In Rib Baek Restrukturierung der Sozialen Sicherungssysteme in den Postfordistischen Gesellschaftsformationen
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In Rib Baek Restrukturierung der Sozialen Sicherungssysteme in den Postfordistischen Gesellschaftsformationen
In Rib Baek
Restrukturierung der Sozialen Sicherungssysteme in den Postfordistischen Gesellschaftsformationen Eine vergleichende Analyse von Großbritannien, Schweden und Deutschland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von Young-Suk Kim & Seong-Iee Choi.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich | Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17207-1
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung..........................................................................................................13
1.1 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates – Umbau, Abbau oder Erhaltung?.........................................................................13 1.2 Die methodische Anlage ....................................................................................16 1.3 Zum Aufbau der Arbeit ......................................................................................18 2
Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates .............................................................................21
2.1 Die Krise der fordistischen Gesellschaftsformation ...........................................21 2.1.1 Die ökonomischen und politischen Krisen nach 1974 ..............................21 2.1.2 Die postfordistische Vergesellschaftungsdynamik ....................................23 2.2 Die Transformation der Ökonomie ....................................................................26 2.2.1 Das Aufkommen neuer Technologien .......................................................27 2.2.2 Die Globalisierung – die Internationalisierung nationaler Ökonomien .....................................28 2.2.3 Der technisch-ökonomische Paradigmawechsel ......................................30 2.2.4 Die Regionalisierung nationaler Ökonomien und das Fortschreiten der Europäischen Integration ..............................32 2.3 Die Transformation des Staates .........................................................................34 2.3.1 Die Veränderung der Staatsform ..............................................................34 2.3.1.1 Die ökonomische Funktion und die soziale Funktion des Staates .................................................34 2.3.1.2 Vom keynesianischen Welfare-Staat zum schumpeterianischen Workfare-Staat .................................35 2.3.2 Die Umstrukturierung des Staates ...........................................................37 2.3.2.1 Die drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates ...............37 2.3.2.2 Der Vollzieher der allgemeinen Funktion – der Nationalstaat.........................................................................39 2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik ....................................................46 2.4.1 Rolle und Art der Sozialpolitik .................................................................46 2.4.2 Zur Workfare-Orientierung ......................................................................50
6
Inhaltsverzeichnis
3
Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder ..........................55
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus .....................................................56 3.1.1 Das liberale Wohlfahrtsregime ................................................................58 3.1.1.1 Der Ursprung des liberalen Wohlfahrtsregimes .........................58 3.1.1.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des liberalen Wohlfahrtsstaates ..................................................59 3.1.1.3 Die Stratifizierung des liberalen Wohlfahrtsstaates....................61 3.1.2 Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime ............................................61 3.1.2.1 Der Ursprung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes .....................................................................61 3.1.2.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates..............................62 3.1.2.3 Die Stratifizierung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates .......................................................................63 3.1.3 Das konservative Wohlfahrtsregime .........................................................64 3.1.3.1 Der Ursprung des konservativen Wohlfahrtsregimes .................64 3.1.3.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des konservativen Wohlfahrtsstaates ..........................................65 3.1.3.3 Die Stratifizierung des konservativen Wohlfahrtsstaates ...........67 3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes ......................................................68 3.2.1 Die drei Ursachen der Entstehung ...........................................................68 3.2.2 Der historische Prozess des Entstehens ...................................................71 3.2.2.1 Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime ..............................71 3.2.2.2 Das konservative Wohlfahrtsregime ..........................................73 3.2.2.3 Das liberale Wohlfahrtsregime ...................................................74 3.2.3 Die herrschende Klasse und die regierende Klasse .................................76 3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates .........................................................81 3.3.1 Der Umbruch der Grundbedingungen für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates ...............................................................................81 3.3.2 Die unveränderlich bleibenden Grundmerkmale der Sozialpolitik ..........83 3.3.3 Der heutige Zustand der Gewerkschaften in den drei Wohlfahrtsregimes .................................................................86 3.3.3.1 Die Gewerkschaften im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime .......................................................................88 3.3.3.2 Die Gewerkschaften im konservativen Wohlfahrtsregime .........89 3.3.3.3 Die Gewerkschaften im liberalen Wohlfahrtsregime .................92 3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära ............................93 3.4.1 Die sozialpolitische Strategie des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates ...........................................93 3.4.1.1 Wohlfahrtsproduktion ................................................................93 3.4.1.2 Reaktion auf neue Sozialfragen ..................................................94
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3.4.1.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates..............................97 3.4.2 Die sozialpolitische Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates ..............100 3.4.2.1 Wohlfahrtsproduktion ..............................................................100 3.4.2.2 Reaktion auf neue Sozialfragen ................................................101 3.4.2.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates ................................................104 3.4.3 Die sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ......................................................106 3.4.3.1 Wohlfahrtsproduktion ..............................................................106 3.4.3.2 Reaktion auf neue Sozialfragen ................................................107 3.4.3.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ........................................109 3.5 Ein Design einer empirischen Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik ...............................................................116 3.5.1 Zum Untersuchungsgegenstand ..............................................................117 3.5.2 Zur Analyse der Restrukturierungsform .................................................119 3.5.3 Zur Untersuchung der Veränderungen innerhalb der Struktur ..............123 3.5.4 Begriffliche Erläuterungen für empirische Untersuchung......................124 4
Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien als Beispiel eines liberalen Wohlfahrtsregimes............................................127
4.1 Einleitung .........................................................................................................127 4.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre ..............................127 4.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der britischen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg ...................................134 4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre ..............................138 4.2.1 Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.................................138 4.2.1.1 Eine Übersicht über das Finanzierungssystem .........................139 4.2.1.2 Die Sozialversicherungsbeiträge ..............................................140 4.2.2 Die Alterssicherung ................................................................................142 4.2.3 Die Krankensicherung ............................................................................151 4.2.3.1 Die Gesundheitsversorgung .....................................................151 4.2.3.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................154 4.2.4 Die Arbeitslosensicherung......................................................................156 4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme .......................................158 4.3.1 Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.................................158 4.3.1.1 Eine Übersicht über das Finanzierungssystem .........................158 4.3.1.2 Die Sozialversicherungsbeiträge ..............................................158 4.3.2 Die Alterssicherung ................................................................................162 4.3.3 Die Krankensicherung ............................................................................172
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4.3.3.1 Die Gesundheitsversorgung .....................................................172 4.3.3.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................176 4.3.4 Die Arbeitslosensicherung......................................................................180 4.4 Die Auswertung der Transformation der britischen sozialen Sicherungssysteme ......................................................183 4.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme ..................................183 4.4.1.1 Die Restrukturierung ................................................................183 4.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................187 4.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme ..............................193 4.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme .......193 4.4.2.1.1 Die Restrukturierung ...............................................193 4.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................194 4.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme ........199 4.4.2.2.1 Die Restrukturierung ...............................................199 4.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................201 4.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme ........................202 4.4.3.1 Die Restrukturierung ................................................................202 4.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................204 4.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen.....................................................205 5
Das soziale Sicherungssystem von Schweden als Beispiel eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes ......................209
5.1 Einleitung .........................................................................................................209 5.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre ..............................209 5.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der schwedischen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg ...................................215 5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre ........................216 5.2.1 Die Alterssicherung ................................................................................216 5.2.2 Die Krankensicherung ............................................................................222 5.2.2.1 Die Gesundheitsversorgung .....................................................222 5.2.2.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................224 5.2.3 Die Arbeitslosensicherung......................................................................226 5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme.................................230 5.3.1 Die Alterssicherung ................................................................................230 5.3.2 Die Krankensicherung ............................................................................239 5.3.2.1 Die Gesundheitsversorgung .....................................................239 5.3.2.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................242 5.3.3 Die Arbeitslosensicherung......................................................................245 5.4 Die Auswertung der Transformation der schwedischen sozialen Sicherungssysteme .............................................................................249 5.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme ..................................249
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5.4.1.1 Die Restrukturierung ................................................................249 5.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................252 5.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme ..............................259 5.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme .......259 5.4.2.1.1 Die Restrukturierung ...............................................259 5.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................262 5.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme ........264 5.4.2.2.1 Die Restrukturierung ...............................................264 5.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................265 5.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme ........................266 5.4.3.1 Die Restrukturierung ................................................................266 5.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................267 5.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen.....................................................270 6
Das soziale Sicherungssystem von Deutschland als Beispiel eines konservativen Wohlfahrtsregimes ................................................................273
6.1 Einleitung .........................................................................................................273 6.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre ..............................273 6.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der deutschen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg ....................................281 6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre ..............................282 6.2.1 Die Alterssicherung ................................................................................282 6.2.2 Die Krankensicherung ............................................................................290 6.2.2.1 Die Gesundheitsversorgung .....................................................290 6.2.2.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................293 6.2.3 Die Arbeitslosensicherung......................................................................295 6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme .......................................299 6.3.1 Die Alterssicherung ................................................................................299 6.3.2 Die Krankensicherung ............................................................................308 6.3.2.1 Gesundheitsversorgung ............................................................308 6.3.2.2 Die Verdienstersatzleistungen ..................................................311 6.3.3 Die Arbeitslosensicherung......................................................................313 6.4 Die Auswertung der Transformation der deutschen sozialen Sicherungssysteme ...........................................................................................316 6.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme ..................................316 6.4.1.1 Die Restrukturierung ................................................................316 6.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................318 6.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme ..............................325 6.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme .......325 6.4.2.1.1 Die Restrukturierung ...............................................325 6.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................326
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Inhaltsverzeichnis 6.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme ........329 6.4.2.2.1 Die Restrukturierung ...............................................329 6.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................329 6.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme ........................331 6.4.3.1 Die Restrukturierung ................................................................331 6.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ..................................331 6.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen.....................................................332 6.4.5 Exkurs: Zusammenfassung und Auswertung der Reformen seit 2004 ...........................................................................334 6.4.5.1 Die Reformen der Arbeitslosensicherung.................................334 6.4.5.2 Die Reformen der Krankensicherung .......................................335 6.4.5.3 Die Reformen der Altersicherung ............................................337 6.4.5.4 Die Auswertung der Reformen.................................................339
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Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse .....................343
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder .............................................343 7.1.1 Die Unterschiede der Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme..................................................................................343 7.1.1.1 Die britischen sozialen Sicherungssysteme – privatheitszentrierte Restrukturierung ......................................345 7.1.1.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme – öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung ...............................345 7.1.1.3 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme – Status quo (keine Restrukturierung) .........................................345 7.1.2 Die Auswirkungen der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme..............................................................347 7.1.2.1 Schweden .................................................................................349 7.1.2.2 Großbritannien .........................................................................351 7.1.2.3 Deutschland ..............................................................................352 7.2 Die Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder .............................................355 7.2.1 Die Gemeinsamkeiten in der Alterssicherung ........................................355 7.2.2 Die Gemeinsamkeiten in der Krankensicherung ....................................358 7.2.3 Die Gemeinsamkeiten in der Arbeitslosensicherung ..............................359 7.3 Die Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation der sozialen Sicherungssysteme ...........................................................................................360 7.3.1 Ursachen der Workfare-Orientierung und ihr Einfluss auf die sozialen Sicherungssysteme ........................................................361 7.3.1.1 Die postfordistische Vergesellschaftungsdynamik ...................361 7.3.1.2 Die Auswirkungen der Europäischen Integration.....................361
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7.3.1.3 Die Überalterung der Bevölkerung ..........................................363 7.3.2 Die Implikationen der Workfare-Orientierung für die Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme.............365 7.4 Die Ursachen der Diversität der Restrukturierungsform der sozialen Sicherungssysteme ...........................................................................................368 7.4.1 Der wesentliche Grund: Die machtpolitischen Kräfteverhältnisse ........368 7.4.2 Die Auswirkung der sozialpolitischen Strategien auf die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme .....................371 7.4.2.1 Großbritannien .........................................................................371 7.4.2.2 Schweden .................................................................................372 7.4.2.3 Deutschland ..............................................................................373 7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates, die Form der Flexibilisierung und die sozialen Folgen ....................................376 7.5.1 Transformation, Form und Folge im liberalen Wohlfahrtsregime .........376 7.5.2 Transformation, Form und Folge im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime ...................................................................................378 7.5.3 Transformation, Form und Folge im konservativen Wohlfahrtsregime ...................................................................................379 8
Schlussbetrachtung ........................................................................................383
Literaturverzeichnis ...............................................................................................389 Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen ...............................419 Anhang-Tabellen und -Abbildungen ....................................................................423
1 Einleitung
1.1 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates – Umbau, Abbau oder Erhaltung? 1.1 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates Mit den Weltwirtschaftskrisen von 1974/75 und 1980-82 gerieten die entwickelten kapitalistischen Länder in eine tiefe sozioökonomische Krise. Das Wirtschaftswachstum ging ständig zurück. Die Arbeitslosigkeit und die Armut nahmen drastisch zu. Die Struktur der traditionellen Familie wurde allmählich instabil. Die Staaten reagierten mit verschiedenen Maßnahmen und Reformen, um die neuen Probleme zu beseitigen. Die Schwierigkeiten und Probleme wurden jedoch nicht wirklich behoben. Vielmehr ist der Modus der Intervention des Staates, d.h. der Wohlfahrtsstaat an sich, der früher als Instrument des Krisenmanagements hoch gewürdigt worden war, „selbst zum Objekt permanenter Krisendiagnostik und – offensichtlich vergeblicher – Krisenbewältigung geworden.“ (Lessenich 2000: 65) Vor diesem Hintergrund werden nun die politischen Bestrebungen zur Transformation des Wohlfahrtsstaates fortgesetzt, um ihn an die neuen sozioökonomischen Umstände anzupassen. Während der letzten zwei Jahrzehnte wurden bereits viele Monographien und Bücher veröffentlicht, welche die Transformationstrends der Wohlfahrtsstaaten der westeuropäischen Länder darstellen. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind grob in folgende drei Arten zu unterteilen: Umbau, Abbau oder Erhaltung. Zum Beispiel stand mit Bezug auf die Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates bei den Erklärungen einiger Akademiker, so bei Lothar Lißner und Josef Wöss (1999), der Umbau im Zentrum. Einige, z.B. Christoph Butterwegge (2001), betonten den Abbau oder Rückbau des Wohlfahrtsstaates. Bei den Erklärungen der dritten Gruppe, so unter anderem Josef Schmid (2002), standen Erhaltung und/oder Kontinuität zwischen Vergangenheit und Heute im Mittelpunkt. Auf Grundlage dieser drei möglichen Ergebnisse – Umbau, Abbau oder Erhaltung – werden daher die Transformationen der Wohlfahrtsstaaten der europäischen Länder zu prüfen sein. Dabei wird dieser Themenschwerpunkt in dieser Dissertation umfangreicher und empirischer behandelt werden als in bereits bestehenden Untersuchungen. Zuerst werden die Sozialpolitiken der europäischen Länder in der Mitte der 70er Jahre, also beim Zeitpunkt des Beginns
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1 Einleitung
der bereits genannten ersten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, und die heutigen Sozialpolitiken der Länder ausführlich dargestellt. Danach werden die beiden Sozialpolitiken, also die der 70er Jahre eines Landes und die heutige des nämlichen Landes, unmittelbar miteinander verglichen. Von den Bereichen der Sozialpolitik sind die konkreten Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit die Systeme der ‚sozialen Sicherung‘ als Kernteil der Sozialpolitik. 1 Bei der Analyse wird besondere Aufmerksamkeit auf die drei Kategorien Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung gelenkt, die, wie allgemein bekannt ist, nach der Wirtschaftskrise unter den Einzelbereichen der sozialen Sicherung die bedeutendste Veränderung erfahren haben. Bei den Gegenüberstellungen in der Zeitebene werden Leistungsart, erfasster Personenkreis, Anspruchsvoraussetzung, Leistungsniveau und -dauer, Finanzierungsmodus und Trägersystem jeder Kategorie ausführlich verglichen. Diese Dissertation zielt also darauf ab, Differenzen und Gemeinsamkeiten der Transformation durch den Vergleich der heutigen sozialen Sicherungssysteme der westeuropäischen Länder mit ihren sozialen Sicherungssystemen der Mitte der 70er Jahre herauszufinden und unter der sozioökonomischen und sozialklassischen Betrachtungsweise die Ursachen und sozialen Folgen der Transformation auszuwerten. Gemäß der oben erwähnten Zielsetzung sollen folgende Fragen kurz erörtert werden: 1.
2.
3.
1
Welche spezifischen Formen und welchen Charakter hatten unter den unterschiedlichen nationalen Entwicklungsbedingungen die sozialen Sicherungssysteme der westeuropäischen Länder in den 70er Jahren? Welche Formen und welchen Charakter haben dann ihre heutigen sozialen Sicherungssysteme? Wurden mittlerweile die Systeme der sozialen Sicherung der europäischen Länder restrukturiert? Wie wurden ihre Systeme der sozialen Sicherung restrukturiert? Diese Fragen lassen sich als Fragen danach konkretisieren, ob eine vorhandene Leistung abgeschafft wurde, eine alte Leistung durch eine neue Leistung ersetzt wurde oder eine Leistung erneut eingeführt wurde. Bei der Analyse der Restrukturierung werden die drei Momente der Umorganisierung ‚Abschaffung‘, ‚Ersatz‘ und ‚Einführung‘ untersucht. Wie und inwiefern wurden die sozialen Sicherungssysteme innerhalb der Struktur verändert? Diese Frage lässt sich als Frage nach den Veränderungen des erfassten Personenkreises, der Anspruchsvoraussetzung, des LeisHeinz Lampert zufolge lässt sich das soziale Sicherungssystem als „die Summe aller Einrichtungen und Maßnahmen, die das Ziel haben, die Bürger gegen die Risken zu schützen“, definieren (Lampert und Althammer 2004: 234).
1.1 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates
4.
15
tungsniveaus und der Leistungsdauer, des Finanzierungsmodus und des Trägersystems der Einzelbereiche der sozialen Sicherung konkretisieren. Die Veränderungen innerhalb der Struktur werden sowohl mit der Restrukturierung als auch ohne die Restrukturierung vorgenommen. Sie werden daher im Vergleich mit der obigen Restrukturierungsänderung als relativ marginaler Wandel bewertet. Was sind die Differenzen und die Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme der westeuropäischen Länder? Was sind die Ursachen der Gemeinsamkeiten der Transformation? Was sind die Ursachen der Differenzen? Wie unterscheiden sich infolge der verschiedenen Formen der Transformation der sozialen Sicherungssysteme die jeweilig akuten sozialen Folgen?
In Bezug auf diese Fragestellungen wurden folgende Hypothesen durch ein Gedankenexperiment aufgestellt. 1.
2.
3.
Angesichts der Globalisierung, des Wandels des dominanten technischökonomischen Paradigmas und des Voranschreitens des europäischen Integrationsprozesses erfahren die europäischen Länder einen grundlegenden Umbruch ihrer Ökonomie. Deshalb unterliegen auch die staatlichen Systeme und ihre Sozialpolitiken einem Anpassungsdruck grundlegender Restrukturierung. Dabei sollte sich die Orientierung der Sozialpolitik von der umverteilenden und marktkorrigierenden zur marktkonformen und produktivitäts- sowie wettbewerbsfähigkeitsfördernden umsetzen. Die traditionellen politischen Ideologien der westlichen Länder lassen sich in Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus unterteilen. Darum sollten die Formen der sozialpolitischen Regulation der kapitalistischen Länder Europas gemäß den politischen Ideologien in solche Formen mit liberalem, konservativem und sozialdemokratischem Charakter eingeordnet werden. Diese unterschiedlichen sozialpolitischen Charakteristika werden also von dem vorherrschenden Gleichgewicht der politischen Kräfte und dem Pattern des kollektiven Handelns der Arbeiterklasse als gesellschaftlicher Akteur bestimmt. Da sich die dominanten Regierungs- und Parteikonstellationen der meisten westeuropäischen Länder seit der Mitte der 70er Jahre nicht groß veränderten, versuchen die europäischen Wohlfahrtsstaaten derzeit, auf der Grundlage des ihnen eigenen nationalspezifischen Charakters ihre Sozialpolitik und ihre Systeme der sozialen Sicherung zu restrukturieren. In den Transformationsprozessen der sozialen Sicherungssysteme lassen sich die Kürzung des Leistungsniveaus, die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzung, die Stärkung der Verbindung zwischen der Arbeit und der
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4.
5.
1 Einleitung Sozialleistung und andere korrespondierende Veränderungen in nahezu allen europäischen Ländern studieren. Diese Konvergenz bei den Veränderungen innerhalb der Struktur ist auf den Umbruch der Orientierung bzw. der Leitlinie der staatlichen Sozialpolitik zurückzuführen. Der Konvergenz steht jedoch eine Vielfalt der Reorganisierung gegenüber. Die europäischen Länder zeigen heute unterschiedliche Restrukturierungsformen. Die liberalen Wohlfahrtsstaaten haben die Restrukturierung durchgeführt, in der durch ‚Abschaffung‘, Ersatz‘ oder ‚Einführung‘ die Verantwortlichkeit des Staates für die soziale Sicherung reduziert und stattdessen die Verantwortung des Marktes oder des Individuums erweitert wurde. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten vollzog sich die Restrukturierung, in der die Verantwortlichkeit des Staates erhalten blieb oder sogar vermehrt wurde. Bei der Restrukturierung der konservativen Wohlfahrtsstaaten zeigt sich innere Reformresistenz bzw. die Tendenz, strukturverändernde Problemlösungsansätze zu übergehen oder final zu verzögern. Diese Diversität der Restrukturierungsform spiegelt die jeweiligen Charakteristika der sozialpolitischen Strategien wider, die unter anderem auf der Grundlage der nationalspezifischen innewohnenden Logik der Wohlfahrtsstaaten herausgebildet werden und die spezifisch eigenen, politischen Konstellationen jedes Landes reflektieren. Infolge der verschiedenen Restrukturierungsformen zeigen die Wohlfahrtsstaaten unterschiedliche Haupttrends oder -merkmale der Transformation: ‚Umbau‘ in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten, ‚Abbau‘ in den liberalen Wohlfahrtsstaaten und ‚Erhaltung‘ in den konservativen Wohlfahrtsstaaten. Angesichts dieser verschiedenen Transformationsformen lassen sich nun unterschiedliche soziale Folgen in den westeuropäischen Ländern beobachten: In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten wird heute noch eine hochgradige soziale Inklusion gefunden. Die liberalen Wohlfahrtsstaaten zeigen derzeit eine ausgeprägte soziale Exklusion. In den konservativen Wohlfahrtsstaaten existieren umfassende Probleme des Anpassungsdefizits an die neue ökonomische Situation, weil diese Staaten sich nicht restrukturierten.
1.2 Die methodische Anlage 1.2 Die methodische Anlage Die oben erwähnten Hypothesen werden durch folgende methodische Anlage überprüft:
1.2 Die methodische Anlage
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Die theoretische Basis dieser Arbeit ist die ‚materialistische Staatstheorie’2. Auf dieser theoretischen Grundlage werden für das tiefgreifende Verständnis der Entwicklung der Sozialpolitik und der Systeme der sozialen Sicherung in der Phase des gegenwärtigen Kapitalismus folgende Marx’sche oder klassenkonflikttheoretische Ansätze genutzt: Um den Umbruch der strategischen Orientierung der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates zu beleuchten, wird der regulationstheoretische und strategisch-relationale Ansatz von Bob Jessop angewandt. Um die empirische Vielfalt der nationalspezifischen Sozialpolitiken auf wenige Grundtypen zu reduzieren, wird die Wohlfahrtsregime-Typologie nach Gøsta Esping-Andersen verwendet. Und auf der Grundlage der jüngeren Publikationen von Esping-Andersen werden die Inhalte der sozialpolitischen Strategien der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten in der postfordistischen Ära konfiguriert. Mit Bezug auf die Komplementarität zwischen den Theorien von Jessop und Esping-Andersen erscheint es für die Untersuchung der Transformation der sozialen Sicherungssysteme des kapitalistischen Staates als sinnvoller, die Konzepte von Esping-Andersen in Jessops Analysen des Staates und der Strategien einzufügen, als einige staatstheoretische Elemente des Jessopschen Modells in die Analyse der Wohlfahrtsstaaten von Esping-Andersen einzubauen. Die Methodik der empirischen Untersuchung ist eine vergleichende Analyse. Basierend auf der Wohlfahrtsregime-Typologie nach Esping-Andersen werden zuerst als konkreter Analysegegenstand drei westeuropäische Länder ausgewählt, die die spezifischen Charaktere der jeweiligen Wohlfahrtsregimes am besten vertreten: Schweden als ein repräsentativer Staat des sozialdemokratischen Regimes in Skandinavien, Deutschland als Beispiel des konservativen Wohlfahrtsregimes im westlichen Kontinentaleuropa und Großbritannien als Beispiel des liberalen im angelsächsischen Raum. Danach werden bei den drei Ländern die sozialen Sicherungssysteme der Mitte der 70er Jahre mit den sozialen Sicherungssystemen des Jahres 2002 oder des Jahres 2003 verglichen. Dabei stellt die Richtschnur des Vergleichs die Zeitebene dar. In diesem temporalen Zusammenhang wird die Gegenüberstellung der Systeme eines Landes gegenüber denen anderer Länder nicht in die Betrachtung einbezogen. Bei der Analyse der Alterssicherung werden staatliche Renten untersucht. In Bezug auf die 2
„In der materialistischen Theorie wird der Staat also nicht als eine von den Menschen bewusst eingerichtete, zweckbestimmte Organisation und schon gar nicht als Verkörperung eines »Allgemeinwohls« begriffen, sondern als die Form, die ein Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis unter besonderen historischen Bedingungen annimmt und deren Herausbildung nicht als bewusste Tat, sondern gewissermaßen als ein sich hinter dem Rücken der Handelnden durchsetzendes Ergebnis von Klassenkämpfen, eben des Kampfes um das Mehrprodukt verstanden werden muss.“ (Hirsch 2005: 19)
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1 Einleitung
Krankensicherung werden die Analysen des Gesundheitsversorgungssystems und der Verdienstersatzleistungen bei Krankheit unternommen. Schließlich werden bei der Arbeitslosensicherung die Analysen der Verdienstersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit, also Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, angestellt. Daran schließt sich der Versuch an, durch eine vergleichende Analyse der Untersuchungsergebnisse der britischen, der schwedischen und der deutschen sozialen Sicherungssysteme die Gemeinsamkeiten und die Differenzen der Transformation zu finden. 1.3 Zum Aufbau der Arbeit 1.3 Zum Aufbau der Arbeit Nach dem ersten Kapitel, der hier vorliegenden Einleitung, wird im 2. Kapitel die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates untersucht. In diesem Kapitel steht daher der Ansatz von Bob Jessop – vor allem dessen These ‚Übergang der Staatsform vom keynesianischen Welfare-Staat zum schumpeterianischen Workfare-Staat‘ – im Zentrum. Zunächst wird die Transformation der Ökonomie in der Phase des gegenwärtigen Kapitalismus erklärt. Dann wird die Veränderung der Staatlichkeit – unter anderem der Wandel der strategischen Orientierung der Sozialpolitik des kapitalistischen Staates vom ‚Welfare‘ zum ‚Workfare‘ – beleuchtet. Am Ende des Kapitels werden die Inhalte der Workfare-Orientierung ausführlich zusammengefasst. Hierbei ist darauf zu verweisen, dass die Argumente des 2. Kapitels primär auf den Gedanken und Meinungen von Jessop beruhen. An einigen Stellen werden Gedanken und Meinungen anderer Theoretiker die Argumente von Jessop ergänzend ‚helfen‘ und ‚interpretieren‘ oder ‚kritisieren‘. Jedoch soll darauf verzichtet werden, mittels anderer nicht kongruent korrespondierender Gedankengänge anderer Theoretiker den Ansatz von Jessop zu modifizieren. Jessops Ansatz passt so gut zu der Fragestellung dieser Arbeit, dass eine solche Inklusion weiterer Ideen in Jessops Argumentation die Gefahr einer Verkomplizierung und Verfälschung zu deutlich in sich trägt. Im 3. Kapitel werden auf der Grundlage des Ansatzes von Esping-Andersen die institutionellen Merkmale der jeweiligen liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ausführlich gezeigt. Am Ende des Kapitels werden die Inhalte der sozialpolitischen Strategien jedes der drei Wohlfahrtsregimes in der postfordistischen Ära konfiguriert. Dabei werden soziale Folgen bzw. Auswirkungen der sozialpolitischen Strategien primär durch die Analysen der Arbeitslosenquoten und der Armutsraten jedes Wohlfahrtsregimes untersucht. Hier ist anzumerken, dass die Argumente des 3. Kapitels auf den Gedanken und Meinungen von Esping-Andersen beruhen. Der Verzicht auf eine Mischung
1.3 Zum Aufbau der Arbeit
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verschiedener Ansätze oder eine zu deutliche Einbindung fremder Ideen in den Ansatz von Esping-Andersen ist ebenso zu begründen wie bei Jessop im 2. Kapitel. Im 4. Kapitel werden die sozialen Sicherungssysteme Großbritanniens untersucht. Zuerst wird die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme im Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der 1970er Jahre umrissen. Dann werden die sozialen Sicherungssysteme der Mitte der 70er Jahre untersucht. Anschließend werden die sozialen Sicherungssysteme in der jüngsten Vergangenheit ausführlich vorgestellt. Danach werden durch Vergleiche zwischen den Systemen der Mitte der 70er Jahre und der jüngsten Vergangenheit die Restrukturierungsänderungen und die innerstrukturellen Veränderungen herausgestellt. Im 5. Kapitel werden die schwedischen sozialen Sicherungssysteme in nämlicher Weise vorgestellt und untersucht, im 6. Kapitel liegt der Fokus auf den deutschen sozialen Sicherungssystemen. Im 7. Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen der drei Vorkapitel geschlossen ausgewertet. Zuerst werden die wesentlichen Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Transformationen der britischen, der schwedischen und der deutschen sozialen Sicherungssysteme vorgestellt. Dann werden die Ursachen der Gemeinsamkeiten und Differenzen ausführlich untersucht. Schließlich werden im letzten Abschnitt des 7. Kapitels die Transformationstrends jedes der drei Wohlfahrtsstaaten und ihre sozialen Folgen untersucht, welche unter anderem aus den unterschiedlichen Restrukturierungsformen resultieren.
2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates 2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
2.1 Die Krise der fordistischen Gesellschaftsformation 2.1 Die Krise der fordistischen Gesellschaftsformation 2.1.1 Die ökonomischen und politischen Krisen nach 1974 Im Zuge der Ölkrise 1974/75 und der anschließend ausgebrochenen weltweiten Rezession gerieten die europäischen Länder in eine tiefe Krise. Das Wirtschaftswachstum ging ständig zurück. Dies hing vor allem mit dem tendenziellen Abfall der Kapitalrentabilität zusammen. Die entwickelten kapitalistischen Länder hatten dabei die Probleme der Überakkumulation und der Überproduktion. Konkret gesagt bedeutete dies, dass eine Kluft in dem Massenproduktions- und Massenkonsumsystem entstand, das den erheblichen Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit erzeugt hatte. Die Dysfunktion des Produktionssystems war unter anderem auf das allmähliche Sinken der Produktivität im weiteren Sinn zurückzuführen. Die dynamische Verbindung zwischen Produktivitäts- und Reallohnsteigerung konnte nicht mehr aufrechterhalten werden (Vroey 1984: 53-57; Clarke 1988: 79-89; Schettkat 1998: 211-214). Die Arbeitslosigkeit stieg massiv und die Vollbeschäftigung schien nicht mehr erreichbar. Die hohe Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit wurde so ein neues allgemeines Phänomen der Gesellschaft (Ganßmann 2000: 83; Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 121-129; Schmid 2002: 245). Außerdem wurden die gesellschaftlich positiven Effekte der kollektiven Tarifverhandlungen und -vereinbarungen in Frage gestellt. Von Seiten der Unternehmer wurden bald Forderungen nach Lohn- und Beschäftigungsflexibilität erhoben (Deppe 1995: 346). Zu der Rezession in der Mehrzahl der westlichen Länder kam auch noch die Krise des internationalen Wirtschaftsregimes unter US-Dollar-Hegemonie. Das Bretton-Wood-System erwies sich als unfähig, die Bedingungen für effektives ökonomisches Handeln der kapitalistischen Länder sicherzustellen (Aglietta 1982: 23-25; Vroey 1984: 60-64; Brenner 2002: 41-82). Im Verlauf dieser Wirtschaftskrisen erachtete man mehr und mehr die Vorstellung, der Staat sei ein struktureller Kernunterstützer des Wirtschaftsaufschwungs, wie er es in der Nachkriegszeit gewesen war, als überholt. Seine
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
aktiven Interventionspolitiken waren immer weniger in der Lage, ihre Ziele – Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, angemessene Wohlfahrtsleistungen sowie politische Kohäsion und Klassenkompromiss – zu erreichen (Vroey 1984: 57 f.; Hirsch 1985: 170-172; Ziebura 1992: 474). Im Zuge des drastischen Anstiegs der Ausgaben für öffentliche Leistungen und der schrumpfenden Steuereinnahmen vergrößerte sich die staatliche Verschuldung massiv. In der Folge gerieten die europäischen Staaten in eine andauernde Finanzkrise (Pierson 1991: 173; 1994: 98 f.; Ganßmann 2000: 83). „Die Verschiebung anstehender Verteilungskonflikte durch eine wachsende Staatsverschuldung führe zu inflationären Entwicklungen“ (Kaufmann 2005a: 303; hierzu ausführlich Vroey 1984: 58). Außerdem stellte man zunehmend fest, dass die bürokratische Interventionsweise, vor allem im sozialen Dienstleistungssektor, ineffizient war (Kaufmann 2005a: 304). Mit der bestehenden einheitlichen Politik des Zentralstaates konnten die spezifischen Fragen und Forderungen lokaler Einheiten und ihrer BürgerInnen nicht gut beantwortet oder erfüllt werden (vgl. Bogason 1996; Roth 2003). In einem Satz zusammengefasst kann man sagen: Von übermäßigen Forderungen überbeansprucht, funktionierte der Staat nicht mehr wie erwartet. Da die vielfältigen – aber zumeist kurzfristigen – Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die Krise des Staates zu bewältigen3, die Bedingungen des Nachkriegswachstums nicht mehr wiederherstellen konnten (vgl. Bieling und Deppe 1996: 492), haben sich die verschiedenen Krisenanzeichen als ein Zeichen einer ‚organischen‘ Krise des Staates als Ganzes herausgestellt, deren Überwindung eine grundsätzliche strukturelle Transformation des Staates erfordern sollte (Jessop 1997: 59 ff.). Unter diesen Umständen verschärfte sich auch die soziale Frage, und zwar in Form von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut. Die Ungleichheit und die soziale Exklusion vertieften und verbreiteten sich immer weiter in den europäischen Gesellschaften (vgl. Bieling 2000: 10-25; Novak: 2001; Jacobs 2000: 246-259). Angesichts der Fluktuation der Linksparteien bei Wahlen und der Schwächung des korporatistischen Systems vergrößerte sich die Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit immer mehr (Deppe 1995: 347 f.; Pierson 1991: 171 f.; Fülberth 2005: 276). Die neu entstandenen sog. ‚neuen sozialen Bewegungen‘, z.B. die Ökologiebewegung, die Frauenbewegung und der Antirassismus, verleugneten die etatistische Logik des staatlichen Interventionismus und forderten neue alternative politische und gesellschaftliche Ordnungen (Pierson 1998: 66-98; Hirsch 1990: 137-176; Habermas 1973). 3
Als eine geradezu repräsentative Maßnahme kann die ‚Politik der sozialen Einschnitte‘ genannt werden. Eine weitere, meist damit verbundene, ist die Sparpolitik bezogen auf die Ausgabenseite. Diese beiden Politiken zielten vor allem darauf ab, die Inflation zu dämpfen und die Haushaltsdefizite zu verringern (Jessop 1997: 60).
2.1 Die Krise der fordistischen Gesellschaftsformation 2.1.2
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Die postfordistische Vergesellschaftungsdynamik
Durch diese ökonomischen, politischen und sozialstrukturellen Krisen ließ sich allgemein feststellen, dass das Massenproduktions- und Massenkonsumsystem per fordistische Arbeitsorganisation und die wohlfahrtsstaatliche Interventionspolitik im Wesentlichen an ihre Grenzen geriet. Auf die komplexen Krisen der europäischen bzw. atlantischen fordistischen Form der Reproduktion-Regulation reagieren Kapital und Staat mit vielfältigen Maßnahmen und Politiken, die im Vergleich mit früheren ganz andere Orientierungen, Stoßrichtungen und Ideologien beinhalten. Hierbei ist vor allem der ‚neoliberale‘ Slogan nach ‚mehr Markt und weniger Staat‘ in einer ‚offeneren Ökonomie‘ zu nennen (Hirsch 1985; Albertsen 1988). Unter diesem Kontext unterliegen die europäischen Gesellschaften heute einer grundlegenden strukturellen Neuordnung und strategischen Neuorientierung. Bei den „Veränderungen in der Art der »Selbstverwertung in und durch Regulation«“ (Jessop 1997: 50; Hervorhebung im Original), die im gegenwärtigen Kapitalismus auftreten, lassen sich laut Bob Jessop (1997: 78; 1992: 245) vor allem vier entscheidende Tendenzen deutlich beobachten: ein Aufkommen neuer Technologien; eine Internationalisierung nationaler Ökonomien; ein Wandel des dominanten technisch-ökonomischen Paradigmas; und eine Regionalisierung globaler und nationaler Ökonomie. Diese vier Arten postfordistischer Vergesellschaftungsdynamik lassen sich nicht nur in Westeuropa, sondern auch in anderen Wachstumspolen, d.h. in Nordamerika und in Südostasien, feststellen (Jessop 2001: 144; Hirsch 2001). In diesem Kapitel werden Implikationen, welche die postfordistische Vergesellschaftungsdynamik für die Transformationen der europäischen Gesellschaftsformationen hat, konkret betrachtet. Davor sollte hier darauf verwiesen werden, dass die Darlegung in diesem Kapitel auf einer theoretischen Dichotomie des ‚Ökonomischen‘ und ‚Politischen‘ – gemäß den Begriffen „integrale Ökonomie“ und „integraler Staat“ nach Jessop – beruht (1990a: 5 f.; 1992: 233 f.; 1993: 8; 1997: 51; 2008: 24): Grundlegend auf der integralen Betrachtung des Staates von Antonio Gramsci4 wird der Staat im inklusiven oder integralen Sinn als „politische Gesellschaft +
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„Wir sind noch auf dem Boden der Gleichsetzung von Staat und Regierung, einer Gleichsetzung, die gerade ein Wiederauftauchen der korporativ-ökonomischen Form ist, daß heißt der Verwechselung von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft, denn es ist festzuhalten, daß in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind (in dem Sinne, könnte man sagen, daß Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang).“ (Gramsci 1992: 783)
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
Zivilgesellschaft“ erfasst 5 ; die Ökonomie wird vom regulationstheoretischen Standpunkt im umfassenden oder integralen Sinn mit den Begriffen „Akkumulationsregime + Sozialregulationsweise oder gesellschaftliche Struktur der Akkumulation“ definiert6; bei der Form integraler ökonomischer und politischer
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Jessop betrachtet die integrale Betrachtung des Staates von Gramsci, d.h. die Analyse der Modalitäten staatlicher Macht, als eine sehr nützliche Weise der Auffassung des Staates. Die verschiedenen Modalitäten staatlicher Macht ermöglichen einem Historischen Block eine Erweiterung seiner Macht über die Grenzen des Staates hinaus und eine Sicherung der Bedingungen politischer Klassenherrschaft. Durch diese integrale Betrachtung des Staates können die verschiedenen Mittel und Wege, durch die die politische, intellektuelle und moralische Führung über die Grenzen des Staates in die weitverzweigte Gesellschaft vermittelt und erweitert werden, verstand werden. Indessen ist es mit der integralen Betrachtung des Staates von Gramsci schwer, die konstitutionellen und institutionellen Charakteristika einer Regierung, ihre formalen Entscheidungsprozeduren oder ihre allgemeinen Politiken zu fassen. Das heißt, dass Gramsci den Analysen des Staates im engeren Sinn, also Regierungsapparaten als solchen bzw. politisch-juridischen Institutionen und Organisationen und Aufteilungen des Staates, weniger Aufmerksamkeit gewidmet hat (Jessop 1992: 233). Jessop versuchte also, die Schwäche in Gramscis Arbeiten mit neogramscianischen Ansätzen zu komplementieren. Jessop nennt die folgenden Ansätze dabei neogramscianisch: Zunächst Nicos Poulantzas (1975a; 1975b; 1977; 2002), dann diverse Diskurs-Theoretiker, z.B. Ernesto Laclau (1977; 1982a; 1982b) und Chantal Mouffe (1979; 1993), und die italienische BariSchule, z.B. Umberto Cerroni (1968; 1974), Lucio Colletti (1970; 1975) und Giuseppe Vacca (1970; 1974) (siehe Jessop 1982: 152 f. und noch ausführlicher Kapitel 4). Aus dieser weiten Zahl von Theorien und Ansätzen steht in der Arbeit von Jessop Poulantzas Staatstheorie zur Ergänzung der Betrachtung des Staates von Gramsci im Zentrum: „Es ist sicherlich eine Schwäche in Gramscis Arbeit, daß er die besonderen organisatorischen Formen des kapitalistischen Staatstyps zugunsten von Untersuchungen der historischen Besonderheiten politischer Klassenkämpfe in der weitverzweigten Gesellschaft vernachlässigte. Sie kann aber ausgeglichen werden, wenn staatliche Macht als formbestimmte Verdichtung von Kräftegleichgewichten im politischen Kampf verstanden wird.“ (Jessop 1992: 233; Hervorhebung von I.R. Baek) Auf der Grundlage der Begriffe und Argumente der Pariser Regulationsschule definiert Jessop das Akkumulationsregime und die Regulationsweise folgendermaßen: „[D]as Akkumulationsregime. Es ist ein komplementäres Muster von Produktion und Konsumtion, das über eine lange Phase hinweg reproduzierbar ist. [...] die Regulationsweise als ein emergentes Ensemble von Normen, Institutionen, Organisationsformen, sozialen Netzwerken und Verhaltensmustern, die ein Akkumulationsregime stabilisieren können. Die Regulationsweise wird im allgemeinen im Hinblick auf fünf Dimensionen untersucht: Das Lohnverhältnis (Organisation von Arbeitsmärkten und Aushandlung von Lohn/Leistung-Verhältnissen, individuelle und soziale Einkommen, Lebensstile), die Unternehmensform (seine interne Organisation, die Profitquellen, Konkurrenzformen, Bindungen zwischen Unternehmen, Verbindungen zum Bankkapital), die Art des Geldes (seine vorherrschende Form und seine Emission, das Bank- und Kreditsystem, die Allokation von Geldkapital zur Produktion), der Staat (der institutionalisierte Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit, Formen der Staatsintervention) und die internationalen Regimes (Handel, Investitionen, monetäre Regelungen und politische Arrangements, die nationale Ökonomien, Nationalstaaten und das Weltsystem miteinander verbinden).“ (Jessop 1992: 238) Der Charakter des Staates und der Regierungspolitik ist der ausschlaggebende Faktor der Dimen-
2.1 Die Krise der fordistischen Gesellschaftsformation
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Artikulation ist der Staat ein wichtiges strukturelles und strategisches Kräftefeld und spielt die Schlüsselrolle bei der Gewährleistung der erweiterten Reproduktion-Regulation des Kapitalismus7 (hierzu ausführlicher Bertramsen 1991). „Erstens werde ich [Jessop] vom regulationstheoretischen Standpunkt die Ökonomie in ihrer inklusiven oder »integralen« Bedeutung behandeln, d.h. als ein Ensemble von sozial eingebetteten, sozial regulierten und strategisch selektiven Institutionen, Organisationen, sozialen Kräften und Aktivitäten, die um die erweiterte Reproduktion des Kapitals als soziales Verhältnis herum angeordnet (oder wenigstens darin involviert) sind. Zweitens werde ich von einem neogramscianischen, staatstheoretischen Standpunkt aus den »Staat in seiner inklusiven Bedeutung« (oder, wie es Gramsci ausdrückte, lo stato integrale) als ein Ensemble von sozial eingebetteten, sozial regulierten und strategisch selektiven Institutionen, Organisationen, sozialen Kräften und Aktivitäten interpretieren, die um die Produktion von kollektiv bindenden Entscheidungen für eine imaginäre politische Gemeinschaft angeordnet (oder wenigstens darin involviert) sind. In diesem Sinn handelt es sich jeweils nur um eine mögliche Form der Organisation politischer Verhältnisse.“ (Jessop 1997: 51; Hervorhebung im Original)
Jessop erfasst die Regulationstheorie als eine Forschung über „die gesellschaftliche Einbettung und gesellschaftliche Regulation der Akkumulation“. Er versteht die neogramscianische Staatstheorie als eine Analyse über „die gesellschaftliche Einbettung und gesellschaftliche Regulation staatlicher Macht“ (Jessop 1992: 234). Einerseits haben jedoch die neogramscianischen Staatstheoretiker den Rollen des Staates für die Selbstverwertung des Kapitals, und zwar der Natur und den Formen ökonomischer Staatsinterventionen, tendenziell noch wenigere Aufmerksamkeit gewidmet. Andererseits werden die Regulationstheorien von
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sionen der Regulationsweise, also der Modalitäten ökonomischer Regulation (Jessop 1989: 262). „In diesem Kontext erhält der Staat eine Schlüsselrolle. Sie geht sehr wohl über die enge ökonomische Intervention zur Sicherung der allgemeinen Rahmenbedingungen des Kapitalkreislaufs (wie Geld und Recht), der allgemeinen Bedingungen für kapitalistische Produktion (wie die Reproduktion der Lohnabhängigen oder infrastrukturelle Vorkehrungen) oder des reibungslosen Ablaufs der ökonomischen Zyklen (dank struktureller und/oder konjunktureller Regierungspolitik) hinaus. Es abzulehnen, die Rolle des Staates auf diese Tätigkeiten zu beschränken, heißt keineswegs, ihre Bedeutung für die ökonomische Reproduktion zu verleugnen. In der Tat betonen maßgebliche Pariser Theoretiker die entscheidende Rolle des Staates in der Sicherung des Lohnverhältnisses in all seiner Komplexität und dabei, die wechselseitige Entsprechung unterschiedlicher struktureller Formen der Regulation über einen Zeitraum hinweg zu organisieren (vgl. Aglietta 1979: 32, 383; Boyer 1986a: 53). Wir sollten jedoch auch die Rolle des Staates als bedeutender (wenn nicht wichtigster) Faktor für die Sicherung sozialer Kohäsion in klassengeteilten Gesellschaften und folglich für den Umgang mit den politischen Auswirkungen der notwendig ungleichen, krisenträchtigen Entwicklung kapitalistischer Expansion erkennen.“ (Jessop 1992: 239)
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
Jessop nicht zuletzt deshalb kritisiert, weil sie das Staatssystem als solches vernachlässigt haben. In der Folge meint Jessop, dass die beiden Ansätze zueinander komplementär sind. Dadurch, sie zu kombinieren, kann ihr jeweiliger spezifischer Mangel ausgeglichen und jede von ihnen noch stärker gemacht werden (Jessop 1992: 232, 235, 243). Bei dieser bedeutenden ‚Symbiose‘ aus der Regulationstheorie und der neogramscianischen Theorie fügt Jessop eher einige staatstheoretische Elmente des neogramscianischen Ansatzes in die Regulationstheorie als die regulationstheoretischen Konzepte in die Analysen des Staates ein (Jessop 1993: 8).8 2.2 Die Transformation der Ökonomie 2.2 Die Transformation der Ökonomie In diesem Abschnitt werden die Implikationen, welche die oben erwähnten vier entscheidenden Trends des gegenwärtigen Kapitalismus in Europa für die Umwälzung der Ökonomie im ‚integralen‘ bzw. erweiterten Sinne haben, beschrieben. Die Darstellung dieser postfordistischen Vergesellschaftungsdynamik 8
Es gibt bisher die Versuche, die Auffassung des Staates, der bei regulationstheoretischen Untersuchungen relativ oft vernachlässigt wurde, in der Perspektive der Regulationstheorie auszudehnen. Die repräsentativen Theoretiker sind Robert Delorme (1983; 1992; 2002), Alain Lipietz (1987; 1992; 2000), Joachim Hirsch (1990; 1995; 2002), Bob Jessop (1992; 1997; 2002) usw. Diese Arbeit widmet dem Ansatz von Bob Jessop besonderes Augenmerk. In diesem Ansatz erklärt Jessop aus marxistisch-kapitalismustheoretischer Perspektive die soziale Funktion von Staatsinterventionen, und zwar die strategische Orientierung der staatlichen Sozialpolitik, die einer der Hauptgegenstände der Untersuchung dieser Arbeit ist, ausführlich. Jessop hat sieben unterschiedliche Schulen, die sich relativ unabhängig voneinander entwickelten, in eine Gruppe der Regulationstheorie eingeordnet: die Grenoble-Schule, die Pariser Schule, die PCF-CME-Schule, die Amsterdamer Schule, die Westdeutsche Schule, die Nordische Schule und die SSA-Schule in den USA (Jessop 1990b: 155-160; Jessop und Sum 2006: 13-57). In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass Jessop seine eigenen regulationstheoretischen Argumente auf der Pariser Schule, und zwar Michel Aglietta (1974) und Alain Lipietz (1985; 1987), beruhend sieht (Jessop 1992: 232; 1997: 89). Demgegenüber entwickelt Jessop seine von Marx ihren Ursprung nehmende, über Gramsci hinaus entwickelte und durch Poulantzas und Foucault angelegte spezifische Staatstheorie, d.h. die strategisch-relationale Staatstheorie (vgl. Jessop 2008; 1990: Kapitel 9). Im Ansatz wird der kapitalistische Staat verstanden „sowohl als ein komplexes Ensemble von Institutionen, Netzwerken, Prozeduren, Kalkulationsmodi und Normen wie auch deren miteinander verbundene Muster strategischen Verhaltens“ (Jessop 1992: 243). Jessop äußert selber, dass die drei Quellen seiner Staatstheorie die deutsche Politikwissenschaft – hierbei besonders die deutsche Staatstheorie der Nachkriegszeit –, die französische Ökonomik unter hervorgehobener Wertschätzung der Pariser Regulationsschule und die chilenische Biologie sind. Als deutsche Gesellschaftstheoretiker, die auf der chilenischen Biologie beruhen, sind Niklas Luhmann (1985; 1990; 1993; 2000), Gunther Teubner (1993) und Helmut Willke (1983; 1992) zu nennen (Jessop 2008: 22-27). Auf den oben genannten strategisch-relationalen Ansatz wird im 3. Kapitel dieser Arbeit noch einmal ausführlich eingegangen.
2.2 Die Transformation der Ökonomie
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wird in der gleichen Reihenfolge unternommen, in der die vier Trends oben aufgeführt wurden. 2.2.1 Das Aufkommen neuer Technologien Wie in anderen Wirtschaftsräumen entstanden auch in den europäischen Ländern neue kapital- und wissensintensive Technologien, z.B. Informationstechnologie, Telekommunikation, Robotertechnik, Optoeletronik, Mikroelektronik und Bio-, Gen- und Nanotechnologien. Vor allem das Streben, neue Produkte zu entwickeln, Innovationspotentiale und dynamische Marktkräfte zu entfalten und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, um seit Mitte der 70er Jahre vorhandene Missstände zu beseitigen, führte zur Entwicklung neuer Technologien (vgl. Fülberth 2005: 270 f.; Aglietta 2000: 53 f.; Brenner 2002: 266 f.). Die neuen Schlüsseltechnologien spielen also heute in den entwickelten kapitalistischen Ökonomien eine Rolle als das Hauptagens der wirtschaftlichen Expansion (Jessop 1992: 245). Indem sowohl die europäischen Länder als auch die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder in anderen Wirtschaftspolen nun bestrebt sind, die neuen Hochtechnologien zu entwickeln, verschärft sich ein internationaler technologischer Wettbewerb (Bieling 1995a: 13). Des Weiteren zwingt der Aufschwung der neuindustrialisierten Länder bei billiger Low-TechProduktion und bei einfachen High-Tech-Produkten die fortgeschrittenen industriellen Länder dazu, sich der Spezialisierung der neuen Schlüsseltechnologien und der Verstärkung der technologischen Hierarchie zu widmen. Dadurch wünschen sie, im erneut sich umstrukturienden Weltmarkt dauerhafte Wettbewerbsvorteile zu bewahren und gleichzeitig in den eigenen nationalen Ökonomien Beschäftigung und Wachstum zu fördern (Jessop 1997: 78). Demgegenüber fehlt in Entwicklungsländern, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, die Infrastruktur, moderne Technologien zu entwickeln und Forschung auf entsprechend hohem Niveau zu betreiben (Koopmann und Franzmeyer 2003: 23). Die modernen Schlüsseltechnologien sind meistens wissens- und kapitalintensiv, sodass für ihre Entwicklung eine umfassende Zusammenarbeit zwischen vielen ökonomischen, wissenschaftlichen und politischen Interessengruppen notwendig und sogar unumgänglich ist (Jessop 1992: 245 f.). Dabei spielt der Staat eine entscheidende Rolle. Diese Staatstätigkeiten im Zusammenhang mit der Technologieentwicklung sind das Sammeln technologischer Intelligenz, die Förderung der F&E-Aktivitäten und innovativer Kapazitäten, die Vermittlung technischer Kompetenz und die Ermöglichung reibungslosen Technologietransfers. Viele dieser Tätigkeiten sollen in den eigenen nationalen Ökonomien breite Anwendung der Technologien beschleunigen. Darüber hinaus
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
interveniert der Staat in den industriellen Restrukturierungsprozessen, indem er untergehenden Branchen die finanzielle Unterstützung entzieht und die Subventionen den neuen zukunftsträchtigen Branchen zuwendet (Jessop 1997: 78 f.; Aglietta 2000: 70 ff.). 2.2.2 Die Globalisierung – die Internationalisierung nationaler Ökonomien In Europa wie auch in anderen Wirtschaftsräumen wird ein Internationalisierungstrend der nationalen Ökonomien festgestellt, die vor den Weltwirtschaftskrisen der Nachkriegszeit als eine relativ geschlossene Einheit betrachtet wurden (Hirsch 2001: 110-116; Jessop 1997: 79). Dies wird vor allem auf die Internationalisierung der finanziellen und industriellen Bewegungen zurückgeführt: Die modernen Informationstechnologien verbreiten sich grenzüberschreitend; die ausländischen bzw. transnationalen Direktinvestitionen nehmen an Summe und Einsatzbreite zu; die Produkt- und Finanzmärkte der nationalen Ökonomien werden immer weiter aufgeschlossen und immer stärker dereguliert; und die internationale Produktion und der internationale Warenverkehr werden ausgedehnt und beschleunigt (Aglietta 2000: 41-51; Hirsch 1998: 14-27; Fülberth 2005: 266; Kaufmann 1997: 118 ff.). Infolge dieser Beschleunigung der Globalisierung werden die nationalen Volkswirtschaften nicht mehr als die selbstverständlichen Bezugsrahmen zur Förderung ökonomischen Wachstums und struktureller Konkurrenzfähigkeit angesehen (Jessop 1992: 246). Die Akkumulation des Kapitals bezieht sich immer auf die globalen Kapitalkreisläufe. Transnationale bzw. multinationale Konzerne und Banken entwickeln sich und sie streben mit den „Globalstrategien“ (Deppe 1993: 16) nach der Vermehrung ihrer Profite (Koopmann und Franzmeyer 2003: 18-21). Zudem globalisieren sich die transnationalen Finanzinvestments und der amerikanische Mechanismus der Steuerung der Unternehmen durch die Finanzmärkte (vgl. Brenner 2002: 219-224; Aglietta 2000: 67 f., 125 ff.). Somit globalisiert sich auch der finanzkapitalistische Reproduktionskreislauf (Aglietta 2002; Dieter 2003: 37 f.). Der heutige Kapitalismus wird zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (Fülberth 2005: 266; Huffschmid 2002: 22-63). Angesichts der zunehmenden Transnationalisierung des produktiven Kapitals und der spekulativen Finanztransaktionen wird außerdem der nationale Charakter des Geldes den internationalen Währungs- und Kapitalbewegungen untergeordnet (Hirsch 1998: 31; Jessop 1997: 79). Beispielsweise werden die nationalen Währungen zum Gegenstand von Börsentransaktionen. Die natio-
2.2 Die Transformation der Ökonomie
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nalen Währungen sind so spekulativen Angriffen durch internationale Finanzanleger ausgesetzt (Huffschmid 2002: 47 f.). Die Löhne werden darüber hinaus weniger als Quelle der Nachfrage, sondern vielmehr als Produktionskosten betrachtet. Weil im Zuge der Internationalisierung des Arbeitsmarktes das Kapital sucht, wo die Arbeit am billigsten ist, verschärft sich die Konkurrenz zwischen Ländern und Regionen. Staaten und Landesteile streben in der Folge danach, ihre Arbeitsmärkte durch relativ niedrigere Löhne für die transnationalen Kapitale attraktiv zu machen, um diese dazu zu bewegen, sich ebendort niederzulassen (Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 135). Ist das Kapital bereits angesiedelt, so schwebt über Ländern und Regionen permanent die Drohung der Abwanderung in Gebiete, in denen die Löhne noch niedriger sind. Die sozioökonomische Problematik der Lohnsenkungsspirale und der Reduktion der Steuersätze bedingt eine Verringerung der Steuereinnahmen, also eine Schrumpfung der finanziellen Mittel des Staates (Ganßmann 2000: 150 f.; Hirsch 1998: 31; Kessler 2003: 31). Vor der Beschleunigung der Globalisierung verliert die makroökonomische Politik des Staates, die auf den nationalen Grenzen und Bedingungen beruhte, immer mehr ihre Wirkungen (Hirsch 1998: 30). Der Staat beteiligt sich stattdessen aktiv am Globalisierungsprozess, zum einen um die Operationen der heimischen globalen Unternehmen und Banken zu fördern und zum anderen um für das auf dem eigenen Territorium niedergelassene transnationale Kapital den maximalen Profit sicherzustellen. In Bezug auf diesen Profit kann hier die oben erwähnte Steuer- und Lohnnebenkostensenkung, der sog. ‚Steuerwettbewerb‘ nach unten, genannt werden (vgl. Kessler 2003: 31; Ganßmann 2000: 150 f.). Der Staat bemüht sich darüber hinaus um „die Einführung von neuen gesetzlichen Regeln für grenzüberschreitende Kooperationen und strategische Allianzen, die Reformierung des internationalen Währungs- und Kreditsystems, [...] die Regelung von Handelsstreitigkeiten, die Entwicklung einer neuen internationalen Vereinbarung über geistiges Eigentum oder die Entwicklung von neuen Regulierungsformen der Arbeitsmigration.“ (Jessop 1997: 79) Diese Staatstätigkeiten werden von den verschiedenen internationalen und intergovernmentalen Institutionen auf der supranationalen Ebene, z.B. von der Welthandelsorganisation (WTO), von der Weltbank und vom Internationalen Währungsfonds, gefördert und reguliert (vgl. Fülberth 2005: 273 f.; Hirsch 1998: 32; Huffschmid 2002: 237 ff.).
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
2.2.3 Der technisch-ökonomische Paradigmawechsel In der Gegenwart läuft der Wandel des dominanten technisch-ökonomischen Paradigmas vom Fordismus zum Postfordismus.9 Während das fordistische Modell sich an Massenproduktion, ‚economies of scale‘ und Massenkonsum orientiert, richtet das postfordistische Modell sich an flexibler Produktion, ‚economies of scope‘ und differenzierterem Konsummuster aus (Jessop 1992: 246; Pierson 1994: 99). „[Postfordismus] kann als ein Modus makroökonomischen Wachstums definiert werden, der auf der Dominanz eines flexiblen und ständigen innovativen Musters der Akkumulation beruht. Sein Kreislauf basiert auf flexibler Produktion, wachsender Produktivität, die auf economies of scope und/oder Prozessinnovationen beruht, steigenden Einkommen für polyvalent qualifizierte Arbeiter und die Dienstleistungsklasse, wachsender Nachfrage nach differenzierten Gütern und Dienstleistungen, die durch den frei verfügbaren Teil dieser Einkommen begünstigt wird, gesteigerten Profiten, die auf technologischen und anderen Innovationsvorteilen und der vollen Auslastung flexibler Kapazitäten beruhen, Neuinvestitionen in flexiblere Produktionsanlagen und Prozesse und/oder neue Produktpaletten und/oder neue Organisationsformen.“ (Jessop 1992: 251 f.; Hervorhebung im Original)
Im Postfordismus werden frühere Märkte segmentiert und „neue Märkte“ (Fülberth 2005: 270) eröffnet. Die Entfaltung der Märkte ist aufgrund der Globalisierung der Nationalökonomien durch nationale Nachfragebedingungen weniger eingeschränkt (Jessop 1992: 252). Darüber hinaus expandieren neue Formen der Unternehmen – ‚virtuelle‘ Firmen, ‚Venture‘-Unternehmen, ‚flexible‘ Firmen mit dezentralisierter Form, das ‚Franchising‘ etc. – (Loader und Burrows 1994: 3). Die Akzente der Finanzanlage und des Unternehmensmanagements verschieben sich von der ‚Stakeholder‘- zur ‚Shareholder‘-Orientierung, also zum Shareholder-Kapitalismus oder zum Akkumulationsregime des Vermögensbesitzes. An die Stelle der traditionellen Finanzbeziehung zwischen Banken und Unternehmen in der fordistischen Ära tritt der Modus von Kauf und Verkauf von Wertpapieren als moderne Finanzierungsweise. In der Folge steht das Management der Unternehmen unter großem Einfluss und intensiver Intervention seitens der institutionellen Finanzanleger. In diesem Sinne sieht man nun die direkte Aufsicht durch die institutionellen Anleger mehr und mehr als die angemessene Form der Kontrolle im Akkumulationsregime des Vermögens9
Jessop äußert selber, dass der Fordismus und der Postfordismus insofern als im engeren Sinn, d.h. als lediglich die die Produktions- und Konsumtionsbedingungen fokussierenden Begriffe, verstanden werden sollten, als sie mit Bezug auf das technisch-ökonomische Paradigma erwähnt werden (siehe Jessop 1997: 78).
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besitzes an. Die Leistung des Unternehmensmanagements wird daher nun gemäß dem Aktienkurs der Unternehmen bewertet (Aglietta 2000: 125-131; Huffschmid 2002: 30-42). Zur gewandelten Wirtschaft gehört, dass sich neue private Dienstleistungssektoren rasch entwickeln. In den entwickelten kapitalistischen Ökonomien reduziert sich in den Industriesektoren immer mehr die Zahl der Arbeitsplätze für weniger qualifizierte ArbeitnehmerInnen. Indessen werden heute neue Arbeitsplätze meist in den Dienstleistungssektoren geschaffen, die Löhne dieser Arbeitsplätze tendieren dazu, niedriger zu sein als die Entgelte der industriellen Sektoren (Esping-Andersen 1999: 103; Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 134 f.). Im Zuge der Tertiarisierung von Ökonomie und der Verbreitung der flexiblen Produktion bzw. der flexiblen Betriebsweise – hier sind die ‚Just-in-Time‘-Produktion oder die ‚lean‘-Produktion zu nennen – werden flexiblere Arbeitsmärkte gefordert (Geddes 1994: 164). Des Weiteren werden derzeit die neuen Arbeitsplätze nicht mehr durch die aktive Steuerung der nationalen Nachfrage, sondern durch die effektive Steuerung der Angebotsfaktoren und die Flexibilisierung der Arbeitskraft geschaffen (Jessop 1997: 73). Die nationalen Systeme der industriellen Beziehungen liegen also immer mehr unter dem Druck der Flexibilisierung und Deregulierung (Deppe und Weiner 1991; Deppe 1995; Fülberth 2005: 267). Parallel zu diesen postfordistischen Veränderungen wandelt sich auch der Charakter der Staatsinterventionen. Auf die ökonomischen Transformationen reagiert der Staat in der Hinwendung zum Neoliberalismus mit marktorientierten Rationalisierungsmaßnahmen, die einen Orientierungswechsel von der nachfrageorientierten hin zur angebotsorientierten Politik begleiten (Jessop 1997: 80; Deppe 1995: 348): „Die wirtschaftspolitische Strategie des Deficit Spending wurde nun durch eine – unter anderem durch die Zentralbanken forcierte – Politik des knappen Geldes abgelöst. Ausgangspunkt der Akkumulation waren nicht der Kredit und die Nachfrage, sondern die Bereitstellung des Kapitalangebots aus bereits erzielten Gewinnen, die durch Senkung des Arbeitskosten erhöht werden sollten (Angebotspolitik).“ (Fülberth 2005: 267) Die wohlfahrtsstaatliche Politik wird daher den Imperativen der strukturellen Wettbewerbsfähigkeit und den Flexibilitätsanforderungen untergeordnet (Jessop 1997: 80): „Staatliche Wirtschaftspolitik im Sinne von »Standortpolitik« erweist sich immer mehr als Umverteilungspolitik zugunsten des Kapitals. Das heißt, dass wirtschaftliches Wachstum keinesfalls mehr – wie noch im Fordismus – mit zunehmendem Massenwohlstand verbunden ist“ (Hirsch 1998: 33).
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
2.2.4 Die Regionalisierung nationaler Ökonomien und das Fortschreiten der Europäischen Integration Schließlich lässt sich parallel zum Internationalisierungstrend der Nationalökonomie die Herausbildung der drei supranationalen Wachstumspole beobachten. Die Weltökonomie gliedert sich nun in die Triaderegionen: Nordamerika, Westeuropa und Südostasien. In jeder der Triaden formulieren sich relativ immer enger zusammengebundene interregionale Wirtschaftsaktivitäten zwischen den Nationen (Röttger 1993: 32 ff.; 1995; 70 ff.; Huffschmid 2002: 226 ff.). Diese Bindungen basieren auf der regionalen Hegemonie Japans, Deutschlands und der USA (vgl. Gill 1990; Brenner 2002: Kapitel 3). Im Zuge der Ausdehnung des interregionalen Handels und der Herausbildung der internen Arbeitsteilung in jeder Triaderegion kristallisiert sich die materielle Basis für die Regionalisierung der nationalen Ökonomien (Jessop 1997: 80; Leibfried 2000: 97). Neben der Herausbildung der supranationalen triadischen Ökonomien gibt es auch Trends zu einer Wiedererstehung subnationalregionaler und lokaler Ökonomien innerhalb der nationalen Ökonomie. Darüber hinaus führt diese Dynamik der mehrdimensionalen Regionalisierung zu einer komplexen Reartikulation der global-supranational-national-subnationalen Ökonomien mit verschiedenen Effekten in unterschiedlichen Kontexten (Jessop 1992: 249; 1997: 81).10 Im Vergleich zu den anderen Triaderegionen ist in Europa infolge der Konstruktion der ‚Europäischen Union‘ der Regionalisierungsprozess der nationalen Ökonomien viel weiter fortgeschritten. Die Entwicklung des europäischen Wirtschaftsraums wird vor allem gefördert, um durch die Schaffung des gemeinsamen europäischen Marktes und die Erweiterung der Märkte die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Ökonomien auf dem Weltmarkt zu verbessern. Nach den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre orientiert sich die Integrationsdynamik seit den 80er Jahren an der postfordistischen Modernisierung der Ökonomien der Mitgliedsländer im weiteren Sinne und an der neoliberalen Neuformierung der EU (Bieling und Deppe 1996: 488-497; Leibfried 2000: 83; Bieling und Steinhilber 2000: 109-122). Des Weiteren gibt es hinter diesem vornehmlichen Zweck der Integration auch die imperialistische Absicht, der Dominanz der USA in der Weltordnung entgegenzutreten und eine Supermacht zu werden (Deppe 1989; vgl. Holman u.a. 2005). Als erster Schritt zum neoliberalen Ausbau der Europäischen Gemeinschaften (EG) ist durchaus die Errichtung des 1979 initiierten Europäischen Währungssystems (EWS) anzusehen. Das EWS übte auf die Regierungen und die Notenbanken der Teilnehmerländer einen starken Anpassungsdruck aus, um 10
Die Trends zum Wiedererstehen der subnationalregionalen und lokalen Ökonomien innerhalb der nationalen Ökonomie werden in der folgenden Fußnote 11 ausführlich erklärt.
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stabile Wechselkurse zwischen den Mitgliedsländern zu erreichen. In diesem Zusammenhang folgte das EWS der restriktiven Geld- und Finanzpolitik Deutschlands und drängte die Teilnehmerländer auf einen strengen haushaltspolitischen Sparkurs (Deppe 1993: 35 f.; 1995: 347). Dann kam der einheitliche europäische Binnenmarkt als ein zweites großes neoliberales Projekt der EU, die bestehenden nicht-tarifären Handelshemmnisse und Marktsbarrieren zwischen Mitgliedsländern abzubauen (Deppe 1993: 33). Beim Projekt Binnenmarkt stand die Schaffung der Freiheit des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit für Personen und Unternehmen, so auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit, im Vordergrund (Dicke 2006: 229-233). Die unterschiedlichen Regeln der Mitgliedsländer in den Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, und Arbeitsmärkten sollten für den interregionalen freien Handel in Europa keine Barrieren mehr sein. Gemäß dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung wurden daher unter anderem die Politiken der Deregulierung sowie der Privatisierung beschleunigt (Bieling und Steinhilber 2000: 114 f.; Huffschmid 2004b: 164). Ende 1991 wurde beim Gipfeltreffen in Maastricht die ‚Europäische Währungsunion‘ beschlossen, die 1999 in Kraft trat. Das Europäische System der Zentralbanken ist für die Geldpolitik in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zuständig. Die vorrangige Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) ist die Sicherung der Preisstabilität. Die EZB ist weisungsunabhängig und kann jede Art der Finanzierung von öffentlichen Defiziten verbieten. Außerdem steht die Finanzpolitik der Mitgliedsländer weiter unter dem strengen Druck der EU. Jedes Mitgliedsland hat sich verpflichtet, seine jährliche staatliche Neuverschuldung nicht über 3 % des BIP steigen zu lassen und seine Gesamtverschuldung nicht über 60 % des BIP anwachsen zu lassen. Weitere Forderungen sind Wechselkursstabilität und geringe Zinssatzschwankungsbreite (Hillenbrand 2006: 249-251). Im Zuge dieser stabilitäts- und wettbewerbsorientierten Politiken der WWU sind die Spielräume für die Ausgaben- und Steuerpolitik der Mitgliedstaaten erheblich eingeschränkt (vgl. Arbeitsgruppe Sozialpolitik 2003: 41-56). Im Februar 2002 wurde die gemeinsame Umlaufwährung, der Euro, eingeführt. Als weiteres neoliberales Projekt der EU schließt sich hier die Etablierung eines einheitlichen Finanzmarktes in der EU nach US-Modell an. Seit Ende der 90er Jahre gehören die Umstrukturierung der Finanzmärkte der Mitgliedsländer und die Herstellung eines europäischen Wertpapiermarktes zu den obersten Prioritäten der EU (Bieling und Deppe 2003: 519; Huffschmid 2002: 250-252). Im Verlauf dieser Europäischen Integration bildet sich nun eine gemeinsame europäische Ökonomie, eine „ ,transnationale Interessensynthese der Akkumulation‘ relativ kohärent mit neuen – zumeist stärker marktunterworfenen
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– europäisierten Regulationsmodi“ (Bieling 1995a: 21; Hervorhebung im Original), heraus. In der neuen ‚europäischen Ökonomie‘ im weiteren Sinne lassen sich folgende Formen beobachten: Zentrale Dimensionen der Waren-, Kapitalund Kreditverhältnisse sind angeglichen und integriert; das Geldverhältnis ist durch die WWU in der Euro-Gruppe identisch; der interregionale Handel nimmt in jünger Zeit erheblich zu; die europäischen Unternehmensverbunde sowie Zuliefer- und Vertriebsnetzwerke entstehen; die Direktinvestitionen – meist in Form von Fusionen und Übernahmen – sind deutlich angewachsen; und die innereuropäische Arbeitsteilung intensiviert sich weiter (Bieling und Deppe 2003: 521 f.). Diese europäisierte Struktur der Akkumulation wird von den supranationalen Institutionen der EU wie der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Gerichtshofs reguliert. Die europäische Wirtschaftspolitik im Sinne der europäischen Geld-, Finanz- und Handelspolitik wird durch die europäische Agrar-, Regional-, Arbeits-, Forschungs- und Umweltpolitik flankiert und abgesichert. 2.3 Die Transformation des Staates 2.3 Die Transformation des Staates 2.3.1 Die Veränderung der Staatsform 2.3.1.1 Die ökonomische Funktion und die soziale Funktion des Staates Die fortgesetzte Transformation der Ökonomie, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurde, ist von einer Transformation des politischen Regimes begleitet und ist mit der Transformation der Staatsform verkoppelt (vgl. Pierson 1994: 99). Die Versuche, „to restructure and reorient the state in the light of significantly changed perceptions of the conditions making for economic expansion“ (Jessop 1993: 9), bilden eine neue Staatsform heraus, von der man sich nicht nur eine erneute Stabilisierung des Staatssystems, sondern auch eine Aktivierung der postfordistischen Kapitalakkumulation erhofft.. Die gegenwärtigen Transformationen der Staatsform umfassen nicht nur die Veränderungen der staatlichen Politiken und der Art ihrer Realisierung, sondern auch die Entstehung eines qualitativ und historisch neuen Typus von Staatlichkeit (Hirsch 1991; 1998: 28-40). Jessop betrachtet den ‚keynesianischen Welfare-Staat‘ als ein ‚integrales‘ Element in der erweiterten Reproduktion des Fordismus (Jessop 1992: 251). Demgegenüber behauptet er, dass „the best possible political shell“ (Jessop 1993: 11) für ein dem Fordismus nachfolgendes Regime, also für das postfordistische Akkumulationsregime, der ‚schumpeterianische Workfare-Staat‘ ist. Die gegenwärtige kapitalistische Staatlichkeit ist in die Tendenz des Übergangs
2.3 Die Transformation des Staates
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vom keynesianischen Welfare-Staat (KWS) zum schumpeterianischen WorkfareStaat (SWS) eingebunden (Jessop 1993: 9). Während die Begriffe ‚keynesianisch‘ und ‚schumpeterianisch‘ in jeder Staatsform sich auf die charakteristische Form der staatlichen ökonomischen Funktion in dem gegebenen Modus der Sozialregulation beziehen, hängen die Konzepte ‚Welfare‘ und ‚Workfare‘ mit der kennzeichnenden Form der staatlichen sozialen Funktion in jedem Modus der Regulation zusammen (Jessop 1993: 8). „In meiner Analyse des Staates aus einer integralen ökonomischen Perspektive erfüllt er zwei grundlegende Aufgaben bei der Förderung der erweiterten Reproduktion des Kapitalismus. Erstens hilft er, die Bedingungen für die Verwertung des Kapitals zu sichern; zweitens hilft er, die Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskraft zu sichern (vgl. De Brundhoff 1978; Kay/Mott 1982). [...] Während sich die erstere Bestimmung jedes Begriffs [der zwei unterschiedlichen Staatsformen] auf die Form der ökonomischen Staatsintervention bezieht, weist die zweite auf die Form der sozialen Staatsintervention hin.“ (Jessop 1992: 250 f.)
Diese ökonomischen und sozialen Staatsinterventionen konkretisieren sich als die Formen der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Durch die Verfolgung neuer Orientierungen hinsichtlich dieser staatlichen Rollen markiert der SWS schon einen deutlichen Bruch mit dem KWS. 2.3.1.2 Vom keynesianischen Welfare-Staat zum schumpeterianischen Workfare-Staat Der KWS verfolgt hinsichtlich seiner ökonomischen Funktion „eine makroökonomische Regulierungspolitik in der Absicht, die Nachfrage an die angebotsgeleiteten Erfordernisse fordistischer Massenproduktion mit ihrer Abhängigkeit von economies of scale und von der vollen Ausnutzung der relativ unflexiblen Produktionsmittel anzupassen“ (Jessop 1992: 250; Hervorhebung im Original). Durch das Nachfragemanagement und die Bereitstellung der Infrastrukturen, Massenproduktion und Massenkonsum zu unterstützen, wird eine Vollbeschäftigung in der relativ geschlossenen nationalen Volkswirtschaft gefördert (Jessop 1993: 9, 18; 2002: 59). Bezüglich der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft versucht der KWS, die kollektive Aushandlung zu regulieren und durch die Expansion der wohlfahrtsstaatlichen Rechte und der Formen kollektiven Konsums die Normen des Massenkonsums zu verallgemeinern (Jessop 1992: 250; 1993: 9). Im KWS beruhen die Formen kollektiven Konsums, z.B. Bildung und Gesundheitsversor-
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gung, auf öffentlicher Bereitstellung und öffentlicher Finanzierung (Jessop 2002: 162). Kurz zusammenfassend kann gesagt werden: Die Wirtschaftspolitik zielt also darauf ab, durch das Nachfragemanagement die Vollbeschäftigung in der relativ geschlossenen nationalen Volkswirtschaft zu sichern. Das Ziel der Sozialpolitik ist die Regulierung der kollektiven Aushandlung, um die Normen des Massenkonsums über den fordistischen Sektor hinaus zu verallgemeinern, so dass alle BürgerInnen aus dem Wirtschaftswachstum begünstigt werden (Loader und Burrows 1994: 2; Pierson 1994: 97; 1998: 25 f.). Vor der Weltwirtschaftskrise der Nachkriegszeit übernahm der KWS eine Schlüsselrolle für die Sicherung von entscheidenden ökonomischen und sozialen Bedingungen im Wachstumsmodus des Fordismus. Demgegenüber zielen die neue ökonomische und soziale Funktion des SWS darauf ab, die Krisentendenzen im KWS zu bewältigen und die Bedingungen der postfordistischen Kreisläufe der erweiterten Reproduktion zu gewährleisten. Die charakteristische ökonomische Funktion des SWS besteht darin, durch Interventionen auf der Angebotsseite die Flexibilität und das Streben nach ‚economies of scope‘ zu fördern. Insofern die Flexibilität auf dynamischer Effizienz beruht, zielen die angebotsorientierten Interventionen vor allem auf eine staatliche Unterstützung von Produkt-, Prozess-, Organisations- und Marktinnovationen. Durch diese Staatstätigkeiten erhofft man sich, in offenen Ökonomien die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu stärken und die wissensbasierte Wirtschaft zu fördern (Jessop 1992: 252 f.; 1993: 9, 18; 2002: 252; dazu ausführlicher 2002: Kapitel 3). Die soziale Funktion des SWS wird durch eine Unterordnung der Sozialpolitik unter die erweiterten Normen der Wirtschaftspolitik und durch „downward pressure on the ‘social wage’ and attack on welfare rights“ charakterisiert (Jessop 2002: 252; Hervorhebung im Original). Die erste Dimension zeichnet sich darin aus, dass die Sozialpolitik den Erfordernissen der Arbeitsmarktflexibilität untergeordnet wird und produktivistische und innovative Vorsorge hinsichtlich der Sozialleistungen und der Formen des kollektiven Konsums gefördert wird (Jessop 2002: 168). Die Sozialpolitik im postfordistischen Staat „zielt kaum mehr auf allgemeine Gleichheits- und Emanzipationsprinzipien, sondern – im Rahmen kapitalverwertungssichernder Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen – auf Privatisierung, soziale Hierarchisierung, Spaltung und Konkurrenzmobilisierung“ (Hirsch 2005: 154). Die „Workfare-Orientierung“ (Jessop 1997: 74; Hervorhebung im Original) hinsichtlich der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft, welche eines der Kernthemen dieser Arbeit ist, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch einmal ausführlicher behandelt.
2.3 Die Transformation des Staates
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2.3.2 Die Umstrukturierung des Staates 2.3.2.1 Die drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates Neben dem grundlegenden strukturellen Reorganisationsprozess der Staatsform werden laut Jessop zudem folgende drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates erkennbar: Entnationalisierung, Entstaatlichung und Internationalisierung. Beim Entnationalisierungstrend des Staates handelt es sich um eine Dezentralisierung von Autorität bzw. Machtbefugnissen der nationalstaatlichen Apparate (Jessop 2007: 199). Die Kapazitäten und Funktionen der Nationalstaaten werden zum einen auf die supranationale Ebene – im europäischen Fall auf die politischen Institutionen der EU – und zum anderen auf die subnationalregionale oder lokale Ebene – also auf öffentliche Körperschaften unterhalb der nationalen Ebene11 – verlagert. In der Folge werden die verschiedenen Verantwortungsbereiche des Nationalstaates auf den supranationalen, nationalen und subnationalen Ebenen reorganisiert und reartikuliert (Jessop 1997: 52 f., 80; Deppe 1997: 139; Kaufmann 2005a: 270). In Europa wird die Verlagerung der nationalstaatlichen Kapazitäten und Funktionen auf die EU durch folgende 11
Die Aufwertung der föderalen, regionalen und lokalen Staatsorgane beruht vor allem auf der steigenden Bedeutung subnationaler regionaler und lokaler Ökonomien: „[D]ie neuen Technologien werten städtische Unternehmen, städtische Wirtschaftslenkung oder städtische Netzwerke auf – besonders bei der Bereitstellung und Verwaltung der neuen Infrastruktur (Telematik, Kabelsysteme, leichte und schnelle städtische Transportsysteme, Kraft-Wärme-Kopplungssysteme etc.), die sich für vernetzte Firmen, dienstleistungsdominierte Städte und informationsintensive Ökonomien als wichtig erweisen wird (vgl. Graham/Marvin 1994). In allgemeineren ökonomischen Begriffen: da die Angebotsseite zunehmend als das vitale Element der nationalen Wettbewerbsfähigkeit gilt, wird eine Politik verlangt, die sich auf die Verbesserung der für lokale oder regionale Unternehmen, Branchen und Cluster relevanten Infrastruktur, Humanvermögen und Innovationssysteme orientiert. Da die für die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit bestimmenden Angebotsbedingungen je nach Firma, Branche oder Cluster unterschiedlich sind, scheint es wichtig, sie auf der jeweils angemessenen Ebene zu erkennen und sie eher regional oder lokal, als durch eine uniforme nationale Politik zu implementieren.“ (Jessop 1997: 64 f.) In diesem Kontext nehmen die Rolle und die Verantwortung der regionalen und lokalen Regierungen zu. Sie engagieren sich dabei nicht nur in der Bereitstellung der Infrastrukturen für Industrie und Innovation, sondern auch sehr aktiv in regionalem oder lokalem Bildungs-, Arbeitsmarkts-, Umwelt-, Gesundheitssektor etc., um regionale oder lokale endogene Wachstumspotentiale zu entwickeln und in dem internationalen Kontext regionale oder lokale Ökonomien wettbewerbsfähig zu machen (Hoggett 1994: 41 f.; Geddes 1994; Byrne 1994; Cochrane 1994; Villadsen 1996; Bogason 1996). Im Zuge der Herausbildung der für entsprechende Gegenden spezifischen und differenzierten Regional- oder Lokalpolitiken kann der Zentralstaat sein von mehreren Seiten kritisiertes Problem, die spezifischen Fragen der regionalen und lokalen Einheiten nicht gut in den Griff zu bekommen, allmählich bewältigen (vgl. Villadsen 1996; Bogason 1996; Bagguley 1994: 76).
