiligung aus.
3. Resumee und Perspektiven Der Blick auf die biographische Forschung im Kontext der Sozialpädagogik belegt nicht nur die lange und vielschichtige Tradition qualitativer, fallanalytischer und sinnrekonstruktiver Ansätze im Spektrum sozialpädagogischer Forschung. Er macht vor allem auch die unterschiedlichen theoretischen und methodologischen Bezüge und Entwicklungslinien sichtbar, auf die sich die Sozialpädagogik gegenwärtig stützen kann. Auch wenn in der gegenwärtigen Forschungslandschaft vor allem die neueren soziologisch orientierten Verfahren zu dominieren scheinen, so erschöpft sich sozialpädagogische Forschung doch keineswegs in diesen. Im Gegenteil zeigt sich, dass offenbar erst die Pluralität der forschungsmethodischen Zugänge auch der Vielschichtigkeit des ausdifferenzierten Wissenschafts- und Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit gerecht zu werden vermag. Die Bedeutung der einzelnen Linien für die fallanalytische und biographische Forschung fällt entsprechend spezifisch aus. So haben sich die psychoanalytischen Zugriffe in der Sozialpädagogik weniger als empirische Forschungsansätze durchsetzen können, als dass sie insbesondere fruchtbar waren für die professionelle Reflexion unbewusster Strukturen in der Erziehungssituationoder im Arbeitsbündnis zwischen Klient und Sozialarbeiter. Ähnliches gilt für die Sozialpädagogische Kasuistik. Einerseits bleibt ihr Konzept über die Jahrzehnte methodisch diffus, erscheint gleichsam pragmatisch als die Summe der professionellen Fallbeobachtungen, Fallsammlungen, Fallanalysen und Fallarbeit in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Andererseits zieht sich wie ein roter Faden durch die sozialpädagogische Ka-
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suistik gerade das Bemühen um eine professionelle Selbstreflexion des pädagogischen und sozialarbeiterischen Entscheidungshandelns in der Konkretheit des Einzelfalls. Die aktuelle Bedeutung dieser Kasuistik liegt denn auch vor allem in ihrem Beitrag zur Debatte um Professionalisierung und Fachlichkeit des beruflichen Handelns. Der bleibende methodische und theoretische Ertrag der Aktions- und Handlungsforschung, manchmal als Fossil der 1970er Jahre betrachtet, liegt m.E. in drei Aspekten begründet: Erstens war sie ein bedeutender Katalysator für die Etablierung qualitativer Methoden innerhalb der sozialpädagogischen Forschung. Zweitens hat gerade die kritische Auseinandersetzung mit ihren allzu unbefangenen Versuchen, die strukturelle Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis zu überspringen, dauerhaft den Blick für die unterschiedlichen Strukturlogiken zwischen sozialpädagogischer Forschung und sozialpädagogischer Praxis geschärft. Damit war drittens aber gleichzeitig auch die Frage nach neuen methodischen und institutionellen Schnittstellen zwischen Forschung und Praxis aufgeworfen. Letztlich hat dieser Diskurs um die Aktionsund Handlungsforschung wesentlich zur Etablierung eines intermediären Feldes zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis beigetragen, in dem sich ein System von Vermittlungsinstanzen entwickelt hat: Praxisforschung, Begleitforschung, Evaluationsforschung, Supervision, Weiterbildung usw. Die Erfolgsgeschichte rekonstruktiver Sozialforschung, seit Ende der 1970er Jahre vor allem befruchtet von den vielfältigen methodologischen und biographie- und lebenslauftheoretischen Ansätzen im Kontext des Interpretativen Paradigmas, hat darüber hinaus auch in der Sozialpädagogik die empirische Forschung angeregt und zu einem erheblichen Zuwachs an qualitativen Studien geführt. Entstanden ist eine überaus vielschichtige, prinzipiell interdisziplinäre, sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft, in der sich zudem sukzessive die verschiedenen Traditionslinien einander annähern oder befruchten. Als Spezifik einer sozialpädagogischen Forschung inmitten dieser tendenziell disziplinübergreifenden Forschungslandschaft erweist sich im historischen Rückblick dabei der Versuch, Forschung und Forschungsmethoden nicht nur zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung einzusetzen, sondern diese Erkenntnisse auch an die sozialpädagogische Praxis und das sozialpädagogische Handeln zurückzubinden: als Evaluations- und Reflexionsinstrument, als Handlungsanleitung oder als Entwicklungs-, Planungs- und Innovationsinstrument. Gerade darin scheint mir allerdings auch ein spezifisches methodisches Dilemma qualitativer sozialpädagogischer Forschung zu liegen. Denn dem quantitativen Zuwachs an empirischen Studien steht oftmals ein diffuses Verhältnis zu den Qualitätskriterien und den Methodenregeln der rekonstruktiven Sozialforschung gegenüber (vgl. Jakob 1997, S. 151), mit der Tendenz zu einer „Entgrenzung“ des wissenschaftlichen Methodenbegriffs in den Forschungsvorhaben (vgl. Lüders 1997, S. 801ff.). Lüders und Jakob fordern hier zu Recht eine größere Trennschärfe bei der Unterscheidung von Wissenschaft und Praxis und damit die methodologische Anerkennung der „Differenz zwischen Erkenntnisgewinnung und Problemlösung“ innerhalb der Forschungsdesigns (Lüders 1997, S. 803). Gleichwohl ist in den letzten 10 Jahren die Bedeutung qualitativer und biographischer Forschung für die Sozialpädagogik weiter gewachsen. Und dies betrifft sowohl die Ausdifferenzierung und Vielfalt an qualitativen und biographischen Studien, wie auch die Fruchtbarmachung der Verfahren und Konzepte einer rekonstruktiven Sozialpädagogik für die Methodenentwicklung, die Professionalisierung, die Qualitätsentwicklung und Evaluation sozialpädagogischer Praxis. Konnte noch in der ersten Auflage dieses Beitrags beklagt werden, dass die Debatten um gesellschaftliche Individualisierungs- und Biographisierungsprozesse mit ihren neuarti-
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gen biographischen Gestaltungs- und Belastungspotentialen jenseits modernisierungstheoretischer Programmatik noch kaum einen Niederschlag in einer kritischen empirischen Forschung der Sozialpädagogik gefunden hatten, so gilt dies heute gewiss nicht mehr. Forschungszentren (ZBBS-Magdeburg/Halle), Verlagsreihen (Biographie und Profession), Fachzeitschriften und zahlreiche Hand- und Lehrbücher haben seit Mitte der 1990er Jahre das Potenzial der qualitativen und biographischen Forschung systematisch für die Erziehungswissenschaft, insbesondere auch für die Soziale Arbeit und Sozialpädagogik erschlossen und institutionalisiert. Forschungswerkstätten und Methodenworkshops an vielen Hochschulstandorten (v.a. Berlin, Magdeburg, Frankfurt) sorgen parallel dazu für eine größere empirische Forschungskompetenz des erziehungswissenschaftlichen Nachwuchses – traditionell eher eine Archillesferse der Pädagogikausbildung im Vergleich mit Soziologie und Psychologie. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Entwicklung der fallanalytischen und diagnostischen Methoden (Sozialpädagogische Diagnostik) in den letzten Jahren, die offenbar sehr stark befruchtet wurde durch die Debatte um rekonstruktive Verfahren, Kasuistik, Methodenreflexion und Biographieforschung. Vor dem Hintergrund dieses gestiegenen Potenzials an Methodenkompetenz für Forschung und biographische Diagnostik stellt sich allerdings die Frage, wie sich der Umbau der Diplomstudiengänge in Bachelor-Master-Strukturen künftig auf die Methoden- und Forschungskompetenz im Bereich der Sozialpädagogik auswirken wird. Es steht zu befürchten, dass durch die Reduzierung universitärer Sozialpädagogik-Studiengänge, die curriculare Verschulung der BA-Studiengänge und die Konzentration auf einige wenige forschungsorientierte MA-Studiengänge mit Sozialpädagogik die mühsam errungene Forschungsorientierung der Sozialen Arbeit bereits wieder in Frage gestellt ist.
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Biographieforschung und Frauenforschung Margret Kraul
Inhalt 1. Anfänge in der Frauenforschung: Die Betroffenheitskategorie und ihre biographischen Komponenten 2. Fortschreibung: Differenz unter Frauen: Unterschiedliche Biographien und Lebenswelten 3. Methoden: eine weibliche Methode wider den Androzentrismus in der Wissenschaft? 4. Bezüge: Frauenforschung in ihrer Bedeutung für Biographieforschung 5. Ausblick: geschlechterbezogene Biographieforschung – ein Programm Literatur
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Margret Kraul
In diesem Beitrag sollen Bezüge zwischen Frauenforschung und Biographieforschung aufgedeckt werden. Das geschieht sowohl aus der Sicht der Frauenforschung als auch aus der Sicht der Biographieforschung. Zunächst wird die Bedeutung der Biographieforschung für die Frauenforschung in den Blick gerückt, in der Phase der Konstituierung der Frauenforschung als Disziplin ebenso wie in der Phase ihrer Ausdifferenzierungen unter dem Aspekt neuerer wissenschaftstheoretischer Ansätze. Unter Rekurs auf methodische und methodologische Fragen der Frauenforschung wird dabei reflektiert, ob biographische Zugangsweisen, vorrangig als qualitative betrachtet, als spezifisch „weibliche“ Methoden bezeichnet werden können. Das leitet über zur Analyse des Verhältnisses der beiden Forschungsrichtungen aus der Perspektive der Biographieforschung, die in ihren Anfängen keineswegs besonders geschlechterbewusst ausgerichtet, sondern eher mit einem männlichen bias versehen war. An Arbeiten, die einer biographisch orientierten Frauenforschung oder einer feministischen Biographieforschung verpflichtet sind, wird verdeutlicht, in welcher Weise die Geschlechterkomponente in jüngerer Zeit Eingang in die Biographieforschung gefunden hat. Abschließend wird der Versuch gemacht, ein Programm einer geschlechterbezogenen Biographieforschung zu skizzieren.*
1.
Anfänge in der Frauenforschung: Die Betroffenheitskategorie und ihre biographischen Komponenten
Als sich im Zusammenhang der Studentenbewegung Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die neue Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in ihrem Gefolge die Frauenforschung konstituierte, stand die Betonung von Selbstbestimmung und Autonomie der Frau an erster Stelle (vgl. Gerhard 1992, S. 11; Nave-Herz 1989, S. 66ff.). Der große Kampf der Frauen um gleiche Rechte, der die alte Frauenbewegung geprägt hatte, war dem Streben nach Emanzipation aus der Unterdrückung durch das Patriarchat gewichen. Freiheit zu persönlicher Entfaltung wurde proklamiert; Frauen versuchten, zu sich selbst zu finden, ihre Bedürfnisse und Ängste unabhängig von vorgegebenen gesellschaftlich normierten Frauenrollen zu artikulieren. Ihre Lebensgeschichte sahen sie unter dem Aspekt der Fremdbestimmung, private und gesellschaftiche Repressionen waren das bestimmende Thema. Die „persönliche Befreiung von Herrschaft und Bevormundung“ (Gerhard 1992, S. 12) wurde gefordert; Selbsterfahrungsgruppen, analog zu der amerikanischen Form der „consciousness-raising-groups“, avancierten zu einem wichtigen Baustein in diesem Emanzipationsprozess (vgl. auch Ostner 1987, S. 118). Selbstdarstellung und Austausch von Erfahrungen mit anderen, in gleicher Weise durch Unterdrückung und männliche Herrschaft betroffenen Frauen wurden konstitutiv für die neue Form der Frauenbewegung. Sie zentrierte sich, zunächst in Frauengruppen, um Lebenswelt und Lebensgeschichte einzelner Frauen und definierte die scheinbar individuellen Probleme der Unterdrückung in lebensweltlichen Bereichen als gesellschaftliche Probleme. Damit verstand sie – in Anlehnung an die amerikanische Bürgerrechtsbewegung – das Private als das Politische. Diese neue Sichtweise und die Betonung weiblicher Lebenszusammenhänge hatte Auswirkungen auf die Konstitutierung von Frauenforschung. Ziel war es, Frauen in ihren Lebenszusammenhängen sichtbar zu machen, „die Geschichte der Frauen, die Art und Weise, wie Frauen ihre Situation erleben und analysieren, wie sie Unterdrückung wahrnehmen und erklären, Formen und Strategien ihres jahrtausendealten Widerstandes“, wie Maria Mies
Biographieforschung und Frauenforschung
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(1978, S. 45) es formulierte, aufzugreifen. Eine solche Akzentuierung forderte neue Zugangsweisen. Ausgangspunkt konnte Mies zufolge nur die „widersprüchliche Seins- und Bewusstseinlage der Frauen im akademischen Bereich selbst sein“ (ebd.). Die bisher nicht wahrgenommenen Seiten des Frauendaseins sollten wissenschaftlich erforscht werden, ein Weg, der Mies’ Ansicht nach nur dadurch gangbar werden konnte, dass Frauen ihre je spezifische Erfahrung, „ihre verdrängte, unbewußte, subjektive Betroffenheit (...) bewußt in den Forschungsprozeß“ (ebd.) einbezogen. Diese subjektiven Erfahrungen hatten Mies zufolge eine intersubjektive Komponente, einen biographischen Selbstreflexionsprozess, der für alle Frauen nachvollziehbar war. Frauen konnten daher – ungeachtet aller Unterschiede – tendenziell alle zu Opfern der Gesellschaft, zu Unterdrückten erklärt werden. Diese Erfahrung der Unterdrückung befähige sie in besonderer Weise, eine umfassende Analyse „von Frauen und anderen unterdrückten und ausgebeuteten Gruppen (...) zu erstellen“ (ebd., S. 46). Der „Forschungsprozess“ wurde als ein „Bewusstwerdungsprozess“ (ebd., S. 51) definiert, der nur über die Aufarbeitung individueller Probleme und die Aneignung der eigenen Geschichte vorangetrieben werden konnte, und durch Betroffenheit strukturiert. Dass dabei Biographie(er)forschung und Selbstfindung, Forschungsprozess und Bewusstwerdungsprozess vor lauter Betroffenheit zuweilen in eins gesetzt wurden (vgl. Ostner 1987, S. 122), war in diesem Ansatz angelegt. Damit war die Lebenswelt von Frauen in ihrer individuellen wie ihrer kollektiven Ausprägung in das Zentrum einer sich neu konstituierenden Wissenschaftsrichtung gestellt. Diese Fokussierung zog Überlegungen in bezug auf methodische Zugangsweisen nach sich. Forschung als „Teil einer befreienden Aktion“ (Mies 1978, S. 50) sollte bei den individuellen und sozialen Gegebenheiten der Wissenschaftlerinnen ansetzen, um dadurch die Sensibilität für die individuellen und sozialen Gegebenheiten der großen Gruppe unterdrückter Frauen gewinnen zu können. Wertfreiheit und Objektivität wurden als androzentristische Kategorien abgelehnt; die „Sicht von unten“ bestimmte die Perspektive. Selbstreflexion und Bewusstseinsbildung wurden zu Postulaten wie Instrumenten von Frauenforschung; Wissenschaft wurde zum Vehikel der Selbstfindung, und Selbstfindung generierte Wissenschaft. Nun blieben Maria Mies’ Postulate in der Frauenforschung nicht unangefochten; die Kategorie der Betroffenheit zog eine ausführliche Methodendiskussion nach sich (vgl. vor allem Zentraleinrichtung 1984), die in ihren Auswirkungen bis in die neunziger Jahre hinein andauerte (vgl. Wohlrab-Sahr 1993). So bezweifelte Regina Becker-Schmidt, dass das Subjekt-Objekt-Verhältnis bei der Erforschung weiblicher Lebenszusammenhänge durch Frauen völlig aufgehoben werden könne; ihrer Ansicht nach verfehlt eine solche Aufhebung zuweilen eher die Spezifika weiblicher Lebensläufe als dass sie sie verdeutlicht (BeckerSchmidt 1984, S. 227f.). Zudem verdecke das Mäntelchen gemeinsamer Betroffenheit die Differenzen zwischen Frauen.1 Gesellschaftstheoretisch wurde das Konstrukt der Betroffenheit durch den Aspekt der doppelten Vergesellschaftung der Frau in Familie und Beruf ergänzt, der Blick von den psychischen Verarbeitungsmustern auch auf gesellschaftliche Gegebenheiten gelenkt (vgl. Becker-Schmidt 1984, S. 235). Der Subjektorientierung wurde damit eine gesellschaftstheoretische Fundierung zur Seite gestellt, nicht zuletzt zur Reflexion der Frage, inwieweit sich Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft überhaupt als Subjekte begreifen konnten (vgl. Müller 1984, S. 37ff.). Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet wurde von Maria Mies jedoch eine wichtige Debatte zu methodologischen Fragen in der Frauenforschung angestoßen. Im Folgenden werden jene Bezüge aufgezeigt, die – ausgehend von dem Betroffenheitspostulat – zwischen Frauenforschung und Biographieforschung bestehen. Die Betroffenheitsdiskussion forderte
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und förderte biographische Zugangsweisen in besonderer Weise, hatte doch „Betroffenheit“ ihrerseits vorausgesetzt, dass Frauen sich der Situationen bewusst wurden, die ihre Lebensgeschichten konstitutierten. Die erlebte Realität sollte als erlittene, ignorierte, akzeptierte, auf jeden Fall aber verarbeitete Realität in Forschungsprozessen berücksichtigt werden (vgl. Becker-Schmidt 1984, S. 225), die den Frauen abhanden gekommene Historizität sollte wieder aufgedeckt werden (vgl. ebd., S. 232). Die Beschäftigung mit Biographien wurde zur Grundlage einer neuen Wissenschaftsrichtung, generierte neue Fragestellungen und strukturierte Forschungsprozesse, und das nicht nur in der Frauenforschung, sondern auch in Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft und Soziologie. Frauenforschung forderte Biographieforschung: Sie verstand Biographien als eine „Kette von Situationen von Betroffenheit“ (vgl. Göttner-Abendroth 1984, S. 264), als Ort, in dem sich jene Erfahrungen finden, die aus Betroffenheit hervorgegangen sind. Über ihre Biographien sollten Frauen ihrer kollektiv angeeigneten Geschichte auf die Spur kommen. Biographizität der Subjekte wie der Objekte, der Forscherinnen wie der zu Erforschenden, geriet in den Mittelpunkt feministischer Forschung. Biographische Frauenforschung sollte dazu beitragen, das gemeinsame Erlebnis von Unterdrückung in jeder Frau aufzuspüren und Frauen als Subjekte, ihre Erfahrungen und ihre Lerngeschichten, zum Thema zu machen. Die subjektive Interpretation weiblicher Realität, die „Brüche“ in weiblichen Biographien stellten dabei die „Allgemeinheit“ männlicher Normalbiographien in Frage; ja die von Frauen erlebte Unterdrückung, die Sicht von unten, sollte über das individuelle Schicksal gleichsam ein neues – weibliches – „Allgemeines“ generieren, eine Art weibliches Lebensschicksal. Darüber hinaus aber forderten weibliche Lebensgeschichten dazu auf, weibliche Lebenswelten in ihrer gesellschaftlichen Strukturierung und nicht mehr als naturhaft gegeben zu begreifen.
2.
Fortschreibung: Differenz unter Frauen: Unterschiedliche Biographien und Lebenswelten
Bereits in ihrer frühen Kritik an Parteilichkeitspostulat und Betroffenheitsansatz hatten Frauenforscherinnen darauf verwiesen, dass die Betonung des allgemeinen Betroffenheitserlebnisses Differenzen von Frauen in unterschiedlichen Lebenswelten verdeckten (vgl. Zentraleinrichtung 1984). Was aber für die Frauenbewegung von großer Bedeutung war (und ist), der kollektive Lernprozess und die Bewusstwerdung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit, ist nicht unmittelbar auf die Forschungssituation zu übertragen. So sind weibliche Lebenswelten, wie Regina Becker-Schmidt ausführt, gerade infolge der doppelten Abhängigkeit der Frau von patriarchalen und gesellschaftlichen Verhältnissen komplex und widersprüchlich (vgl. Becker-Schmidt 1984, S. 232). Eine weitere Argumentation differenziert die allgemeine Betroffenheit: Christina Thürmer-Rohrs These von der Mittäterschaft von Frauen stellt deren Opferstatus in Frage. Die Konstruktion der Frau in Polarität zum Mann verurteilt Frauen Thürmer-Rohr zufolge eben nicht nur zum passiven Leiden, sondern macht sie in ihrer Bereitschaft, die dem Mann zugewiesenen Wesenszüge zu ergänzen, auch korrumpierbar, verführt sie zu einer Akzeptanz bürgerlicher Introspektion und des Leidens an der Welt (vgl. Thürmer-Rohr 1987a, S. 38ff.; Hagemann-White 1988, S. 12). Widersprüchlichkeiten und neue Blickrichtungen fordern auf, weibliche Lebenswelten in ihrer Verschiedenheit, sei es über Biographien, sei es über einzelne biographische Situationen wahrzuneh-
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men und zu untersuchen. Biographieforschung hat auch unter diesem Aspekt für Frauenforschung Bedeutung. Gerade die unterschiedlichen Lebenswelten von Frauen, die sich nicht mehr in der Betroffenheitseinheit und in der gleichen Emanzipationsausrichtung fassen lassen, fordern genaue Analysen. Biographieforschung wird notwendig, um unterschiedliche Facetten weiblicher Lebenswelten zutage zu fördern. Der Wahrnehmung von Differenz wird auch aus der wissenschaftstheoretischen Perspektive des Konstruktivismus eine neue Qualität zugewiesen. Geschlechterdifferenzen werden hier nicht mehr als naturgegebene Wesensmerkmale gesehen wie in der alten Frauenbewegung – immer in der Gefahr und ihr im historischen Prozess auch erlegen, Geschlechterhierarchien zu produzieren –, sondern als ständig neue, aus sozialen Handlungen hervorgehende Konstruktionen. Soziale Wirklichkeit und damit auch Geschlechtlichkeit werden – so die These – von Subjekten in Interaktionen geschaffen und können nur über „Rekonstruktion“ und Selbstreflexion von Handlungsvollzügen erfasst werden. Für die Geschlechterforschung bedeutet das, dass Zweigeschlechtlichkeit als natürliche unhinterfragbare Tatsache in Frage gestellt, dekonstruiert wird. Geschlecht ist keine feste Größe mehr, sondern entfaltet sich im doing gender, in der „,gesellschaftliche[n] Organisation des Geschlechterverhältnisses‘“ (Becker-Schmidt 1991, S. 125). Dabei geht es nicht mehr vorrangig um das Aufdecken von Frauendiskriminierung und Unterdrückung, sondern um den aktiven Anteil von Frauen im Prozess der Definition von Geschlechtlichkeit. Wenn aber Geschlecht diskursiv entfaltet und sozial konstruiert wird (vgl. Hagemann-White 1993; Gildemeister/ Wetterer 1992), bedeutet das, Geschlecht lässt sich nicht in vorgegebenen Klassifikationen, sondern nur im alltäglichen Vollzug, in Lebenssituationen, erfassen und wird im biographischen Prozess immer wieder neu hergestellt. Ethnographische und biographische Methoden haben hier ihren Stellenwert. Dass auch dieser Ansatz kritische Fragen evoziert, ist verständlich. Die Betonung des jeweils Konstruierten kann in die problematische Nähe postmoderner Beliebigkeit gelangen. Kritikerinnen befürchten darüber hinaus, der konstruktivistische Ansatz könne dazu führen, die Kategorie Geschlecht, deren Berücksichtigung in Forschung und Praxis so mühsam erkämpft worden war, nun – dekonstruiert – wieder von der Bühne verschwinden zu lassen (vgl. Gerhard 1993, S. 16). Zudem hat Helga Kelle kürzlich auf die Schwierigkeiten verwiesen, die bei der Umsetzung dieses Ansatzes in ein Forschungsprojekt entstehen, sei doch die Zweigeschlechtlichkeit – auch bei Decodierung – die strukturierende Kategorie für den Blick auf Realität (vgl. Kelle 1997). Dennoch spricht einiges für den Ansatz des „doing gender“. Er verhindert Festlegungen auf Geschlechterstereotype und lenkt den Blick auf die Untersuchung alltäglicher Praktiken und das „Anderssein“ von Frauen (und Männern) verschiedener Herkunft wie verschiedener Kulturen und Ethnien. Damit entgeht er der binären Kodierung und bietet größere Offenheit hinsichtlich der Komplexität von Wirklichkeit. Beide Ansätze, der der Betroffenheit wie der über das „doing gender“ produzierte Ansatz der Differenzierung, beruhen auf lebensweltlichen Zusammenhängen und biographischen Situationen. Sie produzieren die Empirie, liefern das Material für die jeweiligen Interpretationen, einerlei, ob, wie in den Anfängen der Frauenforschung, Bewusstseinsänderungen über persönliche Betroffenheit erreicht werden sollten, oder ob, wie in dem gegenwärtigen Prozess, Differenz und Vielfalt im Vordergrund stehen. Biographien und biographische Zugänge konstituieren gleichsam erst Differenz und Vielfalt. In der Lebenswelt der einzelnen Individuen finden jene Handlungen statt, die Geschlecht konstituieren. Biographien als Aneinanderreihung von Handlungssituationen sind konstitutiv für Geschlechterforschung, nicht mehr vorrangig mit dem Ziel, über biographische Vergewisserungen Be-
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Margret Kraul
troffenheitslyrik zu produzieren, sondern in ihrer Orientierung an lebensweltlich einholbaren Differenzen zwischen Frauen und Männern und innerhalb eines Geschlechts. Biographisch orientierte Zugriffsweisen werden gleichsam zum Motor für die Frauenforschung und bedingen deren Perspektivenwechsel von der Einheitsbetroffenheit zur Differenz.
3.
Methoden: eine weibliche Methode wider den Androzentrismus in der Wissenschaft?
Biographische Zugänge in der Frauenforschung haben nicht nur die Konstituierung von Frauenforschung und Geschlechterforschung vorangetrieben, sondern in wissenschaftshistorischer Perspektive auch das androzentrisch geprägte Wissenschafts- und Weltbild deutlich kritisiert. Die Postulate der Frauenforschung hatten in bezug auf inhaltliche wie methodologische Fragen Abgrenzung von den Weberschen Prämissen der Wertfreiheit, Neutralität und Objektivität gefordert. Diese wissenschaftstheoretische Neuorientierung, die nicht zuletzt auch der „Identitätssuche einer ,weiblichen‘ Wissenschaft“ und damit verbunden der „Abgrenzung gegenüber quantifizierenden Methoden“ geschuldet war (Ostner 1987, S. 106), forderte methodische Konsequenzen und warf die Frage auf, ob es eine spezifisch weibliche Methode gebe (vgl. Müller 1984; Sturm 1994). Die Diskussion zu diesem Punkt verlief kontrovers; inzwischen hat sich offenkundig die Ansicht durchgesetzt, dass es „keinen spezifisch feministischen Weg zur Erkenntnis“ (Gerhard 1993, S. 15) gibt, sondern nur Affinitäten zu bestimmten Methoden, und hier besonders zur interpretativen Sozialforschung, wie sie sich auch in biographischen Zugängen zeigt2 In ihren Anfängen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre war die methodologische Debatte in der Frauenforschung von der Annahme geprägt, dass die weibliche Stimme „qualitativ“ und nicht quantitativ sei (vgl. Müller 1994, S. 34; Abels 1997, S. 134). So zeigte sich in den Postulaten von Maria Mies im Zusammenhang mit der Betroffenheit eine besondere Betonung der qualitativen Forschung3 und dies nicht nur wegen der biographischen Komponente: Qualitative Methoden könnten, Mies zufolge, trotz „ideologischer Verzerrungen nicht in der Weise von lebendigen gesellschaftlichen Zusammenhängen abstrahieren oder diese Zusammenhänge sezieren, wie es die quantitativen Methoden tun müssen. Aus diesem Grunde, nicht weil sie herrschaftsfreier wären, halte ich sie für brauchbarer in der Frauenforschung.“ (Mies 1984, S. 184) Lebendige und ganzheitliche Zusammenhänge blieben erhalten, und schließlich seien „weiche“ Methoden Frauen insgesamt angemessener, kommunikativer, empathieträchtiger. Diese Position schien in gewisser Weise die alten Geschlechtsrollencharaktere zu aktualisieren, wobei die den Frauen zugeschriebenen Eigenschaften nunmehr auch auf die von ihnen angewandten (oder anzuwendenden) Methoden übertragen wurden. Die Geschlechterstereotypen der bürgerlichen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts wurden hier nicht kritisch hinterfragt, sondern für eine spezifisch weibliche Methode aufgegriffen: den Frauen das Ganzheitliche statt des Zerstückelten, das Weiche statt der aus harter Auseinandersetzung gewonnenen Analyse, das Aufnehmende ganzheitlich und prozesshaft gelebter Lebensgeschichten statt gezielter Fragen zu einzelnen Lebensabschnitten und deren phasenhafter Aufgliederung. Damit wurde über die Gleichsetzung von tradierter Geschlechtsrolle und weiblicher Methode die Methode der Frauenforschung an der Vorstellung vom „weiblichen Wesen“ orientiert.4 Ganzheitlichkeit, Prozesshaftigkeit und Subjektivität (vgl. auch Dausien 1994, S.
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131f.), verbunden durch die Kategorie der gemeinsamen Betroffenheit von Forscherinnen und Erforschten, wurden zu Leitbegriffen für inhaltliche wie methodologische Fragestellungen. Die Frage war jedoch, ob mit dieser Ineinssetzung von Gegenstand und Methode, möglicherweise sogar noch der Forscherin, auch eine spezifisch weibliche Methode als Methode der Frauenforschung begründet werden konnte. Zunächst einmal wurde der „Suchprozess“5 nach Methoden der Frauenforschung als einer sich neu konstituierenden Wissenschaftsrichtung auf biographische Zugänge gelenkt. „Sie erschienen geradezu als Königsweg ,weiblicher Wissenschaft‘„; in ihnen bündelten „sich wesentliche Aspekte eines methodologischen Gegenentwurfs“ (Dausien 1994, S. 131) zu der als männlich apostrophierten Wissenschaft. Mit dieser Betonung gewann – bei aller Kritik – die im Kontext der Entstehung der Frauenforschung hervorgehobene Kategorie der „Betroffenheit“ erneut Bedeutung: Sinnverstehende Analysen in qualitativen Forschungskontexten können nur dann „,allgemein anerkennbare‘ Bestimmungen hervorbringen, wenn es der Beobachterin gelingt, in die untersuchte Lebensform ,einzutauchen‘“ (Wohlrab-Sahr 1993, S. 129; vgl. Giddens 1984). Empathie und ein gewisses Vorverständnis, Elemente, nicht zuletzt auch durch „Betroffenheit“ entstanden, sind in der qualitativen Sozialforschung sowohl für die Materialgenerierung als auch für die Interpretation von Bedeutung. Problematisch wird es jedoch, wenn sie zu einer undistanzierten Identifikation zwischen Forscherin und Beforschter verkommen, wie es anhand der Postulate von Maria Mies zuweilen nahelag und Wohlrab-Sahr zufolge noch heute an den „Altlasten“ der Mies’schen Postulate zu erkennen ist.6 Diese Schwierigkeit wurde in der Frauenforschung gesehen und wird immer wieder diskutiert (zur Auseinandersetzung vgl. u.a. Zentraleinrichtung 1984; Ostner 1987, Müller 1994). So wurde die Gleichsetzung zwischen dem vermeintlichen Wesen der Frau und den von ihr angewandten Methoden einer deutlichen Kritik unterzogen, und ungeachtet aller Androzentrismuskritik schlossen sich keineswegs alle Frauenforscherinnen der Ablehnung der als androzentrisch eingestuften quantitativen Methoden an (vgl. u.a. Pross 1984; Ostner 1987; Bock 1983). Vor allem aber verlief Frauenforschung im praktischen Forschungsvoll–zug anders: Arbeiten wurden dann quantitativ ausgerichtet, wenn es dem Gegenstand angemessen war, so etwa in der feministischen Bildungsforschung oder in bezug auf Frauenförderung7, und die Unterschiede zwischen „Zählen und Nichtzählen“ wurden als eine Frage des Abstraktionsgrades interpretiert. Ungeachtet dessen aber ist die Diskussion um quantitative oder qualitative Verfahren weiterhin „verknüpft mit oder gar überlagert von ideologischen Zuschreibungen oder gar Vereinnahmungen“ (Sturm 1994, S. 85; vgl. auch Wohlrab-Sahr 1993). Dennoch bleibt festzuhalten: Bei aller Methodenvielfalt, die heute die Frauen- und Geschlechterforschung prägt, werden – gleichsam aus forschungsethischer oder essentialistischer Perspektive – bei qualitativen, und somit häufig biographischen, Zugängen die größten Chancen für die Untersuchung weiblicher Lebenswelten gesehen (vgl. Müller 1994, S. 34). Und selbst wenn diese Perspektive nicht in verabsolutierender Weise vertreten wird (vgl. ebd., S. 37ff.), haben die jahrelang in der Theorie behaupteten und in der Forschungspraxis umgesetzten Bezüge zwischen Frauenforschung und Biographieforschung Auswirkungen auf Forschungsarbeiten gezeitigt und Ergebnisse hervorgebracht, die am qualitativen Paradigma orientiert waren. Biographische Zugänge haben damit bedingt durch die Genese der Frauenforschung einen deutlichen Einfluss auf ihre Arbeiten gehabt. Inwiefern auch umgekehrt Frauenforschung Einfluss auf Biographieforschung genommen hat oder nehmen sollte, ist Thema der folgenden Abschnitte.
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4.