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Prozesse durchgeführt: die wechselseitige Anpassung zwischen den Nationalstaaten; die intergovernmentalen Vereinbarungen; die supranationale Zentralisierung, bei der bestimmte Kompetenzen der Nationalstaaten vollständig an die EU-Ebene delegiert werden; und die Politikverflechtung der Mitgliedsregierungen (Scharpf 2000: 71-84). Beim Entstaatlichungstrend politischen Regimes handelt es sich um eine Verschiebung von der Zentralität der ‚Government‘, also der Regierung, und der offiziellen Staatsapparate zu eher dezentralen Formen der ‚Governance‘ (Jessop 1997: 67; Hirsch 2001: 118). Bei der Governance, die sich vor allem an der Überwindung der hierarchischen Gestaltung und Durchsetzung eines einheitlichen Willens des Staates orientiert, nehmen die selbstbestimmten Akteure, deren Bedeutung nicht nur öffentliche Akteure, sondern auch parastaatliche sowie private Akteure und Institutionen umfasst, an den kollektiven Willenbildungsprozessen und den politischen Entscheidungsprozessen aktiv teil. Dadurch wird erreicht, „dass der Wille selbstbestimmter Akteure auf ein bewusst gewähltes Ziel hin zusammengefasst wird und dieser kollektive Wille durch Entscheidung oder Koordination verbindlich gemacht wird“ (Kohler-Koch u.a. 2004: 169). Angesichts dieses Entstaatlichungstrends schrumpfen folglich die zentralen Rollen des Staates bei der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik sowie bei der Sicherstellung der politischen Hegemonie allmählich. Demgegenüber werden verschiedene Formen der Partnerschaft zwischen staatlichen, parastaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen herausgebildet und verstärkt. In den Formen der Partnerschaft wird der Staat bestenfalls als „primus inter pares“ angesehen (Jessop 1997: 53; 2007: 199).12 Nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der supranationalen Ebene – im Fall Europas in der supranationalen Struktur der EU – beteiligen sich die nichtstaatlichen Akteure, z.B. transnationale Konzerne, NGOs und Advocacy-Netzwerke, aktiv an den kollektiven Willenbildungsprozessen und politischen Entscheidungsprozessen. Es ist zu erwarten, dass ihre Rolle in der Zukunft noch mehr an Gewicht zunehmen wird (vgl. Cowles 2003; Rosamond 2000: 109-113). Schließlich wird ein allgemeiner Entwicklungstrend zur Internationalisierung des Nationalstaates beobachtet. In der Vergangenheit lag der Fokus des staatlichen Handelns auf der relativ geschlossenen nationalen Volkswirtschaft. 12
An den formellen, informellen oder ad hoc-Entscheidungsprozeduren auf der nationalen Ebene beteiligen sich sowohl öffentliche Gremien auf anderen Ebenen als auch parastaatliche Organisationen und private Interessenorganisationen wie verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbände. Neben ihrer konventionellen Rolle als Lobbyisten kooperieren sie mit dem Nationalstaat in den Netzwerken für eine dezentralisierte Politikformation und bilden geschäftsmäßige Partnerschaften oder Vereinbarungen. Außerdem übernehmen sie aktiv öffentliche oder quasi-offizielle Verantwortlichkeiten und Aufgaben in wichtigen Bereichen, z. B. dem Forschungs-, Bildungs-, Gesundheits- und Wohlfahrtsproduktionssektor (Jessop 1997: 71 f.).
2.3 Die Transformation des Staates
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Infolge der Zwänge der internationalen Konkurrenz können jedoch heute die Nationalstaaten der balancierten Binnenregulierung der Nationalökonomie und den auf dem Massenwohlstand beruhenden Klassenkompromissen keinen Vorrang vor ihren anderen Staatsaufgaben mehr geben (Hirsch 2001: 110-116). Die Internationalisierungstendenz des Nationalstaates bezieht sich unter anderem auf „die gewachsene strategische Bedeutung des internationalen Kontextes für staatliches Handeln im Innern und [...] die Ausweitung des staatlichen Handlungsfeldes für innenpolitische Zwecke auf ein breiter werdendes Spektrum exterritorialer oder transnationaler Faktoren und Prozesse“ (Jessop 1997: 73; hierzu ausführlicher siehe Jessop 2007: 200; Deppe 1997: 135 ff.). Daher schließen die europäischen Staaten bzw. die Europäische Union als Repräsentant der europäischen Staaten über Europa hinaus verschiedene strategische Allianzen, Verbindungen und Kooperationen mit anderen Staaten oder globalen Organisationen (vgl. Weidenfeld 2006: 443-622; Schäfer 2004; Dosch 2004). Also unterliegen die europäischen Länder der oben erwähnten bedeutenden Reorientierung und Neuordnung des Nationalstaates. Die staatlichen Angelegenheiten und Entscheidungsbefugnisse werden auf globalen, supranationalen, nationalen und subnationalen Ebenen reorganisiert. Diese komplexe Reartikulation mehrerer Ebenen begleitet gleichzeitig eine Intensivierung partnerschaftlicher Verbindungen zwischen staatlichen, parastaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen. Dadurch bildet sich nun in Europa ein ‚System der Mehrebenenregulation‘ (Tömmel 1995; Scharpf 2000; Leibfried 2000; Lee 2000) heraus. Angesichts dieser Neuordnung des Nationalstaates spricht Jessop seit der Mitte der 1990er Jahre eher von dem ,Schumpeterian Workfare Regime‘ (SWR) (1996b: 178; 1997: 74) oder dem ‚Schumpeterian Workfare Postnational Regime‘ (SWPR) (2001: 149; 2002: 247; 2007: 198; 2008: 212) als von dem schumpeterianischen Workfare-Staat. 2.3.2.2 Der Vollzieher der allgemeinen Funktion – der Nationalstaat Von einem anderen Gesichtspunkt aus behauptet Jessop, dass trotz der drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates die Aufgabe des Staates, die soziale Kohäsion einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft zu sichern, nicht den supranationalen Staatsapparaten, den subnationalen Staatselementen oder den nichtstaatlichen Organisationen zuzuordnen ist, sondern heute noch dem Nationalstaat gehört (Jessop 1997: 76 f.; 2002: 211; vgl. Hirsch 1998: 36; Deppe 1997: 139). Diese Feststellung beruht auf der Differenzierung der allgemeinen Funktion und der besonderen Funktionen der Staatsfunktionen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation nach Nicos Poulantzas.
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Der Staat als ein institutionelles Ensemble innerhalb einer Gesellschaftsformation ist verantwortlich für die soziale Kohäsion und die institutionelle Integration der Gesellschaftsformation, der er angehört (Poulantzas 1975a: 4248). Das ist die allgemeine oder globale Funktion des Staates. „Nun rührt das Verhältnis zwischen dem Staat und der besonderen Verknüpfung der Instanzen, die für eine Gesellschaftsformation typisch ist, eben daher, dass der Staat eine (selbstverständlich politische) Ordnungsfunktion (in den politischen Klassenauseinandersetzungen), aber auch eine globale Ordnungsfunktion (eine Organisationsfunktion im weitesten Sinne) in seiner Eigenschaft als Kohäsionsfaktor innehat. Der Staat verhindert sozusagen das offene Ausbrechen des politischen Klassenkonflikts, insofern dieser Konflikt Spiegelbild der Einheit einer Formation ist [...] Der Staat verhindert, dass sich Klassen und Gesellschaft im gegenseitigen (fruchtlosen) Kampf selbst verzehren, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, dass er das Auseinanderbrechen der Gesellschaftsformation verhindert.“ (Poulantzas 1975a: 48)
Die besonderen Funktionen des Staates bestehen aus techno-ökonomischen Funktionen, politischen Funktionen und ideologischen Funktionen. Die technoökonomischen Funktionen beziehen sich auf die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, also auf die ökonomische Instanz. Die politischen Funktionen umfassen Besteuerung, Überwachung, Verteidigung, Gesetzgebung und öffentliche Rechnungsprüfung. Sie hängen mit der Selbsterhaltung des Staates und seinen zentralen militärischen, Polizei- und Verwaltungsaktivitäten zusammen. Zu den ideologischen Funktionen gehören Bildung, patriotische und/oder nationale Rituale, Massenkommunikation etc. (Jessop 1997: 76). Die einzelnen bzw. besonderen Funktionen des Staates sind Modalitäten der globalen Rolle des Staats als „Kohäsionsfaktor für die Einheit einer Gesellschaftsformation“ (Poulantzas 1975a: 49). Infolge der drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates werden also die besonderen Funktionen des Nationalstaates nach oben an globale oder supranationale Körperschaften, nach unten an subnationale Staatsorgane oder nach außen an parastaatliche oder nichtstaatliche Organisationen verlagert. Darum findet im SWR oder SWPR ein Verlust entscheidungsrelevanter und operationeller Befugnisse des Nationalstaates, also ein Souveränitätsverlust, statt. Trotzdem behält der Nationalstaat heute noch die Schlüsselrolle für die entscheidende allgemeine Funktion des kapitalistischen Staates (Jessop 1992: 249, 1997: 76). Der Nationalstaat steht noch im Auftrag, die soziale Integration und die Kohäsion der kapitalistischen Gesellschaftsformationen in den Griff bekommen zu können. „Jenseits der Nationalstaaten gibt es nach wie vor keine politische Instanz, die sowohl demokratisch legitimiert als auch im Sinne einer weltgesellschaftlichen Ordnung handlungsfähig wäre“ (Hirsch 1998: 26).
2.3 Die Transformation des Staates
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Die Beweise für die Aussage Jessops, die allgemeine Funktion des Staates sei auch heute noch fest im Nationalstaat verankert, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens spielt der Nationalstaat die Rolle eines Koordinators oder eines Regulators bei der komplexen Reartikulation der staatlichen Funktionen auf supranationalen, nationalen und subnationalen Ebenen, welche mit den partnerschaftlichen Verbindungen zwischen staatlichen, parastaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen unter verschiedenen Effekten in unterschiedlichen Kontexten verflochten wird. Der Nationalstaat „ist nicht nur in den GovernanceMechanismen ein wichtiger Akteur, sondern er spielt dabei auch eine bedeutende Rolle, die Selbstorganisation interorganisatorischer Beziehungen zu organisieren, die Selbstregulation zu regulieren, die Kohärenz des Regimes in verschiedenen Bereichen zu fördern und mit den Auswirkungen des Versagens der Governance umzugehen.“ (Jessop 1997: 87; vgl. Deppe 1995: 349; Kaufmann 1997: 139; Bieling 2005: 91). Bei den Leistungen des öffentlichen Sektors zieht sich der Nationalstaat auf Regulierungs- und Gewährleistungsfunktionen zurück, während er die Leistungserbringung in wachsendem Maße anderen Akteuren überlässt (Kaufmann 1997: 138; Deppe 1997: 139). Zweitens ist der Nationalstaat immer noch der wichtigste Kampfplatz zwischen aufeinandergestoßenen globalen, triadischen, supranationalen, nationalen, regionalen und lokalen politischen und gesellschaftlichen Kräften, „weil jenseits des Nationalstaats keinerlei politisch-demokratische Institutionen vorhanden sind“ (Hirsch 1998: 37). Die Aufrechterhaltung der sozialen Kohäsion im SWPR hängt also immer noch von den Fähigkeiten des Nationalstaates ab, diese sozialen Konflikte beizulegen und Kompromisse zu schaffen. Der Nationalstaat kann also das Management des sich verändernden Gleichgewichts politischer und gesellschaftlicher Kräfte am besten durchführen (Jessop 1992: 249; 1997: 80). Drittens behält der Nationalstaat eine Schlüsselrolle bei der Politik der Umverteilung, die vor allem dazu dient, Legitimität gegen/für Akkumulation zu gewährleisten und die hegemoniale Klassenherrschaft zu unterstützen (Jessop 1997: 77; Deppe 1997: 136; Kaufmann 2005a: 270). Darüber hinaus verstärkt der Mangel der Kapazitäten der staatlichen Körperschaften auf den anderen Ebenen geradezu die Rolle des Nationalstaates für die allgemeine Funktion. Die heutige Aktivierung der subnationalregionalen und lokalen Staatsorgane wird meistens mit beträchtlicher finanzieller und institutioneller Hilfe durch den Nationalstaat gewährleistet, da ihnen zumeist die finanzielle Basis fehlt. Die meisten subnationalen öffentlichen Körperschaften können nur schwer ohne die Unterstützung des Nationalstaates ihre Geschäfte führen (Jessop 1997: 66, 77). Die subnationalen Staatsorgane bleiben strukturell abhängig von den
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Nationalstaaten wegen der finanziellen und rechtlichen Rahmensetzungen seitens des Nationalstaates (Candeias 2004: 319). Im Zusammenhang mit der Europäischen Union, welche die einflussreichste supranationale Institution in Europa ist, wird mittlerweile immer deutlicher die Frage nach dem strukturellen Defizit der Demokratie bei der europäischen öffentlichen Macht gestellt. Außerdem hat die EU das Problem einer erheblichen Unterentwicklung der sozialen Funktion im Vergleich zu der ökonomischen Funktion. Für einen kapitalistischen Staat ist aber an für sich unumgänglich, für Kapitalakkumulation die soziale und ökonomische Funktion gleichgewichtig zu erfüllen. Zwar versucht die EU, sich über eine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus zum ‚Europäischen Staat‘ zu entwickeln. Jedoch lassen sich die Fragen des strukturell demokratischen Defizits und der Unterentwicklung der sozialen Funktion bekanntlich bisher nicht bewältigen (vgl. Hirsch 1998: 38). Demzufolge ist die Rolle der EU bei der Sicherung der sozialen Kohäsion immer noch beschränkt (Scharpf 2000: 84; Altvater und Mahnkopf 1993: 72-75). Die Beschäftigung mit sozialen Konflikten zum Zwecke ihrer Lösung bzw. ihrer Begrenzung und die Politik der Umverteilung bleiben in erster Linie auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränkt (Jessop 1997: 77). Der Wohlfahrtssektor wird auch in voraussehbarer Zukunft die Aufgabe der Nationalstaaten bleiben (Kaufmann 1997: 135; 2005a: 271; hierzu ausführlich Streeck 1997; Schulte 1997b). In der Folge ist die europäische politische Ordnung „massiv sowohl auf die Legitimität als auch auf die Unterstützung des Nationalstaates angewiesen, um die Zustimmung zu europaweiter (EU-) Politik zu sichern.“ (Jessop 1997: 88) Das demokratische Defizit der EU ist unter anderem auf die Unreife der ,Politischen Union‘ bzw. des politischen Systems, bei dem es sich um Entscheidungsmechanismen im europäischen Institutionssystem handelt, zurückzuführen (Scharpf 2000: 84; 1994: 220; Hillenbrand 2006: 255). Die Entwicklung des politischen Systems ist deutlich hinter der Beschleunigung der ökonomischen Integration zurückgeblieben. Die Regierungen der Mitgliedsländer versuchen immerzu, in der EU durch die Erhöhung der jeweilig eigenen Einflussmöglichkeit und die Stärkung der eigenen Macht die eigenen Willen und die eigenen nationalen Interessen durchzusetzen. Daher ließ sich schon oft beobachten, dass die Regierungen in den Bereichen, die nicht unmittelbar die Markt- und Währungsintegration betreffen, der ernsthaften Delegierung ihrer Kompetenzen und ihrer Machtbefugnisse auf die europäische Ebene entgegenstehen. Dieses Verhalten der Regierungen der Mitgliedsländer spielt nun eine sehr maßgebliche Rolle beim Scheitern der Versuche, der EU offensichtliche Kompetenz und Autorität zu verleihen und die politischen Entscheidungsprozesse zu vereinfachen und zu demokratisieren (vgl.
2.3 Die Transformation des Staates
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Bieling 2005; für ein Beispiel des Verhaltens der deutschen Regierung siehe Bultmeier und Deppe 1995: 91 f.). Somit sind die Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments, das die EU-BürgerInnen vertritt und direkt von ihnen gewählt wird, sehr gering oder fast nicht vorhanden (vgl. Etxezarreta 2004: 137). Demgegenüber übt der Europäische Rat, der aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer besteht, den stärksten Einfluss aller europäischen politischen Organe aus (Laws 2002: 222 f.). Analog zur Unreife der ‚Politischen Union‘ bleibt in der EU auch die „Soziale Union“ (Deppe 1995: 341), die sich auf die Sicherstellung der Bedingung der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft in der Europäischen Union bezieht, äußert unterentwickelt. Die Entwicklung der „Sozialen Union“ bezüglich der Sozialpolitik ist sehr deutlich hinter dem Fortschritt der wirtschaftlichen Union, der WWU, zurückgeblieben (Kaufmann 2005a: 270; Urban 2003: 22). Die wichtigsten Sachgebiete der bestehenden ‚rudimentären‘ Sozialpolitik auf der europäischen Ebene können wie folgt zusammengefasst werden (Lampert und Althammer 2001: 410): Erstens, die Koordinierung sozialpolitischer Leistungen für WanderarbeitnehmerInnen, um die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen zu unterstützen; zweitens, der Europäische Sozialfonds, der darauf abzielt, negative Folgen des Integrationsprozesses abzumildern; drittens, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen. Daneben gibt es noch weitere aber nur sehr kleine Felder dieser Sozialpolitik. Diese schwächlichen europäischen sozialpolitischen Maßnahmen galten, bei aller Beschränktheit ihrer Wirkungskraft, immerhin vielen als Voraussetzung für wirtschaftliche Integration. Ihre Rolle beschränkt sich weiterhin, wie die Funktionen der europäischen Agrar-, Regional- und Forschungspolitik, auf die Flankierung und Absicherung der reibungslosen Markt- und Währungsintegration (vgl. Leibfried 2000: 80). In Bezug auf die europäische Beschäftigungspolitik bzw. die europäische Arbeitsmarktpolitik, die ein Kernbestandteil der Sozialpolitik für die Sicherstellung der Reproduktion der Arbeitskraft ist, kann man feststellen, dass sie tatsächlich fast nicht vorhanden ist. 1997 wurde im Zuge des Übereinkommens im Amsterdam-Gipfeltreffen ein neuer Passus mit dem Titel ‚Beschäftigung‘ in den EU-Vertrag eingefügt. Trotz dieser Veränderung des Vertrags verbleibt die Zuständigkeit für Beschäftigungspolitik immer noch bei den Mitgliedsstaaten. Ein EU-Haushaltsplan für die Extraausgaben für eine ‚neue‘ Beschäftigungspolitik der EU wurde tatsächlich nicht erstellt. Darüber hinaus haben die meisten Forderungen des EU-Vertrags keinen verpflichtenden Charakter. Die Rolle der EU in der Beschäftigungspolitik ist lediglich auf eine völlig unverbindliche Koordinierung zugeschnitten (Grahl 2004; Huffschmid 2001; Deppe u.a. 2000: 32). In einem Satz zusammengefasst kann man sagen: „Die Union entwickelt zwar
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eine Beschäftigungspolitik, aber deren Umsetzung bleibt weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen.“ (Etxezarreta 2004: 132) Faktisch gibt es auf der EU-Ebene auch keine europäischen Systeme der sozialen Sicherung, um die Euro-BürgerInnen gegen soziale Risiken zu schützen. Neben der Arbeitsmarktpolitik ist das soziale Sicherungssystem aber ein Kernbestandteil der Sozialpolitik. Als EU-Regelung hinsichtlich der sozialen Sicherung gibt es die EGVerordnungen 1408/71 und 574/72, welche sich auf die Koordinierung sozialpolitischer Leistungen für WanderarbeitnehmerInnen beziehen (Schulte 1997a). Im Prinzip können die WanderarbeitnehmerInnen aus dem Geltungsbereich der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) in anderen EU-Ländern Ansprüche auf dortige Sozialleistungen, z.B. Grundrente oder Arbeitslosengeld, haben. Die Regelungen haben allerdings keine verbindliche Kraft für die Mitgliedsländer. Es steht in der Entscheidungskompetenz der Nationalstaaten innerhalb der EU, ob sie in ihrem Land die Regelungen anwenden und wie sie die Regelungen umsetzen. Bei dieser Umsetzung geht es unter anderem um den erfassten Personenkreis und die Anspruchsvoraussetzung (vgl. Ogus und Wikeley 2002: 72-85; Scharpf 2000: 84). Der Europäische Sozialfonds könnte als eine Maßnahme der sozialen Sicherung auf europäischer Ebene fungieren. Allerdings ist der Europäische Sozialfonds nun kein Fonds für die Finanzierung der Sozialleistungen, sondern eine sehr beschränkte arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die sogar nur dazu dienen soll, „durch Zuschüsse an die nationalen Träger bei Maßnahmen der beruflichen Umschulung, der Umsiedlung oder der Produktionsumstellung Belastungen auszugleichen, die im Zuge der Verwirklichung des gemeinsamen Marktes für bestimmte Regionen oder Bevölkerungsgruppen entstehen“ (Lampert und Althammer 2001: 410; Hervorhebung von I.R. Baek). Ansonsten gibt es auf der EU-Ebene keine Sozialleistungen und sozialen Sicherungsmaßnahmen für ‚EU-BürgerInnen‘. Die auf die soziale Sicherung der Mitgliedsländer bezogenen Verträge, Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen der EU, z.B. die Artikel des Nizza-Vertrags 136 und 13713, haben zumeist nur formellen Charakter. Denn der Aktionsradius der EU für soziale Sicherung ist finanziell und rechtlich stark eingeschränkt (Leibfried 2000: 85), ihre Initiativen für soziale Sicherung bleiben zumeist von der einhelligen Zustimmung der Mitgliedstaaten abhängig (Lampert und Althammer 2004: 440).
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In den beiden Paragraphen geht es um die Förderung einer engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten in sozialen Fragen.
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“[T]here exists as of today no European social law on the basis of which individual citizens can claim benefits from Brussels; no direct taxation or social contributions to EU which can finance social welfare; and there hardly exists any welfare bureaucracy in the EU.” (Kuhnle und Alestalo 2000: 6, zit. n. Jessop 2008: 214) „Es gibt kein europäisches Sozialrecht, das individuelle Leistungsansprüche gegenüber Brüssel verleiht. Es gibt keine direkten Steuern, die an die EU abzuführen und dort dann in einem Sozialhaushalt auszugeben wären. Erst recht sind keine Beiträge an eine europäische Sozialeinrichtung zu entrichten, mit denen Anrechte auf Sozialleistungen erworben würden. Und es gibt in Brüssel mit seinen 17.000 Bediensteten auch keine nennenswerte Wohlfahrtsbürokratie.“ (Leibfried 2000: 80)
Bei der europäischen Sozialpolitik geht es meistens um Programmsätze, also um ein langfristig anzustrebendes System arbeits- und sozialrechtlicher Ziele, dessen Verwirklichung den Mitgliedsländern freigestellt wird. Die Aufgaben und Zuständigkeiten, diese sozialen Rechte zu garantieren und die dafür erforderlichen Maßnahmen zu besorgen, obliegen heute noch den Mitgliedsstaaten.14 In der EU bleibt die Sozialpolitik also immer noch eine Angelegenheit, die nicht den europäischen supranationalen Institutionen, sondern den Mitgliedsländern zuzuweisen ist (Leibfried 2000: 79; Scharpf 2000: 84; Etxezarreta 2004: 130 f.).15
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Allerdings üben andererseits die wettbewerbs- und stabilitätsorientierte europäische Wirtschaftspolitik und die ‚besonderen‘ Instrumente der EU, z.B. die ‚Offene Methode der Koordinierung‘, den Abbau der öffentlichen Alters- und Gesundheitssicherung der Mitgliedsländer zu fördern, ernste negative Einflüsse auf die Sozialpolitik der Mitgliedsländer aus. Dies wird im 7. Kapitel dargelegt. Diese Probleme der EU, der es an dem demokratisierten politischen System mangelt und in der lediglich die neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt und entwickelt ist, können mit dem Ansatz von Stephen Gill (1995, 1998, 2001) gut erklärt werden, der unter anderem auf der neogramscianischen globalen politischen Ökonomie von Robert W. Cox (1987; 1996; 1998) beruht. Zuerst stellt Gill einen ‚disziplinierenden Neoliberalismus‘ dar, der fast alle Bereiche des Lebens der Marktdisziplin unterordnet. Diese Unterordnung wird durch die ‚Market Zivilisation‘ erreicht, bei der das ‚Corporate-Kapital‘ das ‚Citizenship‘ selber vertritt und dabei die BürgerInnen ausgeschlossen werden. Auf politisch-rechtlicher Ebene wird der disziplinierende Neoliberalismus durch einen ‚neuen Konstitutionalismus‘ gefestigt. Der neue Konstitutionalismus, der die politisch-institutionelle Dimension des umfassenderen Diskurses des disziplinierenden Neoliberalismus ist, orientiert sich daran, die vorhandenen politischen Entscheidungsprozesse zu entdemokratisieren bzw. zu umgehen. Statt dieser Prozesse stellt der neue Konstitutionalismus internationale Abkommen in den Vordergrund, um reibungslos die neoliberale Politik durchzusetzen. In der Folge verliert der Staat seine marktkorrigierende Funktion immer mehr, da er sie international bindenden Verträgen abtritt. Die Staatsform verändert sich so faktisch im Sinne des disziplinierenden Neoliberalismus. Als das beste Beispiel hierfür wird die WWU erwähnt. Die WWU zwingt basierend auf dem Abkommen zwischen den Mitgliedsländern die Regierungen zu einer strengen fiskalischen Disziplin. Dabei wird ihnen so die Gestaltung einer anderen alternativen Wirtschaftspolitik absolut unmöglich. Vor dem Hintergrund
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
Zusammenfassend kann man sagen: Bei der Reartikulation der besonderen Funktionen des Nationalstaates auf supranationalen, nationalen und subnationalen Ebenen, welche mit den partnerschaftlichen Verbindungen zwischen staatlichen, parastaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen verflochten wird, verbleibt dem Nationalstaat die Schlüsselrolle als der Vollzieher der allgemeinen Funktion des Staates, also als der „Kohäsionsfaktor der Einheit einer Gesellschaftsformation“ (Poulantzas 1975a: 45). Die Aufgabe der Sozialpolitik und die Zuständigkeit für die Sozialpolitik liegen ebenfalls heute noch beim Nationalstaat. 2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik 2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik 2.4.1 Rolle und Art der Sozialpolitik In diesem Unterabschnitt soll der etwas vereinfachte Begriff der Sozialpolitik nach Jessop, also das Konzept der Sozialpolitik als Maßnahmen zur Sicherung der Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskraft, erweitert und ergänzt werden. Franz-Xaver Kaufmann, ein Soziologe und Experte der Sozialpolitik, hat den Verlauf der Entwicklung bzw. der Ausweitung der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland wie folgt zusammengefasst (Kaufmann 2005a: 25): Vor den 1880er Jahren war die soziale Frage als Gegenstand der Sozialpolitik das Problem des Pauperismus. Die damalige staatliche Sozialpolitik zielte also darauf ab, auf einem minimalen Niveau die Armen zu unterstützen. Nach der Industrialisierung wurde der Hauptgegenstand der Sozialpolitik zur ‚Arbeiterfrage‘ verschoben, die damalige staatliche Sozialpolitik war daraufhin ausgerichtet, die spezifischen Nöte der Industriearbeiter zu beheben oder zumindest zu begrenzen. Ein Beispiel hierfür ist die Bismarcksche Sozialgesetzgebung. In der Weimarer Republik rückte die Verteilungsproblematik ins Zentrum der sozialen Frage. Unter den entsprechenden Begriffen der Sozialpolitik verstand man nun mehr und mehr die Umverteilungspolitik. Diese historischen Bedeutungen und Rollen der Sozialpolitik wurden auf dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht reflektiert. Auf der Grundlage des Rechts lassen sich folgende Politikfelder der Sozialpolitik im Einzelnen zuordnen: Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und -verfassung, Arbeitsförderung und -vermittlung, Sozialversicherung, Sozialhilfe, Politik zur Hilfe für spezifische Zieldes disziplinierenden Neoliberalismus und des neuen Konstitutionalismus steht der neoliberale historische Block unter der Führung transnationaler Konzerne.
2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik
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gruppen – z.B. für Frauen und Kinder –, Bildungspolitik und Wohnungspolitik (vgl. Schulte 2000; Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006a; 2006b). Heinz Lampert, ein Sozialwirtschaftswissenschaftler, definiert die Sozialpolitik als jenes politische Handeln, „das darauf abzielt, erstens die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial absolut oder relativ schwachen Personenmehrheiten durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel im Sinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele (freie Entfaltung der Persönlichkeit, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichbehandlung) zu verbessern und zweitens den Eintritt wirtschaftlicher und/oder sozialer Schwäche im Zusammenhang mit dem Auftreten existenzgefährdender Risiken zu verhindern.“ (Lampert und Althammer 2001: 4) Lampert zufolge hat die Sozialpolitik zwei Zielgruppe: zum einem die Personen, die in einer Gesellschaft im Vergleich zu anderen als wirtschaftlich oder sozial schwach gelten, und zum anderem die Personen, die bei dem Fall des Eintritts existenzgefährdender Risiken nicht in der Lage sind, die Risiken selber zu bewältigen. Die erste Gruppe ist die Zielgruppe für die ‚Verbesserung‘ durch die staatliche Sozialpolitik und die andere Gruppe ist die Zielgruppe für die ‚Hilfe‘. Demgegenüber versuchten Marxisten, z.B. Claus Offe (1984), James O’Connor (1973), Ian Gough (1979), Norman Ginsburg (1979), Tom Burden und Mike Campbell (1985) sowie Göran Therborn und Joop Roebroek (1986), in Bezug auf die erweiterte Reproduktion des Kapitalismus die Sozialpolitik des kapitalistischen Staates bzw. den Wohlfahrtstaat zu erklären und zu definieren. James O’Connor zufolge heißen die zwei grundlegenden und oft einander widersprechenden Funktionen, die der kapitalistische Staat auf jedem Fall erfüllen muss, ‚Akkumulationsfunktion‘ und ‚Legitimationsfunktion‘. Dies bedeutet, dass der Staat versuchen muss, die Bedingungen zu erhalten oder zu schaffen, auf denen eine einträchtige Kapitalakkumulation möglich ist. Jedoch muss der Staat auch versuchen, die Bedingungen für soziale Harmonie zu erhalten oder zu schaffen. Ein kapitalistischer Staat, der offen seine Zwangsmittel benutzt, um der Kapitalakkumulation einer Klasse auf Kosten einer anderen Klasse zu helfen, verliert seine Legitimation und untergräbt somit seinen Loyalitätsanspruch an seine Subjekte. Aber ein kapitalistischer Staat, der die Notwendigkeit ignoriert, den Prozess der Kapitalakkumulation zu unterstützen, gerät in Gefahr, die Quelle seiner Macht, die Kapazität der Überschussproduktion der Wirtschaft und die aus dem Surplus gezogenen Steuern auszudörren (O’Connor 1973: 6). Nach der Analyse des Staatshaushaltes des kapitalistischen Staates hat O’Connor die staatlichen Ausgaben in ‚soziales Kapital‘ (social capital) und ‚soziale Unkosten‘ (social expenses) unterteilt. Und das soziale Kapital lässt sich in ‚soziale Investition‘ (social investment) und ‚soziale Konsumtion‘ (social
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consumption) einordnen. Er definiert, dass das soziale Kapital, d.h. die soziale Investition und die soziale Konsumtion, die Funktion der Akkumulation des kapitalistischen Staates erfüllt. Demgegenüber erfüllen die sozialen Unkosten die Legitimationsfunktion. “State expenditures have a twofold character corresponding to the capitalist state’s two basic functions: social capital and social expenses. Social capital is expenditures required for profitable private accumulation; it is indirectly productive (in Marxist terms, social capital indirectly expands surplus value). There are two kinds of social capital: social investment and social consumption (in Marxist terms, social constant capital and social variable capital). […] Social investment consists of projects and services that increase the productivity of a given amount of [labor][16] and, other factors being equal, increase the rate of profit. A good example is state-financed industrial-development parks. Social consumption consists of projects and services that lower the reproduction costs of [laborpower] and, other factors being equal, increase the rate of profit. An example of this is social insurance, which expands the reproductive powers of the work force while simultaneously lowering labor costs. The second category, social expenses, consists of projects and services, which are required to maintain social harmony–to fulfill the state’s ‘legitimization’ function. They are not even indirectly productive.” (O’Connor 1973: 6 f.; Hervorhebung im Original)
Zu den sozialen Unkosten gehören die Kosten der Sozialhilfeprogramme, die Umweltkosten, die Kosten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Rüstungsausgaben, die Kosten der Auslandshilfe etc. (O’Connor 1973: Kapitel 6). Verbindet man die Ansätze von O’Connor, Jessop und Poulantzas in diesem Punkt, so erkennt man, dass die ‚soziale Funktion‘ nach Jessop als Teilmenge der ‚techno-ökonomischen Funktion‘ als einer der drei besonderen Funktionen des kapitalistischen Staates nach Poulantzas anzusehen ist. Der ‚sozialen Funktion‘ nach Jessop, und zwar der Sozialpolitik im weiteren Sinne, die die materiell institutionalisierte Form der ‚sozialen Funktion‘ ist, sind die ‚soziale Konsumption‘ und die Sozialhilfeprogramme als eine Art der sozialen Unkosten nach O’Connor zuzuordnen. Die Kosten der sozialen Konsumption, z.B. die Kosten für die Sozialversicherung, erfüllen die Akkumulationsfunktion des kapita16
O’Connor hat in seinem oben genannten Text geschrieben, dass die soziale Investition sich auf die Arbeitskraft bezieht und die soziale Konsumption die Arbeit betrifft. Aber diese festen Verbindungen zwischen den Begriffen sind ein eindeutiger Fehler von O’Connor. Es ist richtig, dass die soziale Investition die Produktivität eines gegebenen Bestands an Arbeit erhöht und die soziale Konsumption die Reproduktionskosten der Arbeitkraft verringert. In dieser Arbeit wird O’Connor in diesem korrigierten Sinn nach Ian Gough verstanden. Siehe dazu noch ausführlicher Gough 1975.
2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik
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listischen Staates und erhöhen mittelbar die Rate des Profits. Von einem langfristigen Gesichtpunkt aus gesehen, können die Arbeitskosten einzelner Unternehmen reduziert werden, wenn z.B. Krankengeld für ihre kurzfristig infolge von Krankheit arbeitsunfähigen ArbeitnehmerInnen durch die staatliche Sozialversicherung geleistet wird. Die für den Betrieb des Unternehmens unabdingbaren Arbeitskräfte werden so in einer jeweils privaten Krisensituation vom Staat unterhalten. Gleiches gilt für die Rente: Müssen die ArbeitnehmerInnen selbst für die eigene Absicherung im Alter sorgen, werden sie einen höheren Lohn fordern. Übernimmt der Staat die Absicherung im Alter, kann der Lohn im Jetzt auf das für den momentanen Lebensunterhalt nötige Niveau reduziert bleiben. Demgegenüber erfüllen die Kosten der Sozialhilfeprogramme die Legitimationsfunktion. Die Kosten der Sozialhilfeprogramme, vor allem die Sozialhilfekosten für Arbeitsunfähige, z.B. für arme Alte und für arbeitsunfähige Behinderte, sind nicht produktiv. Diese Konzepte der Sozialpolitik, die sich in der Arbeit von O’Connor finden, entwickelt Ian Gough (1979) systematisch. Er definierte den Wohlfahrtsstaat als „the use of state power to modify the reproduction of labour power and to maintain the non-working population in capitalist societies.“ (Gough 1979: 44 f.; Hervorbebung im Original). Die erste Aufgabe des Wohlfahrtsstaates ist es, für Arbeitsfähige in den Reproduktionsprozessen ihrer Arbeitskraft zu intervenieren. Das heißt, mit Sozialleistungen, mit Formen des kollektiven Konsums und mit anderen Eingriffen die Reproduktion der Arbeitskraft gesellschaftlich zu sichern (Gough 1979: 45 f.). Dies ist ein Bestandteil der Akkumulationsfunktion nach O’Connor und mittelbar produktiv. Die andere Aufgabe des Wohlfahrtsstaates ist es, Arbeitsunfähige in der Gesellschaft, z.B. arme Alte und Schwerbehinderte, zu unterhalten (Gough 1979: 47). Dies ist ein Bestandteil der Legitimationsfunktion für die soziale Harmonie nach O’Connor und nicht produktiv. In dieser Arbeit wird daher die ‚Sozialpolitik‘ aus der marxistischen Perspektive hinaus in Hinsicht auf ihre gründlichen Funktionen in der kapitalistischen Gesellschaft wie folgt definiert: Die ‚Sozialpolitik‘ ist die öffentliche Politik und das entsprechende institutionelle Gefüge, die darauf abzielen, zum einen die soziale Reproduktion der Arbeitskraft zu gewährleisten und zum anderen Arbeitsunfähige zu unterhalten. Der ‚Wohlfahrtsstaat‘ als eine Modalität des kapitalistischen Staates mit der immanenten Zielsetzung der Reproduktion und Erhaltung des kapitalistischen Systems wird als die Anwendung der Staatmacht, die Sozialpolitik zu implementieren, bezeichnet. Außerdem lassen sich in die Sozialpolitik im Einzelnen folgende Bereiche einordnen: Arbeits- bzw. Arbeits-
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
marktpolitik, Politik sozialer Sicherung, zu der Sozialversicherung und Sozialhilfe gehören17, Familienpolitik, Wohnungspolitik, Bildungspolitik usw. 2.4.2 Zur Workfare-Orientierung Der tendenzielle Wandel der strategischen Leitlinie der Sozialpolitik des kapitalistischen Staates von der Welfare- zur Workfare-Orientierung wurde oben schon kurz behandelt. Jessop hat seit dem Anfang der 90er Jahre in mehreren seiner Bücher und Aufsätze die ‚Workfare‘ als die strategische Orientierung des SWS hinsichtlich der Sozialpolitik zuweilen sehr kurz oder sehr ‚abstrakt‘ erklärt. Die Erklärungen der Workfare-Orientierung, die in seinen Arbeiten fragmentiert existieren, sollen hier auf der Grundlage seines jüngeren Buchs ‚The Future of the Capitalist State‘ (2002) wie folgt zusammengefasst werden: Die soziale Funktion des SWS wird zum einen durch eine Unterordnung der Sozialpolitik unter die erweiterten Normen der Wirtschaftspolitik und zum anderen durch „downward pressure on the ‘social wage’ and attack on welfare rights“ charakterisiert (Jessop 2002: 252; Hervorhebung im Original). Die erste Dimension bedeutet konkret, dass die Sozialpolitik sich den ‚Erfordernissen der strukturellen Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaft‘ (hierzu ausführlich Deppe 1997: 137) unterordnet. Die Erfordernisse der strukturellen und internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft werden vor allem wegen der Globalisierung und der grenzüberschreitenden Bewegungen der Kapitale erhöht (Jessop 2002: 153; 1997: 73 f.; 1993: 18 f.; Pierson 1994: 100). Um die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu fördern, sollte die Sozialpolitik Maßnahmen für Arbeitsmarktflexibilität einleiten (Jessop 1992: 252; 1993: 9, 18; 1997: 73). Mit Bezug auf die Sozialleistung wird für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes das Leistungsniveau des Arbeitslosengeldes oder der Sozialhilfe verringert und/oder ihre Leistungsdauer verkürzt und/oder ihre Anspruchsvoraussetzung verschärft (Jessop 2002: 154; vgl. East 1999: 72). Infolge dieser Maßnahmen lässt sich erwarten, dass Arbeitslose eher in den Arbeitsmarkt eintreten, um einen Arbeitsplatz zu suchen, als abhängig von den Wohlfahrtsleistungen zu leben. Man erhofft sich so, dass im Arbeitsmarkt die Niedriglohnbereiche massiv ausgebaut werden. Daneben unterstützt der SWS die Flexibilität der Arbeitsmärkte durch Arbeitskräftepolitik oder durch aktive Arbeitsmarktpolitik (Jessop 1992: 253). Als ein gutes Beispiel für die Flexibilisierung durch die Arbeitskräftepolitik kann die Abschaffung des Mindestlohnes für die Lohndämpfung der Thatcher-Zeit Groß17
Die sozialen Sicherungssysteme, die die Hauptgegenstände der Analyse in dieser Arbeit sind, werden im Unterabschnitt 3.5.1 noch ausführlicher erklärt und definiert.
2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik
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britanniens erläutert werden. In Bezug auf die Flexibilität durch die aktive Arbeitsmarktpolitik kann beispielsweise auf die ‚Flexicurity‘ in Dänemark 18 hingewiesen werden. Um die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu fördern, wird außerdem eine produktivistische und innovative Vorsorge hinsichtlich der Sozialleistungen und der Formen des kollektiven Konsums gefördert. Zuerst lässt sich dies bei den Versuchen beobachten, die zum Zweck haben, die Sozialleistungen umzugestalten, um diese Leistungen noch ‚produktiver‘ zu machen (Jessop 2002: 154; vgl. Pierson 1994: 100). Körperlich fähige EmpfängerInnen von Sozialleistungen sollen dazu gebracht werden, zu arbeiten oder ihre Bereitschaft zur Arbeit zu beweisen. In der Folge werden sie strenger überwacht (Jessop 1992: 252; 1997: 74; Etxezarreta 2004: 129 f.). Dadurch lässt sich erwarten, dass die Pflicht zur Arbeitsaufnahme verschärft wird und der Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung erhöht wird. Ferner wird durch die Betonung der aktiven Arbeitsmarktpolitik versucht, nicht nur die Arbeitlosen schnell wieder in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren, sondern auch die Fähigkeiten der Arbeitenden zu erhöhen. In der offenen und postfordistischen Ökonomie, wo kein Arbeitsplatz mehr lebenslang garantiert werden kann, sollen die Beschäftigten diese Arbeitsplatzgarantie auch nicht mehr erwarten und sich durch permanentes Lernen selbst dazu befähigen, im dauernden Wandel zu überleben (Jessop 2002: 154, 156; Kessler 2003: 29 f.). Auch das Bildungssystem, das eines der wichtigsten kollektiven Konsumgüter ist, wird „in efforts to realign it with the alleged needs of a globalizing, knowledgebased economy“ (Jessop 2002: 152) restrukturiert (vgl. Rustin 1994: 187-196).19 Der Produktionsprozess und der Regulierungsmodus des Lohnes im Sektor des kollektiven Konsums werden reorganisiert für „more flexible labour markets, more flexible working conditions, more differentiated products and services, more performance targets, more benchmarking, and so forth.“ (Jessop 2002: 162; hierzu ausführlich Bloor und Maynard 2002; Anell und Svarvar 2001). Die zweite Dimension der Workfare-Orientierung, „downward pressure on the ‘social wage’ and attack on welfare rights“, bedeutet vor allem, dass der redistributive Charakter der Sozialleistungen den zweiten Platz hinter einer produktivistischen und marktkonformen Neuordnung der Sozialpolitik einnehmen sollte (Jessop 1997: 73; 1993: 18 f.). Während der Soziallohn früher als eine 18 19
Auf die ‚Flexicurity‘ von Dänemark wird im Unterabschnitt 3.4.1.3 eingegangen. “Education has become integrated into the workfarist project that downgrades the Keynesian state’s commitment to full employment and now emphasizes its contribution to creating conditions for full employability. Thus responsibility for becoming employable is devolved to individual members of the labour force, who should acquire the individual skills, competencies, flexibility, adaptability and personal dispositions to enable them to compete for jobs in national and global labour markets.” (Jessop 2002: 165).
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2 Die Transformation der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates
Quelle der inländischen Nachfrage betrachtet wurde, wird er heute „as a cost of (international) production and/or as an electoral liability in the face of tax resistance“ (Jessop 2002: 152; Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 135) angesehen.20 Auch die Krise des Staatshaushaltes, die in den europäischen Ländern in den 80er oder 90er Jahren vom flauen Wirtschaftswachstum begleitet wurde, verstärkte die zweite Dimension der Workfare-Orientierung deutlich (Jessop 2002: 157 f.; vgl. Huber und Stephens 2001: 206 ff.). Somit lässt sich die zweite Dimension nicht nur bei dem andauernden Bedeutungsverlust der Wohlfahrtsleistungen, sondern auch bei ihren realen Verringerungen beobachten (Jessop 1997: 74; Etxezarreta 2004: 129). Es wird so letztlich nach der Verringerung der Raten der Sozialversicherungsbeiträge, dem Rückgang der finanziellen Belastungen des Staates und der fiskalischen Konsolidierung bzw. der finanziellen Stabilität des Haushaltes gestrebt (vgl. Jessop 2002: 158-161). Die zweite Dimension der Workfare-Orientierung erscheint konkret wie folgt: Angesichts der Einführung von den „cost-cutting or, at least cost-containment, measures“ (Jessop 2002: 152, 168) wird in der Tat das Leistungsniveau verringert, die Leistungsdauer verkürzt und die Anspruchsvoraussetzung verschärft (Jessop 2002: 158; 1992: 253; Taylor-Gooby 1996b: 214; Fülberth 2005: 267). „Ihre Einlösung unterliegt den Restriktionen von Nachfrage und Kostendruck, insbesondere für jene, die vom Arbeitsmarkt infolge ihres Alters oder ihrer Erwerbsunfähigkeit ausgeschlossen sind.“ (Jessop 1997: 74) Die Wohlfahrtsleistungen, die mit dem Konsum von beitragsfinanzierten Transferleistungen verbunden sind, tendieren dazu, residual und selektiv zu werden. Des Weiteren werden die Sozialleistungen privatisiert. Mit Bezug auf die Absicherung gegen soziale Risiken wird die Eigenverantwortung der Individuen sogar erweitert. Auch bei den kollektiven Konsumgütern, die früher öffentlich bereitgestellt und finanziert wurden, werden heute zur Verringerung der staatlichen Belastungen die Privatisierungstrends verstärkt und mindestens die Selbstbehalte der Konsumenten vermehrt (Jessop 1997: 74; 2002: 158 f., 162; Fülberth 2005: 267; Bonoli u.a. 2000: 1). Infolge der staatlichen Besonderheiten wird in einigen Ländern statt der Privatisierung eine Dezentralisierung verfolgt oder das Governance-System eingeführt (Jessop 2002: 162).
20
“This reflects the view that the social wage represented by welfare spending is a cost of production like the individual wage and that taxation is always a disincentive to effort, savings and investment. This is associated in turn with a public burden model of welfare, which has been defined by Wilding as ‘the view that much traditional welfare expenditure is an unproductive burden on the productive side of the economy and should therefore be reviewed and reduced’ ([Wilding] 1997: 417).” (Jessop 2002: 157)
2.4 Die Workfare-Orientierung der Sozialpolitik
53
Angesichts dieser Charakteristiken der Workfare-Orientierung lässt sich die Sozialpolitik des KWS heute nicht nur flexibilisieren (Jessop 1992: 252), sondern zugleich auch umorganisieren oder restrukturieren (Jessop 2002: 142, 148, 152, 168; 1997: 73; 1992: 253). Dabei kann man die Flexibilisierung als den Demontageprozess der ‚Welfare-Orientierung‘ und die Restrukturierung als den Durchsetzungsprozess der ‚Workfare-Orientierung‘ interpretieren. Durch den dialektischen Verlauf der Flexibilisierung und der Restrukturierung lässt sich die Sozialpolitik des kapitalistischen Staates allmählich zur an die veränderten sozioökonomischen Umstände angepassten Sozialpolitik des SWS transformieren. Zeigen dann alle Länder in Bezug auf die postfordistische Transformation der Sozialpolitik eine gleiche Restrukturierungsform? Die Frage wird innerhalb dieser Arbeit bezüglich dreier Beispiele zu beantworten gesucht.
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Dieses Kapitel handelt primär von der Diversität der sozialpolitischen Strategie der europäischen Staaten in der postfordistischen Ära. Vor der Diskussion darüber sollen zuerst die unterschiedlichen nationalspezifischen Charakteristiken der Sozialpolitik Europas betrachtet werden. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern entwickelten sich bisher unterschiedliche Formen der sozialpolitischen Regulation. Parallel dazu entwickelten sich auch die Diskussionen über die Idealtypen der Sozialpolitik, also die Typologien des Wohlfahrtsstaates, um die empirische Vielfalt der nationalen Sozialpolitiken auf wenige Grundtypen zu reduzieren. Von den inzwischen ausgebildeten, vielfältigen Typologien wurde in dieser Arbeit die Wohlfahrtsregimetypologie nach Gøsta EspingAndersen als Analyserahmen gewählt. Anhand dieses Rahmens werden die unterschiedlichen institutionellen Merkmale der Sozialpolitik der europäischen Länder untersucht. Dann werden die verschiedenen Kernelemente der sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära auf der Grundlage jüngerer Publikationen von Esping-Andersen konfiguriert.21 21
Als sehr bekannte Typologien des Wohlfahrtsstaates können folgende genannt werden: Richard Titmuss (1974) unterteilt die westlichen Wohlfahrtsstaaten in das ‚residual welfare modelދ, in das ‚industrial achievement-performance model ދund in das ‚institutional redistributive modelދ. Einen weiteren allgemein geläufigen Ansatz zur Typenzuordnung bieten Norman Furniss und Timothy Tilton (1977) mit der Unterteilung in ‚positive stateދ, ,social security state ދund ,social welfare stateދ. Auch auf die typologische Zweiteilung in den ‚marginalen ދund den ‚institutionellen ދWohlfahrtsstaat nach Walter Korpi (1980) wird oft rekurriert. Ramesh Mishra (1981) schlägt mit seiner terminologischen Trennung zwischen dem ‚residualen ދund dem ‚institutionellen ދModell eine viel beachtete duale Lösung vor. Das Modell von Göran Therborn und Joop Roebroek (Therborn und Roebroek 1986; Therborn 1987) schlägt die typologische Zweiteilung in den ‚strong ދund den ‚soft ދWohlfahrtsstaat vor. Gøsta Esping-Andersen (1990; 1999) hat sich nun für die Dreiteilung in den ‚konservativenދ, den ‚liberalen ދund den ‚sozialdemokratischen ދWohlfahrtsstaat entschieden. Nach der Auffassung dieser Arbeit erzielte die Wohlfahrtsregimetypologie von Esping-Andersen größere Fortschritte gegenüber anderen genannten Ansätzen, „da sie nicht nur die strukturellen Merkmale des Wohlfahrtstaates berücksichtigt, sondern auch ihre Genese in den Klassenkräfteverhältnissen sowie die damit verbundenen Implikationen aufgreift.“ (Jessop 1986: 9) Esping-Andersen überwand zuerst die quantitativ-komparative Analysenweise, die dem damaligen Mainstream der Wohlfahrtsstaatsforschung, man denke an die Untersuchungen von
56
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus 3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus Esping-Andersen unterscheidet entsprechend den politisch-ideologischen Traditionen, die an der Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften beteiligt waren (Kohl 1993: 68), drei Wohlfahrtsregimes in den fort-
Cutright (1967) und Wilensky (1975), in welchen „meist ohne weitere theoretische Reflexion das Niveau der Sozialausgaben als die zu erklärende Variable definiert und als geeigneten Indikator der „Wohlfahrtsstaatlichkeit“ eines Landes interpretiert“ (Kohl 1993: 67; Hervorhebung im Original) wurde, entsprach. Dann gelang es Esping-Andersen, die historischideengeschichtliche Perspektive und die empirische quantitative Korrelationsanalyse in Synthese zu bringen. Zunächst analysierte Esping-Andersen die treibenden Kräfte wohlfahrtsstaatlicher Entstehung und Entwicklung, unter anderem „die Intentionen der politischen Akteure“ (Kohl 1993: 68). Auf der Grundlage dieser Analyse der Determinanten unterteilte er die unterschiedlichen institutionellen Formen der Sozialpolitik der entwickelten kapitalistischen Länder idealtypisch in den sozialdemokratischen, den liberalen und den konservativen Wohlfahrtsstaat. Die qualitativen Unterschiede der drei Typen wurden dann durch eine Vorstellung der quantitativen Daten und eine Anwendung statistischer Programme, z.B. des SPSS-Programms, empirisch überprüft. Esping-Andersen führte dabei die empirische Identifizierung des Modells sehr erfolgreich durch, was die Wertigkeit seines Modells nachhaltig unterstreicht. Nach der Veröffentlichung seines Buchs ‚The Three Worlds of Welfare Capitalism ދim Jahr 1990 gab es Versuche, seiner Typologie weitere Welten der Wohlfahrt hinzufügen: Stephan Leibfried (1992) fand den sog. ‚rudimentären ދWohlfahrtsstaat in den Mittelmeerländern. Iain Begg und Mayes David (1994) identifizierten dort das ‚katholische ދModell. Stephan Lessenich (1994) definierte anhand der nämlichen Länder den ‚postautoritären ދWohlfahrtsstaat. Maurizio Ferrera (1996) und später Werner Mäder (2002) benannten den ‚südeuropäischen ދTypus, dem sie die Mittelmeerländer zuordneten. Für die antipodischen Länder fand Francis Castles (1993; 1996) mit dem Begriff ‚wage-earners ދWohlfahrtsstaat eine passende Bezeichnung. Für Japan fand Catherine Jones (1993) eine Typologisierung als Einzelfall. Hingegen beschrieben Roger Goodman und Ito Peng (1996) das ‚konfuzianische ދModell als allgemeinen Typus der auch konfuzianisch geprägten modernen Gesellschaften Ostasiens. Schließlich fand Bob Deacon (1992, 1997) ein Modell für das post-kommunistische Osteuropa. Eine eigenständige Gruppe sind ‚Gender-based ދWohlfahrtsstaatanalysen. Jane Lewis (1992), Ann S. Orloff (1993, 1996), Julia O’Connor (1996) und Birgit Pfau-Effinger (2000) stellten sie den männerzentrierten Untersuchungen über den Wohlfahrtsstaat gegenüber. Von den vielfältigen Typologien wird dieses Kapitel lediglich auf der Grundlage des Ansatzes von Esping-Andersen konfiguriert. Diese Typologie entstammt dem Milieu der westlichen Wohlfahrtsstaatsforschung, die in den 60er Jahren im angelsächsischen Raum begann. Sein Ansatz beruht vor allem auf drei Faktoren: Erstens nimmt Esping-Andersen die Existenz grundlegender allgemeiner politisch-ideologischer Traditionen der westlichen Welt an, als da sind Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus (siehe Esping-Andersen 1999: 74; zu den drei Traditionen ausführlich Vincent 1992; Wallerstein 1995; Heidenreich 2002). Zweitens postuliert er die Vorstellungen ‚Mobilisierung der Arbeiterklasse ދund diesbezogene ‚Machtressourcen ދder Arbeiterklasse (hier sind zu Erklärung die Arbeiten von Korpi (1980; 1983) und Tilly (1978) zu nennen). Drittens folgt Esping-Andersen den systematisierenden Überlegungen von Richard Titmuss (1974).
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
57
geschrittenen kapitalistischen Ländern: das liberale, das konservative und das sozialdemokratische Regime.22 Diese Differenzierung des Wohlfahrtsregimes beruht auf dem Nexus von Markt, Staat und Familie in der Wohlfahrtsproduktion eines Landes (EspingAndersen 1999: 34 f.; 1990: 26). Aus dem Stellenwert der drei Versorgungsinstitutionen, der ihnen innerhalb des traditionellen Gefüges der Wohlfahrtsproduktion zukommt (Bieling 1995a: 23), ergibt sich der regimespezifische Charakter des ‚Wohlfahrtsstaatesދ.23
22
23
Esping-Andersen erklärt das von ihm erwähnten ‚Regime ދwie folgt: “To talk of ‘a regime’ is to denote the fact that in the relation between state and economy a complex of legal and organizational features are systematically interwoven.” (Esping-Andersen 1990: 2) Dieses Konzept unterscheidet sich schwerpunktmäßig von dem im 2. Kapitel erwähnten ‚Regime ދvon Jessop, das im Wesentlichen auf der Regimetheorie beruht (Felder 2001: 98). Das Regime von Jessop akzentuiert das Governance-System, d.h. die Veränderungen der räumlichen und funktionalen Dimensionen des Nationalstaates durch die Entstaatlichung. Demgegenüber bedeutet das Regime von Esping-Andersen letztlich den ineinander verflochtenen Zustand zwischen dem Staat, dem Markt und der Familie hinsichtlich der Wohlfahrtsproduktion. Die Wohlfahrtsproduktion bedeutet Verteilung der Güter und Dienste, welche für die Erfüllung des grundlegenden Bedarfs eines Menschen und das Erreichen eines gewissen Lebensstandards nötig sind. Die drei Versorgungsinstitutionen produzieren nach den sehr unterschiedlichen Prinzipien die Wohlfahrt: “Within the family, the dominant method of allocation is, presumably, one of reciprocity. To be sure, this does not necessarily imply full ‘equality’ in the intrahousehold allocation of resources. Markets, in contrast, are governed by distribution via the cash nexus, and the dominant principle of allocation in the state takes the form of authoritative redistribution – which again, does not imply egalitarianism.” (Esping-Andersen 1999: 35 f.; Hervorhebung im Original)
58
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Tabelle 1:
Zusammenfassung der Charakteristiken der Wohlfahrtsregimes
Rolle von: Familie Markt Staat Wohlfahrtsstaat: Dominierender Modus der Solidarität
Liberal
Sozialdemokratisch
Konservativ
Marginal Zentral Marginal
Marginal Marginal Zentral
Zentral Marginal Subsidiär
Individuell
Universell
Verwandtschaft, Korporatismus Etatismus
Staat
Familie
Maximal
Hoch (für Ernährer)
Schweden
Deutschland, Italien
Dominierender Markt Ort der Solidarität Minimal Grad der Dekommodifizierung Formale Beispiele
Die USA
Quelle: Esping-Andersen1999: 85; Übersetzung von I.R. Baek
3.1.1 Das liberale Wohlfahrtsregime 3.1.1.1 Der Ursprung des liberalen Wohlfahrtsregimes Dem liberalen Regime kommen die angelsächsischen Länder nahe: die USA, Großbritannien, Irland, Kanada, Australien, Neuseeland. Die Wurzel der liberalen Sozialpolitik lässt sich bis zur englischen politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts, und zwar bis zu ihren Vorstellungen „less eligibility“ und „selfhelp“, zurückfolgen. Sie betonte vor allem die Souveränität des Marktes. Diese Tradition hat auch das heutige liberale Wohlfahrtsregime geprägt. Immanentes Ziel ist es, staatliche Interventionen zu minimieren, soziale Risiken zu individualisieren und markteigene Lösungen aktiv zu fördern. Darum begünstigt das
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
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liberale Regime die Sozialansprüche nicht. Der Staat neigt dazu, nur beim ‚Versagen des Marktes ދzu intervenieren (Esping-Andersen 1999: 74 f.; 1990: 43). Wie die Tabelle 1 zeigt, steht im liberalen Wohlfahrtsregime der Markt bei der Wohlfahrtsproduktion im Zentrum, während die Familie und der Staat daneben eine marginale Rolle spielen. Somit ist der Wohlfahrtsstaat hinter dem Markt zurückgeblieben. Die Charakteristiken des liberalen Wohlfahrtsstaates werden als ‚Eigenverantwortungދ, ‚Residualismus ދund ‚Ermutigung des Marktes ދbezeichnet. 3.1.1.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des liberalen Wohlfahrtsstaates In der liberalen Sozialpolitik entwickelte sich erstens die bedürftigkeitsprüfende Sozialfürsorge. Das Konzept der Risiken, die als ‚sozial( ދhierzu ausführlich Kaufmann 1997: 43 ff.) in Betracht gezogen werden sollten, ist sehr eng und begrenzt. Daher sind universalistische Transferleistungen, die auf sozialen Rechten beruhen, unterentwickelt. Stattdessen sind die bedürftigkeitsprüfenden Fürsorgesysteme relativ stärker entwickelt (Esping-Andersen 1999: 75).24 Da der Staat bei der Absicherung gegen die Risiken diese passive und minimale Haltung einnimmt, werden die BürgerInnen letztlich dahin gedrängt, ihre individuelle Eigenverantwortung zu erhöhen (vgl. Lessenich 2000: 58). Folglich streben sie eher danach, im Arbeitsmarkt eine Arbeit zu finden, als eine Sozialleistung einzufordern. Die Zugangsregeln bei den Systemen der sozialen Sicherung des liberalen Wohlfahrtsregimes sind sehr streng und häufig mit Stigmatisierung behaftet (Esping-Andersen 1990: 43; Pierson 1998: 174; Schmid 2003: 240). Des Weiteren ist das Niveau der Leistungen gewöhnlich niedrig. In der Folge ist der Grad der ‚Dekommodifizierungދ25 des liberalen Wohlfahrtsstaates im Vergleich zu den anderen Regimes sehr niedrig (Esping-Andersen 1990: 26). 24
25
Für das Verständnis der sozialen Sicherung sind die Gestaltungsprinzipien sehr wichtig. Die Versicherungsleistung heißt im Prinzip die Leistung, die die vorherigen Beitragsentrichtungen des Betroffenen voraussetzt und ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt wird. Die Fürsorgeleistung ist eine bedarfsorientierte Leistung, die ohne vorherige Beitragsleistungen des Betroffenen und nach einer Prüfung der Bedürftigkeit gewährt wird. Schließlich wird die Versorgungsleistung im Wesentlichen ohne vorherige Beitragsleistungen des Betroffenen und ohne die Bedürftigkeitsprüfung gewährt. Die erste wird zumeist aus den Beiträgen der Versicherten und meistens auch aus den Beiträgen ihrer ArbeitgeberInnen finanziert. Die beiden letzten werden normalerweise aus allgemeinen Steuermitteln erbracht. Die Sozialleistungen werden nach dem Versicherungs-, dem Fürsorge- und dem Versorgungsprinzip oder nach Mischformen aus den drei Prinzipien gestaltet. “To understand the concept, de-commodification should not be confused with the complete eradication of labour as a commodity; it is not an issue of all or nothing. Rather, the concept refers to the degree to which individuals, or families, can uphold a socially acceptable standard of living independently of market participation.” (Esping-Andersen 1990: 37) Die Dekommo-
60
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Zweitens entwickelten sich im liberalen Wohlfahrtsregime die privaten Sicherungsformen (private welfare schemes) besonders gut. Der Staat fördert die Rolle des Marktes in passiver Weise, indem der Staat nur minimale Leistungen den BürgerInnen gewährt, und in aktiver Form, indem die privaten Sicherungspläne mit Subventionen, z.B. Steuervergünstigung, unterstützt werden (EspingAndersen 1990: 26). Während sich die Wohlhabenden durch die privaten Sicherungspläne sozial relativ gut absichern, werden die Armen lediglich den bescheidenen öffentlichen Sozialleistungen zugeordnet (Bieling 1995a: 24). Die privaten Sicherungspläne lassen sich grob in zwei Arten unterteilen: individuelle Pläne, z.B. private Altersvorsorge oder Lebensversicherung, und kollektive Pläne, z.B. Betriebsrente oder betriebliche Leistungen. In den liberalen Wohlfahrtsstaaten, in denen die Tradition der kollektiven Aushandlung sehr stark ausgeprägt war, wurden die kollektiven Formen genutzt. Indessen entwickelten sich in den anderen liberalen Ländern, wo die Gewerkschaftsbewegung relativ schwach war, die privaten individuellen Versorgungsinstitutionen. Als Beispiel für die Länder mit starker Tradition der kollektiven Aushandlung kann Großbritannien genannt werden – für die anderen die USA (Esping-Andersen 1999: 76). Im liberalen Wohlfahrtsstaat sind drittens die öffentlichen Familiendienste auch residual, weil sich die Familiendienste dort normalerweise als die Sphäre des Marktes bzw. der individuellen Eigenverantwortung betrachten lassen (Esping-Andersen 1999: 76; Hemerijck 2002: 179). Esping-Andersen benennt also solchen liberalen Wohlfahrtsstaat als „service-passive“ oder „concomitant“ Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1999: 63 f.). Schließlich bleibt die Arbeitsmarktpolitik in den liberalen Wohlfahrtsstaaten auch systemimmanent passiv. Auf dem Arbeitsmarkt werden die Primate der Vertragsfreiheit durch den Staat gesichert. Der nicht-regulierte Arbeitsmarkt wird gefördert. Anders als in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist die Vollbeschäftigung kein integraler Bestandteil des Engagements des liberalen Wohlfahrtsstaates (Esping-Andersen 1990: 28; vgl. Stråth 1996: 141-153). Demzufolge handelt es sich beim Management der Arbeitslosigkeit um „market clearing“ und um Lohnflexibilität, so dass die aktive Arbeitsmarktpolitik dazu tendiert, marginal zu bleiben (Esping-Andersen 1999: 83 f.; Hemerijck 2002: 179).
difizierung ist beim Ansatz von Esping-Andersen ein sehr wichtiger Begriff. Unter der Dekommodifizierung der Arbeitskraft versteht man ,,die Qualität und Reichweite der sozialen Rechte” (Bieling 1995a: 23), welche eine Person und/oder ihre Familie unabhängig von der vorherigen Erwerbsarbeit erhalten können.
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
61
3.1.1.3 Die Stratifizierung des liberalen Wohlfahrtsstaates Aufgrund dieser Charakteristiken der liberalen Sozialpolitik stellt die ‚Stratifizierung ދ26 des liberalen Wohlfahrtsstaates eine dualistische Schichtungsordnung dar. Während die Mehrzahl der BürgerInnen durch die marktförmig differenzierten Sicherungspläne, z.B. private Versicherungen oder betriebliche Sozialleistungen, versorgt wird, sind die Klientel des residualen liberalen Wohlfahrtsstaates die Gruppen am unteren Ende, in erster Linie die Armen. Dieser klassenpolitische Dualismus zwischen beiden Gruppen ist ein Effekt des liberalen Wohlfahrtsstaates (Esping-Andersen 1990: 26; 1999: 40; Lessenich 1994: 228 f.). 3.1.2 Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime 3.1.2.1 Der Ursprung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes Das sozialdemokratische Regime findet man in den skandinavischen Ländern. In Dänemark, Norwegen und Schweden haben die stabilen sozialdemokratischen Regierungen in den 1930er und 1940er Jahren dafür den Grundstein gelegt. Finnland folgte zwanzig Jahre später. Die sozialdemokratischen Regierungen beruhten auf dem parlamentarischen Reformismus, der eine Strömung des damaligen Sozialismus sei (Esping-Andersen 1999: 78; 1990: 12): Die parlamentarische Klassenmobilisierung sei ein Instrument, die sozialistischen Ideale – Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – realisieren zu können (vgl. Pierson 1998: 23 f.). Darüber hinaus überwanden die skandinavischen sozialdemokratischen Parteien den sog. Arbeiter-Zentralismus. Sie versuchten, politische Bündnisse unter anderem zwischen Arbeiterklasse und Mittelschicht zu schließen. Dadurch konnten die sozialdemokratischen Regierungen jahrzehntelang regieren und die Politik des „cross-class universalism“ einrichten (Esping-Andersen 1990: 67; hierzu ausführlich Baldwin 1990: 134-157). Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime liegt auf dem staatszentrierten Modus der Wohlfahrtsproduktion (Esping-Andersen 1999: 80). Der sozialdemo26
“The welfare state is not just a mechanism that intervenes in, and possibly corrects, the structure of inequality; it is, in its own right, a system of stratification. It is an active force in the ordering of social relations.” (Esping-Andersen 1990: 23) Die Stratifizierung heißt die länderspezifische Modalität, bei der es darum geht, wie oder in welcher Form individuelle Risiken gebündelt werden (Esping-Andersen 1990: 57 f.). In jedem der drei Wohlfahrtsregimes entstehen durch die jeweils betriebenen sozialpolitischen Interventionen unterschiedliche Arrangements staatlicher Strukturierung sozialer Ungleichheit.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
kratische Wohlfahrtsstaat strebt gemäß dem universalistischen Prinzip danach, die sozialen Rechte und die individuelle Unabhängigkeit – besonders die Emanzipation der Frauen von dem „tradierten Geschlechter-Code der Privilegierung von Männern und der Diskriminierung von Frauen“ (Kurz-Scherf 2005: 18) – zu institutionalisieren und zu maximieren (Esping-Andersen 1990: 47). 3.1.2.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates Das vorrangig zu nennende Merkmal der sozialdemokratischen Sozialpolitik ist der Universalismus. Die universellen Sozialansprüche werden an Einzelpersonen geknüpft und beruhen in der Folge eher auf der Staatsbürgerschaft als auf einer feststellbaren Bedürftigkeit oder auf den Arbeitsverhältnissen (Esping-Andersen 1999: 78). Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime entwickelten sich daher die Versorgungsleistungen relativ viel stärker, die Geld- und Dienstleistungen sind. Diese Geld- und Dienstleistungen werden jedem Menschen als soziale Rechte unabhängig vom erwerbsarbeitsvermittelten ökonomischen Status angeboten (vgl. Lessenich 2000: 58). Demgegenüber gab es in den skandinavischen Ländern die Absicht, die Rolle der bedarfsorientierten Sozialfürsorge zu marginalisieren (vgl. Lundberg und Åmark 2001: 189 f.). Bei der sozialdemokratischen Sozialpolitik werden zweitens die Sozialleistungen als umfassende Risikoabdeckung, großzügige Leistungsniveaus und Egalitarismus bezeichnet (Esping-Andersen 1999: 78): Die individuellen Risiken sind durch Sozialleistungen umfassend sozialisiert. Die Einkommensersatzrate ist hoch. Die Leistungsdauer ist lang. Das Ausmaß der Sozialansprüche der ArbeiterInnen und das für die Bessergestellten, z.B. Selbständige, sind gleich oder ähnlich. Somit prägen sich im sozialdemokratischen Regime die Dekommodifizierungseffekte am stärksten gegenüber den anderen Regimes aus. Darüber hinaus führen die so angemessenen Sozialleistungen zur Zurückdrängung der privaten Sicherungspläne (Esping-Andersen 1999: 79; Schmid 2003: 239). Drittens entwickelten sich die Sozialdienste, unter anderem die Familiendienste, sehr. In den skandinavischen Ländern gibt es große und umfassende öffentliche Infrastrukturen sowohl für die Gesundheitsversorgung als auch für die Dienste für die Deckung des familiären Bedarfs, z.B. die Pflege der Jungen und Alten (Esping-Andersen 1999: 79). Diese Familiendienste, die vor allem familiäre Belastungen der Frauen vermindern, bilden mit der großzügigen Einkommensunterstützung für die berufstätigen Frauen, z.B. Elternurlaub, die beiden Säulen der sozialdemokratischen staatlichen Familienpolitik aus, welche
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Gender-Egalitarismus und die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt fördern (vgl. Hemerijck 2002: 179). Schließlich stellt sich das vorrangige Zeichen der Arbeitsmarktpolitik der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten in dem Prinzip der Vollbeschäftigung dar (Pierson 1998: 175). Dies lässt sich unter anderem durch die hohe Beschäftigungsquote der skandinavischen Länder beweisen. 27 Zu den typischen staatlichen Bestrebungen für die Erhaltung der Vollbeschäftigung zählen die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen: Ausbildung, berufliche Umschulung, Förderungsprogramme zur Beschäftigung und geschützte, öffentlich subventionierte Beschäftigung. Die staatlichen Bestrebungen für die Inklusion eines möglichst großen Bevölkerungsteils in den Arbeitsmarkt lassen sich außerdem daran feststellen, dass der Staat als Arbeitgeber fungiert. Die Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung trägt vor allem zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt in hohem Maße bei. 28 Die staatlichen Interventionen zur Vollbeschäftigung garantieren nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern tragen auch dazu bei, das Steueraufkommen zu maximieren und die Zahl der Abhängigen von den Sozialleistungen zu minimieren (Esping-Andersen 1990: 28). 3.1.2.3 Die Stratifizierung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates Angesichts des typischen Charakters der sozialdemokratischen Sozialpolitik, alle individuellen Risiken unter einem Dach zu bündeln, prägt sich bei der Form der Stratifizierung die Solidarität zwischen Klassen, Status und Geschlecht, also die breite Solidarität des ‚Volksދ, aus (Esping-Andersen 1999: 18, 41; 1996d: 262; 1990: 65 ff.).29
27 28 29
Während die Beschäftigungsquote der westeuropäischen kontinentalen Länder wie Deutschland und Frankreich zwischen 50 % und 60 % bleibt, überschreitet die der skandinavischen Länder fast immer 70 % (siehe Anhang-Tabelle 5). Seit den 60er Jahren verallgemeinert sich in den skandinavischen Ländern die Zwei-Ernährer Familie (dual-earner household) (Esping-Andersen 1999: 122). Hier sollte darauf abgehoben werden, dass Esping-Andersen trotz der breiten Solidarität des sozialdemokratischen Regimes nicht behauptet, dass durch den sozialdemokratischen Modus die Klassenverhältnisse abgeschafft wurden: “In any case, more equality and jobs did not abolish social class once and for all. Factory workers were still factory workers, regardless of pension rights and homeownership.” (Esping-Andersen 1999: 16)
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
3.1.3 Das konservative Wohlfahrtsregime 3.1.3.1 Der Ursprung des konservativen Wohlfahrtsregimes Das konservative Wohlfahrtsregime findet sich in den kontinentaleuropäischen Ländern. Der konservative Typus wurzelt in der deutschen Historischen Schule – besonders bei den Kathedersozialisten des Vereins für Sozialpolitik – oder in Bismarcks autoritärer Sozialreform. Gegen die damals blühenden Ideologien des ‚laissez faire ދund des Sozialismus waren die Theoretiker des konservativen Regimes der Überzeugung, dass ein patriarchaler Absolutismus den geeigneten rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmen eines Kapitalismus darstellen könne. Der autoritäre Staat, in dem die vorhandenen Traditionen, die Hierarchien und der Status erhalten bleiben, könne nicht mittels des Wettbewerbs, sondern mit der Disziplin das „chaos of markets“ besiegen. Des Weiteren sichere der autoritäre Staat dabei parallel soziale Wohlfahrt, Klassenharmonie, Loyalität und Produktivität (Esping-Andersen 1990: 10 f.; hierzu ausführlicher Rimlinger 1971: 137-192; Schmidt 1998: 33). Die Basis dieses ökonomischen und sozialen Systems des konservativen Typus wurde von den ‚korporatistischen ދSozialnetzen unterstützt. Weil infolge der späten Industrialisierung die Tradition der Gilden relativ länger erhalten blieb (vgl. Crouch 1993: 312-332), hat der Korporatismus in der embryonalen Ära der sozialen Sicherung in den kontinentaleuropäischen Ländern stärker eingewirkt. Das korporatistische Modell wurde außerdem von der katholischen Kirche stark unterstützt, da der traditionelle Korporatismus der Gesellschaftsanschauung des Christentums entsprach, das die Verstärkung der sozial kollektiven Einheiten zugunsten der Aufrechterhaltung traditionaler Familienformen und traditionaler Familieneinheit befürwortet (Esping-Andersen 1990: 27, 58 ff.; Pierson 1998: 175). In der Nachkriegszeit wurde die Tradition der korporatistischen autoritären Sozialpolitik durch den sozialen Katholizismus (Sachße 2003: 212) und seine Lehre der Subsidiarität 30 weiter verstärkt (Esping-Andersen 1999: 82; Crouch 1993: 300 f.). 30
“From the Catholic tradition, the fundamental texts are the two Papal Encyclicals, Rerum Novarum (1891) [von Leo XIII] and Quadrogesimo Anno (1931) [von Pius XI]. The social Catholic political economy’s main advocacy is a social organisation where a strong family is integrated in cross-class corporations, aided by the state in terms of the subsidiarity principle.” (Esping-Andersen 1990: 33; hierzu ausführlicher Crouch 1993: 303). Laut Lampert wird das Subsidiaritätsprinzip wie folgt erklärt (Lampert und Althammer 2004: 450 f.): „Es verlangt einerseits, dass kein Sozialgebilde Aufgaben an sich ziehen soll, die der Einzelne oder kleinere Sozialgebilde aus eigener Kraft und Verantwortung mindestens gleich gut lösen können wie die größere Einheit; andererseits verlangt es, dass die größeren Sozial-
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Wie oben die Tabelle 1 zeigt, steht im konservativen Wohlfahrtsregime die Familie bei der Wohlfahrtsproduktion im Zentrum. Die Familie wird gemäß dem Subsidiaritätsprinzip vom Staat unterstützt. Die Logik des Marktes spielt dabei eine relativ marginale Rolle (Pierson 1998: 175). Darum lässt sich der konservative Wohlfahrtsstaat durch den Familismus, die Statussegmentierung und den Etatismus charakterisieren (hierfür ausführlich Kersbergen 1995). 3.1.3.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des konservativen Wohlfahrtsstaates In der konservativen Sozialpolitik übt der Korporatismus heute noch einen umfangreichen Einfluss aus. Die zahlreichen verschiedenen Kassen innerhalb der Systeme der sozialen Sicherung sind typische Beispiele der korporatistischen Statusdifferenzen. Diese korporatistischen Systeme wurden als die Form der ‚öffentlichen ދSozialversicherung im Rahmen eines staatlichen Gefüges eingeordnet (Esping-Andersen 1990: 27). Diese sozialpolitischen Institutionen sorgen derzeit üblicherweise für die berufliche Statussicherung (Pierson 1998: 175; Nullmeier 2004: 44 f.). Die Sozialversicherung des konservativen Wohlfahrtsstaates ist wirkungszentriert auf abhängig Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen. Außerdem entwickelte sie sich meistens auf der Grundlage der Zwangsmitgliedschaft und des Prinzips der korporatistischen Selbstverwaltung (Esping-Andersen 1990: 39). Die allgemeinen öffentlichen Versicherungssysteme sind zudem grundsätzlich dem Äquivalenzprinzip untergeordnet (Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 114). Die Sozialansprüche sind also eher an die ‚Leistungen ދbzw. ‚Beiträgeދ zum System der Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt gekoppelt denn an die Bürgerschaft wie im sozialdemokratischen Regime oder an feststellbare Bedürftigkeit wie im liberalen Regime (Lessenich 2000: 58). Der Akzentuierung auf obligatorische Sozialversicherung führte im konservativen Wohlfahrtsregime zur Unterentwicklung bzw. zur marginalen Rolle der privaten Sicherungsformen (Esping-Andersen 1999: 83; 1990: 27; Pierson 1998: 175).31 Als das zweite Merkmal der konservativen Sozialpolitik wird auf das etatistische Erbe – die privilegierte Behandlung der Beamtenschaft – hingewiesen. Die Beamten haben nicht nur ihre eigenen spezifischen Sicherungspläne,
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gebilde den kleineren die Hilfe und Förderung angedeihen lassen, die die kleineren Gebilde brauchen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.“ Siehe noch ausführlicher Sachße 2003. Infolge der Tradition der Subsidiarität entwickeln sich in einigen Ländern des konservativen Wohlfahrtsregmies, z.B. Deutschland und Österreich, nicht-staatliche, gemeinnützige, freiwillige Vereinigungen, die häufig mit der Kirche zusammenhängen, z.B. Caritas (Esping-Andersen 1999: 83; für Deutschland siehe Boeßenecker 2005).
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
sondern werden auch von weitaus luxuriösen Regeln bei der Anspruchsberechtigung und beim Leistungsniveau privilegiert.32 Dieses Vorrecht für die Beamten ist auf die Absicht des früher autoritären Staates zurückzuführen, eine spezielle, besonders loyale Trabantengruppe herauszubilden: “The Motive may have been to reward, or perhaps guarantee, proper loyalities and subservience, but there ist also evidence that regimes deliberately wished to mold class structure with their social-policy initiatives” (Esping-Andersen 1990: 59). Im konservativen Regime steht drittens die Sozialpolitik inklusive der Familienpolitik unter dem umfangreichen Einfluss des Familismus. Der Familismus präferiert hier ein Familienmodell, das von einem männlichen Ernährer und einer weiblichen Pflegerin ausgeht und als „Ein-Verdiener-Familie“ (Ostner 1998: 245) bezeichnet wird. In diesem Modell hängen alle Familienmitglieder von dem Lohn und von den Sozialansprüchen des vollzeitbeschäftigten männlichen Ernährers ab. Die Frau ist in der Regel für die Pflege innerhalb des Haushalts verantwortlich (Esping-Andersen 1996b: 18 f.; 1996c: 76). Der Staat greift gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nur dann ein, wenn die Selbsthilfefähigkeit der Familie erschöpft ist (Esping-Andersen 1990: 27; 1999: 51, 83). Den männlichen Ernährern werden die Arbeitsplatzsicherheit und der Familienlohn33 als Soziallohn gewährt. Die wichtigste Aufgabe der staatlichen Sozialpolitik ist, während der passiven Phasen des Lebenszyklus des männlichen Haupternährers, z.B. Alter, Krankheit, Unfall, Behinderung und Arbeitslosigkeit, die Familien zu bewahren (Esping-Andersen 1996c: 75; Goodin u.a. 1999: 257). Aufgrund der Voraussetzung, dass die Frauen die Hausarbeit verrichten, orientieren sich die familienpolitischen Leistungen vor allem an der Ermutigung zur ‚Mutter- und Hausfrauenschaft( ދEsping-Andersen 1999: 27). Da der soziale Schutz auf die männlichen Ernährer ausgerichtet ist, werden nichterwerbstätige Frauen normalerweise aus der Sozialversicherung ausgeschlossen und über ihre Männer mitversichert (Ostner 1998: 245). Darüber hinaus sind die Zwei-Ernährer-Familien wegen der strafenden Steuerbehandlung (punitive tax treatment) gegen das Verdienen der erwerbstätigen Frauen nachteilig (Esping-Andersen 1999: 66; 1996c: 74). Das Steuerrecht belastet das zweite Gehalt mit hohen Grenzsteuersätzen, so dass verheiratete Frauen mit einem erwerbstätigen Ehemann nur einen geringen Anreiz erhalten, selbst erwerbstätig zu sein (Sesselmeier 2004: 168 f.). 32
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Auf die Renten für die Beamten entfallen 30 Prozent der gesamten Rentenauszahlung in Österreich, 35 Prozent in Belgien, 27 Prozent in Frankreich und Italien und 21 Prozent in Deutschland. Dies ist im Durchschnitt ein zwei- bis dreifach höherer Prozentsatz als in Skandinavien oder in den angelsächsischen Ländern (Esping-Andersen 1999: 82). “The principle of a family wage has nowhere become as institutionalized as in continental Europe, in wage bargaining as in the social benefit structure.” (Esping-Andersen 1996c: 75)
3.1 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
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Da man nun davon ausgeht, dass die Familie in der Regel für die Erfüllung des familiären Pflegebedarfs verantwortlich sein muss, sind öffentliche familienbezogene Dienste, z.B. Kindertageseinrichtungen, deutlich unterentwickelt (Esping-Andersen 1990: 27; Hemerijck 2002: 179). Sogar private Familiendienste sind wegen der hohen Arbeitskosten kaum vorhanden (Esping-Andersen 1999: 67; Schmid 2003: 240). Der Familismus übt auch im Bereich der Sozialfürsorge einen großen Einfluss aus. Die Sozialfürsorge wird im konservativen Regime in erster Linie als das letzte Sicherheitsnetz bei der „family failure“ betrachtet, während sie im liberalen Regime als das nämliche Netz bei der „market failure“ anerkannt wird (Esping-Andersen 1999: 83). Der Familismus lässt sich auch bei der Dekommodifizierung feststellen. Die meisten kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten erzielen sehr hohe Punkte bei den Indikatoren der Dekommodifizierung. Aber während die Dekommodifizierung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes sich an Universalismus und individueller Unabhängigkeit orientiert, ist der Charakter der Dekommodifizierung des konservativen Regimes sehr familiär (Esping-Andersen 1999: 44, 79; vgl. Goodin u.a. 1999: 257). Die Sozialansprüche sind so lediglich an die männlichen Ernährer gekoppelt, womit diese Sozialansprüche den Familismus wiederum verstärken. Schließlich ist der Charakter der Arbeitsmarktpolitik im konservativen Wohlfahrtsstaat auch systemimmanent passiv ähnlich wie im Fall des liberalen Wohlfahrtsstaates. Dennoch ergeben sich die beiden passiven Ansätze aus völlig anderen Motiven. Das konservative Modell setzt starke Prioritäten auf den Arbeitsplatzschutz der bereits beschäftigten erwachsenen männlichen Ernährer. Demnach geht es bei dem Management der Arbeitslosigkeit im Prinzip entweder um die Familienunterstützung, z.B. durch finanzielle Leistungen zur Einkommenserhaltung, oder um die Angebotsreduzierung auf dem Arbeitsmarkt, z.B. durch ein Führverrentungsprogramm. Demzufolge tendieren im konservativen Regime die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und die öffentliche Beschäftigung im sozialen Bereich dazu, marginal zu sein (Esping-Andersen 1999: 83 f.; Lessenich 2005: 22 f.). 3.1.3.3 Die Stratifizierung des konservativen Wohlfahrtsstaates Bei Stratifizierung des konservativen Wohlfahrtsstaates prägt sich eine spezifische Form des Risiko-Sharing gemäß den Statusdifferenzen bzw. dem beruflichen Status aus (Esping-Andersen 1990: 24 f., 27, 31 f., 58 ff.; 1999: 40). Wird der Fokus auf die ,Normalarbeitsverhältnisse ދgelegt, bedeutet die Stratifizierung „eine arbeits- und sozialrechtliche Hierarchisierung innerhalb der abhängig Be-
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
schäftigten nach Maßgabe ihrer jeweiligen Nähe zur rechtlichen Normalitätsnorm“ (Lessenich 1994: 230; Hervorhebung im Original). Tabelle 2:
Grundmerkmale der Sozialpolitik der drei Wohlfahrtsregimes nach Esping-Andersen Liberaler Wohlfahrtsstaat Primat der Fürsorgeleistung
Soziale Sicherung
Familienpolitik
Entwicklung der privaten Sicherungspläne
Passive Reaktion
Nicht-regulierter Arbeitsmarkt Arbeitsmarktpolitik
Stratifizierung
Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat
Konservativer Wohlfahrtsstaat
Universale Sozialansprüche (Vorrang der Versorgungsleistung)
Statusdifferenzierte Kassen (Primat der Versicherungsleistung)
Großzügiges und egalitäres Leistungsniveau
Privilegierte Behandlung der Beamten
Entwicklung der öffentlichen Familiendienste
Familienleistungen für Mutterschaft
Entwicklung aktiver Arbeitsmarktpolitik
Arbeitsplatzschutz für männliche Ernährer
Marginalisierte aktive Arbeitsmarktpolitik
Öffentliche Beschäftigung
Unterentwickelte aktive Arbeitsmarktpolitik
Dualistische Schichtungsordnung
Breite Solidarität
Berufliche Statusdifferenzen
Quelle: Esping-Andersen 1990; 1999; eigene Darstellung
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes 3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes 3.2.1 Die drei Ursachen der Entstehung Der entscheidende Zeitraum, in dem sich die wesentlichen Bestandteile der jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen der drei Wohlfahrtsregimes etablierten, ist, anders als man denkt, nicht das Jahrzehnt gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Unterschiede der grundlegenden institutionellen Merk-
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
69
male wurden während der 1960er oder 1970er Jahre bekräftigt (Esping-Andersen 1999: 4). Die Herausbildung der drei Arten des Wohlfahrtstaates ist vor allem auf folgende drei Ursachen zurückzuführen: Die Natur der Klassenmobilisierung (insbesondere die der Arbeiterklasse), klassenpolitische Koalitionsstrukturen und das historische Erbe der Regimeinstitutionalisierung (Esping-Andersen 1990: 29). Esping-Andersen identifiziert soziale Klassen als Hauptagens des Wandels. Hierbei bestimmt eine Machtbalance zwischen Klassen gesellschaftliche Verteilungsstrukturen (Esping-Andersen 1990: 16; sich berufend auf Heiman 1980; Marschall 1963). Ferner werden Parlamente als grundsätzlich wirksame Institutionen für die Überführung mobilisierter Macht in erwünschte Politik und Reformen betrachtet (Esping-Andersen 1990: 16; Korpi 1983; Stephens 1979). Unter den sozialen Klassen liegt Esping-Andersens vermehrtes Interesse an der ‚Arbeiterklasse( ދvgl. Lessenich 2000: 47 f.). Diesbezüglich fokussiert seine Forschung darauf, ob die entwickelten kapitalistischen Länder bei der Sozialdemokratisierung des Wohlfahrtsstaates im Zuge der politischen Mobilisierung der ‚Arbeiterklasse ދdurch sozialdemokratische Parteien erfolgreich waren (Esping-Andersen 1985; 1990: 110; Kohl 1993: 77).34 In der Nachkriegszeit erfuhren nahezu alle westeuropäischen Länder allgemein große Massenbewegungen der Lohnarbeiterschaft. Besonders im Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975 erstarkte die Arbeiterbewegung. Die Streiktätigkeit und die Mitgliederzahl der Gewerkschaften nahmen drastisch zu (Deppe 2005: 10; 1995: 346). Es mag nun sein, dass diese europäischen Länder nach Maßgabe der Variablen der Klassenmobilisierung eine ähnlich hohe Punktzahl erreichten. Aber sie zeigten in der Folge sehr unterschiedliche Politikergebnisse. Somit sollte Esping-Andersen zufolge die Untersuchung bereits vorhandener Ansätze der Arbeiterklassenmobilisierung nicht bloß unternommen werden, um die Variation des Wohlfahrtsstaates zu erklären. Vielmehr sollte die Natur der Arbeiterklassenmobilisierung der jeweiligen Länder, also das Pattern der politischen Entstehung der Arbeiterklasse, genauer analysiert werden (EspingAndersen 1990: 29, 109 f.; Korpi 1989: 313). Esping-Andersen setzt voraus, dass es überhaupt keinen Grund für die Annahme gibt, dass die Arbeiterschaft automatisch und natürlich eine sozialistische Klassenidentität ausbilden werde. Die tatsächlichen historischen Formationen 34
Folglich bleiben der andere wichtige Flügel der Linksparteien – die kommunistischen oder revolutionären Parteien – und die politische Mobilisierung der ‚Arbeiterklasse ދdurch diese Parteien von Anfang an außerhalb des Interesses von Esping-Andersen. Er fokussiert lediglich die ArbeiterInnen unter dem Einfluss von Sozialdemokratie, „die im kalten Krieg als Bollwerk gegen den Kommunismus fungierte und sich wesentlich von der Programmatik des Klassenkampfes für eine sozialistische Gesellschaftsordnung verabschiedet hatte“ (Deppe 1995: 345).