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Bezüge: Frauenforschung in ihrer Bedeutung für Biographieforschung
Bisher ist die Affinität zwischen Frauenforschung und Biographieforschung aus der Sicht der Frauenforschung nachgezeichnet worden, die das biographische Paradigma aufgegriffen hat. Wie aber sieht die Beziehung zwischen den beiden Richtungen aus der Sicht der Biographieforschung aus? Sie ist wohl kaum als ein Wissenschaftszugang zu bezeichnen, der per se aus seiner Geschichte heraus Affinitäten zu weiblichen Fragestellungen hätte. Weder die Chicagoer Soziologie der zwanziger Jahre, die mit biographischen Paradigmen arbeitete, noch die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die im Anschluss an Dilthey Lebens- und Fallgeschichten einbezog, hatten die Geschlechterproblematik auch nur wahrgenommen. Die in den siebziger Jahren neu entstehende Frauenforschung, die sich gegenüber bisherigen androzentrischen Methoden abgrenzen wollte, war damit bei ihrer Suche nach Methoden zur Erforschung weiblicher Lebenswelten mit dem Rekurs auf die Biographieforschung in Bereiche geraten, die im Kontext männlicher Wissenschaft entstanden waren. Nun stand aber die Frauenforschung mit ihrer Suche nach alternativen Konzepten für die Wissenschaft zu Beginn der siebziger Jahre keineswegs allein; die feministische Methodensuche fiel mit einer generellen Kritik an der Vorrangstellung quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung zusammen. Soziologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaft, teilweise auch die Psychologie, entdeckten – möglicherweise bereits unter dem Einfluss eines sich anbahnenden Individualisierungsschubes (vgl. Krüger 1995, S. 34) – ihre Forschungsgegenstände als Menschen, die in ihrer Subjekthaftigkeit, Ganzheitlichkeit und Historizität hinter Abstraktionen oder Statistiken der vorherrschenden Wissenschaftsproduktion verborgen geblieben waren und nun wieder sichtbar gemacht, als Subjekte mit ihren spezifischen Erfahrungen wahrgenommen werden sollten: Bei den Historikern stand die Betonung der Alltagsgeschichte und damit verbunden die „Sicht von unten“ (Niethammer 1984) für diese Wende; bei den Pädagogen wurde der Blick auf Bildungsschicksale von Kindern und Erwachsenen, ihre (individuellen) Lerngeschichten und Sozialisationsbedingungen gelenkt (vgl. u.a. Hardach/Hardach-Pinke 1978; Hardach-Pinke 1981; Baacke/Schulze 1979; Behnken/du Bois-Reymond 1991; Cloer u.a. 1991)8, und in der Frauenforschung ging es um die Erforschung weiblicher Lebensgeschichten und -welten. Bei der Suche nach einer der Subjekthaftigkeit von Individuen angemessenen Methode bot die Biographieforschung mit ihren qualitativen Methoden ein geeignetes Paradigma für Sozialwissenschaften, für Frauenforschung ebenso wie für Geschichtswissenschaft, Pädagogik und Soziologie. Biographieforschung galt – ungeachtet ihrer männlich konnotierten Disziplingeschichte – als Alternative zu quantifizierenden oder abstrahierenden Zugängen. Biographische Verläufe stellten keine abstrakten allgemeingültigen Konstrukte dar, sondern waren an gesellschaftliche Bedingungen und jeweils vorherrschende geschlechtsspezifische Rollenerwartungen gebunden. Im Rahmen dieser Überlegungen entwickelte sich eine weitere Beziehung zwischen Frauenforschung und Biographieforschung: Frauenforschung verstand und versteht Biographie als geschlechtsgebundenes Konzept und erhebt auf dieser Grundlage die Forderung nach einer „feministischen Biographieforschung“ (vgl. u.a. Dausien 1994, S. 136ff.). Frauenforschung übernimmt damit nicht nur Zugangsweisen der Biographieforschung, sondern bemüht sich zugleich, Biographieforschung um eine geschlechtsbezogene Perspektive zu erweitern. Das hat Folgen: Wo bisher die Orientierung an männlichen Lebensläufen die normativen Erwartungen bestimmten, soll der Blick auf die spezifischen Lebenswelten von Frau-
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en gelenkt werden. So kann aus feministischer Sicht das klassische bürgerliche Bildungsmodell nicht mehr als allgemeingültig gelten, sondern muss in seiner geschlechtsspezifischen Gebundenheit gesehen werden. Wilhelm Meisters Bildungsgang, in der Geschichte der Pädagogik immer wieder als prototypisch für allgemeine Menschenbildung herausgestellt (vgl. u.a. Henningsen 1981, S. 11ff.), muss als männlicher, nicht etwa allgemeiner Bildungsgang interpretiert werden. So oft Wilhelms Weg in seiner Gradlinigkeit auch unterbrochen wird durch die Suche nach Selbstfindung, seine Umwege, Irrwege und Verarbeitungsmuster waren die eines männlichen bürgerlichen Helden, der letztlich zu sich findet; nicht vergleichbar mit Brüchen und Diskontinuitäten in weiblichen Lebensgeschichten. Lebensgeschichten von Frauen – ein derart beispielgebender Bildungsgang, wie er mit Goethes Wilhelm Meister in der Literatur vorgelegt worden ist, existiert in weiblicher Ausprägung erst gar nicht – verweisen stattdessen auf Verhinderungen und Verdrängungen, auf Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen zwischen angestrebter Selbstfindung und vorgegebenen Rollenerwartungen (vgl. Kraul 1991). Die Fokussierung auf männliche bürgerliche Biographien hatte sich in der Folge geisteswissenschaftlicher Pädagogik auch in der pädagogischen Theoriebildung niedergeschlagen. Eduard Sprangers Untersuchung zum Seelenleben Jugendlicher war ebenso an männlichen Jugendlichen orientiert (vgl. Spranger 1924) wie Bertleins Untersuchung knapp vierzig Jahre später (vgl. Bertlein 1960). Die ersten Erweiterungen dieses männlichen, weitgehend bürgerlichen Lebenslaufkonzepts entstanden im Umkreis der Kritischen Theorie, betrafen aber vorerst nur die schichtenspezifische Komponente und verlangten nach der Ergänzung bürgerlicher Lebensläufe durch Arbeiterbiographien (vgl. Emmerich 1974, 1975; Deppe 1982). Der männliche Blick blieb davon zunächst noch unberührt, ja noch Martin Kohlis These von der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Kohli 1985) ist an einem Modell von Normalbiographie orientiert, das von einer kontinuierlichen Aufschichtung von Erfahrungen und einer gradlinigen Beziehung von Vergangenheit über Gegenwart zur Zukunft ausgeht. Die Realität von Frauenbiographien wurde damit nicht hinreichend berücksichtigt. Erst die Frauenforschung, die die Lebenswelt von Frauen in den Mittelpunkt stellte, deckte diese männliche Verengung auf.9 In biographischen Untersuchungen aus dem Umkreis der Frauenforschung10 standen zunächst weibliche Lebensläufe aus verschiedenen Zeiten im Vordergrund. Anliegen dieser Arbeiten war es, Frauen in ihren Lebenswelten zum Gegenstand eines allgemeinen Interesses zu machen, durch die Darstellung des Einzelschicksals, in das weibliche Lebensverhältnisse eingehen, ein Allgemeines herauszuarbeiten: Behinderungen und Benachteiligungen von Frauen in ihrer Sozialisation, Einschränkungen ihrer Bildungswege wie Verdrängungen aus öffentlicher Existenz. Verschiedene Themenkomplexe wurden aufgegriffen: schichtenspezifische Gebundenheiten und Bildungsmöglichkeiten von Frauen (vgl. Kleinau/Mayer Bd. 2, 1996, S. 176ff.; vgl. Kraul 1989) ebenso wie die Frage nach der Körperlichkeit von Frauen (vgl. u.a. Rose 1989). Darüber hinaus wurden (und werden) Frauen in ihrer Zugehörigkeit zu einzelnen Berufsgruppen untersucht: Studentinnen (vgl. Friebertshäuser 1992), Lehrerinnen (vgl. Clephas-Möcker/Krallmann 1988; Flaake 1989; Forberg 1997), Gemeindereferentinnen (vgl. Hoff 1997), Schulleiterinnen (vgl. Winterhager-Schmid 1997), Wissenschaftlerinnen (vgl. Macha 1994), um nur einige Gruppen zu nennen.11 Ihre Karriereorientierungen wie ihre Lerngeschichten, ihre Einstellungen zu Macht und Einfluss, ihre familialen Bindungen wie ihre Verarbeitungs- und Deutungsmuster bestimmen die Fragestellungen. Die Verquickung von Lebensgeschichte und beruflichem Handeln bildet den Focus dieser Analysen. Die Basis liefern Autobiographien12 wie biographische Materialien, etwa
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narrative Interviews, die mit Methoden empirischer Sozialforschung von der ForscherIn zu generieren sind. Frauenforschung und Biographieforschung tragen hier gemeinsam zur Entwicklung des Professionalisierungsbegriffs bei. Insgesamt, so lässt sich resümieren, hat die Sichtbarmachung weiblicher Lebensentwürfe und -geschichten die Biographieforschung geschlechtsspezifisch differenziert und damit neue Zugänge zur Analyse von Lebensläufen eröffnet.
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Ausblick: geschlechterbezogene Biographieforschung – ein Programm
Neben der Erweiterung der Biographieforschung durch einzelne geschlechterbewusste Studien geht es auf einer theoretischen Ebene darum, „Merkmale von Frauenleben“ zu benennen, die für eine „Theorie weiblicher Biographiekonstruktion“ einschlägig sind. Bettina Dausien unternimmt diesen Versuch: Zunächst benennt sie die von Becker-Schmidt herausgearbeitete „doppelte Vergesellschaftung“ der Frau, die in patriarchal-kapitalistischen Gesellschaften „sowohl die äußere Struktur des Lebensablaufs als auch die subjektive biographische Binnensicht prägt“; als deren Folge werden Diskontinuitäten und Brüche, Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten vorgestellt, und an dritter Stelle geht sie im Anschluss an Belenky auf weibliche Identitätskonzepte ein, die sie an Beziehungsorientierung und sozialer Vernetzung, weniger dagegen an abgegrenzter Autonomie ausgerichtet sieht (vgl. Dausien 1994, S. 137f.). Auf der Basis dieser Überlegungen entwickelt sie ein „forschungsmethodologisches Konzept“, das auf der Basis der „Grounded Theory“ (vgl. Glaser-Strauss 1967), unter Einbeziehung bisheriger empirisch fundierter Theorien, vor allem unter Bezug auf die Subjektivität der Frau weibliche Konstruktionsmuster von Biographie entdecken soll. Regina Becker-Schmidt führt einen solchen Ansatz näher aus. Grundlage sind ihre empirischen Forschungsarbeiten, die sich mit weiblichen Lebensläufen in verschiedenen Kontexten beschäftigen.13 Insbesondere zwei Momente stellt sie als typisch für weibliche Lebensläufe heraus: zum einen die schon erwähnten „diskontinuierliche[n] Zeitstrukturen“, zum anderen die Bezogenheit weiblicher Lebensläufe „auf die Formbestimmtheit unserer Gesellschaft“. Daraus ergeben sich für sie Komplexe und Fragestellungen, die konstitutiv für moderne weibliche Biographien sind: die Rolle sozialpsychologischer und gesellschaftlicher Konflikte bei Umorientierungen, Umwegen und Brüchen; die Suche nach einer Begründung für „Ungleichzeitigkeiten in der Lebensplanung und Achronizitäten in der Konfliktbewältigung“ und die Frage nach Blockierungen bei Entscheidungen, bzw. Gründen für eine spätere Wiederaufnahme und Lösung eines Problems (Becker-Schmidt 1994, S. 159). Aus einer Fallbeschreibung arbeitet sie zwei Modalitäten im Umgang mit Umorientierungen und Verdrängungen heraus, die sie in Anlehnung an die Freudsche Psychoanalyse interpretiert: die „Nachträglichkeit in Entscheidungsprozessen und die Umschrift von Erinnerungen und Wünschen“ (ebd., S. 172). Mit dem Konzept der ,Nachträglichkeit‘“, verstanden als „Umgangsweise mit emotionaler und kognitiver Dissonanz“ und als „lebensgeschichtlich später erfolgende Synthetisierungsleistung“, wie dem Konzept der ,Umschriften‘“, unbewusster psychischer Operationen, die Umstrukturierungen bei der Erinnerungsarbeit vornehmen oder Wunschphantasien latent halten (ebd., S. 174), erweitert sie das vorrangig an männlichem Erwerbsleben orientierte linear und chronologisch ausgerichtete Lebenslaufkonzept. Ursachen für diese umweghafte und ambivalente Gestaltung weiblicher Lebensgeschichten sieht Becker-Schmidt in der Widersprüch-
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lichkeit weiblicher Arbeitsfelder: der auf Tauschbeziehungen beruhenden Haus- und Familienarbeit und der gleichzeitigen Einbindung in einen an Rationalität und Zweck-NutzenKalkülen orientierten Produktions- und Erwerbsektor. Ein solches erweitertes Modell, entwickelt an weiblichen Biographien, ist in erster Linie – gleichsam als komplementäre Ergänzung – für die Interpretation und Erhebung weiblicher Biographien von Bedeutung. Aber darauf bleibt der Nutzen dieser Differenzierung nicht beschränkt: Wenn sich Geschlechtlichkeit – wie im konstruktivistischen Ansatz behauptet – in sozialen Handlungen konstituiert und damit Geschlechterstereotype nicht nur hinterfragt, sondern auch dekodiert werden können, ist es für die Biographieforschung notwendig, Erhebungs- und Analyseinstrumente zur Verfügung zu haben, die nicht an einem männlichen „Normallebenslauf“ orientiert sind, sondern auch verschiedene Facetten weiblicher Biographien einbeziehen. Frauenforschung kann und soll die herkömmliche Biographieforschung mit ihrem weitgehend linearen Modell der Institutionalisierung um solche Varianten erweitern, die aus der Erforschung weiblicher Lebensgeschichten gewonnen werden, etwa die Einbeziehung von Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen. Hier liegt der Gewinn, den die Biographieforschung der Frauenforschung zu verdanken hat.
Anmerkungen *
Für Vorarbeiten und Diskussionen danke ich Herrn cand.paed. Andreas Auferoth und Frau cand.theol. Christiane Müller.
1
Mit der Problematik der in diesem Forschungsansatz geforderten „Gleichheit“ zwischen Forscherin und Erforschter setzt sich u.a. Ursula Müller auseinander (vgl. Müller 1994, S. 46ff.). Dabei beruft sie sich auf Patricia Maguire: „Doing Participatory Research“. A Feminist Approach. The Center for International Education School of Erducation. University of Massuchessetts, Armherst 1987. Darüber hinaus proklamierte Ursula Müller in den achtziger Jahren auch eine Orientierung an der Aktionsforschung (vgl. Müller 1984). In der Diskussion, die 1984 um Maria Mies’ Postulate geführt wurde, verwahrt Mies sich allerdings gegen eine Engführung auf die Kontroverse qualitativ vs. quantitativ (vgl. Mies 1984, S. 180f.; Müller 1994, S. 32). Verstärkt wurde diese Gleichsetzung zum einen durch die erkenntnistheoretische Wissenschaftskritik von Evelyn Fox Keller, die das Paradigma des positivistischen Empirismus an traditonell männlich sozialisierte Wissenschaftler band, zum anderen durch das Sozialisationsmodell Nancy Chodorows, das Männer als autonom, abgrenzend, distanzierend und kontrollierend beschrieb und ihnen damit jene Ausprägungen zuwies, die mit den Werten eines positivistisch-quantitativen Wissenschaftszugang korrelierten (vgl. Fox Keller 1986; Chodorow 1985; Müller 1994, S. 33; Kraul 1995). Die Tatsache, dass Frauenforschung sich in einem methodischen Suchprozeß befindet, führen Regina Becker-Schmidt u.a. darauf zurück, daß Frauenforschung zunächst „ihren Gegenstand substantiell noch gar nicht“ hat und auch Frauengeschichte ihren Gegenstand erst einmal konstituieren muß (Bekker-Schmidt 1984, S. 232; vgl. Dausien 1994, S. 130f.). Monika Wohlrab-Sahr meint nach wie vor „Formen der Entdifferenzierung (...), des Verschwimmens der Grenzen zwischen Forscherin und Untersuchungsgegenstand sowie zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln“ erkennen zu können und belegt, dass „dies seinen Niederschlag auch im methodischen Zugang findet.“ (Wohlrab-Sahr 1993, S. 128) Shulamit Reinharz weist nach, dass es keine Methode gibt, die nicht auch Frauenforscherinnen schon angewandt haben (vgl. Reinharz, Shulamit/Davidman, Lynn (Hrsg.): Feminists Methods in Social Research. New York 1992, nach Krüger 1994, S. 75). In der Pädagogik hat jedoch neben der geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit deutlicher Textausrichtung und einer quantitativen Orientierung nach der sog. realistischen Wende auch immer die Tra-
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Margret Kraul dition der biographisch ausgerichteten pädagogischen Forschung bestanden (vgl. Loch 1979; Henningsen 1981). Regina Becker-Schmidt verweist allerdings darauf, dass diskontinuierliche Entwicklungsprozesse auch in Jo Reichertz’ Auseinandersetzung mit Oevermanns Version der objektiven Hermeneutik aufgegriffen werden (Becker-Schmidt 1994, S. 173). Die Beispiele sind vorwiegend auf die pädagogische Frauenforschung bezogen. Einen Überblick über die große Anzahl einschlägiger Arbeiten geben die Bibliographien zu „Frauen im pädagogischen Diskurs“ (1989 und 1994) wie die „Magdeburger Bibliographie zur Biographieforschung“ (21996). Die steigende Anzahl von Autobiographien, die geschrieben werden und auf den Markt kommen, können als Indiz dafür gewertet werden, dass sich Frauen ihrer selbst durch ihre Biographie vergewissern wollen. Sammlungen unveröffentlichter biographischer Materialien, z.B. im Kempowski-Archiv, zeigen, welche Wertschätzung diese Quellen in der öffentlichen Diskussion erfahren. Beckers-Schmidts Material umfasst biographische Interviews mit lohnabhängig arbeitenden Müttern, ehemaligen Akkordarbeiterinnen, die die Fabrikarbeit nach der Geburt von Kindern aufgegeben haben, und Wissenschaftlerinnen. Der übergreifende gesellschaftliche Kontext ist das Vor- und Nachkriegsdeutschland (vgl. Becker-Schmidt 1994, S. 158f.).
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Biographieforschung und interkulturelle Pädagogik Ursula Apitzsch
Inhalt 1. Zur Geschichte interkultureller Biographieforschung 2. Forschungsgegenstände: Exemplarische Zugänge 3. Grundbegriffe und theoretische Bezüge 4. Bilanz und Ausblick Literatur
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1. Zur Geschichte interkultureller Biographieforschung Sozialwissenschaftliche Biographieforschung ist seit ihren Anfängen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf die Erforschung der Konstitution interkultureller menschlicher Lebenszusammenhänge gerichtet. In der berühmten Studie von Thomas und Znaniecki über „The Polish Peasant in Europe and America“, die während des 2. Weltkriegs in Chicago entstand und in den USA erstmals 1918 erschien, wurde Biographieforschung als eine innovative sozialwissenschaftliche Methode entwickelt, die sich zum Ziel genommen hatte, schwer erklärbare migrationsspezifische soziale Phänomene als etwas qualitativ Neues gegenüber der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft zu erklären. So ist einer der ganz praktischen sozialpolitischen Anstöße (vgl. Fischer-Rosenthal 1989) für die Studie über polnische bäuerliche Einwanderer in der dramatisch wachsenden Industriestadt im Norden der USA die Tatsache, dass amerikanische Sozialarbeiter den Verfall der polnischen Migrantenfamilie feststellen, aber mit herkömmlichen Mitteln der Sozialarbeit nicht aufhalten konnten. Ziel der biographischen Forschung ist es dabei, die Einwandererkolonie nicht nur als Abbild der „Old World Traits“ zu verstehen, als kulturelle Wurzeln, die man aus der Alten in die Neue Welt hinüber rettet, sondern als etwas Neues, Emergentes, in dem sich unter bestimmten, näher zu erforschenden Bedingungen die neuen interkulturellen Regeln der Einwanderergesellschaft als ein „tertium quid“ herausbilden. (Vgl. Thomas/Znaniecki 1958/1, S. 48-59). Die Idee eines „melting pot“ als Ergebnis des interkulturellen Prozesses, die z.B. Robert Park als bedeutender Forscher der frühen Chicago School vertrat, war nur eine (später häufig kritisierte), jedoch nicht die einzige Konsequenz der frühen interkulturellen biographischen Forschungen in Chicago. Nicht abstrakte neue Werte, sondern gerade die individuelle Biographie gilt Thomas und Znaniecki als das am besten geeignete soziologische Material, um die unterschiedlichen möglichen Beziehungen zwischen individueller Lebensgestaltung und sozialer Organisation als jeweils individuelle Leistung zu würdigen. Diese Leistung sei zugleich der Verallgemeinerung fähig. Zwar sei theoretisch eine unendlich große Zahl der Kombination von objektiven und subjektiven Erfordernissen denkbar, empirisch aber müsse man davon ausgehen, dass es im Handeln historischer Menschen immer „typical lines of genesis“ und somit „a certain similarity from individual to individual“ gebe (Thomas/Znaniecki 1958/I, S. 1838). Im interkulturellen Zusammentreffen der Strukturen der Aufnahmegesellschaft mit den sozialen Aktivitäten der Individuen treten diese in den individuellen Biographien rekonstruierbaren genetischen Strukturen an die Stelle des Gesetzesbegriffes nomologischer Wissenschaften. Die einzelne Biographie wird zum „perfect type of sociological material“ (ebd. S. 1832). Der einzelne Fall, die einzelne Lebensgeschichte wird zum perfekten sozialwissenschaftlichen „Typus“ erklärt (vgl. Kohli 1981). Das Ziel der Forschung ist eine „synthetische Charakterisierung“, d.h. der Nachweis, dass hypothetische Konstruktionen von Lebensverläufen tatsächlich in bestimmten individuellen Lebensgeschichten realisiert oder widerlegt wurden. Eine Lebensgeschichte, die „construction of life organization“ (Thomas/Znaniecki 1958/I, S. 1871) ist um so mehr biographischer Typus, je deutlicher sie Einblick in die Konstruktionsprinzipien der Lebensorganisation gewährt, je mehr also Biographie als nicht nur sozial determiniert, sondern auch als „Schöpfungsakt“, als „Werk“ erkennbar wird. Die pädagogische Intention der frühen Chicago School zielt gerade nicht darauf ab, Einwanderer in das Normengefüge ihrer Herkunftskultur einzuschließen, sondern eine soziale Praxis zu entwickeln, in der traditionelle Kulturen ebenso wie fossilierte traditionale Bestände der Aufnahmegesellschaft zu kritisieren sind und schließlich neue Entwicklungs-
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ansätze für die Lösung sozialer Probleme in der Aufnahmegesellschaft sichtbar werden. Im Vordergrund dieser sozialwissenschaftlichen Forschung stehen Bevölkerungsgruppen, die um einen Platz in der Gesellschaft ringen. Gerade der Fremde, der Außenstehende wird zu einem „neuen Persönlichkeitstypus“, der, entlassen aus den traditionellen Bindungen, zum Träger kulturellen Wandels, zur Verkörperung moderner Subjektivität wird ... Die Krisenerfahrung der marginalen Situation, die zur Auflösung der Gewohnheiten, des ,cake of custom‘ ... führt, hat eine befreiende Wirkung auf das Individuum, das die Hemmungen konventioneller Denkweisen zu überwinden vermag“ (Park zit. n. Lindner 1990, S. 212).
2. Forschungsgegenstände: Exemplarische Zugänge Sozialwissenschaftliche Biographieforschung in Deutschland hat sich seit ihren Anfängen in der 1920er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (Uhlig 1936; Bernfeld 1931) dem Problem des Interkulturellen bis heute kaum unter dem Aspekt von Migrationsprozessen, sondern unter dem Aspekt unterschiedlicher sozialer Habitus und Lebensstile zugewendet. Auch der Band „Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“ (Krüger/Marotzki 1995), der als eine erste große Bestandsaufnahme erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung in der Bundesrepublik gelten kann, gibt nur den Hinweis auf ein bestehendes Defizit: „Trotz eines angesichts der Internationalisierung von Lebenslagen und Lebensläufen steigenden Bedarfs ... steckt die kulturvergleichende Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft noch in den Kinderschuhen.“ (Krüger 1995, S. 49) Biographieforschung wird zunächst nicht als besonderer theoretischer Ansatz, sondern als spezifische empirische Methode thematisiert. Die Verwendung der sogenannten „biographischen Methode“ beschränkt sich zunächst auf Angebote der Sozialpädagogik und der Erwachsenenbildung, sie spart zunächst den Schulbereich aus, da es schwierig erscheint, kompensatorische Lernangebote oder Mittler- und Expertenfunktionen aus lebensweltlichen Entwürfen von Schulkindern zu entwickeln.
2.1. Erwachsenenbildung Sylvia Kade legte 1981 eine der ersten konzeptionellen Überlegungen zur Interkulturellen Pädagogik vor. Sie versuchte dabei, den Ansatz „stellvertretender Deutung“ (E. Schmitz 1989) in die Migrationspädagogik zu übertragen. Der kompensatorische Ansatz „stellvertretender Deutung“ geht von beschädigten oder unvollendeten Sozialisationsverläufen und daraus erwachsenden Bindungsdefiziten von Jugendlichen und Erwachsenen aus. Diese sollen teilnehmerorientiert aus individuellen Biographien ermittelt werden. Die Leistung biographischen Lernens wird dabei in der Wiedergewinnung einer verloren gegangenen Orientierungsfunktion der Biographie gesehen. In der identifikatorischen Teilhabe an erzählten Lebensgeschichten sollen in Lerngruppen alternative Handlungsmöglichkeiten sowie immanente Handlungsperspektiven und Handlungsentwürfe für die Zukunft entwickelt werden (vgl. Kade 1981, S. 106ff.). Einbezogen werden dabei verschiedene Vorschläge autobiographischen Lernens, die autobiographische Texte von einem „kritischen Ereignis“, einer generativen Thematik her erschließen (vgl. Baacke/Schulze 1979, S. 22). Die Übertragung dieses kompensatorischen Deutungsansatzes in eine Interkulturelle Pädagogik setzt
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allerdings biographische Normalitätsstandards voraus, die für Migrationsbiographien nicht selbstverständlich sind. Kompensatorische stellvertretende Deutung erscheint also gerade in der Arbeit mit Migrantenbiographien als außerordentlich riskant, zumal wenn – wie dies in vielen staatlichen Modellversuchen der Fall ist – der Kontext der Gruppenzusammensetzung als äußere Zuschreibung empfunden wird. Möglicherweise ist dies einer der Gründe dafür, dass trotz der besonderen Attraktivität des „Biographical Approach“ für die europäische Erwachsenenbildung (vgl. Alheit u.a 1995) das Feld interkultureller Forschung in der Folge dabei kaum integriert wurde. Ausnahmen bilden die dezidiert biographieorientierten Arbeiten von Apitzsch und Seitter (siehe im Folgenden unter 3.) sowie die von Kokemohr und Koller (1996) angeregten Interaktionsanalysen zwischen einem afrikanischen Doktoranden und seinem deutschen Gesprächspartner, welche u.a. die Rekonstruktion der biographischen Arbeit thematisieren, durch die unterschiedliche kulturelle Elemente und Milieus reflexsiv integriert werden (vgl. Inowlocki 1996).
2.2. Sozialarbeit Dem kompensatorischen Ansatz verpflichtet ist die 1986 von Rita Rosen vorgelegte biographische Untersuchung zur Lebenssituation türkischer Frauen in der Bundesrepublik. Im Anschluss an Baacke (1983) schlägt sie die Interpretation biographischen Materials in Form eines Dreischrittes vor, der das nachvollziehende Verstehen, das analytische Verstehen und das entwerfende Verstehen beinhaltet. Es handelt sich dabei um ein Interpretationsverfahren, „das erkennen will, wie weit und in welcher Form dem Menschen Unterstützungsmöglichkeiten in seiner Lebensführung angeboten werden können“ (Rosen 1986, S. 135). Interpretationen des Materials werden nach Leitlinien vorgenommen, die a) aus Kenntnissen über die weibliche „Normalbiographie“, b) soziologischem Kontextwissen über den soziokulturellen Hintergrund der türkischen Gesellschaft, c) Erklärungsansätzen der Migrationsforschung und schließlich d) aus Kenntnissen über die spezifische Lebenssituation von Frauen „im Kontext einer feministischen Wissenschaft“ stammen (Rosen ebd.). Ziel der Interkulturellen Pädagogik ist die Hinführung zur „individuellen und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit“ (vgl. Akpinar/Lopéz-Blasco/Vink 1977, S. 74), ein Integrationskonzept, welches von der Notwendigkeit der Veränderung der einheimischen sowohl als auch der Einwandererkulturen ausgeht und schließlich die Veränderung im Verhalten von und zwischen Ausländern und Deutschen anstrebt (vgl. Rosen 1986, S. 235). In der praktischen interkulturellen Bildungsarbeit soll die Verwendung biographischer Beispiele dazu dienen, dass die „Teilnehmerinnen durch Aufarbeitung familiärer, sozialer und sozio-kultureller Probleme dazu befähigt werden sollen, Bildungsdefizite auszugleichen“ (Reichhelm 1982, zit. n. Rosen 1986, S. 242). In deutlicher Absetzung vom kompensatorischen Ansatz entwickelt Helma Lutz in ihrer Arbeit über türkische Sozialarbeiterinnen in den Niederlanden und der BRD 1991 ein Konzept der „Betroffenen als Expertinnen“. Es werden Lebensgeschichten von Migratinnen aufgezeichnet, in denen „Betroffenheit und Expertise miteinander verknüpft“ sind (Lutz 1991, S. 209). Die Praxis dieser betroffenen Expertinnen wird als eine „Collage sozialer Partizipationen“ begriffen (Lutz 1991, S. 211). Das Ergebnis der biographischen Untersuchungen ist ambivalent: „Das Prinzip ,Betroffenheit‘, das im Professionalisierungsdiskurs eine Rolle spielt, ist zweischneidig. Einerseits ist es für die Emanzipation von Minderheiten dringend
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erforderlich, dass Experten dieser Gruppen die Arbeit mit ihren Landsleuten aktiv bestimmen, die Konzepte ausarbeiten und politische Entscheidungen beeinflussen können. Andererseits liegt gerade in der Bindung an die Gruppe ein Aspekt, der die Mittler(inn)en individuell verletzlich macht. ... Die Entwicklung professioneller Distanz ist eher eine individuelle Leistung als ein Bestandteil des erlernbaren sozialtechnischen Handlungsrepertoires. “ (Lutz 1981, S. 267) Dennoch plädiert Lutz letztlich für eine Anerkennung der Mittlerinnen und ihrer Kapazitäten „als ,human resources‘, die einen unersetzbaren Beitrag zur Kommunikationsfähigkeit zwischen verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft leisten.“ (Lutz 1981, S. 269)
2.3. Schule und Familie Das Problem der biographieorientierten Aufarbeitung von Schulerfahrungen der Migrantenkinder löst Lanfranchi (1993) durch Familienanalysen. In Anlehnung an die von Ulrich Oevermann entwickelte objektive Hermeneutik, den ethnographischen Ansatz der Familienuntersuchungen von Hildenbrand (1984) sowie die von Glaser und Strauss entwickelte „Grounded Theory“ geht Lanfranchi anhand von Einzelfallstudien der „gesamthafte(n) Fallstruktur“ den Bedingungen süditalienischer Immigranten in der Schweiz nach. In der von ihm vorgelegten Studie wird Ethnographie „nicht einfach als Analyse erzählter Biographien aufgefasst. Sie wird in den Rahmen außerfamilialer Verwandlungsprozesse gestellt und als Milieustudie lokalisiert“ (Lanfranchi 1993, S. 14). Lanfranchis Studie ist eine der ganz wenigen qualitativ-empirischen Untersuchungen, die die von der Interkulturellen Pädagogik aufgeworfenen Fragen mit Hilfe einer konsistenten Methodik fallrekontruktiv orientierter Forschung zu beantworten versucht. Der Autor kritisiert konsistent sowohl die von Schrader u.a. (1979) anhand des Entkulturationsmodells nach Einreisealter entwickelte Typologie mehr oder weniger defizienter Sozialisationsprozesse von Migrantenkindern, als auch Boos-Nünnings (1976) konträre Typologie von Altersgruppierungen und entsprechenden Integrationschancen von Ausländern der zweiten Generation (vgl. Lanfranchi 1993, S. 55ff.). Er räumt ein, dass die in ihrem methodischen Ansatz modifizierten und qualifizierten longitudinalen Einzelfallstudien von Boos-Nünning und Reich (1981) sowie Ursula Neumann (1980) den Weg vielversprechender Möglichkeiten für neue Erkenntnisse über Immigrantenfamilien eröffnen; durch vorgefasste Kategorienbildung in Leitfäden und Beobachtungsbögen sei jedoch vieles an diesen neuen Möglichkeiten wiederum verbaut worden. Lanfranchi selbst möchte durch leitfadenfreie biographische Interviews und deren an der objektiven Hermeneutik orientierte Rekonstruktion eine solche Engführung vermeiden und stattdessen emergente Strukturen ausfindig machen. Anhand der Einzelfallrekonstruktionen von drei italienischen Familien aus dem Mezzogiorno sollen schließlich im Sinne Soeffners (Soeffner 1989) fallübergreifende Strukturen konstruiert werden (Lanfranchi 1986, S. 74). Die Fallrekontruktionen sollen Strukturgeneralisierungen erlauben, Strukturtransformation und Aktivierung von Ressourcen bzw. umgekehrt auch deren Blockierung sichtbar machen (vgl. ebd. S. 94f.), um so die Schulsituation von Migrantenkindern verbesssern zu helfen. Dabei wird ausdrücklich davon ausgegangen, dass die gleiche soziale Struktur in Immigrantenfamilien unterschiedliche Problemlösungsstrategien hervorbringen kann (ebd. S. 121). Die drei von Lanfranchi dargestellten Familien wurden daher nach den Kriterien ausgewählt, dass sie in den wichtigsten Sozialdaten minimal, beim Faktor Schulerfolg der Kinder hingegen maximal kontrastieren sollten.