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
kollektiven Handelns der Arbeiterklasse sind hinsichtlich deren Ziele, Ideologie und politischer Kapazitäten sehr unterschiedlich. Die Diversität lässt sich unter anderem in der Struktur der Gewerkschaft feststellen: “Unions may be sectional or in pursuit of more universal objectives; they may be denominational or secular; and they may be ideological or devoted to business-unionism.” (EspingAndersen 1990: 29) Diese Natur der Gewerkschaften beeinflusst maßgeblich die Artikulation der politischen Forderungen der Arbeiterklasse, die Beziehungen der Gewerkschaften zu den Parteien, sowohl zu den Arbeiter- oder Linksparteien als auch zu den konfessionellen oder zu den bürgerlichen Parteien, die Klassenkohäsion und den Handlungsspielraum der Arbeiterparteien (Esping-Andersen 1990: 29): Je mehr die Partizipation bzw. die Sympathien der Gewerkschaften auf mehrere Parteien unabhängig davon verteilt werden, dass sie in Beziehung zu sozialistischen oder kommunistischen Parteien gespalten werden oder dass sie in Beziehung zu Linksparteien oder Rechtsparteien fragmentiert werden, desto mehr werden die Klassenkohäsion und die Linksparteien geschwächt und dementsprechend die politischen Chancen nicht-sozialistischer Parteien erhöht. Die nicht-sozialistischen Parteien, deren Macht sich ausweitet, beschränken wiederum die Position der Sozialisten oder der Arbeiterparteien noch weiter (für Beispiele in Deutschland Deppe 1984: 137-142). Als die zweite Ursache akzentuiert Esping-Andersen die klassenpolitischen Koalitionsstrukturen. Beim Herausbildungsprozess des Wohlfahrtsstaates ist das Pattern der politischen Koalitionsformation von maßgeblicher Bedeutung. Es würde nur unter ganz außergewöhnlichen historischen Umständen vorkommen, dass eine Arbeiterpartei allein und lang genug über eine parlamentarische Mehrheit verfügte, um ihren Willen durchzusetzen. Die traditionelle Arbeiterklasse hat kaum jemals eine Mehrheit der Wählerschaft gebildet. Demnach untersuchte Esping-Andersen, wie die Linksparteien der Arbeiterklasse zum Erreichen der Mehrheit im Parlament mit anderen sozialen Kräften erfolgreich koalierten. Die Geschichten der politischen Koalitionsbildung der Linksparteien in den jeweiligen Wohlfahrtsregimes beim Herausbildungsprozess des Wohlfahrtsstaates, vor allem im Übergang von einer ländlichen Wirtschaft zu einer Mittelklasse-Gesellschaft, wurden analysiert (siehe Esping-Andersen 1990: 30-32). Schließlich behauptet Esping-Andersen, dass die Sozialdemokratisierung des Wohlfahrtsstaates unvermeidlich gescheitert war, wenn die Linksparteien unabhängig von ihrer Stärke keine Erfolge bei Bündnisbestrebungen mit Bauerorganisationen oder später mit den Mittelklassen hatten (dazu ausführlich Pierson 1998: 36). Als die dritte Ursache wurden die Einflüsse der vorhandenen Institutionen auf die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten betrachtet. Frühere sozialpolitische Reformen, also die schon herausgebildeten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, haben maßgeblich zu der Institutionalisierung bestimmter Klassenpräferenzen
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
71
und politischen Verhaltens beigetragen (Esping-Andersen 1990: 32; Baldwin 1990: 95). Zum Zusammenhang der drei Faktoren erklärt Esping-Andersen wie folgt: Die Natur der politischen Mobilisierungsfähigkeit der Arbeiterbewegung, die sozialen Kräfteverhältnisse und die Bündniskonstellationen und die historischkulturellen Bedingungen und institutionellen Erbschaften wechselwirken miteinander beim Entstehungsprozess des Wohlfahrtsstaates. Letztlich kann die Entstehung der Wohlfahrtsstaatsvariationen als der Effekt der Wechselwirkung von Klassenpraxis und Struktur bzw. als das dialektische Verhältnis von Struktur und Handeln interpretiert werden, auch wenn sich Esping-Andersen in seinen Veröffentlichungen nicht explizit so äußert. Die verschiedenen Formen des Wohlfahrtsstaates werden „durch institutionelle Vermächtnisse und durch das vorherrschende Gleichgewicht der politischen Kräfte geprägt“ (Jessop 1992: 249). Die größte Bedeutung der drei Ursachen hat nach Esping-Andersen die politische Koalitionsbildung (Esping-Andersen 1990: 1, 32). 3.2.2 Der historische Prozess des Entstehens Esping-Andersen hat nicht klar und deutlich beschrieben, wie die drei Entstehungsursachen den jeweiligen sozialdemokratischen, konservativen oder liberalen Wohlfahrtsstaat aufgebaut haben. Durch die in dieser Arbeit vorgenommene Bearbeitung der Sammelung und Zusammenfassung seiner sporadischen Erklärungen darüber in seinen Veröffentlichungen lassen sich die Herausbildungsprozesse jedes der drei Wohlfahrtsstaaten folgenderweise umreißen. 3.2.2.1 Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime Die historischen Wurzeln der skandinavischen Sozialpolitik waren eigentlich sehr liberalistisch. Das Vermächtnis war die Armenpflege im Modus des 19. Jahrhunderts wie in Großbritannien (Esping-Andersen 1990: 43; 1999: 78; Olsson 1993: 43-89; Schmid 2002: 203). Der liberale Ansatz wurde mit dem Aufkommen der sozialdemokratischen Regierungen in den 1930er oder 1940er Jahren und durch den Fortbestand dieser Regierungen in den 1960er Jahren gebrochen und durch den sozialdemokratischen Ansatz ersetzt (Esping-Andersen 1990: 53; 1985; Esping-Andersen und Korpi 1987: 43-46). Der Durchbruch der Sozialdemokratie zur politischen Macht ergab sich aus der Fähigkeit starker Arbeiterbewegungen, ein politisches Bündnis mit den Bauerorganisationen auszubilden (Esping-Andersen 1990: 18, 30; Pierson 1998: 36). Die Arbeiterparteien haben mit den ländlichen Klassen, die in den früheren
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Phasen der Industrialisierung normalerweise die größte Gruppe der Wählerschaft waren, das berühmte ‚rot-grüne ދBündnis gebildet, in dem die sozialdemokratischen Parteien im Tausch gegen die Preissubventionen für die Bauernschaft ihre Ziele durchsetzen konnten. Die Parteien der Arbeiterklasse konnten dabei den Eckstein für die Vollbeschäftigung, den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, das langfristige Regieren und die politische Stabilisierung legen (Karvonen 1991; Rokkan 1970: 72-144). Indem nach dem Zweiten Weltkrieg sich die Industrie fortentwickelte und der Wohlstand ständig zunahm, hat die politische Bedeutung der Bauernschaft abgenommen. Stattdessen wurden die neuen Mittelklassen der Angestelltenschaft die bedeutendste Gruppe der Wählerschaft. Die Parteien, die die Unterstützung der neuen Mittelschichten bekamen, konnten die politische Mehrheit erreichen. Der Erfolg der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit und die Konsolidierung der Wohlfahrtsstaaten hingen also vornehmlich von den politischen Bündnissen mit den neuen Mittelschichten ab (Esping-Andersen 1990: 18, 31; hierzu ausführlich Baldwin 1990: 134-157). Die Sozialdemokraten erzeugten vor allem durch die Errichtung einer neuen Form des Wohlfahrtsstaates, der auf die Wünsche und Erwartung der Mittelklasse zugeschnitten war, die Unterstützung und Loyalität der neuen Mittelklassen zu den sozialdemokratischen Parteien (Esping-Andersen 1990: 26, 31 f., 69; Schmid 2002: 205): Um die erhöhte Erwartung der Mittelschichten zu erfüllen, wurden zum Beispiel einkommensbezogene und -gradierte Versicherungsprogramme eingeführt; aber indem diese auf den schon bestehenden einheitlichegalitären Systemen aufgebaut wurden, konnte ein Universalismus des Mittelklassen-Standards errichtet werden, der sowohl die neuen Angestelltengruppen als auch die traditionelle Arbeiterklientel der sozialdemokratischen Parteien gleichmäßig begünstigte (vgl. Uhr 1966: 39; Olsson 1993: 119; Kaufmann 2003a: 185). Zur Errichtung des Mittelklassen-Wohlfahrtsstaates, der jenseits des Marktes aus einer Synthese von Universalismus und Angemessenheit (Esping-Andersen 1990: 26) resultierte, haben außerdem die tradierten institutionellen Charakteristiken des sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes beträchtlich beigetragen: Im sozialdemokratischen Regime waren die privaten Sicherungspläne unterentwickelt. Wären diese Pläne nicht unterentwickelt gewesen, hätten sie die gehobeneren Erwartungen der Mittelschichten erfüllen können. Jedoch war der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat schon früh, vor den Reformen für die Errichtung des Mittelklassen-Wohlfahrtsstaates, soweit ausgebaut, dass er bequem die immer mehr differenzierten Erwartungen und Wünsche des Publikums integrieren konnte (Esping-Andersen 1990: 32).
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
73
3.2.2.2 Das konservative Wohlfahrtsregime Die frühe Sozialpolitik im kontinentaleuropäischen Kapitalismus wurde unter anderem von dem monarchischen Etatismus, der Aristokratie, der katholischen Kirche und dem traditionellen Korporatismus beeinflusst. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sie sich unter dem umfangreichen Einfluss christdemokratisch oder konservativ dominierter Koalitionen ausgeprägt. Zuvor hatten einige dieser Länder eine faschistische, diktatorische Herrschaft erfahren (Esping-Andersen 1990: 110; 1999: 81; hierzu ausführlich Rimlinger 1971: 89-136, Estèbe 2005: 87-93; Natali 2008: 334-336, Gil-Escoin und Vázquez 2008: 169-171). In diesem Verlauf spielten Liberalismus und liberale Kräfte eine wirklich marginale Rolle in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern (EspingAndersen 1999: 81). Die Sozialisten waren eine Zeitlang zwar sehr stark, aber bei der Koalitionsbildung mit der Bauernschaft meistens nicht erfolgreich (Esping-Andersen 1990: 30). In der skandinavischen ländlichen Ökonomie dominierten die kleinen, kapitalintensiven Familienbetriebe. Des Weiteren waren die ländlichen Klassen politisch artikuliert und gut organisiert. Eine solche Situation der Bauernschaft war eine sehr gute Vorbedingung, um die politischen Tauschgeschäfte mit anderen Klassen erfolgreich durchzuführen. Die skandinavische Lage der Landwirte führte letztlich zu den deutlich größeren Chancen für eine Koalition mit der Arbeiterschaft. Demgegenüber war die ländliche Ökonomie Kontinentaleuropas sehr unwirtlich für rot-grüne Koalitionen. Die Landwirtschaft war meistens so arbeitsintensiv, dass sie sich hauptsächlich billiger Massenarbeitskräfte bediente. In der Folge wurden aus Sicht der Landwirte die Gewerkschaften und Linksparteien als Bedrohung angesehen. Darüber hinaus haben die konservativen Kräfte die Landwirte erfolgreich in eine reaktionäre Allianz einbezogen. In Kontinentaleuropa waren die ländlichen Klassen nicht eine Alliierte der Sozialisten, sondern Teil einer konservativen Koalition. Des Weiteren hat das Bündnis gegen die Gewerkschaften dazu beigetragen, die politische Isolation der Arbeiterschaft und der Linksparteien zu konsolidieren (Esping-Andersen 1990: 30: Rokkan 1970: 72-144). Außerdem wurde in den meistens kontinentaleuropäischen Ländern, vor allem in den Niederlanden, Italien, Belgien und Deutschland, ein großer Teil der Arbeiterklasse üblicherweise von den konfessionellen bzw. sozialkatholischen Parteien mobilisiert (Esping-Andersen 1990: 17). In katholischen Provinzen wurden die ArbeiterInnen, vor allem in der Mittel- und Unterschicht, eher von dem katholischen Sozialmilieu beeinflusst und geprägt als vom sozialdemokratischen Milieu oder von der Klassenlage (Rauh-Kühne 1991: 324-336). Die ‚christlichen ދArbeiterbewegungen wurden stärker von der katholischen Kirche, den vom Vatikan unterstützten konservativen Kräften und dem Korporatismus
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
beeinflusst als von der breiten Klassensolidarität oder vom Liberalismus (Crouch 1993: 295-311). Sie bemühten sich folglich natürlich um den Erhalt des traditionellen Familienmodells. In der Nachkriegszeit gewannen die christdemokratischen Parteien in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern die Vorherrschaft auf der politischen Bühne. Dies wird vornehmlich darauf zurückgeführt, dass die Parteien die Wünsche und Ansprüche der Arbeiterschaft relativ genau interpretiert und erfüllt haben. Daher konnten sie bei den Wahlen immer wieder Erfolge feiern und langfristig regieren. Diese Vorherrschaft der christdemokratischen Parteien übte wiederum einen negativen Einfluss auf die Position der sozialistischen Parteien oder der Arbeiterparteien aus (Esping-Andersen 1990: 110 f.).35 Als der konservative Wohlfahrtsstaat den neuen und gehobeneren Ansprüchen der neuen Mittelklassen begegnete, konnte er sich daran technisch relativ leicht anpassen. Die schon bestehenden, berufständisch getrennten korporatistischen Sozialversicherungssysteme konnten ohne große Veränderung für die berufliche Statussicherung der neuen Mittelschichten sorgen. Ohne große Transformation der traditionellen Sozialpolitik konnte der konservative Wohlfahrtsstaat die neuen Mittelklassen einbeziehen, indem er ihnen ein angemesseneres Leistungsniveau anbot (Esping-Andersen 1996c: 67; 1990: 25): Ein gutes Vorbild dafür ist Adenauers Rentenreform von 1957; das Versicherungssystem wurde einfach von beitragsproportionalen auf einkommensproportionale Leistungen umgestellt, ohne die statusdifferentiellen Rahmen zu modifizieren (hierzu ausführlich Kaufmann 2003a: 283 f.; Schmidt 1998: 81).36 Die konservativen politischen Kräfte in den konservativen Wohlfahrtsregimes erzeugten durch die Beibehaltung und Erweiterung des hierarchischen statusdifferentiellen Sozialversicherungssystems die Loyalität der neuen Mittelschichten (Esping-Andersen 1990: 25). Dabei reagierte die sozialdemokratische Partei Deutschland in erster Linie bloß pragmatisch auf die Tagesherausforderungen. Sie legte also keine eigenständigen sozialpolitischen Pläne für die neuen Mittelklassen vor (vgl. Berlepsch 1991: 469 f.). 3.2.2.3 Das liberale Wohlfahrtsregime In den angelsächsischen Ländern hat die Vorherrschaft der von Laisser-faire inspirierten Bourgeoisie im Herausbildungsverlauf des Wohlfahrtsstaates an35
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Sogar in den kontinentaleuropäischen Ländern, in denen die christdemokratischen Parteien marginal waren, z. B. in Frankreich und in Spanien, übten die katholischen Soziallehren einen beträchtlichen Einfluss sowohl auf das gesellschaftliche Gesamtmilieu als auch auf den Herausbildungsverlauf der Sozialpolitik aus (Esping-Andersen 1996c: 66). Die beitragsproportionale und die einkommensproportionale Leistung werden im folgenden Unterabschnitt ‚3.5.4 Begriffliche Erläuterungen für empirische Untersuchung ދausführlich erklärt.
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
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gedauert. Die Sozialgesetzgebungsprozesse, die mit Armenpflegegesetzen begonnen hatten, beruhten im Wesentlichen auf den Regeln der Bedürftigkeitsprüfung und der ‚Less-Eligibilityދ. Im liberalen Wohlfahrtsregime waren der Absolutismus und die christdemokratischen Bewegungen der Nachkriegszeit im Vergleich zu den kontinentaleuropäischen Ländern sehr schwach oder tatsächlich nicht vorhanden (Esping-Andersen 1990: 110; 1999: 75). Die sozialistischen Kräfte waren auch schwach oder scheiterten daran, den Kordon der Bourgeoisie zu durchbrechen. In den USA und Kanada folgt die Arbeiterschaft nach wie vor nicht dem sozialistischen Mobilisierungspfad. Ihre Gewerkschaften beruhen auf der Business-Gewerkschaftsbewegung, die lediglich an Lohnforderungen für die gewerkschaftlichen ArbeiterInnen interessiert ist (Esping-Andersen 1990: 53 f.; Rimlinger 1971: 80-86; Hattam 1993). In Australien und Neuseeland besetzten die Gewerkschaften eine hervorragende Aushandlungsposition. Die Anforderungen der Arbeiterschaft für sozialen Schutz wurden jedoch nicht durch den Ausbau der Sozialsysteme, sondern durch die Tarifverhandlungen erfüllt. Da der soziale Schutz mit der marktlichen Distribution verbunden war, bleiben die öffentlichen Systeme der sozialen Sicherung heute noch im Wesentlichen bedürftigkeitsprüfende Fürsorgesysteme (Esping-Andersen 1990: 66, 68; Castles 1996; Jones 1983). Die Merkmale der zwei Länder bestehen darin, „dass die Erfolge der Arbeiterbewegung sich nicht in der Sozialgesetzgebung, sondern in den Tarifverträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern niederschlugen.“ (Borschert 1998: 160) Großbritannien ist nun ein typisches Beispiel dafür, dass die Arbeitspartei eine Zeitlang zwar sehr stark war, jedoch im Verlauf bei der Sozialdemokratisierung des Wohlfahrtsstaates scheiterte (Esping-Andersen 1990: 53; Crouch 1993: 337 f.; Heclo 1974; Taylor-Gooby 1996a).37 Vor diesem historischen Hintergrund hat sich der liberale Wohlfahrtsstaat unter anderem durch die liberalen Reformbewegungen der ‚Bourgeois Liberalsދ herausgebildet. Im liberalen Wohlfahrtsmuster, in dem sich der Kollektivismus minimierte und sich der Individualismus maximierte, wurde es dem Markt institutionell anvertraut, die gehobeneren Erwartungen der neuen Mittelklassen zu erfüllen und die für ihre Ansprüche angemessenen Leistungen zu bieten (Esping-Andersen 1990: 26, 32; Baldwin 1990 232-247). Von daher neigen die neuen Mittelschichten im liberalen Wohlfahrtsregime dazu, nicht nur eine Ausdehnung wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten, sondern auch das bestehende System öffentlicher Sozialleistungen nur wenig zu unterstützen oder sogar zu bekämpfen (Baldwin 1990: 298-299). Die Mittelklassen-Wohl37
Darauf, dass Großbritannien im Verlauf bei der Sozialdemokratisierung des Wohlfahrtsstaates scheiterte und schließlich zum liberalen Wohlfahrtsstaat degenerierte, wird im folgenden Abschnitt ‚4.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der britischen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg ދeingegangen.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
fahrtsstaaten der sozialdemokratischen oder der konservativen Prägung gewinnen die Loyalität der Mittelschichten. Indessen wird die Entwicklung des liberalen Wohlfahrtsstaates lediglich von den zahlenmäßig schwachen und politisch residualen sozialen Schichten unterstützt (Esping-Andersen 1990: 33). 3.2.3 Die herrschende Klasse und die regierende Klasse Die obigen Erklärungen der Entstehungsprozesse der drei Wohlfahrtsregimes nach Esping-Andersen können als die Herausbildungsprozesse der dominierenden machtpolitischen Kräfte in jedem Regime interpretiert werden. Unter anderem angesichts der Natur und der Patterns der politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse, welche in den Wohlfahrtsregimes jeweilig unterschiedlich geprägt wurden, haben sich die sozialdemokratischen Kräfte wie die sozialdemokratischen Parteien im sozialdemokratischen Regime, die konservativen Kräfte wie die christdemokratischen Parteien im konservativen Regime und die liberalen Kräfte wie die bürgerlichen Parteien im liberalen Regime jeweilig als die dominierenden machtpolitischen Kräfte gegen andere Kräfte durchgesetzt. Und diese jeweiligen dominierenden machtpolitischen Kräfte bauten auf der Grundlage ihrer eigenen Ideologie die jeweilig spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen auf. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass in dieser Arbeit solche dominierenden machtpolitischen Kräfte in den kapitalistischen Gesellschaften, welche durch die Erklärungen von Esping-Andersen festgestellt wurden, nicht als ‚herrschende ދKlasse oder Fraktion, sondern als ‚regierende ދKlasse oder Fraktion verstanden werden. Die terminologische Teilung zwischen der herrschenden Klasse und der regierenden Klasse in der kapitalistischen Gesellschaftsformation beruht auf der Argumentation von Nicos Poulantzas (1975a). Poulantzas definierte die herrschende Klasse oder Fraktion als die Klasse oder Fraktion, die letztendlich die politische Macht innehat. Demgegenüber versteht man unter der regierenden Klasse oder Fraktion die Klasse oder Fraktion, deren Parteien die herrschenden Positionen auf der politischen Bühne besetzt halten. Darüber hinaus erklärte er, dass die herrschende Klasse oder Fraktion und die regierende Klasse oder Fraktion in der Tat nicht unbedingt identisch sind. „Diese Nicht-Entsprechung zwischen der Stellung einer Klasse oder Fraktion auf dem Feld der politischen Praxisformen und ihrer Position auf der politischen Bühne geht wohlgemerkt einher mit einer Reihe von Veränderungen ihrer Vertretung durch eine Partei: Diese Veränderungen stehen in Beziehung zur Zusammensetzung der Parteien, zu ihrem Verhältnis untereinander, und richten sich danach, in welchem Umfang diese Parteien für die politischen Interessen einer [herrschenden] Klasse oder Fraktion repräsentativ sind. Diese Interessen können auf verzerrte Art und Wei-
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
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se auch von Parteien anderer regierender Klassen und Fraktionen vertreten werden“ (Poulantzas 1975a: 249; Hervorhebung von I.R. Baek).
Diese Differenzierung von Poulantzas beruht auf dem Verständnis für Klasse und politische Kräfte von Karl Marx. Als ein gutes Beispiel dafür kann die Bewertung von Marx über die industrielle Bourgeoisie unter der französischen Monarchie erwähnt werden. „[W]irklichen Heerführer [der bürgerlichen Gesellschaft] saßen hinter dem Kontortisch, und der Speckkopf Ludwigs XVIII. war ihr politisches Haupt. Ganz absorbiert in die Produktion des Reichtums und in dem friedlichen Kampf der Konkurrenz begriff sie [Bourgeoisie] nicht mehr, daß die Gespenster der Römerzeit ihre Wiege gehütet hatten.“ (Marx 1973: 116)
„Die Ungleichzeitigkeiten zwischen der politischen Praxis und der politischen Bühne“ (Poulantzas 1975a: 249) ermöglicht im Wesentlichen die ‚relative Autonomie ދdes kapitalistischen Staates. Der Kapitalismus als eine bestimmte Produktionsweise wird im Vergleich zu vorkapitalistischen Produktionsweisen durch eine Trennung der Arbeiterschaft von den Arbeitsmitteln, also durch die Einheit der Trennung im Eigentumsverhältnis mit der Trennung im Verhältnis der realen Aneignung charakterisiert (vgl. Marx 1975: 798 f.). Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise ist die ökonomische Instanz daher nicht nur determinierender Faktor in letzter Instanz, sondern hat auch die beherrschende Rolle inne. Anders als die vorkapitalistischen Produktionsweisen sind in der kapitalistischen Produktionsweise die außerökonomischen Zwänge für die Aneignung des Mehrprodukts unnötig. Indem die Aneignung des Mehrprodukts durch den Arbeitsprozess in der ökonomischen Instanz naturgemäß durchgesetzt ist, zeichnet sich die Artikulation der ökonomischen und politischen Instanz innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise durch die einander relative Autonomie aus (Poulantzas 1975a: 26 f., 30).38 Somit ist der vom Ökonomischen relativ autonome kapitalistische Staat zwar ein Klassenstaat, jedoch stellt sich der Staat anders als die anderen Klassenstaaten, z.B. der feudalistische Staat, selbst als Vertreter des Gemeinwohls bzw. als „die Verkörperung des Gemeinwillens des Volkes als Nation“ dar (Poulantzas 1975a: 131). Und der ebenfalls von der herrschenden Klasse relativ auto38
In der feudalistischen Produktionsweise ist zwar die ökonomische Instanz auch der determinierende Faktor in letzter Instanz, jedoch hat das Politische häufig die herrschende Rolle inne (Poulantzas 1975a: 210). Denn vor allem wegen der Nicht-Entsprechung zwischen der Trennung im Eigentumsverhältnis und der Trennung im Verhältnis der realen Aneignung, d.h. wegen der Einheit von Arbeiterschaft und Produktionsmitteln, waren die außerökonomischen Zwänge für die Aneignung des Mehrprodukts, also die Zwänge des Staates, nötig.
78
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
nome kapitalistische Staat gewährleistet ökonomische Interessen bestimmter beherrschter Klassen, wobei dieses staatliche Handeln sogar ‚kurzfristigen ދökonomischen Interessen der herrschenden Klassen entgegenwirken kann (Poulantzas 1975a: 188). Als ein typisches Handeln des Staates in diesem Sinne kann das soziale Sicherungssystem genannt werden. Allerdings kann die Staatsmacht nicht aufgeteilt werden. Sie ist vereinheitlicht und die Macht einer Klasse (Poulantzas 1975a: 276, 305). Die herrschende Klasse, also die Bourgeoisie, hat innerhalb des Gesamtkomplexes der kapitalistischen Gesellschaftsformation die dominante Rolle inne, nimmt die Herrschaftsposition auf der Ebene des Klassenkampfes ein und hält in der Folge die dominante Machtposition besetzt (Poulantzas 1975a: 113). Demnach vertritt der kapitalistische Staat die politischen Interessen der herrschenden Klasse. Die staatliche Gewähr der ökonomischen Interessen bestimmter beherrschter Klassen ist letztlich ein Handeln, um die politischen Interessen und die hegemoniale Herrschaft der Bourgeois-Klasse zu sichern (Poulantzas 1975a: 188 f.). Des Weiteren korrespondiert dieses Handeln des kapitalistischen Staates schließlich auch mit den ‚langfristigen ދökonomischen Interessen der herrschenden Klasse. Ferner sind die Bourgeois-Klassen oder -Fraktionen wegen ihrer eigenen besonderen Privatinteressen tief gespalten. Der kapitalistische Staat spielt daher eine Rolle als hegemonialer Organisationsfaktor zur politischen Vereinheitlichung der vielfältigen Bourgeois-Klassen und -Fraktionen. Er ist ein „Einigungsfaktor des Machtblocks unter dem Schutz der hegemonialen Klasse oder Fraktion“ von den Bourgeoisien (Poulantzas 1975a: 299 f.).39
39
Der Machtblock wird definiert als „die aus den politisch herrschenden Klassen und Fraktionen gebildete widersprüchliche Einheit in ihrem Verhältnis zu einer besonderen Form des kapitalistischen Staats“ (Poulantzas 1975a: 234; Hervorhebung im Original). Das Vorhandensein dieses Machtblocks, das sich in der Struktur des kapitalistischen Staates entdecken lässt, ist auf eine Koexistenz mehrerer Bourgeois-Klassen oder -Fraktionen auf der Ebene der politischen Herrschaft zurückzuführen. Innerhalb des Machtblocks gibt es die hegemoniale Klasse oder Fraktion, die einen Teil des Machtblocks und das dominante Element, die vorrangige Stellung gegenüber den anderen Klassen oder Fraktionen innerhalb des Machtblocks, darstellt: „Die hegemoniale Klasse oder Fraktion polarisiert die spezifischen kontradiktorischen Interessen der verschiedenen Klassen oder Fraktionen des Machtblocks, indem sie ihre eigenen ökonomischen und politischen Interessen als stellvertretend für das gemeinsame Interesse der Klassen oder Fraktionen des Machtblocks hinstellt: Als das Allgemeininteresse dieser Klassen oder Fraktionen des Machtblocks an der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Herrschaft.“ (Poulantzas 1975a: 239; Hervorhebung im Original). Poulantzas unterteilt in seinem Buch ‚Klassen im Kapitalismus – heute( ދ1975b: 80-164) die Bourgeois-Klassen und -Fraktionen ausführlich wie folgt: Nationales Kapital gegenüber internationalem Kapital; Monopolkapital gegenüber nicht-monopolistischem Kapital; industrielles Kapital, Bankkapital und Finanzkapital; Handelskapital und sonstiges Kapital. Poulantzas zufolge sind auch die Manager der Firmen und die Spitzen des Staatsapparates Teile der Bourgeoisien.
3.2 Die Entstehung der drei Wohlfahrtsregimes
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Diese hegemoniale Klasse oder Fraktion des Machtblocks kann gleichzeitig die regierende Klasse oder Fraktion sein. Allerdings ist die regierende Klasse oder Fraktion nicht unbedingt die hegemoniale Klasse oder Fraktion. Sie kann eine andere Klasse oder Fraktion des Machtblocks sein und sogar manchmal nicht Teil des Machtblocks sein. „Die regierende Klasse oder Fraktion [...] braucht im übrigen nicht nur die hegemoniale zu sein, sondern ist manchmal nicht einmal Teil des Machtblocks: Eine Klasse, die lediglich den Status eines Verbündeten dieses Blocks hat, kann während einer kurzen Zeitpanne regierende Klasse sein. Dieser Fall ist besonders augenfällig in Frankreich während der radikalen Regierungen der III. Republik vor dem Ersten Weltkrieg: Dort ist es die Finanzfraktion, die die Hegemonie hat und sich mit der Industriefraktion in die Position der staatstragenden Klasse teilt, während das Kleinbürgertum in einem komplexen Bündnis mit dem mittleren Bürgertum als die regierende Klasse erscheint. Dieser Fall ist auch, immer unter Einschluß des Kleinbürgertums, bei bestimmten sozialdemokratischen Regierungen (vor allem in Frankreich) anzutreffen. Dabei kann man im allgemeinen eine typische Ungleichzeitigkeit zwischen dieser Klasse und ihrer Vertretung durch eine Partei feststellen: Ihre Partei spielt für die herrschende Klasse oder Fraktion oder sogar für eine andere Klasse oder Fraktion des Machtblocks den »Kommis«.“ (Poulantzas 1975a: 251; Hervorhebung im Original).
Poulantzas zufolge ist im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime das Verhältnis zwischen den sozialdemokratischen Parteien als die dominierenden machtpolitischen Kräfte nach Esping-Andersen und der Bourgeoisie als die herrschende Klasse ein Verhältnis des ‚Bündnissesދ. Diese Bewertung ist nicht nur die Ansicht der die Sozialdemokratie kritisierenden Marxisten, sondern wird auch von den Sozialdemokraten selbst anerkannt. Die folgende Aussage eines berühmten sozialdemokratischen Akademikers stellt dies deutlich fest: “The major prerequisite for the historical compromise was thus a stable division of economic power and governmental power between opposing classes. Out of the compromise grew arrangements for handling societal problems which sometimes have been termed the ‘Swedish model’. This model was based on the mutual contributions of the parties to increase economic growth. They would co-operate in ‘making the pie larger in order that there would be more to divide’. Through control of the government, the labour movement could then influence the distribution of economic growth. Business enjoyed favourable condition for investment and expansion.” (Korpi 1983: 48; Hervorhebung im Original)
Im Gegenzug dafür, dass die sozialdemokratischen Kräfte eine starke Macht zur Umverteilung des dem Wirtschaftswachstum verdankenden Reichtums innehaben, vertreten sie gründlich die politischen und ökonomischen Interessen der
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Bourgeoisie als die der herrschenden Klasse der kapitalistischen Gesellschaft.40 Aus diesem Verständnis des Verhältnisses zwischen den beiden Klassen im sozialdemokratischen Regime ist folgende Tatsache zu verstehen: Der Grad der Ungleichheit von Schweden ist zwar der niedrigste der OECD-Länder, aber monopolistische Großkonzerne wie die ‚Wallenbergދ-Gruppe entwickeln sich unheimlich und der Grad der Eigentumskonzentration des Kapitals ist der höchste der OECD-Länder (Kwak 2005).41 Zum Schluss werden die liberalen, die konservativen und die sozialdemokratischen Kräfte als die dominierenden machtpolitischen Kräfte, die in den Erklärungen von Esping-Andersen über die Entstehungsprozesse der Wohlfahrtsregimes festgestellt wurden, in dieser Arbeit als die ‚regierende ދKlasse oder Fraktion betrachtet. Sie können ,hegemoniale Klassen oder Fraktionen‘ oder ,Klassen oder Fraktionen im Machtblock‘ oder ,Klassen oder Fraktionen außerhalb des Machtblocks‘, die im Bündnisverhältnis mit der herrschenden Klasse liegen, sein. Und die liberalen, die konservativen und die sozialdemokratischen machtpolitischen Kräfte haben für die Reproduktion und Erhaltung des kapitalistischen Systems ihre jeweilig spezifischen ‚Akkumulationsstrategien ދund ‚Hegemonialprojekteދ.42 40
41
42
“Social democracy is the most appropriate social base for liberal corporatism since it secures the support of the largest and most powerful of the dominated classes in state monopoly capitalism. In turn, social democratic parties (or their equivalent) are the natural governing parties in liberal corporatism because they fuse several major roles in one political organization. They have close links with the labour movement whose involvement in corporatist organs is essential to their success; they have substantial electoral support among the organized working class and new petty bourgeoisie; and they manage to articulate ‘economic-corporative’ and populardemocratic demands into a program that supports state intervention in the interests of capital accumulation” (Jessop 1990a: 131). Zum Beispiel gehören zwölf der wichtigsten schwedischen Aktiengesellschaften, darunter Ericsson, Scania, Electrolux, SEB etc., der Wallenberg-Gruppe. Sie besitzt nach dem Marktwert 40 % der notierten Aktien aller schwedischen Unternehmen. Dieser Großkonzern gehört einer alteingesessenen Familie von Bankiers und Industriellen. Die Kapitalkontrolle wird daher vererbt und heute von der sechsten Generation ausgeübt (vgl. Lee 2005). Jessop erklärt die Akkumulationsstrategie und das Hegemonialprojekt wie folgt: “An ‘accumulation strategy’ defines a specific economic ‘growth model’ complete with its various extra-economic preconditions and also outlines a general strategy appropriate to its realization.” (Jessop 1990a: 198; Hervorhebung im Original) Demgegenüber: “In broad terms hegemony involves the interpellation and organisation of different ‘class-relevant’ (but not necessarily class-conscious) forces under the ‘political, intellectual and moral leadership’ of a particular class (or class fraction) or, more precisely, its political, intellectual and moral spokesmen. The key to the exercise of such leadership is the development of a specific ‘hegemonic project’ which can resolve the abstract problem of conflicts between particular interests and the general interest.” (Jessop 1990a: 207 f.; Hervorhebung im Original). Demnach: „Hegemonialprojekte definieren das allgemeine Interesse einer illusorischen Gemeinschaft und verbinden dabei die besonderen Interessen spezifischer Kräfte mit einer strategisch ausgerichteten Definition des Gemeinwohls“ (Jessop 1996a: 53).
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates
81
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates 3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates 3.3.1 Der Umbruch der Grundbedingungen für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates Esping-Andersen behauptet in seinen jüngeren Publikationen, dass die Erfordernisse für die Reorganisation der vorhandenen Sozialpolitik und des bestehenden Wohlfahrtsstaates entstehen, wenn das „industrial setting“ (Esping-Andersen 1999: 123, 173) sich transformiert.43 Angesichts der Globalisierung, der neuen Technologien, des Übergangs zu einem wissensbasierten Produktionssystem, der Tertiarisierung und weiterer Modernisierungstendenzen der letzten Jahre basiert Esping-Andersen zufolge die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft auf der „postindustrial economy“ (siehe zur post-industriellen Ökonomie ausführlich Bell 1975; Toffler 1993; Castells 1996). Somit steht in seiner „new political economy“ (Esping-Andersen 1999: 95) die De-Industrialisierung, in der in Bezug auf die Beschäftigungsmöglichkeiten der industrielle Produktionssektor die Bedeutung immer mehr verliert und im Gegenzug der Dienstleistungssektor allmählich an Bedeutung gewinnt (Kaufmann 1997: 53; Fourastié 1969), im Zentrum (Esping-Andersen 1999: 102 f.). Damit weist Esping-Andersen auf konkrete Sozialfragen, denen der Wohlfahrtsstaat in der postindustriellen Gesellschaft begegnet, hin. Stellvertretend werden das „jobs-equality trade-off“ im Arbeitsmarkt und der Wandel der familiären Lebensform erläutert (Esping-Andersen 1999: 5). Diese sind die Sozialfragen, die heute nahezu alle entwickelten kapitalistischen Länder erfahren, und zugleich die Agenden, die derzeit vor allem im Bereich Arbeitsmarktpolitik und im Bereich Familienpolitik in der Sozialpolitik aufkommen. Anders als auf dem Arbeitsmarkt der industriellen Gesellschaft sind laut Esping-Andersen auf dem Arbeitsmarkt der postindustriellen Gesellschaft die Ziele Vollbeschäftigung und Gleichheit des Lohnniveaus nicht parallel zu verfolgen. Wenn nach der Vermehrung der Arbeitsplätze gestrebt wird, werden die Löhne unvermeidlich ungleicher. Wenn die Gleichheit des Lohnniveaus als Zielfokus gilt, ist es sehr schwierig, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Zwickmühle rührt von Folgendem her: Wenn das Lohnniveau des Dienstleistungssektors, auf dem die postindustrielle Gesellschaft beruht, so hoch wie das des industriellen 43
Esping-Andersen fordert in seinen jüngeren Publikationen, dass infolge der Veränderung der Grundbedingungen für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates die vorhandenen Sozialpolitiken und die bestehenden Wohlfahrtsstaaten heute reorganisiert werden sollten. Während er sich in die Anpassung des Wohlfahrtsstaates an die neuen Umstände vertieft, schwächt sich sein bis dato deutlich linksorientierter Gesichtspunkt aber leider ab. Anders als in seinen früheren Publikationen schwindet in seinen jüngeren Veröffentlichungen die Bedeutung der ‚Dekommodifizierung( ދvgl. Lessenich 2004: 470).
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Produktionssektors ist, wird die Entwicklung des Dienstleistungssektors stagnieren (vgl. Baumol 1967).44 In der Folge nehmen die Arbeitsplätze nicht zu und angesichts der hohen Arbeitslosenquote kommen die Sozialfragen – Arbeitsmarkt-Exklusion, ‚Insider-Outsiderދ-Division, soziale Marginalisierung etc. – auf. In dem anderen Fall eines geringeren Lohnniveaus im tertiären Sektor werden die Arbeitsplätze zwar vermehrt, aber die Sozialfragen – Job-Polarisierung, ‚Working Poor ދoder das ‚Underclassދ-Problem – entstehen, weil das Lohnniveau des Dienstleistungssektors deutlich niedriger als das des industriellen Produktionssektors ist. Gleichgültig welche Richtung gewählt wird, werden darüber hinaus infolge des Problems des „jobs-equality trade-off“ die Jugendarbeitslosigkeit und/oder die Armut der jungen Familien in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Hauptagenden (Esping-Andersen 1999: 96, 107 ff., 167). In der postindustriellen Gesellschaft verändert sich die Familienstruktur. Das traditionelle Familienmodell, das aus dem Ehemann als vollzeitbeschäftigten Haupternährer, der Ehefrau als Pflegerin oder Erzieherin und ihren Kindern besteht, wird zurzeit allmählich instabil. Dies kann auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und den Geburtenrückgang zurückzuführen sein (hierzu ausführlich Netzler 2000: 307-311). Die Tendenz der Zunahme der Zwei-Ernährer-Familie und der erwerbstätigen alleinerziehenden Mütter führt nicht nur zum Anstieg des Arbeitsangebots auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch zur zeitlichen Überlastung der Familie, die es den Eltern unmöglich macht, die Familiendienste, darunter die Hausarbeit, in der notwendigen Breite selbst zu erledigen (Esping-Andersen 1999: 54-60, 150). Die Kinderlosigkeit von Frauen bzw. die Verringerung der Geburtenhäufigkeit tritt zugleich als ein ernsthaftes Problem auf. Sie führt zusammen mit der Erhöhung der Lebenserwartung zu einer alternden Gesellschaft, in der der Altenteil ständig zunimmt (Lampert und Althammer 2004: 286; Kaufmann 1997: 69-73). Die Schrumpfung der Bevölkerungszahl und die Überalterung der Gesellschaft gefährdet die Finanzierbarkeit des künftigen Wohlfahrtstaates (EspingAndersen 1999: 67 f., 161; Kaufmann 2005a: 147-151).45 Konfrontiert mit diesen neuen Umständen und neuen Sozialfragen fördern die europäischen Länder die Reorganisation der vorhandenen Sozialpolitik (Esping-Andersen 1996b; 2002b).
44
45
Nach der ‚cost-diseaseދ-Theorie von Baumol (1967) stagniert die Entwicklung des Dienstleistungssektors, wenn sein Lohnniveau sich nach dem des industriellen Produktionssektors richtet. Denn die Produktivität des Dienstleistungssektors ist relativ niedriger als die des industriellen Produktionssektors (Esping-Andersen 1990: 193). Das Problem der alternden Gesellschaft wird im Unterabschnitt ‚7.3.1.3 Die Überalterung der Bevölkerung ދnoch einmal ausführlich diskutiert.
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates 3.3.2
83
Die unveränderlich bleibenden Grundmerkmale der Sozialpolitik
Parallel mit der Erklärung über die postindustrielle Transformation der Sozialpolitik behauptet Esping-Andersen, dass die oben erwähnten grundlegenden institutionellen Merkmale der drei Wohlfahrtsstaaten auch in der Zeit des Umbruchs im Wesentlichen unverändert bleiben. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Reorganisation des Wohlfahrtsstaates vollzieht sich in der ,,inherent logic“ der jeweiligen Wohlfahrtsregimes, die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet wurde (Esping-Andersen 1996b: 10; 1999: 4, 150, 165, 172): “This means that existing institutional arrangements heavily determine, maybe even overdetermine, national trajectories. More concretely, the divergent kinds of welfare regimes that nations built over the post-war decades, have a lasting and overpowering effect on which kind of adaptation strategies can and will be pursued.” (EspingAndersen 1999: 4)
Dies bedeutet, dass die neuen sozialpolitischen Strategien der drei Wohlfahrtsregimes für die Anpassung an die veränderten Umstände auf der Grundlage der vorhandenen Grundkonzeptionen zur Wohlfahrtsproduktion etabliert werden. Da die Reorganisation der Wohlfahrtsstaaten auf der Grundlage der so herausgebildeten sozialpolitischen Strategien verfolgt wird, werden die Transformationen der Sozialpolitik dabei in der Kontinuität der Systemmerkmale durchgeführt. Esping-Andersen erklärt dies in erster Linie auf der Grundlage der Pfadabhängigkeit-Theorie (hierzu Pierson 1993; 2000; Borschert 1998: 146-151), nach der sich die einmal etablierten Institutionen mit einer gewissen Beharrungskraft gegenüber Veränderungen selbst reproduzieren. Allerdings verweist er nicht einfach auf den Ansatz. Esping-Andersen fordert seine LeserInnen auf, zu bedenken, wer die institutionelle Basis als die Vorbedingung der Pfadabhängigkeit geschaffen hat, wer davon profitiert und wer die Hegemonie aufrechterhält. Das hegemoniale System sollte präzis betrachtet werden (Esping-Andersen 1999: 170). Esping-Andersen gibt in diesem Zusammenhang zu, dass es in nahezu allen entwickelten Ländern mittlerweile Regierungswechsel gegeben habe. 46 Die grundlegenden machtpolitischen Konstellationen, und zwar die Regierungs- und Parteikonstellationen in den betreffenden Wohlfahrtsregimes, welche im obigen 46
“There have been radical shifts in government and power over the past many decades. The Scandinavian countries have all experienced rightist governments, some even for protracted periods; both the Left and the Right has had its day in France, Germany, Spain, Portugal, Austria, the Netherlands, Australia and New Zealand; less ideologically clear are the shifts in North America. Political alternation may very well have caused roll-backs in a programme here or some policy redesign there, but there is almost no case of sharp welfare regime transformation.” (Esping-Andersen 1999: 172)
84
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Unterabschnitt ‚3.2.2 Der historische Prozess des Entstehens ދdargelegt wurden, haben sich aber ‚noch ދnicht so verändert, als dass ein tiefgreifender ‚Kurswechsel ދhinsichtlich der Grundkonzeptionen der Sozialpolitik passiert wäre (Esping-Andersen 1999: 172).47 Setzt man die oben diskutierte Logik von Esping-Andersen mit dem ‚strategisch-rationalen Ansatz ދnach Jessop (1990; 1996a; 2008)48 in Bezug und versucht, die Symbiose auf der Betonung der ‚Strategie ދzu entwickeln, so kann man Folgendes schließen: Die dominierenden machtpolitischen Konstellationen, die die spezifischen Wohlfahrtsstaaten in den jeweiligen Wohlfahrtsregimes nach dem Zweiten 47
48
Anders formuliert bedeutet dieses Argument von Esping-Andersen, dass ein Umbruch der die unterschiedlichen Modelle bestimmenden Interessen- und Machtverhältnisse zum Kurswechsel hinsichtlich der Grundkonzeptionen der Sozialpolitik führen kann. Einige Kritiker, so. z.B. Claus Offe (1993), warfen Esping-Andersen vor, dass seine Einordnung der Länder in seine Typologie zu fest wäre, die Zugehörigkeit zu einem der Regimes also faktisch ein Fatum zu werden scheine. Esping-Andersen akzeptiert hingegen, dass sowohl sein Modell irgendwann überarbeitet werden müsse als auch die Zuordnung von Ländern zu einem Typus sich ändern könne: “Any typology of welfare regimes therefore remains valid only as long as history stands still.” (Esping-Andersen 1999: 73) Die strategisch-rationale Staatstheorie nach Jessop (1990: 10) beruht im Wesentlichen auf dem folgenden Verständnis des Staates von Poulantzas: ,,[E]in Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“ (Poulantzas 2002: 159). Jessop entwickelt jedoch die Staatstheorie des Spätwerks Poulantzas – die Staatsmacht als soziales Verhältnis, welche grundsätzlich auf den Produktionsverhältnissen beruht, und die strukturelle Selektivität, durch die die Klassenherrschaft in Staatsapparaten geprägt wird – ,strategisch ދweiter. ,,Dabei sollten wir uns vergegenwärtigen, dass der Staat eine institutionelle Gesamtheit mit einer eigenen Materialität, eigenen strategischen Kapazitäten und Kräften und einer eigenen politischen Logik darstellt und dass er geprägt ist durch seine eigene strategische Selektivität in Bezug auf das sich verändernde Gleichgewicht der Kräfte und die Strategien, die diese verfolgen“ (Jessop 1996a: 46). Angesichts dieses Verständnisses des Staates von Jessop werden die soziale Relation von Poulantzas als die strategische Relation der sozialen Kräfte noch konkreter und der Begriff der strukturellen Selektivität von Poulantzas durch die strategische Selektivität noch flexibler auffassbar. “[T]he state system is the site of strategy. It can be analysed as a system of strategic selectivity, i.e. as a system whose structure and modus operandi are more open to some types of political strategy than others. Thus a given type of state, a given state form, a given form of regime, will be more accessible to some forces than others according to the strategies they adopt to gain state power; and it will be more suited to the pursuit of some types of economic or political strategy than others because of the modes of intervention and resources which characterize that system. I believe this notion of strategic selectivity is more fruitful than that of structural selectivity because it brings out more clearly the relational character of the selectivity. For the differential impact of the state system in the capacity of different class (-relevant) forces to pursue their interests in different strategies over a given time horizon is not inscribed in the state system as such but in the relation between state structures and the strategies which different forces adopt towards it.” (Jessop 1990: 260; Hervorhebung im Original)
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates
85
Weltkrieg etabliert haben, sind noch heute fast intakt.49 Im sozialdemokratischen Regime sind die sozialdemokratischen Kräfte noch immer die dominierenden machtpolitischen Kräfte. Daher wird ihre sozialpolitische Strategie, deren inhaltliche Grundlage den Grundkonzeptionen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates – staatszentrierte Wohlfahrtsproduktion und aktive Staatsintervention – entspricht, die dominierende sozialpolitische Strategie der postfordistischen Ära der betreffenden Staaten. Und angesichts der strategischen Selektivität bewirkt die Staatsform wiederum eher eine strukturelle Privilegierung der Interessen der sozialdemokratischen Kräfte und der von ihnen verfolgten Strategien als eine Wunscherfüllung der Anliegen der anderen politischen Kräfte. Im liberalen Regime und im konservativen Regime läuft der gleiche Mechanismus ab. Im liberalen Regime sind die liberalen Kräfte heute noch die dominierenden machtpolitischen Kräfte und im konservativen Regime die konservativen Kräfte. Im liberalen Regime wird daher die sozialpolitische Strategie der liberalen Kräfte, deren inhaltliche Grundlage den Grundkonzeptionen des liberalen Wohlfahrtsstaates – marktzentrierte Wohlfahrtsproduktion und minimale Staatsintervention – entspricht, die dominierende sozialpolitische Strategie der postfordistischen Ära der betreffenden Staaten. Im konservativen Regime wird die sozialpolitische Strategie der konservativen Kräfte, deren inhaltliche Grundlage den Grundkonzeptionen des konservativen Wohlfahrtsstaates – familienzentrierte Wohlfahrtsproduktion und subsidiäre Staatsintervention – entspricht, die dominierende sozialpolitische Strategie der postfordistischen Ära der betreffenden Staaten. Im Zuge der strategischen Selektivität privilegieren die betreffenden Staatsformen wiederum die Strategien der dominierenden machtpolitischen Kräfte, ihren Zugang und ihre Interessen gegenüber anderen.50 49
50
Es ist hier noch einmal zu unterstreichen, dass es bei den hier erwähnten machtpolitischen Kräften nicht um die herrschenden Klassen oder Fraktionen bzw. die Klassen oder Fraktionen, welche die bestehende herrschende Klasse stürzen und selber die Position besetzen wollen, geht. Dabei handelt es sich um die regierenden Klassen oder Fraktionen bzw. die Klassen oder Fraktionen, deren Parteien die herrschenden Positionen auf der politischen Bühne besetzen wollen. Die Klassen oder Fraktionen bekämpfen sich zwar für ihre eigenen Interessen auf der politischen Bühne, aber sie alle orientieren sich vorrangig an der Reproduktion und Erhaltung des kapitalistischen Systems. Hier sollte darauf hingewiesen werden, dass die in dieser Arbeit behandelten politischen Strategien, welche durch den Kampf zwischen den Klassen und Klassenfraktionen im Staat geprägt werden, die sozialpolitischen Strategien für die soziale Funktion des kapitalistischen Staates im Rahmen der Strategien der regierenden Klassen oder Fraktionen sind. Die konkrete Wechselwirkung zwischen den sozialpolitischen und den wirtschaftspolitischen Strategien und den Zusammenhang zwischen den spezifischen ‚Akkumulationsstrategien ދsowie den spezifischen ‚hegemonialen Projekten ދund der sozialpolitischen Strategie, die ein integraler Bestandteil der Akkumulationsstrategie ist und überdies im hegemonialen Projekt reflektiert wird (Jessop 1993: 18), zu untersuchen, verbleibt als zukünftige Aufgabe. Es geht bei der hier zu lösenden Aufgabe darum, wie die unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien in den betreffenden
86
3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
In der Folge zeigt sich in den drei Wohlfahrtsregimes, dass die postfordistischen Transformationen der Sozialpolitik in der Konstanz der grundlegenden institutionellen Charakteristika durchgeführt werden. Dies ist vor allem auf die Aufrechterhaltung der zugrundeliegenden machtpolitischen Konstellationen in den betreffenden Wohlfahrtsregimes zurückzuführen. Die ausschlaggebenden Faktoren, die in der Vergangenheit für das Aufkommen der heutigen regierenden Klassen oder Fraktionen als die dominierenden machtpolitischen Kräfte zugrunde gelegt wurden, sind die Natur und das Pattern der politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse, welche in den jeweiligen Wohlfahrtsregimes unterschiedlich spezifisch geprägt waren. Sind dann die Natur und das Pattern im Großen und Ganzen bis heute jeweils unverändert geblieben? Esping-Andersen hat die historische Formation kollektiven Handelns der Arbeiterklasse vor allem durch die Untersuchung der Struktur der Gewerkschaften festgestellt (Esping-Andersen 1990: 29). Vor der Untersuchung der dominierenden sozialpolitischen Strategie der postfordistischen Ära in jedem Wohlfahrtsregime werden daher im nächsten Abschnitt die gegenwärtigen Gewerkschaften und die industriellen Beziehungen analysiert und die Natur des kollektiven Handelns der Arbeiterklasse in dieser Zeit ausgewertet. 3.3.3 Der heutige Zustand der Gewerkschaften in den drei Wohlfahrtsregimes Die westeuropäischen Gewerkschaften, die eine Zeitlang als besonders stark in Bezug auf ihre Fähigkeit in den Tarifverhandlungen und ihre Kampfbereitschaft galten, haben seit den 70er Jahren an Einfluss und Mitgliederzahl nachgelassen. Begleitet wurde dieser Trend von einer Polarisierung und Fragmentierung innerhalb der Arbeiterklasse, einem verstärkten Individualismus und einer Dekollektivierung des Umgangs innerhalb und zwischen Gewerkschaften, also einer Desolidarisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, und einer Verbetrieblichung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung (Deppe und Weiner 1991; Deppe 1995: 347; 2003a: 29 ff.; Fülberth 2005: 275). Die allgemeine Tendenz der Veränderung der Struktur der kollektiven Aushandlung ist laut OECD (2004b: 129 f.) folgende: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimmt ständig ab. Der Erfassungsgrad der Tarifverhandlung tendiert ebenfalls dazu, obwohl er relativ stabiler ist als der gewerkschaftliche Organisationsgrad, allmählich zu sinken. Die zentralisierte Struktur der Tarifverhandlung wird sukzessiv dezentralisiert. Die Koordination tendiert ebenfalls dazu, schwächer zu werden, wenn auch weniger deutlich als die Zentralisierung. kapitalistischen Gesellschaftsformationen zur erweiterten Reproduktion des Kapitals und zur Erhaltung der Hegemonie der herrschenden Klasse, d.h. der Bourgeoisie, beitragen.
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates
87
Allerdings besagt Esping-Andersen, dass die allgemeine Tendenz der Verschlechterung der Struktur der kollektiven Aushandlung sich nicht so entwickelt, als dass sich die eigene Natur des kollektiven Handelns der Arbeiterklasse in den jeweiligen Wohlfahrtsregimes auflöst. Tabelle 3: Länder
Skandinavische Länder Dänemark Finnland Schweden Nordkontinentaleuropa Österreich
Wage-Setting: Haupttrends seit dem Anfang der 1980er Jahre Gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Erfassungsgrad der Tarifverhandlung
Ebene der Tarifverhandlung
Koordination
Mitte der 90er Jahre (%)
Änderung
Mitte der 90er Jahre (%)
Änderung
Institutionalisierte Ebenea
Änderung der vorherrschenden Ebeneb
Gewerkschaft
Arbeitgeber
76 81 91
Stabil Zunahme Zunahme
69 95 89
Stabil Stabil Zunahme
3,2 1,2,3 1,2,3
3Æ 2 3Æ 2 3Æ 2
Hoch Mittel Hoch
Hoch Hoch Hoch
42
Abnahme Abnahme Abnahme Abnahme Abnahme
98
0
2,3
2
Hoch
Hoch
90
0
1,2,3
2
Mittel
Mittel
95
Zunahme
1,2,3
2
Mittel
Mittel
92
Stabil
1,2
2
Mittel
Hoch
81
Zunahme
1,2,3
2
Mittel
Mittel
Abnahme Abnahme Zunahme
82
1,2,3
2 Æ 1/3
Mittel
Mittel
71
Abnahme Stabil
1,2,3
2 Æ 2/3
Mittel
Mittel
78
Zunahme
1,2,3
2/3 Æ 2
Mittel
Niedrig
– Abnahme Abnahme
– 47
– Abnahme Abnahme
– 1,2
– 2Æ1
Niedrig Niedrig
Niedrig Niedrig
1,2
1
Niedrig
Niedrig
Belgien
54
Frankreich
9
Deutschland
29
Niederlande
26
Südeuropa Italien
39
Portugal
32
Spanien Angelsächsische Länder Irland Großbritannien
19
50 34
USA
16
18
A: 1=Betrieb/Fabrik Ebene; 2=Branchenebene; 3= zentrale Ebene B: Æ Richtung der Änderung Quelle: Lodovici 2000a: 59; eigene Zusammenstellung; Übersetzung von I.R. Baek
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
3.3.3.1 Die Gewerkschaften im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime Wie die Tabelle 3 zeigt, ist seit den 80 Jahren der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den konservativen und in den liberalen Ländern gesunken. Indessen hat der Grad in den skandinavischen Ländern nicht abgenommen, sondern sogar zugenommen. Außerdem sind ihre Gewerkschaftsmitgliedsraten noch am höchsten von denen der entwickelten kapitalistischen Länder. Bei den Erfassungsgraden der Tarifverhandlung zeigen die skandinavischen Länder einen Trend der Stabilität oder der Zunahme. Allerdings kann als ein Problem der nordischen Länder angesehen werden, dass die vorherrschende Ebene der Tarifverhandlung von der zentralen Ebene in die sektorale Ebene verschoben, also dezentralisiert, wurde. Die Ebenen, in denen die Tarifverhandlungen stattfinden, beeinflussen vor allem die Struktur der Lohnunterschiede. Je dezentralisierter die Ebene ist, desto mehr vergrößert sich die Dispersität der Löhne. In den 1990er Jahren wurde in den skandinavischen Ländern die vorherrschende Ebene der Tarifverhandlung dezentralisiert und letztlich die Rolle der Branchenebenen ausgeweitet. Dies führte zu einer übergreifenden Verbreiterung der Lohnunterschiede (Lodovici 2000a: 41, 49). Allerdings ist der Koordinationsgrad der sozialdemokratischen Länder heute noch der höchste aller entwickelten kapitalistischen Länder. Der gegenwärtige Trend der dezentralisierteren Lohnfestsetzung liegt also noch in dem Rahmen, der als ein hohes Maß an Lohn-Koordination auf der zentralen Ebene bezeichnet wird. In der Folge zeigen die sozialdemokratischen Länder heute noch die komprimierteste Lohnstruktur aller entwickelten kapitalistischen Länder (siehe Anhang-Tabelle 2). Denn das hoch koordinierte System der Tarifverhandlungen führt zur Lohnmoderation und verringert die Gefahr einer raschen Lohnerhöhung (Lodovici 2000a: 41). Wegen dieser Kapazität der skandinavischen Gewerkschaften, Lohnerhöhung selber zurückhalten zu können, minimieren sie möglicherweise negative Auswirkungen, z.B. negative Beschäftigungseffekte oder inflationäre Tendenzen, und erhalten eine gemäßigte Lohnentwicklung (EspingAndersen 1999; hierzu ausführlich Olson 1982; Lange und Garret 1985; Calmfors und Driffill 1988; Soskice 1990; Dell’Aringa 1992). Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass der Wohlfahrtsstaatstypus und der Charakter der industriellen Beziehungssysteme sich heute noch verflechten (Esping-Andersen 1999: 17, 20). Die landesweiten koordinierten und – trotz der relativen Schwächung heute noch – zentralisierten Tarifverhandlungssysteme unterstützen den globalen und homogeneren Verteilungsegalitarismus nicht nur im Markt, sondern auch in der Gesellschaft (Esping-Andersen 1999: 16). Das hoch koordinierte Aushandlungssystem bedeutet, dass die Gewerkschaften eher die universellen Interessen vertreten müssen als die Interessen der einzelnen
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates
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Gruppen (Korpi 1978; Stephens 1979; Olson 1982). Ein solches Tarifverhandlungssystem bildet daher eine grundlegende Voraussetzung bzw. eine bestmögliche institutionelle Infrastruktur für die solidarische Politik und den universalistischen Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1999: 16 f.): Die skandinavischen Gewerkschaften suchen in Zeiten des Wandels wie heute durch die hoch koordinierte Aushandlung einvernehmliche Lösungen, durch die nicht nur die Anpassung an die veränderten Umstände, sondern auch die Durchsetzung der universellen Interessen der gesamten Arbeiterklasse vollzogen werden. Die sozialdemokratischen Regierungen vermitteln die Konflikte zwischen den ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen und bieten in diesem Verlauf die begleitenden wohlfahrtstaatlichen Maßnahmen, z.B. sowohl umfassende finanzielle Leistungen als auch vielfältige Dienstleistungen, an, welche als notwendig betrachtet werden, um die Konsensbildung zwischen den Sozialpartnern zu erreichen. 3.3.3.2 Die Gewerkschaften im konservativen Wohlfahrtsregime Die gewerkschaftlichen Organisationsgrade der konservativen Länder sind niedriger als die der sozialdemokratischen Länder. Die Gewerkschaftsmitgliedsraten tendieren zu sinken. Allerdings sind die Erfassungsgrade der Tarifverhandlung so hoch wie die der skandinavischen Länder. In den konservativen Ländern sind die Erfassungsgrade der Tarifverhandlung normalerweise viel höher als die gewerkschaftlichen Organisationsgrade, weil die Ergebnisse der Tarifverhandlung obligatorisch auf die nicht-gewerkschaftlichen Sektoren angewendet werden (Lodovici 2000a: 35; vgl. Fuchs und Schettkat 2000: 211; 226 ff.). Die Struktur der Tarifverhandlung ist zentralisiert. Wie in den skandinavischen Ländern sind heute die Branchenebenen die vorherrschende Ebene der Tarifverhandlung. Ein Problem der Struktur der Tarifverhandlung in den konservativen Ländern, auf das hinzuweisen ist, ist, dass die Koordinationsgrade niedriger als die in den sozialdemokratischen Ländern sind. Während der hohe Grad der Koordination zur gemäßigten Lohnentwicklung und somit zur Begrenzung wirtschaftlich negativer Auswirkungen führt, verursacht der relativ niedrige Koordinationsgrad tendenziell, dass die einzelnen Gewerkschaften nur gemäß ihren eigenen unmittelbaren Einzelinteressen handeln und so egoistische ‚Rent-Seekingދ-Tarifverhandlungen betreiben (Olson 1982; Lange und Garret 1985; Crouch 1985; Calmfors und Driffill 1988; Soskice 1990; Dell’Aringa 1992). Auch wenn die Gewerkschaften des konservativen Regimes mächtig organisiert sind, ergeben sich aus dem relativ niedrigen Koordinationsgrad die Probleme der negativen Auswirkung auf die anderen und die Fragen der Exklusivität der Erfolge für die jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Die Gewerkschaften des konservativen Regimes erzielten bis heute für ihre Mitglieder hohe Lohnzuwächse und starken Arbeitsplatzschutz und sie halten diese Erfolge derzeit aufrecht (siehe Anhang-Tabelle 3 und Anhang-Tabelle 1). Eine daraus resultierende, negative Folge ist jedoch, dass die Positionen der Arbeitslosen und der prekär Beschäftigten sich verschlechtern (Esping-Andersen 1999: 121; 1996c: 79).51 Aus dem rigiden ‚Insider-Arbeitsmarkt ދmit immer engeren Zugang ergibt sich eine tiefe Kluft zwischen privilegierten Insidern und einer Masse von Outsidern, vor allem Frauen, Jugendlichen und Alten (Lessenich 2005: 23, 26; Hemerijck 2002: 186). Dies schädigt schließlich die breite Solidarität der Arbeiterklasse.52 Eine genaue Betrachtung des Problems ergibt jedoch, dass die tiefe Kluft nicht allein aus dem relativ niedrigen Koordinationsgrad resultiert. Dieser Spalt verbreitet sich vielmehr aus der sich steigernden Wechselwirkung zwischen dem Problem der Gewerkschaften und dem Modus der Reproduktion der Arbeitskraft des konservativen Regimes. Wie schon oben erklärt wurde, beruht die Wohlfahrtsproduktion der konservativen Länder auf dem Familismus. Die meisten Familien hängen faktisch völlig von den Löhnen und den Sozialansprüchen der männlichen Haupternährer ab. Wenn die Löhne dieses Ernährers bedroht sind, sind in der Folge oft nicht nur die Wohlfahrt der einzelnen Arbeitenden, sondern auch die der ganzen Familie gefährdet (Esping-Andersen und Regini 2000: 5 f.). Um Löhne zu sichern, die den Erhalt einer ganzen Familie ermöglichen, dürfen die Gewerkschaften Niedriglohn-Arbeitsmärkte nicht dulden (Esping-Andersen 1996c: 79). Die Sozialansprüche, die meistens auf dem Versicherungsprinzip beruhen, setzen stabile, kontinuierliche Karrieren und lebenslange Beiträge voraus. Wenn die lebenslangen Karrieren unterbrochen sind, wird es schwierig, ausreichende Guthaben für die Ansprüche der sozialen Sicherung, unter anderem der Rentenversicherung, zu akkumulieren (vgl. Döring 2004: 158-161). Daher können sich die ArbeitnehmerInnen eine Unterbrechung der beruflichen Karrieren in ihren aktiven Lebensphasen, also sog. „fragmentierte Erwerbsbiographie“ (Sesselmeier
51 52
Die Rigidität im Arbeitsmarkt und die Probleme der Outsider werden im folgenden Unterabschnitt ‚3.4.3 Die sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ދdargelegt. Dies bedeutet nicht, dass der Charakter der Gewerkschaften im konservativen Regime im Wesentlichen ‚konservativ ދist. Sie streben auch wie die Gewerkschaften im sozialdemokratischen Regime die Erweiterung der Verteilungsgleichheit und der sozialen Rechte an. Allerdings scheiterte das Ideal der Gewerkschaften, universelle Interessen der gesamten Arbeiterklasse zu vertreten, aufgrund des relativ niedrigen Koordinationsgrads häufig an den jeweiligen Interessen der einzelnen Gewerkschaften.
3.3 Zur Reorganisation des Wohlfahrtsstaates
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2004: 176), kaum erlauben (Esping-Andersen 1996b: 19).53 Demnach kämpfen die Gewerkschaften für die Sicherung des lebenslangen Arbeitsplatzschutzes mit den hohen Familienlöhnen, um während des gesamten Lebenszyklus die Wohlfahrt der ganzen Familienmitglieder sicherzustellen. Sie sind bestrebt, die vorhandenen Rechte der Insider möglichst lange zu verteidigen, auch wenn dieses Verhalten die Beschäftigungschancen der Frauen, Söhne und Töchter der Insider schadet (Esping-Andersen 1996b: 19; 1996c: 75, 80). Trotz hohen fiskalischen Belastungen und heftigen Kritiken an der Bürokratie und der Qualität der Sozialdienste gab es in Deutschland, Frankreich und Italien anders als in Skandinavien, Großbritannien und den USA keine große Revolte gegen den Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1996c: 68; Kaufmann 2003a: 305). In den konservativen Ländern unterstützen die Medianwähler fest den bestehenden Wohlfahrtsstaat. Sie tendieren dazu, Versuche, den Wohlfahrtsstaat zu flexibilisieren, zu verhindern, zu blockieren oder zu neutralisieren (Esping-Andersen 1999: 148, 154; 1996b: 19; 1996c: 68; vgl. Pilz 2004: 229). Den Medianwählern gehören nicht nur die privilegierten Insider, d.h. die Kernarbeiter, sondern auch ihre Frauen und andere Familienmitglieder an, die eher von den abgeleiteten Sozialansprüchen abhängen als von den ihnen selbst zugeordneten. Die kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten wurden von konservativen Kräften gebildet. Und dieselben Kräfte sind auch heute noch die dominierenden politischen Kräfte. Die Bevölkerung und die oben erwähnten Gewerkschaften sind in der Abhängigkeit vom konservativen System gefangen (Esping-Andersen 1996c: 83 f.): Der Modus der Reproduktion der Arbeitskraft des konservativen Regimes, welches ein familienzentriertes, auf dem Versicherungsprinzip basierendes Wohlfahrtsregime darstellt, zwingt dem Volk auf der Mikroebene strenge Rigidität auf dem Verhalten in seinem ganzen Lebenszyklus auf. Dieses systemkonforme Verhalten führt zu einer Rigidität auf dem Beschäftigungsniveau, die „suboptimale Arbeitskräfte“ (Kaufmann 1997: 92) auf der Makroebene erzeugt. In der Tat verursacht die Politische Ökonomie der konservativen Länder die Aufrechterhaltung und die Erstarrung des vorhandenen wohlfahrtsstaatlichen Gefüges (Esping-Andersen 1996c: 77).
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Die Diskrepanz zwischen den beschäftigungsbezogenen sozialen Sicherungssystemen und der fragmentierten Erwerbsbiographie wird auch im folgenden Unterabschnitt ‚3.4.3 Die sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ދausführlich erklärt.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
3.3.3.3 Die Gewerkschaften im liberalen Wohlfahrtsregime Wie die Tabelle 3 zeigt, haben die gewerkschaftlichen Organisationsgrade im liberalen Regime mittlerweile abgenommen. Außerdem tendieren die Erfassungsgrade der Tarifverhandlung, die im Vergleich zu den anderen Regimes eigentlich schon niedrig waren, dazu, weiter zu sinken. Die vorherrschende Ebene der Tarifverhandlung bleibt auf der Betriebsebene. In Großbritannien war sie in der Vergangenheit zwar die Branchenebene, aber heute ist sie auf die Betriebsebene abgesunken. Unter diesen Umständen sind die Koordinationsgrade naturgemäß niedrig (hierzu ausführlich Deakin und Reed 2000). Da die Tarifverhandlung und die Lohnfestsetzung auf den dezentralisierten Ebenen und in unkoordinierten industriellen Arbeitsbeziehungen mit nur marginalem Niveau des Erfassungsgrades ausgeführt werden, steigen die Lohnunterschiede (siehe Anhang-Tabelle 2) und wachsen Segmentierung und Dualismus. Letztlich entsteht eine immer größere Ungleichheit (Esping-Andersen 1999: 16, 19). Wo das Gewerkschaftswesen schwach und fragmentiert ist, tendiert außerdem die Logik des freien Marktes dazu, noch ‚besserދ, noch härter, zu funktionieren (vgl. Stråth 1996: 109-153; Myles 1996: 120). Die Ausweitung der Marktkräfte führt wiederum dazu, dass der residuale Wohlfahrtsstaat des liberalen Regimes noch residualer wird und die Einflussmöglichkeiten des sozialen Umverteilungssystems auf die Ungleichheit des Marktes noch geringer werden (Esping-Andersen 1999: 16; Myles 1996). Sowohl in den USA, in denen die Gewerkschaften immer schwach waren, als auch in Großbritannien, wo die Arbeiterklasse früher eine Zeitlang über eine Tradition starker Gewerkschaften verfügt hatte, erlebten die Gewerkschaften schwere Niederlagen in der Auseinandersetzung mit der mit dem ‚Neoliberalismus ދbewaffneten Bourgeoisie (vgl. Deppe 2005: 11; 1995: 352). In Großbritannien wurde in der Thatcher-Zeit die Verhandlungsmacht der TUC-Gewerkschaften gebrochen und dabei wurden zugleich die Normen des Arbeitsplatzschutzes durch umfangreiche gesetzliche Eingriffe demontiert: die fast völlige Entwertung des gesetzlichen Mindestlohnes 54 ; das Ersetzen der kollektiven Rechte auf Beschäftigungsschutz durch individuelle Rechte; die Dezentralisierung der vorherrschenden Ebene der Tarifverhandlung; die drastische Verminderung des Anteils der ArbeitnehmerInnen, die von den Multi-ArbeitgeberTarifverträgen erfasst werden; die Abschaffung der Lohnräte (wage councils) etc. (Lodovici 2000a: 49).
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Der Mindestlohn wurde von der Blair-Regierung im Jahr 1998 wieder eingeführt.
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära 3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära Wie oben erklärt wurde, werden wegen der im Vergleich zur Vergangenheit fast unveränderlich bleibenden Regierungs- und Parteikonstellationen und der sich wenig wandelnden Patterns der Arbeiterklasse als gesellschaftlicher Akteur die sozialpolitischen Strategien zur Anpassung an die neuen sozioökonomischen Konstellationen auf der Grundlage des jeweiligen spezifischen Charakters des Wohlfahrtsregimes gebildet. Basierend auf den jüngeren Veröffentlichungen von Esping-Andersen werden die dominierenden sozialpolitischen Strategien des sozialdemokratischen, des liberalen, und des konservativen Wohlfahrtsstaates im Zeitraum der letzten Jahrzehnte in den folgenden Abschnitten konfiguriert. 3.4.1 Die sozialpolitische Strategie des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates 3.4.1.1 Wohlfahrtsproduktion Unter den neuen sozioökonomischen Umständen waren in den letzten Jahren wie schon in den 1960er Jahren die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten bestrebt, bei der Wohlfahrtsproduktion den Staatszentralismus zu erhalten. Dies lässt sich nicht nur daran feststellen, dass die universellen Einkommenserhaltungsprogramme noch heute bei den Indikatoren der Dekommodifizierung die höchsten Punkte auf der Welt bekommen (siehe Esping-Andersen 1999: 79), sondern auch daran, dass sich die Vollbeschäftigungspolitik – die aktive Arbeitsmarktpolitik und die öffentliche Beschäftigung – und die Bereiche der Sozialdienste, welche im Goldenen Zeitalter als die besonderen Merkmale der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten galten, auch in den 70er und 80er Jahren weiter entwickelt haben. Diese Erweiterung der ‚Activation ދund des ‚Servicingދ, die ein eindeutiges Signum der Entwicklung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates ist und die sich in den anderen Wohlfahrtsregimes nicht beobachten lässt, hat eine Ausweitung der staatlichen Verantwortung und Intervention hervorgerufen (Esping-Andersen 2002b: 1; 1996b: 10 f.; Hemerijck 2002: 184 f.; Huber und Stephens 2001: 301). Durch die Betonung der Rolle der Regierung versucht der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat aktiv, das Ausmaß, in dem die Wohlfahrt der Individuen von der Wertigkeit der nämlichen Individuen im Markt abhängt, zu minimieren. Diese Bestrebungen zur Dekommodifizierung des Wohlfahrtsbedarfs der BürgerInnen können durch eine Begleitung mit Versuchen, die Beschäftigungsfähigkeit und die Arbeitsproduktivität der BürgerInnen zu maximieren, dazu führen, dass der Wohlfahrtsstaat mehr Steuereinnahmen erhält und die Zahl der
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Abhängigen von den staatlichen Leistungen sich reduziert. Indem der Wohlfahrtstaat durch den ständigen Ausbau der öffentlichen Dienste für Kinder, Behinderte, Alte und weitere schwache Gruppen die Verantwortlichkeit der Familie für die Pflege aktiv übernimmt, wird versucht, durch die Entlastung der Familienverpflichtungen sogar die Familie zu stärken und größere Unabhängigkeit der Individuen zu garantieren (Esping-Andersen 2002b: 13 f.). 3.4.1.2 Reaktion auf neue Sozialfragen Die Reaktion der sozialdemokratischen Staaten auf die aus den neuen sozioökonomischen Konstellationen resultierenden Sozialfragen zeigt eine Form der ‚Inklusion ދmittels der ausreichenden Gewähr der Sozialtransfers, der vielfältigen Sozialdienste und der öffentlichen Programme. In erster Linie wird die gegenwärtige Arbeitsmarktflexibilität der skandinavischen Länder mit der Erweiterung des Puffermechanismus, also der staatlichen Sicherheitsnetze – großzügige Einkommensgarantie, aktive Arbeitsmarktpolitik und wohlfahrtstaatliche Beschäftigung – gefördert (Esping-Andersen 1999: 122 f., 142; 1996b: 18).55 Dieser Modus der Arbeitsmarktflexibilität des sozialdemokratischen Regimes wird von dem Wort ‚Flexicurity ދaus Dänemark gut repräsentiert: Das „golden triangle of flexicurity“ (OECD 2004b: 97) besteht aus dem flexiblen Arbeitsmarkt (siehe Anhang-Tabelle 1), dem großzügigen Wohlfahrtssystem und der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Den Arbeitslosen, deren Jobverlust eine Folge der Arbeitsmarktflexibilisierung ist, wird das Arbeitslosengeld gewährt, das 90 % des vorherigen Einkommens entspricht und das von dem ersten Tag der 55
Die Niveaus des Beschäftigungsschutzes und des Lohnes der sozialdemokratischen Länder stehen tendenziell im Mittelfeld der entwickelten kapitalistischen Länder. Wie die AnhangTabelle 1 – die Strenge der Regeln für den Beschäftigungsschutz, die Anhang-Tabelle 3 – Mindestlöhne und die Anhang-Tabelle 4 – die gesamte ‚Tax Wedge ދzeigen, stehen die Grade der sozialdemokratischen Länder tendenziell in der Mitte zwischen denen des konservativen Regimes und des liberalen Regimes. Wie aus der Tabelle 3 zu ersehen ist, haben die Gewerkschaften des sozialdemokratischen Regimes die stärkste Aushandlungsmacht von den Gewerkschaften der europäischen Länder. Trotzdem entwickelte sich in Skandinavien ein relativ flexibler Arbeitsmarkt, unter anderem flexibilisierte sich das Recht des Beschäftigungsschutzes. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Staat als Ausgleich der flexiblen Arbeitsmärkte den ArbeitnehmerInnen großzügige, universelle Sozialleistungen – die Förderung der Vollbeschäftigung, die aktive Arbeitsmarktpolitik, die wohlfahrtsstaatlichen Transfers etc. – gewährleistet und dass dadurch den ArbeitnehmerInnen und ihren Familien Sicherheit und Wohlfahrt anhaltend geboten werden (Esping-Andersen 1999: 23). Vor dem Hintergrund dieser Harmonisierung stehen selbstverständlich der stark solidarische Charakter der Gewerkschaften und die weniger familistische, mehr individualistische Logik bei der Wohlfahrtsproduktion des sozialdemokratischen Regimes.