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So einleuchtend jedoch die Arbeitshypothese entwickelt wird, Familienstrukturen und die damit gekoppelten Kommunikationsmodi mit der schulischen Welt als latente generative Strukturen für die Schulwirklichkeit der Kinder ausfindig zu machen, so schwierig gestaltet sich dennoch für den Autor das Durchhalten dieser komplexen Fragestellung. Obgleich er überzeugenderweise in Anlehnung an das sozialökologische Modell von Bronfenbrenner (1981) gerade die Übergangsstrukturen von familialer und Schulinteraktion identifizieren möchte und die Schulprobleme der Kinder als „haus- bzw. schulgemacht“ bezeichnet (ebd. 235), wird schulisches Versagen faktisch identifiziert als ausschließliche Folge effizienter bzw. nicht transformativer Familienstrukturen. Auf diese Weise setzt sich auf einer argumentativ wesentlich differenzierteren Ebene als in der Entkulturalisationstheorie doch schließlich wieder eine kulturalistische Typologie durch. Im Anschluss an die von Schuh (1991) behaupteten „schweren Kommunikations- und Kollaborationsdefizite innerhalb der Paarbeziehung“ bei süditalienischen Immigrantenfamilien wird bei Lanfranchi eine Differenzierung anhand der mehr oder weniger gelungenen Modernisierung der traditionalen Strukturen vorgenommen.1
2.4. Jugendarbeit Nicht allzu häufig finden sich in der interkulturellen Jugendforschung dezidiert biographietheoretisch orientierte Forschungen. Vielfach vorgelegt werden hingegen Befragungen ausländischer Jugendlicher, die dann anhand eines am Kulturkonfliktschema orientierten Typisierungsmodells interpretiert werden. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Portera über „Die kulturelle Identität italienischer Jugendlicher in Deutschland“ aus dem Jahre 1985. Portera sieht die italienischen Jugendlichen der zweiten Einwanderergeneration „zwischen zwei Kulturen ständig hin- und hergerissen, zwei stabilen und eindeutigen Kulturen, die aber gegenseitig nicht nur kaum Affinitäten zeigen, sondern auch im ständigen Konflikt sind.“ (Portera 1985, S. 18) Der pädagogische Nutzen einer solchen Typologie wird zum einen in ihrem Aufklärungseffekt gesehen, insofern verdeutlicht werden könne, dass man ausländischen Jugendlichen nicht einfach die deutsche Identität aufzwingen könne (Portera 1988, S 21). Zum anderen wird von Portera und anderen die Typisierung von biographischen Aussagen ausländischer Jugendlicher nach dem Enkulturationsschema zum Anlass der Verteidigung eines pädagogischen Handlungsbedarfs im Sinne der Vermittlung zwischen den Kulturen verstanden. Ein weiteres Beispiel für eine solche Typologie ist Silke Riesners Arbeit über „Junge türkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 1990. Theoretischer Bezugspunkt dieser Untersuchungen ist das am Symbolischen Interaktionismus (insbesondere an Goffman und Krappmann orientierte) Konzept der „Ich-Identität“, welches die Leistung bezeichnet, die das Individuum in seinem Lebenslauf erbringt, indem es sich immer wieder mit neuen sozial definierten Identitäten konfrontiert sieht, die es mit seiner eigenen Individualität auszubalancieren hat. Riesner bedient sich in ihrer Arbeit eines standardisierten Interviewleitfadens, es werden drei Frauen interviewt, die bestimmten deduktiv gewonnenen Typen türkischer Frauen zugeordnet werden: den „türkisch orientierten“ Frauen, den „bikulturell orientierten“ Frauen, den „ausgebrochenen“ Frauen. Es handelt sich um eine Typenbildung, die durch Extrapolation von Kulturcharakteren gewonnen wird, deren Pole die jeweils angenommenen nationalen Besonderheiten sind. Lernbiographien sind danach die Situationsbeschreibungen von Individuen auf ihrem Weg von
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einem der Pole der Wertskala zum anderen. Boos-Nünnig/Yakut hatten 1986 sechs Typen von türkischen Mädchen in der Bundesrepublik unterschieden, die zwischen dem türkischen Kulturpol des „Familienmädchens“ und dem des an der Einwanderungsgesellschaft orientierten „Mädchens mit kleinen Freiheiten“ Abstufungen vornahmen (Boos-Nünning/Yakut 1986, S. 84). Ähnliche Typisierungen werden in einer Broschüre der Hessischen Landesregierung (1988) vorgenommen, in denen erzählte Erfahrungen junger Frauen Material für kategorisierende Überlegungen der Forscherinnen liefern (Schaumann/Haller u.a.1988). Allen diesen Studien ist – z.T. entgegen bekundeten Intentionen – ein subsumierendes Vorgehen eigen, dessen Kategorienbildung unabhängig von fallgenerierenden Strukturen vorgenommen werden. Kritisch gegenüber einer solchen typologischen Subsumtion biographischer Aussagen im Sinne ethnischer Selbstkonstruktionen äußern sich Bukow und Llaryora 1988: Sie werfen z.B. Portera vor, dass eine Modernitätsdifferenzhypothese zwischen der italienischen und der deutschen Kultur entwickelt werde, die im Grunde die Forderung „nach einer zweiten, ergänzenden Kindheit“ nach sich ziehen müsse (Bukow/Llaryora 1988, S. 15). Ablehnend gegenüber dem gängigen kulturalistischen Schema Interkultureller Pädagogik äußert sich auch Franz Hamburger (1988, 1989, 1994). Eine methodisch weiter präzisierte Kritik an der qualitativen pädagogischen Migrationsforschung übt Bommes (1993). Während es jedoch Hamburger mit seiner Argumentation darum geht, transformatorische Potentiale von Pädagogik in der Einwanderungsgesellschaft und den“Aufweis des unverzichtbaren Beitrags der Erziehung zum Umgang mit Migrationsfolgen“ zu erbringen (Hamburger 1994, S. 2), begreift Bommes pädagogische Migrationsforschung als einen ideologischen Funktionszusammenhang: „Migrationsforschung, Ausländerarbeit und pädagogik sind auch die spezifische Antwort auf die Forderung, dem ,Ausländerproblem‘ einen Sinn zu geben, d.h. der Angst vor dem imaginierten Chaos in befürchteten Ghettos eine gedankliche Ordnung gegenüberzustellen.“ Dies habe „auch damit zu tun, dass ganze Gruppen von ausgesperrten Intellektuellen ... hier eine Möglichkeit geboten bekamen, aktuell als solche zu fungieren, sofern sie nur in der Lage waren, den Bedarf ihrer Arbeit im Kontext der politischen Konjunktur einsichtig zu formulieren.“ (Bommes 1993, S. 480f.) In seinen eigenen fallrekonstruktiven Interpretationen biographischer Erzählungen türkischer Jugendlicher identifiziert Bommes folgerichtig das biographische Interview als eine „Praxis, die den Apparaten zugehört, denen die Jugendlichen es zuordnen“ (ebd. S. 471) und die von ihnen lediglich „als Geste der Unterwerfung und Selbstabwertung zurückgespiegelt wird“ (ebd. S. 474). Bommes’ Argumentation kommt – in diametraler Entgegensetzung zu Kulturtypologien – zu einem Ergebnis, das einer defizitorientierten Pädagogik dennoch sehr nahe ist. Da generative Strukturen biographischer Erzählungen mit der Praxis der Apparate in eins gesetzt werden, gibt es kein Entkommen aus den Zwängen, die den Institutionen der Einwanderungsgesellschaft eingeschrieben sind. Die in den Textanalysen beschriebenen Strukturen lassen sich – wie in einer späteren Schrift von Bommes u.a. (Bommes/Dewe/Radtke 1996) folgerichtig weiterentwickelt wird – entsprechend dem Luhmann’schen Professionalisierungsmodell als „nicht hintergehbare“, vom System reproduzierte Lösungen (ebd. S. 135) interpretieren. Pädagogisches Wissen im Sinne der Kenntnis der „Handlungsgrammatik“ der subjektiven Praxis ist nicht nur „nicht erforderlich“ (ebd. S 232), sondern kann als „Theorie-Praxis-Syndrom“, d.h. als „notwendige Fiktion der Organisation von Erziehung“ entlarvt werden (ebd. S. 235). Im Unterschied zu dieser Hypothese der unausweichlichen Reproduktion institutioneller Strukturen im Handeln von Subjekten thematisiert Bohnsack (1998) in seinem Projekt über
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„Adoleszenz und Migration“ die „Neubildung kultureller Lebensformen“ (ebd. S. 261). Gefordert werden dazu „erhöhte Anforderungen an das (methodische kontrollierte) Fremdverstehen“ (ebd. S. 260).
3. Grundbegriffe und theoretische Bezüge Wie die bisherige Darstellung von Forschungsansätzen zeigt, ist „interkulturelle Pädagogik“2 bis heute umstritten (vgl. Apitzsch 1997, S. 254f.). Dabei geht es nicht nur um die Eingrenzung des Begriffs, sondern auch um den kritischen Einwand, dass durch Askription (Zuschreibung) in der „Interkulturellen Pädagogik“ angebliche kulturelle Identitäten überhaupt erst hergestellt würden, die dann anschließend pädagogisch vermittelt werden sollten. Fremdheit werde so nicht abgebaut, sondern entstehe durch die Pädagogisierung ständig neu (Bukow/Llaryora 1988). Auernheimer versucht dagegen die Legitimation der „Interkulturellen Pädagogik“ durch eine tiefenhermeneutische Begründung des Arbeitsbündnisses zu liefern, das durch diese professionalisierte pädagogische Tätigkeit hergestellt werde. Wie in der Ethnopsychoanalyse müsse bei der sozialwissenschaftlichen Analyse der Lage von Minderheiten auf die Problematik der Beziehung zwischen ForscherIn und dem Forschungsgegenstand in der Form der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung Rechnung getragen werden (Auernheimer 1990, S. 34). Mit der Diskussion der „Interkulturellen Pädagogik“ einher geht die zunehmende Kritik an quantitativen Methoden in der Migrationsforschung. „Eine grundlegende Kritik an der Ausländerforschung richtet sich gegen ihren forschungsmethodischen Ansatz, den Forschungsgegenstand, also die ausländische Bevölkerung, ,aus der Distanz, objekthaft und als zu messende Dimension‘ zu betrachten“ (Groth 1984, S. 189). Ähnlich lautende Kritik wurde nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch auf der Ebene europäischer Wissenschaftsinstitutionen geübt. Anfang der achtziger Jahre unternahm die „European Science Foundation“ der Europäischen Gemeinschaft ein Forschungsprojekt über die zweite Emigrantengeneration in Europa, an dem sowohl alle Länder der Europäischen Gemeinschaft als auch die Türkei beteiligt waren. Während die Vertreter der Aufnahmeländer und die ihnen zugehörigen Experten vorherrschend an einer quantitativen Forschung interessiert waren aufgrund der ökonomischen und sozialen Probleme, die das Aufnahmeland betrafen, versuchten die Experten der Abgabeländer, vornehmlich qualitative Methoden durchzusetzen, weil ihnen daran gelegen war, die Subjektivität der Emigranten, ihre kulturelle Erfahrung und ihre eigene Interpretation der durchlaufenen Erfahrungen wissenschaftliche Gestalt gewinnen zu lassen. Das Projekt scheiterte schließlich, weil es sich als nicht möglich erwies, sich auf ein gemeinsames methodologisches Vorgehen zu einigen (vgl. Di Carlo 1987, S. 20). Die Verwendung qualitativer Methoden wirft nun allerdings eigene Probleme auf, wie bereits oben im Zusammenhang der Darstellung einzelner Forschungsprojekte angesprochen wurde. Die Kritik an diesen Methoden wurde in der Bundesrepublik erstmals gebündelt vorgetragen in dem von Hartmut Griese 1984 herausgegebenen Band „Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik“. Einzelne Kritiker gingen so weit, zu behaupten, dass narrative bzw. Intensivinterviews, Biographieund Fallstudien den „gläsernen Ausländer produzieren sollten, um seine Lebenswelt kolonialisieren zu können“ (Brumlik 1984; Griese 1984). Gefordert wurden – wohl auch unter dem Eindruck der Thesen Ivan Illichs (vgl. Illich 1979) – Modelle der Deinstitutionalisie-
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rung und Deprofessionalisierung sowie der Selbstorganisation und Eigenaktivität der ausländischen Gruppen selbst (Griese 1984, S. 54f.). Dieser ausschließlich auf Deprofessionalisierung und Entinstitutionalisierung zielenden Kritik wurde freilich überzeugend mit dem Argument widersprochen, dass es für Intellektuelle, die alle Bildungsprivilegien einer Wohlstandgesellschaft genossen hätten, kein Recht gebe, die individuelle Verwertbarkeit von Bildung für Migranten abzulehnen. Zugleich offenbare sich in der Kritik an professionalisierten Bildungsangeboten für die ausländische Bevölkerung das typische Problem der Selbstüberschätzung der Pädagogik, die von Bildung allein (wenn auch in ihren deinstitutionalisierten Formen) die Emanzipation einer nicht emanzipierten Gesellschaft erwarte (Meisel 1984, S. 169). Kritik an den Analysemethoden der in der qualtitativen Migrationsforschung erhobenen Daten lieferten insbesondere Apitzsch und Bommes. Sie kritisierten u.a. die Typologisierung der Migrationsbiographie nach dem Schema der Konfrontation von sogenannten „traditionalen“ mit sogenannten „modernen“ Kulturen (Apitzsch 1990, 1991) sowie die Vernachlässigung der systematischen Einbeziehung der Erzeugungsbedingungen der Daten (Bommes 1993) und das Anknüpfen der wissenschaftlichen Bezeichnung kultureller Zusammenhänge an die Selbstbeschreibung der Probanden (Bommes 1996). Bommes vertritt die These, dass die so ermittelte polare Typologie von traditionalen und ihnen dichotomisch gegenüberstehenden modernen Kulturen3 von den Probanden auf der Basis ihres detaillierten Sicheinlassens auf die Beobachtungsweise der Forscher selbst erzeugt werde (vgl. Bommes 1994, S. 213f.). Fallrekonstruktionen nach den Regeln sowohl der objektiven Hermeneutik (Oevermann u.a. 1979) als auch der phänomenologischen Narrationsanalyse (Schütze 1984) sowie der an Karl Mannheim orientierten dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 1997) lassen jedoch die Hypothese sehr plausibel erscheinen, dass generative Strukturen menschlicher Handlungen sich auch in verzerrten Kommunikationssituationen durchsetzen und ihre Spuren hinterlassen. Es ist nicht anzunehmen, dass sie vollständig durch das Konstrukt der Interviewsituation ausgelöscht bzw. überschrieben werden bzw. dass subjektive Transformationspotentiale vollständig in strukturfunktionalen Systemzusammenhängen aufgelöst werden. Die Originalität und Produktivität des sozialen Konstrukts Biographie liegt gerade darin, dass es sich weder um eine bloße authentische Darstellung subjektiver Binnenperspektiven, noch um eine bloße Reproduktion von Makrostrukturen handelt. „Biographien enthalten also beides: Emergenz und Struktur. ... darin liegt zweifellos eine ganz entscheidende theoriestrategische Bedeutung des Biograpiebegriffs (Alheit 1990, S. 15f.). Der in den Sozialwissenschaften um qualitative Methoden entfachte Streit besteht nun genau darin, zu bestimmen, wo diese generativen Strukturen zu verorten sind, die weder vollständig dem Subjekt, noch vollständig der das Subjekt prozessierenden institutionellen Wirklichkeit angehören. Qualitative Studien zur Interkulturellen Pädagogik haben diese Strukturen entsprechend ihrer je eigenen theoretischen Tradition in unterschiedlicher Weise rekonstruiert und wiederum auf Praxis appliziert. Die an Oevermanns objektiver Hermeneutik orientierte Interkulturelle Pädagogik hat vor allem Beispiele stellvertretender Deutung für die Migrationssituation ausbuchstabiert. Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen davon, was stellvertretende Deutung beinhalten kann und an wen sie adressiert ist. Während in dem im Abschnitt 2. referierten Beispiel des Projekts von Silvia Kade stellvertretende Deutung durch Sozialexperten oder durch Probanden wechselseitig vorgenommen wurde, um einen therapeutischen Effekt bei den Probanden selbst zu erzeugen, wird in einer neueren Arbeit von Hiltrut Schröter (1997)
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stellvertretende Deutung als Ergebnis eines Arbeitsbündnisses zwischen Interviewerin und Biographieträgerin aufgefasst, die für die Erforschung pädagogischer Praxis angesichts der Zwänge alltäglichen Lehrerhandelns als stellvertretende Deutung aufgefasst werden soll. Das maieutische Prinzip der objektiven Hermeneutik soll exemplarisch (in Anlehnung an die Pädagogik Wagenscheins) in die Alltagspraxis induziert werden.4 Der aus der Kooperation und dem Fallverstehen resultierende Lernimpuls ist weniger auf die Biographieträgerin gerichtet als umgekehrt auf die stellvertretende Interpretin und den Lernort, in den die Deutung implementiert werden soll. Antwortet die Realität nicht so, wie sie hypothetisch konstruiert wurde, z.B. aufgrund der falschen Hypothese über die moralischen Vorstellungen muslimischer Familien, scheitert das hypothetische Konstrukt an den „brute facts“ (Peirce 1973) der Realität. „Darin liegen die Selbstheilungskräfte von Praxis begründet. Sie fordern zur Korrektur des Denkens heraus. “ (Schröter 1997, S. 225) Für Fritz Schütze und Gerhard Riemann ist Migration ein Phänomen, dessen Gründungskontext und historische Erscheinungsformen fast immer auf ein kollektives Schicksal hinweisen, das gleichsam als ein Ergebnis des Einbruchs von Naturgeschichte in soziale Prozesse begriffen werden könnte (vgl. Riemann/Schütze 1991). Selbst wenn Arbeitswanderung im Einzelfall als Konsequenz höchst individueller Entscheidung erscheinen mag, stellt sie sich doch typischerweise im Leben von Migranten und Migrantinnen als Phase des Einbruchs sozialer Unordnung und als mehr oder weniger extremer Leidensprozess dar. Migration ist in höchstem Maße paradox: Sie trägt in sich auf geradezu zugespitzte Weise das Prinzip sozialer Aktion wie auch das Gegenprinzip zu sozialer Aktion, Phasen nämlich, die von den Betroffenen als Schicksalsschläge und als bloßes passives Leiden empfunden werden, in denen das Leben nur noch von außen gesteuert erscheint, als Ablösung sozialen Handelns durch die fatale Logik des Geschehens. Das Projekt der Migration, dessen Kraft über mehrere Generationen hinweg prägend wirkt, wird überlagert durch unerwartete neue Erfahrungen, falsche Annahmen über das Zielland, Feindlichkeit der Menschen, das Durcheinanderwerfen aller Pläne, durch chaotische Reaktionen nicht nur von Individuen, sondern von sozialen Gruppen. Das soziale Konstrukt der Migrationsbiographie entsteht gerade in der Verknüpfung beider Handlungstypen. Die dabei sichtbar werdende „Konstruktionslogik“ ist konkret historisch und sozial zu verorten. Die besondere Aufmerksamkeit von Riemann und Schütze gilt nun bei der Narrationsanalyse dem Herausarbeiten dieses Umkippens intentionaler Handlungen in Phasen intensiven Leidens und scheinbarer Passivität. Sie gilt dem Eindruck der handelnden Personen, von externen Kräften überwältigt, von einem fatalen Schicksal getrieben und sich selbst entfremdet zu sein. Sie gilt also der Frage, unter welchen Bedingungen eine Teilnahme an einer differenzierten sozialen Welt nicht mehr möglich ist und auf welche Weise sich solche Prozesse sozialer Unordnung in Biographien aufschichten. Um den in einer Verlaufskurve durchlebten Prozess des sozialen Leidens zu verstehen, sei es notwendig – so argumentieren die Autoren –, das Paradigma intentionaler Aktion zu verlassen und den Prozess zu betrachten, in dem die Kontrolle über die Lebensumstände verloren zu gehen droht oder tatsächlich verloren geht. In diesem Sinne knüpfen Riemann und Schütze ausdrücklich an die Tradition des Symbolischen Interaktionismus in jener besonderen Form an, in der er durch das Werk von Anselm Strauss repräsentiert wird. Nicht zufällig verweisen die Autoren in ihrer Analyse sozialer Prozesse in Migrationsbiographien auf die Tradition der Chicago School. Während nämlich der main stream der amerikanischen Migrationsforschung die biographische Dimension außer acht ließ, entdeckte umgekehrt die Chicago School von Beginn an Migration und Biographie als herausragendes Thema (vgl. oben 1.). Nach Riemann und Schütze waren freilich die Pioniere der Biogra-
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phieforschung zu sehr fasziniert von der Idee der „spezifischen intellektuellen und moralischen Entfaltungsmöglichkeiten“, die der Marginalität selbst „inhärent“ seien und hätten daher den prozesshaften Charakter sozialen Leidens im Hintergrund gehalten bzw. ungenügend aus den dokumentierten Fallstrukturen herausgearbeitet (vgl. Riemann/Schütze 1991, S. 335). Riemann und Schütze verweisen allerdings auch darauf, dass der häufig überwältigende und langdauernde Leidensprozess in „trajectories“ den betroffenen Personen zugleich auch eine Chance systematischer Reflexion bieten kann, eine Chance, das biographische Konstrukt auf kreative Weise zu reorganisieren (vgl. ebd. S. 343f.). Sie betonen sogar, dass es geradezu eine der fundamentalen Aufgaben sozialer Arbeit sei, betroffenen Personen bei der Reorganisierung ihrer Lebenssituation zu helfen und damit Verlaufskurvenpotentiale zu zerstören (vgl. ebd. S. 252). Die Arbeiten von Ursula Apitzsch (1990; 1996) und Lena Inowlocki (1997; 1999) zeigen, dass kreative Transformationsprozesse gerade dort möglich wurden, wo traditionale Bindungen aufgrund von Krisenerfahrungen bereits in der Herkunftsgesellschaft durch die erste Generation bearbeitet worden waren. So war gerade nicht die Lösung von traditionalen Familienbindungen für den Bildungserfolg unter unwahrscheinlichen Bedingungen ausschlaggebend, sondern die „Dialektik der Familienorientierung“ (Apitzsch 1990a; 1990b), d.h. die über mehrere Generationen geleistete biographische Auseinandersetzung mit Tradition. Diese Auseinandersetzung wurde dort gefährdet oder gar unmöglich gemacht, wo in der Aufnahmegesellschaft aus falsch verstandenem pädagogischem Mittler-Impetus heraus traditionale Zuschreibungen erfolgten und die Angehörigen der zweiten Generation mit Sondermaßnahmen konfrontiert wurden, die ihnen in ihrer Auseinandersetzung nicht behilflich waren, sondern die sie im besten Fall karikierten und von denen sie sich im schlechtesten Fall gedemütigt und ausgegrenzt fühlten. Apitzsch stützt sich in ihren Untersuchungen auf die Methode der von Glaser und Strauss entwickelten „Grounded Theory“, die – wie in den Schulen von Ulrich Oevermann und Fritz Schütze – mit einer abduktiven Forschungslogik im Sinne von Peirce verbunden wurde (Peirce 1973). Weder sollte deduktiv aus einer generellen Kulturhypothese (z.B. über meridionalen Familialismus) ein Hindernis für rationale Berufsorientierung hergeleitet werden, noch sollte induktiv die Bildungs- und Berufssituation italienischer Jungen und Mädchen zu einem Gesamtbild zusammengefasst und verteilungstheoretisch erläutert werden. Vielmehr wurde in der abduktiven Rekonstruktion die generierende Logik erschlossen, aufgrund derer überraschende Praxen der Jugendlichen als Antworten auf vorliegende Problemstellungen interpretiert werden konnten. Für die Interkulturelle Pädagogik generell bedeutet dieses Vorgehen, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass MigrantInnen Innovationen leisten und neue Lösungen hervorbringen, wenn sie Krisen überwinden, in denen die Routinen des Alltagshandelns versagen (vgl. Oevermann 1991). Diese Lösungen selbst können freilich mit so hohen Kosten für die Gestaltung der Lebenspraxis verbunden sein, dass sie sich zu einem neuen „Verlaufskurvenpotential“ entwickeln (vgl. Riemann/Schütze 1991). In diesem Sinne sind gerade die von Fritz Schütze und seiner Schule sowie die im Rahmen der objektiven Hermeneutik (Oevermann) und generell abduktiv orientierte Analysen von Migrationsbiographien (Apitzsch, Inowlocki) von besonderem Vorteil für angewandte Sozialwissenschaften, denn sie können in methodisch angeleitete Praxis implementiert werden.
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Ursula Apitzsch
4. Bilanz und Ausblick In der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung hat die biographische Perspektive in den letzten Jahren in dem Sinne an Bedeutung gewonnen, dass nicht nur eine sogenannte „biographische Methode“ für die Reorganisation von Praxis- und Wissenschaftszusammenhängen verwendet wurde, sondern dass die Struktur der Migrationsbiographie selbst in den Fokus des Interesses geriet. Von Bedeutung wurden daher immer stärker diejenigen Untersuchungen, die nicht nach dem Defizitschema Modernisierungs- und Kulturgefälle interpretierten und nach entsprechenden pädagogischen Betreuungskonsequenzen fragten, sondern sich für die kreativen Potentiale derartiger Lebenskonstruktionen interessierten (vgl. Seitter 1998). Migrationsbiographien wurden auch als in gesteigertem Maße durch Risiko gekennzeichnete Biographien verstanden, in denen „in gewissem Sinne ,Vorgriffe‘ auf universalisierte gesellschaftliche Optionen an moderne Biographien schlechthin“ (Alheit 1990, S. 51f.) geleistet wurden. Wird die Migrationsbiographie in diesem Sinne als eine Praxis verstanden, die der Wirklichkeit globalisierter Gesellschaften nicht hinterher hinkt, sondern sie gleichsam avantgardistischer bearbeitet als die Lebenspraxis autochthoner Bevölkerungsteile, kann auch nicht länger an der Vorstellung festgehalten werden, dass Migration als eine Art von Notstandspraxis zu diskutieren sei. Dies gilt für Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen in verdichteten Industrie- und Dienstleistungszentren ebenso wie für internationale Teams multinational operierender Organisationen und Unternehmen (vgl. Behrens 1999). Interkulturelle Pädagogik ist kein Kulturvergleich, sondern die Rekonstruktion und (Re-)Implementation innovativer sozialer Praxen, sowie die Installation von Arbeitsbündnissen zum Zwecke der reflexiven Bearbeitung sozialer Kosten und sozialer Verluste solcher Innovation. Elaborierte sozialwissenschaftliche Methoden sind zur Rekonstruktion sowohl des gesellschaftlich Neuen als auch der mit ihm in Kauf genommenen Verluste unabdingbar, weil diese Verluste nicht immer sichtbar sind wie die offenkundigen Leiden von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Arbeitsmigranten der ersten Generation. Prototyp von Richard Sennetts „flexiblem Menschen“ (vgl. Sennett 1998) ist nicht der in die USA eingewanderte Migrant aus der alten Welt, sondern sein an die neue Welt scheinbar in höchstem Maße angepasster Sohn. Interkulturelle Pädagogik in diesem Sinne ist also keineswegs nur eine auf Einwanderer bezogene wissenschaftliche Interessenfokussierung, sondern eine bleibende Thematik pluralisierter Gesellschaften.
Anmerkungen 1
2
Es soll nicht unterschlagen werden, dass Lanfranchi selbst immer wieder darauf hinweist, dass Strukturtransformationen sich nicht auf das Familiensystem beschränken sollen, sondern auch auf das Schulsystem auszuweiten sind (vgl. Lanfranchi 1993, S. 255). Das Problem ist jedoch, dass diese immer wieder sehr einleuchtend formulierte Aufgabenstellung in der Praxis der Fallrekonstruktionen keine Rolle spielt, sondern dass hier Strukturkristallisationen durchgängig als Reaktionsbildung auf die Herkunftskultur interpretiert werden. In gewisser Weise könnte man die von Lanfranchi an Fuchs geäußerte Kritik auch auf sein eigenes Werk anwenden: „er weiß, wie es geht, macht es aber nicht“ (Lanfranchi ebd. S. 105). Der Begriff ersetzte im Verlaufe der 1980er Jahre den der „Ausländerpädagogik“.Signifikant ist hierbei z.B. die Umbenennung der Fachzeitschrift „Ausländerkinder“, die ab dem Jahrgang 1988 den Namen „Interkulturell“ erhielt (vgl. Auernheimer 1990 S. 12).
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Bommes (1994) rechnet diesen Typus qualitativer Migrationsforschung ebenfalls die Arbeiten von Stüwe (1982), Lorch-Göllner (1989), Kalpaka (1986), Bielefeld (1982) und Bennholdt-Thomsen (1987) zu. „Der objektive Hermeneut weiß genau, daß er nichts anderes tut, als unter der privilegierten Voraussetzung der Praxisenthobenheit, d.h. ohne Zeitdruck, mikrologisch detailliert Zusammenhänge zu studieren, die der Praktiker gestaltrichtig intuitiv in einer gemessen daran unglaublichen Geschwindigkeit und Treffsicherheit erfassen können muß, und er bewundert, je länger er sein Geschäft betreibt, die Reichhaltigkeit der Strukturen, die er analysiert und die Klugheit der Praxis, die sie produziert, ohne auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln, daß die kritische Distanz seiner Analysemethode mit der Befähigung für das Tun, das er untersucht, absolut nichts zu tun hat. Deshalb auch verbindet sich ihm die Kritik seines analytischen Urteils wie selbstverständlich mit dem Respekt vor der Wirklichkeit gestaltenden Praxis. “ (Oevermann 1993, S: 104f., zit. n. Schröter 1997, S. 227)
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Medienbiographische Forschung Stefan Aufenanger
Inhalt 1. Zur Entwicklung qualitativer Ansätze in der Medienforschung 2. Der medienbiographische Ansatz 3. Kritik an der Medienbiographieforschung 4. Medienbiographien in der Medienerziehung Literatur
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1. Zur Entwicklung qualitativer Ansätze in der Medienforschung Ähnlich wie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen sind auch in der Medienforschung sowie in der medienpädagogischen Forschung in den letzten Jahrzehnten verstärkt qualitative Forschungsansätze rezipiert und angewandt worden. Dazu zählt auch eine medienbiographische Ausrichtung, die sich zum einen gegen den Mainstream der Medienforschung mit einer starken demoskopischen und quantitativen Ausrichtung wendet, zum anderen sozialwissenschaftliche Methodendiskussionen um qualitative Ansätze aufgreift. Der medienbiographische Forschungsansatz spielt aber in der Medienforschung insgesamt keine hervorgehobene Rolle, wird aber vereinzelt in einer medienpädagogisch orientierten qualitativen Medienforschung eingesetzt. Hier ist vor allem ein Schwerpunkt mit einem praktischen Anwendungsbereich in der Medienpädagogik der medienbiographischen Forschung zu finden. Die Bedeutung der qualitativen Medienforschung für die Medienpädagogik liegt nun darin, dass der Blick bei der Rezeptionsanalyse von den unterstellten einseitigen Wirkungen der Medien und insbesondere des Fernsehens weg zu einer interaktiven Sichtweise des Verhältnisses von Medium und Rezipient gewendet wird. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass die bewahrpädagogische Position, die Kinder und Jugendliche vor dem Fernsehen schützen will und eine prinzipielle Gefahr in diesem Medium sieht, relativiert werden muss. Die Rezipienten werden in diesen neueren Ansätzen als aktiv sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzende Subjekte gesehen, die selektiv – bewusst oder auch unbewusst – sich den Medien zuwenden. Dabei werden die Motive und Bedürfnisse als bestimmend für die Mediennutzung angesehen. Darüber hinaus wird jedoch auch in der medienpädagogisch orientierten Forschung die Notwendigkeit von Produktions- und Produktanalysen gesehen und entsprechende qualitative Konzeptionen entwickelt. Während bei den Produktionsanalysen die Forschungslage noch sehr schlecht ist, nehmen qualitative Studien zur Produktanalyse zu. Die Analyse und Interpretation symbolischer Darstellungen in Medien gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung (Müller-Doohm 1990). Insgesamt scheint es jedoch wünschenswert zu sein, Produktions-, Produkt- und Rezeptionsanalyse in einem Forschungsdesign durchzuführen. Weitere Trends sind in einer stärkeren Ausrichtung medienpädagogischer Forschungsansätze in Kommunikations- bzw. Kulturanalysen auszumachen. Damit soll der stärker werdenden Bedeutung von Medien für Kommunikationszwecke sowie der kulturellen Einbettung von Medien Rechnung getragen werden (Bachmair 1996; Winter 1995). Die neueren Ansätze einer qualitativen Medien- und Kommunikationsforschung knüpfen an ältere Konzepte in der Medienforschung aus den vierziger Jahren an, greifen Konzepte aus anderen Disziplinen wie etwa der Kulturanthropologie auf oder orientieren sich an neueren Entwicklungen in den Sozialwissenschaften. Als historischer Ausgangspunkt einer qualitativen Orientierung können einerseits die Arbeiten von Paul Lazarsfeld in den USA, andererseits die von der frühen Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer, aber auch Löwenthal und Kracauer angesehen werden. Vor allem Adorno (1963) hat auch in den sechziger Jahren die Notwendigkeit qualitativer Studien in der Medienforschung betont und die traditionellen, empirisch-analytischen Ansätze als dafür ungeeignet bezeichnet. Bis zu Beginn der achtziger Jahre wurden diese Forderungen jedoch kaum eingelöst. Mit der Rezeption des Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie sowie der Phänomenologie in den Sozialwissenschaften entstand jedoch ein Forschungsklima, in dem interpretative
Medienbiographische Forschung
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Studien angeregt wurden, die auch für eine qualitative Medienforschung zum Vorbild werden konnten. Zwei Linien lassen sich für das Aufleben einer auf qualitativen Methoden beruhenden medienpädagogischen Forschung ausmachen: Die erste Linie entstammt der Medien- und Rezeptionsforschung, in der sich die genannten sozialwissenschaftlichen Trends niederschlugen. Die zweite Linie erwuchs aus einem Unbehagen mit der traditionellen Argumentation in der Medienpädagogik, die Ergebnisse aus der empirischen Medienpsychologie zur Grundlage für medienerzieherische Hinweise benutzte. So muss man feststellen, dass einige Medienforscher mit qualitativen Studien begannen, die für eine kasuistisch orientierte Medienpädagogik interessant wurden und dass einige Medienpädagogen selbst empirisch tätig wurden. Wissenschaftler beider Gruppen arbeiteten seitdem in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen, und ihre Ergebnisse wurden in den achtziger Jahren in ersten Sammelbänden publiziert. Dazu gehören u.a. der 1984 entstandene Werkstattbericht „Qualitative Medien- und Kommunikationsforschung“, herausgegeben von Ben Bachmair, Erich Mohn und Stefan Müller-Doohm, der von Dieter Baacke und Hans-Dieter Kübler zusammengestellte Band „Qualitative Medienforschung“ (1989), eine Tagungsdokumentation von 1989 von Stefan Müller-Doohm und Klaus Neumann zur „Medienforschung und Kulturanalyse“ sowie der 1990 gleichzeitig auch in englischer Sprache erschienene Reader „Medienkommunikation im Alltag. Interpretative Studien zum Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen“, herausgegeben von Michael Charlton und Ben Bachmair. Die meisten darin enthaltenen Studien sind zwar nicht aus einer explizit medienpädagogischen Absicht entstanden, haben jedoch zu einer wesentlichen Umorientierung in der Medienpädagogik geführt. So steht nicht mehr die Frage nach den Wirkungen, sondern nach Bedeutung und Funktion von Medien im Leben von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt des Interesses. Dieser Zweig gewinnt immer mehr an Bedeutung, und auch die traditionellen Ansätze der Medienforschung scheinen sich qualitativen Arbeiten häufiger zuzuwenden. So hat z.B. die Forschungskommission der beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF die Durchführung qualitativer Studien auch in ihrem Bereich angeregt. International gewinnt die qualitative Medienforschung ebenfalls an Gewicht. Es handelt sich vorwiegend um Studien zum Thema „Familie und Fernsehen“ sowie „Jugend und Medien“. Im erstgenannten Bereich sind u.a. Studien zu nennen, wie die von James Lull (1990), der einen ethnographischen Ansatz vertritt, von David Morley (1986) mit seiner qualitativen Zuschauerforschung, von Dafna Lemishs (1987) Arbeiten zum Fernsehverhalten von Kleinkindern ab 6 Monaten, von Hodge und Tripp (1987), die eine semiotische Analyse des kindlichen Verständnisses von Fernsehsendungen vornehmen sowie von Paul Messaris (1983) über elterliches Medienerziehungsverhalten in Familien. Erste große Übersichten haben Thomas R. Lindlof (1987, 1991) sowie James Lull (1988) vorgelegt. Vor allem der Band von Lull gibt einen Überblick über die internationale und kulturvergleichende Forschung. Studien zum Thema „Jugend und Medien“ sind vor allem durch die kulturanalytischen Studien des ,Center for Contemporary Cultural Studies at the University of Birmingham‘ angeregt worden. Es handelt sich um Arbeiten, die die subkulturellen Bedingungen von Jugendlichen im Fokus haben und diese als wesentliche Bedingungen der Mediennutzung ausweisen (z.B. Hall 1986; Willis 1981). Nicht zu vergessen sind die aus der feministischen Tradition entstandenen Analysen von Fernsehsendungen, die die Rolle von Frauen im Fernsehen und in der Gesellschaft thematisieren. Dazu zählen vor allem die Forschungen zu den ,soap operas‘ von Eva-Maria Warth und speziell zu ‚Dallas‘ von Ien Ang (1986) und Herta Herzog (1986).