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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Arbeitslosigkeit an maximal für vier Jahre bezogen werden kann.56 Außerdem werden zur Förderung ihrer schnellen Wiederbeschäftigung mannigfaltige Aktivierungsprogramme, z.B. die öffentliche oder private Berufsausbildung, die Ausbildung bei der Arbeitsplatzsuche und die öffentliche zielgerichtete Ausbildung, angeboten. Als Ausgleich der Schwächung des Arbeitsplatzschutzes wird die Beschäftigung durch die Unterstützung der beruflichen Mobilität garantiert und eine individuelle Sicherheit bei Zeit der Arbeitssuche durch das hohe Niveau der Einkommenssicherung angeboten (OECD 2004b: 96 ff.; Kronauer und Gudrun 2005; Jessop 2002: 156 f.).57 Die öffentliche Beschäftigung in den sozialdemokratischen Ländern trägt entscheidend zur Zunahme der Beschäftigung der Frauen bei.58 Die öffentlichen Familiendienste, die ein Bestandteil der öffentlichen Beschäftigung sind, geben Frauen die Chance, sowohl Karriere zu machen als auch gleichzeitig Kinder zu 56
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Genauer gesagt, bedeutet ‚90 % ދdes vorherigen Einkommens den Nettobetrag, den lediglich die Erwerbstätigen, deren Einkommen unter dem Durchschnitt der Einkommen der gesamten Erwerbstätigen liegt, erhalten können. Das Arbeitslosengeld für die Erwerbstätigen, deren Einkommen über dem Durchschnitt der Einkommen der gesamten Erwerbstätigen liegt, beträgt 60-80 % des vorherigen Einkommens (siehe OECD 2006c). “Overall, the Danish model of ‘flexicurity’ has proved to be rather effective in guaranteeing sufficient dynamism in the labour market, while keeping unemployment low and facilitating transitions to employment. It is worth noting that this model rests on more than just the combination of moderately-low EPL [employment protection legislation] with strong emphasis on ALMP [active labour market policies]: in addition, generous unemployment benefits play a key role in ensuring adequate income security and low unemployment cost for job losers, matched by activation in order to ensure that the unemployed are looking for work actively.” (OECD 2004b: 98) In Dänemark gibt es nun bei der Unterstützung der Arbeitslosen keine Grenze zwischen der ‚passiven ދund ‚aktiven ދArbeitsmarktpolitik. Das Arbeitslosengeld wird zwar noch für vier Jahre gewährt, aber die Aktivierungsprogramme fangen vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an. Die Aktivierungsprogramme sind zudem sehr konkret unterteilt: Über die altmodischen Programme hinaus, bei denen die öffentlichen Träger mit ähnlichen Ausbildungskursen auf die Arbeitslosen warteten, führen heute die Träger eine sehr konkrete zielgerichtete Ausbildung: Es gibt so Ausbildungen, die eine kleine Gruppe von Arbeitslosen in speziellen Tätigkeiten genau gemäß dem Wunschprofil einer bestimmten Firma weiterbilden. Individuelle Pläne der Wiederbeschäftigung werden sachlich und ausführlich ausgearbeitet und unter Umständen wird sogar das Erreichen akademischer Grade durch Leistungen des Arbeitsamtes unterstützt. Daneben werden auch Arbeitslose als kurzfristige Ersatzkräfte für zeitweise ausscheidende Arbeitskräfte im Rahmen des Elternurlaubs eingesetzt (Walker 2006). Durch diese Kombinationsstrategie der hochgradigen Dynamik der Arbeitmärkte mit dem hochgradigen Sozialschutz setzte Dänemark die hohe Arbeitslosenquote vom Anfang der 90er Jahre, etwa 10 %, auf 4,9 % 2005 herab. Zudem wurde im selben Jahr eine stabile Wirtschaftswachstumsrate von 3,0 % erreicht (Walker 2006). Zum Beispiel betrug in Schweden in den 80er Jahren die Beschäftigungsrate des öffentlichen Sektors ausgenommen der regierungseigenen Unternehmen 40 % der gesamten Beschäftigung, und davon waren rund 71 % Frauen (Lee 2001: 212). Heutzutage beträgt die Beschäftigungsrate des öffentlichen Sektors auch über 30 % (Algan, Cahuc und Zylberberg 2001: 3; Hörner 2006: 29), und davon waren 1995 72 % Frauen (Gould 2001: 111).
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haben. Durch die Ausweitung des öffentlichen Dienstleistungssektors werden nämlich die Frauen in den Familien deutlich entlastet und so die Möglichkeiten der Erwerbsarbeit der Frauen verbessert. Zugleich können Teilzeitarbeitsplätze für Frauen massiv ausgebaut werden (Esping-Andersen 2002b: 14; 1999: 18; Hemerijck 2002: 184 f.; Gould 2001: 103 ff.; Schmid 2002: 323-327). Die Reaktion auf das Problem der Altersarmut bleibt denn auch nicht nur bei großzügigen Geldleistungen stehen. Die beschäftigungspolitischen Bestrebungen in Zusammenhang mit den Alten und den Übergangsgruppen nutzen dabei, anders als in den Ländern des konservativen Regimes, das Mittel der Frühverrentung, des Vorruhestandes, nicht exzessiv. Eher ist der Wohlfahrtsstaat bestrebt, durch Aktivierung auch die Alten möglichst lange ins Arbeitsleben zu integrieren (Esping-Andersen 2002b: 14). Da junge Familien allmählich sozial benachteiligt werden, verschieben die sozialdemokratischen Wohlfahrtstaaten ihre Ressourcen aktiv zugunsten der Familien, um ihre Einkommen zu erhalten und die Beschäftigungschancen aller erwachsenen Familienmitglieder zu erhöhen (Esping-Andersen 1999: 161; vgl. Johannesson 1999: 292; Gynther 2001; 381 f., 388): „This is reflected in the surge of adult retraining policies and lifelong learning, in the schemes to facilitate geograpifical and job mobility, and in the joint parental leave provisions [...] Scandinavia, indeed, is the only one group of European countries in which social expenditure trends favour the young over the old.” (EspingAndersen 1996b: 14) Sozial anfälligere Gruppen, wie z.B. Alleinerziehende und Behinderte, werden ebenfalls vom Wohlfahrtssystem effektiv mobilisiert. Die universellen, sehr großzügigen sozialen Netze – darunter besonders die untersten, der deutschen Sozialhilfe entsprechenden Netze für prekäre Fälle – funktionieren nachweislich sehr wirksam gegen Armut (Esping-Andersen 2002b: 14; 2002a; Goodin u.a. 1999: 50 f.). In einem Satz zusammengefasst kann man sagen: Die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten streben durch die Inklusionsstrategie für Sozialfragen danach, den Ausschluss der sozial Anfälligen aus der Gesellschaft möglichst zu minimieren und ihre Sozialinklusion zu maximieren.
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3.4.1.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates Die positiven Auswirkungen dieser sozialpolitischen Strategien der sozialdemokratischen Länder kommen in den Indizes59 in Bezug auf die Arbeitslosigkeit und die Armut gut zum Ausdruck. Wie oben schon erklärt wurde, sind die Beschäftigungsquoten der skandinavischen Länder relativ hoch (siehe AnhangTabelle 5). Darüber hinaus sind die Arbeitslosenquoten im Vergleich zu den 90er Jahren deutlich gesunken: 2004 betrug die Arbeitslosenquote in Norwegen 4,4 %, in Dänemark 5,5 % und in Schweden 6,3 % (siehe Anhang-Tabelle 6). Die Arbeitslosenquote der Personen, die länger als 12 Monate arbeitslos waren, war in Norwegen 0,8 %, in Dänemark und in Schweden 1,2 % (siehe Anhang-Tabelle 7). Die Quote der Personen, die über 24 Monate lang arbeitslos waren, war in Norwegen und in Schweden 0,0 % und in Dänemark 0,4 % (siehe Anhang-Tabelle 8). Bei den beiden Langzeitarbeitslosenquoten ist Norwegen unter den westeuropäischen Ländern auf dem niedrigsten Platz. Die anderen skandinavischen Länder zeigen ebenfalls im Vergleich zu den Durchschnittswerten der 15 EU-Länder von 3,4 % (über 12 Monaten) und 2,0 % (über 24 Monaten) relativ niedrige Prozentzahlen. Hinsichtlich der Frauen, Jugendlichen und Alten, welche oft in die Gruppen der sozial Anfälligen eingeordnet werden, ist Folgendes bemerkenswert: Die Beschäftigungsquote der Frauen betrug in Norwegen 72,2 %, in Dänemark 71,6 %, in Schweden 70,5 % und in Finnland 65,5 % (siehe Anhang-Tabelle 9). Die Arbeitslosenquote der Frauen war in Norwegen 4,0 %, in Dänemark 6,0 %, in Schweden 6,1 % und in Finnland 8,9 % (siehe Anhang-Tabelle 10). Norwegen weist dabei die höchste Frauenbeschäftigungsquote und die geringste Quote an arbeitslosen Frauen in der Liste auf. Die Durchschnittswerte der 15 EU-Länder betrugen 56,8 % bei der Zahl der beschäftigten Frauen und 9,3 % bei der Zahl der arbeitslos gemeldeten Frauen.
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In dieser Arbeit stammen die statistischen Zahlen in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Armut und Sozialausgaben meistens aus ‚Eurostatދ. Weitere Daten, die in der Eurostat-Datenbank nicht geboten wurden, wurden durch Daten der ‚OECD ދergänzt. Bei der Auswahl der westeuropäischen Länder, für die die statistischen Zahlen gezeigt werden, wurde Island wegen seiner sehr geringen Einwohnerzahl im Vergleich zu den einbezogenen europäischen Ländern ausgeschlossen. Wegen der unzureichenden Datenlage vor allem bei der EU bezogenen Eurostat wurde die Schweiz auch ausgeschlossen. Demnach sind die in diesem Kapitel diskutierten westeuropäischen Länder sog. fünfzehn EU-Länder und Norwegen. Für einen klareren Vergleich wird, Eurostat folgend, der Durchschnittswert der 15 EU-Länder in jeder Tabelle dargestellt. Falls die Daten zugänglich sind, werden zudem die der USA, die ein typisches Land des liberalen Regimes ist, dargestellt.
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Die Beschäftigungsquote der unter 24-jährigen Jungendlichen betrug 2003 in Dänemark 59,4 %, in Norwegen 55,3 % und in Schweden 45 % (siehe Anhang-Tabelle 11). Die Jugendarbeitslosenquote befand sich im Jahr 2004 in Dänemark bei 8,2 %, in Norwegen bei 11,4 % und in Schweden bei 16,3 % (siehe Anhang-Tabelle 12). Die Zahlen zeigen im Vergleich zu den Durchschnittswerten der 15 EU-Länder, 42,6 % (Jugendbeschäftigungsquote) und 16,7 % (Jugendarbeitslosenquote), relativ günstige Werte. Besonders günstig steht Skandinavien im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern da, die unter der Massenarbeitslosigkeit der Jugendlichen leiden. Besonders schlimm ist die Lage dabei in Frankreich (Jugendbeschäftigungsquote 24,1 %, Jugendarbeitslosenquote 21,9 %) und in Italien (Jugendbeschäftigungsquote 26 %, Jugendarbeitslosenquote 23,6 %). Man kann nachvollziehen, dass die Lage der Jugendlichen in Skandinavien besser ist als die in diesen beiden Ländern. Die Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger, der 55-64-Jährigen, betrug in Schweden 69,1 %, in Norwegen 65,8 %, in Dänemark 60,3 % und in Finnland 50,9 % (siehe Anhang-Tabelle 13). Das Erwerbsaustrittsalter lag in Schweden bei 62,8 Jahren, in Dänemark bei 62,1 Jahren, in Norwegen bei 62,0 Jahren und in Finnland bei 60,5 Jahren (siehe Anhang-Tabelle 14). Bei den beiden Indikatoren besetzt Schweden unter den westeuropäischen Ländern die höchsten Plätze. Die durchschnittliche Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger betrug bei den 15 EU-Ländern 42,5 % und das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter lag bei 61,0 Jahren. Die bessere Situation der Alten im sozialdemokratischen Regime lässt sich deutlich nicht nur an der großzügigen Alterssicherung, sondern auch anhand der aktiven Teilnahme der Älteren am Arbeitsmarkt nachvollziehen. Das sozialdemokratische Regime zeigt nicht nur im Arbeitsmarkt, sondern auch bei den Indikatoren in Bezug auf die Armut befriedigende Zustände. Die Armutsgefährdungsquote 60 betrug 2003 in Norwegen, in Schweden 61 und in Finnland 11 % und in Dänemark 12 % (siehe Anhang-Tabelle 15). Der Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung (Verteilungsquintil) 62 war in Schweden 3,363, in Dänemark und in Finnland 3,6 und in Norwegen 3,8 (siehe Anhang-Tabelle 16). Beides sind sehr günstige Werte im Vergleich zu den Durchschnittswerten der 15 EU-Länder, in denen die Armutsgefährdungsquote immerhin bei 15 % und der Verteilungsquintil bei 4,6 lag. Bei der Armuts60 61 62 63
Sie bedeutet den Anteil von Personen mit einem verfügbaren Äquivalenzeinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle, die auf 60 % des nationalen verfügbaren Median-Äquivalenzeinkommens nach Sozialtransfers festgelegt ist. Die Daten von Schweden sind von 2002. Dies bedeutet das Verhältnis des Gesamteinkommens von den 20 % der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen (oberstes Quintil) zum Gesamteinkommen von den 20 % der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen (unterstes Quintil). Die Daten von Schweden sind von 2002.
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gefährdungsquote hat nur Luxemburg unter den 16 Ländern einen niedrigeren Wert als die vier skandinavischen Länder. Bei der Ungleichheit der Einkommensverteilung belegen die vier skandinavischen Länder nebeneinander die ersten vier Plätze mit der geringsten Ungleichheit. Im sozialdemokratischen Regime hat sich die Angleichung des Einkommens während der 80er und der 90er Jahre tendenziell sogar verstärkt (Esping-Andersen 1999: 155; hierfür siehe Anhang-Tabelle 21). Als eine negative Seite der sozialdemokratischen sozialpolitischen Strategien kann eine ‚geschlechtsspezifische Segregation ދim Arbeitsmarkt genannt werden: Frauen arbeiten typischerweise als Teilzeitarbeitskräfte in den öffentlichen Sektoren, Männer meistens als Vollzeitbeschäftigte in den privaten Sektoren (Esping-Andersen 1996b: 13; 1999: 18). Das noch ausschlaggebendere Problem der sozialpolitischen Strategien ist die schwere steuerliche Belastung (vgl. Hemerijck 2002: 185 f.; Schmid 2003: 250). Die ausgedehnten Aktivitäten des Staates verlangen unvermeidlich sehr hohe staatliche Einnahmen und Ausgaben (Esping-Andersen 2002b: 14).64 Beim Anteil der Staatseinnahmen am BIP lagen 2003 die skandinavischen Länder mit 50-60 % auf den ersten vier Plätzen der westeuropäischen Länder. Den größten Anteil hat Dänemark gefolgt von Schweden, Norwegen und Finnland. Frankreich, das als einziges der anderen Länder mehr als 50 % des BIP im Staatshaushalt gebunden hat, ist auf Platz fünf (siehe European Commission 2005: 160). Bei der Größe der Sozialausgaben belegte 2003 Schweden den ersten Platz (33,5 % des BIP) und Dänemark den zweiten Platz (30,9 %). Norwegen gab 27,7 % für Sozialausgaben aus; Finnland verwendete 26,9 % (siehe AnhangTabelle 17). So ein teuerer, steuerbelastender Wohlfahrtsstaat kann nur mit hohem Produktivitätswachstum und mit der Vollbeschäftigung erhalten werden. Wenn wie Anfang der 90er Jahre Investitionen und Produktivitäten reduziert werden und die Arbeitslosigkeit ansteigt, entsteht eine Haushalts- und Finanzkrise. So geraten dann die ganzen Sozial- und Wirtschaftssysteme als solche in eine sehr ernste Krise (Esping-Andersen 1996b: 13; 2002b: 14). Wie die anderen Länder versuchen daher auch die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten derzeit, ihre eigenen Sozialpolitiksysteme zu flexibilisieren und zu restrukturieren, um der oben erwähnten grundlegenden Gefahr vorzubeugen und sich an die veränderten, neuen sozioökonomischen Umstände anzupassen. Allerdings werden ihre postfordistischen Transformationen deutlich im 64
Vor allem die Erweiterung der gut bezahlten Arbeitsplätze im öffentlichen Dienstleistungssektor, in dem meistens gering Qualifizierte arbeiten und in dem eine geringe Produktivität erzeugt wird, lässt unvermeidlich die Steuerlast der Nation ansteigen (Esping-Andersen 1996b: 13; 1996d: 259).
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Rahmen der oben diskutierten sozialpolitischen Strategien, also des Staatszentralismus und der Inklusion, ausgeführt.65 3.4.2 Die sozialpolitische Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates 3.4.2.1 Wohlfahrtsproduktion Unter den neuen sozioökonomischen Umständen versuchen die liberalen Wohlfahrtsstaaten, durch eine Stärkung der Marktkräfte den Wohlfahrtsbedarf der BürgerInnen zu erfüllen (Esping-Andersen 1999: 165; Hemerijck 2002: 185). Das liberale Wohlfahrtsregime strebt wesensimmanent danach, den Markt auf Kosten des Staates zu verstärken. Hierbei bedient es sich der „liberal-repressiven „workfare“-Programmtik“ (Lessenich 2005: 25; Hervorhebung im Original)66, durch die die präsumtiven EmpfängerInnen einer Sozialleistung für deren Erhalt eine Arbeit akzeptieren müssen, der Steigerung der ‚in-work benefitsދ67, ‚negative income tax ދund ‚low-income credit ދfür arme Familien mit Erwerbseinkommen, einer damit verbundenen Reduktion der ‚out-of-work benefitsދ, einer Verminderung der gesetzlichen und der faktischen Mindestlöhne, einer strikten Kontrolle und Kürzung der Soziallöhne und der Privatisierung der sozialpolitischen Institutionen (Esping-Andersen 1999: 146, 165; vgl. Huber und Stephens 2001: 300 f.). Daraus resultiert, dass die offensichtliche Vorherrschaft der Erwerbsarbeit bei der Wohlfahrtsproduktion bestätigt wird, dabei die Rolle des Marktes noch mehr ausgeweitet wird und eine „‘recommodification’ of labour“ (EspingAndersen 1999: 165; vgl. Candeias 2004: 299 ff.) gefördert wird. Solche Erweiterungsstrategien der Marktkräfte sind vor allem bei der beschleunigten Arbeitsmarktflexibilität des liberalen Regimes im Vergleich zu den anderen nachweislich: Der Beschäftigungsschutz der liberalen Länder ist der schwächste der entwickelten kapitalistischen Länder. Unter den westeuro-
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66 67
In den folgenden Kapiteln über die empirischen Untersuchungen der sozialen Sicherungssysteme von Schweden, Großbritannien und Deutschland wird dargelegt, wie die Sozialpolitik jedes Wohlfahrtsregimes im Rahmen der jeweilig eigenen sozialpolitischen Strategien restrukturiert wird und welche Formen der Flexibilisierung die Wohlfahrtsregimes zeigen. Die hier erwähnte Workfare wurde im engeren Sinne verglichen mit dem ‚Workfareދ-Begriff von Jessop angewendet. Als ein typisches Beispiel der ,in-work benefits ދkann das ,Working Families Tax Creditދ (WFTC), das in Großbritannien 1999 eingeführt wurde, genannt werden: Das WFTC wird nicht als direkte Beihilfe, sondern als ein Steuerabsetzbetrag bzw. die ‚negative Einkommenssteuer ދfür Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen gezahlt.
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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päischen Ländern haben Großbritannien und Irland die niedrigsten Grade der Arbeitsplatzsicherheit (siehe Anhang-Tabelle 1). Bei der Lohnregulierung tendieren die Lohnunterschiede in den Ländern des liberalen Regimes dazu, größer zu sein als in den Ländern der anderen beiden Regimes (siehe Anhang-Tabelle 2). Die Lohn- bzw. Arbeitskosten bleiben im liberalen Wohlfahrtregime am niedrigsten (siehe Anhang-Tabelle 3 und 4).68 Die Niedriglohnstrategien bzw. arbeitsverbilligenden Strategien (EspingAndersen 19996c: 77; Myles 1996: 117; Hemerijck 2002: 185) haben in der Tat eine große Zahl an Arbeitsplätzen, vornehmlich im Dienstleistungssektor, geschaffen. Während die Wachstumsrate des Reallohns in den 80er Jahren im konservativen Regime 120 % betrug und im sozialdemokratischen Regime 100 % betrug, war sie im liberalen Regime bei –10 % (Esping-Andersen 1999: 133 – Tabelle 7.3.). Vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass das Beschäftigungswachstum in den liberalen Ländern in den 80er Jahren zwei- bis dreimal so hoch wie in den anderen OECD-Ländern war (Esping-Andersen 1996b: 17; hierfür ausführlich OECD 2000: 79-128). Durch diese Flut an Arbeitsplätzen konnten Jugendliche, Frauen und Unqualifizierte in den Arbeitsmarkt integriert werden. Allerdings ist auf ein ernstes Problem des sog. ‚Jobwunders ދhinzuweisen: Den Beschäftigten in diesen Jobs werden meistens nur äußerst geringe Löhne gezahlt. Meist sind diese Jobs wenig angesehen, tragen kaum positiv zur Persönlichkeitsentwicklung des Beschäftigten bei und erzeugen äußert geringe Produktivität. Diese Arbeitsplätze werden leicht zugängliche erste Jobs für die Beschäftigten. Allerdings sind die Jobs zumeist infolge der fehlenden Mobilitäts- bzw. Aufstiegschancen ‚dead-end trapދ, zumal sie besonders Jugendliche dazu verführen, keine ernste Ausbildung anzunehmen, sondern direkt Geld im Billigjob zu verdienen (Hemerijck 2002: 185 f.; Esping-Andersen 1999: 133; 2002b: 16). Die Arbeitsmarktflexibilität des liberalen Regimes wird im Vergleich mit der ‚Flexicurity ދdes sozialdemokratischen Regimes ‚Flexploitation ދgenannt (vgl. Gray 1998: 3). 3.4.2.2 Reaktion auf neue Sozialfragen Die liberalen Wohlfahrtsstaaten versuchen, auf die aus den neuen sozioökonomischen Konstellationen resultierenden Sozialfragen im Wesentlichen mit der Erweiterung der Eigenverantwortung der Individuen zu reagieren. Diese Strategie kommt zum einen in der Reduzierung der öffentlichen, wohlfahrtstaatlichen Verantwortungen und zum anderen in der „marketization of risks” (Esping68
Die Ausnahme von Spanien bei den Mindestlöhnen wird im gerade folgenden Unterabschnitt ‚3.4.3 Die sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ދausführlich erklärt.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Andersen 1999: 165), also in der Expansion der Rolle des Marktes zur Absicherung sozialer Risiken, deutlich zum Ausdruck. Als Deregulierungsmaßnahmen des Wohlfahrtsstaates können das spürbar schrumpfende Niveau der Sozialleistungen und die graduelle Erosion der Kreise der Berechtigten erläutert werden. Zwei noch bedeutendere Trends sind jedoch die unter dem Begriff ,,greater selectivity” (Esping-Andersen 1996b: 16; hierzu ausführlich Goodin u.a. 1999: 244 f.) stattfindende Ausweitung des stigmatisierenden, zielgerichteten Fürsorgeprinzips und die verstärkte Förderung privater Sicherungspläne (Esping-Andersen 1996b: 16; 1999: 153, 161, 165; 2002b: 15). Im liberalen Wohlfahrtsregime sind die staatlichen Sozialdienste unterentwickelt (Hemerijck 2002: 179). Der liberale Wohlfahrtsstaat bleibt heute noch „aged-biased“: Er behält also die Sozialsysteme eher für die alte Klientel als für junge Familien bei. Demzufolge reagiert er auf die neuen Risiken der Familien im Wesentlichen passiv oder höchstens im auf dem Fürsorgeprinzip beruhenden Modus (Esping-Andersen 1999: 165). Angesichts dieser sozialpolitischen Strategie vollzog sich im liberalen Regime eine noch schnellere Flexibilisierung des Wohlfahrtsstaates als in den anderen Regimes, und zwar eine ‚Erosion des Wohlfahrtsstaates( ދvgl. Schmid 2002: 163; Mckay 1996; Myles 1996; Pierson 1994). Diese Demontage des Wohlfahrtsstaates lässt sich vor allem in der Kürzung der Sozialausgaben feststellen: Die Sozialausgaben in Großbritannien betrugen 1993 29,0 % des BIP und 1995 28,2 %. 2003 wurden sie auf 26,7 % verringert. In Irland befanden sie sich 1993 bei 20,2 %, 1995 bei 18,8 % und ständig schrumpfend 2003 bei 16,5 %. In den USA sanken sie von 15,4 % 1993 und 15,5 % 1995 auf 14,8 % 2001. Demgegenüber haben im selben Zeitraum die Sozialausgaben der kontinentaleuropäischen Länder zugenommen oder sind sich gleich geblieben: In Deutschland nahmen die Sozialausgaben von 27,8 % 1993 über 28,2 % 1995 auf 30,2 % 2003 zu. In Frankreich betrugen sie 1993 30,4 %, 1995 30,3 % und 2003 30,9 %. In Italien waren sie bei 26,4 % 1993, bei 24,8 % 1995 und wieder bei 26,4 % 2003.69 Parallel zum allgemeinen Beibehaltung der umfangreichen Kürzungstendenz in der Sozialpolitik tendierten die britische Blair-Regierung und die amerikanische Clinton-Administration dazu, wider diese Tendenz die ,Bildungދ stärker zu unterstützen. Die Betonung der Bildung und Ausbildung in Großbritannien beruht dabei auf der neuen Ideologie der Arbeitspartei, dem sog. ‚Dritten Weg( ދGiddens 1999): Auf diesem Weg will man die Wohlfahrtsrechte nicht 69
Die Zahlen der USA stammen aus OECD 2004a. Die übrigen Daten werden in European Commission 2006a gefunden. Die Zahlen des Jahres 2003 von Irland, Deutschland, Frankreich und Italien sind vorläufige Werte, die 2005 von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurden.
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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einfach erhalten, sondern durch die Gewährleistung von Arbeitsrechten substituieren und durch dieses ‚Empowermentދ, Chancengleichheit und Gerechtigkeit schaffen. In der Tat war die Wachstumsrate der Sozialausgaben in Bezug auf die soziale Sicherung bei der Blair-Regierung niedriger als in der Zeit der Regierung der konservativen Partei. Während die Rate bei der Regierung der konservativen Partei 3,5 % betragen hatte, fiel sie bei Blair auf 1,3 %. Demgegenüber war die Wachstumsrate der Sozialausgaben in Bezug auf die Bildung bei der Blair-Regierung höher als bei der Regierung der konservativen Partei (1,5 % vor Blair, 3,2 % unter Blair) (siehe Schmid 2002: 175). Allerdings war der britische Dritte Weg tatsächlich kaum mehr als die sehr späte Entdeckung der Betonung der Aktivierung und der Stärkung der individuellen Kapazität, also ein Weg, welchen die skandinavischen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten schon Jahrzehnte früher eingeschlossen hatten. Darüber hinaus wird der Dritte Weg wegen seiner willkürlichen Anwendung des sozialdemokratischen Ansatzes heftig kritisiert: Zuerst tendierten die Anhänger des Dritten Weges dazu, zu glauben, dass die Aktivierung die herkömmlichen Einkommenserhaltungsprogramme ersetzen kann. Wie sich jedoch bereits in Skandinavien gezeigt hatte, bleiben die Einkommenserhaltungsprogramme eine wichtige Vorbedingung für die wirksame Durchführung der EmpowermentProgramme, weil durch die ersteren die Armut und die Einkommensungleichheit vermindert werden. Zweitens neigte die britische Aktivierungspolitik dazu, sich unbalanciert nur auf Förderprogramme zur beruflichen Ausbildung für Erwachsene und auf die Arbeitsmarkteingliederung zu konzentrieren. Es wurde dabei zu wenig in Erwägung gezogen, dass die Teilnehmer in erster Linie bereits die notwendigen Fähigkeiten und die unerlässliche Motivation besitzen (EspingAndersen 2002b: 5). Die britischen Programme richten sich lediglich an Problemgruppen, z. B. die Langzeitarbeitslosen, während die skandinavischen Politiken alle Arbeitslosen in Betracht ziehen (Lodovici 2000a: 39). Außerdem sind die Größen der öffentlichen Ausgaben für die Aktivierung von Großbritannien (0,36 % des BIP im Jahr 1999, 0,37 % im Jahr 2002) und von den USA (0,15 % im Jahr 1999, 0,14 % im Jahr 2002) viel kleiner als die der sozialdemokratischen Länder, z.B. Schweden (1,77 % im Jahr 1999, 1,40 % im Jahr 2002) und Dänemark (1,66 % im Jahr 1997, 1,58 % im Jahr 2000).70
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Die Prozentzahlen der Ausgaben entstammen aus OECD 2004b: 319-327. Die öffentlichen Ausgaben für die Aktivierung bestehen aus den Ausgaben für Arbeitsmarktausbildung, für subventionierte Beschäftigung, für Maßnahmen für Jugendliche, für Maßnahmen für Behinderte und für öffentliche Beschäftigungsdienste und Verwaltung. Dabei sind die Arbeitslosengelder selbstverständlich ausgeschlossen.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
3.4.2.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates Das liberale Regime zeigt hinsichtlich der Beschäftigung sehr befriedigende Resultate. Die Beschäftigungsquote betrug 2004 in Großbritannien 71,6 %, in Irland 66,6 % (siehe Anhang-Tabelle 5) und in den USA 71,2 % (OECD 2004a: 238). Die Arbeitslosenquote belief sich im gleichen Jahr in Großbritannien auf 4,7 %, in Irland auf 4,5 % und in den USA auf 5,5 % (siehe Anhang-Tabelle 6). Die Langzeitarbeitslosenquote betrug in Großbritannien 1,0 %, in Irland 1,6 % und in den USA 0,7 % (siehe Anhang-Tabelle 7 und 8). Die Zahlen zeigen bessere Ergebnisse als die Durchschnittswerte der 15 EU-Länder und haben Ähnlichkeit mit den Resultaten der sozialdemokratischen Länder. Solche günstigen Tendenzen im Arbeitsmarkt lassen sich ebenfalls bei der Beschäftigung von Frauen, Jugendlichen und Alten beobachten: Die Frauenbeschäftigungsquote betrug 2004 in Großbritannien 65,5 %, in Irland 56,5 % und in den USA 65,4 % (siehe Anhang-Tabelle 9). Die Frauenarbeitslosenquote belief sich in Großbritannien auf 4,2 %, in Irland auf 4,1 % und in den USA auf 5,4 % (siehe Anhang-Tabelle 10). Die Jugendbeschäftigungsquote war 2003 in Großbritannien 59,8 %, in Irland 45,8 % und in den USA 53,9 % (siehe AnhangTabelle 11). Die Prozentzahl der gemeldeten jugendlichen Arbeitslosen stand 2004 in Großbritannien auf 12,1 %, in Irland auf 8,9 % (siehe Anhang-Tabelle 12) und in den USA auf 11,8 % (OECD 2005a: 243). Die Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger betrug in Großbritannien 56,2 %, in Irland 49,5 % und in den USA 59,9 % (siehe Anhang-Tabelle 13). Das Erwerbsaustrittsalter war in Großbritannien 62,1 Jahre und in Irland 62,8 Jahre (siehe Anhang-Tabelle 14). Die Zahlen hinsichtlich der Frauen, Jugendlichen und Alten zeigen ebenfalls bessere Ergebnisse als die Durchschnittswerte der 15 EU-Länder und haben Ähnlichkeit mit den Resultaten der sozialdemokratischen Länder. Allerdings ist die Situation in Bezug auf die Armut und die Ungleichheit geradezu ein Gegensatz der Ergebnisse des sozialdemokratischen Regimes. Hier ist ein schweres Manko der liberalen sozialpolitischen Strategien zu erkennen. 2003 betrug die Armutsgefährdungsquote in Großbritannien 18 % und in Irland 21 % (siehe Anhang-Tabelle 15). Sie sind deutlich höher als der Durchschnittswert der 15 EU-Länder. Irland und Griechenland sind zusammen die westeuropäischen Länder mit der höchsten Armutsgefährdungsquote, während Großbritannien hinter diesen beiden und Spanien, Portugal und Italien (19 %) immerhin noch die sechsthöchste Quote aufweist. Der Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung betrug in Großbritannien 5,3 und in Irland 5,1 (siehe Anhang-Tabelle 16). Sie sind ebenfalls höher als der Durchschnittswert der 15
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EU-Länder. Nach Portugal (7,4) und Griechenland (6,6), die die höchste Ungleichheit in der Einkommensverteilung aufweisen, liegen Großbritannien und Irland hier auf den Plätzen drei und vier.71 Die sehr ernsten Probleme der Armut und der Ungleichheit im liberalen Regime sind vor allem auf die marktbetriebene Niedriglohnstrategie zurückzuführen (Esping-Andersen 2002b: 16; Myles 1996: 118). Außerdem verschärfte die an der Reduzierung der öffentlichen Verantwortlichkeit orientierte, um die zielgerichtete ‚in-work benefits ދzentrierte Politik der sozialen Sicherung die Probleme noch mehr. Das Niedriglohnphänomen in den liberalen Ländern tritt besonders in den Gruppen der geringqualifizierten, der nichtgewerkschaftlichen ArbeiterInnen und der BerufsanfängerInnen noch ernster auf. Die Armut der jungen Familien wächst drastisch. 72 Angesichts der liberalen Strategie werden die Armen allgemein noch ärmer (Esping-Andersen 1999: 154; 1996d: 258; hierfür dazu siehe Anhang-Tabelle 21). Im liberalen Regime wird die „Polarisierung der Erwerbstätigen zwischen einer Mehrheit mit verringerten Möglichkeiten und einer Minderheit in einer verbesserten Lebenssituation“ (Fülberth 2005: 277) verstärkt. Angesichts der massenhaften ‚Working Poorދ, der Armutsfalle und der sozialen Desintegration wachsen die grundlegenden Probleme der Stratifizierung des liberalen Wohlfahrtsstaates viel mehr. 71
72
In der Eurostat-Datenbank gibt es keine Angabe zur Armutsgefährdungsquote und zu dem Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung in den USA. Gemäß den Daten der OECD (2006a) betrug 2000 die Armutsgefährdungsquote der USA 17,1 % und der Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung 35,7 %. Allerdings sind die Maßstäbe der OECD unterschiedlich zu denen von Eurostat. Die Armutsgefährdungsquote nach der OECD entspricht dem Anteil von Personen unter der Armutsgefährdungsschwelle, die auf nicht 60 %, sondern 50 % des nationalen Median-Äquivalenzeinkommens festgelegt ist. Den Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung gibt der Gini-Koeffizient an. Die Armutsgefährdungsquote und der Ungleichheitsgrad der Einkommensverteilung der USA sind nicht nur sehr viel höher als die Durchschnittswerte der OECD-Länder (Armutsgefährdungsquote 10,2 % und Ungleichheit der Einkommensverteilung 30,8 %), sondern auch höher als die Zahlen von Großbritannien (in den OECD-Indikatoren, Armutsgefährdungsquote 11,4 % und Ungleichheit der Einkommensverteilung 32,6 %) und von Irland (in den OECDIndikatoren, Armutsgefährdungsquote 15,4 % und Ungleichheit der Einkommensverteilung 30,4 %). Die USA haben also noch ernstere Probleme hinsichtlich der Armut und Ungleichheit als Großbritannien und Irland, welche unter den westeuropäischen Ländern die ernstesten Probleme bezüglich Armut und Ungleichheit haben. Nach dem Bericht von UNICEF über den Anteil der Kinder, die unterhalb der nationalen Armutsgrenzen liegen, beträgt der Anteil in den USA 21,9 %, in Irland 15,7 % und in Großbritannien 15,4 %. Sie sind nicht nur deutlich höher als die Anteile des sozialdemokratischen Regimes, z.B. Dänemark 2,4 % und Schweden 4,2 %, sondern auch höher als die des konservativen Regimes, z.B. Frankreich 7,5 %, Deutschland 10,2 % (für die Zahlen siehe Fertig und Tamm 2006: 21 – Abbildung 21).
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3.4.3 Die sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates 3.4.3.1 Wohlfahrtsproduktion In Kontinentaleuropa lässt sich das Festhalten des Familismus in Bezug auf die Wohlfahrtsproduktion heute noch aufrechterhalten (Esping-Andersen 1999: 165; 2002b: 16). Beispielsweise behalten viele Länder des konservativen Regimes, z.B. Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Österreich, nach wie vor eine gesetzlich definierte familiäre Verpflichtung zur Unterstützung bedürftiger Erwachsener, Kinder oder Eltern bei. Dieses Prinzip der Subsidiarität übt heute noch einen erheblichen Einfluss auf die Definition der Grenze der staatlichen Intervention aus (Esping-Andersen 1999: 62, 83). Vor diesem Hintergrund wird unter den veränderten, neuen sozioökonomischen Umständen der Schutz des Arbeitsplatzes, des hohen Lohnes und der Sozialansprüche der vollzeitbeschäftigten – meist männlichen – Haupternährer, von dem die anderen Familienmitglieder abhängen, heute noch als sehr grundlegendes Anliegen angesehen. Denn eine mögliche soziale Gefährdung des männlichen Haupternährers wächst sich zum Risiko für die gesamte Familie, die von ihm abhängt, aus (Esping-Andersen 1996c: 75; 1999: 23, 153; 2002b: 16). Der Familismus und die Dringlichkeit der Sicherung der Arbeitsplätze und Löhne der Haupternährer spiegeln sich beim Management des Arbeitsmarktes vor allem in dem sehr hohen Niveau des Beschäftigungsschutzes wider. Die kontinentaleuropäischen Länder zeigen unter den entwickelten kapitalistischen Ländern durchschnittlich das höchste Niveau des Arbeitsplatzschutzes. Innerhalb der Gruppe der konservativen Länder sind die Niveaus der südeuropäischen Länder am höchsten (siehe Anhang-Tabelle 1). Bei der Lohnregulierung neigen die konservativen Länder zur komprimierten Lohnstruktur (siehe AnhangTabelle 2). Und die Lohn- bzw. Arbeitskosten sind tendenziell hoch (siehe Anhang-Tabelle 3 und 4).73 73
Wie die Anhang-Tabelle 3 – Mindestlöhne zeigt, gibt es in Spanien, einem typischen Land des konservativen Regimes, die niedrigsten Mindestlöhne aller entwickelten kapitalistischen Länder. Sie sind sogar niedriger als die der angelsächsischen Länder. Unter den europäischen Ländern wird Spanien als ein erfolgreiches Land in der Reform der Mindestlöhne bezeichnet. Allerdings: “[…] the Spanish reform was part of a global package which envisaged different forms of flexibility – reduced minimum wages were traded for increased restrictions on temporary contracts – and was thus more acceptable to the unions” (Saint-Paul 1996, zit. n. Lodovici 2000a: 51). Hier ist eine noch wichtigere Tatsache folgende: “[T]he less binding level of minimum wage in Spain – because only a small proportion of workers are paid at or around such a wage” (Saint-Paul 1996, zit. n. Lodovici 2000a: 51). Nach der Untersuchung der ,European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions ދbetrug 2005 der Anteil der Beschäftigten, die die Löhne auf dem Niveau der Mindestlöhne beziehen, in Frankreich 13 %, in Großbritannien 5 % und in Spanien nur 1-3 %. Nahezu alle ArbeitnehmerInnen in Spanien
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In den kontinentaleuropäischen Ländern wurden keine Deregulierungsmaßnahmen der Arbeitsmärkte voll durchgeführt. Denn im konservativen Regime ist die Arbeitsmarktflexibilität, anders als in den anderen Regimes, kein allgemeines Prinzip (Esping-Andersen und Regini 2000: 336): Da die Flexibilität im konservativen Regime kein allgemeiner Grundsatz, auf dem der Betrieb der Arbeitsmärkte beruht, und kein Leitprinzip, dem die Gesetzgebung und die Strategien zwischen Sozialpartner zu folgen hätten, ist, wurden die Deregulierungen als kontrollierte Experimente konzipiert, die darauf abzielten, in Teilbereichen der Arbeitsmärkte eine gewisse Flexibilisierung zu ermöglichen. Als die im konservativen Regime am ehesten vertretenden Flexibilisierungsmaßnahmen ist die ‚Frühverrentung ދmit ihrem Ansatz zur Reduzierung der Arbeitsangebote zu nennen. In zweiter Linie steht dann eine Vereinfachung der befristeten Arbeitsverträge (Lodovici 2000a: 35). Solche partiellen Deregulierungsmaßnahmen lassen allerdings im Wesentlichen viele Vorrechte der KernarbeiterInnen unberührt (Esping-Andersen und Regini 2000: 6). Diese beiden Flexibilisierungsmaßnahmen des konservativen Regimes wurden in der grundlegenden Logik des Insiderschutzes ausgeführt (vgl. Schmid 2003: 250). In der Folge ist die traditionelle Norm des Schutzes der Kernarbeiterschaft im besten Alter bis heute in großem Umfang erhalten (Esping-Andersen 1999: 151). 3.4.3.2 Reaktion auf neue Sozialfragen Bei der Reaktion sowohl gegen alte Risiken als auch gegen neue Risiken legen die konservativen Wohlfahrtsstaaten noch heute Gewicht auf Einkommenserhaltungsprogramme. Im konservativen Regime bleiben die tradierten finanziellen Leistungen als das Hauptreaktionsinstrument gegen Sozialfragen erhalten. Sie wurden mittlerweile sogar verstärkt und erweitert (Esping-Andersen 1999: 165; 1996c: 74). Die Hauptaufgabe der Wohlfahrtspolitik des konservativen Wohlfahrtsstaates ist es, auf der Grundlage der Subsidiarität während der passiven Phasen des Lebenszyklus des männlichen Haupternährers seine Familie zu bewahren. Demnach entwickelten sich zwar die um die beschäftigungsgekoppelten Sozialversicherungen zentrierten Einkommenserhaltungsprogramme ständig weiter. Demgegenüber bleiben aber angesichts des Prinzips des Familismus die Sozialdienste für Familien deutlich unterentwickelt (Schmid 2002: 86; Esping-Andersen 1996c: 7). In der Folge bleiben trotz der Vermehrung der neuen Sozial-
bekommen also in der Tat noch höhere Löhne als das nationale Niveau der Mindestlöhne (siehe European industrial relations observatory on-line 2005: table 8 – Beneficiaries of statutory minimum wages).
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fragen unter der veränderten sozioökonomischen Situation die passiven Interventionsmodi des konservativen Wohlfahrtsstaates heute noch erhalten. Bei dem Management der sozioökonomischen Fragen während der letzten drei Jahrzehnte sind die Belastungen der Sozialversicherungsprogramme ständig angewachsen. Die ansteigende finanzielle Last konzentriert sich vor allem auf drei Programmen: die Arbeitslosenversicherung aufgrund der hohen und anhaltenden Arbeitslosigkeit; die Krankenversicherung aufgrund der steigenden Kosten primär als Folge der alternden Bevölkerung; und die Rentenversicherung. Die erheblich anwachsenden Kosten der Rentenversicherung ergeben sich vor allem aus der Überalterung der Bevölkerung und der konservativen Strategie der Frühverrentung. Die Ausgabenanforderung bei der Rentenversicherung ist die größte bei den drei Programmen. Die erhebliche Zunahme der Ausgaben für die Sozialversicherungen verursachte eine deutliche Erhöhung der gesamten öffentlichen Sozialausgaben (Esping-Andersen 1996c: 72 f.; vgl. Czada 2004: 127134; Leisering 2004: 21 ff.).74 Die erhebliche Erhöhung der Sozialausgaben läuft nicht allein auf das finanzielle Ungleichgewicht und das Budgetdefizit des Wohlfahrtsstaates hinaus. 75 Angesichts der Vermehrung der familiären Krisen, der strukturellen Arbeitslosigkeit und anderer korrespondierender Probleme werden aber neue öffentliche Sozialdienste immer erforderlicher. Aufgrund der sozialen Budgetlasten und der steigenden Staatsverschuldung ist die fiskalische Potenz des Wohlfahrtsstaates zu eingeschränkt, als dass er die Mittel zum Aufbau der notwendigen Sozialdienste aufbringen könnte. Die Entwicklung dieser Dienste wird daher signifikant verzögert (Esping-Andersen 1996c: 79, 83; 2002b: 17; Hemerijck 2002: 186 f.). Zum Beispiel behindert die ansteigende Last der finanziellen Leistungen für Arbeitslose die derzeit dringend notwendige Entwicklung aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, z.B. der Maßnahmen zur Arbeitsmarktausbildung, der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Maßnahmen zur Mobilitätsförderung (OECD 1993 zit. n. Esping-Andersen 1996c: 73; Schmid 2002: 377 f.).76 74 75 76
Ausführlichere Informationen über die Zunahmetendenzen der Sozialausgaben der konservativen Wohlfahrtsstaaten finden sich in European Commission 2006a und OECD 2004a. Die Ursachen und die Folgen der finanziellen Schwierigkeit der konservativen Wohlfahrtsstaaten werden im gerade folgenden Unterabschnitt ‚3.4.3.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates ދnoch ausführlicher erklärt. Diese Tendenz wird durch einen Vergleich zwischen Deutschland und Schweden deutlich festgestellt. In Schweden sind die Quelle für die Finanzierung der Geldleistung für Arbeitslose die Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Die Quelle für die Kostenerbringung der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind allgemeine Steuermittel. Während in Schweden die beiden Quellen genau getrennt sind, werden in Deutschland sowohl aktive als auch passive Leistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen, also aus einem gemeinsamen Budget finanziert. Wenn in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit die Zahlungen der passiven Geldleistungen drastisch zu-
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Zusammenfassend kann man sagen: Der um Einkommenserhaltungsprogramme zentrierte Ansatz, also der ‚passive ދInterventionsmodus der konservativen Wohlfahrtsstaaten, wurde mit der Vermehrung der Sozialfragen unter den neuen sozioökonomischen Konstellationen ständig verstärkt. In der Folge bleibt im konservativen Regime der öffentliche Dienstleistungssektor unterentwickelt (Hemerijck 2002: 186). 77 Am Familismus wird im konservativen Regime festgehalten. Das „age bias“ des konservativen Wohlfahrtsstaates bleibt heute noch erhalten (Esping-Andersen 1999: 165 f.). 3.4.3.3 Die Vor- und Nachteile der sozialpolitischen Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates Die Arbeitslosenquote betrug 2004 in Spanien 10,6 %, in Griechenland 10,5 %, in Frankreich 9,6 %, in Deutschland 9,5 % und in Italien 8,0 % (siehe AnhangTabelle 6). Die Langzeitarbeitslosenquote über 12 Monaten befand sich in Griechenland bei 5,6 %, in Deutschland bei 5,4 %, in Belgien bei 4,1 %, in Italien bei 4,0 %, in Frankreich bei 3,9 %, in Spanien bei 3,5 % und Portugal bei 3,0 % (siehe Anhang-Tabelle 7). Die Quote der Personen, die über 24 Monate lang arbeitslos waren, war in Deutschland 3,5 %, in Griechenland 3,1 %, in Belgien und in Italien 2,6 %, in Spanien 1,9 %, in Frankreich 1,8 % und in Portugal 1,6 % (siehe Anhang-Tabelle 8). Die genannten Länder des konservativen Regimes belegen damit in der Statistik der Langzeitarbeitslosenquoten der westeuropäischen Länder die Plätze eins bis sieben mit den höchsten sieben Quoten. Die Beschäftigungsquote betrug 2004 in Italien 57,6 %, in Griechenland 59,4 %, in Belgien 60,3 %, in Spanien 61,1 %, in Luxemburg 61,6 %, in Frankreich 63,1 % und in Deutschland 65 % (siehe Anhang-Tabelle 5). Die konservativen Länder haben damit die sieben Plätze mit den geringsten Beschäftigungsquoten inne. Diese besagt, dass es im Vergleich zum sozialdemokratischen Regime oder zum liberalen Regime im konservativen Regime ten-
77
nehmen, schrumpft folglich im gleichen Maße das Finanzvolumen für aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (Schmid 2002: 377 f.). Der Mangel der öffentlichen Sozialdienste verhindert nicht nur eine Erfüllung des Wohlfahrtsbedarfs der BürgerInnen, sondern ruft auch negative Auswirkungen hinsichtlich der Arbeitsplatzbeschaffung hervor: Die hohe und egalitäre Lohnstruktur des konservativen Regimes retardiert die Entwicklung des privaten, einträglichen Dienstleistungssektors (Baumol 1967). Unter diesen Umständen ist aber auch der öffentliche Dienstleistungssektor unterentwickelt. Die konservativen Länder haben daher eine erhebliche Schwierigkeit darin, wie in den skandinavischen Ländern die Beschäftigung im öffentlichen Sektor zu erweitern. In der postindustriellen Gesellschaft, in der der industrielle Produktionssektor eigene Arbeitsplätze immer mehr verliert, häufen sich im konservativen Regime wegen des mangelnden Wachstums der beiden Dienstleistungssektoren die Schwierigkeiten in der Beschaffung neuer Arbeitsplätze (Esping-Andersen 1996c: 79; vgl. Huber und Stephens 2001: 308).
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
denziell mehr Arbeitslose und mehr Personen, die die Stellungssuche aufgeben, gibt. Bei der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit ist die Situation der sozial Anfälligen noch schwieriger: Die Frauenbeschäftigungsquote betrug 2004 in Italien und in Griechenland 45,2 %, in Spanien 48,3 %, in Luxemburg 50,6 %, in Belgien 52,6 %, in Frankreich 57,4 % und Deutschland 59,2 % (siehe AnhangTabelle 9). Die Frauenarbeitslosenquote war in Griechenland 16,2 %, in Spanien 14,3 %, in Deutschland, in Frankreich und in Italien 10,5 % und in Belgien 9,5 % (siehe Anhang-Tabelle 10). Bei den beiden Indikatoren sind die Zahlen der meisten konservativen Länder jeweils viel ungünstiger als die der Länder des sozialdemokratischen Regimes oder die der Länder des liberalen Regimes. Die Jugendbeschäftigungsquote betrug 2003 in Frankreich 24,1 % 78 , in Italien 26 %, in Griechenland 26,3 %, in Belgien 27,1 %, in Luxemburg 32,3 %79, in Spanien 36,8 % und in Deutschland 42,4 % (siehe Anhang-Tabelle 11). Die Jugendarbeitslosenquote befand sich 2004 in Griechenland bei 26,9 %, in Spanien bei 23,9 %, in Italien bei 23,6 %, in Frankreich bei 21,9 %, in Belgien bei 21,2 % und in Luxemburg bei 18,1 % (siehe Anhang-Tabelle 12). Auch bei diesen beiden Indikatoren stehen die meisten konservativen Länder eher schlechter da als die sozialdemokratischen Länder oder die liberalen Länder. Die Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger betrug 2004 in Österreich 28,8 %, in Belgien 30,0 %, in Italien 30,5 %, in Luxemburg 30,8 %, in Frankreich 37,3 %, in Griechenland 39,4 %, in Spanien 41,3 % und in Deutschland 41,8 % (siehe Anhang-Tabelle 13). Das Erwerbsaustrittsalter war 2004 in Luxemburg 57,7 Jahre, in Österreich 58,8 Jahre80, in Frankreich 58,9 Jahre, in Belgien 59,4 Jahre, in Griechenland 59,5 Jahre, in Italien 61,0 Jahre81 und in Deutschland 61,3 Jahre (siehe Anhang-Tabelle 14). Bei den beiden Indikatoren sind auch die Zahlen der meisten konservativen Länder viel niedriger als die der sozialdemokratischen Länder oder die der liberalen Länder. Besonders deutlich wird der Unterschied bei der Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger: Hier sind die Zahlen nahezu aller kontinentaleuropäischen Länder niedriger als die der skandinavischen oder angelsächsischen Länder. Die Ergebnisse rühren vermutlich vor allem von der Frühverrentungsstrategie des konservativen Regimes her.82 78 79 80 81 82
Die Daten von Frankreich sind von 2002. Die Daten von Luxemburg sind von 2002. Die Daten von Österreich sind von 2003. Die Daten von Italien sind von 2003. Die Frühverrentungsstrategie trug dazu bei, überflüssige Arbeitskräfte zu absorbieren. Jedoch hat sie als Ausgleich sehr hohe Sozialausgaben für Alte hervorgerufen. 2001 war der Anteil der Sozialausgaben für Alte am BIP in Griechenland 12,7 %, in Deutschland 11,7 %, in Italien 11,3 %, in Österreich 10,7 % und in Frankreich 10,6 % (siehe Anhang-Tabelle 18). Die Anteile
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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Im Vergleich mit dem sozialdemokratischen oder liberalen Regime zeigt das konservative Regime gar keine so guten Resultate bei den Indikatoren des Arbeitsmarktes. Besonders schlecht sind die Indikatoren in Bezug auf die Situation der sozial anfälligen Gruppen.83 Wie oben erklärt wurde, ist die Marginalisierung und Peripherisierung der Frauen, der Jugendlichen und der Alten im konservativen Regime unter anderem
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der meisten konservativen Länder sind tendenziell höher als die des sozialdemokratischen oder des liberalen Regimes. Zudem ist der Anteil der Sozialausgaben für Alte an den gesamten Sozialausgaben ebenfalls vergleichsweise sehr hoch. Griechenland gibt mit 52,3 % über die Hälfte der gesamten Sozialausgaben für RentnerInnen aus und belegt damit den ersten Platz aller industrialisierten Länder in der Statistik. In Europa belegen nächst Griechenland Italien (46,3 %), Deutschland (42,7 %), Spanien (42,3 %), Österreich (41,2 %), Portugal (37,4 %) und Frankreich (37,2 %) die vorderen Plätze (eigene Berechnung auf der Grundlage von OECD 2004a). Von den konservativen Ländern zeigen die Niederlande ausnahmsweise bei allen Indikatoren des Arbeitsmarktes gleichmäßig positive Ergebnisse. Die Niederlande verfolgten mittlerweile ständig eine Lohnmoderation und eine Lockerung der teilzeitigen und befristeten Beschäftigungsregeln. Außerdem wurden diese Bestrebungen mit einer sehr wirksamen Verkürzung prolongierter Abhängiger von der staatlichen Wohlfahrt verbunden, um den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Daraus ergab sich vor allem eine beachtliche Zunahme der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und der Frauenbeschäftigung (EspingAndersen 2002b: 17; 1996c: 82; Esping-Andersen und Regini 2000: 338, Lodovici 2000a: 51 f.; Regini 2000: 17). Darüber hinaus wurden diese Reformen von den Gewerkschaften aktiv unterstützt. Das ‚Dutch Miracle ދim Arbeitsmarkt beruhte im Wesentlichen auf dem ‚Wassenar Agreement 1982ދ, das durch die aktive Beteiligung und Kooperation der Gewerkschaften gebildet werden konnte (Netherlands Ministry of Social Affairs 1996; Visser und Hemerijck 1997: Gorter 2000: 189; Regini 2000: 17; Esping-Andersen und Regini 2000: 337 ff.). Die Gewerkschaften verzichteten auf einige Teile eigener Rechte und der Staat bot ihnen als Ausgleich umfangreiche Unterstützungen an. Beispielsweise sind die arbeitsmarktpolitischen Sozialausgaben pro ein Prozent der Arbeitslosigkeit in den Niederlanden die höchsten in Europa (siehe Lodovici 2000a: 34 – Abbildung 2.1). Dieser Arbeitsmarktpolitik gehören nicht nur sehr großzügige Geldleistungen, sondern auch vielfältige Aktivierungsprogramme, z.B. HOG (Programme des Umorientierungsinterviews für die Personen, die für über drei Jahre arbeitslos sind), KRA/RAP (Zuschüsse für die Rekrutierung der Personen, die für über zwei Jahre nichterwerbstätig sind) und ,Labour Pool Program( ދProgramm für die Direktbeschaffung des Jobs). Allerdings bleiben trotz solches Wandels in den Niederlanden die familistische Logik des konservativen Wohlfahrtsregimes noch stark erhalten: Zuerst ist die Entwicklung der sozialen Dienstleistungen retardiert. Zum Beispiel umfasst die öffentliche Tagespflege in den Niederlanden nur 2 % der Kleinkinder, während sie in Schweden etwa 50 % umfasst (EspingAndersen 1996c: 71). Zweitens tendieren die niederländischen Frauen dazu, vergleichsweise für sehr lange Zeit nichtentlohnte Hausarbeit zu machen. Frauen in den Niederlanden machen 39 Stunden Hausarbeit pro Woche, in Dänemark dagegen unter 25 Stunden, in Großbritannien und in Schweden 30-35 Stunden (Esping-Andersen 1999: 57). Schließlich bleibt in den Niederlanden heute noch die starke strafende Steuerbehandlung (punitive tax treatment) im Falle des Doppelverdienens beider Ehepartner (Esping-Andersen 1996c: 74).
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
auf den rigiden ‚Insider-Outsider-Arbeitsmarkt ދzurückzuführen (Esping-Andersen 1996c: 82; Hemerijck 2002: 186). Durch empirische Untersuchungen wurde in der Tat festgestellt, dass der starke Arbeitsplatzschutz für bereits beschäftigte, erwachsene männliche Ernährer die erhebliche Spaltung zwischen den privilegierten KernarbeitnehmerInnen und den prekär Beschäftigten oder gar den Arbeitslosen verstärkt fördert: Nach mehreren Studien, z. B. Alogoskoufis u.a. (1995), Scarpetta (1996), Elmeskov u.a. (1998), Heckmann und Pages (2000) sowie Nickell u.a. (2001), hat die strenge Jobsicherheit im Allgemeinen keine oder sehr geringe Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote der Männer im besten Alter. Indessen tendiert der starke Arbeitsplatzschutz dazu, die Beschäftigungsquote der Outsider zu verringern. “Indeed, there are reasons to think that youth, as new entrants into the labour market, and women with intermittent participation spells, will primarily be affected by any reduced hiring caused by EPL, while being less in a position to benefit from reduced firings than other groups. As a consequence, employment protection would damage their employment opportunities. On the other hand, those already in the core labour market, mainly prime-age men, will primarily benefit from any greater job stability induced by EPL” (OECD 2004b: 81).84
Die Zunahme der Outsider im Zuge des rigiden Jobschutzes wird von dem oben diskutierten Rückgang der Arbeitsplätze im industriellen Produktionssektor in Verbindung mit dem sehr langsamen Jobwachstum im privaten Dienstleistungssektor, dessen Langsamkeit sich unmittelbar auf die hohe und egalitäre Lohnstruktur für die ,Insider ދbezieht, noch weiter gefördert. Außerdem ist im konservativen Regime die Entwicklung der öffentlichen Beschäftigung, also des öffentlichen Dienstleistungssektors, und der aktiv arbeitsmarkpolitischen Maßnahmen im Vergleich zu den skandinavischen Ländern retardiert. Die konservativen Wohlfahrtsstaaten zeigen folglich heute eine komplexe Form der Stratifizierung, in der die vorhandene Stratifizierung anhand des unterschiedlichen beruflichen Status mit der neuen Form der Stratifizierung der Division der Insider-Outsider verbunden ist. Das Problem der Massenoutsider erzeugt dabei auf der wohlfahrtsstaatlichen Seite das bedrohliche Problem von „welfare state without work“ (EspingAndersen 1996c; vgl. Lessenich 2005):
84
Wie gerade diskutiert wurde, übt der strenge Arbeitsplatzschutz vor allem auf die Struktur der Arbeitslosigkeit bzw. die Zusammensetzung der Arbeitslosen als Gruppe einen großen Einfluss aus (Esping-Andersen und Regini 2000: 2 f., 337).
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
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Die konservativen Wohlfahrtsstaaten werden als teuere, steuerbelastende Wohlfahrtsstaaten bezeichnet. Zu diesen finanziellen Schwierigkeiten trägt nicht allein die Explosion der Ausgaben der Sozialversicherungen aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und der Frühverrentung bei. Die Outsider, z.B. jungendliche Arbeitslose, die keine Sozialansprüche auf die Sozialversicherungen haben, leben abhängig von den Löhnen ihrer erwerbstätigen Väter. Wenn dies aber unmöglich ist, müssen sie schließlich abhängig von den staatlichen Mindestsicherungsprogrammen, z.B. der Sozialhilfe, ihr Leben fristen (Esping-Andersen 1996b: 18). Hinsichtlich der erheblichen Zunahme der Ausgaben des Wohlfahrtsstaates hat das konservative Regime neben der Frage der Unterentwicklung der öffentlichen Sozialdienste unter anderem zwei weitere ernste Probleme: Zuerst muss die gesunkene Zahl derer, die im Arbeitsmarkt heute tatsächlich vollerwerbstätig im Sinne des Insiders sind, die enormen Kosten des Wohlfahrtsstaates erbringen. Infolge der Zunahme der SozialleistungsempfängerInnen, der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung und der Abnahme der Erwerbsbiographie im Zuge der Frühverrentung 85 bleibt nichts anderes, als die Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge der bereits Beschäftigten zu erhöhen. In der Folge werden die hohen Lohn- bzw. Arbeitskosten der Insider weiter aufrechterhalten. Der Beschäftigungsschutz der Hauptklientel des Finanzamtes wird so immer erforderlicher. Zudem bedeutet die im Allgemeinen niedrige Beschäftigungsquote der Frauen, dass zahlreiche Frauen von den Löhnen ihrer erwerbstätigen Ehemänner abhängig bleiben. Eine Folge ist die unvermeidliche Fortsetzung der Abhängigkeit der Frauen von den männlichen Ernährern, die wiederum den Familismus des konservativen Regimes – männliche Ernährer und weibliche Hausfrau – verstärkt (Bonß und Ludwig-Mayerhofer 2000: 120). Das Phänomen führt schließlich dazu, dass der Schutz der männlichen Haupternährer als eine Hauptagenda der Gesellschaft immer wieder auftaucht. Das konservative Regime sitzt im Teufelskreis, denn die aus diesen Gründen resultierenden und immer lauter erhobenen Anforderungen des strengen Arbeitplatzschutzes und der hohen Löhne der männlichen Haupternährer sind unvermeidlich mit Zunahme der Zahl der Outsider verbunden (Esping-Andersen 1996b: 18 f.; 1996c: 68, 74, 79 f.; Lodovici 2000a: 42). 85
Die kontinentaleuropäischen Länder erfahren die drastische Verkürzung der Erwerbsbiographie, und zwar der aktiven Beitragsjahre: „[...] compared with the orthodox assumption of 40-45 active years, the average worker will enter into employment around age 18-20 and retire at age 55-59. This, with heightened probabilities of unemployment and job loss along the life cycle, amounts to maybe an average of 35 or at most 40 years’ active employment, i.e. a decline of 10-20 per cent in terms of financial contribution. Our average worker will also collect pension benefits for many more years than the orthodox model assumed, owing partly to earlier withdrawal, partly to longevity.” (Esping-Andersen 1996c: 77)
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Als das zweite Problem führen die Kostenexplosion des Wohlfahrtsstaates und die Abnahme der Staatseinnahmen im Zuge des verschlechternden Anteils der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung nicht nur zu einem finanziellen Ungleichgewicht und zu einem Budgetdefizit. Sie verursachen auch eine ernsthafte Finanzkrise bei den einzelnen Versicherungskassen, auf denen die sozialen Sicherungssysteme des konservativen Regimes im Wesentlichen beruhen. Die finanziellen Schwierigkeiten der Versicherungskassen, vor allem der Rentenkassen, sind unter anderem auf die ansteigenden Ausgaben der Versicherungsprogramme im Zuge der konservativen Strategie gegen Sozialfragen, die Abnahme der Versicherten und der aktiven Beitragsjahre und die fragmentierte Erwerbsbiographie der Versicherten im Zuge der Arbeitslosigkeit zurückzuführen (Esping-Andersen 2002b: 1; 1999: 153 f.; 1996b: 19f.; 1996c:73 f.; Döring 2004: 158-161). In Bezug auf die Sozialtransfers lässt sich sagen, dass diese sich in den konservativen Ländern zumeist großzügig entwickeln. Wie aus Anhang-Tabelle 15 und 16 ersichtlich ist, neigen die Armutsgefährdungsquoten und die Grade der Ungleichheit der Einkommensverteilung der nordkontinentaleuropäischen Länder zwar zu den Quoten und den Graden der sozialdemokratischen Länder. Jedoch sind die Niveaus der Armut und der Ungleichheit der südeuropäischen Länder wie die der liberalen Wohlfahrtsstaaten sehr hoch. 86 Warum sind die Quoten der Armut und der Ungleichheit der südeuropäischen Länder trotz ihrer ‚komprimierten Lohnstruktur( ދToharia und Malo 2000: 319; Lodovici 2000b: 284; Esping-Andersen 1999: 122) so hoch? Obwohl in den südeuropäischen Ländern sich großzügige Versicherungsprogramme traditionell entwickelten, konzentrieren sich diese Programme meistens auf die ‚normalen ދFamilien mit einem vollzeiterwerbstätigen Ernährer und die Ehrpaare, die in den Ruhestand gehen und vorher eine stabile Berufskarriere gehabt haben.87 Wie der Umstand, dass die südeuropäischen Länder die höchsten Grade des Arbeitsplatzschutzes aller europäischen Länder einnehmen, andeutet, messen die Staaten im Süden Europas der Beschäftigungsgarantie für die Haupternährer mehr Gewicht bei als die nordkontinentalen Länder. Die südeuropäischen Länder tendieren dazu, den Arbeitplatzschutz der Kernarbeiter 86
87
Wie aus Anhang-Tabelle 21 zu ersehen ist, erhöhte sich allerdings die Armutsgefährdungsquote der nordkontinentaleuropäischen Länder auch tendenziell seit den 80er Jahren deutlich. Die Tendenz bildet einen deutlichen Gegensatz zum Trend der skandinavischen Länder, in denen sich die Armutsgefährdungsquote mittlerweile verringert. Die Zunahmetendenz der Armutsgefährdungsquote der nordkontinental-europäischen Länder wird im 7. Kapitel dargelegt. Wie die Anhang-Tabelle 19 – Nettoersatzrate der Renten und die Anhang-Tabelle 20 – Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes zeigen, sind die Leistungsniveaus der südeuropäischen Länder auch tendenziell hoch. Besonders hoch sind die Leistungsniveaus der Renten der südeuropäischen Länder im Vergleich mit anderen Ländern.
3.4 Die sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära
115
noch stärker zu fördern. Angesichts dieses sozialpolitischen Grundsatzes, der sich auf die vollzeitbeschäftigten, männlichen Ernährer und auf die soziale Sicherung ihrer Familien konzentriert, richten sich die Sozialansprüche sehr stark nach den Normalarbeitsverhältnissen (Mäder 2002: 148: Lessenich 1994). Den sozialen Bedürfnissen der Outsider wird als Ausgleich mit geringer Intensität Rechnung getragen. Die sozialen Sicherheitsnetze für die Marginalisierten, z.B. für die Alten, die vor dem Ruhestand unterbrochene Berufskarrieren gehabt haben, die jungen Arbeitslosen, die die Versicherungsansprüche noch nicht erworben haben, und die alleinerziehenden Mütter in Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, sind sehr schwach und eng: “While [die nordkontinentaleuropäischen] countries have introduced national standards in their means-tested assistance programmes, this is not in the Mediterranean countries where social aid remains closer to the classical poor-relief model” (Esping-Andersen 1996c: 69). Der südeuropäische Wohlfahrtsstaatstyp zeigt „im Bereich der Mindestsicherung für jedermann noch Lücken“ (Mäder 2002: 148). Diese unvollkommenen Sicherungssysteme für Outsider verstärken ihre Abhängigkeit von den Einkommen ihrer Familie (Lodovici 2000a: 44) und dies befestigt wiederum den Familismus des konservativen Regimes. Sowohl im Vergleich mit den sozialdemokratischen Ländern als auch im Vergleich mit den nordkontinentaleuropäischen Ländern wird der südeuropäische Wohlfahrtsstaatstyp für „rudimentär“ (Leibfried 1992) gehalten.88 Zusammenfassend kann man sagen: Das konservative Wohlfahrtsregime konnte bis heute die Probleme des Modernisierungsdefizits bzw. des Anpassungsdefizits an die veränderten, neuen sozioökonomischen Bedingungen nicht lösen (Esping-Andersen 1999: 146; 1996c: 68, 81 ff.; Schmid 1998: 29; Lodovici 2000a: 52 f.): ,,Der konservative Wohlfahrtsstaat ist eben auch strukturkonservativ und tendiert dazu, die alten institutionellen Arrangements aufrechtzuerhalten, auch wenn sie immer weniger geeignet sind, die neuen sozialen Probleme zu lösen.“ (Schmid 1998: 35). Im Vergleich mit den anderen Regimes zeigen die konservativen Wohlfahrtsstaaten neben dem geringen Anpassungszustand als gemeinsames Merkmal als weiteres gemeinsames Kennzeichen einen sichtbaren Mangel an großen Versuchen, die vorhandenen Systeme zurückzubauen oder zu reformieren (Esping-Andersen 1996c: 77, 82). Daher laufen die Flexibilisierungsverfahren der Sozialpolitik viel langsamer als die der anderen Wohlfahrtsregimes. Während das liberale Regime seit den 80er Jahren und das sozialdemokratische Regime seit dem Anfang der 90er Jahre grundlegende Transformationen ihres eigenen Wohlfahrtsstaates antreiben, fängt das konservative Regime 88
Eine ausführliche Erklärung darüber, warum in Spanien so ein rudimentärer Wohlfahrtsstaat herausgebildet wurde, bietet Lessenich (1994) an.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
nach der verspäteten Erkenntnis über die Grenze seiner familistischen Einkommenstransfers in der jüngsten Zeit an, den Wohlfahrtsstaat an seinen Rändern zu restrukturieren, um die strukturellen Probleme des konservativen Wohlfahrtsstaates zu überwinden. Die Kernelemente der sozialpolitischen Strategien des sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaates werden wie folgt in einer Tabelle zusammengefasst. Tabelle 4:
Dominierende sozialpolitische Strategien in der postfordistischen Ära Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat
Liberaler Wohlfahrtsstaat
Konservativer Wohlfahrtsstaat
Vorrangiger Bezugspunkt bei der Wohlfahrtsproduktion
Erhaltung der Staatszentrierung
Expansion der Marktkräfte
Schutz des männlichen Haupternährers
Reaktionsweise auf Sozialfragen
Inklusion
Vermehrung der Eigenverantwortung der Individuen
Maßnahmen zentriert auf Einkommenserhaltungsprogramme
Quelle: Eigene Darstellung
3.5 Design einer empirischen Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik 3.5 Design einer emp. Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik Wie oben auf der Grundlage der Beiträge von Jessop erklärt wurde, wird heute angesichts des Wandels der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates von der Welfare- zur Workfare-Orientierung die Restrukturierung der vorhandenen sozialpolitischen Systeme gefordert. Das sozialpolitische Gefüge wird nach Esping-Andersen auf der Basis der unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien transformiert, die auf der Grundlage der jeweiligen spezifischen Grundkonzeptionen der bestehenden Wohlfahrtsstaaten herausgebildet werden. Wie unterschiedlich werden dann Restrukturierungsformen der Sozialpolitik der europäischen Länder gestaltet? Welche Unterschiede zeigen die drei Wohlfahrtsregimes bei Restrukturierung der Sozialpolitik infolge der unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien?
3.5 Design einer emp. Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik
117
Da eine vollständige umfassende Bearbeitung aller Aspekte in Bezug auf alle Institutionen der Sozialpolitik unmöglich ist, ist es notwendig, den Ansatz zu begrenzen. Bei der folgenden empirischen Untersuchung werden demnach die sozialen Sicherungssysteme, die ein ‚Kernbestandteil ދder Sozialpolitik sind, untersucht. 3.5.1 Zum Untersuchungsgegenstand Das ,System der sozialen Sicherungދ, das als ein Bestandteil der Sozialpolitik entweder die Akkumulationsfunktion oder die Legitimationsfunktion des kapitalistischen Staates (O’Connor 1974) erfüllt, wird üblicherweise als die öffentliche Institution bezeichnet, das Volk gegen ,soziale Risiken ދabzusichern. Laut Lampert lässt sich das soziale Sicherungssystem als „die Summe aller Einrichtungen und Maßnahmen, die das Ziel haben, die Bürger gegen die Risken zu schützen“ (Lampert und Althammer 2004: 234; Hervorhebung im Original), definieren. Schulte (1991: 563) hat das System der sozialen Sicherung als das, „welches darauf ausgerichtet ist, das Auftreten sozialer Risken zu verhüten und bei Eintritt derartiger Risiken kompensierend tätig zu werden“, betrachtet. Das ist die Kernfunktion des sozialen Sicherungssystems in der kapitalistischen Gesellschaft, anhand der es von anderen Einrichtungen und Maßnahmen der Sozialpolitik, z.B. Arbeits- bzw. Arbeitsmarktpolitik, Wohnungspolitik oder Bildungspolitik, unterschieden ist. Die Einzelbereiche des sozialen Sicherungssystems stehen also im Zusammenhang mit den Einzelrisiken aus mehreren Kategorien: Arbeitsunfall, Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege, Tod des Ernährers, Verlust des eigenen Existenzminimums etc. Zudem lassen sich die Sozialleistungen einerseits gemäß den unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien in Versicherungsleistung, Fürsorgeleistung und (Staatsbürger-) Versorgungsleistung89, andererseits gemäß der Form der Leistung in Geldleistung und Sachleistung90 ordnen. Um diese sozialen Sicherungssysteme jedes Regimes zu untersuchen, werden zuerst als konkreter Analysegegenstand drei westeuropäische Länder ausgewählt: Schweden als ein repräsentatives Land des sozialdemokratischen Regimes, Deutschland als Beispiel des konservativen Wohlfahrtsstaates und 89 90
Hierzu ausführlich siehe die Fußnote 24 in dem Unterabschnitt ‚3.1.1.2 Die Grundmerkmale der Sozialpolitik des liberalen Wohlfahrtsstaatesދ. Heutzutage wird die Form der Leistung ab und zu in Geldleistung, Sachleistung und Dienstleistung unterteilt (z. B. Boeckh u.a. 2004: 163-165). Allerdings gehört in dieser Arbeit die Dienstleistung zur Sachleistung.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Großbritannien als Beispiel des liberalen Regimes in Europa. Danach werden die sozialen Sicherungssysteme jedes der drei Länder in der fordistischen Ära Mitte der 70er Jahre im Umfeld der ersten Öl-Krise mit denen in der postfordistischen Ära des Jahres 2002 oder des Jahres 2003 verglichen. Dabei stellt die Richtschnur des Vergleichs die Zeitebene dar. In diesem temporalen Zusammenhang wird die Gegenüberstellung der Systeme eines Landes gegenüber denen anderer Länder nicht in die Betrachtung einbezogen. Bei dieser vergleichenden Analyse wird zudem die Aufmerksamkeit vor allem auf die drei Kategorien Alterssicherung-, Krankensicherung- und Arbeitslosensicherungssystem gelenkt, die nach der fordistischen Ära unter den Einzelbereichen der sozialen Sicherung die bedeutendsten Veränderungen erfahren haben. Die Alterssicherung umfasst üblicherweise nicht nur die beim Erreichen der Altersgrenze gewährten Geldleistungen, sondern auch die Altenhilfepolitik, z. B. Alteneinrichtungen oder Pflegedienste. Davon werden in dieser Arbeit lediglich staatliche Altersrenten untersucht, die allgemein als wichtigste Bereiche der Alterssicherung gelten. Die Krankensicherung umfasst im Allgemeinen die Gesundheitsversorgung, also die öffentliche Übernahme der Kosten für medizinische Leistungen, und die Verdienstersatzleistungen, also die Kompensation der durch Krankheit entstehenden Einkommensverluste. Um die Transformation der Krankensicherung zu erforschen, werden alle beiden untersucht. Der Bereich der Gesundheitsversorgung ist ein sehr umfangreicher Untersuchungsgegenstand, der einer gewissen Fokussierung bedarf. Im Bereich der Gesundheitsversorgung wird untersucht, wie in den folgenden vier Sektoren – der ambulanten, stationären, zahnärztlichen Versorgung und Arzneimittelversorgung – die Kosten der medizinischen Sachleistungen übernommen werden. Im Fokus steht dabei allein das öffentliche System der Kostenübernahme. 91 Die Verdienstersatzleistungen werden als die Geldleistungen bezeichnet, die dabei gewährt werden, wenn wegen ‚kurzfristiger ދErkrankung die Erwerbstätigkeit der Berechtigten für kurze Zeit nicht ausgeübt wird. Die Geldleistungen bei der ‚langfristigen ދKrankheit, z.B. Leistungen für Invaliden, sind nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Schließlich wird der Untersuchungsgegenstand in Bezug auf die Arbeitslosensicherung auf Geldleistungen für Arbeitslose, und zwar Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, eingeschränkt. Bei der Arbeitslosensicherung spielen die öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen oder die aktive Arbeitsmarktpolitik auch eine wichtige Rolle. Der Grund für den Ausschluss dieser Maßnahmen und 91
Die zahnärztliche Versorgung wird getrennt mit der ambulanten Versorgung untersucht. Soweit nichts anders vermerkt, bedeutet die ambulante Versorgung daher im Folgenden die ärztlichen Versorgungen ausgenommen der zahnärztlichen Versorgung.
3.5 Design einer emp. Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik
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Programme ist der kaum überschaubare Umfang. Sie sind nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der regionalen Ebene und sogar auf der Lokalebene sehr breit gefächert ausgebildet. Außerdem beruhen sie auf zahlreichen unterschiedlichen Trägern und haben verschiedene Formen. Der daraus resultierende Umfang der Untersuchungsgegenstände würde einen Vergleich der Systeme der 70er Jahre mit denen von heute zu sehr aufblähen, um noch im Rahmen der Dissertation bewältigbar zu sein. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die öffentlichen Altersrenten bei der Alterssicherung, die Gesundheitsversorgung und die Verdienstersatzleistungen bei der Krankensicherung und das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe bei der Arbeitslosensicherung in dieser Arbeit empirisch untersucht werden. 3.5.2 Zur Analyse der Restrukturierungsform Bei der Analyse der Restrukturierungsform wird zuerst untersucht, ob die Restrukturierung in den jeweiligen Bereichen Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Verdienstersatzleistungen bei Krankheit und Arbeitslosensicherung zwischen der Mitte der 1970er Jahre und dem Anfang der 2000er Jahre stattfand. Dann werden die ‚Resultate ދund die ‚Intentionen ދder Reform der Restrukturierung durchleuchtet. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Definitionen des Begriffs ‚Restrukturierungދ. In dieser Arbeit wird die Restrukturierung bei der Transformation der sozialen Sicherungssysteme wie folgt definiert:
Definition in Rahmen der Geldleistung: Öffentliche Leistungen sind grundlegend verändert
Definition in Rahmen der Gesundheitsversorgung: Kostenübertragungsbereiche 92 öffentlicher Kostenträger sind grundlegend verändert
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Die Kostenübertragungsbereiche sind die Einzelbereiche der Gesundheitsversorgung, deren Kosten die öffentlichen Kostenträger, d.h. der Staat oder öffentliche Organe, obligatorisch übernehmen. Unter den Einzelbereichen der Gesundheitsversorgung versteht man die üblicherweise benutzte medizinische Klassifikation: Der Sektor der ambulanten Versorgung wird unterteilt in den inneren Medizinbereich, in den Chirurgiebereich, in den Bereich der Ophthalmologie etc. Bei der zahnärztlichen Versorgung und bei der Arzneimittelversorgung ist der Sektor selber ein Bereich. Der Arzneimittelversorgung gehören sowohl Medikamente als auch Hilfsmittel und Heilmittel an. Der Sektor der stationären Versorgung unterliegt einer strukturell anderen Klassifikation. Die Einzelbereiche des Sektors sind die Betriebs- und die Investitions-
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Diese Konzepte der Restrukturierung werden folgendermaßen operationalisiert.
Operationalisierung in Rahmen der Geldleistung: ‚Abschaffungұ vorhandener öffentlicher Leistung ‚Ersatzұ alter Leistung durch neue Leistung ‚Einführungұ neuer Leistung
Operationalisierung in Rahmen der Gesundheitsversorgung: ‚Abschaffungұ bestehenden Kostenübertragungsbereichs öffentlichen Kostenträgers ‚Überantwortungұ bestehenden Kostenübertragungsbereichs zu anderem Kostenträger ‚Einführungұ neuen Kostenübertragungsbereichs
Die Untersuchungsgegenstände der Geldleistung sind grundsätzlich öffentliche Leistungen, also die Leistungen des Staates oder der öffentlichen Organe93. Allerdings sollen bei der Analyse der Restrukturierung die Grenzen der Leistungsbegriffe etwas erweitert werden. Wenn eine öffentliche Leistung durch eine ‚gesetzliche ދprivate Leistung ersetzt wurde oder wenn eine ‚gesetzliche ދprivate Leistung erneut eingeführt wurde, dann wird die ‚gesetzliche ދprivate Leistung bei der Analyse der Restrukturierung in die Untersuchungsgegenstände eingeschlossen. Die ‚gesetzliche ދprivate Leistung ist die private Leistung, die private Träger – private Versicherungen oder Arbeitgeber – ‚obligatorisch ދzahlen müssen oder für deren Bezug BürgerInnen privaten Institutionen ‚obligatorisch ދangehören müssen, weil der Staat sie dazu gesetzlich verpflichtet hat. Veränderungen der bereits bestehenden ‚gesetzlichen ދprivaten Leistungen werden bei der Analyse dieser Arbeit nicht einbezogen, weil der Wandel der Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger bei den Sozialleistungen im Mittelpunkt dieser Arbeit steht.94
93 94
kosten der Krankenhäuser. In die Betriebskosten sind die Kosten der stationären Behandlung eingeschlossen. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff ‚öffentliches Organ ދumfasst auch die öffentliche ‚Selbstverwaltungsorganeދ, z.B. die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungen. Mit Bezug auf die Veränderungen der bereits bestehenden ‚gesetzlichen ދprivaten Leistungen kann man Nachfolgendes vermuten: Abschaffung einer vorhandenen gesetzlichen privaten Leistung; Ersatz einer gesetzlichen privaten Leistung durch eine neue gesetzliche private Leistung; und Ersatz einer gesetzlichen privaten Leistung durch eine neue öffentliche Leistung. Die ersten zwei Fälle werden bei der Analyse dieser Arbeit nicht einbezogen. Falls ein Ersatz einer gesetzlichen privaten Leistung durch eine neue öffentliche Leistung in der Tat vorliegt, wird dies in dieser Arbeit als die ‚Einführung ދeiner neuen öffentlichen Leistung bewertet.