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2. Der medienbiographische Ansatz In diesem Zusammenhang spielt auch der Ansatz der Medienbiographie eine bedeutende Rolle, die zweifach verstanden werden kann: Zum einem kann es darum gehen, die Bedeutung von Medien in den unterschiedlichen Abschnitten des Lebenslaufs darzustellen. Dies ist vor allem unter einem generationsspezifischen Aspekt interessant, wenn man etwa danach fragt, zu welchen historischen Zeitpunkten welche Medien typische Kinder- oder Jugendmedien waren. Zum anderen lässt sich aber unter Medienbiographie auch die Rekonstruktion des Einflusses von Medien in früheren Lebensabschnitten auf späteres Medienverhalten verstehen. Methodisch werden diese beiden Aufgaben über Autobiographien, schriftliche Dokumente sowie offene bzw. narrative Interviews zu bewältigen versucht. Das reichhaltige Material wird dann – je nach Fragestellung – verstehend-interpretativ erschlossen, wobei es darum geht, „subjektive und objektive Relevanzstrukturen und das objektiv Bedeutsame in seiner subjektiven Relevanz und Verarbeitung aufzuspüren“ (Rogge 1982, S. 282). Über den Stellenwert der medienbiographischen Forschung gibt es unterschiedliche Ansichten. Zum einem wird kritisiert, dass dieser Ansatz kein einfaches mechanistisches Modell implizieren darf in dem Sinne etwa: wer in seiner Kindheit viel liest, wird auch später viel lesen und umgekehrt (vgl. Kübler 1982). Zum anderen sollte auch deutlich werden, dass Medien allein nicht bestimmend für Biographien sein können, sondern ihre Verwendung in einen differenzierten Verwendungszusammenhang des Alltags eingebettet sind. Trotzdem ist durch diesen Ansatz deutlich geworden, „dass Medien an den gesellschaftlichen Prozessen der ,Individualisierung‘ und ,Biographisierung‘ von Lebensläufen zumindest in Verstärkerfunktion beteiligt sind“ (Baacke/Sander/Vollbrecht 1990, S. 14). Im Folgenden sollen die vorliegende Ansätze und Begründungen näher vorgestellt werden. Knut Hieckethier (1982) sieht die Verwendung der medienbiographischer Forschung als einen wichtigen ‚Baustein für eine Rezeptionsgeschichte‘: „Medienbiographien nachzugehen heißt dem Einfluß der Medien in unserer Lebensgeschichte auf die Spur zu kommen, heißt die Art und Weise zu rekonstruieren, in der wir mit den Medien umgegangen sind, sie genutzt haben“ (S. 206). Er deklariert diesen Ansatz auch als einen ‚Paradigmenwechsel in der Rezeptionsforschung‘, um den Perspektivenwechsel von einer auf das jeweilige Medium zentrierten Medienforschung auf das die Medien rezipierende Subjekt als wichtigen Erkenntnisfortschritt deutlich zu machen. Methodisch möchte er an den Ansatz der ‚oral history‘ anknüpfen. Letztendlich geht es ihm aber auch um das Fortschreiben einer Geschichte der Medien bzw. der Mediennutzung. An Beispielen macht er generative Differenzen in der Nutzung von Medien deutlich und streicht die Relevanz verschiedener Medien für unterschiedliche Generationen heraus. Vor allem Kino und Fernsehen scheinen sich von ihrer ‚Wirksamkeit‘ auf das Medienerleben sehr stark zu unterscheiden: „Beim Kino haben die meisten der Befragten konkrete Erinnerungen an einzelne Filme, beim Fernsehen bleibt überwiegend der Eindruck von einem ‚großen Einheitsbrei‘ als bestimmend zurück“ (Hiekkethier 1982, S. 213). An dieser Stelle wird deutlich, dass das Erheben von Medienbiographien zu unterschiedlichen Zeitpunkten äußerst wichtig ist, um die Bedeutungszuschreibung von Medien bei verschiedenen Generationen besser herausarbeiten zu können. So wäre es gut möglich, dass bei den heutigen Kindern das Fernsehen tiefgreifendere Erinnerungen aufgrund des umfangreichen Programmangebots hinterlässt als bei einer Generation, die in den sechziger und siebziger Jahre nur auf drei Programme in einem begrenzten Zeitrahmen
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zurückgreifen konnte. Vielleicht spielen auch ganz andere Medien – wie etwa Computerspiele oder das Internet – bei der heutigen Generation ein große Rolle. Als einer der prominentesten Vertreter einer am Medienalltag von Menschen und ihren Biographien orientierten Medienforschung kann Jan-Uwe Rogge angesehen werden. Er wendet sich explizit gegen eine Medienforschung, die nur nach dem Wirkungsaspekt fragt und dabei die Subjektperspektive vernachlässigt. Eine rein mechanische Verknüpfung von Medien und Rezipient verstelle – so Rogge – den Blick auf die Erfahrungen mit Medien, situativ sowie lebensgeschichtlich. Rogge (1985) spricht sich für die Analyse von Medienbiographien bzw. Medienkarrieren aus. Dazu greift er auf sozialisationstheoretische Überlegungen zurück. Entscheidend für die Analyse von Rezeptionsprozessen ist demnach die genaue Erhebung der Relevanzstrukturen von Medien im Sozialisationskontext. Die Voraussetzungen dazu sind in der Auffassung von Sozialisation als diachronem, lebenslangem Prozess zu sehen, der als Kumulation von Erfahrungen und als Genese der Handlungsfähigkeit zu begreifen ist. Die Aufgabe einer so ausgerichteten Forschung besteht darin, „massenmediale Sozialisation als lebenslangen Prozess zu begreifen, das Medienhandlungspotential diachron, d.h. orientiert an individuellen Lebensläufen zu betrachten“ (Rogge 1982, S. 275). Forschungspraktisch ergeben sich daraus die Konsequenzen, die subjektiven Deutungen von Medien in verschiedenen Lebensphasen zu rekonstruieren, den Medienumgang als Zusammenspiel von Erleben und Handeln zu sehen sowie dem Zusammenspiel von Alltags- und Medienwissen nachzugehen. Rogge (1982) fasst den medienbiographischen Ansatz wie folgt zusammen: „Er sucht den Rezipienten in seiner Lebenswelt, in seinen individuellen und sozialen Bedingungen und Voraussetzungen auf und versucht jene Strukturen zu beschreiben, die für das alltägliche Handeln bedeutsam werden. Ausgangspunkt der Untersuchungen ist die Alltagswelt, in der der Rezipient verhaftet ist. Verstehend oder interpretativ ist dieser Ansatz deshalb, weil er nicht von der konkreten Situation abstrahiert, sondern z.B. das Medienhandeln auf Lebenssituationen bezieht“ (S. 276). Methodisch orientiert sich Rogge an dem narrativen Interview sowie darüber hinaus an dem zur Verfügung stehendem biographischen Material. Dazu sind besonders zu zählen Briefe, Tagebücher oder andere lebensgeschichtliche Zeugnisse (z.B. Photos). Auch können die Betroffenen dazu aufgefordert werden, ihre eigene medienbiographische Geschichte niederzuschreiben. In der Auswertung seiner Materialien ist kein systematischer, eher ein hermeneutisch-assoziativer Zugang zu erkennen. Rogges Ansatz zielt sehr stark auf die Thematisierung von medienbiographischen Erfahrungen in Zusammenhang mit bestimmten Situationen oder Lebenswelten. Er versteht es, in seinen Veröffentlichungen sehr anschaulich Fallgeschichten zu präsentieren, dabei das Besondere, aber auch das Allgemeine herauszustellen. Anhand von Analysen der Medienbiographien von Menschen, insbesondere von Kindern arbeitet Rogge relevante Faktoren heraus, die medienbezogenes Handeln von Kindern und Jugendlichen prägen können. Dazu werden entwicklungspsychologische Rahmenbedingungen, Umwelt-Erfahrungen, familiäre Einflüsse sowie der Medienumgang in der Entwicklung gezählt. In eine ähnliche Richtung zielt auch die mehr systematisierende Arbeit von Rust (1984), der die Beschreibung von Biographien anhand von Stationen der Lebensgeschichte, Entwicklungsmöglichkeiten, lebensweltlichen Einflüssen sowie dem Einfluss von Systemimperativen vornehmen möchte. Rogges Verwendung von Medienbiographien zielt aber nicht nur auf Grundlagenforschung, sondern auch auf Medienerziehung. Die Analyse biographischer Erfahrungen mit Medien machen demnach deutlich, dass „keine einheitlichen Lebensläufe, gar Medienbiographien ‚von der Stange‘ (zu) erwarten sind“
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(Rogge 1985, S. 18), sondern eine differenzierte Sichtweise der Mediennutzung notwendig ist, die in Konzeptionen medienpädagogischen Handelns einfließen muss. Am ausgeprägtesten, zugleich aber auch kritisch hat sich die Arbeitsgruppe um den Bielefelder Pädagogen Dieter Baacke mit Medienbiographien beschäftigt. Sie können auch eine der wenigen umfangreichen empirischen Studien vorweisen. Methodologisch knüpfen sie an die entsprechenden Traditionen in den Sozialwissenschaften und der Pädagogik an. Explizit beziehen sie sich aber im Gegensatz zu allen anderen Vertretern des medienbiographischen Ansatzes auf die Biographieforschung. So setzt sich Vollbrecht (1993) ausführlich mit den entsprechenden Konzeptionen auseinander und befragt sie hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit für die Analyse von Medienbiographien. Biographien werden demnach als „Berichte und Erzählungen gelebten Lebens“ verstanden, die ein individuelles Leben in seinem sozialen und historischen Zusammenhang“ präsentieren sollen (Vollbrecht 1993, S. 11). Folgende Fragen werden an Medienbiographien gestellt: – – –
Welche Rolle spielen Medien bei der Konstruktion von Biographien? Gibt es z.B. biographische Fixpunkte oder biographische Stränge, die über Medien definiert werden? Welche Auswirkungen besitzen Medien auf die medienbiographische Zeitstruktur des Tagesablaufs (lineare temporale Zeitstruktur; zyklische Struktur der Alltagszeit)?
Diese Fragen wurden von Baacke und Mitarbeitern (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991) in einem Forschungsprojekt an die Biographien von Jugendlichen gestellt. Sie konzentrierten sich dabei besonders auf die Verwendung, Funktion und Bedeutung von Medien im Alltag der Jugendlichen und verwendeten dazu biographische bzw. narrative Interviews. Aus der Erfahrung mit diesen Interviews formulierten sie kritische Rückfragen an die Medienbiographieforschung. Zum einen schlagen sie die Unterscheidung zwischen Medienbiographieforschung und biographischer Medienforschung vor. Sie wollen damit deutlich machen, dass die Ansprüche der Biographieforschung nicht in vollem Umfang erfüllt werden können. Vollbrecht (1993) formuliert dies Problem wie folgt: „Eine Biographie lässt sich nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur in ihrem medienspezifischen Teilsträngen rekonstruieren. (...) Das Konzept einer biographischen Medienforschung sieht sich konfrontiert mit dem Problem, dass Medien, die im realen Lebensvollzug allgegenwärtig sind, in biographischer Rekonstruktion nur eine originale, wenig bewusste und wenig erinnerliche Rolle spielen“ (S. 24). Hinter dieser Kritik steht die Vorstellung, dass Biographien immer etwas Ganzheitliches präsentieren und dass der Versuch, sich auf die Bedeutung von Medien in der biographischen Perspektive zu konzentrieren, deshalb fehlschlagen muss. Dass Medienbiographien auch kulturell bzw. gesellschaftlich unterschiedlich geprägt sind, hat eine Tagung von west- und ostdeutschen Medienpädagogen kurz nach der Wende deutlich gemacht (Thier/Lauffer 1993). Zum einem wird deutlich, dass für die Generation, die in den sechziger Jahren als Jugendliche aufgewachsen ist, Rockmusik eine entscheidende Bedeutung gehabt hat, aber in der inhaltlichen Ausprägung im Osten selbstverständlich anders gewirkt hat als bei den Jugendlichen im Westen. Zum anderen spielt natürlich das vielfältige Medienangebot im Westen für das Medienerleben und die Mediennutzung eine große Bedeutung. Ebenfalls medienbiographisch interessant sind die Berichte zweier Familien in der Zeitschrift ‚Medien praktisch‘, die schon über zwei Jahre beginnend mit der Geburt des Kindes in regelmäßigen Abständen über die ersten Erfahrungen mit Medien ihrer Kinder berichten. Deutlich wird aus den Beschreibungen, dass Kinder schon von Geburt von Medien umgeben sind und diese sich langsam aber stetig aneignen. Würde dieses Pro-
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jekt in der gleichen Intensität wie bisher weiter verfolgt, dann würde zum ersten Mal eine von Dritten – den Eltern – beschriebene mit einer später zu erhebenden erzählten Medienbiographie – von den beiden dann erwachsenen Kindern – verglichen werden können. Am kompetentesten haben sich Klaus Neumann-Braun und Silvia Schneider (1993) mit dem medienbiographischen Ansatz beschäftigt. Sie gehen von der These aus, dass „Massenmedien in zunehmenden Maße eine funktionale Rolle für die Konstruktion von Identität und Biographie“ (S. 194) haben. Im Rahmen ihres Ansatzes der strukturanalytischen Rezeptionsforschung geht es ihnen dabei um die Rekonstruktion jener Erzählungen von Menschen, in denen die Bedeutung von Massenmedien für deren Leben zum Ausdruck kommt. Methodisch greifen sie dazu zum einen das narrative Interview sensu Schütze auf, zum anderen eine an Ulrich Oevermanns objektiven Hermeneutik orientierten Variante einer hermeneutischen Strukturanalyse von Gerald Schneider (1988). Das Fallmaterial von Neumann-Braun und Schneider wurde in einem ersten Schritt nach Schütze formal-inhaltlich segmentiert, um dann eine strukturell-inhaltliche Beschreibung der einzelnen Segmente und Suprasegmente vorzunehmen. In einem zweiten Schritt wurde das Fallmaterial nach G. Schneiders Ansatz strukturiert, der erste Erzählabschnitt sequenzanalytisch interpretiert und eine erste Strukturhypothese an ausgewählten, aber unterschiedlichen Stellen des nach Schütze segmentierten Materials struktural-hermeneutisch überprüft. Mit diesem Vorgehen können sie plausibel die „identitätsstiftende und Selbstvergewisserung ermöglichende Funktion der Medien für die Rezipienten“ (Neumann-Braun/Schneider 1993, S. 207) explizieren. Insgesamt weisen sie aber daraufhin, dass „Massenmedien in der Regel keinen im konstitutiven Sinn zu verstehenden Orientierungsfokus zur Konstruktion von Lebenskonstruktionen (abgeben)“ (S. 208).
3. Kritik an der Medienbiographieforschung Sander und Vollbrecht (1989) kritisieren vor allem die von Rogge und von Kübler vertretene Euphorie, mit der die Medienbiographieforschung angesehen wurde. Sie stellen dieser gegenüber auch die Frage, „ob die Rezeption biographischer Ansätze lediglich Ausdruck einer wissenschaftlichen Modewelle ist oder auch die Medienforschung vorantreiben kann“ (S. 16). Schaut man sich die bisher vorliegenden Ergebnisse der Analyse von Medienbiographien näher an, dann ist diese Frage sicher berechtigt, und man kann zu dem Ergebnis kommen, dass aus dieser Richtung – mit Ausnahme der Arbeit von Neumann-Braun und Schneider (1993) – nichts besonders Neues herausgekommen ist. Betrachtet man nämlich die von Rogge vorgelegten medienbiographischen Analysen etwas genauer, dann wird zwar ein differenziertes Bild präsentiert, welches die Verwobenheit von Medien und alltäglicher Erfahrungen deutlich macht. Aber das Ganze verbleibt doch auf einer eher phänomenologischen Ebene. Außerdem spielt gerade bei dem Medienthema soziale Erwünschtheit bzw. Unerwünschtheit eine große Rolle, so dass die Frage nach der Authentizität der Medienthematik in biographischer Perspektive bezweifelt werden kann. So dürften eher Medienrituale und –gewohnheiten wiedergegeben werden anstatt Bedürfnisse und Motivierungen. Das vorliegende medienbiograpische Material verführt leicht zu kausalen Schlüssen über die Bedeutung und Funktion von Medien im Leben von Menschen, ohne das andere relevante Faktoren Berücksichtigung finden. Die von der Arbeitsgruppe um Baacke vorgelegten Medienbiographien – oder besser: medienthematischen Erzählungen – machen auch
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aus der Sicht der Autoren deutlich, dass in der rekonstruktiven Perspektive von Medienbiographien Medien als etwas Selbstverständliches und Alltägliches verstanden werden: „Mediennutzung ist in der Regel nichts, was als besonderes Ereignis im täglichen Strom des Erlebens und Handelns eingeschätzt wird, und alles, was die Medien thematisieren oder in den Aufmerksamkeitshorizont der jugendlichen Nutzer bringen, geht ein in den Strom der Alltäglichkeit und produziert keine Visionen der eigenen oder gesellschaftlichen Zukunft“ (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, S. 362). Was berichtet wird, sind Medienrituale – etwa „abends durfte ich bis zur Tagesschau aufbleiben“ –, Medienpräferenzen –etwa „am liebsten habe ich ‚Fury‘ gesehen“ – sowie Genrevorlieben – etwa „die Western mit John Wayne habe ich besonders gemocht“. Dies steht natürlich im Gegensatz zur aktuellen Mediennutzung, die häufig affektiv viel Bedeutsamer erlebt wird. Hier darf dann keine Folge von ‚Lindenstraße‘ oder ‚Verbotene Liebe‘ verpasst werden. Befragt man die Betroffenen jedoch einige Jahre später über dieses Medienverhalten, dann können diese meist selbst kein Verständnis für diese Zentrierung aufbringen; aus einer biographischen Perspektive relativieren sich schnell diese starken emotionale Bindungen an Mediengeschichten. Als Problem des Ansatzes von Baacke und seiner Kritik an der Medienbiographieforschung muss gesehen werden, dass er diesen Ansatz in der Jugendforschung anwendet und nicht auf Erwachsene. Gleiches gilt für die als einen Beitrag zu medienbiographischen Forschung eingeordnete Arbeit von Voß-Fertmann (1989, 1994), der ebenfalls ‚nur‘ Jugendliche befragt hat. Dass ältere Menschen aus verschiedenen Generationen recht relevante Medienerinnerungen aufweisen können, zeigt in letzter Zeit verstärkt eine feministisch orientierte medienbiographische Forschung (vgl. Beinzger 1998; Cornelissen 1998; Haug/Hipfl 1995; Raumer-Mandl 1990; Röttger 1994). In diesen Studien geht es meist um die Verbindung von Vorlieben für bestimmte Medien und den Lebenswelten der befragten Frauen. Die bisherigen Ergebnisse sind noch nicht soweit gediehen, dass typische Strukturen in den Biographien deutlich geworden sind. Vielmehr bestätigen sich meist die schon bekannten Annahmen, dass Medien in bestimmten Lebensphasen – meist in der Jugendzeit – eine bedeutsame Rolle für die Identitätskonstruktion haben. Aber das hat die strukturanalytische Rezeptionsforschung von Charlton und Neumann (1986, 1990) schon in ihren Familienstudien nachgewiesen. Dieses Manko ist sicher darauf zurückzuführen, dass Medienbiographien meist unter dem Aspekt der Materialerhebung und weniger unter dem Aspekt der Auswertung betrachtet werden. Der häufig aufgeführte Bezug zum narrativen Interview von Fritz Schütze wird oft nur für die Durchführung der Interviews ernsthaft in Anspruch genommen. Bei der Auswertung verbleiben die vorliegenden empirischen Studien überwiegend in einer typologischen oder phänomenologischen Qualifizierung der biographischen Texte. Es wird kaum versucht, die aufwendigen und komplexen Auswertungsschritte von Schütze an das erhobene Material anzulegen. Dies dürfte mit ein Hauptmanko der medienbiographischen Forschung sein, dass sie auf der methodischen Ebene nicht stringent anerkannte sozialwissenschaftliche Auswertungsmethoden anwendet. Eine deutliche Kritik an der Medienbiographieforschung hat Mohn (1987) geäußert. Er sieht in diesem Ansatz die Gefahr, dass die Subjektperspektive dieses Ansatz die kommunikationswissenschaftliche wichtige Frage, was die Medien mit den Menschen machen, zugunsten der Frage, was die Menschen mit den Medien machen, ablösen könnte, und damit den gesellschaftlichen Zusammenhang der Mediennutzung ausblendet. Außerdem sieht Mohn in der Verwendung von qualitativen Ansätzen ohne Berücksichtigung von Standards der Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse eine Tendenz zur ‚Verwillkürlichung‘ von Forschungsmethoden. Nicht zuletzt entzündet sich seine Kritik an der Überhöhung dieses For-
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schungsansatzes bei einigen Autoren, die meinten, einen Paradigmenwechsel in der Medienforschung durchführen zu können. Mohns Kritik darf in den meisten Bereichen als berechtigt erscheinen, denn die Wendung zum Subjekt in der Rezeptionsforschung hat in den letzten Jahren zu einer Abkehr kritischer Fragen zum Verhältnis von Medien und Gesellschaft geführt. Das häufig vorfindbare empathische sich hineinversetzen in Rezipienten und das Verstehen ihrer Nutzungsmotive blendet die Frage nach der Wirksamkeit von Medien aus. Ohne eindeutig auf Ergebnisse schon verweisen zu können, dürfte aber die Vernachlässigung psychoanalytischer und kulturkritischer Analysen schnell zu einer Vereinseitigung und damit auch zu einer Verarmung der Medienforschung führen. Trotz dieser kritischen Einwände sollte aber dieser Ansatz nicht gleich über Bord geworfen werden. Vielmehr erscheint es notwendig, die aus den Sozialwissenschaften und der Erziehungswissenschaft hervorgegangenen Weiterentwicklungen der Biographieforschung aufzugreifen und deren methodisches Instrumentarium präzise und begründet anzuwenden. Das Problem der Medienbiographieforschung liegt weniger in unzureichendem Material oder auf der Ebene der Datenerhebung, sondern vielmehr in der Anwendung angemessener Auswertungsmethoden. Erst wenn hier ein entsprechendes Methodenbewusstsein sich entwickelt hat, können auch fruchtbare Analysen vorgelegt werden. Vielleicht stellt die in den letzten Jahren aufgekommene und bisher nur mit wenigen Arbeiten vertretene feministische Medienforschung eine entsprechende Weiterentwicklung des medienbiographischen Ansatzes dar.
4. Medienbiographien in der Medienerziehung Im Gegensatz zur Forschung haben Medienbiographien für die praktische medienpädagogische Arbeit an Bedeutung gewonnen. Sie unterstützen eine wichtige Aufgabe von Medienerziehung, in der es um die Transformation von Medienerlebnissen in Medienerfahrungen geht. Die Sensibilität für die Medienerlebnisse von Kindern und Jugendlichen setzt eine Offenheit für die Medienthematik voraus. Erfahrungen zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Medienbiographie dazu eine wichtige Voraussetzung sein kann. Erst wenn man darüber nachdenkt, welche Rollen Medien in der eigenen Kindheit bzw. Jugend gespielt haben, dass man Präferenzen für bestimmte Mediengeschichten gezeigt hat, dass man emotional in Medienhandlungen involviert war und dass man sich mit ausgewählten Medienfiguren und –charakteren identifiziert hat, kann man auch verstehend und empathisch mit aktuellen Medienerlebnissen umgehen. Dies ist vor allem in der Medienerziehung mit Kindern und Jugendlichen eine wichtige Voraussetzung, um medienpädagogisch angemessen handeln zu können. Zu oft werden nämlich die Medienwelten, mit denen heute Kinder und Jugendliche konfrontiert werden oder sich identifizieren, vorschnell abgelehnt und missbilligt. Nur wenn man sich auf diese Welt einlässt, verstehen will, warum gerade die starken Helden und Heldinnen so beliebt sind, kann man auch angemessen mit diesen Medienerlebnissen und Identifikationen umgehen. Am besten geschieht dies, wenn der medienbiographische Ansatz als pädagogischer Ansatz in der Aus- und Weiterbildung von Pädagoginnen und Pädagogen – vor allem im Kindergarten und in der Schule – angewandt wird, damit deutlich werden kann, dass die Projektion von inneren Themen auf Medienfiguren und -geschichten sowie die Identifikation mit Mediencharakteren für die Identitätsbildung und zur Lebensbewältigung im Kindes- und Jugendalter dazugehören.
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Fasst man die Diskussionen um den Ansatz der Medienbiographien zusammen, so scheint zu Beginn der achtziger Jahre in der Medienforschung eine gewisse Euphorie diesen Ansatz in die Forschung getragen zu haben, die aber empirisch und von den Ergebnissen nicht gehalten werden konnte. Die wenigen vorliegenden Studien sind entweder mit Jugendlichen durchgeführt worden oder beziehen sich spezifisch auf die Rezeptionserinnerungen von Frauen an Filme. Mit Beginn der neunziger Jahre scheint dieser Ansatz in der Medienforschung als auch der medienpädagogischen Forschung seine Bedeutung verloren zu haben, was sich auch in der Übersichtsarbeit von Hirzinger (1991) widerspiegelt. Erst der Einbezug von Medienfragen in der Frauenforschung hat dem medienbiographischen Konzept neue Impulse gegeben, wie neuere Arbeiten zeigen. Auf der methodischen Ebene weist jedoch insgesamt der medienbiographische Ansatz noch einige Schwächen auf, die aber bei einer Orientierung an der sozialwissenschaftlichen bzw. erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung problemlos geheilt werden könnten.
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Autorinnen und Autoren Alheit, Peter, geb. 1946, Dr. phil., Dr. theol.; Professor für Erziehungswissenschaft am Pädagogischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, Leiter des Instituts für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung (IBL) an den Universitäten Bremen und Göttingen; Arbeitsschwerpunkte: Sozialund erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, internationale vergleichende Bildungsforschung, Theorien lebensbegleitenden Lernens. Apitzsch, Ursula, geb. 1947, Dr. phil. habil.; Professorin für Soziologie und Politologie an der Universität Frankfurt; Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung, Biographieforschung, Soziologie und Politologie, Kulturtheorie. Aufenanger, Stephan, geb. 1950, Dr. rer.pol., Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpägagogik an der Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte: Medienerziehung in Kindergarten und Schule, Rezeptionsforschung, Kinder und Medien, Multimedia-Anwendungen, Medienethik. Baacke, Dieter, geb. 1933, Dr. phil. habil., Professor für außerschulische Pädagogik an der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Medienpädagogik und Medienforschung, Kindheits- und Jugendforschung, Jugend-, Erwachsenen- und Weiterbildung. Bertram, Mechthild, geb. 1955; Dipl.-Päd., Supervisorin, Arbeitsschwerpunkte: Jugendforschung, Biographieforschung, Evaluationsforschung. Cloer, Ernst, geb. 1939; Dr. phil., emerit. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Methodologie einer historisch-pädagogisch-biographischen Bildungsforschung, Sozialgeschichte der Lehrerorganisation und -bildung, pädagogische Anthropologie, Theorie der Schule. Dausien, Bettina, geb. 1957, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Theorien und Methoden der Biographieforschung. qualitative Forschungsmethoden, Frauenforschung, Sozialpsychologie des Geschlechterverhältnisses, Sozialisation. Ebbert, Andreas, geb. 1967, wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Ruhr-Universität Bochum; Arbeitsschwerpunkte: Erwachsenenbildung, außerschulische Jugendbildung, berufliche und betriebliche Weiterbildung. Ecarius, Jutta, geb. 1959, Dr. phil. habil., Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Gießen; Arbeitsschwerpunkte: erziehungswissenschaftliche Biographie- und Bildungsforschung, Kindheits- und Jugendforschung, Familienerziehung. Friebertshäuser, Barbara, geb. 1957, Dr. phil. habil., Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Direktorin am Cornelia Goethe Centrum, Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“; Arbeitsschwerpunkte: Empirisch-pädagogische Geschlechterforschung; Qualitative Forschungsmethoden, Statuspassagen und Rituale im menschlichen Lebenslauf, Jugendforschung, Hochschulsozialisationsforschung, Lehren und Lernen an der Hochschule. Glaser, Edith, geb. 1955, Dr. rer.soc., Professorin für Historische Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: pädagogisch-historische Frauenforschung, Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik im 20. Jahrhundert, sozialhistorische Biographieforschung. Grunert, Cathleen, geb. 1972, Dr. phil., wiss. Assistentin am Institut für Pädagogik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, Kindheits- und Jugendforschung, Hochschulsozialisations- und Berufseinmündungsforschung. Harney, Klaus, geb. 1949, Dr. phil., Professor für Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der RuhrUniversität Bochum; Arbeitsschwerpunkte: Berufsbildungs- und Weiterbildungsforschung, Geschichte der Berufsbildung.
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Autorinnen und Autoren
Helsper, Werner, geb. 1953, Dr. phil. habil., Professor für Schulforschung und Schulpädagogik an der Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Schulforschung, Jugendforschung, Professionstheorie. Kraul, Margret, geb. 1948, Dr. phil. habil., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Göttingen; Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, Biographieforschung, Geschlechterforschung. Krüger, Heinz-Hermann, geb. 1947, Dr. phil. habil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Biographieforschung, Kindheits- und Jugendforschung, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Loch, Werner, geb. 1929, Dr. phil., emerit. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Kiel; Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Pädagogik, Biographieforschung, pädagogische Anthropologie. Lüders, Christian, geb. 1953, Dr. phil., Leiter der Abteilung „Jugend und Jugendhilfe“ am Deutschen Jugendinstitut München; Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Sozialforschung, Jugendhilfeforschung, Theorie der Sozialpädagogik, Theorie und Empirie pädagogischen Wissens. Marotzki, Winfried, geb. 1950, Dr. phil. habil., Professor für Allgemeine Pädagogik an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg; Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, Bildungs- und Lerntheorie, Wissenschaftstheorie. Nittel, Dieter, geb. 1954, Dr. phil. habil., Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt; Arbeitsschwerpunkte: Erwachsenenpädagogik, Biographieforschung; Interaktionsanalyse, Professionstheorie. Reh, Sabine, geb. 1958, Dr. phil. habil., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Technischen Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Lehrerbiographieforschung, Schulentwicklungsforschung, historische Bildungsforschung. Renner, Erich, geb. 1936, Dr. phil. habil., emerit. Professor für Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung an der Universität Erfurt; Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Sozialisations- und Kindheitsforschung, Biographieforschung, Grundschulpädagogik/Sachunterricht. Sander, Uwe, geb. 1955, Dr. phil. habil., Professor für Jugend- und Erwachsenenbildung an der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Jugend-, Biographie- und Medienforschung, außerschulische Pädagogik. Schelle, Carla, geb. 1962, Dr. phil., Professorin für Schulpädagogik an der Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Unterrichtsforschung, Schulentwicklungsforschung, politische Bildungsprozesse bei Jugendlichen. Schmid, Pia, geb. 1951, Dr. phil. habil., Professorin für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Erziehung und Bildung, biographische Forschung, Geschlechtstheorien und Weiblichkeitsbilder Schulze Theodor, geb. 1926, Dr. phil., emerit. Professor für Schulpädagogik und Didaktik an der Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, Schultheorie und Didaktik, Phänomenologie und Evolution des Lernens, Pädagogische Ökologie, Pädagogische Ikonologie und Metaphorik. Schütze, Fritz, geb. 1944, Dr. phil., Professor für Mikrosoziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Arbeitsschwerpunkte: Biographieanalyse, Ethnographie, Soziologie des professionellen Handelns und kollektiver Veränderungen. Schweppe, Cornelia, geb. 1955, Dr. phil., Professorin für Sozialpädagogik an der Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, qualitative Sozialforschung, Altersforschung, interkulturelle Pädagogik, Soziale Arbeit mit älteren Menschen, Regionalisierung sozialpädagogischer Hilfen, Dritte-Welt-Pädagogik. Wensierski, Hans-Jürgen, von, geb. 1954, Dr. phil., Professor für Jugendforschung und Medienpädagogik an der Universität Rostock; Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, Jugendforschung, Kulturund Medienpädagogik.