3.5 Design einer emp. Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik
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Bei der Untersuchung der Gesundheitsversorgung sind die Kostenträger ebenfalls grundsätzlich die öffentlichen Kostenträger, d.h. der Staat oder die öffentlichen Organe. Allerdings soll bei der Analyse der Restrukturierung auch der Umfang des Begriffs ‚Kostenträger ދetwas erweitert werden. Wenn für einen öffentlichen Kostenträger die bisherige Kostenübernahmeaufgabe für einen bestimmten Einzelbereich aufgehoben werden und der Staat stattdessen einen privaten Träger dazu gesetzlich verpflichtet hat, ‚obligatorisch ދdie Aufgaben auszuführen, wird bei der Analyse der ‚Überantwortung ދder private Träger in den Begriff ‚Kostenträger ދeingeschlossen. Wenn der Staat einen privaten Träger dazu gesetzlich verpflichtet hat, ‚obligatorisch ދfür den Einzelbereich der Gesundheitsversorgung, dessen Kosten die öffentlichen Kostenträger bisher nicht übernahmen, die Kosten zu übernehmen, wird der private Träger bei der Analyse der ‚Einführung ދeinbezogen. Veränderungen bei den bereits vorhandenen Kostenübertragungsbereichen, deren Kosten die privaten Kostenträger ‚obligatorisch ދübernehmen, werden bei der Analyse dieser Arbeit nicht einbezogen. Der Grund ist der gleiche wie bei der Geldleistung.95 Bei der Bewertung der Restrukturierung wird zuerst untersucht, ob ‚Abschaffungދ, ‚Ersatz ދ/ ‚Überantwortung ދoder ‚Einführung ދvorliegen. Wenn ja, ist dann zu prüfen, wie die Verantwortlichkeit der Träger verändert ist oder wie ihre Verantwortung infolge der Restrukturierung in der näheren Zukunft verändert werden wird. Bei der Veränderung der Verantwortlichkeit geht es um Zunahme, Abnahme oder Erhaltung der gesetzmäßigen ‚Zuständigkeit ދder Träger bei den Bereichen Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Verdienstersatzleistungen bei Krankheit und Arbeitslosensicherung.96 Hinsichtlich der Veränderung der Verantwortlichkeit der Träger wird die Restrukturierung in erster Linie in eine ‚öffentlichkeitszentrierte ދRestruk95
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Hinsichtlich der Veränderungen bei den bereits vorhandenen Kostenübertragungsbereichen, deren Kosten die privaten Kostenträger ‚obligatorisch ދübernehmen, kann man Folgendes vermuten: Abschaffung eines Kostenübertragungsbereichs des privaten Kostenträgers; Überantwortung eines Kostenübertragungsbereichs des privaten Kostenträgers zu einem anderen privaten Kostenträger; Überantwortung eines Kostenübertragungsbereichs des privaten Kostenträgers zu einem öffentlichen Kostenträger. Die ersten zwei Fälle werden bei der Analyse dieser Arbeit nicht einbezogen. Falls eine Überantwortung eines Kostenübertragungsbereichs des privaten Kostenträgers zu einem öffentlichen Kostenträger tatsächlich entsteht, wird der Fall in dieser Arbeit als die ‚Einführung ދeines neuen Kostenübertragungsbereichs des öffentlichen Kostenträgers bewertet. Bei der Bewertung der Restrukturierung werden Veränderungen bei den Bestandteilen der Leistung oder des Kostenübertragungsbereichs, z.B. Zunahme oder Abnahme des Leistungsniveaus, Verschärfung oder Linderung der Anspruchsvoraussetzung oder Vermehrung oder Reduzierung bei dem erfassten Personenkreis, nicht in die Betrachtung einbezogen. Lediglich wird Zunahme, Abnahme oder Erhaltung der gesetzmäßigen ‚Zuständigkeit ދder Träger bei den jeweils vier Bereichen der sozialen Sicherungssysteme analysiert.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
turierung und eine ‚privatheitszentrierte ދRestrukturierung unterteilt. Die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung ist hier definiert als die Restrukturierung, in der die Verantwortlichkeit des Staates bzw. der öffentlichen Organe erweitert oder erhalten wird. Demgegenüber bedeutet die privatheitszentrierte Restrukturierung die Restrukturierung, in der die Verantwortlichkeit des Staates bzw. der öffentlichen Organe reduziert wird und die Verantwortlichkeit des Marktes oder die Eigenverantwortung des Individuums erweitert wird. Die privaten Versicherungen und die Arbeitgeber sind hierbei als die Elemente des Marktes zu verstehen. Die ‚Erweiterung ދder Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger im Rahmen der öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung bedeutet, dass durch die ‚Einführungދ-Restrukturierung eine neue Leistung bzw. ein neuer Kostenübertragungsbereich des Staates bzw. der öffentlichen Organe eingeführt wurde. Die ‚Erhaltung ދder Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger im Rahmen der öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung bedeutet, dass nach dem ‚Ersatz ދbei der Geldleistung oder nach der ‚Überantwortung ދbei der Gesundheitsversorgung die Zuständigkeit bei dem betreffenden Bereich der sozialen Sicherung weiter innerhalb des Staates oder innerhalb der öffentlichen Organe verbleibt. Der Fall, in dem die Verantwortlichkeit zwischen Staat und öffentlichen Organen verschoben wurde, wird auch als ‚Erhaltung ދder Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger bezeichnet. Hier muss allerdings darauf verwiesen werden, dass nur solche Fälle als die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung bezeichnet werden sollen, bei denen gesetzmäßige Zuständigkeit der privaten Versicherungen oder der Arbeitgeber nicht vermehrt wird. Daher werden Fälle mit Steigerung der Marktverantwortung nicht als die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung bewertet. Wenn die ‚Abschaffung ދvorhandener öffentlicher Leistung ohne einen Ersatz durch eine andere öffentliche Leistung oder eine ‚gesetzliche ދprivate Leistung stattfand, wird dies als die privatheitszentrierte Restrukturierung bewertet, in der die Verantwortlichkeit des Staates bzw. der öffentlichen Organe reduziert wird und die Eigenverantwortung der Individuen erweitert wird. Im Gesundheitsbereich liegt, falls ‚Abschaffung ދvorhandenen öffentlichen Kostenübertragungsbereichs ohne eine Überantwortung zu anderem öffentlichen oder privaten Träger stattfand, die nämliche Bewertung vor.97 97
Falls nach der ‚Abschaffung ދvorhandener öffentlicher Leistung oder nach der ‚Abschaffungދ vorhandenen öffentlichen Kostenübertragungsbereichs die gesetzmäßige Zuständigkeit der privaten Versicherungen oder der Arbeitgeber vermehrt wird, wird der Fall der im folgenden Fließtext erklärten ‚Erweiterung ދder Verantwortlichkeit des Marktes im Rahmen der privatheitszentrierten Restrukturierung zugeordnet. Beispielsweise kann man vermuten, dass die Individuen durch die Reform gesetzlich gezwungen würden, für eine bereits bestehende ‚gesetzliche ދprivate Leistung nun eine private Versicherung abzuschließen. Es kann dabei den
3.5 Design einer emp. Untersuchung zur Transformation der Sozialpolitik
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Die ‚Erweiterung ދder Verantwortlichkeit des Marktes im Rahmen der privatheitszentrierten Restrukturierung heißt, dass durch den ‚Ersatz ދoder die ‚Einführung ދbei der Geldleistung oder durch die ‚Überantwortung ދoder die ‚Einführung ދbei der Gesundheitsversorgung die gesetzmäßige Zuständigkeit der privaten Versicherungen oder der Arbeitgeber zunimmt und die Verantwortlichkeit der öffentlichen Träger verringert wird.98 Wenn keine Restrukturierung entstand, wird der Fall als ‚Status quo ދbewertet. 3.5.3 Zur Untersuchung der Veränderungen innerhalb der Struktur Während bei der Analyse der Restrukturierung untersucht wird, ob ‚Abschaffungދ, ‚Ersatz ދ/ ‚Überantwortung ދoder ‚Einführung ދvorlag, werden bei der ‚Untersuchung der Veränderungen innerhalb der Struktur ދdurch einen unmittelbaren Vergleich jedes Bereichs der sozialen Sicherungssysteme der Mitte der 1970er Jahre mit jedem Bereich zu Anfang der 2000er Jahre die Unterschiede zwischen den beiden aufgezeigt. Die Untersuchungsgegenstände dieser temporalen Vergleichsanalysen sind erfasster Personenkreis, Anspruchsvoraussetzung, Leistungsniveau und -dauer, Finanzierungsmodus und Trägersystem der jeweils vier Bereiche der sozialen Sicherungssysteme.99 Durch die Analyse der Restrukturierung sollen das sozialdemokratische, das liberale und das konservative regimespezifische Transformationsmuster der sozialen Sicherungssysteme bzw. der Sozialpolitik offen gelegt werden. Durch einen Vergleich zwischen den Untersuchungsergebnissen der innerstrukurellen
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Sonderfall gegeben haben, dass zuvor eine Wahlmöglichkeit zwischen einer staatlichen, nun abgeschafften Leistung und nämlicher, nun obligatorischer privater Leistung vorlag. Als eher theoretische denn realistische Fälle kann man vermuten, dass im Zuge des ‚Ersatzesދ oder der ‚Einführung ދbei der Geldleistung oder infolge der ‚Überantwortung ދoder der ‚Einführung ދbei der Gesundheitsversorgung die gesetzmäßige Zuständigkeit der privaten Versicherungen oder der Arbeitgeber zwar vermehrt wird, aber die Zuständigkeit der öffentlichen Träger entweder intakt bleibt oder sogar erweitert wird. Falls die zwei Fälle bei den öffentlichen Trägern in der Tat vorkommen sollten, würde der erste Fall der ‚privatheitszentriertenދ Restrukturierung zugeordnet werden. Der Fall der Erweiterung der Zuständigkeit der öffentlichen Träger würde als eine ‚öffentlichkeits-privatheitszentrierte ދRestrukturierung bewertet werden, weil die privatheitszentrierte und die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung parallel verlaufen wären. Jeder Bereich der sozialen Sicherungssysteme weist als Bestandteile sechs ‚Elemente ދauf: Leistungsart, erfasster Personenkreis, Anspruchsvoraussetzung, Leistungsniveau und -dauer, Finanzierungsmodus und Trägersystem. Auf der Grundlage der sechs ‚Elemente ދwerden in den folgenden Kapiteln die sozialen Sicherungssysteme von Großbritannien, Schweden und Deutschland ausführlich vorgestellt.
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Veränderungen der drei Länder werden Gemeinsamkeiten der Transformation der drei Wohlfahrtsregimes offenbar. 3.5.4 Begriffliche Erläuterungen für empirische Untersuchung Vor der empirischen Untersuchung werden hier einige Begriffe, die auf alle drei Untersuchungsländer angewendet werden, erläutert. Das Wort ‚universal ދwird in dieser Arbeit bezogen auf Sozialleistungen folgendermaßen definiert: umfassend einbeziehend auf die gesamte Bevölkerung. Der erfasste Personenkreis ist also die Gesamtbevölkerung. Der ‚Universalismus ދbedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Sozialleistung die gesamte Bevölkerung – und zwar ArbeitnehmerInnen, Beamten, Selbständige und nicht Erwerbstätige – in einem Topf erfasst. Das Wort ,universalistisch ދist hier mit dem Wort ‚universal ދsynonym verstanden. Der ‚Selektivismus ދsteht begrifflich dem Universalismus gegenüber. Der Selektivismus bedeutet die Erfassung nur einer Schicht oder Klasse oder Gruppe, also die Auswahl des erfassten Personenkreises aus der Gesamtgruppe. Die Wörter ‚residual ދoder ‚Residualismus ދwerden bei dem Fall angewendet, in dem die bedürftigkeitsprüfende Fürsorgeleistung im wohlfahrtsstaatlichen Gefüge eine sehr große Rolle spielt. Der Residualismus steht dem ‚Institutionalismus ދgegenüber. Als institutioneller Wohlfahrtsstaat wird solcher Staat bezeichnet, in dem die Fürsorgeleistung im Vergleich mit der Versorgungsleistung oder der Versicherungsleistung, welche eine Bedürftigkeitsprüfung nicht voraussetzen, eine sehr marginale Rolle spielt. Der ‚Kollektivismus ދsteht dem ‚Individualismus ދgegenüber. In dieser Arbeit steht die ‚beitragsbezogene ދLeistung begrifflich der ‚beitragsfreien ދLeistung gegenüber. Als die ‚beitragsfreie ދLeistung ist solche definiert, die ohne eine Erhebung eines Beitrags gewährt wird. Demgegenüber bedeutet die ‚beitragsbezogene ދLeistung eine Versicherungsleistung, deren Zahlung auf bereits entrichteten Beiträgen beruht. Die erstere wird also steuerfinanziert und die letztere wird beitragsfinanziert. Die Form des Beitrags ist entweder ein pauschaler Beitrag oder ein einkommensbezogener Beitrag, dessen Höhe anhand der Höhe der Einkommen der Versicherten differenziert wird. Die ‚einkommensbezogene ދLeistung steht begrifflich der ‚pauschalen ދoder ‚einheitlichen ދLeistung gegenüber. Die einkommensbezogene Leistung wird dabei zumeist aus den einkommensbezogenen Beiträgen finanziert. Zur Gruppe der einkommensbezogenen Leistungen gehört z.B. die britische proportionale Rente (graduated pension), deren Höhe nach der Summe der Beiträge berechnet wird. In Großbritannien ist auch das 1978 eingeführte SERPS (State Earnings-
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Related Pension Scheme) eine solche einkommensbezogene Leistung. Hier wird die Höhe der Rente anhand der Höhe der Arbeitsentgelte der einzelnen Versicherten und ihrer eigenen Versicherungsjahre berechnet. Dies ist grundsätzlich unterschiedlich zur nach dem Einzahlungsbetrag berechneten britischen proportionalen Rente, weshalb der Rententyp, dem die proportionale Rente entspricht, hier ‚beitragsproportionale ދLeistung genannt wird; der Rententyp, dem das SERPS entspricht, wird hingegen ‚einkommensproportionale ދLeistung genannt. Beide sind jedoch ‚einkommensbezogene ދLeistungen. Der Grund für diese eigene Definition der genannten Begriffe in dieser Arbeit ist der Umstand, dass nämliche Begriffe in verschiedenen soziologischen, politischen und juristischen Publikationen unterschiedlich definiert sind. Besonders stark sind die Unterschiede bei Untersuchungen und Forschungen zu verschiedenen Ländern. Der Umstand, dass in dieser Arbeit drei Länder verglichen werden sollen, bei deren länderbezogenen Beschreibungen von unterschiedlichen Autoren häufig sehr unterschiedliche Begriffsdefinitionen der nämlichen Begriffe jeweils verwandt wurden, macht die allgemeine Definition für die gesamte vorliegende Arbeit unumgänglich. Hinsichtlich der Beschäftigungsarten folgt diese Arbeit der Klassifikation des statistischen Bundesamtes Deutschlands. Erwerbstätige unterteilen sich in abhängig Beschäftigte und Selbständige. Die abhängig Beschäftigten sind den zwei Gruppen Arbeitnehmer und Beamte zugeordnet. Demnach bedeutet ‚Arbeitnehmer ދin dieser Arbeit lediglich Arbeiter und Angestellte ohne Beamte. Der Grund, aus dem diese Arbeit die Begriffe ‚abhängig Beschäftigter ދund ‚Arbeitnehmer ދstreng differenziert, ist, dass die allgemeinen sozialen Sicherungssysteme Großbritanniens und Schwedens Beamte mit erfassen, während in Deutschland die Beamten aus den allgemeinen Systemen ausgeschlossen sind. Für deutsche Beamten gibt es ein besonderes, exklusives Versorgungssystem. Wenn ein Sozialversicherungssystem auf einer ‚Pflichtversicherung ދberuht, werden die Einzelheiten in Bezug auf die freiwillige Versicherung bzw. die freiwilligen Versicherten innerhalb des Versicherungssystems bei der Darstellung und der Analyse dieser Arbeit ausgeschlossen. Wenn ein Sozialversicherungssystem grundsätzlich einen freiwilligen Eintritt in die Versicherung voraussetzt, werden dann die freiwilligen Versicherten in dieser Arbeit behandelt. Als Beispiel für ein solches Sozialversicherungssystem kann die schwedische Arbeitslosenversicherung genannt werden. Bezogen auf die meist von Land zu Land unterschiedlichen Klassifikationen der Rententypen anhand des Versicherers folgt diese Arbeit der britischen Unterteilung: Gegenüber der öffentlichen Rente (public pension) steht die Privatrente (private pension). Als Privatrenten werden Betriebsrenten (occupational pensions oder collective private pensions oder company pensions) und individuellen
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3 Zur Diversität der Sozialpolitik der europäischen Länder
Renten (individual private pensions), die überwiegend von kommerziellen Versicherungsfirmen angeboten werden, bezeichnet. In dieser Arbeit sind eine ‚volle Rente ދund eine ‚Vollrente ދbegrifflich differenziert: Die volle Rente steht in Beziehung zum Begriff einer ‚anteiligen Renteދ, die eine Rente ist, die aufgrund nicht vollständig erfüllter Beitragsvoraussetzungen gewährt wird und eine Reduktion zur vollen Rente bedeutet. Die Vollrente steht begrifflich in Beziehung zur ‚Teilrenteދ. Die Teilrente kann zum Beispiel gewährt werden, wenn ein Antragsteller noch rentenbegründende Arbeitseinkommen hat (wie bei der heutigen deutschen vorzeitigen Rente) oder wenn er vorerst nur die Hälfte oder einen anderen Bruchteil der Vollrente beziehen möchte (wie im heutigen schwedischen Rentensystem möglich). Die Modi, gemäß denen die kollektiven Sicherungssysteme die Kosten für medizinische Sachleistungen übernehmen können, unterteilen sich grob in das Modell der ‚Staatsbürgerversorgung ދund das Modell der ‚Versicherungsmitgliedschaft( ދSchmid 2002: 275). Das Modell der Staatsbürgerversorgung beruht auf dem Versorgungsprinzip und das Modell der Versicherungsmitgliedschaft basiert auf dem Versicherungsprinzip. Sowohl bei den früheren als auch bei den heutigen Arbeitslosensicherungssystemen der Untersuchungsländer sind die zentralen Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld die ‚allgemeinen ދVoraussetzungen – Meldepflicht, Verfügbarkeit, Zumutbarkeit und aktive Jobsuche. Diese allgemeinen Voraussetzungen beziehen sich unmittelbar auf die allgemeinen Bedingungen der Arbeitsmarktregulierung. Infolgedessen sind die Einzelheiten der allgemeinen Voraussetzungen sehr umfangreich und kompliziert. Angesichts der notwendigen Begrenzung dieser Arbeit werden die allgemeinen Voraussetzungen bei der Darstellung und der Analyse der Arbeitslosensicherung in dieser Arbeit ausgeschlossen. Jedoch werden aufgrund der Themenstellung die ‚besonderen ދVoraussetzungen wie Beitragsvoraussetzung, Mitgliedsvoraussetzung und Bedürftigkeitsprüfung ausführlich untersucht. An ihnen lässt sich erforschen, wie die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld verändert wurden. Durch die Untersuchung der ‚Sanktionen ދim Unterabschnitt Leistungsniveau und -dauer der Arbeitslosensicherung mit einem verstärkten Blick auf die Maßnahmen zur Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme lässt sich erforschen, wie die Regelungen im Rahmen der Gewährung des Arbeitslosengeldes zur der Aktivierung des Arbeitsmarktes beitragen.
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien als Beispiel eines liberalen Wohlfahrtsregimes
4.1 Einleitung 4.1 Einleitung 4.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre Die in Großbritannien am Ende des 18. Jahrhunderts begonnene ‚Industrielle Revolution ދhat eine rasche Industrialisierung und Urbanisierung zur Folge. Zugleich verursachte diese Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert erhebliches Massenelend (hierzu ausführlich Maurer 2005: 318-330). Die Reaktion auf diese soziale Notlage war eine Verstärkung des traditionellen Armenfürsorgegesetzes, das schon seit 1388 existierte. Im Jahre 1834 wurde dieses Gesetz novelliert (the Poor Law Amendment Act). Kernpunkt der Novellierung war zum einen eine Verstärkung des ‚Selbsthilfeދ-Gedankens, der schon das traditionelle Prinzip zur Überwindung der Armut im alten Gesetz darstellte. Das novellierte Gesetz sah eine exakte Differenzierung zwischen ‚arbeitsfähigen ދund ‚arbeitsunfähigen ދArmen vor. 100 Zum anderen orientierte sich das erneuerte Gesetz an dem Prinzip von ‚less eligibilityދ, welches besagte, dass das Leistungsniveau für die Armen geringer sein müsse als der geringste Lohn (Rimlinger 1971: 51-60; Laybourn 1995: 15-35; Schmid 2002: 161). Neben der Novellierung des Armenfürsorgegesetzes wurden im 19. Jahrhundert in Großbritannien nach und nach immer mehr freiwillige und kollektivistische Organisationen für gegenseitige Hilfe, z.B. ‚friendly societiesދ, gegründet (Ogus und Wikeley 2002: 496 f.; Rechmann 2001: 55 f.). Sie gewährten zwar einen Schutz gegen das Risiko der Not im Alter und das Krankheitsrisiko, da sie aber auf gegenseitiger wenn auch zeitverschobener Hilfe beruhten, konnten faktisch nur wirtschaftlich zeitweise potentere Personen Mitglied werden, also nur die qualifizierten, höher bezahlten Arbeiter und Spezialisten (Schmid 2002: 161; Blaustein und Craig 1977: 224). In Bezug auf die Unter100 Vor der Novellierung des Gesetzes hatten Gemeinden auch Arbeitsfähigen, die sich nicht in Arbeitshäusern befanden, Hilfe leisten können. Nun waren sie verpflichtet, arbeitsfähige bedürftige Arme in restriktive Arbeitshäuser zu zwingen, wenn die Gemeinde den Armen helfen wollte.
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
stützung der Armen dauerte im öffentlichen Bereich die Unterscheidung zwischen ‚Deserving Poor ދund ‚Undeserving Poor ދnoch weiter. Am Anfang des 20. Jahrhunderts regten sich verstärkt Widerstände gegen den ‚Geist ދdes Armenfürsorgegesetzes (Greenough und King 1976: 252). Vor dem Hintergrund des anhaltenden, ernsten Armutszustandes der Arbeitenden, des Einflusses des ‚New Liberalismދ101 und des beachtlichen Wachstums der neu gegründeten Arbeitspartei setzte die liberale Partei, die 1905 die Unterhauswahlen gegen die konservative Partei gewonnen hatte, seit 1906 Sozialgesetzgebungen durch, auf denen der moderne britische Wohlfahrtsstaat beruht (Laybourn 1995: 160 ff.). Diese im Verhältnis zum bisherigen Recht radikalen sozialpolitischen Reformen gipfelten schließlich 1911 in der Verabschiedung des ‚Nationalen Versicherungsgesetzes( ދNational Insurance Act), das das erste ‚Sozialversicherungsgesetz ދin Großbritannien war. Vor der Einführung des ‚Nationalen Versicherungsgesetzes ދwaren zwei wichtige Gesetze in Bezug auf die soziale Sicherung, davon eines bereits vor dem liberalen Wahlsieg, eingeführt worden: Das ‚Arbeitsunfallgesetz( ދWorkmen’s Compensation Act) im Jahr 1897 und das ‚Rentengesetz( ދOld Age Pensions Act) im Jahr 1908. Das ‚Arbeitsunfallgesetz ދsah zwar nur ein sehr bescheidenes Vergütungssystem für ArbeitnehmerInnen vor, die bei Arbeitsunfällen oder infolge von Berufskrankheiten zu Schaden gekommen waren, aber es ließ ein Sozialversicherungssystem erahnen: Die Verpflichtung der Finanzierung wurde nur den ArbeitgeberInnen auferlegt; die Entschädigungsleistung war sehr gering, jedoch wurde die finanzielle Entschädigung für die bei einem Arbeitsunfall verletzten ArbeitnehmerInnen unabhängig von der Prüfung ihrer Armut oder Arbeitsbereitschaft gewährt (Ogus und Wikeley 2002: 713). Das ‚Rentengesetz ދ1908 gewährte über 70-jährigen Personen eine steuerfinanzierte und pauschalisierte Rente. Auch wenn die Rente eine Fürsorgeleitung war, bedeutete sie, dass die staatliche Beihilfe aus dem Prinzip des Armenfürsorgegesetzes herauskam: “[A]t least the principle was established that in certain circumstances anyone over 70 was entitled to support from the state.” (Ogus und Wikeley 2002: 590) Durch das ‚Nationale Versicherungsgesetz ދ1911 wurde eine Kranken- und Arbeitslosenversicherung eingeführt: Sie war eine ,,compulsory insurance against unemployment for workers in certain industries and against medical costs and loss of earnings through sickness for lower-paid workers.“ (Greenough und King 1976: 252) Für die Leistungen wurden Beiträge von den Versicherten und ihren Arbeitgebern erhoben. Der Staat subventionierte das Versicherungssystem 101 Der ‚Neue ދLiberalismus entstand als ein Widerhall gegen den klassischen Liberalismus, der auf ‚laissez faire ދberuht. Zwei wichtige hier zu nennende Theoretiker des ‚Neuen ދLiberalismus sind John Stuart Mill und Thomas Hill Green.
4.1 Einleitung
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(Ogus und Barendt 1978: 79, 138 f.). Der Erlass dieses Sozialgesetzes bedeutete die Fertigstellung der vier Grundpfeiler der Sozialversicherungssysteme in Großbritannien zur Absicherung gegen die vier Risiken: Unfall 1897, Not im Alter 1908, Arbeitslosigkeit 1911 und Krankheit 1911. 1925 wurde das ‚beitragsbezogene ދHinterbliebenen- und Altersrentensystem (Widow’s, Orphans’ and Old Age Contributory Pension Act) eingeführt (Ogus und Barendt 1978: 191). 1929 wurde der Begriff ‚Armenfürsorge( ދPoor Law) durch den fortschrittlicheren und weniger diskriminierenden Begriff ‚öffentliche Hilfe( ދpublic assistance) ersetzt (Greenough und King 1976: 252). Damals schützten die Kranken- und Arbeitslosenversicherung und das neue Rentensystem unter anderem ArbeitnehmerInnen mit niedrigem Einkommen. Selbständige und nichterwerbstätige Personen waren dadurch nicht abgesichert (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 164). Am Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in Großbritannien noch einmal zu grundlegenden Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Grundlage dieser Reformen war der 1942 veröffentlichte sog. ‚Beveridge Report( ދBeveridge 1942), der durch das Schlagwort ‚cradle to grave ދals Sinnbild der idealtypischen Gesellschaft berühmt wurde. Eigentlich hatte die Regierung Beveridge bei der Anforderung des Reports damit beauftragt, die administrative Integration der hier und dort verorteten, strukturell unzusammenhängenden Gesetze über Sozialleistungen zu planen. Über den Zweck der administrativen Integration hinaus legte Beveridge allerdings einen geradezu historischen Plan für ein viel fortgeschritteneres Sozialsystem vor. Er hatte schon zuvor großes Interesse an den Sozialfragen der Armut und der Arbeitslosigkeit gehabt. Nun konzipierte er ein universalistisches Transferleistungssystem, um den Lebensunterhalt sowohl der ArbeitnehmerInnen als auch der übrigen Bevölkerung gegen alle sozialen Ereignisse, die ihre Einkommen unterbrechen, abzusichern (Shragge 1984: 27 ff.). Der Kern des Vorhabens von Beveridge bestand aus der ‚Sozialversicherung( ދNational Insurance) zur Befriedigung des grundlegenden Bedarfs, der ‚Sozialhilfe( ދNational Assistance) als ein ‚letztes Sicherheitsnetz ދfür diejenigen, die die Anspruchsvoraussetzungen für die Transferleistungen aus der Sozialversicherung nicht erfüllten oder nicht erfüllen können, und schließlich der von nichtstaatlichen Institutionen geleisteten ‚freiwilligen Versicherung ދzur Einkommenssicherung über das nationale Versicherungsminimum hinaus (Beveridge 1942: 120 f.; Ginsburg 1992: 142). Beveridge zufolge sollte die Sozialversicherung bei einem Einkommensausfall aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter usw. in ‚angemessenerދ Höhe ein soziales Existenzminimum garantieren. In der Folge sollte die eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzende Sozialhilfe lediglich von marginaler Bedeutung sein (Beveridge 1971; 1942: 120-123).
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Um diese sozialen Sicherungssysteme erfolgreich aufzubauen, wurde von Beveridge zudem die Einführung der drei weiteren Politiken vorgeschlagen: Ein ‚Nationales Gesundheitssystem( ދNational Health Service, NHS), das der gesamten Wohnbevölkerung unentgeltlich offen stehen sollte, ein ‚Kindergeldދ (Children’s Allowance) und staatliche Programme zum Erreichen der Vollbeschäftigung (maintenance of employment) (Beveridge 1942: 120). 1945 übernahm die Arbeitspartei dank gewonnener Wahlen102 die Regierung und begann, den Beveridge-Plan umzusetzen: Im gleichen Jahr wurde das Kindergeld (The Family Allowance Act) eingeführt. Im Jahr 1946 wurde das Gesetz über die Sozialversicherung (National Insurance Act) und das Gesetz über das Nationale Gesundheitssystem (National Health Service Act) verabschiedet. Anschließend wurde 1948 das Gesetz über die Sozialhilfe (National Assistance Act) erlassen. Das nationale Sozialversicherungssystem umfasste die gesamte Bevölkerung und basierte auf einkommensunabhängigen, pauschalisierten Beitragsund Transferleistungssätzen. Zudem wurden die Beiträge nicht nach Leistungsbereichen differenziert, sondern für die ganze Sozialversicherung vereinheitlich entrichtet. Demgegenüber wurden die bedarfsorientierten Sozialhilfeleistungen und das auf dem Versorgungsprinzip beruhende Kindergeld steuerfinanziert (Shragge 1984: 43 ff.). Die Kosten für das Gesundheitssystem, also das NHS-System, wurden auch aus Steuermitteln erbracht. Eine umfassende kostenfreie Gesundheitsversorgung wurde verkündet (Boulton 1972: 206). In der Folge wurden fast alle Krankenhäuser verstaatlicht und die niedergelassenen Ärzte blieben zwar formal selbständig, aber ihre Einnahmen entsprachen den mit dem Staat vertraglich vereinbarten Kopfpauschalen für behandelte Patienten (Greer 2006: 496).103 102 Während die konservative Partei deutlich Vorbehalte gegen die Verwirklichung des BeveridgePlans zeigte, versprach die Arbeitspartei öffentlich, den Plan umzusetzen. Bei den Parlamentswahlen, die kaum zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattfanden, gewann die Arbeitspartei mit dieser Verwirklichung als Hauptwahlversprechen 48,3 % der Unterhaussitze. Die Arbeitspartei besiegte die von dem Heroen des Zweiten Weltkriegs, Winston Churchill, geführte konservative Partei (39,8 %) und wurde die Regierungspartei (vgl. Shragge 1984: 34-43; Sturm 1999: 4). Der Erdrutschsieg der Arbeitspartei spiegelte den großen Wunsch der britischen Bevölkerung nach einer neuen Gesellschaft wider: „Sie erhofften sich das, was Labour im Wahlkampf versprochen hatte: Ein »Neues Jerusalem«, d.h. einen Wohlfahrtsstaat mit angemessenen Wohnungen und Renten, umfassender Gesundheitsfürsorge sowie der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und einer Reduzierung von Klassenprivilegien.“ (Greer 2006: 496) 103 Die britische Regierung wollte am Anfang alle Ärzte zu vollzeitangestellten Bediensteten des Gesundheitsministeriums machen. Allerdings scheiterte der Plan nach längeren Auseinandersetzungen mit den Ärzten (siehe Gill 1980: 98 ff.). Das Ergebnis des Kompromisses zwischen dem Staat und den Ärzten war, dass die Ärzte an den Staat vertraglich gebunden wurden und
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Im Verlauf der Umsetzung des Beveridge-Plans entstand jedoch eine große, ausschlaggebende Differenz zwischen dem Originalmodell und dem in der Tat errichteten System. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise nach der Überlastung des Landes infolge der sechs Jahre Krieg wurden die pauschalen Leistungen der Sozialversicherung „wegen anderweitiger staatlicher Ausgaben“ (Devetzi 2003: 392) auf einem so niedrigen Niveau festgesetzt, dass das soziale Existenzminimum nicht ausreichend befriedigt werden konnte. Somit wurde das ‚Prinzip der Angemessenheitދ, eines der sechs Prinzipien der Sozialversicherung nach Beveridge (Beveridge 1942: 120, 122), missachtet. Da die Sozialversicherungsleistungen unzureichend waren, wuchsen die Ausgaben für die Sozialhilfe stark an (Schmid 2002: 172 f.; Devetzi 2003: 392). Entgegen dem ursprünglichen Plan gewann die bedarfsabhängige und stigmatisierende Sozialhilfe erheblich an Bedeutung. Sie übernahm die Rolle als „reguläre Ergänzung“ (Schmid 2002: 172). Bis zur Mitte der 70er Jahren wurden mehrere Reformen durchgeführt, um die in den gleich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildeten, Systemen immanenten Probleme zu bewältigen. Die wichtigen, aus Reformen resultierenden Veränderungen in Bezug auf die Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung werden im Folgenden beschrieben. In den Jahren nach der Einführung der Sozialgesetze stiegen die Löhne vieler Beschäftigten erheblich an. Die Streuung um den Mittelwert wuchs. Das Phänomen bedeutet, dass die Wirklichkeit sich von einem Prinzip des BeveridgeReportes, welches besagte, dass alle Beschäftigten gleiche Beiträge zahlen und ab Vollendung des 65. Lebensjahres gleiche Renten beziehen, abwandte (Greenough und King 1976: 254). Außerdem lastete damals auf der Sozialversicherung ein schweres Defizit (Ogus und Wikeley 2002: 583). Als eine Reaktion auf diese Probleme wurde 1961 eine einkommensbezogene ‚proportionale Rente( ދgraduated pension scheme) eingeführt (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 165). Die Rente war nicht für alle Erwerbstätigen, sondern nur für abhängig Beschäftigte. Getrennt neben den vorhandenen pauschalen Beiträgen wurden die einkommensbezogenen Beiträge von ihnen und ihren ArbeitgeberInnen entrichtet. Im Rentenfall wurde aus den Beiträgen eine beitragsproportionale Rente gewährt. Die abmit einer Kopfpauschale gemäß der Behandlung einer bestimmten Anzahl von Patienten honoriert wurden. Ihr formal unabhängiger Status war so „mehr eine begriffliche Schöntuerei denn reale Autonomie“. (Greer 2006: 496) Diese ‚privaten ދärztlichen Dienstanbieter hingen so stark vom Staat ab, dass sie praktisch bei ihm angestellt waren. Trotz dieses ‚unfreien ދStatus nahmen nahezu alle Ärzte an den Vertragsverhältnissen teil: “[O]nly a small minority of specialist consultants, about 2 per cent of general medical practitioners and a practically negligible number of dentists, retail pharmacists, ophthalmologists and opticians, take no part at all in the National Health Service.” (Reference Division 1973: 9)
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
hängig Beschäftigten, die in ein anerkanntes Betriebsrentensystem eintraten, konnten gemäß der ‚Contracting-outދ-Regelung von der staatlichen proportionalen Rente befreit werden (Pilch und Wood 1974: 40-45; Reference Division 1969: 11 ff.). Die ‚Contracting-outދ-Regelung sollte die Konkurrenz zwischen der staatlichen einkommensbezogenen Rente und der privaten Betriebsrente vermeiden (Ogus und Wikeley 2002: 583). Selbst bei Ergänzung der pauschalen Rente mit der einkommensbezogenen Rente blieb allerdings der Gesamtbetrag der staatlichen Renten genau auf dem Niveau oder leicht unter dem Niveau des Existenzminimums (Greenough und King 1976: 254). In der Folge wurde nach einem hitzigen Disput und einer parlamentarischen Auseinandersetzung über die staatlichen Renten in den frühen 70er Jahren104 eine neue einkommensbezogene Zusatzrente, ‚State Earnings-Related Pension Scheme( ދSERPS), im Jahr 1978 eingeführt. Das SERPS erfasste ebenfalls lediglich abhängig Beschäftigte. Es war eine einkommensproportionale Rente, deren Höhe 25 % des Durchschnittsverdienstes der einkommensstärksten 20 Jahre der einzelnen Versicherten entsprach. Die neue Rente behielt ebenfalls die Contracting-out Regelung bei (Rechmann 2001: 64-67; Torrey und Thompson 1980: 57). Parallel zur Einführung des SERPS wurde 1975 der einkommensbezogene Beitrag für die proportionale Rente abgeschafft und der pauschale Sozialversicherungsbeitrag für abhängig Beschäftigte und für ArbeitgeberInnen durch einen neuen einkommensbezogenen Beitrag ersetzt. Außerdem mussten nun die Selbständigen mit dem Einkommen über einem bestimmten Betrag neben ihren pauschalisierten Beiträgen zusätzlich einkommensbezogene Beiträge ohne Auswirkung auf die Höhe der Leistungen für Selbständige oder auf zusätzliche Ansprüche bei der Sozialversicherung abführen. Ihre Beiträge waren „praktisch eine Sozialversicherungssteuer für Besserverdienende“ (Devetzi 2003: 395). Ziel der Einführung dieser neuen Beiträge für Selbständige war es, mehr finanzielle Mittel für das Sozialversicherungssystem bereitzustellen (Ogus und Barendt 1978: 46-63). Auch wenn die proportionale Rente im Zuge der Einführung des SEPRS abgeschafft wurde, wird sie bis heute den Personen, die im Zeitraum von 1961 bis 1975 die Beiträge für sie entrichtet haben, weiter gezahlt. 1966 wurden einkommensbezogene Ergänzungsleistungen zum Arbeitslosengeld, zum Krankengeld und zu den Witwenleistungen eingeführt. Sie erfassten abhängig Beschäftigte (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 165). Auch wenn dieser Leistungstyp als ‚Ergänzungsleistun104 Die Auseinandersetzung im Parlament über die neue Rente wird im folgenden Abschnitt ausführlich dargestellt.
4.1 Einleitung
133
gen( ދsupplements) bezeichnet wurde, war sein Charakter ganz unterschiedlich von dem Charakter der allgemeinen Zuschläge, die wie Kinder- oder Ehefrauenzulage bei bestimmten Regelleistungen gegebenenfalls zusätzlich gewährt werden. Neben den einheitlichen Beiträgen für die Sozialversicherung und den einkommensbezogenen Beiträgen für die proportionale Rente wurden neue einkommensbezogene Beiträge für die Finanzierung der einkommensbezogenen Ergänzungsleistungen abgeführt. 105 Anders als bei der proportionalen Rente durften sich die abhängig Beschäftigten von den obligatorischen Versicherungsleistungen nicht befreien lassen (Reference Division 1969: 11). Die Einführung der einkommensbezogenen Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Witwenschaft wurde mit der Einführung der einkommensbezogenen Renten als ein entscheidender Fortschritt des britischen Wohlfahrtsstaates, der über die vorhandenen uniformierten, einheitlichen Leistungssysteme sich hinaus erhob, gesehen (vgl. Ogus und Barendt 1978: 424 f.). Für die Finanzierung des NHS war viel mehr Geld notwendig, als man anfangs geschätzt hatte (Ham 2004: 16, 73). Vor diesem Hintergrund wurde das Prinzip der umfassenden kostenfreien Dienste aufgegeben und Selbstbeteiligung der Patienten eingeführt. NHS-Gebühren für z.B. Verschreibungen und zahnärztliche Behandlungen wurden von Patienten erhoben (Boulton 1972: 206). Im Jahr 1974 wurde eine umfassende Reform des NHS-Systems durchgeführt (siehe Ham 2004: 22-28). Dabei ging es hauptsächlich um eine Reorganisation des Trägersystems, um „das organisatorische Durcheinander, welches der NHS vom Gesundheitsdienst vor 1948 geerbt hatte“ (Greer 2006: 497), zu beseitigen. Außerdem wurde 1971 eine Invalidenleistung (invalidity benefit) eingeführt, die nur den Behinderten zugute kam, die nicht durch die Sozialleistungen für die Opfer eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit entschädigt wurden (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 165).
105 Die Höhe der Beiträge für die einkommensbezogenen Ergänzungsleistungen betrugen z.B. 1969 50 % des Teils der wöchentlichen Löhne der abhängig Beschäftigten, der zwischen 9 £ und 13 £ lag. Ihre ArbeitgeberInnen zahlten den gleichen Betrag (Reference Division 1969: 12). Die Höhe der einkommensbezogenen Ergänzungsleistungen entsprach fast dem Niveau der einheitlichen Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Witwenschaft. Z.B. betrug 1975 die wöchentliche Höhe der einkommensbezogenen Leistung für die abhängig Beschäftigten mit durchschnittlichen Entgelten 9,3 £, während der Betrag des einheitlichen Arbeitslosengeldes 11,10 £ betrug (Blaustein und Craig 1977: 229).
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der britischen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg Großbritannien wurde oft als ein typisches Beispiel für eine „stalled“ Sozialdemokratisierung (Esping-Andersen 1999: 87) eingeschätzt: „Britain falied to take the decisive steps toward a social democratic model already in the 1960s“ (Esping-Andersen 1999: 173; Hervorhebung von I.R. Baek). Warum überwand der britische Wohlfahrtsstaat trotz des Erdrutschsiegs der Arbeitspartei 1946 und des konkreten sozialpolitischen Plans, also des BeveridgePlans, nicht die liberale Tradition, die im Armenfürsorgegesetz wurzelt? Die vorrangige Ursache ist wohl, dass es der Arbeitspartei nicht gelang, langfristig, ununterbrochen an der Regierung zu bleiben. Nach dem Sieg von 1945 verlor Labour bereits 1951 die Macht und die Konservativen regierten das Land, bis die Arbeitspartei 1964 mit einem knappen Wahlsieg wieder für sechs Jahre die Regierung stellen konnte. Auch von 1974 bis 1979 regierte Labour mit nur einer knappen Mehrheit (siehe Sturm 1999: 4). Die britische Arbeitspartei hatte also keine Gelegenheiten, um – wie die Sozialdemokraten Schwedens – auf längere Zeit ihre sozialdemokratische Politik konsequent durchzuführen. Laut Schmid (2002: 174) war es ein Manko der Entwicklung der britischen Sozialpolitik, „dass der Wohlfahrtsstaat in Großbritannien niemals durch einen derart tiefgreifenden gesellschaftlichen Konsens getragen wurde, wie dies insbesondere in Schweden der Fall ist.“106 In den Jahren zwischen 1945 und 1979, in denen die Arbeitspartei nicht die Regierung stellte, regierte die konservative Partei, die die britischen BourgeoisKlassen vertritt.107 Ihre Sozialpolitik wurde als Anti-Kollektivismus, als Widerwille gegen einkommensbezogene Sozialleistung und als ein starker Schub auf die Ausschließlichkeit bedürftigkeitsprüfender Leistungsordnungen hin bezeichnet (Ginsburg 1992: 142; Shragge 1984: 64 ff.; Ogus u.a. 1988: 14). Diese 106 Als die Ursachen für den wiederholten Verlust der Regierungsgewalt durch Labour und die zahlreichen verlorenen Wahlen der Arbeitspartei werden folgende häufig erwähnt: die inneren Probleme der britischen Arbeiterbewegung und des Gewerkschaftswesens; die für Labour negative politische Ausrichtung der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits erweiterten Mittelschichten, also der Umstand, dass sich die anwachsenden Mittelklassen eher den Konservativen zuwandten; die Konflikte innerhalb der Arbeitspartei; und die Schwäche der nationalen Wirtschaft Großbritanniens. Diese Schwäche war so groß, dass 1976 Großbritannien sich an den internationalen Währungsfonds wenden musste und sich in die Interventionen und die Kontrolle des IWF über die britischen Wirtschafts- und Sozialsysteme fügen musste. Ausführlichere Erklärungen über die Ursachen finden sich in den folgenden Publikationen: Heclo 1974; Scase 1977; Dunleavy 1989; Esping-Andersen 1990; Crouch 1993; und Taylor-Goodby 1996a. 107 Die liberale Partei wurde wegen der innerparteilichen Spaltung in den 1920er Jahren rasch geschwächt. Nach dem Niedergang der liberalen Partei wurde die konservative Partei allmählich die allein vertretende Partei der britischen Bourgeoisien.
4.1 Einleitung
135
Orientierung stand der sozialpolitischen Leitlinie der Arbeitspartei geradezu diametral gegenüber. Nach dem Antritt des ersten Thatcher-Kabinetts 1979 regierte die konservative Partei 18 Jahre ununterbrochen Großbritannien. Unter den Konservativen, die damals als ‚the New Right ދbezeichnet wurden, setzte eine radikale Reform, faktisch eine Demontage, des britischen Wohlfahrtsstaates ein. Die residualen Maßnahmen wurden ständig verstärkt und das Erbe der Arbeitspartei wurde vernichtet. So wurden 1982 die einkommensbezogenen Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit abgeschafft. 1986 wurde die Lohnersatzrate des SERPS von 25 % auf 20 % reduziert. 1990 wurde der einkommensbezogene Anteil der Invalidenrenten abgeschafft (Ogus und Wikeley 2002: 522; Foreign & Commonwealth Office 1991: 174). Nach dem Wahlsieg der Arbeitspartei 1997 gelangte Blairs Labour mit den Schlagwörtern ‚Dritter Weg ދund ‚New Labour ދzur Regierung. Die Ansätze von ‚New Labour ދweichen dabei erheblich von den klassischen Forderungen der britischen Arbeitspartei ab. Sie hat sich „demonstrativ von allen linken Traditionsbeständen – und insbesondere von den engen Bindungen zu den TUC-Gewerkschaften (und ihrem linken Flügel) – distanziert. New Labour trat mit der Losung «Wir machen den besseren Kapitalismus!» an.“ (Deppe 2005: 12) Die von den Konservativen herausgebildete Wirtschaft- und Finanzpolitik wird unter der BlairRegierung auch fast ohne Änderung weiter durchgeführt (Schmid 2002: 174 f.). Im Bereich Sozialpolitik können ebenfalls maßgebliche Gemeinsamkeiten mit der Politik der konservativen Partei bemerkt werden (Fülberth 2005: 275). Der einzige große Unterschied zu den sozialpolitischen Schwerpunkten der konservativen Partei war scheinbar die Betonung der Bildung unter dem Schlagwort ‚welfare to work( ދSchmid 2002: 174 f.; 2003: 251).108 Durch die Untersuchung des Residualismus und der privaten Wohlfahrtsproduktion, die nach Esping-Andersen die typischen Merkmale des liberalen Wohlfahrtsstaates sind, lässt sich die liberale Wohlfahrtsstaatlichkeit des früheren und heutigen britischen Wohlfahrtsstaates deutlich feststellen: Da die pauschalen Leistungen der Sozialversicherung auf einem sehr niedrigen Betrag festgesetzt erhalten blieben, nahmen die Zahl der EmpfängerInnen von den Sozialhilfeleistungen und die Ausgabensumme für die Sozialhilfeleistungen ständig deutlich zu. Daher spielen die ‚stigmatisierenden ދFürsorgeleistungen in Großbritannien eine Rolle als „reguläre Ergänzung“ (Schmid 2002: 172).
108 Die Grenzen und die Probleme der Aktivierungspolitik der Blair-Regierung wurden bereits im Zusammenhang mit der sozialpolitischen Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates in der postfordistischen Ära im Kapitel 3 erklärt. Siehe den Unterabschnitt 3.4.2.2.
136
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
1971 erhielten zum Beispiel 8,2 % der Gesamtbevölkerung ‚Supplementary Benefitދ, die damals die dominante Fürsorgeleistung Großbritanniens war.109 Ca. 72 % der EmpfängerInnen der ‚Supplementary Benefit ދbezogen diese parallel zu Sozialversicherungsleistungen (für ausführliche Zahlen siehe Lynes 1972: 18). 1996 bekamen 12,2 % der gesamten Bevölkerung ‚Income Supportދ. Rund 84 % dieser EmpfängerInnen bezogen ‚Income Support ދund gleichzeitig Sozialversicherungsleistungen (siehe Department of Social Security 1999: 41 und 54).110 Durch einen Vergleich mit den Empfängerquoten von ‚Hilfe zum Lebensunterhalt ދin Deutschland, also den Empfängerquoten des Geldleistungsanteils der deutschen Sozialhilfe, welche 1 % der gesamten Bevölkerung im Jahr 1974 und 3,1 % im Jahr 2002 (Lampert und Althammer 2004: 326) betrugen, ist erkennbar, dass sowohl die heutige als auch die frühere Empfängerquote der englischen Sozialhilfe relativ sehr hoch sind. Die privaten Sicherungspläne, vor allem im Bereich der Renten, haben sich in Großbritannien durch staatliche Unterstützungen beträchtlich entwickelt (Torrey und Thompson 1980: 57; Devetzi 2003: 402). Die Privatrenten können gemäß der ,Contracting-outދ-Regelung an die Stelle der staatlichen Rente treten. In Schweden und in Deutschland können ArbeitnehmerInnen auch in eine Privatrente einzahlen. Anders als in Großbritannien ist die Privatrente jedoch eine zusätzliche Absicherung. Sie haben keine Möglichkeit, sich von der Pflichtzugehörigkeit zum staatlichen Rentensystem befreien zu lassen. Neben der ,Contractingout‘-Regelung ist das sehr bescheidene Rentenniveau der staatlichen Renten in Großbritannien ein Anreiz zum Wechseln zu einer privaten Rentenversicherung: “[T]he basic flat-rate state pension was never adequately supplemented with a public-sector second-tier earnings related scheme” (Esping-Andersen 1990: 87).111 1967 wurden 53 % der abhängig Beschäftigten Großbritanniens von den Betriebsrenten versichert (Association of British Insurers 2000: 17). 1997 waren 64 % aller abhängig Beschäftigten durch die ,Contracting-out‘-Regelung durch
109 Die ‚National Assistance ދwurde 1966 durch die ,Supplementary Benefit ދersetzt. 110 1988 wurde die ,Supplementary Benefit ދin die ‚Income Support ދumbenannt. Weil im Zuge der im Oktober 1996 stattgefundenen Einführung des ‚Income-based Job Seeker Allowanceދ für Arbeitslose ohne die Berechtigung für Arbeitslosengeld das ‚Income Support ދnicht mehr an Arbeitsfähige gezahlt wird, wurden aus Gründen der Vergleichbarkeit die Quoten des Jahres 1996 vor dieser Änderung gewählt. 111 Während am Ende der 70er Jahre die Einkommensersatzrate des SEPRS auf der Grundlage der 20 Beitragsjahre 25 % betrug, belief sie sich bei dem betrieblichen Altersversorgungssystem nach 40 Jahren auf 55 bis 66,7 % (Torrey und Thompson 1980: 57).
4.1 Einleitung
137
Privatrentenversicherungen 112 versichert. Nur die restlichen 36 % waren beim staatlichen SERPS versichert (Association of British Insurers 2000: 12). Die Mehrheit der abhängig Beschäftigten ist nicht im System der staatlichen einkommensbezogenen Rente abgesichert, sondern zahlt nur Beiträge für Privatrenten. Allerdings kommen die Leistungen der Privatversicherer überwiegend nur qualifizierten ArbeitnehmerInnen zugute: ,,Bezieher niedriger Einkommen und Personen, die häufig ihren Arbeitgeber wechseln oder für längere Zeit aus dem Arbeitmarkt ausscheiden, können nicht in den Genuss oder Vorteile privater Vorsorge kommen.“ (Devetzi 2003: 413) Sie sind weiterhin auf die niedrigen staatlichen Renten und Fürsorgeleistungen angewiesen. Angesichts dieses institutionellen Charakters wird die ‚Stratifizierung ދdes liberalen Wohlfahrtsstaates, und zwar die dualistische Schichtungsordnung oder der klassenpolitische Dualismus, immer mehr verstärkt. Wie oben erklärt wurde, beruht der britische Wohlfahrtsstaat im Wesentlichen auf dem liberalen Typ. Anders als der amerikanische liberale Wohlfahrtsstaat behält er allerdings infolge der Einflüsse des Beveridge-Plans und der arbeitsparteigeführten Regierungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch universalistische Elemente. Demnach werden die britischen Wohlfahrtssysteme schließlich als eine Hybridform des liberalen Musters bezeichnet, in der in universalistischer Rahmenbedingung der Residualismus sich innerstrukturell verfestigt und der Markt bei der Wohlfahrtsproduktion weiterhin die ausschlaggebende Rolle spielt. Der britische Wohlfahrtsstaat wird demzufolge als ein ‚liberal-labour ދModell (Castles 1993; 1996) oder ein ‚liberal-kollektivistischesދ Modell (Ginsburg 1992: 141 f.) benannt.113 112 Bis vor 1988 konnten lediglich die Betriebsrenten gemäß der Contracting-out-Regelung an die Stelle der staatlichen Renten treten. Ab 1988 kann man sich auch zugunsten einer individuellen Privatrente befreien lassen. 113 Während der schwedische Wohlfahrtsstaat das Modell ist, in dem der Universalismus und der Institutionalismus ineinander verflocht sind, ist der amerikanische Wohlfahrtsstaat das typische Modell, in dem der Selektivismus und der Residualismus miteinander verknüpft sind. Im britischen Wohlfahrtsstaat ist die Rahmenbedingung zwar universal, aber die residualen Elemente sind innerstrukturell verstärkt ausgeprägt. Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist zwar institutionell, aber durch den Selektivismus, und zwar durch die Fokussierung auf den Teil der Arbeitnehmerschaft in Normalarbeitsverhältnissen, stark geprägt. Tabelle 5: Beispiele der vier Charaktere des Wohlfahrtsstaates Universalismus Selektivismus Quelle: Eigene Darstellung
Institutionalismus Schweden Deutschland
Residualismus Großbritannien USA
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 4.2.1 Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme Von der Etablierungszeit der neuen Systeme der sozialen Sicherung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an wurden die Beiträge für die Sozialversicherungssysteme als Ganzes abgeführt. Die Höhe der Beiträge war je nach Status, also ob jemand abhängig Beschäftigter oder Selbständiger war, unterschiedlich. Bei den ihnen zustehenden Leistungen gab es ebenfalls Unterschiede. Anders als bei der Darstellung der schwedischen und deutschen Systeme der sozialen Sicherung ist es daher bei der Erklärung der britischen Systeme notwendig, zunächst ihr Finanzierungssystem synthetisch darzustellen.114 114 Bei der Darstellung der britischen sozialen Sicherungssysteme der 1970er Jahre wurde das Basisjahr 1978 gewählt. Dass das Basisjahr anders als bei der Darstellung der schwedischen und deutschen Systeme nicht eines der Mitte der 70er Jahre, sondern eher am Ende der Dekade verortet ist, ist auf die Besonderheiten der Entwicklung der britischen Systeme der sozialen Sicherung zurückzuführen. Nach dem hitzigen Disput der Zusatzrente in den frühen 70er Jahren hatte die damalige Regierungspartei, die konservative Partei, 1973 ein ‚Gesetz Sozialer Sicherung( ދsocial security act) verabschiedet, in dem eher die privaten Betriebsrenten als die staatliche Rente begünstigt wurden: “[T]he 1973 act requried all employers after April 1975 to offer employees a private occupational pension plan or, alternative, to make provision for them through an especially established State Reserve Pension Scheme, a system based wholly on contributions paid in on a “value for money” basis, i.e., the defined contribution approach.” (Greenough und King 1976: 256) Beim ‚Defined-Contributionދ-System wird ein zu zahlender Beitrag festgelegt: „Am Ende der Beitragsbiographie wird mit den akkumulierten Beiträgen, die meist in einer bestimmten Weise aufgezinst werden, eine Leistung am Markt gekauft.“ (Rechmann 2001: 160). Außerdem waren im Gesetz die Abschaffung der proportionalen Rente und die Einführung des neuen einkommensbezogenen Beitrags für abhängig Beschäftigte eingeschlossen. Und das geplante Jahr des Inkrafttretens des Gesetzes war 1975 (Greenough und King 1976: 254 f.; Ogus und Barendt 1978: 194). Allerdings gelangte 1974 vor der allgemeinen Durchführung des Gesetzes die Arbeitspartei wieder an die Regierung. Sie stoppte die neue Zusatzrente und konzipierte stattdessen eine andere neue Zusatzrente, das SERPS. Anders als das ,Defined-Contributionދ-Rentensystem der konservativen Partei beruhte das SERPS auf einem ,Defined-Benefitދ-System. Beim ,DefindedBenefitދ-System ist die Höhe des Beitrags zwar ein unbestimmter Faktor, aber die Leistungsbemessung wird in einer bestimmten Form klar festgelegt. Die Intention der Arbeitspartei bei der neuen Zusatzrente lag vor allem auf ,,helping lower-paid employees who will receive a higher proportion of their earnings as pension than will higher-paid employees.“ (Greenough und King 1976: 258) 1975 wurde das neue Gesetz Sozialer Sicherung der Arbeitspartei verabschiedet. In diesem Gesetz wurde demzufolge die Rolle des Staates auf Kosten der privaten Institution verstärkt, es lief also geradezu konträr dem Gesetz der Konservativen. Das Gesetz der Arbeitspartei trat 1978 in Kraft (Ogus und Barendt 1978: 223-225; Greenough und King 1976: 255-258; dazu noch ausführlicher Shragge 1984: Kapitel 4). Für diese Arbeit ist aufgrund der unklaren Gesetzeslage der Jahre 1973-1977 infolge des Regierungswechsels und der beiden so konträren Gesetze die Zeit Mitte der 1970er Jahre sehr
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
139
4.2.1.1 Eine Übersicht über das Finanzierungssystem Aus dem Sozialversicherungsbeitrag (National Insurance Contribution) wurden der A- und B-Typ der Altersgrundrente (basic retirement pensions A and B), Krankengeld (sickness benefit), Invalidenleistung (invalidity benefit), Arbeitslosengeld (unemployment benefit), Mutterschaftsleistungen (maternity benefits), Witwenrente (widow’s benefits), Sterbegeld (death grant) gezahlt. Außerdem wurden das SERPS und die einkommensbezogenen Ergänzungsleistungen zum Arbeitslosen- und Krankengeld aus den Beiträgen gewährt. Die Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (industrial injuries benefits) wurden, obwohl es eine Versorgungsleistung war, auch aus dem Sozialversicherungsfonds (national insurance fund) gezahlt, der im Wesentlichen im Umlageverfahren durch die Sozialversicherungsbeiträge finanziert wurde. (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 126; Ogus und Barendt 1978: 45) Neben der Finanzierung der beitragsbezogenen Leistungsbereiche wurde ein Teil der Sozialversicherungsbeiträge zur Finanzierung für das NHS, den Fonds für freigesetzte Arbeitskräfte (Redundancy Fund) und den Fonds für Mutterschaftszahlung (Maternity Pay Fund) mit herangezogen. Demgegenüber wurden 18 % des Gesamtaufwandes für die beitragsbezogenen Leistungen durch staatliche Zuschüsse (Treasury Supplement) aus allgemeinen Steuern finanziert (Ogus und Barendt 1978: 45 f.). Das NHS-System wurde überwiegend aus Steuern finanziert. Etwa 8 % der Gesamtaufwendungen wurden im Jahr 1975 durch die Sozialversicherungsbeiträge abgedeckt (Weltgesundheitsorganisation 1983: 232). Die beitragsfreien Leistungen, d.h. die Versorgungsleistungen wie das Kindergeld oder wie die C- und D-Typen der Altersgrundrenten und die Fürsorgeleistungen wie die Sozialhilfe (supplementary benefit) oder wie die Ergänzung zum Familieneinkommen (familiy income supplement), wurden ausschließlich aus Steuermitteln finanziert (Ogus und Barendt 1978: 45). ungeeignet als einer der temporären Fixpunkte: Das 1973 verabschiedete Gesetz Sozialer Sicherung der konservativen Partei trat 1975 in Kraft. Anhand des Gesetzes wurde die proportionale Rente abgeschafft und der neue einkommensbezogene Beitrag eingeführt, der den pauschalen Beitrag für abhängig Beschäftigte und für ArbeitgeberInnen und den einkommensbezogenen Beitrag zu den einkommensbezogenen Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit ersetzte. Hier überschneidet sich dieses Gesetz, von dem wichtige Teile noch 1974 gestoppt wurden, mit dem SERPS-System, welches 1978 in Kraft trat. Inzwischen war so vom Mai 1975 bis zum März 1978 die staatliche Zusatzrente weggefallen, ohne dass dies in dieser Weise so gewollt gewesen war. Es ist also folgerichtig das Jahr 1978 als Ausgangsjahr zu wählen, da in diesem Jahr mit dem SERPS wieder ein vollständiges System existierte. Im selben Jahr wurden die einkommensbezogenen Beiträge für abhängig Beschäftigte und für ArbeitgeberInnen erhöht. Die erhöhten Teile der Beiträge entsprachen den Beiträgen für die SERPS-Zusatzrente.
140
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2.1.2 Die Sozialversicherungsbeiträge Der Sozialversicherungsbeitrag wurde nach vier Beitragsklassen differenziert. Der Beitragsklasse 1 gehörten die abhängig Beschäftigten an. Sie und ihre ArbeitgeberInnen zahlten die einkommensbezogenen Beiträge. 1978 zahlten die abhängig Beschäftigten Beiträge von 6,5 % für den wöchentlichen Einkommensanteil unterhalb der oberen Verdienstgrenze (Upper Earnings Limit) von 120 £. Die ArbeitgeberInnen trugen wöchentlich einen Beitrag in Höhe von 10 % des Einkommensanteils ihrer abhängig Beschäftigten unterhalb der oberen Verdienstgrenze bei (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 126). Wenn die abhängig Beschäftigten von der Möglichkeit des ‚Contracting-outދ Gebrauch gemacht hatten und zugunsten einer anerkannten Betriebsrente aus dem SERPS ausgetreten waren, zahlten die abhängig Beschäftigten Beiträge in Höhe von 6,5 % für den Einkommensanteil bis zur unteren Verdienstgrenze (Lower Earnings Limit) von wöchentlich 17,50 £ und 4 % für den Einkommensanteil zwischen der unteren Verdienstgrenze und der oberen Verdienstgrenze.115 Die ArbeitgeberInnen entrichteten für ihre ‚Contracted-outދ-Beschäftigten Beiträge in Höhe von 10 % des Einkommensanteils bis zur unteren Verdienstgrenze und 5,5 % zwischen den beiden Grenzen (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 126 f.).116 Die ArbeitgeberInnen mussten außerdem 3,5 % des Teils der Entgelte zwischen den beiden Grenzen als ‚National Insurance Surcharge ދentrichten (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 342).117 Für die abhängig Beschäftigten, die der Beitragsklasse 1 angehörten, konnten alle oben erwähnten beitragsbezogenen Leistungen gewährt werden (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127). Der Beitragsklasse 2 gehörten die Selbständigen an. Sie zahlten einen pauschalisierten Beitrag, der im Jahr 1978 1,90 £ pro Woche betrug.118 Die Selb-
115 Die untere Verdienstgrenze entspricht „a figure fixed annually at a level roughly equal to the basic state pension.“ (Ogus und Wikeley 2002: 106) Die obere Verdienstgrenze liegt etwa beim Siebenfachen der unteren Verdienstgrenze. 116 Die Beitragsnachlässe mussten von beiden Seiten her in die Betriebsrente der entsprechenden abhängig Beschäftigten einfließen. Die Höhe der Betriebsrente musste außerdem mindestens ebenso hoch wie die staatliche Rente sein, die der betreffende Rentner bezogen hätte, wenn er im SERPS geblieben wäre. Ausführlichere Informationen darüber finden sich in den folgenden Publikationen: Ogus und Barendt 1978: 225-227 und Torrey und Thompson 1980: 58. 117 Die abhängig Beschäftigten, deren Entgelte unter der unteren Verdienstgrenze lagen, waren wie ihre ArbeitgeberInnen von der Sozialabgabenpflicht bezogen auf den Verdienst des Geringverdienenden befreit (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127). Demzufolge konnten diese abhängig Beschäftigten keine Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen erwerben.
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
141
ständigen Großbritanniens hatten Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen mit Ausnahme des Arbeitslosengeldes, der Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, des SERPS und der einkommensbezogenen Ergänzungsleistungen zu den einheitlichen Leistungen (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127; Professional Development Partnership 2000: 155). Die Beitragsklasse 3 existierte als Möglichkeit für freiwillige Versicherte. Den freiwillig Versicherten gehörten z.B. nichterwerbstätige Personen, die nicht von der Pflichtversicherung erfasst wurden, oder die Personen, die zwar der Beitragsklasse 1 oder 2 angehörten, aber ein Defizit bezüglich der notwendigen Beitragszeiten hatten, an. Sie zahlten ebenfalls einen einheitlichen Beitrag, aber nur 1,80 £ pro Woche 1978. Sie erwarben damit jedoch nur Ansprüche auf einige beitragsbezogene Leistungen, z.B. A- und B-Typ der Altersgrundrenten, Witwenrente und Sterbegeld (Ogus und Barendt 1978: 61).119 In der Beitragsklasse 4 zahlten die Selbständigen einkommensbezogene Beiträge ein, wenn ihr jährliches Einkommen über 2.000 £ lag. Jedoch gab es eine obere Bemessungsgrenze der Einkommensbezogenheit. Diese Grenze betrug im Jahr 1978 6.250 £. Der zu leistende Beitrag belief sich auf 5 % des Einkommensanteils zwischen den beiden Grenzen. Aber die Beiträge hatten keine Auswirkung auf die Höhe der Leistungen für diese Selbständigen und gaben den Selbständigen auch keine zusätzlichen Ansprüche (Ogus und Barendt 1978: 63).
118 Die Selbständigen, deren Jahreseinkünfte unter 950 £ lagen, zahlten keine Beiträge und erwarben auch keine Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127). 119 Vor der Reform 1975 hatten nichterwerbstätige Personen, die weder in der Beitragsklasse 1 noch in der Beitragsklasse 2 erfasst wurden, einen einheitlichen Beitrag obligatorisch zu zahlen (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 167).
142
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Tabelle 6:
Beitragsklasse und zustehende Leistungen in den 70er Jahren in Großbritannien
Beitragszahler 1
Beitragsform
Leistung
Abhängig Beschäftigte und ihre ArbeitgeberInnen Selbständige
Einkommensbezogen
Alle beitragsbezogenen Leistungen
Einheitlich
3
Freiwillig Versicherte
Einheitlich
4
Selbständige
Einkommensbezogen
Beitragsbezogene Leistungen ausgenommen Arbeitslosengeld und einkommensbezogenen Leistungen Nur einige beitragsbezogene Leistungen, z.B. Altersgrundrente und Witwenrente Keine zusätzlichen zu 2
2
Quelle: Her Majesty’s Stationery Office 1979: 126 f.; Ogus und Barendt 1978: 61 f; eigene Darstellung
4.2.2 Die Alterssicherung 4.2.2.1 Die Leistungsarten Die staatlichen Altersrenten Großbritanniens wurden grob in die pauschalen Grundrenten und die einkommensbezogenen Zusatzrenten unterteilt. Die Grundrenten bestanden aus A-Rente (category A retirement pension), B-Rente (category B retirement pension), C-Rente (category C retirement pension) und DRente (category D retirement pension). Die ab 1978 gültige einkommensbezogene Zusatzrente war das SERPS (State Earnings-Related Pension Scheme). Die proportionale Rente (graduated retirement pension) wurde nur den Personen gezahlt, die zwischen dem 6. April 1961 und dem 5. April 1975 proportionale Beiträge für diese Rente zusammen mit den Beiträgen zur damaligen Beitragsklasse 1 entrichtet hatten.
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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4.2.2.2 Der erfasste Personenkreis Die A-Rente erfasste Erwerbstätige und die B-Rente Ehefrauen der Erwerbstätigen.120 Der Erfassungsbereich der C- und D-Rente erstreckte sich über die gesamte Einwohnerschaft Großbritanniens. Von den einkommensbezogenen Zusatzrenten wurden die abhängig Beschäftigten erfasst (Ogus und Barendt 1978: 211-227). Vom SERPS konnten die Versicherten gemäß der ‚Contractingoutދ-Regelung befreit werden. 4.2.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen 4.2.2.3.1 Die Grundrenten 4.2.2.3.1.1 Die A-Rente Für den Bezug der A-Rente mussten die folgenden Voraussetzungen erfüllt werden. Zuerst hatten die Antragstellenden für die Altersrente das Rentenalter zu erreichen und im Ruhestand zu sein.121 Das Rentenalter war 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127). Für den Rentenbezug mussten darüber hinaus folgende zwei Beitragsvoraussetzungen erfüllt werden: Erstens mussten die Antragsstellenden mindestens für ein Jahr Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 52fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze entrichtet haben (Initial Condition). Zweitens mussten die Antragsstellenden für 90 % ihres Arbeitslebens Beiträge gezahlt oder Gutschriften erhalten haben (Continuing Condition) (Ogus und Barendt 1978: 212, 71). Als Arbeitsleben in Bezug auf die Altersrente galten die Jahre vom vollendeten 16. Lebensjahre bis zu dem letzten Jahr vor Erreichen des Rentenalters. Also konnten die Ansprüche auf die Rente vom 16. bis zum 64. Lebensjahr von Männern und vom 16. bis zum 59. Lebensjahr von Frauen erworben werden. Die 120 Witwen oder Witwer konnten auch aufgrund der Beiträge der verstorbenen Ehegatten eine BRente beziehen. Allerdings werden die B-Renten der Witwen oder der Witwer bei der Darstellung und der Analyse dieser Arbeit ausgeschlossen, weil diese B-Renten als eine Hinterbliebenenrente betrachtet werden. 121 Wenn der Antragstellende dabei noch Arbeitseinkünfte bezog, deren Höhe eine bestimmte Grenze überschritt, wurde seine Rente wegen der ‚Ruhestandsvoraussetzung( ދRetirement Condition) in Proportion zu seinem Lohneinkommen reduziert. Wenn seine Arbeitseinkünfte eine Obergrenze überschritten, wurde die Rente nicht gewährt. Die ‚Ruhestandsvoraussetzungދ wird in dem folgenden Unterabschnitt ‚4.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauerދ noch einmal dargelegt.
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Gutschriften konnten den Versicherten bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität etc. gewährt werden (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127; Ogus und Barendt 1978: 212, 72-75). Wenn für 90 % des Arbeitslebens, d.h. etwa 44 Jahre für Männer oder 39 Jahre für Frauen, Beiträge gezahlt oder Gutschriften vorhanden waren, wurde eine ‚volle ދRente gewährt. Waren nicht genug Jahre abgedeckt, wurde die ARente nur anteilig gezahlt, es sei denn der abgedeckte Zeitraum unterschritt 25 % der geforderten Jahre. In diesem Fall wurde die A-Rente ganz verweigert (Ogus und Barendt 1978: 212). Im Fall einer Anrechnung von Zeiten, bei denen die Antragstellenden Kinder oder Pflegebedürftige betreut hatten, konnten die Antragstellenden mit nur 20 Jahren, für die Beiträge gezahlt oder Gutschriften erteilt wurden, eine ‚volle ދA-Rente beziehen (home responsibilities protection) (Ogus und Barendt 1978: 212 f.). Ein Aufschub des Rentenzugangs war bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres für Männer und bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres für Frauen möglich. Der Aufschub war mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden. In den britischen Rentensystemen gab es keine vorgezogene Altersrente (Torrey und Thompson 1980: 56). 4.2.2.3.1.2 Die B-Rente Eine verheiratete Frau, die nicht persönlich versichert gewesen war, konnte ab Vollendung des 60. Lebensjahres im Ruhestand aufgrund der Beiträge ihres Ehemanns eine B-Rente beziehen. Notwendig war jedoch, dass auch ihr Mann das Rentenalter erreichte, im Ruhestand war und selbst eine A-Rente erhielt (Ogus und Barendt 1978: 214). Diese abgeleitete Rente für die Ehefrau entsprach ca. 60 % der A-Rente (Ogus u.a. 1988: 201). Wenn ihr Mann die zweite beitragsbezogene Anspruchsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt hatte, wurde die B-Rente auch proportional reduziert (Ogus und Barendt 1978: 76). Wenn eine verheiratete Frau Anspruch auf eine A-Rente aufgrund ihrer eigenen Beiträge hatte, bekam sie nicht die B-Rente, sondern die A-Rente. Wenn die Höhe ihrer A-Rente niedriger als das Niveau der möglichen B-Rente war, die die verheiratete Frau aufgrund der Beiträge ihres Ehemanns hätte beziehen können, wurde die A-Rente bis zum Niveau der B-Rente erhöht. Die derart errechnete ‚compositeދ-Rente galt als A-Rente (Ogus und Barendt 1978: 213). Die Regelung des Aufschubs des Rentenzugangs der B-Rente war in der Regel der A-Rente gleich.
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4.2.2.3.1.3 Die C-Rente Die C-Rente wurde den Personen gezahlt, die vor dem 5. Juli 1948 bereits das Rentenalter erreichtet hatten, da sie aus dem reformierten staatlichen Versicherungssystem bezüglich des Erwerbs von Ansprüchen neuen Typs ausgeschlossen waren. Für den Anspruch auf C-Rente mussten sie zwischen dem 5. Juli 1948 und dem 1. November 1970 mindestens 10 Jahre in Großbritannien wohnhaft gewesen sein. Außerdem mussten sie auch nach dem 2. November 1970 oder nach dem Tag der Antragstellung in Großbritannien wohnhaft sein (Ogus und Barendt 1978: 227). Eine verheiratete Frau, deren Mann die C-Rente bezog, hatte über ihren Mann auch Anspruch auf eine eigene C-Rente, sofern sie das Rentenalter erreicht hatte und im Ruhestand war (Ogus und Barendt 1978: 227). Ihre C-Rente war niedriger als die C-Rente ihres Mannes.122 4.2.2.3.1.4 Die D-Rente Die D-Rente wurde den Personen ab 80 Jahren gewährt, die aufgrund unzureichender Beiträge keine oder nur eine geringere staatliche Rente als die DRente123 bezogen (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 128). Außerdem wurde vorausgesetzt, dass die Personen für 10 Jahre im Zeitraum der letzten 20 Jahre vor Antragstellung und auch am Tag der Antragstellung in Großbritannien gewöhnlich wohnhaft gewesen waren (Ogus u.a. 1988: 226). Eine verheiratete Frau, deren Mann die D-Rente bezog, hatte auch Anspruch auf eine eigene D-Rente, sofern sie das Rentenalter erreicht hatte und im Ruhestand war (Ogus und Barendt 1978: 228). Ihre D-Rente war niedriger als die DRente ihres Mannes. 4.2.2.3.2 Die Zusatzrenten 4.2.2.3.2.1 Das SERPS Das Rentenalter vom SERPS war mit dem der A-Rente identisch. Erworben wurden die Rentenansprüche durch die Beiträge der Klasse 1, die zwischen dem Jahr 1978 oder dem Jahr, in dem das 16. Lebensjahr der Versicherten vollendet wurde, und dem letzten Jahr vor Erreichen des Rentenalters 122 Die Bestimmung über die C-Rente für Witwen war von der obigen Regelung unterschiedlich. Allerdings wird die C-Rente der Witwen bei der Analyse dieser Arbeit ausgeschossen, weil diese C-Rente als eine Hinterbliebenenrente betrachtet wird. 123 Die D-Rente entsprach ca. 60 % der vollen A-Rente.
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entrichtet wurden. Als Anfangsjahr zählte dabei das spätere der beiden möglichen. Die Rente konnte gewährt werden, wenn mindestens ein Beitragsjahr vorgelegt worden war (Ogus u.a. 1988: 207). Diese Rente wurde in voller Höhe gezahlt, wenn die Antragstellenden mindestens 20 Beitragsjahre gehabt hatten (Ogus und Barendt 1978: 224). Das SERPS konnte mit der Grundrente des Betreffenden bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres für Männer und bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres für Frauen aufgeschoben werden. Der Aufschub des SERPS war auch mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden (Ogus u.a. 1988: 223). 4.2.2.3.2.2 Die proportionale Rente Das Rentenalter der proportionalen Rente war mit dem der A-Rente gleich. Seit 1975 wurden die Beiträge für diese Rente nicht mehr erhoben. Die Rentenansprüche gründeten sich also auf die Beiträge der Jahre zwischen 1961 und 1975. Für den Anspruch auf 1 Einheit dieser Rente mussten die proportionalen Beiträge von 7,50 £ für Männer bzw. 9 £ für Frauen gezahlt worden sein (Ogus und Barendt 1978: 222). Der Aufschub dieser Rente war auch möglich und war mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden (Ogus und Barendt 1978: 219). 4.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 4.2.2.4.1 Die Grundrenten 4.2.2.4.1.1 Die A-Rente Die ‚volle ދA-Rente betrug im Jahre 1978 wöchentlich 19,50 £ (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127). Die Höhe der anteiligen Rente bemaß sich im Verhältnis der Anzahl der Jahre, für die Beiträge gezahlt oder Gutschriften erteilt waren, zu 90 % der möglichen Jahre zwischen 16 und 65 bzw. 60 (Ogus und Barendt 1978: 76). Zusätzlich zur A-Rente konnten ein Zuschlag für die Ehefrau124, Kinderzuschläge, eine Alterszulage (age addition)125 und eine Invalidenzulage (Invalidity addition) gezahlt werden (Ogus und Barendt 1978: 76, 219, 229, 386 ff.; Ogus u.a. 1988: 224). 124 Der Zuschlag für die Ehefrau und eine Rente der Ehefrau konnten nicht gleichzeitig gewährt werden (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 178). 125 Die bescheidene Ergänzung von 25 Pence pro Woche wurde an alle über 80-jährigen EmpfängerInnen der Altersrenten gezahlt (Ogus und Barendt 1978: 229).
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Durch den Aufschub erhöhte sich die Rente um ca. 1/7 % pro Woche, das waren 7,5 % pro Jahr (Ogus und Barendt 1978: 221). Die laufenden Grundrenten wurden jedes Jahr nach der Steigerung der Arbeitseinkünfte oder des Preises, je nachdem, welcher von beiden Faktoren günstiger für die RentenempfängerInnen war, erhöht (Torrey und Thompson 1980: 56; Ogus und Barendt 1978: 224 f.). Wenn die RentnerInnen während des Rentenbezugs Arbeitseinkünfte hatten und ihre Höhe eine bestimmte Grenze überschritt, wurden die Renten in Proportion zum Einkommen reduziert. Wenn die Höhe des Einkommens eine Obergrenze überschritt, fiel die Rente ganz weg. Wenn z.B. im Jahr 1978 der Lohn eines Rentners wöchentlich 40 £ überschritt, wurde seine Rente um die Hälfte der ersten 4 £ über 40 £ und um den ganzen Geldbetrag über 44 £ gekürzt (Ogus und Barendt 1978: 219). 126 Allerdings wurde diese Ruhestandsvoraussetzung auf die Rentner von über 70 Jahren und auf die Rentnerinnen von über 65 Jahren nicht angewendet. Ihnen wurde die Rente unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit völlig gezahlt (Ogus und Barendt 1978: 200, 211). Alle staatlichen Renten Großbritanniens waren steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 127, 132). 4.2.2.4.1.2 Die B-Rente Die volle B-Rente betrug 1978 wöchentlich 11,70 £ (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 128). Wenn der Mann der Antragstellenden die zweite beitragsbezogene Anspruchsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt hatte, wurde die BRente auch in der gleichen Art wie bei der A-Rente proportional reduziert (Ogus und Barendt 1978: 76). Zusätzlich zur B-Rente konnten Kinderzuschläge und Alterszulagen gezahlt werden (Ogus und Barendt 1978: 76, 229, 386) Die B-Rente wurde ebenfalls in Proportion zum Arbeitseinkommen gekürzt, wenn die Empfängerin der B-Rente Arbeitseinkünfte hatte und ihre Höhe eine bestimmte Grenze überschritt. Die Arbeitseinkünfte des Ehemanns der Empfängerin der B-Rente übten keinen Einfluss auf die Höhe der B-Rente aus (Ogus und Barendt 1978: 219). Die Erhöhung beim Rentenaufschub und die jährliche Anpassung der bereits bewilligten B-Renten richteten sich nach den gleichen Regelungen wie die ARente (Ogus und Barendt 1978: 219, 221).
126 Demnach fiel 1978 die A-Rente für RentnerInnen mit einem Arbeitseinkommen von über 61,50 £ völlig weg.
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2.2.4.1.3 Die C-Rente Die Höhe der C-Rente war im Jahr 1978 11,70 £.127 Für die verheiratete Frau betrug sie 7,05 £ (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 128). Zusätzlich zur C-Rente konnten ein Zuschlag für die Ehefrau 128 , Kinderzuschläge und die Alterszulage gezahlt werden (Ogus und Barendt 1978: 76, 219, 228 f., 386 f.). 4.2.2.4.1.4 Die D-Rente Die Höhe der D-Renten war mit der Höhe der C-Renten gleich. Zusätzlich zur DRente wurde die Alterszulage gezahlt (Ogus und Barendt 1978: 229). 4.2.2.4.2 Die Zusatzrenten 4.2.2.4.2.1 Das SERPS Die Berechnung des SERPS erfolgte in den folgenden 4 Schritten. Erstens wurde ein ‚Verdienstfaktor( ދearnings factor) von jedem ‚berücksichtigten Jahr( ދrelevant year) der Antragstellenden ermittelt. Als ‚berücksichtigte Jahre ދwurden die Jahre bezeichnet, in denen – so oben erklärt – der Erwerb der SERPS-Rentenansprüche im Prinzip möglich war (Ogus u.a. 1988: 207). Der Verdienstfaktor entsprach der Jahressumme der wöchentlichen Entgelte bis zur oberen Verdienstgrenze, aus denen die Beiträge zur Beitragsklasse 1 gezahlt wurden (Child Poverty Action Group 2004: 813).129 Hierbei ist es sehr wichtig, dass die Zahl der Verdienstfaktoren, die bei der Berechnung vom SERPS berücksichtigt wurde, maximal insgesamt 20 war. Die vollen Rentenansprüche konnten also mit 20 Beitragsjahren erworben werden. Wenn mehr als 20 Beitragsjahre vorlagen, wurden die 20 ‚besten ދJahre, d.h. die 20 besten Verdienstfaktoren, ausgewählt (Rechmann 2001: 65). Zweitens wurde jeder der bei der Rentenberechnung berücksichtigten Verdienstfaktoren mit einem Prozentsatz multipliziert, der die Steigerung der nationalen Durchschnittslöhne zwischen dem jeweilig betreffenden berücksichtigten Jahr und dem letzten berücksichtigten Jahr widerspiegelte. Dadurch konnte den RentnerInnen der während ihres Arbeitslebens erworbene Lebensstandard er127 Diese entsprach ca. 60 % der vollen A-Rente 128 Der Zuschlag für die Ehefrau und eine C-Rente der Ehefrau konnten nicht gleichzeitig gezahlt werden. 129 Der jährliche Betrag hatte mindestens das 52fache der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze des betreffenden Jahres zu überschreiten. Siehe Ogus u.a. 1988: 54, 199.
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
149
halten bleiben (Ogus und Barendt 1978: 224). Der Index der Prozentsätze wurde von der Regierung jährlich erneut festgesetzt.130 Drittens wurde von jedem der aufgewerteten Verdienstfaktoren ein Betrag abgezogen, der dem 52fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze des letzten berücksichtigten Jahres entsprach (Ogus u.a. 1988: 207). Der verbliebene Betrag nach dem Abzug des jährlichen Betrags der unteren Verdienstgrenze heißt ‚excess earning ދoder ‚surplus earningދ. In dieser Arbeit wird der verbliebene jährliche Betrag gerade vor der Multiplizierung mit einer Steigerungsrate als ‚berücksichtigtes Einkommen ދbenannt. Schließlich stellten 1,25 % (1/80) der Summe der derart errechneten Beträge den jährlichen Rentenbetrag des SERPS dar. Daraus ergab sich, dass die volle SERPS-Rente bei 20 Beitragsjahren bei 25 % des durchschnittlichen Betrages der ‚berücksichtigten Einkommen ދlag (Ogus und Barendt 1978: 224). Wenn ein Antragsteller weniger als 20 Beitragsjahre hatte, er z.B. A Jahre lang beitragspflichtige Entgelte vorweisen konnte, bezog er als Jahressumme seiner SERPS-Rente den Betrag von A/80 des Durchschnittswertes der berücksichtigten Einkommen.
130 Der Index, der auf einen Antragsteller angewendet wurde, war der Index, der in seinem letzten berücksichtigten Jahr, also in seinem letzten Jahr vor Erreichen des Rentenalters, veröffentlicht wurde. Der Aufwertungsprozentsatz jedes Jahres im Index variierte. Je weiter das Jahr im Vergleich zum letzten berücksichtigten Jahr zurücklag, desto höher wurde zumeist der Prozentsatz. Der Prozentsatz des letzten berücksichtigten Jahres war null. Der Verdienstfaktor des letzten berücksichtigten Jahres blieb daher unverändert. Indessen wurden die vorausgegangenen Verdienstfaktoren mit den Prozentsätzen im Index an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst. Z. B. war der 1998 (Steuerjahr 98/99) veröffentlichte Index wie folgt: Tabelle 7: 1978/79 1979/80 1980/81 1981/82 1982/83
Index der Aufwertungsprozentsätze bei der Berechnung des SERPS, 1998 (Steuerjahr 98/99) 399,0 % 240,0 % 267,8 % 208,4 % 179,9 %
1983/84 1984/85 1985/86 1986/87 1987/88
159,4 % 140,2 % 125,4 % 107,0 % 92,9 %
Quelle: Child Poverty Action Group 1999a: 155
1988/89 1989/90 1990/91 1991/92 1992/93
77,3 % 60,6 % 49,7 % 35,9 % 27,7 %
1993/94 1994/95 1995/96 1996/97 1997/98
21,6 % 17,9 % 12,9 % 9,8 % 4,6 %
150
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien Hieraus ergibt sich folgende Rentenformel:
Schaubild 1:
Rentenformel des SERPS
Durchschnittlicher Betrag der berücksichtigten Einkommen x (25 % – 1,25 % x (20-A)) A: Anzahl der Beitragsjahre, maximal 20 Quelle: Ogus und Barent 1978: 224; eigene Darstellung
Die Rentenerhöhung beim Aufschub richtete sich nach der gleichen Regelung wie die A-Rente (Ogus u.a. 1988: 223). Die Bestandsrenten wurden jedes Jahr nach der Preissteigerung erhöht (Torrey und Thompson 1980: 56; Ogus und Barendt 1978: 225). Anders als bei der Grundrente wurde die SERPS-Rente unabhängig von den möglichen weiteren Arbeitseinkünften der Antragstellenden oder der RentnerInnen gewährt (Ogus und Barendt 1978: 219). 4.2.2.4.2.2 Die proportionale Rente Die proportionale Rente war eine typische beitragsproportionale Leistung. Mit jeder Beitragszahlung von 7,50 £ für Männer und 9 £ für Frauen entstand der Anspruch auf eine Einheit. Die 1 Einheit entsprach im Jahr 1978 einem Rentenanspruch von 2,5 Pence pro Woche (Ogus und Barendt 1978: 222). Hinsichtlich der Rentenerhöhung im Fall eines freiwilligen Rentenaufschubs gab es bei der proportionalen Rente eine eigene, der Regel des SEPRS ähnliche Regelung (Ogus u.a. 1988: 223). Wie beim SEPRS war die proportionale Rente nicht mit der Ruhestandsvoraussetzung verbunden. Seit 1978 wurden die laufenden proportionalen Renten ebenfalls gegen die Inflationen geschützt (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 128). 4.2.2.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.2.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.2.2.6 Das Trägersystem Auf der zentralstaatlichen Ebene fungierte das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Department of Health and Social Security) als Träger der sozialen Sicherungsleistungen (Brown 1975: 52-78). Jedoch beschränkte sich die
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Zuständigkeit dieses Londoner Ministeriums auf England, Wales und Schottland. In Nordirland trug im Allgemeinen das nordirische Ministerium für Gesundheit und Soziale Dienstleistungen (Department of Health and Social Services) die Verantwortung für die Verwaltung der sozialen Sicherungssysteme (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 126). Dieser Sonderfall wird im Folgenden jedoch nicht mehr beachtet. Das zentralstaatliche Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung war für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen und die Zahlung der Leistungen verantwortlich (Ogus und Barendt 1978: 574; Her Majesty’s Stationery Office 1979: 45 f.). Die Sachbearbeitung der Aufgaben des zentralstaatlichen Ministeriums wurde in regionalen und lokalen Büros implementiert. Es gab in England zehn regionale Büros und in Schottland und Wales je eins. Sie beaufsichtigten die verschiedenen Aspekte der Arbeiten bei den lokalen Büros, z.B. Vergabe von Leistungen, Stab und Personal, Fragen der Beiträge und des Betrugs (Ogus und Barendt 1978: 575 f.) Unterhalb dieser regionalen Büros gab es 365 lokale Büros. Diese Büros nahmen die Anträge auf Sozialleistungen entgegen, waren für die Entscheidung im konkreten Fall zuständig und gaben den NutzerInnen bei Problemen im Bereich der sozialen Sicherung Ratschläge (Brown 1975: 86-92). Um die Angelegenheiten des Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zu unterstützen, gab es außerdem zwei zentrale Verwaltungsbehörden (central officies): Die eine in Newcastle war für die Sammlung von Daten über Beitrag und Leistung zuständig. Die andere in Blackpool bearbeitete zentralisiert die Anträge auf bestimmte Förderungsleistungen, z.B. die Kriegsopferversorgung (Ogus und Barendt 1978: 576). 4.2.3 Die Krankensicherung 4.2.3.1 Die Gesundheitsversorgung 4.2.3.1.1 Die öffentlichen Kostenträger Für die Finanzierung für medizinische Versorgung war der Zentralstaat verantwortlich (Fain 1977: 235; Weltgesundheitsorganisation 1983: 232).
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2.3.1.2 Der erfasste Personenkreis Entsprechend dem Modell der Staatsbürgerversorgung war die gesamte Bevölkerung gegen die Kosten für medizinische Versorgung abgesichert (Fulcher 1974: 85). 4.2.3.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Ansprüche auf öffentliche Kostenübernahme waren nicht an besondere Bedingungen gebunden (Maynard 1975: 192). 4.2.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Für ambulante Behandlung zahlten Patienten keine Gebühren. Die Kosten übernahm der Zentralstaat. Die stationäre Krankenhausversorgung war auch für Patienten kostenlos. Der Zentralstaat zahlte die Betriebs- und die Investitionskosten der Krankenhäuser (Salter 1972: 23-26). Für die ärztlich verschriebenen Arzneimittel zahlte man eine Gebühr von 0,20 £ für jeden Posten. Von dieser Gebührenzahlung wurden Kinder unter 16 Jahren, Personen über 65 Jahren, Schwangere, stillende Mütter, Personen mit chronischen Krankheiten, SozialhilfeempfängerInnen und Personen mit niedrigen Einkommen befreit (Fulcher 1974: 87). Für eine Brille gab es Gebühren von bis zu 3,50 £ für jedes Glas und eine bestimmte Gebühr für ein NHS-Standard-Brillengestell. Allerdings zahlten Kinder unter 10 Jahren keine Selbstbeteiligung für das NHS-Standard-Glas und das NHS-Standard-Brillengestell. Für Kinder von 10 bis zu 16 Jahren war das NHSStandard-Glas kostenlos. Sie zahlten jedoch für die Brillengestelle die Selbstbeteiligung (Health Departments of Great Britain 1972: 9). Personen mit niedrigem Einkommen oder SozialhilfeempfängerInnen wurden ebenfalls ganz oder teilweise von diesen Gebühren befreit. Ein Sehtest war für alle kostenlos (Fulcher 1974: 87). Kontrolluntersuchungen für Zähne waren kostenlos. Für übliche Zahnbehandlungen einschließlich Zahnersatzes zahlten Patienten 50 Prozent der Kosten bis zu einer Höhe von maximal 10 £ pro Behandlung. Allerdings wurden die folgenden Personen von der Gebühr befreit: Kinder unter 16 Jahren, Jugendliche unter 21 Jahren in Vollzeitausbildung, Schwangere, stillende Mütter, SozialhilfeempfängerInnen und Personen mit niedrigem Einkommen (Maynard 1975: 197). Die übrigen Kosten nach Abzug der oben erwähnten Selbstbeteiligungen übernahm der Zentralstaat.
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4.2.3.1.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.2.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.2.3.1.6 Das Trägersystem Die Betriebssysteme der Gesundheitsversorgung in England, Wales, Schottland und Nordirland waren zwar ähnlich, jedoch gab es Unterschiede in ihrer Verwaltung (Reference Division 1973: 9). Die Verantwortung für das NHS in England hatte der ,Secretary of State for Social Servicesދ, der der Leiter des Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung war, das die Verantwortung für die Sozialtransfers in England, Schottland und Wales trug (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 45, 114; Brown 1975: 52-78). Die ministerielle Verantwortung für die Gesundheitsversorgung in anderen jeweiligen Teilreichen trugen die jeweiligen ,Secretaries of State for Scotland, Wales and Northern Irelandދ, die ,Cabinet Ministers ދder Zentralregierung waren (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 114). Das in England für das NHS zuständige Amt war also das oben erwähnte Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, während bei den anderen Teilreichen das schottische Gesundheits- und Innenministerium in Schottland (Scottish Home and Health Department), das Amt für Wales in Wales (Welsh Office) und das nordirische Ministerium für Gesundheit und Soziale Dienstleistungen in Nordirland (Department of Health and Social Services) für die strategische Planung verantwortlich waren (Weltgesundheitsorganisation 1983: 224; Her Majesty’s Stationery Office 1979: 114). Die Kreisgesundheitsbehörden (area health authorities) in England und Wales, die Gesundheitsämter (health boards) in Schottland und die Ämter für Gesundheit und Soziale Dienstleistungen (health and social services boards) in Nordirland waren “responsible for planning and operational control of all health services in their area. In England, because of its greater size and population, there is an additional tier of regional authorities [regionale Gesundheitsbehörden] responsible for regional planning and certain services best administered on a regional basis (for example, research and major capital building work). (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 114) Es gab also 14 regionale Gesundheitsbehörden und 90 Kreisgesundheitsbehörden in England, 8 Kreisgesundheitsbehörden in Wales und 15 Gesundheitsämter in Schottland. In Nordirland befanden sich vier Ämter für Gesundheit und Soziale Dienstleistungen (Weltgesundheitsorganisation 1983: 224).
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2.3.2 Die Verdienstersatzleistungen 4.2.3.2.1 Die Leistungsarten Das Krankengeld (Sickness Benefit) bestand aus einer einheitlichen Leistung und einer einkommensbezogenen Leistung. 4.2.3.2.2 Der erfasste Personenkreis Die einheitliche Leistung erfasste alle Erwerbstätigen. Die einkommensbezogene Leistung betraf die abhängig Beschäftigten. 4.2.3.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Für den Bezug des Krankengeldes mussten folgende zwei Beitragsvoraussetzungen erfüllt werden. Erstens mussten die Antragsstellenden mindestens für ein Jahr Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 25fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze entrichtet haben. Zweitens mussten die Antragsstellenden im dem Jahr, das dem Leistungsjahr131 vorausging, Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 50fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze gezahlt haben oder solche Beiträge mussten den Antragstellenden gutgeschrieben worden sein (Ogus und Barendt 1978: 149, 82). Wenn die zweite Beitragsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt wurde, wurde nur eine verringerte Leistung gewährt (Ogus und Barendt 1978: 76). Als weitere Vorraussetzung musste bei der Antragstellung ein ärztliches Attest abgegeben werden (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 172; Ogus und Barendt 1978: 152-155). Sofern das einheitliche Krankengeld gewährt wurde, wurde an die abhängig Beschäftigten auch die einkommensbezogene Leistung gezahlt. 4.2.3.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Für die ersten drei Tage einer Arbeitsunterbrechung wurde die einheitliche Leistung nicht gewährt (Ogus und Barendt 1978: 156). Die drei Tage waren also ‚Karenztageދ. Die Leistung betrug im Jahr 1978 15,75 £ pro Woche (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Wenn die zweite Beitragsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt wurde, konnten höchstens 75 % der vollen Leistung gewährt werden. Zusätzlich zum einheitlichen Krankengeld konnten ein Zuschlag 131 Das ‚Leistungsjahr ދheißt das Jahr, in dem die Leistungszahlung beginnt.
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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für Ehepartner/-in und Kinderzuschläge gezahlt werden (Ogus und Barendt 1978: 76, 386 ff.). Die Zahlung der einheitlichen Leistung konnte für bis zu 28 Wochen erfolgen. Nach Ablauf dieser Frist konnte unter Umständen die Invalidenleistung (invalidity benefit) gewährt werden (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Die einkommensbezogene Leistung wurde während der ersten 6 Monate der Arbeitsunfähigkeit gezahlt (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Jedoch konnte sie erst nach dem zwölften Tag der Arbeitsunterbrechung gewährt werden (Ogus und Barendt 1978: 425). Die einkommensbezogene Leistung entsprach wöchentlich 33,3 % des Einkommensanteils zwischen der unteren Verdienstgrenze und 30 £ und 15 % des Einkommensanteils zwischen 30 £ und der oberen Verdienstgrenze (Ogus und Barendt 1978: 426). Die Summe der einheitlichen und der einkommensbezogenen Leistung durfte jedoch 85 % des Einkommens, auf das sich die Leistungsberechnung bezog, nicht überschreiten (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Parallel zum Bezug des Krankengeldes konnten die EmpfängerInnen eine Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leisten, falls die Arbeit eine ‚therapeutische ދArbeit war und sehr geringe Entgelte dafür gezahlt wurden (Ogus und Barendt 1978: 157 f.). Für alle Leistungen für Kranke im Rahmen der staatlichen Sorge mussten weder Steuern noch Sozialabgaben geleistet werden (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 132; Ogus und Barendt 1978: 72 f.). 4.2.3.2.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.2.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.2.3.2.6 Das Trägersystem Das Trägersystem für die Krankengelder war mit dem Trägersystem der Alterssicherung identisch.
156
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.2.4 Die Arbeitslosensicherung 4.2.4.1 Die Leistungsarten Das Arbeitslosengeld (unemployment benefit) bestand aus einer einheitlichen Leistung und einer einkommensbezogenen Leistung.132 4.2.4.2 Der erfasste Personenkreis Das Arbeitslosengeld erfasste alle abhängig Beschäftigten. 4.2.4.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Wie bei der Anspruchsvoraussetzung für das einheitliche Krankengeld mussten für den Anspruch auf das einheitliche Arbeitslosengeld ebenfalls die zwei nämlichen Beitragsvoraussetzungen erfüllt werden (vgl. Ogus und Barendt 1978: 82). Die Regelung bezüglich einer verringerten Leistung bei der unzureichenden Erfüllung der zweiten Beitragsvoraussetzung war mit der Regelung beim Krankengeld identisch (vgl. Ogus und Barendt 1978: 76). Die einkommensbezogene Leistung wurde gezahlt, sofern das einheitliche Arbeitslosengeld gewährt wurde. 4.2.4.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Das einheitliche Arbeitslosengeld wurde nach einer Karenzzeit von drei Tagen für bis zu 52 Wochen gezahlt (Ogus und Barendt 1978: 92, 136). Die einheitliche Leistung betrug im Jahr 1978 15,75 £ pro Woche (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Wenn die zweite Beitragsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt wurde, wurden höchstens 75 % der vollen Leistung gewährt (Ogus und Barendt 1978: 76). 132 Anders als in Schweden und in Deutschland gab es in Großbritannien in den 1970er Jahren keine Arbeitslosenhilfe. Nach dem Ablauf des Arbeitslosengeldes konnten Arbeitslose einen Antrag auf Sozialhilfe (supplementary benefit) stellen. Allerdings existierte 1934 eine Arbeitslosenhilfe für Arbeitslose (unemployment assistance), die von dem ‚Unemployment Assistance Board ދgeleistet wurde. Diese Arbeitslosenhilfe war von der Sozialhilfe getrennt (Blaustein und Craig 1977: 224). Während des Zweiten Weltkriegs hatte das ‚Unemployment Assistance Board ދneben den Angelegenheiten in Bezug auf die Arbeitslosigkeit andersartige, vielfältige Aufgaben durchzuführen. Daher wurde es in das ,Assistance Board ދumbenannt. 1948 wurde das ,Assistance Board ދin das ,National Assistance Board ދumbenannt. In diesem Verlauf wurde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und ihre Rolle wurde der Sozialhilfe (national assistance) übertragen (siehe Ogus und Barendt 1978: 80, 477 f.).
4.2 Die britischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
15
Zusätzlich zur einheitlichen Leistung konnten ein Zuschlag für Ehepartner/in und Kinderzuschläge gezahlt werden (Ogus und Barendt 1978: 76, 386 ff.). Die Regelungen der einkommensbezogenen Leistung für Arbeitslose waren mit denen der einkommensbezogenen Leistung für Kranke identisch (vgl. Blaustein und Craig 1977: 161; Ogus und Barendt 1978: 425; Her Majesty’s Stationery Office 1979: 129). Die EmpfängerInnen des Arbeitslosengeldes konnten während des Leistungsbezugs eine Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leisten. Dieses Zusatzeinkommen führte nicht zu einer Kürzung der Leistung (Blaustein und Craig 1977: 226). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld konnte jedoch bis zu einem Zeitraum von sechs Wochen gesperrt werden, wenn EmpfängerInnen ihre Stellung ohne triftigen Grund freiwillig aufgegeben hatten, wenn sie die Stellung wegen schlechter Führung verloren hatten oder wenn sie ohne triftigen Grund eine ihnen angebotene angemessene Arbeit oder Ausbildung ablehnten oder vernachlässigten (Ogus und Barendt 1978: 72 f.). Die Leistungen für Arbeitslose waren steuer- und sozialabgabenfrei (Her Majesty’s Stationery Office 1979: 132; Ogus und Barendt 1978: 72 f.). 4.2.4.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.2.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.2.4.6 Das Trägersystem Die für die Alterssicherung zuständigen Träger implementierten die meisten Angelegenheiten für das Arbeitslosengeld. Nur die Stelle der Leistungszahlung war ein anderer Ort. Die Arbeitslosengelder wurden bei den ‚Arbeitsämternދ ausgezahlt (Ogus und Barendt 1978: 572 f.; Her Majesty’s Stationery Office 1979: 44). Diese lokalen Büros des Arbeitsministeriums (Department of Employment), das die Aufgabe im Auftrag des Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung durchführte, befassten sich mit den Anträgen auf Arbeitslosengeld (Ministerium für Gesundheitswesen und Soziale Sicherheit 1972: 172, 186).
158
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme 4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme 4.3.1 Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme 4.3.1.1
Eine Übersicht über das Finanzierungssystem
Die Finanzierung der beitragsbezogenen Leistungen erfolgt im Umlageverfahren durch die Soziaversicherungsbeiträge (Ogus und Wikeley 2002: 93). Die Beiträge werden heute noch nicht nach Leistungsbereichen differenziert, sondern geschlossen abgeführt. Zu den beitragsbezogenen Leistungen gehören folgende: ‚A & B retirement pensionދ, ‚incapacity benefit( ދNachfolge des ‚sickness benefitދ und der ‚invalidity pension)ދ, ‚contribution-based jobseeker’s allowance( ދNachfolge des ‚unemployment benefit)ދ, ‚widow’s pensionދ, ‚widowed mother’s allowanceދ, ‚state second pension( ދNachfolge des SERPS) etc. (Child Poverty Action Group 2004: 828-832). Wie seit 1948 üblich werden die Sozialversicherungsbeiträge zur teilweisen Finanzierung des NHS herangezogen. Zurzeit werden ca. 12 % der NHSAusgaben durch die Beiträge gedeckt, während die übrigen Kosten für das NHS aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden (Bloor und Maynard 2002: 263; Pascall 2003: 407). Zurzeit zahlt der Staat für die beitragsbezogenen Leistungen keine Subvention (Treasury grant) aus Steuern (Ogus und Wikeley 2002: 95). Die beitragsfreien Leistungen, also die Versorgungsleistungen wie ‚D retirement pension ދoder ‚industrial injuries benefits ދund die Fürsorgeleistungen wie ‚income support ދoder ‚income-based jobseeker’s allowanceދ, werden hingegen ausschließlich aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. 4.3.1.2 Die Sozialversicherungsbeiträge Der Sozialversicherungsbeitrag wird wie früher grundsätzlich nach vier Beitragsklassen differenziert. Der Beitragsklasse 1 gehören die abhängig Beschäftigten an (Ogus und Wikeley 2002: 106). Sie und ihre ArbeitgeberInnen zahlen einkommensbezogene Beiträge mit den in Tabelle 8 angegebenen Sätzen.133
133 Für die abhängig Beschäftigten, deren Entgelte unter der unteren Verdienstgrenze liegen, und ihre ArbeitgeberInnen besteht eine Sozialabgabenfreiheit. Demzufolge können diese abhängig Beschäftigten keine Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen erwerben (Ogus und Wikeley 2002: 106).
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme Tabelle 8:
159
Beitragssätze bei ‚Not-Contracting-out( ދSteuerjahr 02/03)
Einkünfte pro Woche Anteil unter 75 £ Anteil von 75 £ – 89 £ Anteil von 89 £ – 585 £ Anteil über 585 £
Beschäftigte 0% 0% 10 % 0%
ArbeitgeberInnen 0% 0% 11,8 % 11,8 %
Quelle: Ogus und Wikeley 2002: 107-110; eigene Darstellung
Anders als früher entrichten heute die abhängig Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen keine Beiträge für den Einkommensanteil unterhalb der unteren Verdienstgrenze, die 2002 wöchentlich 75 £ beträgt. Sie zahlen auch keine Beiträge für den Teil der Arbeitseinkünfte, der zwischen der unteren Verdienstgrenze und der ‚ersten Verdienstgrenze( ދprimary threshold) 134 , die 2002 wöchentlich 89 £ beträgt, liegt. Aber die Beschäftigten, deren Entgelte zwischen den beiden Grenzen liegen, werden in Bezug auf alle beitragsbezogenen Leistungen so behandelt, als hätten sie Sozialversicherungsbeiträge gezahlt (Child Poverty Action Group 2004: 813, 817 f.). Die abhängig Beschäftigten entrichten Beiträge von 10 % aus dem Einkommensanteil zwischen der ersten Verdienstgrenze und der oberen Verdienstgrenze, die 2002 wöchentlich 585 £ beträgt. Ihre ArbeitgeberInnen zahlen Beiträge von 11,8 % für die Einkünfte ihrer Beschäftigten zwischen den beiden Grenzen. Aus dem Teil der Arbeitseinkünfte, der die obere Verdienstgrenze überschreitet, werden von den abhängig Beschäftigten keine Beiträge erhoben. Die ArbeitgeberInnen zahlen jedoch auch für diese Einkünfte ihrer Beschäftigten Beiträge von ebenfalls 11,8% (Europäische Kommission 2003a). 135 Bei ‚Contracting-out ދvon der staatlichen einkommensbezogenen Rente gibt es die in Tabelle 9 gezeigten Ermäßigungen der Beiträge.
134 Die erste Verdienstgrenze entspricht „the single person’s income tax personal allowance“ (Ogus und Wikeley 2002: 107). 135 Heute gibt es die Beitragsklasse 1a und 1b. Diese Klassen sind entstanden, da die ArbeitgeberInnen vermehrt direkte Einkommensleistungen umgingen und ihren Beschäftigten dafür nominell nicht lohnimmanente Sonderleistungen, darunter auch Sachleistungen wie privat nutzbare Dienstfahrzeuge, gewährten. Ausführlichere Informationen über die Beitragsklasse 1a und 1b finden sich in Ogus und Wikeley 2002: 111.
160 Tabelle 9:
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien Beitragssätze bei ‚Contracting-out( ދSteuerjahr 02/03)
Einkünfte pro Woche Anteil unter 75 £ Anteil von 75 £ – 89 £ Anteil von 89 £ – 585 £
Beschäftigte 0% 0% 8,4 %
Anteil über 585 £
0%
ArbeitgeberInnen 0% 0% 8,3 % (COSRS); 10,8 % (COMPS) 11,8 %
Quelle: Europäische Kommission 2003a; eigene Darstellung
Die abhängig Beschäftigten, die nicht der staatlichen einkommensbezogenen Rente, sondern einem anerkannten Betriebsrentensystem angeschlossen sind, zahlen Beiträge von 8,4 % aus dem Einkommensanteil zwischen der ersten und der oberen Verdienstgrenze. Sie zahlen also 1,6 % weniger als bei ‚Not-Contracting-out( ދDevetzi 2003: 397). Die Höhe der Ermäßigung für die ArbeitgeberInnen hängt davon ab, ob ihre abhängig Beschäftigten dem COSRS (Contracted-Out Salary-Related Scheme) oder dem COMPS (Contracted-Out Money Purchase Scheme) angehören. 136 Wenn ein abhängig Beschäftigter am COSRS angeschlossen ist, entrichtet sein Arbeitgeber Beiträge von 8,3 % für den Teil der Entgelte zwischen der ersten und der oberen Verdienstgrenze. Er zahlt also 3,5 % weniger als bei ‚NotContracting-outދ. Wenn ein abhängig Beschäftigter dem COMPS angehört, führt sein Arbeitgeber 10,8 % ab. Es liegt eine Ersparnis von 1 % vor. Die Ermäßigungen für ArbeitgeberInnen gelten allerdings nur bis zur oberen Verdienstgrenze. Aus den Entgeltanteilen über der oberen Grenze entrichten sie wieder die Beiträge mit dem normalen Beitragssatz (Europäische Kommission 2003a; Devetzi 2003: 397). Wenn ein abhängig Beschäftigter statt bei der staatlichen Rente bei der ‚APP( ދAppropriate Personal Pension)137, die eine individuelle Privatrente ist, einzahlt, erbringen er und sein Arbeitgeber ohne Ermäßigung normale Sozialversicherungsbeiträge. Danach werden Beitragsnachlässe, deren Höhe vom Alter
136 Während das COSRS ein ‚Defined-Benefitދ-Betriebsrentensystem ist, ist das COMPS ein ,Defined-Contributionދ-Betriebsrentensystem. Die britischen ‚Contracted-outދ-Betriebsrenten waren traditionell ein ‚Defined-Benefitދ-System gewesen. Seit 1988 können die abhängig Beschäftigten aber auch die staatliche Rente verlassen, um dem COMPS anzugehören. 137 Bekommen individuelle Privatrenten vom ‚Inland Revenue ދein ,appropriate scheme certificateދ, können sie als ‚Appropriate Personal Pension ދein ‚Contracting-out ދvon der staatlichen einkommensbezogenen Rente ermöglichen (Child Poverty Action Group 2004: 526). Alle APP sind ,Defined-Contributionދ-Systeme. Sie treten seit 1988 an die Stelle des SERPS (Ward 2000: 76).
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
161
der Versicherten abhängt, vom Staat unmittelbar an die Anbieter der APP gezahlt (Ogus und Wikeley 2002: 629; Ward 2000: 77). Für die abhängig Beschäftigten, die der Beitragsklasse 1 angehören, können alle oben erwähnten beitragsbezogenen Leistungen gewährt werden. In der Beitragsklasse 2 entrichten Selbständige einheitliche Beiträge. 2002 betragen sie 2 £ pro Woche (Devetzi 2003: 395, 398). 138 Die Selbständigen haben Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen mit Ausnahme des ‚Contribution-based Jobseeker’s Allowance ދund der ,State Second Pensionދ (Ogus und Wikeley 2002: 112; East 1999: 37). In der Beitragsklasse 3 zahlen freiwillig Versicherte einheitliche Beiträge. Sie betragen wöchentlich 6,85 £ (Child Poverty Action Group 2004: 820). Damit erwerben sie nur Ansprüche auf Altersgrundrente und auf Hinterbliebenenversorgung (Ogus und Wikeley 2002: 115). In der Beitragsklasse 4 erbringen die Selbständigen, deren jährlichen Gewinne oder Profite über 4.615 £ liegen, einkommensbezogene Beiträge. Sie betragen 7 % ihres Einkommensanteils zwischen 4.615 £ und einer Obergrenze von 30.420 £ (Child Poverty Action Group 2004: 820). Die Beiträge haben jedoch keine Auswirkung auf die Höhe der Leistungen für diese Selbständigen und geben den Selbständigen auch keine zusätzlichen Ansprüche (Rechmann 2001: 119). Tabelle 10: Beitragsklasse und zustehende Leistungen in der Gegenwart in Großbritannien Beitragszahler 1
Beitragsform
Leistung
Abhängig Beschäftigte und ihre ArbeitgeberInnen Selbständige
Einkommensbezogen
Alle beitragsbezogenen Leistungen
Einheitlich
3
Freiwillig Versicherte
Einheitlich
Beitragsbezogene Leistungen ausgenommen ‚Contributionbased Jobseeker’s Allowanceދ und ,State Second Pensionދ Altersgrundrente und Hinterbliebenenversorgung
4
Selbständige
Einkommensbezogen
2
Keine zusätzlich zu 2
Quelle: Child Poverty Action Group 2004: 811-821; eigene Darstellung 138 Die Selbständigen, deren Jahreseinkünfte unter 4.025 £ liegen, sind von der Beitragszahlung befreit. Sie können demzufolge keine Ansprüche auf die beitragsbezogenen Leistungen erwerben (Devetzi 2003: 398).
162
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.3.2 Die Alterssicherung 4.3.2.1 Die Leistungsarten Die staatlichen Altersrentensysteme Großbritanniens unterteilen sich heute noch grob in die pauschalierten Grundrenten und die einkommensbezogenen Zusatzrenten. Die Grundrenten bestehen aus der A-Rente (category A retirement pension), der B-Rente (category B retirement pension) und der D-Rente (category D retirement pension).139 Die derzeit gültige einkommensbezogene Zusatzrente ist die ‚Zweite Staatsrente( ދState Second Pension), die 2003 das bisherige SERPS ersetzte. Bei den einkommensbezogenen Renten für die Personen, die ab dem Jahr 2003 in den Ruhestand gehen, wird allerdings der Teil der Rente, der auf den Arbeitseinkünften beruht, die die Antragstellenden zwischen 1978 und 2001 verdienten, gemäß dem Berechnungsverfahren des ‚novellierten ދSERPS berechnet. Außerdem wird die proportionale Rente (graduated retirement pension) heute noch gezahlt. 4.3.2.2 Der erfasste Personenkreis Die A-Rente erfasst Erwerbstätige und die B-Rente Ehefrauen der Erwerbstätigen. Demgegenüber erfasst die D-Rente alle EinwohnerInnen Großbritanniens. Von den einkommensbezogenen Zusatzrenten werden abhängig Beschäftigte erfasst (Ogus und Wikeley 2002: 598-625). Von der Zweiten Staatsrente können jedoch die Versicherten gemäß der ‚Contracting-outދ-Regelung befreit werden. 4.3.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen 4.3.2.3.1 Die Grundrenten 4.3.2.3.1.1 Die A-Rente Das gesetzliche Rentenalter ist 65 Jahre für Männer, 60 Jahre für Frauen (Devetzi 2003: 399). 139 Im Gesetz bleibt zwar noch die C-Rente (category C retirement pension), die für die Personen existiert, die vor dem 5. Juli 1948 bereits in den Ruhestand gegangen waren, also ca. 60 oder 65 Jahre alt waren. Die Zahl der EmpfängerInnen der C-Rente geht aus Gründen des Absterbens heute faktisch gegen null und sie ist daher bedeutungslos (Ogus und Wikeley 2002: 610).
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
163
Als Beitragsvoraussetzungen müssen die Antragsstellenden erstens mindestens für ein Jahr Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 52fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze entrichtet haben. Zweitens müssen die Antragsstellenden für 90 % ihres Arbeitslebens Beiträge gezahlt haben oder Gutschriften bekommen haben (Ogus und Wikeley 2002: 603). Die Ansprüche auf die Rente können vom 16. bis zum 64. Lebensjahr von Männern und vom 16. bis zum 59. Lebensjahr von Frauen erworben werden (Child Poverty Action Group 2004: 814; Ogus und Wikeley 2002: 106, 114). Die Gutschriften können den Versicherten bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität etc. gewährt werden (Emmerson und Johnson 2001: 301). Wird die zweite beitragsbezogene Anspruchsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt, wird die A-Rente nur anteilig gezahlt. Allerdings kann die anteilige Rente verweigert werden, wenn weniger als 25 % der geforderten Jahre mit Beiträgen oder Gutschriften erfüllt wurden (Ogus und Wikeley 2002: 604). Im heutigen Rentensystem ist die Regelung ‚home responsibilities protectionދ140 weiter gültig (Devetzi 2003: 411). Ein Aufschub des Rentenzugangs wird bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres für Männer und bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres für Frauen erlaubt. Der Aufschub ist mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden. In den britischen Rentensystemen gibt es auch heute noch keine vorgezogene Altersrente (Ogus und Wikeley 2002: 611). 4.3.2.3.1.2 Die B-Rente Eine verheiratete Frau, die nicht persönlich versichert war, kann ab Vollendung des 60. Lebensjahres aufgrund der Beiträge ihres Ehemanns eine B-Rente beziehen. Dafür wird vorausgesetzt, dass ihr Mann das Rentenalter erreicht hat und selbst eine A-Rente erhält (Ogus und Wikeley 2002: 606). Diese abgeleitete Rente der Ehefrau entspricht ca. 60 % der A-Rente. Wenn ihr Mann die zweite beitragsbezogene Anspruchsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt hat, wird auch ihre B-Rente proportional reduziert (Ogus und Wikeley 2002: 606). Die ,compositeދ-Rente141 für die Ehefrau mit einer geringen A-Rente gibt es auch im heutigen Rentensystem noch (Ogus und Wikeley 2002: 605). Die Regelung des Aufschubs des Rentenzugangs ist mit der Regel der ARente gleich (Ogus und Wikeley 2002: 611).
140 Siehe den Unterabschnitt ‚4.2.2.3.1.1 A-Renteދ. 141 Siehe den Unterabschnitt ‚4.2.2.3.1.2 B-Renteދ.
164
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.3.2.3.1.3 Die D-Rente Die D-Rente kann den Personen ab 80 Jahren gewährt werden, die aufgrund unzureichender Beiträge keine oder nur eine geringere staatliche Rente als die DRente 142 beziehen (Child Poverty Action Group 2004: 514). Außerdem wird vorausgesetzt, dass die Personen mindestens 10 Jahre der letzten 20 Jahre vor Antragstellung und auch am Tag der Antragstellung in Großbritannien wohnhaft waren (Devetzi 2003: 400). 4.3.2.3.2 Die Zusatzrenten 4.3.2.3.2.1 Die Zweite Staatsrente Das Rentenalter ist mit dem der A-Rente gleich. Erworben werden die Rentenansprüche normalerweise durch die Beiträge der Klasse 1, die zwischen dem Jahr 1978 oder dem Jahr, in dem das 16. Lebensjahr der Versicherten vollendet wurde, und dem letzten Jahr vor Erreichen des Rentenalters entrichtet werden. Als Anfangsjahr zählt dabei das spätere der beiden möglichen. Die Rente kann gewährt werden, wenn mindestens in einem Jahr die Entgelte erzielt wurden, die das 52fache der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze des betreffenden Jahres überschritten (Ogus und Wikeley 2002: 617). Mit Bezug auf die Einkommen ab dem Steuerjahr 02/03 143 werden bestimmte Antragstellende so behandelt, als hätten sie ein jährliches Einkommen in Höhe des ,Low Earnings Threshold( ދLET)144 für ein berücksichtigtes Jahr bekommen, auch wenn sie in der Tat in dem betreffenden Jahr kein Einkommen oder ein niedrigeres Einkommen erzielen. Die erste Gruppe, die dieser Regel unterliegt, ist die Gruppe der abhängig Beschäftigten, deren Entgelte zwischen dem jährlichen Betrag der unteren Verdienstgrenze und dem LET liegen. Die zweite Gruppe besteht aus den Personen, die wegen Pflegetätigkeit, Kinderbetreuung oder Invalidität kein Einkommen oder ein niedrigeres Einkommen als der jährliche Betrag der unteren Verdienstgrenze haben. Die beiden Gruppen
142 Diese entspricht ca. 60 % der vollen A-Rente (Devetzi 2003: 400). 143 „Das Steuerjahr beginnt im April eines Kalenderjahres und endet zwölf Monate später.“ (Devetzi 1999: 53) 144 Das LET des Steuerjahres 02/03 betrug 10.800 £. Das LET wird jährlich von der Regierung gemäß der Steigerung des Durchschnittslohnes erhöht.
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
165
werden bei der Rentenberechnung so behandelt, als hätten sie ein jährliches Einkommen in Höhe des LET erzielt (Ogus und Wikeley 2002: 621).145 Die Zweite Staatsrente kann mit der Grundrente des Betreffenden bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres für Männer und bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres für Frauen aufgeschoben werden. Der Aufschub ist mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden (Ogus und Wikeley 2002: 612). 4.3.2.3.2 .2 Die proportionale Rente Das Rentenalter der proportionalen Rente bleibt mit dem der A-Rente gleich. Für den Anspruch auf 1 Einheit dieser Rente mussten zwischen 1961 und 1975 proportionale Beiträge von 7,50 £ für Männer bzw. 9 £ für Frauen gezahlt werden (Child Poverty Action Group 2004: 515). Der Aufschub dieser Rente ist auch möglich und mit einer Erhöhung des Rentenanspruchs verbunden (Ogus und Wikeley 2002: 612). 4.3.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 4.3.2.4.1 Die Grundrenten 4.3.2.4.1.1 Die A-Rente Die ‚volle ދA-Rente beträgt im Jahre 2002 wöchentlich 72,50 £ (Office for National Statistics 2002: 142). Die Höhe der anteiligen Rente bemisst sich im Verhältnis der Anzahl der Jahre, für die Beiträge gezahlt oder Gutschriften erteilt waren, zu 90% der möglichen Jahre zwischen 16 und 65 bzw. 60 (Devetzi 2003: 399; Ogus und Wikeley 2002: 128). Zusätzlich zur A-Rente können ein Zuschlag für Ehepartner/-in 146 , die Kinderzuschläge, eine Alterszulage (age addition) 147 und eine Invalidenzulage (Incapacity addition) gezahlt werden (Europäische Kommission 2003b; Ogus und Wikeley 2002: 128, 248 f., 250 f.; Child Poverty Action Group 2004: 518, 782).
145 Ausführlichere Information über die Regelungen bezüglich Eltern, PflegerInnen und Behinderter finden sich in den folgenden Publikationen: Ward 2002: 12 f.; Ogus und Wikeley 2002: 621 f.. 146 Wenn Ehepartner/-in eine Altersrente erhält, wird der bereits gezahlte Zuschlag durch sie ersetzt, fällt also weg (Child Poverty Action Group 1999a: 138). 147 Die bescheidene Ergänzung beträgt heute noch nur 25 Pence pro Woche. Sie wurde schon lange nicht mehr erhöht (Child Poverty Action Group 2004: 518).
166
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Durch den Aufschub erhöht sich die Rente um ca. 1/7 % pro Woche, also um ca. 7,5 % pro Jahr (Ogus und Wikeley 2002: 612). Alle Bestandsrenten Großbritanniens werden jedes Jahr von der Regierung an die Preissteigerung angepasst (Devetzi 2003: 413). Alle britischen Renten unterliegen der Besteuerung. Aber es gibt keine Sozialabgaben (Europäische Kommission 2003b). Anders als früher werden alle staatlichen Renten heute unabhängig von möglicherweise fortlaufenden Arbeitseinkommen der Antragstellenden oder der RentnerInnen gezahlt (Ogus und Wikeley 2002: 611). 4.3.2.4.1.2 Die B-Rente Die ‚volle ދB-Rente beträgt im Jahre 2002 wöchentlich 45,20 £ (Office for National Statistics 2002: 142). Wenn der Ehemann der Antragstellerin die zweite beitragsbezogene Anspruchsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt hat, wird die B-Rente auch in der gleichen Art wie bei der A-Rente proportional reduziert (Ogus und Wikeley 2002: 606). Zusätzlich zur B-Rente können Kinderzuschläge und die Alterszulage gezahlt werden (Europäische Kommission 2003b; Ogus und Wikeley 2002: 128, 248 f.; Child Poverty Action Group 2004: 518). Die Erhöhung beim Rentenaufschub richtet sich nach der gleichen Regelung wie bei der A-Rente (Ogus und Wikeley 2002: 612). 4.3.2.4.1.3 Die D-Rente Die D-Rente entspricht der Höhe der vollen B-Rente (Office for National Statistics 2002: 142). Zusätzlich zur D-Rente wird die Alterszulage gezahlt (Child Poverty Action Group 2004: 518). 4.3.2.4.2 Die Zusatzrenten 4.3.2.4.2.1 Die Zweite Staatsrente Im Zuge der Einführung der ‚Zweiten Staatsrente ދim Jahr 2002 und des Inkrafttretens des entsprechenden Gesetzes im Jahr 2003 wird auf die Einkommen, die die Versicherten ab dem Jahr 2002 erzielen, das Berechnungsverfahren der Zweiten Staatsrente angewendet. Allerdings wird auf die Einkommen, die die Versicherten bis zum Jahr 2001 verdient haben, das Berechnungsverfahren des SERPS angewendet, egal ob die Versicherten 2003 oder danach das Rentenalter erreichen. Auf diejenigen, die 2002 oder davor das Rentenalter erreichten, wurde
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
167
also lediglich das Berechnungsverfahren des SERPS angewendet. Gemäß dem ‚Gesetz zur Sozialen Sicherung ދvon 1986 wurde die Rentenformel des SERPS im Jahr 1999 deutlich verändert. Folglich wird auf die Personen, die 1999 oder danach das Rentenalter erreichen, das ‚novellierte ދBerechnungsverfahren des SERPS angewendet. Die Revision des ‚ursprünglichen ދBerechnungsverfahrens des SERPS umfasst folgende Veränderungen: Beim ‚novellierten ދBerechnungsverfahren werden zuerst statt der Einkommen der 20 ‚besten ދJahre die Einkommen aller Beitragjahre berücksichtigt. Alle Verdienstfaktoren der ‚berücksichtigten Jahre ދwerden also beim Berechnungsverfahren einbezogen (Ogus u.a. 1988: 184). Zweitens wird vom Verdienstfaktor jedes Jahres ein ‚Qualifying Earnings Factor( ދQEF) abgezogen, der dem 52fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze des ‚jeweiligen ދberücksichtigten Jahres entspricht (Ogus und Wikeley 2002: 616). Die derart errechneten Werte heißen ‚Bandverdienste( ދband earnings) (Ward 2000: 12). Indem diese zweite Stufe des ‚novellierten ދBerechnungsverfahrens im Jahr 2000 in Kraft gesetzt wurde, wurde die dritte Stufe des ‚ursprünglichen ދBerechnungsverfahrens abgeschafft (East 1999: 190). Jeder der Bandverdienste wird drittens – wie bei der zweiten Stufe des ‚ursprünglichen ދBerechnungsverfahrens – mit einem Prozentsatz multipliziert, der die Steigerung der nationalen Durchschnittslöhne zwischen dem jeweilig betreffenden berücksichtigten Jahr und dem letzten berücksichtigten Jahr widerspiegelt. Bei der Revision der letzten Stufe des ‚ursprünglichen ދBerechnungsverfahrens ergab sich, dass die Einkommen der Jahre 1978-1987 und die Einkommen der Jahre 1988-2001 weiterhin unterschiedlich berechnet werden (Ogus und Wikeley 2002: 617 f.; Child Poverty Action Group 2004: 528 f.). Bei der letzten Stufe des ‚novellierten ދBerechnungsverfahrens werden zuerst die aufgewerteten Bandverdienste, also die ‚berücksichtigten Einkommenދ, für den Zeitraum von 1978 bis 1987 addiert. Die Summe wird mit 0,25 multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der berücksichtigten Jahre des betreffenden Antragstellers dividiert. Die ‚berücksichtigten Einkommen ދim Zeitraum von 1988 bis 2001 werden ebenfalls addiert. Allerdings sind die Steigerungsfaktoren, die mit der Summe multipliziert werden, je nach Renteneintrittsjahr unterschiedlich.
168
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Tabelle 11: Steigerungsfaktoren je nach Renteneintrittsjahr im novellierten SERPS Steuerjahr 99/00 00/01 01/02
% 25,0 24,5 24,0
Steuerjahr 03/04 04/05 05/06
% 23,0 22,5 22,0
02/03
23,5
06/07
21,5
Steuerjahr 07/08 08/09 09/10 oder später
% 21,0 20,5 20,0
Quelle: Child Poverty Action Group 1999: 156; Übersetzung von I.R. Baek
Der Steigerungsfaktor, der auf die Personen, die im Jahr 1999 das Rentenalter erreichten, angewendet wird, entspricht 25 %. Die Summe der berücksichtigten Einkommen, die auf den Arbeitseinkünften beruhen, die im Zeitraum zwischen 1988 und 1998 erzielt wurden, wird also mit 0,25 multipliziert. Das Maximum von 25 Prozentpunkten wird von Jahr zu Jahr um 0,5 % verringert und erreicht im Jahr 2009 20 Prozent (Ward 2002: 13). Für diejenigen, die ab dem Jahr 2009 das Rentenalter erreichen, wird also die Summe der berücksichtigten Einkommen im Zeitraum von 1988 bis 2001 mit 0,20 multipliziert. Der derart errechnete Betrag wird auch durch die Gesamtzahl der berücksichtigten Jahre des betreffenden Antragstellers dividiert. Danach werden die zwei Beträge, die jeweilig durch die Gesamtzahl der berücksichtigten Jahre dividiert wurden, addiert. Die zusammengerechnete Summe entspricht dem jährlichen Rentenbetrag für diejenigen, die zwischen 1999 und 2002 das Rentenalter erreichten.148
148 Ausführlichere Beispiele der Rentenberechnung des novellierten SEPRS finden sich in Child Poverty Action Group 1999a: 157 oder Ogus und Wikeley 2002:618.
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme Schaubild 2:
169
Rentenformel des novellierten SERPS T berücksichtigtes Einkommen t x A t t N
t: Das Jahr 1978 oder das Jahr, in dem das 16. Lebensjahr der Versicherten vollendet wurde – der jeweils spätere Zeitpunkt von den beiden T: Das letzte Jahr vor Erreichen des Rentenalters der Versicherten oder das Jahr 2001 – der jeweils frühere Zeitpunkt von den beiden A: Steigerungssatz des jeweiligen Jahres (1978 bis 1987 = 0,25; 1988 bis 2001 = 0,25 bis 0,20, je nach Renteneintrittsjahr) N: Gesamtzahl der berücksichtigten Jahre Quelle: Ogus und Wikeley 2002: 615-620; eigene Darstellung
Für die Rente der Personen, die ab 2003 das Rentenalter erreichen, wird die zusammengerechnete Summe der Rentenansprüche bis 2001 weiter mit dem Betrag der Zweiten Staatsrente addiert, der die Ansprüche der Folgejahre vertritt.149 Die Berechnung der Zweiten Staatsrente erfolgt in den folgenden Schritten: Erstens wird der ‚Verdienstfaktor ދin jedem ‚berücksichtigten Jahr ދermittelt. Zweitens werden mittels der Verdienstfaktoren die ‚Bandverdienste ދermittelt. Jeder Bandverdienst gliedert sich, wie in Tabelle 14 angegeben, in drei Bänder. Tabelle 12: Beträge der drei Bänder im Berechnungsverfahren der Zweiten Staatsrente Definition des Bandes Band 1 Band 2 Band 3
LET nicht überscheitend LET überscheitend, aber UET2 nicht überscheitend UET überscheitend
Maximaler Betrag des Bandes (Steuerjahr 02/03) 6.900 £ (zwischen 3.900 £1 - 10.800 £) 13.800 £ (zwischen 10.801 £ - 24.600 £) 5.820 £ (zwischen 24.601 £ - 30.420 £3)
1. QEF 2. UET (Upper Earnings Threshold) entspricht 3LET-2QEF 3. Das 52fache der wöchentlichen oberen Verdienstgrenze Quelle: Ogus und Wikeley 2002: 622 f.; eigene Darstellung
149 Erst bei Personen, die 2050 in Rente gehen, wird die Rente nur gemäß dem Berechnungsverfahren der Zweiten Staatsrente berechnet werden (Ogus und Wikeley 2002: 620).
170
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Drittens werden die Beträge der drei Bänder jeweilig mit einem Prozentsatz multipliziert, der die Steigerung der nationalen Durchschnittslöhne zwischen dem jeweilig betreffenden berücksichtigten Jahr und dem letzten berücksichtigten Jahr widerspiegelt (Ogus und Wikeley 2002: 623). Viertens werden die aufgewerteten Beträge jeweilig mit folgenden Steigerungssätzen multipliziert. Tabelle 13: Steigerungssätze der Zweiten Staatsrente Renteneintrittsjahr 2003/04 2004/05 2005/06 2006/07 2007/08 2008/09 2009/10 oder später
Band 1 46,0 45,0 44,0 43,0 42,0 41,0 40
Steigerungssatz (%) Band 2 11,5 11,25 11,0 10,75 10,5 10,25 10
Band 3 23,0 22,5 22,0 21,5 21,0 20,5 20
Quelle: Child Poverty Action Group 2004: 530; Übersetzung von I.R. Baek; kursive Letter bedeuten eigene Ergänzungen
Die Unterschiede der Steigerungssätze zwischen 2003 und 2009 spiegeln die schrittweise Änderung der Steigerungssätze des novellierten SERPS wider. Für einen Antragsteller, der ab 2009 das Rentenalter erreicht und dessen Bandverdienst dem Band 1 entspricht150, wird der aufgewertete Bandverdienst, also das berücksichtigte Einkommen, mit 0,4 multipliziert. Daraus ergibt sich, dass seine Zweite Staatsrente doppelt so hoch wie die SERPS-Rente wäre, wenn der entsprechende Betrag gemäß dem novellierten SERPS-Rentensystem berechnet worden wäre. Wenn sein jährliches Einkommen zwischen dem LET und dem UET des betreffenden Jahres liegt, wird sein aufgewerteter Band-1-Verdienst mit 0,4 und sein aufgewerteter Band-2-Verdienst mit 0,1 multipliziert. Die aus dem Band-2-Verdienst errechnete Rente ist halb so hoch wie die Rente, die mit dem Betrag des Band-2-Verdienstes durch das Berechnungsverfahren des novellierten SERPS berechnet worden wäre. Wenn sein jährliches Einkommen über dem UET des betreffenden Jahres liegt, wird nach dem gerade oben dargestellten, gleichen Verfahren sein aufgewerteter Band-3-Verdienst mit 0,2 multipliziert. Die aus dem Band-3-Verdienst errechnete Rente ist so gleich der Rente, die mit
150 In diesem Fall liegt also das jährliche Einkommen des Antragstellers zwischen dem QEF und dem LET des betreffenden Jahres.
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
171
dem Betrag des Band-3-Verdienstes durch das Berechnungsverfahren des novellierten SERPS berechnet worden wäre (vgl. Ogus und Wikeley 2002: 623). Letztens werden die drei Beträge, die aus der Multiplizierung mit den Steigerungssätzen entstanden, addiert. Danach werden die jährlichen addierten Beträge aller berücksichtigten Jahre addiert. Diese Summe wird durch die Gesamtzahl der berücksichtigten Jahre dividiert und ergibt die jährliche Zweite Staatsrente des Antragstellers (Ogus und Wikeley 2002: 622).151 Die Regelung über den Aufschub des Rentenzugangs ist mit der Regel der A-Rente gleich (Ogus und Wikeley 2002: 611). 4.3.2.4.2 .2 Die proportionale Rente Die 1 Einheit, die aufgrund jeder Beitragszahlung von 7,50 £ für Männer bzw. 9 £ für Frauen gewährt wird, beträgt im Jahr 2002 9,21 Pence pro Woche (Europäische Kommission 2003b).152 Hinsichtlich des Aufschubs des Rentenzugangs behält die proportionale Rente ihre alte Regel relativ unverändert bei (Ogus und Wikeley 2002: 612). 4.3.2.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.3.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.3.2.6 Das Trägersystem Auf der zentralstaatlichen Ebene ist das Ministerium für Arbeit und Renten (Department for Work and Pensions, DWP) außer in Nordirland Träger der sozialen Sicherungsleistungen (Office for National Statistics 2001: 62). In Nord151 Die Kompliziertheit der bisher dargestellten, britischen einkommensbezogenen Renten kann mit einem Beispiel verständlich erklärt werden: Wenn ein Mann im Jahr 1970 20 Jahre alt wurde und als abhängig Beschäftigter seine Arbeit angefangen hat und bis zum Jahr 2014, also bis zum letzten Jahre vor Erreichen des Rentenalters, ohne ‚Contracting-out ދdie staatlichen Beiträge unterbrechungslos abgeführt hat, wird seine einkommensbezogene Rente wie folgt berechnet werden: Er bezieht aufgrund der Beiträge zwischen 1970 und 1974 die proportionale Rente, aufgrund der Beiträge zwischen 1978 und 1987 die novellierte SERPS-Rente in der Übergangsphase (die Summe der berücksichtigten Einkommen in diesem Zeitraum /37 x 0,25), aufgrund der Beiträge zwischen 1988 und 2001 die novellierte SERPS-Rente (die Summe der berücksichtigten Einkommen in diesem Zeitraum /37 x 0,2) und aufgrund der Beiträge zwischen 2002 und 2014 die Zweite Staatsrente (die Summe der jährlichen addierten Beträge in diesem Zeitraum / 37). 152 1998 erhielten 78 % aller RentnerInnen die proportionale Rente. Allerdings betrug der durchschnittliche Betrag dieser Renten nur 2,47 £ pro Woche (Ogus und Wikeley 2002: 615).
172
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
irland trägt im Allgemeinen das nordirische Ministerium für Sozialentwicklung (Department for Social Development) die Verantwortung für die Verwaltung der sozialen Sicherungssysteme in Nordirland.153 Das Hauptaugenmerk des DWP liegt auf der Politikbildung und der Verteilung der Ressourcen (Ogus und Wikeley 2002: 133). Anders als früher werden heute die Politik in Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge und die Führung des Sozialversicherungsfonds von dem Finanzministerium (the Treasury) durchgeführt (Ogus und Wikeley 2002: 134-136). Die Verwaltung der Sozialleistungen, die unter dem Dach des DWP liegen, wird von einigen administrativen ,Agenciesދ154 durchgeführt (Ogus und Wikeley 2002: 133). Das ,Jobcentre Plus ދist die größte Agency. Ihm sind ca. 500 lokale Büros unterstellt (Devetzi 2003: 394). Das Agency ist für die Sozialleistungen für arbeitsfähige Altersschichten zuständig (Ogus und Wikeley 2002: 132). Das ‚Pension Service ދverwaltet Altersrenten. Ihm sind eigene lokale Büros unterstellt. Das ‚Child Support Agency ދist für die Programme für Kinderunterstützung zuständig (Ogus und Wikeley 2002: 134). 4.3.3 Die Krankensicherung 4.3.3.1 Die Gesundheitsversorgung 4.3.3.1.1 Die öffentlichen Kostenträger Wie in den 70er Jahren übernimmt der Zentralstaat die Kosten für ambulante Versorgung, stationäre Versorgung, Arzneimittelversorgung und zahnärztliche Versorgung (Greer 2006: 505).
153 Ausführliche Informationen über das Ministerium für Sozialentwicklung in Nordirland und die ihm untergeordneten zentralen Verwaltungsbehörden finden sich auf der offiziellen InternetSeite dieses Ministeriums für Sozialentwicklung, www.dsdni.gov.uk. 154 „Die Agencies sind Non Statutory Bodies, was bedeutet, daß ihre Errichtung nicht auf Gesetzen beruht. Ihre Grundlagen und ihr Verhältnis zum Ministerium werden vielmehr in einem Framework Document dargelegt. Die Agencies werden für das Ministerium und in Übereinstimmung mit dessen Weisungen tätig. Ziele und Standards werden zwar durch den Minister vorgegeben; die laufenden Verwaltungsgeschäfte werden jedoch ohne ministerielle Intervention von Mitarbeitern der Agencies durchgeführt.“ (Devetzi 2003: 394)
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
173
4.3.3.1.2 Der erfasste Personenkreis Alle EinwohnerInnen Großbritanniens werden individuell gegen die Kosten für medizinische Versorgung abgesichert (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 45). 4.3.3.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Es gibt keine Anspruchsvoraussetzung (Europäische Kommission 2002a). 4.3.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Für die ambulanten sowie stationären Versorgungen werden keine Zuzahlungen der Patienten verlangt (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 45, 49). Sowohl die Kosten der ärztlichen Behandlungen als auch die Betriebs- und die Investitionskosten der Krankenhäuser zahlt der Zentralstaat. Bei Arzneimitteln gibt es jedoch eine Selbstbeteiligung. Man bezahlt in England, Schottland und Nordirland 6,10 £ je verordnetes Arzneimittel. In Wales beträgt die Zuzahlung 6,00 £ (Europäische Kommission 2002a). Die folgenden Gruppen sind jedoch von den Verschreibungsgebühren befreit: Kinder unter 16 Jahren, Jugendliche von 16 bis 18 Jahren in Vollzeitausbildung, Personen ab 60 Jahren, Schwangere, stillende Mütter, KriegsrentenempfängerInnen, EmpfängerInnen der Mindestsicherungsleistungen, einkommensschwache Personen und Personen mit bestimmten Erkrankungen (Office for National Statistics 2002: 169; Europäische Kommission 2002a). Neben den erwähnten Personen sind in Wales auch alle Personen von 18 bis 25 Jahren von Zuzahlungen für Arzneimittel befreit (Europäische Kommission 2002a). Alle übrigen Kosten für Arzneimittel außer den oben erwähnten Selbstbeteiligungen übernimmt der Zentralstaat. Brillen und Sehtests werden im Prinzip vom Patienten selbst vollständig gezahlt. Jedoch erhalten bestimmte Gruppen Gutscheine für den verbilligten Kauf einer Brille: Kinder unter 16 Jahren, Jugendliche bis zu 19 Jahren in Vollzeitausbildung, KriegsrentenempfängerInnen, EmpfängerInnen der Mindestsicherungsleistungen und Patienten des augenärztlichen Krankenhausdienstes. Einen kostenlosen Sehtest können die folgenden Personen erhalten: die gerade genannten Gruppen, über 60-jährige Personen mit eingeschränktem Sehvermögen, Patienten mit Diabetes oder Glaukom usw. (Europäische Kommission 2002a). Die Zuschüsse für Brillen und Sehtests werden vom Zentralstaat geleistet. Bei Zahnbehandlungen und zahnärztlichen Kontrolluntersuchungen sind Zuzahlungen seitens der Patienten vorgesehen. Der Zentralstaat trägt bei den Be-
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
handlungskosten 80 % von bis zu 360 £. In Wales wird 80 % von bis zu 354 £ erstattet (Europäische Kommission 2002a). Die übrigen Kosten zahlen die Patienten. Die folgenden Gruppen sind jedoch von der Selbstbeteiligung befreit: Schwangere, stillende Mütter, Jugendliche unter 18 Jahren, Jugendliche unter 19 Jahren in Vollzeitausbildung, EmpfängerInnen der Mindestsicherungsleistungen und einkommensschwache Personen (Office for National Statistics 2002: 169; Europäische Kommission 2002a). Die oben dargestellten regionalen Differenzen bei den Regelungen für Selbstbeteilung sind auf die ‚Devolution( ދDezentralisierung des Landes) der Blair-Regierung zurückzuführen (Ham 2004: 102-112)155: „Im Rahmen der neuen politischen Strukturen in Schottland, Wales und (zeitweise) Nordirland wurden eigenständische Gesundheitsdienste mit jeweils neuen politischen Verantwortlichkeiten geschaffen. [...] Es besteht für England, Nordirland, Schottland und Wales keine Verpflichtung, die gleichen Politikinhalte zu verfolgen oder ähnliche Ziele zu erreichen.“ (Greer 2006: 499)156
4.3.3.1.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.3.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.3.3.1.6 Das Trägersystem In England wird das NHS von dem ‚Department of Health ދgeleistet. Das Gesundheitsministerium ist verantwortlich für die Entwicklung und Umsetzung der Politiken und die Regulierung und Kontrolle von Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. In den anderen Teilreichen trägt die ‚Welsh Assembly Governmentދ, das ‚Scottish Executive Health Department ދoder das ‚Department of Health, Social Services and Public Safety in Nordirland ދähnliche Ver-
155 “The elections that took place in May 1999 led to the creation of a 129-member parliament in Scotland and a 60-member assembly in Wales. While the Westminster Parliament retained power over the constitution, defence, the economy and other major areas, devolution gave the Scottish and Welsh governments control over areas such as health and social care. The Scottish Parliament has greater powers than the Welsh Assembly because of its ability to enact primary legislation and to vary the rate of income tax by up to 3 per cent but in both countries there is an opportunity to develop policies that are adapted to different needs. A similar opportunity exists in Northern Ireland where the 108-member Assembly elected in June 1998 had powers devolved to it in December 1999.” (Ham 2004: 104) 156 Die Differenzen bei der Gesundheitsversorgung zwischen den einzelnen Teilreichen des Vereinigten Königreiches werden im folgenden Abschnitt ‚4.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ދnoch einmal dargelegt.
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
175
antwortung für die Gesundheitsversorgung (Ham 2004: 107; Office of National Statistics 2002: 161). In England sind dem Gesundheitsministerium 28 ‚Strategische Gesundheitsbehörden( ދStrategic Health Authorities) untergeordnet. Die Zuständigkeitsbereiche dieser Behörden sind geographisch so eingeteilt worden, dass jeder Behörde zwischen 1,5 und 2,4 Millionen EinwohnerInnen zugeordnet sind. Sie erfüllen einige Verwaltungsfunktionen des Gesundheitsministeriums: Schaffung des Rahmens für lokale Gesundheitsdienste, Aufbau der Kapazitäten und die Unterstützung und das Management der Leistung der ‚Primary Care Trustsދ (PCTs) und der ‚NHS Trusts ދin ihren Gebieten (Office of National Statistics 2002: 163 f.). In England gibt es heute 302 lokale PCTs und 273 NHS Trusts. Ein PCT verfügt normalerweise über 50-100 Ärzte für Allgemeinmedizin und medizinisches Fachpersonal. Die PCTs entscheiden sich dafür, welche Gesundheitsdienste für die Erfüllung des Bedarfs der örtlichen Bevölkerung erbracht werden sollen, und gewährleisten die Bereitstellung der Gesundheitsdienste. Die NHS Trusts sind für den Betrieb der öffentlichen Krankenhäuser verantwortlich (Office of National Statistics 2002: 164). Die PCTs geben aus dem von der Regierung zugewiesenen Budget, das für die Versorgung der örtlichen Bevölkerung in den Zuständigkeitsbereichen der PCTs angewendet werden muss, Gelder nicht nur für die zumeist im Rahmen der PCTs stattfindenden Praxisbehandlungen, sondern auch für den Kauf der stationären Behandlungen bei den NHS Trusts aus. Durch den Ankauf von Krankenhauskapazitäten werden den Patienten der PCTs die stationären Dienstleistungen geboten (Bloor und Maynard 2002: 265).157 In Wales gibt es 22 ‚Kommunale Gesundheitsbehörden( ދLocal Health Boards) (Office of National Statistics 2002: 164) und 14 NHS Trusts (Ham 2004: 107). Sie sind der ‚Welsh Assembly Government ދuntergeordnet. Die kommunalen Gesundheitsbehörden sind das Äquivalent zu den PCTs in England (Greer 2006: 503). In Schottland gibt es 15 ,NHS Boardsދ, die dem ‚Scottish Executive Health Department ދuntergeordnet sind. Sie sind für alle NHS-Dienste in ihren jeweiligen Gebieten verantwortlich (Office of National Statistics 2002: 166). In Nordirland sind dem ,Department of Health, Social Services and Public Safety ދvier ,Health and Social Services Boards ދals Gesundheitsbehörden untergeordnet. Sie tragen unter anderem die Verantwortung für die Erkennung des Gesundheitsbedarfs der örtlichen Bevölkerung, die Gewährleistung der 157 Die ausführliche Darstellung zum Kauf der stationären Behandlungen bei den Krankenhäusern durch die PCTs wird im folgenden Abschnitt ‚4.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ދgeleistet.
176
4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Krankenhausdienste und der Kommunalgesundheitsdienste, die Bereitstellung der Primärversorgung und die administrativen Verträge (Office of National Statistics 2002: 167). Ansonsten befinden sich beim Sektor der Primärversorgung fünf ,Local Health and Social Care Groups ދund beim Sektor des NHS Trusts 19 ,Health and Social Services Trusts( ދHam 2004: 107). 4.3.3.2 Die Verdienstersatzleistungen 4.3.3.2.1 Die Leistungsarten Die heutigen britischen Verdienstersatzleistungen bei Erkrankung bestehen aus der ‚Entgeltfortzahlung( ދStatutory Sick Pay) und den ‚Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit( ދshort-term incapacity benefits). Die Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit setzen sich aus der ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz( ދshort-term incapacity benefit at the lower rate) und der ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz( ދshort-term incapacity benefit at the higher rate) zusammen. Während die Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit den staatlichen beitragsbezogenen Leistungen zugehören, sind für die Entgeltfortzahlung die ArbeitgeberInnen zuständig. 4.3.3.2.2 Der erfasste Personenkreis Die Entgeltfortzahlung erfasst abhängig Beschäftigte. Von den Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit werden alle Erwerbstätigen erfasst (Europäische Kommission 2003c; Child Poverty Action Group 2004: 589). 4.3.3.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen 4.3.3.2.3.1 Die Entgeltfortzahlung Ob eine ärztliche Bescheinigung für Arbeitsunfähigkeit von den Antragstellenden gefordert wird und, wenn ja, wann sie vorgelegt werden muss, hängt vom Arbeitgeber ab. Allerdings dürfen die ArbeitgeberInnen während der ersten Woche der Krankheit das ärztliche Attest nicht erfordern. Während der ersten Woche wird die Anspruchsvoraussetzung schon dadurch erfüllt, dass der Antragstellende die Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat (Self-Certification) (Ogus und Wikeley 2002: 530).
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
177
4.3.3.2.3.2 Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz kann an diejenigen gewährt werden, die im Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit keine Entgeltfortzahlung beziehen können. 158 Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz kann nach dem Ablauf der Entgeltfortzahlung oder der Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz gezahlt werden. Für den Anspruch auf die Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit müssen folgende zwei beitragsbezogene Voraussetzungen erfüllt werden. Erstens müssen für ein Jahr der drei Jahre, die dem Leistungsjahr vorausgehen, Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 25fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze entrichtet worden sein. Zweitens müssen in jedem der zwei Jahre, die dem Leistungsjahr vorausgehen, Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 50fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze gezahlt oder gutgeschrieben worden sein (Ogus und Wikeley 2002: 535). Zudem müssen für den Bezug der Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz die Antragstellenden die eigene Krankheit dem Lokalbüro des ,Jobcentre Plus ދmelden (Self-Certification). Ab dem 8. Krankheitstag muss die Arbeitsunfähigkeit ärztlich bescheinigt werden (Child Poverty Action Group 2004: 283 f.). Das dabei vom Hausarzt (general practioner) ausgestellte Attest beruht auf dem ‚Own Occupation Testދ, durch den festgestellt wird, ob der Patient seine zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit weiter ausüben kann oder nicht (Ogus und Wikeley 2002: 539).159 Ob die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz gewährt wird, wird anhand der ‚Personal Capability Assessment ދentschieden, durch die die Arbeitsunfähigkeit der Antragstellenden unfassend überprüft wird. Diese medizinische Feststellung wird allerdings nicht vom Hausarzt der Patienten, sondern durch den unabhängigen Dritten, d.h. von einem dem ‚Medical
158 Die EmpfängerInnen der Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz sind zumeist Selbständige und seltener abhängig Beschäftigte, die keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung haben. 159 Ausführliche Informationen über den ‚Own Occupation Test ދfinden sich in Ogus und Wikeley 2002: 538-540 oder Child Poverty Action Group 2004: 758-760.
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Service ދ160 angehörenden Arzt, vorgenommen (Child Poverty Action Group 2004: 769).161 4.3.3.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 4.3.3.2.4.1 Die Entgeltfortzahlung Die Entgeltfortzahlung wird nach Ablauf von drei Karenztagen bis zu 28 Wochen gewährt. Ihre Höhe beträgt im Jahr 2002 wöchentlich 63,25 £ (Europäische Kommission 2003c). Die Entgeltfortzahlung kennt keine Familienzuschläge (Ogus und Wikeley 2002: 247). Sie ist steuer- und sozialabgabenpflichtig (Child Poverty Action Group 2004: 607). 4.3.3.2.4.2 Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz wird ebenfalls nach Ablauf von drei Karenztagen gezahlt. Für die ersten 28 Wochen wird 2002 53,50 £ pro Woche gewährt (Europäische Kommission 2003c). Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz beträgt wöchentlich 63,25 £ (Europäische Kommission 2003c). Sie wird für die Zeit von der 29. bis zur 52. Woche der Arbeitsunfähigkeit gezahlt. Wenn die Arbeitsunfähigkeit nach der 52. Woche noch andauert, kann die Leistung bei dauernder Arbeitsunfähigkeit (long-term incapacity Benefit) für die Zeit von der 53. Woche bis zum Erreichen des staatlichen Rentenalters gewährt werden. Bei den Leistungen bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit können ein Zuschlag für Ehepartner/-in und Kinderzuschläge gewährt werden (Europäische Kommission 2003c; Ogus und Wikeley 2002: 247, 250 f.; Child Poverty Action Group 2004: 782). Während die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz steuerfrei ist, unterliegt die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz der Besteuerung. Von beiden sind jedoch keine Sozialabgaben zu leisten (Child Poverty Action Group 2004: 289).
160 “The DWP [Department of Work and Pensions] has contracted a private company (referred to in this Handbook as the Medical Service (MS)) to provide a medical service for benefit purposes. The MS carries out medical examinations of claimants and provides advice on medical questions relating to incapacity and disability benefits.” (Child Poverty Action Group 2004: 752; Hervorhebung im Original) 161 Ausführliche Informationen über die ‚Personal Capability Assessment ދfinden sich in Ogus und Wikeley 2002: 541-546 und Child Poverty Action Group 2004: 760-774.
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
179
Parallel zum Bezug der Verdienstersatzleistung bei Krankheit können die EmpfängerInnen eine Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leisten, sofern die Arbeit eine therapeutische Arbeit ist und ihre Entgelte unter 66 £ pro Woche liegen. Wenn die Arbeit keinen anerkannten therapeutischen Effekt hat, sondern eine normale bezahlte Tätigkeit ist, aber ihre Entgelte unter 20 £ pro Woche liegen, können die EmpfängerInnen diese Arbeit ohne Stundenbegrenzung leisten. Liegt das Entgelt für die normale bezahlte Tätigkeit zwischen 20 £ und 66 £ pro Woche, dürfen die EmpfängerInnen höchstens 16 Stunden pro Woche diese Arbeit leisten. Diese Nebentätigkeit führt zu keiner Kürzung der Verdienstersatzleistung (Ogus und Wikeley 2002: 549 f.). 4.3.3.2.5 Der Finanzierungsmodus 4.3.3.2.5.1 Die Entgeltfortzahlung ArbeitgeberInnen finanzieren die Entgeltfortzahlung für ihre Beschäftigten. Wenn die Kosten für die Entgeltfortzahlung 13 % des Betrags, der der monatlichen Summe des Arbeitgeberanteils der Sozialversicherungsbeiträge in einem Betrieb entspricht, übersteigen, wird dieser Saldo vom Staat zurückerstattet. Die Rückzahlung erfolgt aus allgemeinen Steuermitteln (Ogus und Wikeley 2002: 94 f., 527 f.). 4.3.3.2.5.2 Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit Siehe 4.3.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.3.3.2.6 Das Trägersystem 4.3.3.2.6.1 Die Entgeltfortzahlung Für die Zahlung der Entgeltfortzahlung sind die ArbeitgeberInnen zuständig. 4.3.3.2.6.2 Die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit Siehe 4.3.2.6 Das Trägersystem.
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
4.3.4 Die Arbeitslosensicherung 4.3.4.1 Die Leistungsarten Die Verdienstersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit bestehen seit 1996 aus dem ‚Contribution-based Jobseeker’s Allowance ދund dem ‚Income-based Jobseeker’s Allowanceދ. In dieser Arbeit werden im Folgenden das ‚Contributionbased Jobseeker’s Allowance ދals das JSA I und das ‚Income-based Jobseeker’s Allowance ދals das JSA II genannt. 4.3.4.2 Der erfasste Personenkreis Berechtigt zum Bezug des JSA I sind abhängig Beschäftigte. Von dem JSA II werden alle Erwerbstätigen erfasst. 4.3.4.3
Die Anspruchsvoraussetzungen
4.3.4.3.1 Das JSA I Für den Anspruch auf JSA I müssen folgende zwei Beitragsvoraussetzungen erfüllt werden: Erstens müssen für ein Jahr der zwei Jahre, die dem Leistungsjahr vorausgehen, Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 25fachen der unteren Verdienstgrenze entrichtet worden sein. Zweitens müssen in jedem der zwei Jahre, die dem Leistungsjahr vorausgehen, Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 50fachen der unteren Verdienstgrenze gezahlt oder gutgeschrieben worden sein (Child Poverty Action Group 2004: 829 f.; Ogus und Wikeley 2002: 501 f.). 4.3.4.3.2 Das JSA II Das JSA II kann gewährt werden, wenn der Anspruch auf das JSA I erschöpft ist, weil die Bezugsdauer endet, oder wenn ein solcher Anspruch mangels der Erfüllung der Anwartschaft noch nicht erworben wurde.162 Das steuerfinanzierte JSA II hat die Bedürftigkeitsprüfung als zentrale Vorrausetzung. Bei dieser Prüfung werden Einkommen und Vermögen der
162 Wenn die EmpfängerInnen des JSA I trotz des Bezugs des JSA I große anerkannte Sonderbedürfnisse haben, dürfen sie nicht die Sozialhilfe, sondern das JSA II beantragen (Ogus und Wikeley 2002: 503).
4.3 Die heutigen britischen sozialen Sicherungssysteme
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Arbeitslosen berücksichtigt.163 Wenn ein/eine Arbeitsloser/-e einen/eine Partner/in und abhängige Kinder hat, werden die Einkommen und Vermögen der Familienmitglieder auch geprüft (Child Poverty Action Group 2004: 939-987). Um das JSA II zu erhalten, darf darüber hinaus dem/der Partner/-in der Arbeitslosen keine ‚Vollzeitbeschäftigung ދzur Verfügung stehen (Ogus und Wikeley 2002: 354). 4.3.4.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 4.3.4.4.1 Das JSA I Das JSA I wird nach einer Karenzzeit von drei Tagen gezahlt. Es wird für 26 Wochen im Fall der Arbeitslosigkeit gewährt. 2002 erhalten Personen ab 25 Jahren 53,95 £ pro Woche, 18-24-Jährige wöchentlich 42,70 £, und 16-17Jährige wöchentlich 32,50 £ (Europäische Kommission 2003d). Das JSA I hat keine Familienzuschläge (Ogus und Wikeley 2002: 247; Child Poverty Action Group 2004: 375). Die EmpfängerInnen des JSA I können während des Leistungsbezugs eine Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leisten. Infolge der Beschäftigung erfolgt keine Kürzung der Leistung. Liegt allerdings das durch Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit erzielte Einkommen über einer bestimmten Grenze, fällt das JSA I völlig aus (Ogus und Wikeley 2002: 502 f.).164 Bei JSA I gibt es Sanktionen bei „freiwilliger Aufgabe des Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund, Ablehnung oder Nichterfüllung einer sinnvollen Arbeitslosen-Orientierung (Jobseeker's direction)[165] der Arbeitsvermittlung (Jobcentre Plus), Verlust des Arbeitsplatzes aus eigenem Verschulden, Verweigerung der Annahme einer Arbeit oder einer Bewerbung für eine nachgewiesene Beschäftigung ohne triftigen Grund, Abbruch einer Trainingsmaßnahme oder eines Beschäftigungsprogramms aus eigenem Verschulden, grundloser Verweigerung der Bewerbung für ein Trainings- oder Beschäftigungsprogramm sowie Abbruch oder Nichtteilnahme, mangelnder eigener Aktivität zur Suche einer Beschäftigung, Entlassung aus den Streitkräften aufgrund eigenen Verhaltens“ (Europäische 163 Zum Beispiel werden diejenigen mit Ersparnissen von mehr als 8.000 £ von dem Bezug des JSA II ausgeschlossen (Ogus und Wikeley 2002: 500). 164 Wenn 2002 das Entgelt den Betrag des JSA I + 5 £ – 0,01 £ überschreitet, fällt das JSA I weg (Ogus und Wikeley 2002: 502 f.). 165 „Eine Arbeitslosen-Orientierung (Jobseekerތs direction) ist eine schriftliche Mitteilung der Arbeitsvermittlung (Jobcentre Plus) mit spezifischen Anweisungen für die Arbeitssuche wie z. B. Bewerbung für eine nachgewiesene Arbeit, Teilnahme an einem Training oder Verbesserung des Verhaltens oder des Erscheinungsbildes bei Vorstellungen bei potenziellen Arbeitgebern.“ (Europäische Kommission 2003d)
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Kommission 2003d). Die Sperrfristen können bis zu 26 Wochen dauern (Heinz und Werner 2003: 45). Das JSA I ist steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Europäische Kommission 2003d). 4.3.4.4.2 Das JSA II JSA II wird ebenfalls grundsätzlich erst nach drei Karenztagen gezahlt (Child Poverty Action Group 2004: 378). Das JSA II kann auf unbegrenzte Dauer geleistet werden, falls die Anspruchsvoraussetzungen für das JSA II weiterhin erfüllt sind und sofern weiterhin aktiv eine Arbeit gesucht wird (Ogus und Wikeley 2002: 359). Bei der Ermittlung des JSA II wird der Berechnungsmodus der Sozialhilfe (Income Support) angewendet. 166 Die Grundbeträge für Alleinstehende entsprechen den Beträgen des JSA I. Diese altersabhängige Basisleistung kann mit den ‚Premiums ދfür Fälle der besonderen Bedürfnisse, z.B. für Behinderte, und dem Wohngeld (Housing Costs) ergänzt werden. Wenn bei der Bedürftigkeitsprüfung, die die Einkommen oder Vermögen des Antragstellenden berücksichtigt, festgestellt wird, dass der Antragstellende über diese verfügt, kann sich das JSA II gegebenenfalls verringern oder sogar ganz wegfallen (Child Poverty Action Group 2004: 380). Wenn die EmpfängerInnen eine Familie haben, können die ‚Premiums ދfür Familien zusätzlich gewährt werden. Allerdings werden bei der Berechnung der Leistung Einkünfte und Ersparnisse der Familie auch mit angerechnet. Die Leistungsgewährung erfolgt gegebenenfalls in Höhe eines eventuellen Differentialbetrags (Child Poverty Action Group 1999b: 317-339). Die Sanktionen und die Besteuerung richten sich nach den Regelungen des JSA I. 4.3.4.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 4.3.1 Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. 4.3.4.6 Das Trägersystem Siehe 4.3.2.6 Das Trägersystem.
166 Ausführliche Darstellung des Berechnungsmodus der Sozialhilfe findet sich in Child Poverty Action Group 2004: 305-307, 862-911.
4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme
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4.4 Die Auswertung der Transformation der britischen sozialen Sicherungssysteme 4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme 4.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme 4.4.1.1 Die Restrukturierung Anders als in Schweden oder in Deutschland haben die Privatrenten Großbritanniens traditionell sehr gute Marktchancen, da die Privatrenten an die Stelle der staatlichen Zusatzrente treten. Das bescheidene Niveau der staatlichen Renten in Großbritannien forciert darüber hinaus den Wechsel zur Privatrente. Außerdem fördert der Staat seit der Einführung des SERPS mit den Maßnahmen, einen gewissen Mindeststandard im Rahmen der betrieblichen Zusatzsicherung sicherzustellen, die Betriebsrenten. Die ‚Contracted-outދ-Betriebsrenten hatten z.B. ihren Versicherten die Rentenhöhe zu gewährleisten, die mindestens dem Niveau entsprach, das unter dem SERPS erreicht worden wäre. Diese Vorgabe hieß ‚Guaranteed Minimum Pension( ދGMP) (Ogus und Barendt 1978: 225 f.). Darüber hinaus wurde die Aufgabe, die laufenden Betriebsrenten gegen Entwertung durch Inflation zu schützen, vollständig vom Staat übernommen. Die Regierung finanzierte bei den Bestandsrenten die Inflationsanpassung (Torrey und Thompson 1980: 58). Seit 1988 können die abhängig Beschäftigten die staatliche Rente verlassen und dem COMPS oder der APP angehören (Ogus und Wikeley 2002: 636, 639). Dies bedeutet, dass die abhängig Beschäftigten statt dem staatlichen Rentensystem dem privaten ‚Defined-Contributionދ-Rentensystem angehören können. Dadurch regte die britische Regierung das Ausscheiden der SERPS-Versicherten aus dem staatlichen Rentensystem noch stärker an (Ring und Mckinnon 2002: 14). 167 Außerdem gibt es Steuervergünstigungen: Die abhängig Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen werden für die Beiträge für die Privatrenten steuerlich entlastet, um die Attraktivität der Privatrente zu erhöhen (Association of British Insurers 2000: 17 f.; Devetzi 2003: 404 f.). 2001 wurde eine neue APP – die Stakeholder-Rente (Stakeholder Pension) – eingeführt. Ihre Zielgruppe sind ArbeitnehmerInnen, deren Einkommen zwischen LET und UET, also innerhalb des zweiten Bandes der Zweiten Staatsrente, liegen und die noch keinem anerkannten Betriebsrentensystem angehören (Ward 2002: 92). Die Einführung dieser Rente zielt darauf, Personen, die z.B. als Teilzeitbeschäftigte oder befristet arbeiten oder deren Branche üblicherweise keine 167 Während 1997 36 % aller abhängig Beschäftigten von dem SERPS versichert wurden, schlossen sich von den restlichen 63 % 37 % dem COSRS, 1 % dem COMPS und 26 % der APP an (Association of British Insurers 2000: 12).
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Betriebsrenten kennt, die Chance zu einem ,Contracting-out ދmittels einer Privatrente zu bieten (vgl. Association of British Insurers 2000: 16). Die Stakeholder-Renten stellen eine flexible Form der Alterssicherung dar: „Flexibel sind sie insofern, als die Unterbrechung der Beitragszahlung nicht mehr sanktioniert wird und die Personen in ein anderes Stakeholder Scheme wechseln können, ohne dass ihnen daraus finanzielle Nachteile erwachsen.“ (Devetzi 2003: 406) Außerdem haben seit 2001 die ArbeitgeberInnen der Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten und ohne eigene Betriebsrente ihren ArbeitnehmerInnen konkrete Pläne einer Stakeholder-Rente vorzuschlagen und ihnen den Wechsel zur Privatrente zu empfehlen (Child Poverty Action Group 2004: 527). Darüber hinaus werden die privaten Renten derer, die von der Möglichkeit des ‚Contracting-out ދGebrauch gemacht haben und weniger Einkommen als das LET erzielt haben, durch die Zahlung der Zweiten Staatsrente aufgestockt. Ferner werden die ‚Contracted-outދ-Betriebsrenten derer, die bis zur Höhe des UET verdient haben, ebenfalls vom Staat aufgestockt. Die Erhöhung der Privatrenten wird zum Zeitpunkt ihres Rentenzugangs automatisch vom Staat durchgesetzt (Ward 2002: 14, 16).168 Hier ist es zum Verständnis sehr wichtig, dass den Maßnahmen zur Förderung der Privatrente seit 2001 anders als die vorhergegangenen Bestrebungen ein tieferer Sinn als die Verstärkung des seit 1961 existierenden ,Contractingoutދ-Systems innewohnt. Das oben erklärte Ersetzen des SERPS durch die Zweite Staatrente ist bloß die erste Phase der neuen Restrukturierung der britischen Staatsrente (Ogus und Wikeley 2002: 625). Die britische Regierung schätzt, dass die zweite Phase der Restrukturierung etwa fünf Jahre nach der Einführung der Stakeholder-Rente stattfinden wird, sobald sich die Stakeholder-Rente selbst fest etabliert hat (Ward 2002: 14). Bei der zweiten Phase der Rentenrestrukturierung wird die Zweite Staatsrente “become a flat-rate scheme, paying all its members at a single rate on earnings up to the LET (but not above). Thus all those covered be the scheme, regardless of their earnings, will be treated as if they had an earnings factor based on the LET.” (Ogus und Wikeley 2002: 625) In der ersten Phase der Rentenrestrukturierung haben die BezieherInnen höherer Einkommen, d.h. die Personen mit Einkommen über dem UET, einen augenfälligen Anreiz zum Wechseln zu einer Privatrente, falls sie diesen Wechsel nicht ohnehin bereits vollzogen haben. Denn auf die Renten der Personen mit niedrigeren Einkommen wird eine höhere Steigerungsrate, die 168 Eine ausführliche Darstellung über dieses ,Top-Up ދvom Staat für die ‚Contracted-outދ-Privatrenten findet sich in Ogus und Wikeley 2002: 624.
4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme
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maximal doppelt so hoch sein kann, angewendet als bei den Renten der BezieherInnen höherer Einkommen. Während der Rentenbetrag der Versicherten mit Einkommen über dem UET nach der Rentenreform 2002 unverändert bleibt, ist die Höhe der Zweiten Staatsrente für die Personen mit Einkommen unterhalb des UET höher als die Rente, die durch das SERPS-Berechnungsverfahen berechnet worden wäre. Für diejenigen mit Einkommen unterhalb des LET wird die Rente in der Zweiten Staatsrente bis zum Doppelten erhöht. Diese ‚Gegendiskriminierung ދgegen Besserverdienende im Staatsrentensystem bietet den Besserverdienenden einen eindeutigen Anreiz zum Wechseln zu einer Privatrente (vgl. Ogus und Wikeley 2002: 625). In der zweiten Phase werden auch die BezieherInnen mittlerer Einkommen, d.h. diejenigen mit Einkommen zwischen dem LET und dem UET, deren Bandverdienst innerhalb des zweiten Bandes liegt, deutlich angeregt, die Zweite Staatsrente zu verlassen. Denn alle Personen mit Einkommen über dem LET haben nur die Rentenansprüche aus den auf dem LET rechnerisch nivellierten Einkommen. Während die Zweite Staatsrente so pauschalisiert wird, bleiben die Beiträge der Beitragklasse 1 unverändert einkommensproportional. Wenn diese Personen die staatliche Rente verlassen, werden nun den Einkommen entsprechende Beitragsnachlässe in ihre Privatrentenfonds gezahlt (vgl. Ring und Mckinnon 2002: 16).169 Aus dem Grund wartet die britische Regierung vor der Durchsetzung der zweiten Rentenreform auf den Zeitpunkt, bei dem die private Stakeholder-Rente für Personen mit mittleren Einkommen etabliert ist. Die Restrukturierung der britischen Rente scheint äußerlich die Einkommensschwachen bevorzugt zu berücksichtigen. Die letzte Absicht der Restrukturierung ist jedoch, dass im Gefüge der staatlichen Rente lediglich Einkommensschwache sowie nichterwerbstätige Elternteile, Personen, die kranke Angehörige pflegen, und Behinderte, also Personen, die üblicherweise in ihren Versicherungsbiografien Lücken aufweisen, verbleiben. Ihnen wird nur die pauschale Rente gezahlt, die sich nach dem Einkommen richtet, das dem LET gleich erachtet wird (Ogus und Wikeley 2002: 625).170
169 Wenn diejenigen, deren Einkommen über dem LET liegen, nach der zweiten Rentenreform noch im staatlichen Rentensystem bleiben, werden sie im Ruhestand eine ‚pauschalisierteދ Rente, die lediglich auf den unterstellten LET-Einkommen beruht, beziehen, obwohl sie während ihres ganzen Arbeitslebens die ‚einkommensproportionalen ދStaatsbeiträge bezahlt haben werden. Die zweite Phase der Rentenrestrukturierung kann also als eine Quasi-Zwangsmaßnahme, um die Versicherten mit mittleren und höheren Einkommen aus dem staatlichen Rentensystem zu vertreiben, interpretiert werden. 170 “In this way the government hopes to shift the balance in pension provision from 60 per cent public - 40 per cent private to 60 per cent private - 40 per cent public.” (Ogus und Wikeley 2002: 625)
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Bei der Restrukturierung des britischen Rentensystems wird durch den zu Selbstausgliederung anregenden ‚Ersatz ދinnerhalb des Staates die Zuständigkeit der Privatversicherungen für die Alterssicherung erweitert und die Verantwortlichkeit des Staates verringert. Hinsichtlich der Rentengewährleistung strebt der Staat danach, die Verantwortung des Marktes noch mehr auszuweiten (vgl. Ring und McKinnon 2002: 16). Demnach wird die Restrukturierung der britischen Rente als ‚privatheitszentrierte Restrukturierung ދdurch ‚Ersatz ދbewertet. Neben der Restrukturierung der Rente ist eine andere deutliche Veränderung in Bezug auf die Rente die Verstärkung der Sozialhilfeleistung für Alte. Im Oktober 2003 wurde das ‚Pension Credit – ދeine Fürsorgeleistung für Personen über dem 60. Lebensjahr – eingeleitet. Allerdings ist es, genau genommen, keine neue Leistung. Die Veränderung bedeutet, dass die Leistung für Alte innerhalb der vorhandenen Sozialhilfe (income support) von der normalen Sozialhilfe begrifflich und faktisch getrennt und verstärkt wurde. Es liegt also eine ‚Restrukturierung der Sozialhilfe ދvor. Das ‚Pension Credit ދbesteht aus zwei Leistungen: ‚Guarantee Credit ދund ‚Savings Creditދ. 2004 beträgt die Standardhöhe des ‚Guarantee Creditދ wöchentlich 105,45 £ für Alleinstehende und 160,95 £ für Ehepaare (Child Poverty Action Group 2004: 495). Die Beträge sind 20 % bis 25 % höher als die A-Grundrenten (79,60 £ für Alleinstehende und 127,25 £ für Ehepaare) (Child Poverty Action Group 2004: 517). Dieses Resultat zeigt eine deutliche Wiederbetonung des Grundprinzips der britischen Sozialpolitik, „dass die Deckung des Existenzminimums im Vereinigten Königreich nicht Aufgabe des staatlichen Rentensystems, sondern der Sozialhilfe nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ist“ (Devetzi 2003: 413). Das ‚Savings Credit ދkann gewährt werden, wenn die Summe aller Einkommen der Antragstellenden ein bisschen höher als die Standardhöhe des ‚Guarantee Credit ދist.171 Dies ist auf „Kleinrentner zugeschnitten, die allein wegen ihrer bescheidenen Zusatzeinkünfte (z. B. Betriebsrenten) über der Bedürftigkeitsgrenze liegen.“ (Devetzi 2003: 402) Zusammenfassend kann gesagt werden: Derzeit unterliegen die britischen Renten einer ‚privatheitszentrierten Restrukturierungދ, die Verantwortlichkeit des Staates zu verringern und die Rolle des Marktes zu erweitern. Parallel dazu wurde die Position der ‚Contracted-outދ-Privatrenten noch weiter verstärkt. Ebenso gewann die bedürftigkeitsabhängige Leistung für Alte noch mehr an Bedeutung.
171 Ausführlichere Informationen über das ,Savings Credit ދfinden sich in Child Poverty Action Group 2004: 498-450.
4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme
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4.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Das Niveau der Grundrenten ist im Vergleich zur Vergangenheit abgesunken. Während das Niveau in den 70er Jahren etwa auf 20 % des durchschnittlichen Verdienstes der Männer lag, beträgt es heute 15 % (Ogus und Wikeley 2002: 615, 589). Dieses Verhältnis wird sich auch weiterhin nicht verbessern, da anders als in den 1970er Jahren die Rente nur noch an den offiziellen Preisindex angepasst wird, also einen Inflationsausgleich erhält (Emmerson und Johnson 2001: 301). In den 70er Jahren wurden die laufenden Grundrenten jedes Jahr nach der Steigerung des Lohnes oder des Preises, je nachdem, was für die RentnerInnen günstiger war, erhöht. Seit den achtziger Jahren werden alle Sozialtransfers Großbritanniens nur noch an die Preissteigerung angepasst (Ogus und Wikeley 2002: 266, 589).172 Ogus und Wikeley (2002: 623) zufolge wird die Zweite Staatsrente vor der zweiten Phase der Rentenreform an die Personen mit Einkommen unterhalb des UET höher gewährt als die Rente, die diese Personen erhalten hätten, wenn ihre Rente durch das SERPS-Berechnungsverfahren berechnet worden wäre. Die Höhe der Zweiten Staatsrente für diejenigen mit Einkommen über dem UET ist so genauso hoch, wie die SERPS-Rente gewesen wäre. Jedoch ist hier anzumerken, dass das gerade oben erwähnte SERPS nicht das ursprüngliche, sondern das 1999 novellierte SERPS ist, das auf dem ‚Gesetz Sozialer Sicherung 1986 ދder Thatcher-Ära beruht. Die Ergebnisse des Vergleichs zwischen dem ursprünglichen SERPS und der Zweiten Staatsrente sind demnach anders als das obige Resultat. Zuerst sind die Ergebnisse des Vergleichs zwischen der Höhe des ursprünglichen SERPS und der des novellierten SERPS173 folgende: Erstens betrug die volle Rente bei dem ursprünglichen SEPRS 25 % des Durchschnittswertes der ‚berücksichtigten Einkommen ދ174 ; beim novellierten SERPS beträgt die volle 172 „Dadurch, daß die staatlichen Renten seit den 80er Jahren an die Inflationsrate und nicht (wie in anderen Ländern) an die Lohnsteigerungen gekoppelt sind, werden Einsparungen bei den Rentenzahlungen erreicht. Nach Schätzungen der Presse müßte der britische Staat schon jetzt 80 % mehr an Rentenzahlungen ausgeben. Die Löhne sind nämlich seit 1955 jährlich um 2 % mehr gestiegen als die Preise.“ (Devetzi 1999: 69) Außerdem: ,,If up-rating continues to be linked to increases in prices rather than earnings, the value of the basic pension will fall to just 6 per cent of average male earnings by 2060.” (Ogus und Wikeley 2002: 589) 173 Das hier erwähnte novellierte SERPS ist die novellierte SERPS-Rente, die nach der Übergangsphase gezahlt werden würde. Wenn ein Versicherter ab 1988, in dem sein 16. Lebensalter vollendet wurde, Beiträge gezahlt hätte und wenn die Zweite Staatsrente nicht eingeführt worden wäre, hätte die novellierte SERPS-Rente ab 2037 gezahlt werden können. 174 Das ‚berücksichtigte Einkommen ދheißt der verbliebene jährliche Betrag gerade vor der Multiplizierung mit einem Steigerungssatz in den Rentenberechnungsverfahren. Bei den ‚berücksichtigten Einkommen ދdes ursprünglichen SEPRS werden die 20 besten Jahreseinkommen
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Rente 20 % des Durchschnittswertes der ‚berücksichtigten Einkommenދ. Zweitens wurden bei der Rentenberechnung des ursprünglichen SEPRS maximal 20 Jahre berücksichtigt. Wenn ein Antragsteller weniger als 20 Beitragsjahre vorgewiesen hat, wurde der Betrag von 25 % seines Durchschnittswertes der ‚berücksichtigten Einkommen ދreduziert. Indessen wird bei der Berechnung des novellierten SERPS das ganze Arbeitsleben eingeschlossen. Dies bedeutet, dass beim novellierten SERPS die abhängig Beschäftigten für den Anspruch auf die volle Rente von 20 % des Durchschnittswertes der ‚berücksichtigten Einkommen ދwährend ihres ganzen Arbeitslebens – 49 Jahre für Männer, 44 Jahre für Frauen – ohne Unterbrechung beitragspflichtige Entgelte bekommen haben müssen. Wenn ein Antragsteller weniger als 49 Beitragsjahre vorweist, wird der Betrag von 20 % seines Durchschnittswertes der ‚berücksichtigten Einkommenދ in Proportion zur Zahl der fehlenden Jahre reduziert (vgl. Professional Development Partnership 2000: 155). Dass nicht die 20 ‚besten ދBeitragsjahre, sondern alle Jahre des Arbeitslebens berücksichtigt werden, führt unter anderem dazu, dass Personen mit kürzeren Erwerbsphasen bzw. mit häufigeren Unterbrechungen der Erwerbsbiographie eine stärker reduzierte Rente beziehen (Ward 2000: 13). “The ‚best 20 years ދprovision of SSPA 1975 [Social Security Pension Act 1975] would have been highly advantageous to persons reaching pensionable age in the twenty-first century whose working lives had been interrupted, whether by family responsibilities or by sickness, unemployment or other causes. It would also have helped those whose earnings for part of their working lives were particularly low, such as mothers returning to work part-time and those whose earning capacity was reduced by disabilities. The decision to base the additional pension on a person’s earnings averaged over the whole working life (except any years before 1978-79) necessarily disadvantaged such groups” (Ogus und Wikeley 2002: 618).175 aller jährlichen Einkünfte des Antragstellenden in die Betrachtung einbezogen. Also werden dabei maximal 20 jährliche Beträge berücksichtigt. Bei den ‚berücksichtigten Einkommen ދdes novellierten SERPS und der Zweiten Staatsrente werden die Einkommen aller Jahre des Arbeitslebens berücksichtigt. Der ‚Durchschnittswert der berücksichtigten Einkommen ދbei dem novellierten SERPS und bei der Zweiten Staatsrente ergibt sich daraus, dass die Summe der ‚berücksichtigten Einkommen ދnicht durch die Gesamtzahl der ‚berücksichtigten Jahre, sondern durch die Zahl der Jahre, in denen der Antragsteller tatsächlich beitragspflichtige Entgelte erzielt hat, dividiert wird. Mit dem ‚Durchschnittswert der berücksichtigten Einkommenދ kann man den durchschnittlichen Betrag der Einkünfte, die der Antagsteller während seiner ‚aktiven ދErwerbsphase verdient hat, abschätzen. 175 Hier ist es der Erwähnung wert, dass angesichts des Gesetzes Sozialer Sicherung 1986 die Regelung über die ‚Berücksichtigung der 20 besten Jahre ދdes ursprünglichen SEPRS gar keine Chance hatte, um in der Praxis angewendet zu werden. Das Jahr, bis zu dem das ursprüngliche SEPRS gültig war, war das Jahr 1998. Die Einkommen, die für die Antragstellenden des Jahres 1998 berücksichtigt wurden, waren die Einkommen im Zeitraum zwischen 1978 und 1997. Das
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Drittens: Bei der Umrechung der berücksichtigten Einkommen wurde beim ursprünglichen SEPRS der Betrag, der dem 52fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze des ‚letzten ދberücksichtigten Jahres entsprach, von den Verdienstfaktoren abgezogen, nachdem die Verdienstfaktoren mit den Prozentsätzen der Lohnsteigerungen multipliziert worden waren. Indessen wird beim novellierten SERPS zunächst der Betrag, der dem 52fachen der unteren Verdienstgrenze des ‚jeweiligen ދJahres entspricht, von dem Verdienstfaktor jedes Jahres abgezogen. Danach werden die Verdienstfaktoren an die Lohnerhöhung gekoppelt. Diese Veränderungen führen z.B. bei einem Renteneintritt 2020 zu einer Reduzierung des Niveaus der novellierten SERPS-Rente um 14 % gegenüber der ursprünglichen SERPS-Rente. Durch den Abzug des 52fachen der unteren Verdienstgrenze ‚jedes ދJahres ‚vor der Multiplizierung ދwerden die berücksichtigten Einkommen deutlicher reduziert als bei dem alten Verfahren des Abzugs des 52fachen der unteren Verdienstgrenze des ‚letzten ދberücksichtigten Jahres ‚nach der Multiplizierungދ. Denn die untere Verdienstgrenze wird nur an die Inflation angepasst, die zumeist langsamer als die Lohnsteigerung ist (Ogus und Wikeley 2002: 617). Wenn das Niveau der Zweiten Staatsrente für diejenigen mit Einkommen über dem UET mit dem Niveau des novellierten SERPS gleich ist, ist die Höhe der Zweiten Staatrente – wie oben gezeigt – deutlich niedriger als die Höhe, die bei Verwendung des ursprünglichen SEPRS zu erhalten gewesen wäre. Wenn die Zweite Staatsrente für Personen mit Einkommen unterhalb des UET mit dem ursprünglichen SEPRS verglichen wird, kann auch nicht festgestellt werden, dass die Zweite Staatsrente diese Personen meist besser stellt als das ursprüngliche SEPRS: Wenn z.B. ein Arbeiter während 49 Jahre vom 16. bis zum 64. Lebensjahr ohne Unterbrechung gearbeitet hat und seine Löhne immer auf dem LET-Betrag, auf den der höchste Steigerungssatz der Zweiten Staatsrente angewendet wird, gelegen haben, beträgt seine Zweite Staatsrente 40 % des Durchschnittswertes der berücksichtigten Einkommen. Allerdings wenn er nur für 20 Jahre beitragspflichtige Entgelte in Höhe von dem LET erzielt hat, beträgt seine Rente 16,33 % des Durchschnittswertes der berücksichtigten Einkommen.176 Bei dem ursprünglichen SEPRS hätte der Arbeiter eine Rente von 25 % des Durchschnittswertes der berücksichtigten Einkommen erhalten.
sind genau 20 Jahre. Angesichts der Entscheidung der konservativen Thatcher-Regierung hatte das ursprüngliche SEPRS der Arbeitspartei folglich gar keine Chance, um von den Einkommen der Versicherten die 20 besten Verdienste auszuwählen (Ward 2000: 13; Ogus und Wikeley 2002: 617). 176 Durchschnittswert der berücksichtigten Einkommen x 0,4 x 1/(49/20)
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Emmerson und Johnson (2001: 306 f.) verglichen die 2045 zu zahlende Zweite Staatsrente für einen männlichen Arbeiter mit einem Einkommen, das der Hälfte des Medianeinkommens177 entspricht, mit einer Rente, die dieser Arbeiter erhalten würde, wenn die ursprüngliche SERPS-Rentenberechnung fortgeführt werden würde. Ihnen zufolge beträgt die Summe aus der Rente nach dem ursprünglichen SEPRS und der Grundrente 17,9 % des Medianeinkommens, die Summe aus der Zweiten Staatsrente und der Grundrente 18,8 %. Die Zweite Staatsrente wäre also höher als die gemäß dem ursprünglichen SERPS-Verfahren berechnete Rente. Allerdings wäre es für Erhalt des höheren Betrags notwendig, dass der Arbeiter während der 49 Jahre seines ganzen Arbeitslebens ohne Ausnahme die beitragspflichtigen Löhne erzielt hat. Wenn von den 49 Jahren fünf Jahre fehlten, wäre die Summe aus der ursprünglichen SERPS-Rente und der Grundrente gleichermaßen 17,9 %. Indessen wäre die Summe aus der Zweiten Staatsrente und der Grundrente auf 17,5 % abgesunken. Schon bei fünf Ausfalljahren in seinem ganzen Arbeitsleben wäre die Höhe der Zweiten Staatsrente niedriger als die Höhe des ursprünglichen SEPRS. Also ist zu erkennen, dass das Niveau der Rentenansprüche gemäß der heutigen Staatsrente Großbritanniens im Vergleich zu dem Niveau der 1970er Jahren zumeist niedriger liegt. In Bezug auf die weiteren wichtigen Veränderung innerhalb der Struktur wird auf die Abschaffung der Verknüpfung zwischen dem Arbeitseinkommen der RentnerInnen und dem Rentenbezug hingewiesen. Die Ruhestandsvoraussetzung wurde 1989 abgeschafft (Ogus und Wikeley 2002: 611). Die Einführung der Ruhestandsvoraussetzung hatte zum Ziel gehabt, dadurch, dass die Rente nur an nichterwerbstätige RentnerInnen gezahlt wurde, den Staatshaushalt von Rentenlasten zu entlasten (Ogus und Barendt 1978: 199). Allerdings wurde die Ruhestandsvoraussetzung aus diesem Grund oft kritisiert, denn sie schwäche so den Anreiz zur Arbeitsaufnahme (siehe Ogus und Barendt 1978: 200, 216, 221; Ogus und Wikeley 2002: 610). Die Abschaffung der Ruhestandsvoraussetzung hieß, die Grenze zwischen dem Arbeitsleben und dem Ruhestand zu vernichten. Die Reform war „designed to encourage persons above pensionable age to remain in regular employment, which they can now do while drawing the state pension in full.“ (Ogus und Wikeley 2002: 611) Die Maßnahme für die Erhöhung des Anreizes zur Arbeitsaufnahme wird mit folgenden weiteren zwei Maßnahmen noch weiter verstärkt werden: Ab 2010 wird ein zeitlich unbegrenzter Aufschub der Renten möglich sein (Europäische
177 Das Medianeinkommen für Männer ist so definiert, dass es etwas geringer als die Hälfte der oberen Verdienstgrenze ist (Emmerson und Johnson 2001: 306).
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Kommission 2003b). Außerdem werden die Renten beim Rentenaufschub jährlich um ca. 10 % erhöht (Devetzi 2003: 399; Ogus und Wikeley 2002: 611). Als eine andere wichtige innerstrukturelle Veränderung wurden die Regelungen, die der besonderen Situation Einkommensschwacher, nichterwerbstätiger Elternteile, PflegerInnen von kranken Familienangehörigen und Behinderter Rechnung tragen, bei der Zweiten Staatsrente eingeführt. Die Einführung der rentensteigernden Berücksichtigung ist vor allem auf die Bestrebung zurückzuführen, die Benachteiligten aufgrund der Abschaffung der Regelung der 20 ‚besten ދJahre des ursprünglichen SERPS als weniger schlimm erscheinen zu lassen und in genannten Sonderfällen, die in der Öffentlichkeit sonst besonders negativ erscheinen würden, zum Teil zurückzunehmen (Ogus und Wikeley 2002: 618). Hinsichtlich der Finanzierung der beitragsbezogenen Leistungen einschließlich der Renten lassen sich folgende beträchtliche Veränderungen beobachten: Zuerst wurden die Maßnahmen zur Förderung des Ausbaus der Niedriglohnbereiche eingeführt. 1985 wurde die Form der Beitragsklasse 1 in den ‚progressiven ދModus umgesetzt (Ogus und Wikeley 2002: 106). Die Beitragssätze für abhängig Beschäftigte und ihre ArbeitgerInnen waren nach der Höhe der Entgelte progressiv ansteigend. Der Beitragsbetrag eines Versicherten wurde also von mehreren verschiedenen Beitragssätzen ermittelt, die jeweils sich auf die zwischen den verschiedenen Bemessungsgrenzen liegenden Einkommensanteile beziehen und die progressiv gesteigert sind. Demnach zahlten Einkommensschwache nicht nur real geringere, sondern auch relativ geringere Sozialversicherungsbeiträge als Einkommensstarke (Ogus und Wikeley 2002: 92). Außerdem entrichteten nun die ArbeitgeberInnen auch Sozialversicherungsbeiträge für den Teil der Einkünfte ihrer Beschäftigten, der über der oberen Verdienstgrenze liegt (Ogus u.a. 1988: 33). Der ‚National Insurance Surcharge ދfür die ArbeitgeberInnen wurde hingegen abgeschafft. 1989 wurde der progressive Modus für abhängig Beschäftigte abgeschafft, „on the grounds that the graduated contribution rates created a disincentive for employees to seek out more highly paid work“ (Ogus und Wikeley 2002: 106). Der nämliche Modus für ArbeitgeberInnen wurde 1999 abgeschafft. 1999 hob die Blair-Regierung die Beitragspflicht für den Teil unter der unteren Verdienstgrenze von den Entgelten auf. Dies zielte darauf ab, den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Seit 2000 zahlen die abhängig Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen keine Beiträge für den Teil der Einkünfte, der zwischen der unteren Verdienstgrenze und der ersten Verdienstgrenze liegt. Die Beschäftigten, deren Entgelte zwischen den beiden Grenzen liegen, werden allerdings in Bezug auf alle beitragsbezogenen Leistungen so behandelt,
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als hätten sie Sozialversicherungsbeiträge entrichtet (Ogus und Wikeley 2002: 92, 107). Wie bereits dargestellt wurde, haben die britischen Regierungen durch die Verminderungen der Sozialversicherungsbeiträge für den niedrigeren Teil der Entgelte danach gestrebt, die Niedriglohnbereiche auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung in diesen Bereichen zu erhöhen (Ogus und Wikeley 2002: 92). Hinsichtlich der Finanzierung für die Sozialversicherung lässt sich zweitens die Tendenz beobachten, Beiträge für den Teil der Einkommen, der über der oberen Beitragsbemessungsgrenze liegt, zu erheben. Die ArbeitgeberInnen entrichten – wie oben erklärt – seit 1985 Sozialversicherungsbeiträge für den Teil der Einkünfte ihrer Beschäftigten, der über der oberen Verdienstgrenze liegt. Seit 2003 zahlen abhängig Beschäftigte Beiträge von 1 % für den Einkommensteil über der oberen Verdienstgrenze (Ogus und Wikeley 2002: 107; Child Poverty Action Group 2004: 817). Die Selbständigen in der Beitragklasse 4 zahlen neben den einkommensbezogenen Beiträgen ebenfalls Beiträge von 1 % für den Einkommensteil über der oberen Beitragsbemessungsgrenze (Ogus und Wikeley 2002: 117; Child Poverty Action Group 2004: 820). In dem britischen Finanzierungssystem für die beitragsbezogenen Leistungen lässt sich parallel zur Verminderung der Beiträge bei dem niedrigeren Teil der Einkommen die Neuerhebung der Beiträge bei dem höheren Teil der Einkommen beobachten. In Bezug auf die Veränderung der Finanzierungsmodi für die beitragsbezogenen Leistungen ist drittens auf die Verringerung der Etatbelastung des Zentralstaates hinzuweisen. In den 70er Jahren wurden 18 % des Gesamtaufwandes für die Leistungen durch ‚staatliche Zuschüsse( ދTreasury Supplement) aus allgemeinen Steuern finanziert. Der genaue Betrag von 18 % wurde im Gesetz festgelegt. Die ‚staatlichen Zuschüsse ދwurden 1989 abgeschafft. Dabei wurden die Beitragssätze für abhängig Beschäftigte und ArbeitgeberInnen erhöht. 1993 wurde der staatliche Beitrag als die ‚staatliche Subvention( ދTreasury Grant) wiederbelebt. Ihre Höhe wird nach der Ausgeglichenheit des Sozialversicherungsfonds des betreffenden Jahres festgesetzt. Seit 1999 ist allerdings der Beitrag des Zentralstaates unnötig, da seit diesem Jahr der Sozialversicherungsfonds jedes Jahr erhebliche Einnahmenüberschüsse erzielt. Solange die Beiträge an den Lohn gekoppelt sind und die Sozialleistungen an den staatlichen Preisindex angepasst sind, steht in Aussicht, dass die staatliche Subvention für den Sozialversicherungsfonds weiter überflüssig ist (Ogus und Wikeley 2002: 94 f.; Lynes 2008). Hinsichtlich der Veränderung des Trägersystems wurde 1989 das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung in das Ministerium für Gesundheit und das Ministerium für Soziale Sicherung aufgeteilt. 2001 entstand das
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Ministerium für Arbeit und Renten durch den Zusammenschluss des Ministeriums für Soziale Sicherung und des Ministeriums für Ausbildung und Beschäftigung (Ogus und Wikeley 2002: 130). 1991 wurden die ,Agencies ދmit administrativer Autonomie gegründet. Sie führen die Verwaltungsangelegenheiten der sozialen Sicherung durch. Diese Strukturveränderung geschah mit „dem Ziel, einen besseren Ablauf der Verwaltungstätigkeit zu erreichen“ (Devetzi 1999: 46 f.). 1999 wurde die Verantwortung für die Politik in Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge und den Sozialversicherungsfonds dem Finanzministerium übergeben (Ogus und Wikeley 2002: 93; Lynes 2008). 4.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme 4.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme 4.4.2.1.1 Die Restrukturierung Wie in den Darstellungen der frühren und heutigen Systeme der Gesundheitsversorgung gezeigt wurde, trägt der Zentralstaat noch die Verantwortlichkeit für die Finanzierung für medizinische Versorgung. Der Zentralstaat konstituiert die Gesamtgröße des NHS-Haushaltes. Innerhalb dieses Gesamtetats verteilt er die Ressourcen für Gesundheitsversorgung unter den vier Teilreichen des Vereinigten Königreiches (Fattore 2001: 735 f.; Bloor und Maynard 2002: 264).178 Außerdem lässt sich keine Abschaffung der bestehenden Kostenübertragungsbereiche des öffentlichen Kostenträgers innerhalb des ambulanten, des stationären und des zahnärztlichen Versorgungssektors und des Arzneimittelsektors beobachten.179
178 “The size of the NHS budget is shaped by the state of the economy and government decisions on the priority to be attached to different spending programmes.” (Ham 2004: 74) Das heißt, dass „[d]er NHS wird aus den allgemeinen Steuereinnahmen des Staates finanziert und konkurriert somit bei den jährlichen Haushaltsberatungen (und den mittelfristigen Finanzplanungen) mit anderen Ausgabenposten und Prioritäten, von der Rückführung der Staatsverschuldung über den Straßenbau bis hin zur Finanzierung von Militäreinsätzen.“ (Greer 2006: 505) 179 Es ist zum Verständnis wichtig, dass die Abschaffung eines Kostenübertragungsbereichs als solcher und die Aufhebung einiger Leistungen oder Items innerhalb des Kostenübertragungsbereichs deutlich differenziert werden. In dieser Arbeit bedeutet eine Abschaffung in dem Gesundheitsversorgungssektor die Abschaffung eines Kostenübertragungsbereichs als solcher.
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4.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Hinter dem Status quo der Kostenübertragungsstruktur stand allerdings eine massive Kostendämpfung, die ein zentrales Merkmal der Gesundheitspolitik der Regierungszeit der konservativen Partei war: “One of the mechanisms used was cash limits which capped expenditure on most areas of NHS spending and imposed a strict financial discipline on those responsible for running services.” (Ham 2004: 74)180 Die massive Zunahme der Finanzmittel für das NHS in der frühen Zeit der Blair-Regierung (Greer 2006: 499; Ham 2004: 74 f.) kann als Beweis für die langfristig anhaltende, scharfe ,,underfunding“ (Ginsburg 1992: 182) des NHS durch die konservative Partei gesehen werden.181 Darüber hinaus wurde in der Thatcher-Zeit der Plan, das NHS durch ein soziales Krankenversicherungssystem zu ersetzen, in Erwägung gezogen. Es gab in der konservativen Partei sogar Forderungen nach einer Privatisierung des NHS (Schmucker 1995: 64; Alcock, Payne und Sullivan 2000: 197). Diese Pläne konnten jedoch nicht umgesetzt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die nachhaltige Unterstützung für das NHS seitens der Bevölkerung sehr groß war. „Als wichtigste ist sicher die ungebrochene Popularität des Gesundheitsdienstes zu nennen. Der gleichberechtigte Zugang aller Bürger zur kostenlosen medizinischen Versorgung stellt im Bewußtsein der britischen Bevölkerung die wichtigste Errungenschaft des ,welfare state‘ dar. Diese Bejahung der Grundprinzipien des NHS zieht sich, wie Meinungsumfragen immer wieder zeigen (vgl. Döhler 1989, S. 2), durch alle Bevölkerungsschichten und wird auch nicht durch die langen Wartenzeiten getrübt, die für einen Krankenhausaufenthalt in Kauf genommen werden müssen. Aber auch bei den gesundheitspolitischen Akteuren existiert eine starke Identifikation mit dem NHS, die keinen Reformdruck entstehen ließ.“ (Schmucker 1995: 64)
Aus diesem Grund konnte die Thatcher-Regierung die ‚Restrukturierung ދdes NHS im Sinne dieser Untersuchung nicht umsetzen. Stattdessen setzte sie 180 Das Wort ‚cash limits ދbedeutet ein ‚Globalbudgetދ, das „ein vorgegebenes Ausgabenvolumen mit einer festen Obergrenze“ (Becker-Berke und Lautwein-Reinhard 2004: 117) für gesamte Kostenübertragungsbereiche vorsieht. 181 Die Blair-Regierung vermehrte die NHS-Ausgaben zwischen 1999 und 2002 um 21 Mrd. £. Diese Zunahme entsprach einem jährlichen Anstieg von 4,7 Prozent des NHS-Haushaltes in realen Preisen (Ham 2004: 61). Indessen hatte die Thatcher-Regierung eine sehr strenge Kontrolle des Zentralstaates über die NHS-Ausgaben ausgeübt. Infolgedessen wuchsen die NHS-Haushalte zwischen 1983 und 1987 anhand der realen Kaufkraft kaum. Während der 80er Jahren sanken die Anteile der öffentlichen Ausgaben für das NHS am BIP sogar (Fattore 2001: 738). Das NHS-System geriet daher 1987 und später zu Zeiten der Major-Regierung in eine finanzielle Krise (Ham 2004: 76).
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Leistungserbringer in einen starken Wettbewerb. Durch die Einführung des ‚Internen Marktes ދim Jahr 1991 wurde eine Trennung zwischen Käufern und Anbietern im Bereich der Gesundheitsdienste errichtet. Zuerst wurden die vorhandenen Krankenhäuser, die bisher unmittelbar von den Gesundheitsbehörden betrieben wurden, allmählich zu den ,NHS Trusts ދumgewandelt. Zwar verbleiben die Krankenhäuser in Staatsbesitz und die Vorstandsvorsitzenden der NHS-Trusts werden vom Staat delegiert. Jedoch haben die NHS-Trusts eine eigenständige Verwaltung und größere Autonomie gegenüber den Gesundheitsbehörden bei Entscheidungsfindung und Ressourcenallokation. Sie haben einen eigenständigen Entscheidungsspielraum in Bezug auf die Finanzierung für das Krankenhaus, die Tarifverhandlungen mit seinem Personal und die Personalstärke (Bloor und Maynard 2002: 273; Fattore 2001: 758 f.). Die lokalen Gesundheitsbehörden kaufen nun als Kaufsagenturen von den öffentlichen, aber gleichwohl selbstverwaltenden Krankenhäusern die Gesundheitsdienste ein. Die NHS-Trusts konkurrieren miteinander in Bezug auf Preis und Effizienz der medizinischen Behandlungen. Die lokalen Gesundheitsbehörden wählen zumeist die Krankenhäuser aus, die die Gesundheitsbedürfnisse der örtlichen Bevölkerung am kostengünstigsten erfüllen können. Die Gesundheitsbehörden schließen mit den NHS-Trusts Verträge über den Kauf der medizinischen Behandlungen ab und zahlen ihnen die Kosten für die Gesundheitsdienste (Bloor und Maynard 2002: 272). Die marktorientierte Reform zur Kostenkontrolle und Effizienzsteigerung (Fattore 2001: 758 f.; Bloor und Maynard 2002: 272 f.) setzte die Institutionen der Gesundheitsdienste unter einen erheblichen Wettbewerbsdruck: Die Trennung in Käufer und Anbieter wurde im ganzen Land in ähnlicher Form durchgesetzt. 1995 waren letztendlich alle staatlichen Krankenhäuser zu den NHSTrusts transformiert (Bloor und Maynard 2002: 273). Alle Krankenhäuser konkurrieren also miteinander um die Aufträge. Der Versuch, die Kosten zu senken, wird für die Krankenhäuser zur existentiellen Aufgabe (Schmucker 1995: 65). Parallel zum Wettbewerb zwischen den Anbietern entstand auch ein Konkurrenzdruck zwischen den Käufern. Niedergelassene Allgemeinärzte (general practioners, GPs) mit einer Praxisgröße von mehr als 11.000 Patienten konnten auf Wunsch ‚GP-fundhodler ދwerden. Solchen Ärzten wurde im Unterschied zum vorhandenen Honorierungsverfahren ein festes Budget zugewiesen. Die GPfundhodler mussten aber mit dem Budget nicht nur die Kosten für die Praxisbehandlungen abdecken, sondern auch für ihre eigenen Patienten stationäre Behandlungen bei den NHS-Trusts kaufen (Fattore 2001: 761-768). Die lokalen Gesundheitsbehörden und die GP-fundholder konkurrieren miteinander, um „die im eigenen Interesse und im Interesse ihrer Patienten billige und dennoch qualitativ gute medizinische Behandlungen“ (Schmucker 1995: 65) zu erwerben.
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Vor der Einführung des Internen Marktes war das NHS-System eine hierarchisierte Organisation mit einer pyramidenförmigen Struktur: „Das Geld floss vom Gesundheitsministerium über die Regionen und die Gesundheitsbehörden der Bezirke (District Health Authorities, DHA) zu den Krankenhäusern und niedergelassenen Allgemeinärzten, den GPs. Die Entscheidungen wurden so nahe beim Patienten getroffen wie möglich [...] Das Gesamtmodell war ein Triumph des Subsidiaritätsgedankens und hatte unter keinerlei wettbewerblichen Druck gestanden.“ (Greer 2006: 497)
Die konservative Regierung setzte dagegen die Wettbewerbslogik auf das NHSSystem an. Das NHS-System transformierte sich von einer verwalteten zu einer gemanagten Institution: „Die Entscheidungskriterien im Gesundheitsdienst werden ökonomisiert, um die öffentlichen Ausgaben langfristig zu begrenzen.“ (Schmucker 1995: 66)182 Als eine weitere Veränderung innerhalb der Gesundheitsversorgungsstruktur wird die Dezentralisierung des Managements genannt. Wie in der Darstellung des heutigen Systems der britischen Gesundheitsversorgung gezeigt wurde, haben sich seit 1998 die vier weitgehend eigenständigen und unterschiedlichen Gesundheitssysteme in Großbritannien herausgebildet: „[E]s ist nicht mehr möglich von britischer Gesundheitspolitik zu sprechen, weil es jetzt vier verschiedene Gesundheitspolitiken in vier verschiedenen politischen Kontexten gibt.“ (Greer 2006: 499; Hervorhebung im Original) “England is the most market-based; the Labour government has pursued marketbased service organisation and private participation and focused on service provision rather than new public health. Scotland is its near-opposite, rebuilding the unitary NHS with strong planning and service integration and a buyout of Scotland’s most prominent private hospital as well as a small but meaningful commitment to new public health.[183] Wales diverges not only in its reluctance to work with the private sector and its strong commitment to new public health but also in the way that
182 Hier ist es der Erwähnung wert, dass der seit dem Anfang des NHS unterentwickelte private Gesundheitssektor nicht beträchtlich gefördert wurde, obwohl die marktformierte Wettbewerbsstruktur innerhalb des NHS-Systems herausgebildet wurde: “Most private hospitals are small by NHS standards and they provide a limited range of outpatient, day care and inpatient procedures. Bed occupancy rates are much lower than in the NHS and only a minority of hospitals have facilities like intensive care units and resident medical staff that enable them to carry out more complex treatments.” (Ham 2004: 241) 183 “In September 2001 the decision-making powers of the 15 Health Boards and 28 NHS Trusts were brought together in 15 new unified NHS Boards […]. The introduction of the new NHS Boards aims to unify local health services and ensure that national clinical and service standards are delivered in all parts of Scotland.” (Office of National Statistics 2002: 166)
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commitment shapes its service organization.[184] Northern Ireland has changed little, retaining the 1991 internal market for want of a political structure able to change[185]; it has thus combined a meaningful commitment to new public health and skepticism about the private sector with a market model derived from England.” (Greer 2003: 198-199; zit. n. Ham 2004: 109)
Die letzte innerstrukturelle Veränderung des britischen Gesundheitsversorgungssystems ist die Ausweitung der Selbstbeteiligung der Patienten sowie der persönlichen Ausgaben für die privat angebotenen Dienstleistungen, die sowohl von den privaten Anbietern als auch von den NHS-Anbietern erbracht werden. Während der letzten 25 Jahre ist der Anteil der privaten Zahlung an den gesamten Gesundheitsausgaben ständig gestiegen. Hinter der Zunahme der privaten Zahlungen steht vor allem die politische Entscheidung, die öffentlichen Zahlungen zu verringern (Ham 2004: 239). Ein signifikantes Zeichen für diese Politik war die äußerst niedrigen Gesundheitshaushalte der konservativen Regierung (Greer 2006: 499): ,,Private expenditure is made up of the charges paid by patients for NHS prescriptions, dental care and ophthalmic services, as well as spending on services that are provided privately. The latter may be paid for out of pocket or under the terms of private medical insurance.“ (Ham 2004: 75) Im Rahmen der Zunahme der Patientenzuzahlung und der Begrenzung der Leistungsbereiche kostenloser staatlicher Versorgung ist die inflationsbereinigte Verachtfachung der NHS-Gebühren zwischen 1979 und 1996 zuerst zu nennen (Fattore 2001: 742). Während der Anteil der Patientenzuzahlungen an den gesamten Ausgaben für die NHS-Zahnbehandlung 1973 20 % betrug, belief er sich 1998 auf 30 % (Bloor und Maynard 2002: 263). 1985 stellte die konservative Regierung eine ‚negative ދListe von 600 pharmazeutischen Produkten auf, die nicht mehr vom Staat bezahlt wurden. Diese ‚Delisting ދder zugelassenen Arzneimittel wurde wiederum 1993 wiederholt und die Liste der nicht vom NHS bezahlten Medikamente wurde erweitert (Fattore 2001: 747). Bis 1989 wurden noch allen BürgerInnen der kostenfreie Sehtest und die anteilige Kostenübertragung für Brillen geboten. Nach diesem Zeitpunkt erhalten nur noch einzelne Gruppen diese Unterstützungen (Ham 2004: 239; Fattore 2001: 740).
184 Im März 2003 ersetzten 22 Kommunale Gesundheitsbehörden (Local Health Boards) die fünf Gesundheitsbehörden (Health Authorities) „mit dem Ziel, das Gravitationszentrum des NHS nach »unten« zu verlagern und dabei die Kommunalverwaltung sowie die Sozialdienste besser zu integrieren.“ (Greer 2006: 503; Hervorhebung im Original) 185 „Die offenkundigste Schwierigkeit in Nordirland ist, dass die konfessionellen Auseinandersetzungen alles andere und somit auch Debatten über politische Sachfragen überlagern. Die hieraus folgende Politik leidet unter Anachronismen und mangelnder Beweglichkeit.“ (Greer 2006: 504)
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Hinsichtlich der persönlichen Ausgaben für die privat angebotenen Dienstleistungen sind folgende zu nennen: Über 6 Millionen Menschen, rund 11 Prozent der Bevölkerung, sind heute bei privaten Krankenversicherungen versichert. Die Zahl der Privatversicherten nahm während der Laufzeit des NHS allmählich zu. Besonders während der frühen 80er Jahre stieg die Zahl der Privatversicherten rasch. Die Mehrzahl der Privatversicherten ist bei den Betriebskrankenversicherungen versichert, die von Unternehmen als betriebliche Sozialleistungen angeboten werden. 186 Die privaten Krankenversicherungen bieten ihren Versicherten keine umfassende medizinische Versorgung an. Normalerweise sind Primärversorgung, Notfallversorgung und Gesundheitsdienste für Mutterschaft ausgeschlossen. Hier werden sie als die bereits existierenden NHSVersorgungsleistungen vorausgesetzt. Die Versicherten der privaten Krankenversicherungen können lange Wartezeit für NHS-Behandlung vermeiden, im eigenen Interesse Fachärzte und Krankenhäuser auswählen und im Krankenhaus unter anderem ein besseres, weniger belegtes Zimmer bis hin zum Einzelzimmer oder besseres Essen genießen. Zurzeit nimmt auch die Zahl derjenigen, die die Kosten für die privat angebotenen Dienstleistungen ohne Einschaltung einer Versicherung selbst bezahlen, erheblich zu (Ham 2004: 75, 239 f.). Angesichts der Zunahme der Selbstbeteiligung der Patienten und der persönlichen Ausgaben für die privat angebotenen Dienstleistungen ist der Anteil der privaten Zahlung an den Gesamtausgaben für Gesundheitsversorgung des Jahres 2003 5,4 % höher als der im Jahre 1975. 1975 betrugen in Großbritannien die Ausgaben für Gesundheitsversorgung 5,5 % des BIP (Brunsdon und May 1995: 11). Der Anteil der privaten Zahlung an den Gesamtausgaben war 8,9 %.187 2003 wurden 8 % des BIP für Gesundheitsversorgung ausgegeben. Der Anteil der privaten Zahlung war 14,3 % der Gesamtausgaben (WHO 2006: 64).188
186 Die Entwicklung der Betriebskrankenversicherung ist auf die Steuervergünstigung für private Krankenversicherungen zurückzuführen, die von der Thatcher-Regierung eingeführt wurde. 187 Die Prozentzahl für den Anteil der privaten Zahlung an den Gesamtausgaben beruht auf der Angabe der OECD (1996b), die besagt, dass der Anteil der öffentlichen Ausgaben an den Gesamtausgaben 1975 91,1 % sei. 188 Es ist hier der Erwähnung wert, dass die hier beobachtete Zunahme der privaten Zahlungen von der Vermehrung der Belastung der Individuen aufgrund der Abschaffung der Kostenübertragungsbereiche des öffentlichen Trägers deutlich zu unterscheiden ist. Die heutige Zunahme der Finanzbelastung der Individuen ist auf die Vermehrung der NHS-Gebühren, die Ausgrenzungen einiger Leistungen oder Items innerhalb der Kostenübertragungsbereiche und die Steigerung der persönlichen Ausgaben für die privat angebotenen Dienstleistungen zurückzuführen.
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4.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme 4.4.2.2.1 Die Restrukturierung Die britischen Verdienstersatzleistungen bei Krankheit wurden mittlerweile dreimal restrukturiert. Erstens wurde 1982 die ‚einkommensbezogene Leistungދ, die für abhängig Beschäftigte bei Erkrankung mit der ‚einheitlichen Leistung ދgewährt wurde, abgeschafft (Ogus und Wikeley 2002: 522). Wie in der Vorgeschichte dargestellt wurde, war die einkommensbezogene Leistung ein gewichtiger Sozialtransfer Großbritanniens. Während die einheitliche Leistung 1975 wöchentlich 11,10 £ betrug, war die einkommensbezogene Leistung für die Beschäftigten mit durchschnittlichem Lohn 9,3 £ (Blaustein und Craig 1977: 229). Die Aufhebung der einkommensbezogenen Leistung ist auf die Politik der sozialen Einschnitte und Kürzungen unter der Thatcher-Regierung zurückzuführen. Zweitens wurde 1983 die Entgeltfortzahlung eingeführt (Ogus und Wikeley 2002: 523). Am Anfang war die Finanzbelastung der ArbeitgeberInnen für die Entgeltfortzahlung wegen staatlicher Zuschüsse sehr gering. Die Finanzverantwortung der ArbeitgeberInnen für die Entgeltfortzahlung wurde allerdings seitdem allmählich vergrößert. Heute wird ein Teil der Kosten vom Staat den ArbeitgeberInnen zurückerstattet, sofern die Kosten für Entgeltfortzahlung eine bestimmte Grenze überschreiten.189 Im Zuge der Übergabe der Zuständigkeit für die Verdienstersatzleistung von der staatlichen Seite an die ArbeitgeberInnen konnte die staatliche Finanzbelastung für das Krankengeld sehr verringert werden (Ogus und Wikeley 2002: 94). Nach der Einführung der Entgeltfortzahlung sind die EmpfängerInnen der ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satzދ, die die Nachfolge des einheitlichen Krankengeldes angetreten hat, überwiegend Selbständige (Ogus und Wikeley 2002: 523). Drittens hat 1995 die ‚Leistung bei Arbeitsunfähigkeit( ދIncapacity Benefit) das frühere ‚Krankengeld( ދSickness Benefit) und die vormalige ‚Invalidenrenteދ (Invalidity Pension) abgelöst. Die ‚Leistung bei Arbeitsunfähigkeit ދtrat sowohl bei kurzfristiger als auch bei langfristiger Erkrankung und bei Arbeitsunfähigkeit als eine pauschalisierte Leistung an die Stelle der beiden alten Leistungen. Vor der Reform wurde das einheitliche ‚Krankengeld ދbis zur 28. Woche der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gezahlt. Die ‚Invalidenrente ދfing nach dem Ablauf des Krankengeldes an und wurde durch die Altersrente abgelöst. Bei genauer Differenzierung ist der Ersetzungsvorgang folgender: Das ‚Kranken189 Ausführliche Informationen über die schrittweise Verschiebung der Finanzierungsverantwortung für die Entgeltfortzahlung finden sich in Ogus und Wikeley 2002: 94 und 523 f.
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geld( ދSickness Benefit) wurde durch die ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz( ދshort-term incapacity benefit at the lower rate), die bis zur 28. Woche gewährt wird, ersetzt. Ersetzt wurde die ‚Invalidenrenteދ durch die ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satzދ (short-term incapacity benefit at the higher rate), die von der 29. Woche bis zur 52. Woche gezahlt wird, und durch die ‚Leistung bei dauernder Arbeitsunfähigkeit( ދlong-term incapacity Benefit), die von der 53. Woche bis zum Erreichen des staatlichen Rentenalters gewährt wird. Bei der Erläuterung der heutigen Systeme der Verdienstersatzleistung bei Krankheit wurde die ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz ދauch mit der zum unteren Satz dargestellt, da die Leistungsdauern der beiden begrenzt sind. Allerdings ist die ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz ދvom Standpunkt der historischen Entwicklung aus eine Leistung, die nicht von dem ‚Krankengeldދ, sondern von der ‚Invalidenrente ދabgeleitet wurde. Demnach wird die Reform 1995 eher als die Restrukturierung der ‚Invalidenrente ދdenn als die Restrukturierung des ‚Krankengeldes ދbetrachtet. Bei dem Krankengeld wurde dabei nur der Leistungsname ohne inhaltliche Veränderung geändert. Tatsächlich zielte die konservative Regierung bei der Reform 1995 in erster Linie auf die Kürzung der Empfängerzahl der Invalidenrente und auf die Reduzierung ihrer Ausgaben ab (siehe Ogus und Wikeley 2002: 524 f.).190 Wenn aus diesem Grund lediglich die erste und die zweite Restrukturierung, welche sich faktisch auf die Restrukturierung des Krankengeldes beziehen, berücksichtigt werden, ist die Bewertung der Restrukturierung der Verdienstersatzleistung bei Krankheit wie folgt: In den britischen Verdienstersatzleistungen bei Krankheit hat der Staat durch die Abschaffung der vorhandenen öffentlichen Leistung (die erste Restrukturierung) seine Verantwortlichkeit aufgehoben, die Eigenverantwortungen der Individuen wurden vermehrt. Und der Staat überantwortete seine Aufgabe durch die Einführung einer neuen Leistung (die zweite Restrukturierung) den ArbeitgeberInnen, d.h. dem Markt. Demzufolge wird die Restrukturierung der Verdienstersatzleistung bei Krankheit als ‚privatheitszentrierte Restrukturierung ދbewertet.
190 Neben der Reform 1995 hat die Invalidenrente ebenfalls seit 1978 zahlreiche Veränderungen erfahren. Zum Beispiel wurde 1990 die ‚einkommensbezogene Invalidenrente ދabgeschafft (Foreign & Commonwealth Office 1991: 174). Seitdem wurde nur die ‚pauschalisierte Invalidenrente ދgewährt.
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4.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur191 Hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzung fand zugleich eine Erleichterung wie eine Verschärfung statt: Bei der Entgeltfortzahlung und bei der Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz wird heute die Arbeitsunfähigkeit während der ersten Woche der Krankheit ohne ärztliches Attest lediglich durch die ,Self-Certification ދnachgewiesen. In den 70er Jahren musste das ärztliche Attest bei der Antragstellung vorgelegt werden. Außerdem können die abhängig Beschäftigten im Unterschied zu früher ohne Beitragsvoraussetzungen die Verdienstersatzleistung, also die Entgeltfortzahlung, beziehen. Demgegenüber wurden die Beitragsvoraussetzungen für den Anspruch auf Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit sehr verschärft. Mit Bezug auf die erste Beitragsvoraussetzung mussten in der Vergangenheit die Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 25fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze für irgendein Jahr vor dem Leistungsjahr gezahlt werden. Seit 1988 müssen diese Beiträge für ein Jahr von den drei Jahren, die dem Leistungsjahr vorausgehen, entrichtet werden. Hinsichtlich der zweiten Beitragsvoraussetzung mussten in den 70er Jahren die Beiträge für Einkommen von mindestens dem 50fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze in dem Jahr, das dem Leistungsjahr vorausgeht, gezahlt oder gutgeschrieben werden. Jedoch müssen heute diese Beiträge in jedem der zwei Jahre, die dem Leistungsjahr vorausgehen, gezahlt oder gutgeschrieben werden: “[T]he change [...] was purportedly designed to reinforce the link between entitlement to benefit and recent labour market activity.” (Ogus und Wikeley 2002: 535) 1986 wurde die Regelung, anhand der eine verminderte Leistung gezahlt wurde, wenn die zweite Beitragsvoraussetzung nicht vollständig erfüllt worden war, abgeschafft. Allerdings zielte die Reform darauf nicht ab, der besonderen Situation der Antragstellenden Rechnung zu tragen: „The argument was that the administrative costs were disproportionately high relative to the small sums that were paid out to beneficiaries.“ (Ogus und Wikeley 2002: 129) Als eine weitere Veränderung innerhalb der Struktur lässt sich die Verringerung des Leistungsniveaus mehrdimensional feststellen: In der Mitte der 70er Jahre betrug die Bruttoersatzrate des Krankengeldes für Alleinstehende 42 % des durchschnittlichen Verdienstes der männlichen Produktionsarbeiter (Blaustein und Craig 1977: 229).192 Demgegenüber beläuft sie sich heute auf nur 191 Aus dem gerade oben erklärten Grund wird die ‚Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum höheren Satz ދauch aus der Analyse der Veränderung innerhalb der Struktur ausgeschlossen. 192 Blaustein und Craig (1977: 229) zeigen die Bruttoersatzrate des Arbeitslosengeldes. Allerdings waren die Beträge des Arbeitslosengeldes und Krankengeldes in den 70er Jahren immer gleich.
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rund 24 % (OECD 2005c: 73). Die Verdienstausfälle im Vergleich zu den früheren Regelungen traten dadurch auf, dass die einkommensbezogene Leistung abgeschafft wurde. Da seit 1980 die Verdienstersatzleistungen bei Krankheit wie die Grundrente nicht mehr zugunsten der EmpfängerInnen jeweils an die Lohnoder an die Preisentwicklung angepasst werden, wie es noch in den 1970er Jahren geschah, sondern nur noch an den Preisindex angeglichen werden, verringerte sich die Leistung durch diese Änderung der jährlichen Anpassung relativ. Obwohl die Entgeltfortzahlung ein bisschen höher als die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz ist, erhalten die EmpfängerInnen der Entgeltfortzahlung mit einer Familie in der Tat niedrigere Leistung als die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz für Personen mit einer Familie, weil die Entgeltfortzahlung keine Familienzuschläge hat (Ogus und Wikeley 2002: 530). Außerdem wurde die Entgeltfortzahlung im Unterschied zum ehemaligen Krankengeld steuer- und sozialabgabenpflichtig eingestuft, während die Leistung bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit zum unteren Satz heute noch steuer- und sozialabgabenfrei ist. Von daher ist das reale Niveau der Entgeltfortzahlung niedriger als das Bruttoniveau. Bei der innerstrukturellen Veränderung der Verdienstersatzleistungen bei Krankheit lassen sich außerdem Maßnahmen zur Verstärkung des Anreizes der Arbeitsaufnahme beobachten: In der Vergangenheit konnten die EmpfängerInnen des Krankengeldes nur eine therapeutische Arbeit leisten. Heute können die EmpfängerInnen auch andere Arbeiten als therapeutische Arbeit ausüben, solange ihre Entgelte unter einer bestimmten Grenze liegen. Die Veränderung ist „reflecting the government’s welfare to work strategy of encouraging those in receipt of incapacity benefit to try out such work without fear of losing benefit.“ (Ogus und Wikeley 2002: 550) Die innerstrukturellen Veränderungen hinsichtlich der Finanzierung und des Trägersystems entsprechen denen, die bei der Auswertung der Transformation der Alterssicherung festgestellt wurden. 4.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme 4.4.3.1 Die Restrukturierung Wie bei der Verdienstersatzleistung bei Krankheit wurde 1982 bei der Arbeitslosensicherung auch die einkommensbezogene Leistung abgeschafft (Ogus und Wikeley 2002: 515). Seitdem wurde Arbeitslosen nur eine einheitliche Leistung gewährt.
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1996 fanden gleichzeitig eine Restrukturierung des Arbeitslosengeldes und eine Restrukturierung der Sozialhilfe statt. Dabei wurden das Arbeitslosengeld und die bedürfnisabhängige Sozialhilfeleistung, die Arbeitslosen ohne den Anspruch auf Arbeitslosengeld gezahlt werden konnte, unter dem Dach der Arbeitslosensicherung vereinheitlicht. Die reformierten Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit setzen sich aus dem JSA I und dem JSA II zusammen. Also ersetzte das JSA I das ehemalige Arbeitslosengeld und das JSA II die Sozialhilfeleistung für die Arbeitsfähigen. Die Sozialhilfe gewährt nun Arbeitsfähigen keine Leistung mehr (Barnes und Ravell 1998: 1). Das Ziel der Reform 1996 ist folgendes: “Further restrictions on the eligibility of the unemployed to claim benefit were set out in a White Paper in October 1994, which proposed the introduction of jobseeker’s allowance. The ideology behind the White Paper continued to embrace a deregulated labour market in the belief that this was necessary for Britain to remain competitive. This approach, therefore, emphasised that social security benefits should not be too easy to obtain or paid at levels which mean that the unemployed may lack enthusiasm to take low paid jobs. The White Paper (and subsequently, the Jobseekers Act 1995) embraced further restrictions designed to make the unemployed ‘compete effectively for jobs’, benefits being ‘a means of support while an unemployed person looks for work, not an income for a lifestyle divorced from work’.” (East 1999: 72; Hervorhebung im Original)
Durch die Einführung des JSA wurden viele der unterschiedlichen Regelungen zwischen dem Arbeitslosengeld und der Sozialhilfeleistung für Arbeitsfähige vereinheitlicht. Zum Beispiel wurden die ‚allgemeinen ދAnspruchsvoraussetzungen in Bezug auf Meldepflicht, Verfügbarkeit, Zumutbarkeit und aktive Jobsuche vereinheitlicht. Außerdem wurden infolge der Reform 1996 die anderweitigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft und das Leistungsniveau wurde gekürzt. Maßnahmen zur Verstärkung des Anreizes der Beschäftigungsaufnahme wurden innerhalb des Systems eingeführt (Ogus und Wikeley 2002: 499 f.). Trotz solcher zahlreichen Veränderungen verbleibt die Zuständigkeit für die Arbeitslosensicherung noch dem Staat. Im Zuge der Restrukturierung durch den ‚Ersatz ދdes Arbeitslosengeldes durch das JSA I wurde die Verantwortlichkeit des Marktes, also der Privatversicherungen oder der ArbeitgeberInnen, nicht erweitert. Demnach wird die Restrukturierung des Arbeitslosengeldes 1996 als ‚öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung ދbewertet. In der britischen Arbeitslosensicherung fanden folglich seit der Mitte der 70er Jahre die ‚privatheitszentrierte Restrukturierung( ދdie erste Restrukturierung durch Abschaffung) und die ‚öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung( ދdie zweite Restrukturierung durch Ersatz) je einmal statt.
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4.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur193 Die Beitragsvoraussetzungen für den Anspruch auf JSA I wurden sehr verschärft. In Bezug auf die erste Beitragsvoraussetzung mussten in der Vergangenheit die Beiträge aus Einkommen von mindestens dem 25fachen der wöchentlichen unteren Verdienstgrenze für irgendein Jahr vor dem Leistungsjahr gezahlt werden. Seit 1988 müssen diese Beiträge für ein Jahr von den zwei Jahren, die dem Leistungsjahr vorausgehen, entrichtet werden. Die Veränderung der zweiten Beitragsvoraussetzung gleicht der der zweiten Beitragsvoraussetzung bei der Verdienstersatzleistung bei Krankheit. “The contributions conditions thus represent a very real barrier to social inclusion.” (Ogus und Wikeley 2002: 502) Im Vergleich zum Arbeitslosengeld wurde das Niveau des JSA I sehr verringert. Zum Beispiel betrug die Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes für einen Verheirateten mit einer Frau und zwei Kindern in der Mitte der 70er Jahre 70 % (Wilson 1979: 89). 2002 befindet sich das Nettoniveau des JSA I bei 46 % des durchschnittlichen Verdienstes der Produktionsarbeiter (OECD 2006c). Mittlerweile wurden nicht nur die einkommensbezogene Leistung, sondern auch die Familienzuschläge abgeschafft, die zusätzlich mit der einheitlichen Leistung gezahlt wurden. Außerdem ist das JSA I im Unterschied zum Arbeitslosengeld steuerpflichtig. Da seit 1980 die Verdienstersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit auch wie die Grundrente nicht mehr zugunsten der EmpfängerInnen jeweils an die Lohn- oder an die Preisentwicklung angepasst werden, sondern nur noch an den Preisindex angeglichen werden, verringerte sich die Leistung durch diese Änderung der jährlichen Anpassung relativ. Eine andere, wichtige Veränderung innerhalb der Struktur ist die drastische Kürzung der Leistungsdauer. Während das ehemalige Arbeitslosengeld für ein Jahr gezahlt wurde, wird das JSA I nur sechs Monate gewährt. Die Leistungsdauer wurde halbiert. Diese Kürzung der Leistungsdauer ist mit einer Verstärkung des Fürsorgeprinzips verbunden. Konnte früher nach dem Ablauf des Arbeitslosengeldes die Sozialhilfe empfangen werden, so kann heute der Arbeitslose das bedarfabhängige JSA II erhalten. Früher war ein Arbeitsloser bei lang anhaltender Arbeitslosigkeit erst nach 12 Monaten auf bedürftigkeitsprüfende Fürsorgeleistung angewiesen. Heute ist der Arbeitslose schon nach sechs Monaten auf Fürsorgeleistung angewiesen. Indem Elemente der Sozialhilfe innerhalb der ‚Versicherungsleistung ދeingeführt wurden, wurde die Absicht der britischen Regierung, das Fürsorgeprinzip verstärken zu wollen, weiter verwirklicht. Im Unterschied zum ehemaligen Ar193 Bei der Analyse der Veränderung innerhalb der Struktur werden das einheitliche Arbeitslosengeld der 70er Jahre und das heutige JSA I einbezogen.
4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme
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beitslosengeld hat das JSA I eine altersabhängige Leistungsstruktur. Die EmpfängerInnen unter 25 Jahren erhalten niedrigere Leistung als über 25-Jährige, auch wenn sie vor ihrer Arbeitslosigkeit Beiträge von gleicher Höhe wie die älteren entrichtet haben. Die altersabhängige Leistungsrate entspricht genauso der Rate der Sozialhilfe: ,,No case was advanced for the introduction of differential age-related rates other than the desirability of alignment with income support, where the assumption is that young adults do not live independently and have fewer financial commitments.” (Ogus und Wikeley 2002: 515) Außerdem fällt heute das JSA I weg, wenn die Entgelte, die während des Bezugs des JSA I durch Teilzeit- oder Kurzarbeit erzielt werden, eine bestimmte Grenze überschreiten. In den 70er Jahren waren die Einkommen, die durch Teilzeit- oder Kurzarbeit erzielt wurden, vom Anspruch auf Arbeitslosengeld unabhängig. Durch „[t]his further incursion of means-testing into a contributory benefit“ (Ogus und Wikeley 2002: 503) werden die bedarfsorientierten Elemente ‚innerhalb der Versicherungsleistung ދimmer mehr verstärkt. Um den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen und die Pflicht zur Arbeitsaufnahme zu verschärfen, wurden die Sanktionen erheblich verschärft. Die Gründe für Sanktionen wurden mannigfaltiger und die maximale Sperrzeit wurde von 6 Wochen auf 26 Wochen erhöht. Heute kann also die ganze Bezugsdauer des JSA I gesperrt werden. Die innerstrukturellen Veränderungen hinsichtlich der Finanzierung und des Trägersystems entsprechen denen, die bei der Auswertung der Transformation der Alterssicherung festgestellt wurden. 4.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen Bei dem britischen staatlichen Rentensystem fand der Ersatz der alten Leistung – des SERPS – durch die neue Leistung – die Zweite Staatsrente – statt. Die Restrukturierung wird als ‚privatheitszentrierte Restrukturierung ދmit dem Ziel, die Verantwortung des Staates zu reduzieren und die Zuständigkeit des Markts für die Alterssicherung noch mehr zu erweitern, bewertet. Parallel zur privatheitszentrierten Restrukturierung wurden die Privatrenten gefördert und die Fürsorgeleistung wurde verstärkt. Durch den Vergleich zwischen dem früheren und dem heutigen System wurde die Verringerung des Leistungsniveaus sowohl bei den Grundrenten als auch bei den einkommensbezogenen Renten festgestellt. Die Änderung des Modus der jährlichen Anpassung ruft eine weitere Reduktion der Grundrente hervor. Bei der einkommensbezogenen Rente wurde die Regelung der 20 ‚besten ދJahre zum Nachteil der EmpfängerInnen abgeschafft.
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4 Das soziale Sicherungssystem von Großbritannien
Die Regelungen, die der besonderen Situation von Einkommensschwachen, nicht erwerbstätigen Elternteilen, PflegerInnen und Behinderten Rechnung tragen, wurden im neuen einkommensbezogenen Rentensystem eingeführt. Um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen, wurde die Ruhestandsvoraussetzung aufgehoben. Außerdem soll ab 2010 ein zeitlich unbegrenzter Rentenaufschub mit höheren Zuschlägen möglich sein. Hinsichtlich der Finanzierung für die beitragsbezogenen Leistungen einschließlich der Renten lassen sich folgende deutliche Veränderungen beobachten: Die Sozialversicherungsbeiträge für die abhängig Beschäftigten und die ArbeitgeberInnen bei dem niedrigeren Teil der Einkommen wurden verringert, um die Niedriglohnbereiche auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Außerdem lässt sich die Tendenz beobachten, Beiträge für den Teil der Einkommen, der über den oberen Beitragsbemessungsgrenzen liegt, zu erheben. Überdies zahlt heute der Zentralstaat für die beitragsbezogenen Leistungen keine Subventionen aus allgemeinen Steuermitteln. Mit Bezug auf die wichtige Veränderung des Trägersystems für Sozialtransfers ist auf die Errichtung der ‚Agencies ދhinzuweisen. Sie führen als Verwaltungsbehörde mit administrativer Autonomie die Verwaltungsangelegenheiten der sozialen Sicherung durch, die in der Vergangenheit von dem Ministerium für Soziale Sicherung implementiert wurden. Die Verantwortung für die Politik in Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge und den Sozialversicherungsfonds wurde dem Finanzministerium übergeben. Im britischen Gesundheitsversorgungssystem entstand keine Restrukturierung. Der Zentralstaat trägt heute noch die Verantwortung der öffentlichen Kostenübertragung. Die konservative Regierung setzte durch die Ausführung des strikten Globalbudgets eine massive Kostendämpfung durch. Demzufolge wurde das NHSSystem mit immer begrenzteren Finanzmitteln in Betrieb gehalten. Durch die Einführung des ‚Internen Marktes ދwurde darüber hinaus ein starker Wettbewerb zwischen den Institutionen der Gesundheitsdienste in Aktion gesetzt. Im Zuge der marktorientierten Reform wurden die Entscheidungskriterien im Gesundheitsversorgungsbereich sehr ökonomisiert. Angesichts der ‚Devolution ދder Blair-Regierung wurde das Management des NHS dezentralisiert. Die Gesundheitsversorgungssysteme in den vier Teilreichen des Vereinigten Königreichs differenzieren sich immer mehr aus. Im Vergleich zu den 70er Jahren nahmen die Selbstbeteiligungen der Patienten und die persönlichen Ausgaben für die privat angebotenen Dienstleistungen erheblich zu.
4.4 Die Auswertung der Transformation der brit. soz. Sicherungssysteme
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Bei der Verdienstsersatzleistung bei Krankheit fand die ‚privatheitszentrierte Restrukturierung ދstatt. Mittlerweile wurde die einkommensbezogene Leistung abgeschafft und die Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen eingeführt. Durch den Vergleich zwischen dem früheren und dem heutigen System ließ sich die deutliche Verringerung des Leistungsniveaus feststellen. Die Entgeltfortzahlung wurde im Unterschied zum ehemaligen Krankengeld steuer- und sozialabgabenpflichtig, obwohl sie immer noch eine einheitliche Leistung ist. Um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen, wurde das Ausmaß der Arbeit, die den EmpfängerInnen der Verdienstersatzleistung erlaubt wird, erweitert. Die Anspruchsvoraussetzungen wurden zum Teil erleichtert, zum Teil erschwert. In Bezug auf die Finanzierungsmodi hat durch die Einführung der Entgeltfortzahlung die Finanzbelastung der ArbeitgeberInnen zugenommen und die Finanzlast des Staates wurde verringert. Sonstige Veränderungen bei der Finanzierung und der Umbruch beim Trägersystem entsprechen den Veränderungen hinsichtlich der Finanzierung und des Trägersystems, welche bei der Auswertung der Transformation der Alterssicherung erklärt wurden. In der Arbeitslosensicherung entstanden die ‚privatheitszentrierte Restrukturierung ދdurch die Abschaffung der einkommensbezogenen Leistung und die ‚öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung ދdurch Ersatz des Arbeitslosengeldes durch das JSA I. Durch die Untersuchung der Veränderungen innerhalb der Struktur ließ sich die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen feststellen. Im Vergleich zu den 70er Jahren wurde das Leistungsniveau verringert und die Leistungsdauer wurde verkürzt. Außerdem gewannen die Fürsorgeleistungen bzw. die bedarfsorientierten Elemente noch mehr an Bedeutung. Im Unterschied zum vormaligen Arbeitslosengeld wurde das JSA I steuerpflichtig. Um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen, wurden die Sanktionen erheblich verstärkt. Die innerstrukturellen Veränderungen hinsichtlich der Finanzierung und des Trägersystems entsprechen denen, die bei der Auswertung der Transformation der Alterssicherung festgestellt wurden.
5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden als Beispiel eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes
5.1 Einleitung 5.1 Einleitung 5.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre Vor der Regierungsübernahme der sozialdemokratischen Partei (sveriges socialdemokratiska arbetareparti, SAP) im Jahr 1932 fand in Schweden infolge der Industrialisierung und der Entwicklung der bürgerlichen Demokratie eine große gesellschaftliche Wende statt. Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung traten seit den 1870er Jahren Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit des Proletariates als ernste soziale Probleme auf. Innenpolitisch war diese Zeit von großer Instabilität geprägt. Die parlamentarische Regierungsform hatte sich noch nicht gefestigt, die Regierungen waren kurzlebig und die Regierungsverantwortung wechselte oft zwischen der konservativen Partei (allmänna valmansförbundet), der liberalen Partei (liberala samlingspartiet), der sozialdemokratischen Partei und sonstigen Parteien und Gruppen (Derry 1979: 249-282, 303327; Kan 1978: 127-205). Vor diesem Hintergrund wurde 1891 die staatliche Subventionierung der freiwilligen Krankenkassen (frivilliga sjukkassor) und 1901 die Unfallversicherung (försäkring för olycksfall i arbeite) eingeführt. Anschließend wurde im Jahr 1913 die Alters- und Invaliditätsrentenversicherung (pensionsförsäkring) gegründet: Die Staatszuschüsse zu den privaten Krankenkassen auf gegenseitiger Hilfe im Sinne des Genter Systems194 waren sehr gering (Elmér u.a. 2000: 286). Aber die Bezuschussung wird heute als der Ursprung der schwedischen Krankenversicherung betrachtet. 1901 wurde die Haftpflicht der Unternehmer für Arbeitsunfälle eingeführt. Die Arbeitgeber konnten freiwillig der staatlichen Unfallversicherung beitreten. 1916 wurde dieser Beitritt obligatorisch (Lagerström 194 Das ‚Genter ދSystem hat seinen Namen nach der Stadt ‚Gent ދin Belgien, in der das System zum ersten Mal eingeführt wurde. Es bedeutet, dass der Staat Zuschüsse an die privaten Versicherungskassen gibt, die meistens von Gewerkschaften gegründet wurden. Das System setzt außerdem einen freiwilligen Eintritt in die Versicherung voraus (Elmér 1975: 84).
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
1977: 7). Die Rentenversicherung von 1913 war das welterste eingeführte ‚universalistische Versicherungssystemދ. Die obligatorische Rentenversicherung erfasste die gesamte Bevölkerung. Die ‚Volksrente( ދfolkspension) war eine beitragsproportionale Leistung (Schüler 1970: 10 f.; Uhr 1966: 37). Zwar waren diese sozialpolitischen Maßnahmen in der Frühphase des schwedischen Wohlfahrtsstaates daraufhin ausgerichtet, die von der Industrialisierung hervorgerufenen Sozialfragen zu beheben oder zu begrenzen. Aber die 1686 geschaffene traditionelle Armenfürsorge hatte noch deutlichen Einfluss auf die Maßnahmen (Schmid 2002: 203; Esping-Andersen 1990: 43). Die sozialpolitischen Ansätze in der Frühphase standen unter großem Einfluss des Liberalismus (Olsson 1993: 43-89; Esping-Andersen und Korpi 1987: 43-46).195 1932 begann die rund 70 Jahre anhaltende Regierungsverantwortung der SAP. 196 Die SAP legte gleich zu Anfang ihre Vorstellung der idealtypischen Gesellschaft, das ‚Volksheim( ދfolkhemmet), vor, dessen Hauptregeln Gleichheit, Rücksicht, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft waren (Henningsen 1986: 313). Auf Grundlage des „sinnstiftenden Ordnungsbegriffs“ (Henningsen 1986: 313) wurde nach einer Ausdehnung der Bereiche soziale Sicherung gestrebt. Ein besonderes Augenmerk legte die SAP auf die Verringerung der Arbeitslosigkeit, die in der Weltwirtschaftskrise Schweden als Exportland besonders hart traf. Eine Maßnahme der SAP war denn auch der Ausbau der staatlichen Beschäftigungspolitik. Die Entwicklung der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung im Zeitraum von 1932 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lässt sich wie folgt umreißen: Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor der Regierungsübernahme der SAP, d.h. die ‚Nothilfearbeit( ދnödhjälpsarbetet), waren noch stark von dem Armenrecht geprägt (vgl. Elmér 1969: 126 f.; Heclo 1974: 92 -105). Seit 1932 entwickelte die schwedische Regierung unter dem Einfluss des Keynesianismus „eine staatliche Beschäftigungspolitik unter Zugrundelegung normaler Arbeits195 Beispielsweise wurden folgende sozialpolitische Initiativen von den ‚liberalen ދpolitischen Kräften oder den bürgerlichen Theoretikern ergriffen: der Gesetzentwurf über die Sozialversicherung (riksdagsskrivelse om socialförsäkringar) von 1844, bei dem es sich um staatliche obligatorische Versicherungen gegen Krankheit, Arbeitsunfall und Alter handelte (Olsson 1993: 44); die Politikvorschläge des Zentralverbandes für Sozialarbeit (centralförbundet för socialt arbete), der in der Frühphase des schwedischen Wohlfahrtsstaates deutlich Sozialreformen forderte (Olsson 1993: 67 ff.); und der Gesetzentwurf über die Arbeitslosenversicherung von 1908, der sog. Wavrinsky-Entwurf (Heclo 1974: 71 ff.). Diese Reformversuche gipfelten schließlich in der Gesetzgebung der Rentenversicherung von 1913. Das Gesetz wurde von der liberalen Partei, die 1911 zur Regierung gelangt war, eingeführt. 196 Zwischen 1932 und 2006, ausgenommen den Zeiträumen von 1976 bis 1982 und von 1991 bis 1994, regierte die sozialdemokratische Partei allein oder als dominante Partei einer Koalition.
5.1 Einleitung
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verhältnisse“ (Kaufmann 2003a: 189). Durch Ausführung dieser staatlichen Beschäftigungspolitik strebte die SAP-Regierung nach ‚Vollbeschäftigungދ. 1934 wurde ein Gesetz zur staatlichen Bezuschussung der Arbeitslosenkassen (arbetslöshetskassor) verabschiedet. Die Arbeitslosenkassen wurden von den Gewerkschaften betrieben und der Eintritt in die Kassen war freiwillig. Diese schwedische Tradition der ‚freiwilligen ދArbeitslosenversicherung, die auf dem Genter System beruht, dauert bis heute fort.197 1937 wurde die Volksrente reformiert. Sie setzte sich nun aus einer ‚Grundrente( ދgrundpension) und einer ‚Zusatzrente( ދtilläggspension) zusammen. Die Grundrente bestand aus einem festen Grundbetrag und einem beitragsabhängigen Steigerungsbetrag. Solange das gesamte Einkommen des Rentenberechtigten eine bestimmte Grenze nicht überstieg, wurde ihm zusätzlich mit der Grundrente die ‚Zusatzrente ދgewährt, die auf dem Fürsorgeprinzip beruhte (Schüler 1970: 15; Kaufmann 2003a: 184).198 Die Staatszuschüsse zu den freiwilligen Krankenkassen wurden nach der Regierungsübernahme der SAP beträchtlich erhöht (Schmid 2002: 204). Während des Zweiten Weltkriegs traten die vier schwedischen Massenparteien – die sozialdemokratische Partei, die konservative Partei, die liberale Partei und die Bauerpartei (bondeförbundet) – unter der Kanzlerschaft von Per Albin Hansson der SAP in eine große Koalition. Durch diese Koalition, die faktisch das gesamte parlamentarische System umfasste, sollte der fremde Ein-
197 Die Erhaltung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung steht im Zusammenhang mit der Autonomie der Gewerkschaften und reflektiert ihre starke Macht (Stähl 1978: 121). Zwar versuchten die Rechtsregierungen Schwedens wiederholt, die freiwillige Arbeitslosenversicherung durch eine obligatorische Staatsversicherung zu ersetzen, aber ihre Pläne scheiterten am Widerstand der Gewerkschaften (vgl. Gould 2001: 137 f.). Traditionell wurden die Arbeitslosenkassen von den Gewerkschaften gegründet. Anfangs hatten so lediglich IndustriearbeiterInnen Arbeitslosenkassen. Da es für die späteren Mitglieder von Vorteil war, gründeten nach und nach andere ArbeiterInnen, Angestellte und später sogar Selbständige eigene Arbeitslosenkassen (Elmér u.a. 2000: 151). Das bereits genannte Genter Modell ist ein gemeinsames Merkmal der Arbeitslosenversicherungen Skandinaviens. Eine Untersuchung von ILO stellte 1975 fest, dass aus der Zahl der 36 Länder nur Schweden, Finnland und Dänemark über ein freiwilliges Arbeitslosenversicherungssystem mit einer massiven Unterstützung des Staates verfügen. In den anderen 33 Ländern gab es das obligatorische Versicherungssystem oder nur ein Sozialhilfeprogramm (siehe ILO 1976: 47 Tabelle 1). 198 „Obwohl die individuellen Volkspensionen durch diese Reform erheblich gesteigert wurden, waren sie immer noch sehr niedrig im Vergleich zum durchschnittlichen effektiven Jahreslohn eines schwedischen Industriearbeiters“ (Schüler 1970: 15). In der Folge verursachte von den zwei Rentenarten die bedarfsorientierte Zusatzrente, die eigentlich als ‚Ergänzung ދkonzipiert wurde, den weitaus größten Teil der gesamten Rentenausgaben (Uhr 1966: 38) Dieses Problem rief 1946 noch einmal eine große Rentenreform hervor.
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fluss abgehalten und Schweden neutral gehalten werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte bis 1976 die SAP alle Regierungen.199 In der Nachkriegszeit konnte die SAP durch ihr wirtschaftspolitisches Programm, das sog. ‚Rehn-Meidner-Modellދ, Vollbeschäftigung und stabiles Wirtschaftswachstum parallel erreichen (Erixon 1999). 200 Auf Grundlage dieser stabilen Volkswirtschaft wurden die bestehenden Bereiche der Sozialpolitik erweitert und neue universalistische Leistungen eine nach der anderen eingeführt. Die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme im Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 70er Jahre, wobei der Fokus auf den Entwicklungstendenzen der Alters-, Kranken-, und Arbeitslosensicherung liegt, lässt sich wie folgt umreißen: Zuerst wurde 1946 die bisherige Volksrente, die sich aus der Versicherungsleistung (Grundrente) und der Fürsorgeleistung (Zusatzrente) zusammensetzte, zu einer auf dem Versorgungsprinzip basierenden Leistung umgestaltet. Die neue ‚pauschalisierte ދVolksrente orientierte sich an dem Niveau, das den tatsächlichen Lebensunterhaltskosten entsprach (Schüler 1970: 22). Und „[z]war waren die Volkspensionsabgaben auch weiterhin zu entrichten, doch wurden sie als »Steuer für bestimmte Zwecke« bezeichnet, da eine spezielle Gegenleistung, wie sie für Beiträge typisch ist, nicht mehr erfolgte.“ (Schüler 1970: 18; Hervorhebung im Original) Außerdem wurde dabei die Witwenrente (änkepension) eingeführt.201 1959 wurde ein Gesetz über eine einkommensproportionale Zusatzrente (allmän tilläggspension, ATP) verabschiedet. Die Zusatzrente erfasste alle Erwerbstätigen und gewährte dem Antragsteller 60 % des Durchschnittsverdienstes seiner einkommensstärksten 15 Jahre (Uhr 1966: 39). Die Zusatzrente war das Ergebnis eines ‚mühsamen Siegs ދder SAP bei der Auseinandersetzung mit zahlreichen politischen und sozialen Kräften, die gegen die obligatorische staatliche Zusatzrente der SAP gekämpft hatten.202 Ab dieser Zeit ruhte das schwedische 199 In diesem Zeitraum musste die SAP nur zwischen 1951 und 1957 eine Koalitionsregierung mit der Bauernpartei bilden, konnte aber ansonsten allein regieren. 200 Das ‚Rehn-Meidner-Modell ދbesteht aus drei Kernelementen: solidarische Lohnpolitik (d.h. gleiche Löhne für gleichartige Arbeitsaufgaben), restriktive generelle Wirtschaftspolitik und aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Faktoren haben durch ihre wechselseitig ergänzende Umsetzung zur Vollbeschäftigung bei Preisstabilität, zu stabilem Wachstum, zum Einkommensausgleich und zur Rationalisierung der Industriestruktur beigetragen. Hierzu ausführlicher Erixon (1999) und Meidner und Rehn u. a. (1953). 201 Von den Volksrenten wurde die Invalidenrente anders als die Altersrente reformiert. Bei der Reform 1946 wurde die Invalidenrente zu einer pauschalisierten Grundrente und einer bedarfabhängigen Zusatzrente umgestaltet (Schüler 1970: 18). 202 Die Verabschiedung des Gesetzes verlief denkbar knapp: Es stimmte nur ein Parlamentarier mehr dafür als dagegen. Eine ausführliche Erklärung über die Auseinandersetzung um die Zusatzrente bieten Uhr 1966: 39; Olsson 1993: 119; Kaufmann 2003a: 185.
5.1 Einleitung
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Rentensystem auf zwei Säulen: die einheitliche Volksrente und die einkommensbezogene Zusatzrente. Durch die Errichtung der staatlichen Zusatzrente „kam es zu einer Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis des Wohlfahrtsstaates um Mittelschichtsegmente“ (Schmid 2002: 205).203 1955 wurde die freiwillige Krankenversicherung durch eine obligatorische und universalistische Krankenversicherung ersetzt. Dieses staatliche Krankenversicherungssystem erfasste nicht nur den Schutz vor einem krankheitsbedingten Einkommensverlust, sondern auch die Deckung der Behandlungskosten (hierzu ausführlich Michelsen 2002: 62-64; Uhr 1966: 74-79). Parallel zur Einführung der ‚gesetzlichen ދKrankenversicherung wurde die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der regionalen Selbstverwaltungen, der ‚Provinziallandtage( ދlandsting)204, erweitert. Seit 1862 war den Provinziallandtagen der Auftrag der Verwaltung des Krankenhauswesens, und zwar die Verwaltungsverantwortung über die Verwendung der Mittel für Ausstattung und Gebäudeerhaltung, gegeben worden. Die übrigen Sektoren der Gesundheitsversorgung waren von privaten Anbietern beherrscht worden. Die Behandlungskosten hatten im Prinzip die Patienten getragen (vgl. Kaufmann 2003a: 194 f.). In der Nachkriegszeit wurde aufgrund des SAP-Plans für eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens die Verantwortung der Provinziallandtage drastisch ausgeweitet. “Immediately after the Second World War, they [Provinziallandtage] were charged with the care of the chronically ill. They became responsible for the care of people with learning difficulties in 1954, for funding and delivering maternity care in 1959, for hospital-based outpatient care in 1960, for primary care in 1963 and for psychiatric care in 1967. They also become accountable for the ambulance services in 1965 as well as the training of medical personnel, particularly nursing and auxiliary staff.” (Brunsdon und May 1995: 2)
Im Zuge des Verstaatlichungsprozesses übernahm um 1970 die soziale Krankenversicherung die Kosten der essentiellen medizinischen Behandlungen, z.B. der ambulanten Behandlung, der zahnärztlichen Dienste und der Arzneimittel, während den Provinziallandtagen die Verantwortung für die Finanzierung der restlichen medizinischen Behandlungskosten, z.B. der Kosten der stationären Versorgung, und die Verantwortlichkeit für die Bereitstellung der medizinischen Leistungen oblagen. Die Provinziallandtage besaßen und verwalteten die meisten 203 Für den Zusammenhang zwischen der Einführung der einkommensbezogenen Zusatzrente und der Errichtung des Mittelklassen-Wohlfahrtsstaates siehe Esping-Andersen 1990: 26 und 31 f. oder den Unterabschnitt dieser Arbeit ‚3.2.2.1 Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregimeދ. 204 Die Provinziallandtage werden im folgenden Unterabschnitt ‚5.2.1.6 Das Trägersystemދ genauer vorgestellt.
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, nicht nur das Krankenhauswesen, sondern auch die ambulanten Stationen. Nur einige kleine Pflegeheime gehörten privaten Anbietern. In der Folge betrug 1970 der Bettenanteil der privaten Anbieter an der Gesamtzahl der Krankenhausbetten nur 6,4 % (vgl. Socialstyrelsen 1972a: 25). Der Anteil der privat praktizierenden Ärzte lag unter 10 % aller Ärzte (Smedby 1978: 247). Die öffentlich angestellten Ärzte, die nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den ambulanten Stationen arbeiteten, bekamen von den Provinziallandtagen ,,the salary dependent in rank and hours worked” (Smedby 1978: 249).205 1958 wurde ein neues Konzept, die ,aktive Arbeitsmarktpolitikދ, eingeführt und die Maßnahmen zur Ausbildung und zur Arbeitsmarktanpassung wurden noch mehr verstärkt. Darüber hinaus haben die staatlichen Zuschüsse zu den Arbeitslosenkassen massiv zugenommen und das Niveau und die Dauer der Leistung der Arbeitslosenkassen, also des Arbeitslosengeldes, wurden beträchtlich erhöht (Elmér 1969: 258; Wilson 1979: 71 f.; Kaufmann 2003a: 188). Folglich wuchs die Mitgliederzahl der Arbeitslosenkassen erheblich.206 1974 wurde die ,barausgezahlte Arbeitsmarktunterstützung( ދkontant arbetsmarknadsstöd, KAS) für Erwerbstätige, die kein Mitglied bei Arbeitslosenkassen waren, eingeführt. Die Höhe dieser Arbeitslosenleistung war zwar niedriger, um weiter den Eintritt in eine Arbeitslosenkasse zu fördern (Wilson 1979: 81), aber die Leistung beruhte nicht auf dem Fürsorgeprinzip, sondern auf dem Versorgungsprinzip.207 Mitte der 70er Jahre wurde in Bezug auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme die finanzielle Belastung der abhängig Beschäftigten erheb205 Die privat praktizierenden Ärzte wurden zumeist auch vertraglich mit der öffentlichen Versicherungskasse (allmänn försäkringskassa) verbunden und auf der Grundlage einer Einzelleistungsvergütung honoriert (Smedby 1978: 248f.). 206 Bei Kriegsbeginn waren erst 20 %, bei Kriegsende waren lediglich 45 % der Gewerkschaftsmitglieder Mitglieder der Arbeitslosenkassen (Kaufmann 2003a: 188). Nach einer massiven Erhöhung staatlicher Subventionen waren Mitte der 70er Jahren nahezu alle Vollzeitbeschäftigten, also ca. 2/3 der gesamten Erwerbstätigen, Mitglieder der Arbeitslosenkassen. Die Erwerbstätigen ohne die Mitgliedschaft waren zumeist TeilzeitarbeiterInnen, vorübergehend Arbeitende, Selbständige etc. (Elmér 1975: 123). 207 Die allererste Geldleistung für Arbeitslose in Schweden war die ‚barausgezahlte Arbeitslosenunterstützung( ދkontant arbetslöshetsunderstöd) des Jahres 1914. Die Leistung wurde zwar von den Kommunen gezahlt, aber die Aufgabe der Finanzierung oblag der Zentralregierung. Die Leistung verlor nach der Einführung des Arbeitslosengeldes erheblich an Bedeutung. Seitdem bekamen die meisten Arbeitslosen, die das Arbeitslosengeld nicht beziehen konnten, von den Kommunen die Sozialhilfe (Elmér 1975: 126; 1969: 126). Angesichts der Zunahme der Arbeitslosigkeit in den 70er Jahren wurde die von der Zentralregierung finanzierte und ausgezahlte KAS eingeführt. Die neue Leistung erhielten die Arbeitslosen, die der Arbeitslosenversicherung nicht angehörten oder trotz der Mitgliedschaft an den Arbeitslosenkassen auf ihre Leistung noch kein Anrecht hatten.
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lich vermindert. Demgegenüber hat die finanzielle Verantwortung der ArbeitgeberInnen beträchtlich zugenommen: 1974 wurden die Abgaben der abhängig Beschäftigten für die Volksrente abgeschafft und zugleich Beiträge der ArbeitgeberInnen eingeführt (McArdle 1979: 41). 208 Bei der Krankenversicherung wurde 1975 der Beitrag der Beschäftigten, der eine der drei Ressourcenquellen – Beitrag der abhängig Beschäftigten, Beitrag der ArbeitgeberInnen für ihre Beschäftigten und Beitrag der Selbständigen – war, abgeschafft (Lagerström 1977: 17). Im Jahr davor war bereits der Beitrag der ArbeitgeberInnen für ihre Beschäftigten im Rahmen der Arbeitslosenversicherung eingeführt worden (Elmér 1975: 90).209 Seit 1976 hatten die ArbeitgeberInnen neben ihren bereits zu leistenden Sozialversicherungsbeiträgen zudem Beiträge für den Teil der Entgelte ihrer Beschäftigten, der über der oberen Beitragsbemessungsgrenze lag, zu leisten (siehe Guldberg 1979: 130).210 Diese Reformen wurden seitens der Gewerkschaften durch den „inspired thrust to lighten the workers’s tax burden and put more of the weight on to the shoulders of the employers“ (Wilson 1979: 54) durchgesetzt. Ansonsten sind folgende wichtige sozialpolitische Fortschritte jener Jahre zu nennen: 1947 wurde das auf dem Versorgungsprinzip beruhende Kindergeld (allmänna barnbidrag) eingeführt. 1957 wurde das Armenpflegegesetz (fattigvårdslag) durch das Sozialhilfegesetz (socialhjälslagen) ersetzt. 1974 wurde die Elternversicherung (föräldraförsäkring) eingeführt (Elmér u.a. 2000: 285 ff.). 5.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der schwedischen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg Wie oben erklärt wurde, ließen sich in Schweden die universalistischen Sozialleistungen allmählich erweitern. Aufgrund ihrer kollektivistischen Grundorientierung werden von den sozialen Sicherungssystemen im Beschäftigungsrahmen sowohl die abhängig Beschäftigten als auch die Selbständigen erfasst. 208 Bis dahin waren die Abgaben für die Volksrente nur bei den abhängig Beschäftigten und bei den Selbständigen erhoben worden. Die Abgaben waren „the earmarked portion of personal income taxes“ (McArdle 1979: 41). Nach der Abschaffung der Abgaben erfolgte die Finanzierung der Volksrente durch die Beiträge der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen. Die einkommensbezogene Zusatzrente wurde von Anfang an ohne die Beiträge der abhängig Beschäftigten aus den Beiträgen der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen finanziert. 209 Bis dahin war die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung durch die Zuschüsse der Regierung aus allgemeinen Steuermitteln und die Beiträge der Mitglieder der Arbeitslosenkassen erfolgt. 210 Nach der Reform wurden lediglich bei der Zusatzrente die Beiträge für den Einkommensteil bis zur oberen Beitragsbemessungsgrenze erhoben.
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
Gesamtgesellschaftlich gesehen umfassen diese Sicherungssysteme die gesamte Bevölkerung. Charakteristisch für das schwedische Modell ist ferner, dass diese universalistischen Sozialleistungen – so wie in den nächsten Abschnitten dargelegt – auf sehr hohem Niveau gewährt werden. In den schwedischen sozialen Sicherungssystemen war, bezogen auf die drei Gestaltungsprinzipien, besonders das ‚Versorgungsprinzip ދausgeprägt. Dies kann man nicht allein an der Einführung des Kindergelds oder der KAS erkennen. Die abhängig Beschäftigten erhielten ohne eigene Beiträge – und ebenso ohne Bedürftigkeitsprüfung – die Volksrente, die Zusatzrente und das Krankengeld. Für die Arbeitslosensicherung haben sie zwar sehr geringe eigene Beiträge geleistet 211 , aber sie konnten bei Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld von maximal bis zu 90 % des letzten Einkommens beziehen. 5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 5.2.1 Die Alterssicherung 5.2.1.1 Die Leistungsarten Die schwedischen Altersrenten bestanden aus der einheitlichen Volksrente (folkpension) und der einkommensbezogenen Zusatzrente (allmän tilläggspension, ATP).212
211 Bis 1974 wurden 45 % der Gesamtkosten der Arbeitslosenkassen durch Beiträge der Mitglieder gedeckt (Elmér 1969: 258). Nach der Einführung der Beiträge der ArbeitgeberInnen verminderte sich das Gewicht der Mitgliedsbeiträge im Etat der Arbeitslosensicherung erheblich. 1980 sank der Anteil der Beiträge der Mitglieder auf unter 10% der Gesamtausgaben (Olsson 1987: 54). Anfang der 90 Jahre betrug er etwa 5 % (vgl. Lißner und Wöss 1999: 210). 212 Die Volksrente und die Zusatzrente setzten sich jeweilig aus Altersrente, Hinterbliebenenrente und ‚Frühpension( ދförtidspension), d.h. Invalidenrente, zusammen. Bei der Analyse dieser Arbeit wird nur auf die Altersrenten in den Rentensystemen eingegangen, weil die anderen Rentenarten – die Hinterbliebenenrenten und die Invalidenrenten – nicht auf die Abdeckung des Altersrisikos abzielen. Demnach bezieht sich im Folgenden die Verwendung der Begriffe ‚Volksrente ދund ‚Zusatzrente ދnur auf die genannten Altersrenten. Die Hinterbliebenenrenten und die Invalidenrenten werden ausgeschlossen.
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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5.2.1.2 Der erfasste Personenkreis Die Volksrente erfasste alle EinwohnerInnen Schwedens, die Zusatzrente die Erwerbstätigen. Die Selbständigen konnten gemäß der ‚opting-outދ-Regelung von der Zusatzrente befreit werden (Guldberg 1979: 142; Lagerström 1977: 9).213 5.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen 5.2.1.3.1 Die Volksrente Das Rentenalter der Volksrente war im Prinzip das 65. Lebensjahr.214 Jedoch konnte eine vorgezogene Altersrente ab Vollendung des 60. Lebensjahres gewährt werden. Außerdem bestand eine Möglichkeit des Aufschubs des Rentenzugangs bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres. Beim vorzeitigen Rentenbezug war der Rentenbetrag allerdings geringer als beim Rentenbezug ab dem normalen Rentenalter. Dementsprechend führte der Aufschub des Rentenbezugs zu einer Vermehrung der Rentenansprüche. Zudem konnte nach Wunsch des Antragstellenden eine Hälfte des Rentenbetrags vorgezogen oder aufgeschoben werden (Lagerström 1977: 11; Försäkringskasseförbundet 1976: 20, 25 f.). 5.2.1.3.2 Die Zusatzrente Ein Anspruch auf Zusatzrente konnte erworben werden, wenn man mindestens für drei Jahre Erwerbseinkommen, deren Höhe über dem ‚Grundbetragދ215 lag, erzielt hatte. Für den Anspruch auf die ‚volle ދRente mussten die Antragstellenden 30 Jahre lang Einkommen über dem ‚Grundbetragދ, und zwar die ‚renten213 Anders als in Großbritannien waren die Selbständigen, die von der Möglichkeit der ‚optingoutދ-Regelung Gebrauch gemacht haben, nicht verpflichtet, sich einer Privatrente anzuschließen. 214 Das Rentenalter der Volksrente wurde 1976 auf 65 Jahre reduziert, nachdem es zuvor bei 67 Jahren gelegen hatte. 215 „Von zentraler Bedeutung für das System der schwedischen Alterssicherung ist der 1960 eingeführte sogenannte Grundbetrag (basloppet), der seiner Höhe nach ursprünglich dem Betrag entsprach, der als volle Volksrente ausbezahlt wurde.“ (Heese 1999: 162) Damals entsprach er auch dem nationalen Existenzminimum. Der Grundbetrag wird seit der Einführung an den Preisanstieg gekoppelt. Auf Grundlage des Verbraucher-Preis-Index (konsumentprisindex) wertet die Regierung den Grundbetrag mindestens einmal jährlich auf oder ab (Lagerström 1977: 11; 1976: 10). Im Januar 1976 betrug der Grundbetrag 9.700 SKR (Försäkringskasseförbundet 1976: 23). Eine der wichtigen Rollen des Grundbetrags war seine Kopplung an die Berechnungen der beiden Renten. Durch die Verknüpfung wurden die Renten automatisch gegen den Preisanstieg geschützt, also wertbeständig.
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begründenden Einkünfte ދ216 , bekommen haben. Die Rentenansprüche konnten vom 16. bis zum 64. Lebensjahr erworben werden (Lagerström 1977: 11; Försäkringskasseförbundet 1976: 20). Die Regelungen sowohl über das Rentenalter als auch über den vorzeitigen und aufgeschobenen Renteneintritt entsprachen denen der Volksrente. 5.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 5.2.1.4.1 Die Volksrente Die Volksrente war eine pauschalisierte Rente. Für einen Alleinstehenden betrug die Rente 1976 95 % des Grundbetrags. Für ein Ehepaar belief sie sich auf 155 % des Grundbetrags (Guldberg 1979: 142; Försäkringskasseförbundet 1976: 20). Wer vorzeitig in Rente ging, musste Abschläge von 0,5 % pro Monat, den die Rente vorgezogen wurde, in Kauf nehmen. Bei der aufgeschobenen Inanspruchnahme erhöhte sich die Rente um 0,6 % pro Monat, den sie aufgeschoben wurde (Lagerström 1977: 11). Wenn während der Laufzeit der Rente der Grundbetrag zunahm, also es Inflation gab, wurde die Höhe der Rente auch automatisch erhöht (Lagerström 1977: 10; hierzu ausführlich Tracy 1976). Die Rente, die nach der Vollendung des 65. Lebensjahres gewährt wurde, blieb von weiterer Erwerbstätigkeit der RentnerInnen unbeeinflusst. Die Höhe der Rente war also unabhängig von den Erwerbseinkommen der RentnerInnen (OECD 1977: 122). Wenn der Antragstellende für die vorzeitige Rente dabei noch Erwerbseinkommen über dem Grundbetrag hatte, wurde ihm eine halbe Teilrente gezahlt. Die EmpfängerInnen der vorzeitigen Rente konnten dabei aufgrund des Erwerbseinkommens Ansprüche auf Zusatzrente erwerben (Lagerström 1977: 11). Die Volksrente war steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Lagerström 1977: 48).
216 Als rentenbegründende Einkünfte wurden die Einkommen bezeichnet, deren Beträge zwischen dem Grundbetrag und dem 7,5fachen des Grundbetrages lagen. Wenn die Höhe des Einkommens das 7,5fache des Grundbetrages überschritt, wurde der Teil der Einkünfte über der Obergrenze bei der Rentenberechung nicht berücksichtigt. Zu den rentenbegründenden Einkünften gehörten nicht nur Erwerbseinkommen, sondern auch öffentliche Verdienstersatzleistungen.
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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5.2.1.4.2 Die Zusatzrente Schaubild 3:
Die Rentenformel der schwedischen Rente der 70er Jahre
60% x Durchschnittswert* der Rentenpunkte x Grundbetrag des Renteneintrittsjahres* x rentenwirksame Erwerbsjahre / 30* Quelle: Baek 2006: 74. Ursprüngliche Quelle: Heese 1999: 170; eigene Modifikationen (* Zeichen bedeutet Modifikationen zur genaueren Beschreibung)
Bei der Rentenberechnung wurde der Durchschnittsverdienst der einkommensstärksten 15 Jahre der einzelnen Versicherten berücksichtigt. Zur Errechnung der Rentenpunkte wurden zuerst die Teile der Einkommen der 15 einkommensstärksten Jahre, die zwischen dem Grundbetrag und dem 7,5fachen Grundbetrag lagen, ausgewählt. Dann wurde jeder ausgewählte Jahreseinkommensbetrag durch den Grundbetrag des jeweiligen betreffenden Jahres dividiert. Das Ergebnis dieser Berechnung wurde nun Rentenpunkt genannt. Der Durchschnittswert der Summe der erzielten 15 Rentenpunkte217 wurde mit dem Grundbetrag des Renteneintrittsjahres multipliziert. Aus 60 % des so errechneten Betrags ergab sich die individuelle ‚volle ދZusatzrente. Für den Anspruch auf eine volle Rente waren in der Regel die rentenbegründenden Einkünfte von 30 Jahren erforderlich. Für jedes fehlende Jahr wurde die Rente um ein Dreißigstel verringert (Guldberg 1979: 142; Försäkringskasseförbundet 1976: 23; Heese 1999: 169 f.). Wenn der Grundbetrag während der Laufzeit der Rente zunahm, stieg die Höhe der Zusatzrente auch automatisch an (Lagerström 1977: 10; hierzu ausführlich Tracy 1976). Die Regelungen für die Abschläge bei der vorzeitigen Volksrente und für die Zuschläge beim Aufschub des Rentenbezugs galten gleichfalls für die Zusatzrente. Die Regeln über den Zusammenhang zwischen der Zusatzrente und dem Arbeitseinkommen und über Besteuerung und Sozialabgaben entsprachen auch denen der Volksrente. 5.2.1.4.3 Die Zulage Wenn die Rente oder das Einkommen der RentnerInnen eine bestimmte Grenze nicht überschritt, wurden ihnen im Rahmen des Volksrentensystems folgende bedarfsabhängige Zuschläge gewährt: Rentenzulage, Kinderzulage, Ehefrauen217 Der maximale Wert betrug also 6,5 Punkte.
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zulage und Wohngeld der Gemeinden. Für den Bezug der Rentenzulage und der Kinderzulage wurde lediglich die Höhe der Rente berücksichtigt. Für den Bezug der Ehefrauenzulage und des Wohngeldes wurde das gesamte Einkommen der RentnerInnen geprüft (Elmér 1975: 106-109). 5.2.1.5 Der Finanzierungsmodus Die Volksrente und die Zusatzrente wurden im ‚Umlageverfahren ދfinanziert. 5.2.1.5.1 Die Volksrente Im Jahre 1976 entrichteten die ArbeitgeberInnen Beiträge von 6,2 % der Gesamtentgeltsumme ihrer Beschäftigten und die Selbständigen zahlten Beiträge von 6,2 % ihres gesamten Verdienstes (Guldberg 1979: 130). Durch die Beiträge wurden 62 % der Gesamtausgaben für die Volksrente abgedeckt. Der restliche Teil wurde aus allgemeinen Steuern finanziert (Lagerström 1977: 18). Abhängig Beschäftigte zahlten keine Beiträge. 5.2.1.5.2 Die Zusatzrente Die Zusatzrente wurde in vollem Umfang aus den Beiträgen der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen finanziert. Sie war also völlig vom Staatshaushalt getrennt. 218 Die Höhe des Beitrags lag 1976 bei 11 % der rentenbegründenden Einkünfte, also des Teils des Einkommens, der zwischen dem Grundbetrag und dem 7,5fachen des Grundbetrages lag (Guldberg 1979: 130). Abhängig Beschäftigte führten auch im Zusatzrentensystem keine Beiträge ab (Lagerström 1977: 18).
218 Die Beiträge für die Zusatzrente flossen dem AP-fonds, also dem Nationalen Rentenfonds, zu. Demgegenüber flossen die Beiträge für die Volksrente keinem speziellen Fonds zu, sondern in den Staatsetat. Die Volksrenten wurden vom Staatshaushalt mittels der Volksrentenbeiträge und der allgemeinen Steuermittel gezahlt.
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5.2.1.6 Das Trägersystem 219 Die Grund- und Zusatzrente sowie die Krankenversicherung wurden von den ‚öffentlichen Versicherungskassen( ދallmänna försäkringskassor) verwaltet. 1976 befanden sich insgesamt 26 Versicherungskassen auf der provinzialen Ebene. Sie waren unabhängige Verwaltungsorgane mit weitgehender Autonomie. Für die Sachbearbeitung hatten die Versicherungskassen auf der lokalen Ebene zahlreiche ‚Lokalbüros( ދlokalkontor) (Elmér 1975: 82; Lagerström 1976: 8 f.). Die öffentlichen Versicherungskassen wurden von dem ‚Reichsversicherungsamt( ދRiksförsäkringsverket) beaufsichtigt, das eine zentrale Verwaltungsbehörde war, die unter der Zuständigkeit des ‚Ministeriums für Gesundheit und Soziale Angelegenheiten( ދSocialdepartementet) lag (Lagerström 1976: 8; Elmér 1975: 83, 266). 219 Zum tiefgreifenden Verständnis über die Trägersysteme der schwedischen sozialen Sicherungssysteme, welche im Folgenden weiter diskutiert werden, lässt sich hier das schwedische Verwaltungssystem umreißen: Die schwedischen zentralstaatlichen Organe setzen sich aus der Regierung (regerieren), dem Parlament (riksdag) und den zentralen Verwaltungsbehörden (centrala ämbetsverk) zusammen. Das Parlament ist der ‚Entscheidungsträgerދ. Es hatte zunächst zwei Kammern. 1971 wurde es zum Einkammerreichstag umgestaltet. Die Regierung bilden der Kanzler (statsminister) und 10 Minister (minister) (Stand: 2006). Die von dem Reichstag und der Regierung gefassten Beschlüsse und Verordnungen werden von den verschiedenen zentralen Verwaltungsbehörden durchgeführt. Sie haben weitgehende Autonomie. Jede Verwaltungsbehörde ist zwar einem Ministerium zugeordnet, ist aber bei der Durchführung der Aufgaben selbständig, da sie nicht weisungsgebunden sind (Navarro 1974: 9-36; Woodsworth 1977: 22-27). Unter der nationalen Ebene gibt es in Schweden ‚län( ދProvinz) auf der regionalen Ebene und ‚kommun(ދGemeinde) auf der lokalen Ebene. Die schwedischen territorialen Gebietskörperschaften bestehen aus 21 Provinzen und 290 Gemeinden (Stand: 2006). In jeder Provinz befindet sich ein Provinzverwaltungsrat (länsstyrelse). Er ist Vertreter der Zentralregierung in seiner Region. Der Landesvorsteher (landshövding) wird von der Regierung ernannt und ist der Vorsitzende des Provinzverwaltungsrates. Daneben gibt es einen Provinziallandtag (landsting oder landstingsfullmäktige), der eine vom Volk gewählte Selbstverwaltung ist (Navarro 1974: 36-47; Woodsworth 1977: 27-29). Das Gebiet in der Zuständigkeit des Provinziallandtages heißt die Sekundärkommune (sekundärkommun oder landstingskommun oder – z. Z. bloß – landsting). Die Gebietsgrenzen der Sekundärkommune stimmen mit denen der Provinzen überein. Ausnahme ist nur die Provinz Gotland, die keinen Provinziallandtag hat. Hier ist der Gotland-Gemeinderat für die Aufgaben des Provinziallandtages zuständig. Heute gibt es in Schweden also 20 Provinziallandtage. Während die Provinzverwaltungsräte für z.B. Polizeiwesen, Umweltschutz, Landwirtschaft und Fischerei verantwortlich sind, obliegt den Provinziallandtagen die Sorge für Gesundheitswesen, Verkehrswesen, Kultur usw. (Landstingsförbundet 2005: 54). In jeder Gemeinde gibt es einen Gemeinderat (kommunfullmäktige) als Selbstverwaltung. Die Gemeinden sind also die Primärkommunen (primärkommun). Die Gemeinderäte sind verantwortlich für Kinderbetreuung, Sozialdienst, Sozialhilfe, Schulwesen (Grundschulen und Gymnasien) etc.
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5.2.2 Die Krankensicherung 5.2.2.1 Die Gesundheitsversorgung 5.2.2.1.1 Die öffentlichen Kostenträger In Schweden übernahmen die Provinziallandtage und die soziale Krankenversicherung die Kosten für medizinische Versorgungen. Der Modus der öffentlichen Kostenübertragung beruhte auf dem steuer- sowie beitragsfinanzierten System, das eine Mischform zwischen dem Versorgungsprinzip und dem Versicherungsprinzip darstellte. 5.2.2.1.2 Der erfasste Personenkreis Alle EinwohnerInnen Schwedens waren gegen die Kosten für medizinische Sachleistungen abgesichert (Fain 1977: 228). 5.2.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Ansprüche auf öffentliche Kostenübernahme waren an keine besonderen Bedingungen gebunden. 5.2.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Beim Arztbesuch, also für eine ambulante Behandlung, zahlten Patienten im Jahr 1976 eine Gebühr von 15 SKR (Försäkringskasseförbundet 1976: 6). Den Rest der Behandlungskosten übernahm die Krankenversicherung. Hinsichtlich der Gebühren gab es eine Obergrenze der Selbstbeteiligung. Innerhalb von 12 Monaten sollten die gesamten Gebühren eines Patienten 120 SKR nicht überschreiten (Smedby 1978: 248). Die Patienten leisteten die Eigenbeiträge also nur bis zum achten Arztbesuch in einem Jahr. Bei einer stationären Behandlung entrichteten Patienten keine Zuzahlung. Darüber hinaus war die erstattungsberechtigte Zeit bei der stationären Versorgung in der Regel unbefristet (Försäkringskasseförbundet 1976: 8). Die Betriebs- und die Investitionskosten für die Krankenhäuser trugen die Provinziallandtage (Smedby 1978: 248).220
220 Für einen sehr kleinen Teil der stationären Versorgungskosten gab die Krankenversicherung einen Zuschuss an den Provinziallandtag. Dieser Zuschuss betraf das Krankengeld des Patienten. Von diesem Krankengeld wurde ein kleiner Teil nicht dem stationär behandelten Kran-
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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Die ärztlich verschriebenen Arzneimittel konnte man in der Apotheke zu herabgesetzten Preisen kaufen. Beim einmaligen Kauf betrug die Zuzahlung höchstens 20 SKR für alle gleichzeitig verordneten Arzneimittel (Försäkringskasseförbundet 1976: 9). Die restlichen Kosten übernahm die Krankenversicherung. Bei einigen chronischen Erkrankungen konnten die Patienten von der Gebühr befreit werden (Fain 1977: 229). Bei der zahnärztlichen Versorgung wurden Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren ohne Gebühr behandelt (Försäkringskasseförbundet 1973: 8). Die Provinziallandtage übernahmen die Behandlungskosten. Demgegenüber wurden die Kosten der Zahnbehandlung für über 20-Jährige im Prinzip zwischen der Krankenversicherung und dem Patienten hälftig geteilt. Bei vorbeugenden Behandlungen übernahm die Krankenversicherung 75 % der Kosten und die Patienten zahlten den Rest (Försäkringskasseförbundet 1976: 7). Überstiegen die Zahnbehandlungskosten 1.000 SKR, übernahm die Krankenversicherung 75 % der Gesamtkosten (Fain 1977: 229). Besonders teure Behandlungen, Prothesen und Kieferorthopädie folgten bestimmten Regelungen hinsichtlich der Kostenteilung zwischen der Krankenversicherung und den Patienten (Försäkringskasseförbundet 1976: 7). 5.2.2.1.5 Der Finanzierungsmodus Für die Krankenversicherung entrichteten die ArbeitgeberInnen 1976 Beiträge von 8 % aller Bruttolöhne ihrer Beschäftigten. Die Selbständigen zahlten Beiträge von 8 % ihrer gesamten Einkommen (Guldberg 1979: 130). Durch die Beiträge wurden 85 % der Gesamtenausgaben für die Krankenversicherung abgedeckt. Der restliche Teil wurde durch die staatlichen Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln erbracht (Lagerström 1977: 18). Abhängig Beschäftigte zahlten keine Beiträge.221 Die Hauptressourcen der Provinziallandtage waren provinziale Einkommenssteuern und zentralstaatliche Beiträge zum Etat der Landtage. 1970 belief sich der Anteil der Einkommenssteuern an den Gesamteinkommen der Provinziallandtage auf 54 %222 und der Anteil der zentralstaatlichen Beiträge auf 19 %. An den Gesamtausgaben der Provinziallandtage betrug der Anteil für Gesundheitsversorgung 78 % (Federation of Swedish county councils 1971: 6).
ken ausbezahlt, sondern – für seinen Unterhalt im Krankenhaus (Essen etc.) – dem Provinziallandtag überwiesen. 221 Aus den Mitteln der Krankenversicherung wurden sowohl die medizinischen Sachleistungen als auch das Krankengeld und die Elternschaftsversicherung finanziert. 222 Die Steuersätze betrugen durchschnittlich 8,06 % des Einkommens (Spek 1980: 200).
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
5.2.2.1.6 Das Trägersystem In der Regierung fiel das Gesundheitswesen in die Zuständigkeit des ‚Ministeriums für Gesundheit und Soziale Angelegenheiten( ދSocialdepartementet). Das Ministerium war verantwortlich für „die Gesetzgebung und die Implementierung finanzieller Anreize“ (Michelsen 2002: 72). Im Rahmen der zentralen Verwaltungsbehörden oblagen der ‚Nationalen Behörde für Gesundheit und Wohlfahrt( ދSocialstyrelsen) die Aufgabe der Ressourcenallokation – Kapital und Personal – und die Aufsicht über das Gesundheitswesen: Sie war „responsible for the scope and direction of national health policies and for supervision and planning for training of medical personnel, location and construction of hospitals” (Fain 1977: 229). Unterhalb dieser Ebene der Steuerung, Planung und Koordination durch die zentralstaatlichen Akteure erfüllten die Provinziallandtage und die soziale Krankenversicherung eigene Aufgaben im Bereich Gesundheitsversorgung. Die Träger der Krankenversicherung waren dieselben Träger wie für die Renten. 5.2.2.2 Die Verdienstersatzleistungen 5.2.2.2.1 Die Leistungsarten In den 70er Jahren gab es in Schweden als die Verdienstsersatzleistung bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit das Krankengeld (Sjukpenning) von der Krankenversicherung. Das Krankengeld bestand aus einer einkommensbezogenen Leistung und einer einheitlichen Leistung. 5.2.2.2.2 Der erfasste Personenkreis Die einkommensbezogene Leistung erfasste Erwerbstätige und die einheitliche Leistung haushaltsführende EhepartnerInnen, die mit ihrem Ehepartner oder ihrer Ehepartnerin zusammenlebten und in der Regel selbst keine Arbeitseinkommen hatten.223 Bei den haushaltsführenden EhepartnerInnen war es gleichgütig, ob sie Ehemänner oder Ehefrauen waren (Försäkringskasseförbundet 1976: 12 f.; Fain 1977: 228).224 223 Die Erwerbstätigen, deren Arbeitseinkünfte jährlich unter 4.500 SKR lagen, hatten keinen Anspruch auf die einkommensbezogene Leistung. Die haushaltsführenden EhepartnerInnen konnte die einheitliche Leistung beziehen, obwohl sie Arbeitseinkommen, die unter 4.500 SKR lagen, erzielten (Elmér 1975: 97). 224 ,,In this way it is hoped both to upgrade the status of household duties and to encourage the parents to share the childrearing role.” (Wilson 1979: 54)
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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Die Selbständigen konnten von der Möglichkeit der ‚opting-outދ-Regelung Gebrauch machen (Lagerström 1977: 9).225 5.2.2.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um die Verdienstersatzleistungen zu bekommen, musste die Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit sofort durch persönlichen Besuch, Post oder Telefon der Versicherungskasse gemeldet werden (Försäkringskasseförbundet 1976: 14). Nach dem siebten Krankheitstag wurde in der Regel ein ärztliches Attest für eine weitere Aufrechterhaltung des Anspruchs auf das Krankengeld ab dem achten Krankheitstag verlangt (Wilson 1979: 54). 5.2.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Das Krankengeld wurde in der Regel für den ersten Tag der Krankheit, also für den Tag der Krankenmeldung, nicht gewährt. Beim ersten Krankheitstag handelte es sich um einen ‚Karenztagދ. Die Selbständigen konnten die Zahl der Karenztage in einem gewissen Rahmen selbst festlegen: der normale Karenztag oder eine Karenzzeit von 3,33 Tagen oder von 93 Tagen (Försäkringskasseförbundet 1976: 14).226 Die einkommensbezogene Leistung für Erwerbstätige betrug 90 % ihrer Einkommen bis zur oberen Verdienstsgrenze, also bis zum 7,5fachen des Grundbetrags (Lagerström 1977: 13). Wenn der Verlust der Erwerbsfähigkeit 50 % nicht überschritt, wurde die Hälfte des Krankengeldbetrags gewährt (Försäkringskasseförbundet 1976: 12).227 Das Krankengeld wurde in der Regel ohne formelle zeitliche Begrenzung gezahlt (Wilson 1979: 53). Allerdings konnte das Krankengeld durch eine Invalidenrente abgelöst werden, wenn die Krankheit über einen langen Zeitraum andauerte. Das einkommensbezogene Krankengeld war steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Försäkringskasseförbundet 1976: 13; Wilson 1979: 54). Die einheitliche Leistung für haushaltsführende EhepartnerInnen belief sich 1978 auf 8 SKR pro Tag (Wilson 1979: 54). Das einheitliche Krankengeld war steuer- und sozialabgabenfrei (Försäkringskasseförbundet 1976: 13). 225 Aber die Selbständigen konnten nur aus dem Krankengeld ausscheiden. Sie konnten nicht von der Versicherung für medizinische Versorgung befreit werden. 226 Mit wachsenden Karenztagen verminderten sich ihre Beiträge für die Krankenversicherung (Försäkringskasseförbundet 1976: 14). 227 „Benefits may be paid at half-rate if a person’s working capacity is reduced by not more than half and he is able to return to work on a part time base; in this way it is hoped to encourage workers to ease themselves back into employment.” (Wilson 1979: 54)
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5.2.2.2.5 Der Finanzierungsmodus Siehe 5.2.2.1.5 Der Finanzierungsmodus. 5.2.2.2.6 Das Trägersystem Siehe 5.2.1.6 Das Trägersystem. 5.2.3 Die Arbeitslosensicherung 5.2.3.1 Die Leistungsarten Die Verdienstersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit bestanden aus der Leistung der Arbeitslosenkassen, also dem Arbeitslosengeld 228 , und der barausgezahlten Arbeitsmarktunterstützung (kontant arbetsmarknadsstöd), also der KAS. 5.2.3.2 Der erfasste Personenkreis Das Arbeitslosengeld der Arbeitslosenversicherung, die auf dem Genter System beruhte, das einen freiwilligen Eintritt in die Versicherung voraussetzt, erfasste ‚fast alle ދErwerbstätigen. Die Arbeitslosenkassen waren nach Wirtschaftsbereichen oder Berufszweigen geordnet und mit den Gewerkschaften oder mit den Organisationen der Selbständigen verbunden. 1973 gab es insgesamt 44 Arbeitslosenkassen. Davon waren vier Kassen mit den Selbständigenverbänden verbunden, die restlichen Kassen mit den Gewerkschaften (Elmér 1975: 122 f.). Erwerbstätige durften sich nicht nach Wunsch einer ihnen genehmen Arbeitslosenkasse anschließen. Die Erwerbstätigen, die in einem bestimmten Wirtschaftsbereich oder Berufszweig arbeiteten, konnten nur in die Arbeitslosenkasse, die sich in dem betreffenden Wirtschaftsbereich oder Berufszweig befand, eintreten. Dabei war es allerdings gleichgültig, ob die Eintrittsantragstellenden bei der Arbeitslosenkasse Gewerkschaftsmitglieder waren oder ob sie Mitglieder der Organisationen der Selbständigen waren (ILO 1976: 52; Elmér 1975: 84, 228 Eine interessante Tatsache ist, dass es im Gesetz der Arbeitslosenversicherung keinen ‚Eigennamen ދder Leistung der Arbeitslosenkassen gab. Im Gesetz wurde die Leistung bloß mit allgemeinen Substantiven, z.B. ersättning (Ersatzleistung) oder dagpenning (Tagesgeld), benannt (siehe Lag (1973: 370) om arbetslöshetsförsäkring (Gesetz über Arbeitslosenversicherung)). In dieser Arbeit wird die Leistung der Arbeitslosenkassen zum besseren Verständnis als das ‚Arbeitslosengeld ދbezeichnet.
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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123). Ohne Mitgliedschaft bei Gewerkschaften oder Selbständigenorganisationen konnten Erwerbstätige in die Arbeitslosenkassen eintreten. Allerdings konnten sich die Erwerbstätigen solange keiner Arbeitslosenkasse anschließen, wie es in dem Wirtschaftsbereich oder Berufszweig, in dem sie arbeiteten, keine Arbeitslosenkasse gab (vgl. Blaustein und Craig 1977: 31). Seit 1974 wurden die Gewerkschaftsmitglieder verpflichtet, sich obligatorisch den Arbeitslosenkassen anzuschließen (Wilson 1979: 81).229 Von der KAS wurden alle Erwerbstätigen erfasst. 5.2.3.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um das Arbeitslosengeld zu beziehen, mussten Arbeitslose mindestens für 12 Monate Mitglied in einer Arbeitslosenkasse gewesen sein (Mitgliedsvoraussetzung). Außerdem mussten sie mindestens für fünf Monate in einem Zeitraum von 12 Monaten gerade vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gearbeitet haben (Arbeitsvoraussetzung) (Wilson 1979: 81 f.). Gewährt wurde die KAS den Arbeitslosen, die sich der Arbeitslosenversicherung nicht anschlossen oder trotz der Mitgliedschaft in einer Arbeitslosenkasse die Anspruchsvoraussetzung der zwölfmonatigen Mitgliedschaft auf das Arbeitslosengeld nicht erfüllten (Lagerström 1976: 9 f.). Diese Personengruppen mussten zudem die gerade oben genannte fünfmonatige Arbeitsvoraussetzung erfüllen (Wilson 1979: 82). Daneben fungierte die KAS ausnahmsweise als Anschlussleistung für Arbeitslose nach Ablauf ihres Arbeitslosengeldes. Diese Ausnahme war die Leistung von KAS für über 60-jährige Mitglieder einer Arbeitslosenkasse, deren Arbeitslosengeldanspruch bereits abgelaufen war. Ihnen konnte die KAS bis zum Renteneintritt gewährt werden (Elmér 1975: 126). 5.2.3.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Die Mitglieder der Arbeitslosenkassen gliederten sich in zehn Klassen nach ihrem Bruttoverdienst und dementsprechender Höhe des Arbeitslosengeldes (Wilson 1979: 81). Die Leistung wurde also von 40 bis 130 SKR pro Tag klassifiziert (Elmér 1975: 125). Die maximale Höhe des Arbeitslosengeldes
229 In der obligatorischen Versicherung, z.B. in der deutschen Arbeitslosenersicherung, werden Pflichtversicherte als ‚normale ދVersicherte klassifiziert, die – möglicherweise vorhandenen – freiwilligen Versicherten werden hingegen als Sonderfälle angesehen. Im Genter Modell, also in Schweden, gelten die freiwilligen Versicherten als Normalfall, Pflichtversicherte, so es sie gibt, als spezieller Fall.
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
durfte allerdings 91,7 % des vorherigen Einkommens nicht überschreiten (Woodsworth 1977: 42). Das Arbeitslosengeld wurde normalerweise für 300 Tage gewährt. Über 55jährigen Arbeitslosen konnte es bis zu einer Dauer von 450 Tagen gezahlt werden (Wilson 1979: 82; ILO 1976: 63). Es gab fünf Karenztage (Stähl 1978: 129). Wenn die EmpfängerInnen des Arbeitslosengeldes Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leisteten, erfolgte eine Kürzung der Leistung (Elmér 1975: 126). Daneben gab es Sanktionen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld konnte bis zu einem Zeitraum von 28 Tagen gesperrt werden. Verhängt wurden die Sperrzeiten beispielsweise wegen Aufgabe des Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund oder wegen Ablehnung einer zumutbaren Arbeit (Elmér 1975: 123). Das Arbeitslosengeld war steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Wilson 1979: 81). Die KAS war eine einheitliche Leistung und betrug 1974 35 SKR pro Tag (Woodsworth 1977: 42). Sie wurde üblicherweise bis zu einer Dauer von 150 Tagen gewährt. Sie konnte über 55-jährigen Arbeitslosen bis zu einer Dauer von 300 Tagen und Arbeitslosen über 60 Jahren bis zum Rentenalter gezahlt werden (Försäkringskasseförbundet 1973: 31). Die Regelungen des Arbeitslosengeldes über die Karenztage, die Leistungsverkürzung bei Teilzeitarbeit, die Sanktionen und die Besteuerung galten auch für die KAS (siehe Elmér 1975: 126 f.). 5.2.3.5 Der Finanzierungsmodus 2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre Zum Arbeitslosenfonds (arbetslöshetsfonden) entrichteten ArbeitgeberInnen im Jahr 1976 0,4 % der Lohnsumme ihrer Beschäftigten (Guldberg 1979: 130). Der Staat zahlte an den Fonds den Betrag, der etwa der Hälfte der Summe der Arbeitgeberbeiträge entsprach. Also wurden 2/3 der Mittel des Arbeitslosenfonds von den ArbeitgeberInnen und 1/3 der Mittel vom Staat erbracht. Vom Fonds wurde die KAS gewährt und ein ‚Grundbeitragދ230 pro einen Empfänger des Arbeitslosengeldes an die Arbeitslosenkassen gezahlt. Außerdem finanzierte der Staat einen großen Teil der Ausgaben der Arbeitslosenkassen aus allgemeinen Steuermitteln (Elmér 1975: 90). Im Ergebnis wurden 1976 ca. 40 % der Gesamtausgaben für die Arbeitslosensicherung vom Staat erbracht (Olsson 1987: 54). Die Mitgliedsbeiträge für die Arbeitslosenversicherung waren üblicherweise in den Gewerkschaftsmitgliedsbeiträgen (fackföreningsavgiften) eingeschlossen. Die Höhe der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung wurde von der Arbeitsmarktbehörde231 bestimmt. Die Höhe der Mitgliedsbeiträge war sowohl je nach 230 Die Höhe des Grundbeitrags entsprach dem Niveau der KAS. 1975 betrug der Grundbeitrag, der im Tagesbetrag des Arbeitslosengeldes eingeschlossen war, also 35 SKR. 231 Die Arbeitsmarktbehörde wird im folgenden Unterabschnitt erklärt.
5.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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der Kasse als auch innerhalb einer Kasse je nach Häufigkeit der Arbeitslosigkeit und Größe der Leistung sehr unterschiedlich (Sjukpenningutredningen 1972: 42). Die Beiträge betrugen durchschnittlich 8 SKR pro Monat (Stähl 1978: 130). Durch die Mitgliedsbeiträge wurden 1976 25 % der Gesamtkosten der Arbeitslosensicherung abgedeckt (Olsson 1987: 54). 5.2.3.6 Das Trägersystem Die Verwaltungsaufgaben der KAS waren in zwei unterschiedlichen öffentlichen Organen verortet. Die direkten Verwaltungsaufgaben, z.B. Antragannahme, Genehmigung und Entscheidung über die Höhe der Leistung, oblagen den öffentlichen Organisationen für Arbeitsmarktpolitik. Für die Auszahlung waren die Träger der Sozialversicherung verantwortlich (Lag (1973: 371) om kontant arbetsmarknadsstöd232 § 2) In der Regierung fiel die Arbeitsmarktpolitik in die Zuständigkeit des ‚Ministeriums für Arbeitsmarkt( ދarbetsmarknadsdepartementet). Wie bei der Sozialversicherung oblagen allerdings wesentliche Leistungsaufgaben der KAS einer zentralen Verwaltungsbehörde, der ‚Arbeitsmarktbehörde( ދarbetsmarknadsstyrelsen, AMS). Der AMS unterstand in jeder Provinz ein ‚Provinzialarbeitsausschuss( ދLänsarbetsnämnd). Er war für die Konzipierung und Durchführung der Arbeitsmarktpolitik in seiner Provinz verantwortlich (Elmér 1975: 52). Unter der Aufsicht der Provinzialarbeitsausschüsse standen die lokalen ‚Arbeitsvermittlungsbüros( ދArbetsförmedlingskontor). Die AMS, die Provinzialarbeitsausschüsse und die Arbeitsvermittlungsbüros wurden jedoch ohne Unterschied oft als ‚Arbeitsmarktämter( ދarbetsmarknadsverket) bezeichnet (Elmér 1975: 54). Das Arbeitslosengeld wurde von den Arbeitslosenkassen verwaltet. Deren Aktivitäten wurden von der AMS beaufsichtigt: Jede Arbeitslosenkasse bildete selber einen eigenen Verwaltungsrat (styrelse). Dessen Vorschriften und Regeln mussten aber von der AMS genehmigt werden. Darüber hinaus wurden die Aktivitäten der Verwaltungsräte durch staatliche Regelungen strikt reguliert. Dabei spielten die Arbeitsvermittlungsbüros die Rolle eines Kontrollorgans (Elmér 1975: 123).
232 Gesetz (1973: 371) über barausgezahlte Arbeitsmarktunterstützung.
230
5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme 5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme 5.3.1 Die Alterssicherung 5.3.1.1 Die Leistungsarten Die heutigen schwedischen Rentensysteme besteht aus einkommensbezogenen Renten (inkomstgrundad pension) und einer Garantierente (garantipension). Die einkommensbezogenen Renten setzen sich aus einer Einkommensrente (inkomstpension) und einer Prämienrente (premiepension) zusammen.233 Die Beiträge zur einkommensbezogenen Renten sind dauerhaft auf 18,5 % der ‚Rentenberechnungsgrundlageދ234 festgelegt. Davon gehen 16 % in das Ein233 In dem Einkommens-, dem Prämien- und dem Garantierentensystem gibt es keine Hinterbliebenenrenten und Invalidenrenten. Die drei Renten sind nur Altersrente. Hinterbliebenenrenten und Invalidenrenten existieren davon getrennt und sind im Rahmen dieser Arbeit ohne Belang. 234 Die Rentenberechnungsgrundlage (pensionsunderlag) besteht aus ‚rentenwirksamen Einkünften( ދpensionsgrundande inkomst) und ‚rentenwirksamen Beträgen( ދpensionsgrundande belopp). Die rentenwirksamen Einkünfte sind die jährlichen Erwerbseinkommen, die die Höhe der steuerpflichtigen Mindesteinkommen übersteigen. Von den jährlichen Erwerbseinkommen werden die Teile, die unter der oberen Beitragsbemessungsgrenze des Rentensystems liegen, den rentenwirksamen Einkünften zugerechnet. Zu den rentenwirksamen Einkünften zählen neben den Erwerbseinkommen auch steuerpflichtige Sozialleistungen (Settergren 2001a: 5; Ministry of Health and Social Affairs 2003: 8). Die Höhe der rentenwirksamen Einkünfte entspricht 93 % des tatsächlichen Betrags der Einkünfte (Settergren 2002: 30; Ministry of Health and Social Affairs 2003: 4). Um die Versicherten zu schützen, die vom gesellschaftlichen Standpunkt aus sinnvolle Tätigkeiten ausüben, aber keine nennenswerten Rentenansprüche erwerben können, wurde in dem neuen Rentensystem der neue Begriff ‚rentenwirksamer Betrag ދeingeführt. Bei gesellschaftlich ‚bedeutenden ދbeitragslosen Zeiten, z.B. Kindererziehungszeiten oder Zeiten der Pflichtdienstableistung, errechnet der Staat für die betreffenden Versicherten ihre ‚fiktiven Einkünfteދ, die als die rentenwirksamen Beträge benannt werden (Ministry of Health and Social Affairs 1998: 5 f.; Baek 2006: 78). Die rentenwirksamen Beträge werden im unteren Unterabschnitt ‚5.3.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen ދweiter erklärt. Die jährliche Summe der rentenwirksamen Einkünfte und der rentenwirksamen Beträge, also die Rentenberechnungsgrundlage, kann auf keinen Fall das 7,5fache des ‚Einkommensgrundbetrags( ދinkomstbasbelopp) überschreiten. Wenn die Summe der rentenwirksamen Einkünfte und der rentenwirksamen Beträge das 7,5fache des Einkommensgrundbetrags übersteigt, wird der Betrag oberhalb der Grenze bei der Beitragsberechnung nicht berücksichtigt (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 7). Neben dem ‚Grundbetragދ, der sich schon auch im alten Rentensystem befand, gibt es im neuen Rentensystem den ‚Einkommensgrundbetragދ. Nach der Einführung des Einkommensgrundbetrages wird der Grundbetrag in den ‚Preisgrundbetragދ (prisbasbelopp) umbenannt. „Der Einkommensgrundbetrag wurde 2001 zum ersten Mal im Rentensystem angewendet und die erste Höhe des Einkommensgrundbetrags entsprach dem Betrag des ,höheren Preisgrundbetrags ދdes Jahres 2001. Der höhere Preisgrundbetrag ist ein
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme
231
kommensrentensystem, das auf dem Umlageverfahren beruht. Die verbleibenden 2,5 % fließen dem kapitalgedeckten Prämienrentensystem zu. Denjenigen, deren einkommensbezogene Altersrenten einen gewissen Betrag nicht überschreiten, wird aus dem Staatshaushalt die Garantierente gezahlt. 5.3.1.2 Der erfasste Personenkreis In den einkommensbezogenen Rentensystemen sind die Erwerbstätigen pflichtversichert. Das Garantierentensystem erfasst die EinwohnerInnen Schwedens (Europäische Kommission 2003e). 5.3.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen 5.3.1.3.1 Die einkommensbezogenen Renten In den neuen einkommensbezogenen Rentensystemen wurde ein ‚Lebenseinkommensprinzip ދeingeführt. Die Höhe der Renten wird im Prinzip anhand der Summe der Beiträge, die während des Erwerbslebens entrichtet werden, bestimmt (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 4; Baek 2006: 80). In den neuen einkommensbezogenen Rentensystemen gibt es keine Anspruchsvoraussetzung der Mindestperiode der Erwerbstätigkeit 235 und keine Regelung über eine ‚volle ދRente. Die Rentenansprüche können ab dem 16. Lebensjahr ohne obere Altersgrenze erworben werden. Die Rentenansprüche können nun unabhängig vom Rentenbezug solange erlangt werden, wie die Versicherten oder die RentnerInnen die rentenwirksamen Einkünfte erzielen (Kellner 2000: 39; Baek 2006: 79 f.).236 Bei den Zeiten der Kindererziehung, der Pflichtdienstableistung, des Studiums und des Bezuges der Invalidenrenten können die Versicherten auf der fiktiver Preisgrundbetrag, der heute ermittelt werden könnte, wenn der Preisgrundbetrag des Jahres 1995 vollumfänglich an den Preisanstieg des Jahres 1995 angepasst worden wäre. Seit 2002 wird der Einkommensgrundbetrag an die Veränderung des Einkommens-Index angepasst und wie im Fall des Preisgrundbetrags jährlich von der Regierung aufgestellt.“ (Baek 2006: 79; Hierzu ausführlicher Ministry of Health and Social Affairs 1998: 14 f.) Der Einkommens-Index wird im unteren Unterabschnitt ‚5.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer ދdargestellt. Im Jahr 2003 beträgt der Preisgrundbetrag 38.600 SKR und der Einkommensgrundbetrag 40.900 SKR (Europäische Kommission 2003e). 235 Im alten Rentensystem konnte man den Rentenanspruch nicht erwerben, wenn man nicht mindestens für drei Jahre die Erwerbseinkommen, deren Höhe über dem Grundbetrag lag, erzielt hatte. 236 Die Personen, deren Einkünfte unter dem 0,423fachen des Preisgrundbetrags liegen, zahlen keine Beiträge und erwerben folglich keine Rentenansprüche (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 7).
232
5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
Grundlage der ‚fiktiven ދEinkünfte, die als die ‚rentenwirksamen Beträge ދgelten, Rentenansprüche erwerben (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 8-10; 1998: 20-23). Diesen Zeiten wird bezogen auf den Rentenanspruch ein fiktives Einkommen bestimmter, unterschiedlicher Höhe zugewiesen. Zum Beispiel entsprechen die täglichen fiktiven Einkünfte für die Zeit des Wehr- oder Zivildienstes 50 % des 365. Teils des Durchschnittswertes rentenwirksamer Jahreseinkünfte aller Versicherten unter 65 Jahren. Für die Versicherten in den gesellschaftlich ‚bedeutenden ދbeitragslosen Zeiten führen die Regierung oder zuständige Sozialversicherungssysteme Beiträge von 18,5 % der rentenwirksamen Beträge an die einkommensbezogenen Rentensysteme ab (Settergren 2002: 30; Ministry of Health and Social Affairs 1998: 20; Baek 2006: 81). Das Rentenalter ist in der Regel das 61. Lebensjahr. Die Rentenberechtigten können jedoch ihren Rentenbezug aufschieben. Sie können auch zunächst eine Teilrente von 25%, 50% oder 75% beziehen und den Rest aufschieben. Es gibt keine obere Altersgrenze, zu der der Rentenbezug definitiv beginnt. Der Bezug der Teilrente oder der Aufschub der Rente wird mit einer Erhöhung des später beanspruchten Rentenbetrags verbunden. Die neuen Rentensysteme kennen keine vorzeitige Rente (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 17; Heese 2003: 244; Baek 2006: 86, 80). 5.3.1.3.2 Die Garantierente Diejenigen, die keinen Anspruch in den einkommensbezogenen Rentensystemen bildeten oder deren Rentenhöhe einen gewissen Betrag nicht übersteigt, können einen Antrag auf die Garantierente stellen. Für den Anspruch auf eine Garantierente müssen die Antragstellenden vorher mindestens für drei Jahre in Schweden wohnhaft gewesen sein. Um eine ‚volle ދGarantierente zu beziehen, müssen sie in Schweden ihren gewöhnlichen Aufenthalt für 40 Jahre gehabt haben (Kellner 2000: 50; Baek 2006: 82). Die Garantierente wird ab Vollendung des 65. Lebensjahres gewährt. Die Rente kann nicht vorgezogen oder aufgeschoben werden (Heese 2003: 247). 5.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 5.3.1.4.1 Die einkommensbezogenen Renten Die Jahreseinkommensrente wird beim Renteneintritt dadurch berechnet, dass die Summe der während des Erwerbslebens erworbenen individuellen Rentenguthaben durch einen ‚Annualisierungs-Divisor( ދdelningstal) dividiert wird. Der Annualisierungs-Divisor beruht im Wesentlichen auf der durchschnittlichen
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme
233
Lebenserwartung der Alterskohorte, der der Rentenantragssteller angehört. Im Annualisierungs-Divisor wird zudem eine geschätzte künftige Wachstumsnorm in Höhe von 1,6 % eingeschlossen (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 11). Ab dem zweiten Jahr des Rentenbezugs wird die Einkommensrente jedes Jahr unter der Berücksichtigung der bereits einbezogenen Wachstumsnorm an die reale Einkommens- und Preisentwicklung gekoppelt (Heese 1999: 172; Baek 2006: 82). Schaubild 4:
Die Rentenformel der schwedischen Einkommensrente
1. Bei Renteneintritt: Rentenguthaben / Annualisierungs-Divisor 2. Höhe der jährlichen Rentenanpassung: Prozentuale Veränderung des Einkommens-Indexes – Norm 1,6 % Quelle: Ministry of Health and Social Affairs 2003: 10 f.; Hesse 1999: 171 f.; eigene Darstellung
Die Rentenguthaben jedes Versicherten werden bis vor dem Renteneintritt alljährlich in folgenden drei Schritten errechnet: Wenn ein Versicherter vor Erreichen des Rentenalters, also vor Vollendung des 61. Lebensjahres, stirbt, werden seine Rentenguthaben unter den Rentenguthaben der übrigen Versicherten seines Jahrgangs aufgeteilt. Zweitens werden die Rentenguthaben gemäß dem Einkommens-Index237 auf- oder abgewertet. Drittens werden die Ver237 „Der Einkommens-Index wird angewendet, um allgemeine Einkommensentwicklung zu berücksichtigen. Um den Einkommens-Index zu ermitteln, muss im Voraus das jährliche durchschnittliche Einkommen Schwedens errechnet werden. Dieses errechnet sich, indem die rentenbegründenden Einkommen aller Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren und die [Teile der] Einkommen oberhalb des 8,07fachen Einkommensgrundbetrags der gleichen Altersgruppe addiert und dann durch die gesamte Anzahl dieser Personen geteilt werden. Dann wird (anhand des jährlichen durchschnittlichen Einkommens) die Wachstumsrate des jährlichen durchschnittlichen Einkommens ermittelt. Das Vorgehen zur Ermittlung der prozentualen Veränderung des Einkommens-Indexes dieses Jahres wird folgendermaßen kurz zusammengefasst: Zuerst wird der Durchschnitt der Wachstumsraten des jährlichen durchschnittlichen Einkommens der letzten drei Jahre berechnet. Dann wird hiervon die durchschnittliche jährliche Preissteigerungsrate der letzten drei Jahre subtrahiert. Der ermittelte Prozentsatz entspricht der Rate des jährlichen Wachstums des ‚realen ދEinkommens. Indem der Prozentsatz des Wachstums des realen Einkommens mit der Preissteigerungsrate des letzten Jahres addiert wird, kann der Prozentsatz des Wachstums des ‚nominalen ދEinkommens ermittelt werden. Der Prozentsatz des Wachstums des nominalen Einkommens entspricht der ‚prozentualen Veränderung des Einkommens-Indexes ދdieses Jahres. Schließlich berechnet sich der Einkommens-Index dieses Jahres dadurch, dass die Zahl des Einkommens-Index des letzten Jahres um die ‚prozentuale Veränderung des Einkommens-
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5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
waltungskosten des Einkommensrentensystems von den Rentenguthaben abgezogen (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 10; Baek 2006: 83). Beim Renteneintritt werden diese Rentenguthaben durch den Annualisierungs-Divisor geteilt. Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung sich erhöht, wird auch der Annualisierungs-Divisor gesteigert. Die durchschnittlichen statistischen Lebenserwartungen werden in einer Sterbetafel, die alle fünf Jahre von der Regierung errechnet wird, festgesetzt. Je höher das Alter des Renteneintrittes ist, desto niedriger ist die durchschnittliche Lebenserwartung, die auf die Rentenantragstellenden angewendet wird. Wenn ein Versicherter später als das Rentenalter die Rente in Anspruch nimmt, wird die Teilungszahl niedriger und seine Rente im Ergebnis höher (Kellner 2000: 42; Heese 1999: 171; Baek 2006: 83). Von der fiktiven Wachstumsnorm von 1,6 % wird der AnnualisierungsDivisor verringert. Angesichts der Berücksichtigung der fiktiven Wachstumsnorm wird die Rente des Zugangsjahres höher, als wenn im AnnualisierungsDivisor nur die durchschnittliche Lebenserwartung in Betracht gezogen würde. Die Einführung der fiktiven Wachstumsnorm zielt darauf ab, den Unterschied des Einkommens zwischen Arbeitsleben und Ruhestand zu mildern (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 10 f.; Baek 2006: 84). Ab dem zweiten Jahr des Rentenbezugs wird die Einkommensrente jährlich an den Einkommens-Index angepasst. Die Rente wird dabei sowohl an die reale Einkommensentwicklung als auch an die Preissteigerung gekoppelt. Bei der jährlichen Rentenanpassung wird allerdings die fiktive Wachstumsnorm von 1,6 %, die sich für die RentnerInnen bei dem Zugangsjahr günstig auswirkt, von der Veränderungsrate des Einkommens-Indexes jedesmal subtrahiert (Heese 1999: 177; Baek 2006: 84). Die Beiträge von 2,5 % für die Prämienrente fließen zuerst dem staatlichen Rententräger zu und werden dann in den von den Versicherten ausgewählten Fonds im Kapitalmarkt angelegt. Bei dem Fonds handelt es sich im Allgemeinen um kommerzielle Anlagefonds, die von kommerziellen Anlageberatern betrieben werden (Ministry of Health and Social Affairs 1998: 15 f.; Baek 2006: 79).238 Das angesparte Kapital und die erzielten Zinsen werden auf dem individuellen Konto des Versicherten, das der staatliche Rententräger verwaltet, gutIndexes ދdieses Jahres erhöht wird. Der Bezugspunkt der Zahl des Einkommens-Indexes ist die Ziffer des Jahres 1999. Sie betrug 100,00. Um kurzfristige Konjunkturschwankungen aufzufangen, werden bei der Ermittlung der prozentualen Veränderung des Einkommens-Indexes die Durchschnitte der letzten drei Jahre zugrunde gelegt.“ (Baek 2006: 82 f.; Hierzu ausführlicher Ministry of Health and Social Affairs 1998: 13 f.) 238 „At the end of 2003, the premium-pension system included 664 funds administrated by 87 different fund managers.“ (National Social Insurance Board 2004: 33)
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme
235
geschrieben (Palme 2005: 155). Auch wenn die Prämienrente eine staatliche Rente ist, übernimmt der Staat das finanzielle Anlagerisiko nicht. Das Risiko des Geldverlustes liegt beim Versicherten (Lißner und Wöss 1999: 72; Baek 2006: 85). Bei dem Renteneintritt wird die Prämienrente nach versicherungsmathematischen Prinzipien berechnet, die in privaten Altersvorsorgesystemen üblicherweise angewendet werden (Kellner 2000: 45). Die EmpfängerInnen können ihren Rentenbezug mit einer Teilrente von 25%, 50% oder 75% beginnen oder die Rente ganz aufschieben. Sie können sogar ihre Vollrente, die sie bereits beziehen, jederzeit in eine Teilrente von 25%, 50% oder 75% verwandeln oder sie sogar zwischendurch ganz aussetzen lassen. Bei dem Bezug der Teilrente, beim Aufschub oder bei der Aussetzung des Rentenbezugs wird die Höhe der später beanspruchten Renten wegen des mehr hinterlassenen Rentenguthabens gesteigert (Heese 2003: 244; Baek 2006: 86). Die RentnerInnen können während des Rentenbezugs – egal ob die Rente eine Teilrente oder eine Vollrente ist – ohne Rentenkürzung eine Erwerbsarbeit ausüben. Dabei können die RentnerInnen aufgrund der ‚rentenwirksamenދ Arbeitseinkommen während des Rentenbezugs weitere Rentenansprüche erzielen (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 17). Die einkommensbezogenen Renten sind steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Europäischen Kommission 2003e). 5.3.1.4.2 Die Garantierente Die Höhe der Garantierente ist abhängig von der Höhe der einkommensbezogenen Renten, dem Familienstand und der Wohnsitzdauer in Schweden. Allerdings nehmen weder die Arbeitseinkommen der Antragstellenden noch die Betriebsrente, die private individuelle Altersvorsorge oder die Einkommen aus Kapitaleinkünften Einfluss auf die Höhe der Garantierente (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 14; Letzner und Tippelmann 2003: 507). Alleinstehende, die keinen Anspruch auf die einkommensbezogenen Renten haben oder deren jährlicher einkommensbezogener Rentenbetrag das 1,26fache des Preisgrundbetrages nicht überschreitet, können die Garantierente in Anspruch nehmen. Dabei entspricht die jährliche Höhe der Garantierente dem 0,87fachen des Preisgrundbetrages. Wenn die Höhe der einkommensbezogenen Renten der Alleinstehenden zwischen dem 1,26fachen und dem 3,07fachen des Preisgrundbetrages liegt, wird die Garantierente in Proportion zu der Höhe der einkommensbezogenen Renten, wie unten in der Tabelle 18 gezeigt, gekürzt. Wenn die Höhe der einkommensbezogenen Renten das 3,07fache des Preisgrundbetrages überschreitet, wird die Garantierente nicht gewährt (Heese 2003: 247 f.; Baek 2006: 86 f.).
236 Schaubild 5:
5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden Die Rentenformel der Garantierente für Alleinstehende
0,87 x Preisgrundbetrag* – 0,48* x (einkommensbezogene Renten* – 1,26facher des Preisgrundbetrages*) Quelle: Baek 2006: 87. Ursprüngliche Quelle: Heese 1999: 174; eigene Modifikationen (* Zeichen bedeutet Modifikationen zur genaueren Beschreibung)
Wenn die jährliche Höhe der einkommensbezogenen Renten der jeweiligen Verheirateten das 1,14fache des Preisgrundbetrages nicht überschreitet, können die Verheirateten jeweils persönlich eine Garantierente beanspruchen. Dabei entspricht die Höhe der jährlichen Garantierente dem 0,76fachen des Preisgrundbetrages. Wenn die Höhe der einkommensbezogenen Renten eines Verheirateten zwischen dem 1,14fachen und dem 2,72fachen des Preisgrundbetrages liegt, wird die Garantierente in Proportion zu der Höhe der einkommensbezogenen Renten, wie unten in der Tabelle 19 gezeigt, gekürzt. Wenn die Höhe der einkommensbezogenen Renten das 2,72fache des Preisgrundbetrages übersteigt, entfällt die Garantierente (Heese 2003: 247 f.; Ministry of Health and Social Affairs 2003: 14; Baek 2006: 87). Schaubild 6:
Die Rentenformel der Garantierente für Verheiratete
0,76 x Preisgrundbetrag* – 0,48* x (einkommensbezogene Renten* – 1,14facher des Preisgrundbetrages*) Quelle: Baek 2006: 87. Ursprüngliche Quelle: Heese 1999: 174; eigene Modifikationen (* Zeichen bedeutet Modifikationen zur genaueren Beschreibung)
Eine ‚volle ދGarantierente setzt die Wohnsitzdauer von 40 Jahren in Schweden voraus. Für jedes fehlende Jahr wird die Garantierente um ein Vierzigstel gekürzt (Heese 1999: 173; Baek 2006: 87). Die bereits bewilligten Garantierenten werden an die Preissteigerung gekoppelt. Die Garantierente ist steuerpflichtig, jedoch sozialabgabenfrei (Europäischen Kommission 2003e). 5.3.1.4.3 Die Zulage Die Wohnzulage für RentnerInnen können diejenigen, die nur eine Garantierente oder geringe einkommensbezogene Renten erhalten, in Anspruch nehmen (Kellner 2000: 50).
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme
237
Der ‚Unterhaltszuschuss für die Altenދ, der im Jahr 2003 eingeführt wurde, wird lediglich denjenigen gewährt, die aufgrund des Mangels der erforderlichen Wohnsitzdauer für einen Anspruch auf Garantierente keine Garantierente oder nur eine geringe Garantierente beziehen (Riksförsäktingsverket 2004: 30; Baek 2006: 87). Zu den Berechtigten gehören z.B. oft Immigranten. 5.3.1.5 Der Finanzierungsmodus 5.3.1.5.1 Die einkommensbezogenen Renten Für die einkommensbezogenen Renten entrichten die abhängig Beschäftigten Beiträge von 7 % des Teils ihrer Arbeitseinkommen, der unter dem 8,07fachen des Einkommensgrundbetrags liegt. Die ArbeitgeberInnen zahlen Beiträge von 10,21 % der ganzen Entgeltsumme ihrer Beschäftigten. Für die Beiträge der ArbeitgeberInnen gibt es keine Beitragsbemessungsgrenze (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 3 f., 7; Riksförsäkringsverket 2004: 36). Selbständige zahlen für ihr gesamtes Einkommen 10,21% und für den Einkommensteil unter der Bemessungsgrenze vom 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages noch einmal 7% (Settergren 2002: 30). Die Beiträge von 7 % der abhängig Beschäftigten und der Selbständigen werden als sog. ‚allgemeine Rentenbeiträge( ދallmän pensionavgift) bezeichnet (Invest in Sweden Agency 2007: 2). Die einkommensbezogenen Rentensysteme sind beitragsausgerichtet und finanziell autonom, so dass sie vollständig vom Staatshaushalt entkoppelt sind. Von den obigen Beiträgen fließen die ‚allgemeinen Rentenbeiträge ދund der Teil der Beiträge von 10,21 % der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen, der vom Einkommensteil unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages entrichtet wurde, dem AP-fonds, d.h. dem Nationalen Rentenfonds, zu. Dieser Teil dient mit den ‚allgemeinen Rentenbeiträgen ދdazu, die einkommensbezogenen Renten zu finanzieren. Der restliche Teil der Beiträge von 10,21 %, der vom Einkommensteil oberhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrags entrichtet wurde, wird zur Finanzierung der Garantierenten dem Staatshaushalt zugeführt. Die Zahlungen 10,21%, die vom Einkommensteil oberhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages geleistet werden, sind eher als Steuer denn als Rentenbeitrag zu verstehen. Sie gehen dementsprechend auch in den allgemeinen Staatshaushalt ein (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 4; Riksförsäkringsverket 2004: 40-42). Wie schon oben dargestellt wurde, gilt als offizielle Beitragshöhe der Beiträge zu den einkommensbezogenen Renten der Prozentsatz von 18,5 der ‚Rentenberechnungsgrundlageދ. Bei genauer Nachrechnung der tatsächlichen Beitragsbemessung ergeben sich jedoch andere Prozentbeträge, die deutlich
238
5 Das soziale Sicherungssystem von Schweden
niedriger sind. Der gerade erkannte Prozentsatz der Beiträge, die dem Nationalen Rentenfonds zufließen und aus denen die Rentenansprüche auf die einkommensbezogenen Renten entstehen, beträgt nur 17,21 % des Einkommensteils unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages. Da als ‚rentenwirksameދ Einkünfte nur 93 % des Teils der ‚realen ދEinkünfte, der unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages liegt, gewertet werden, sind die 17,21 % 18,5 % der rentenwirksamen Einkünfte. Bei der Errechnung der rentenwirksamen Einkünfte wird ein Betrag, der der Höhe der allgemeinen Rentenbeiträge von 7 % entspricht, vom Teil der realen Einkünfte unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages abgezogen. In der Folge entsprechen die ‚rentenwirksamen Einkünfte ދ93 % des tatsächlichen Betrags des Einkommensteils unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages. Die maximale Höhe der rentenwirksamen Einkünfte beträgt 93 % des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages, also das 7,5fache des Einkommensgrundbetrages. Die Beiträge, die vom realen Einkommensanteil unterhalb des 8,07fachen des Einkommensgrundbetrages entrichtet wurden, entsprechen 18,5 % der ‚rentenwirksamen Einkünfte( ދMinistry of Health and Social Affairs 2003: 4; Settergren 2002: 30; 2001a: 5 f.). 239 Die daraus errechneten rentenwirksamen Einkünfte werden dann mit den rentenwirksamen Beträgen addiert. Wenn die Summe der rentenwirksamen Einkünfte und der rentenwirksamen Beträge, also die ‚Rentenberechnungsgrundlageދ, das 7,5fache des Einkommensgrundbetrags übersteigt, wird der Überschuss von den rentenwirksamen Beträgen abgezogen. Somit kann die ‚Rentenberechnungsgrundlage ދauf keinen Fall das 7,5fache des Einkommensgrundbetrags überschreiten (Ministry of Health and Social Affairs 1998: 24; Baek 2006: 88). Angesichts des Mechanismus einer sog. ‚automatischen Bilanzierungދ (automatisk balansering) des Umlagesystems können die Beitragssätze auf 18,5 % der Rentenberechnungsgrundlage dauerhaft festgelegt werden. Eine Gefahr eines Defizits im Einkommensrentensystem führt durch den Mechanismus der automatischen Bilanzierung zu einer Kürzung der Renten. Folglich können die Ausgaben die Einnahmen nicht überschreiten und die festgesetzten Beitragssätze dauerhaft unverändert bleiben (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 16; Baek 2006: 93).240
239 „0.1721 / 0.93 = 0.185“ (National Social Insurance Board 2004: 33). 240 Ausführlichere Informationen über die automatische Bilanzierung finden sich in Settergren 2001b.
5.3 Die heutigen schwedischen sozialen Sicherungssysteme
239
5.3.1.5.2 Die Garantierente Aus dem Staatshaushalt werden die Garantierenten gezahlt, deren Mittel aus allgemeinen Steuern und dem oben erwähnten Teil der Beiträge von 10,21% der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen bestehen. Die zwei Ressourcen decken 2003 den Aufwand für die Garantierente jeweils zur Hälfte (vgl. Riksförsäkringsverket 2004: 42). 5.3.1.6 Das Trägersystem Die Einkommensrente und die Garantierente werden von den Trägern geleistet, die oben bei dem alten schwedischen Rentensystem genannt wurden. Die Prämienrente wird von einer neuen Behörde, der ‚PPM( ދPremiepensionsmyndigheten), verwaltet, die vom Reichsversicherungsamt und vom Finanzministerium beaufsichtigt wird (Heese 1999: 163; Kellner 2000: 46). Die PPM spielt vor allem die Rolle des sog. ‚Maklersދ. Sie kauft für die Versicherten mit den entrichteten Prämienrentenbeiträgen die Anteile von den Anlagefonds. Die Anlagefonds wurden zuvor von den Versicherten ausgewählt (Palme 2005: 155 f.; Baek 2006: 89, 94). 5.3.2 Die Krankensicherung 5.3.2.1 Die Gesundheitsversorgung 5.3.2.1.1 Die öffentlichen Kostenträger Für die Finanzierung sowie Organisierung für nahezu alle Sachleistungen in dem Bereich Gesundheitsversorgung sind die Provinziallandtage verantwortlich. Anders als in der Vergangenheit zahlt die ‚Sozialversicherungދ241 lediglich die Zuschüsse zu den Kosten für die Zahnbehandlungen von über 20-Jährigen. 241 Heute obliegt die Erteilung der Zuschüsse zu den Kosten für die Zahnbehandlungen offiziell nicht der ‚Krankenversicherungދ, sondern der ‚Sozialversicherungދ. Diese ungewöhnliche Differenzierung rührt von der Besonderheit der Finanzierungsmodi der schwedischen Sozialversicherung her. Die schwedische ‚staatliche ދSozialversicherung setzt sich im Allgemeinen aus der Altersversicherung, der Krankenversicherung, der Elternschaftsversicherung, der Arbeitsunfallversicherung und der Hinterbliebenenversicherung zusammen. Die Beitragsätze für die ArbeitgeberInnen und die Selbständigen sind je nach den jeweiligen Bereichen der Sozialversicherung unterschiedlich. Die abhängig Beschäftigten zahlen nur Beiträge für die Altersversicherung. Gemäß dem Gesetz dienen die jeweiligen Beiträge dazu, bestimmte Leistungen zu
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5.3.2.1.2 Der erfasste Personenkreis Alle EinwohnerInnen Schwedens werden gegen die Kosten für medizinische Versorgung abgesichert (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 47). 5.3.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Es gibt keine Anspruchsvoraussetzung (Europäische Kommission 2002e). 5.3.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Bei der ambulanten Versorgung ist die Selbstbeteiligung regional unterschiedlich geregelt (Lißner und Wöss 1999: 151). Patienten zahlen im Jahr 1999 zwischen 100 SKR und 140 SKR je Besuch beim Allgemeinarzt. Für einen Besuch beim Facharzt beträgt die Selbstbeteiligung 120 SKR bis 250 SKR (Europäische Kommission 1999). Den Rest der Behandlungskosten übernehmen die Provinziallandtage. Für die ambulante Versorgung gibt es eine staatlich festgesetzte Obergrenze für den jährlichen Zuzahlungsbetrag, nämlich den sog. ‚Hochkostenschutzދ. Die Obergrenze beträgt 900 SKR und gilt in allen Provinzen Schwedens in nämlicher Höhe (Lißner und Wöss 1999: 151). Die Höhe der Selbstbeteiligung bei den stationären Behandlungen ist von Provinz zu Provinz sehr unterschiedlich. Patienten haben aber höchstens 80 SKR pro Tag zu zahlen (Europäische Kommission 1999). Allerdings werden chrofinanzieren. Zum Beispiel haben die Beiträge für die Krankenversicherung die Leistungen der Krankenversicherung zu finanzieren. Allerdings haben die meisten Bereiche der Sozialversicherung keinen eigenen Fonds oder keine eigene Kasse. Außer den Beiträgen für die einkommensbezogenen Renten fließen die übrigen Beiträge dem Staatshaushalt zu, aus dem alle Sozialversicherungsleistungen ausgenommen den einkommensbezogenen Renten gezahlt werden. Demnach: „The financial relationship between incoming contributions and the benefits they are intended to finance is relatively tenuous.“ (Riksförsäkringsverket 2004: 33). Drüber hinaus ist bei verschiedenen meist kleineren Leistungen die Zugehörigkeit der Leistung zu einer der theoretisch eigenständigen Unterversicherungen der Sozialversicherung nicht gesetzlich geregelt. Diese Leistungen gelten dann als von der Sozialversicherung als ganze bezahlt. Bis zum Jahr 1997 erfolgte die Finanzierung für den der Krankenversicherung zugewiesenen Teil der Gesundheitsversorgung durch die Krankversicherungsbeiträge. Nach der Verringerung der Aufgaben der Krankenversicherung für die Gesundheitsversorgung im Jahr 1998 erfolgt die Finanzierung der verbliebenen Aufgaben mit Bezug auf den Gesundheitsversorgungsbereich lediglich durch die der Sozialversicherung zugeordneten Steuermittel ohne eine nominelle Zuordnung der Mittel zur Krankenversicherung (National Social Insurance Board 2000: 17). Seither gilt die Leistung der Zuschüsse für die Zahnbehandlung nicht mehr als Aufgabe der Krankenversicherung, sondern als Aufgabe der Sozialversicherung (vgl. Riksförsäkringsverket 2004: 10, 22, 34, 38).
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nisch Kranke von der Zuzahlung befreit (Lißner und Wöss 1999: 151). Die restlichen Kosten nach Abzug der Selbstbeteiligungen, also fast alle Betriebskosten und die Investitionskosten der Krankenhäuser, zahlen die Provinziallandtage. Die Sätze der Selbstbeteiligung für Arzneimittel sind in Schweden einheitlich. Man zahlt ohne öffentliche Kostenübernahme selber die Kosten bis 400 SKR während einer Periode von 12 Monaten. Man zahlt die Kosten zwischen 401 SKR und 1.200 SKR zu 50 %, die Kosten zwischen 1.201 SKR und 2.800 SKR zu 25 % und die Kosten zwischen 2.801 SKR und 3.800 SKR zu 10 %. Überschreiten die Ausgaben für Arzneimittel jährlich 3.800 SKR, zahlt man für den Betrag über 3.800 SKR keine Zuzahlungen (Europäische Kommission 1999). Die restlichen Kosten nach Abzug der Selbstbeteiligungen übernehmen die Provinziallandtage. „Die etwas komplizierte Berechnungsmethode führt letztlich dazu, dass die Patienten höchstens 1.300 SKR pro Person dazu zahlen.“ (Lißner und Wöss 1999: 152) Die Zahnbehandlungen für Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren sind kostenlos. Die Kosten übernehmen die Provinziallandtage. Bei den Zahnbehandlungen für über 20-Jährige gibt es neben einer Selbstbeteiligung Zuschüsse der Sozialversicherung. Die Höhe der Zuschüsse ist in Schweden einheitlich. Für die Grundversorgungen – z.B. Kontrolluntersuchung, Füllung und Wurzelbehandlung – gewährt die Sozialversicherung einen Festbetrag. Die übrigen Kosten zahlen die Patienten (Europäische Kommission 1999). Zum Beispiel zahlt bei einer Kontrolluntersuchung die Sozialversicherung für die Personen bis zum 29. Lebensjahr einen Festbetrag von 106 SKR. Für über 30-Jährige gibt es keine Zuschüsse. Bei Füllung betragen die Zuschüsse der Sozialversicherung 197 SKR. Für Zahnersatz und Kieferorthopädie gewährt die Sozialversicherung auch nur Festbeträge. Die Patienten zahlen für die Behandlungen in jedem Fall bis zu 3.500 SKR selber. Von dem Teil der Kosten, der über 3.500 SKR liegt, wird der Betrag bis zu einer bestimmten Grenze durch die Zuschüsse der Sozialversicherung abgedeckt. Der restliche Teil über der bestimmten Grenze geht wiederum zu Lasten des Patienten (Lißner und Wöss 1999: 153). 5.3.2.1.5 Der Finanzierungsmodus An den Gesamtausgaben der Provinziallandtage beläuft sich der Anteil für Gesundheitsversorgung im Jahr 2003 auf 92 %. Die Hauptressourcen der Provinziallandtage sind provinziale Einkommenssteuern und zentralstaatliche Beiträge zum Etat der Landtage. Der Anteil der Einkommenssteuern an den
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Gesamteinkommen der Provinziallandtage beträgt 72 % 242 und der Anteil der zentralstaatlichen Beiträge 18 % (landstingsförbundet 2005: 54-58). Die Zuschüsse zu den Kosten der Zahnbehandlungen seitens der Sozialversicherung werden aus den der Sozialversicherung zugeordneten Steuermitteln finanziert (Riksförsäkringsverket 2004: 34). 5.3.2.1.6 Das Trägersystem Beim Bereich Gesundheitsversorgung ist das ‚Ministerium für Gesundheit und Soziale Angelegenheiten( ދsocialdepartementet) verantwortlich für die Gesetzgebung und die Vorgabe allgemeiner Leitlinien. Die ‚Nationale Behörde für Gesundheit und Wohlfahrt( ދsocialstyrelsen), das unter der Zuständigkeit des ‚Ministeriums für Gesundheit und Soziale Angelegenheiten ދsteht, „is responsible for care-related development activities, issues guidelines and supervises health and medical services” (Ministry of Health and Social Affairs 2005). Die Provinziallandtage sind für Plannung, Organisierung, Bereitstellung und Finanzierung der Gesundheitsversorgung verantwortlich. Die Träger für die Sozialversicherung sind die nämlichen Träger, die bereits beim alten schwedischen Alterssicherungssystem genannt wurden. 5.3.2.2 Die Verdienstersatzleistungen 5.3.2.2.1 Die Leistungsarten Die heutigen schwedischen Verdienstersatzleistungen bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit bestehen aus der von ArbeitgeberInnen gewährten Entgeltfortzahlung (sjuklön) und dem Krankengeld (sjukpenning) der sozialen Krankenversicherung.243 5.3.2.2.2 Der erfasste Personenkreis Von der Entgeltfortzahlung werden abhängig Beschäftigte erfasst. Demgegenüber erfasst das Krankengeld alle Erwerbstätigen (Europäische Kommission 2002f). Die abhängig Beschäftigten beziehen bei Krankheit zunächst die Entgeltfortzahlung. Die Entgeltfortzahlung wird dann nach zwei Wochen durch das
242 Der durchschnittliche Steuersatz beträgt 2003 10,53 % des Einkommens (landstingsförbundet 2005: 80). 243 Die beiden sind einkommensbezogene Leistungen.
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Krankengeld abgelöst. Die Selbständigen haben von Anfang der Erkrankung an Anspruch auf Krankengeld. 5.3.2.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Die Berechtigten für die Verdienstersatzleistungen müssen die eigene Krankheit dem Arbeitgeber und dem Lokalbüro der Versicherungskasse am ersten Tag der Arbeitsunterbrechung melden. Ab dem achten Krankheitstag muss ein ärztliches Attest für eine weitere Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Verdienstersatzleistungen vorgelegt werden (Europäische Kommission 2003f: 176). 5.3.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 5.3.2.2.4.1 Die Entgeltfortzahlung Die Entgeltfortzahlung wird bis zu einer Dauer von 14 Tagen gezahlt. Jedoch ist der erste Tag der Krankheit ein Karenztag. Folglich wird die Entgeltsfortzahlung zwischen dem 2. und dem 14. Krankheitstag gezahlt. Die Höhe der Leistung beträgt 80 % des Bruttolohnes (Elmér u.a. 2000: 119). Sie ist steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Europäische Kommission 2002f).244 5.3.2.2.4.2 Das Krankengeld Die abhängig Beschäftigten beziehen ab dem 15. Krankheitstag von der Krankenversicherung das Krankengeld, wenn ihre Krankheit länger als 14 Tage andauert (Europäische Kommission 2003f: 175). Die Selbständigen, die von Anfang der Erkrankung an nur Anspruch auf Krankengeld haben, können für sich die Zahl der Karenztage in einem gewissen Umfang selbst festlegen. Es können zwischen 3 und 30 Karenztagen sein (Lißner und Wöss 1999: 155).245 Das Krankengeld beträgt 80 % des Teils des letzten Bruttoeinkommens, der unter dem 7,5fachen des Preisgrundbetrages liegt (Elmér u.a. 2000: 118; Riksförsäkringsverket 2004: 23).246 Allerdings variiert der Anteil des Krankengeldes je nach dem ärztlich festgestellten Verlustgrad der Erwerbsfähigkeit zwischen 244 Die‚allgemeinen Rentenbeiträge ދvon 7 % für die einkommensbezogenen Renten sind in den Steuern, die von den EmpfängerInnen der Entgeltfortzahlung zu leisten sind, eingeschlossen (Invest in Sweden Agency 2007: 2). In der Folge wird die Entgeltfortzahlung offiziell für sozialabgabenfrei gehalten. 245 Mit zunehmender Anzahl von Karenztagen nehmen ihre Beitragssätze für die Krankenversicherung ab (siehe Lißner und Wöss 1999: 155). 246 Die Erwerbstätigen mit einem Jahreseinkommen, das weniger als 24 % des Preisgrundbetrages beträgt, haben gar keinen Anspruch auf Krankengeld (Europäische Kommission 2002f).
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25 %, 50 %, 75 % und 100 %. Zum Beispiel beziehen die Berechtigten bei einer Erwerbsunfähigkeit von 100 % ein Krankengeld von 100 %, also 80 % des zugrunde liegenden Einkommens (Lißner und Wöss 1999: 154). Das Krankengeld wird in der Regel ohne formelle zeitliche Begrenzung gezahlt. Allerdings kann das Krankengeld durch die Invalidenrente abgelöst werden, wenn die Krankheit einen langen Zeitraum andauert (National Social Insurance Board 2000b: 121). Das Krankengeld ist steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Europäische Kommission 2002f).247 5.3.2.2.5 Der Finanzierungsmodus 5.3.2.2.5.1 Die Entgeltfortzahlung Im Wesentlichen finanzieren ArbeitgeberInnen die Entgeltfortzahlung für ihre Beschäftigten. Allerdings gibt es für kleine Betriebe eine ‚Kostenrückerstattungsregelungދ: „Kleine Betriebe mit weniger als 4,7 Mio. SKR Lohnsumme [...], also mit ca. 20 Beschäftigten, können sich für 1,6 % der Lohnsumme bei der Versicherungskasse versichern lassen. Die Versicherungskasse erstattet dann dem Arbeitgeber den größten Teil der Kosten für das »Arbeitgeberkrankengeld«.“ (Lißner und Wöss 1999: 154) 5.3.2.2.5.2 Das Krankengeld Die Krankenversicherung wird durch die Beiträge der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen finanziert. 2002 beträgt der Arbeitgeberbeitragssatz 8,80 % der Lohnsumme ihrer Beschäftigten. Die Selbständigen zahlen Beiträge von 9,53 % ihrer Einkommen.248 Die abhängig Beschäftigten zahlen keine Beiträge für die 247 Die‚allgemeinen Rentenbeiträge ދvon 7 % für die einkommensbezogenen Renten sind in den Steuern, die von den EmpfängerInnen des Krankengeldes zu leisten sind, eingeschlossen (Invest in Sweden Agency 2007: 2). In der Folge wird das Krankengeld offiziell für sozialabgabenfrei gehalten. Die restlichen Beiträge von 10,21 % für die Altersrenten trägt die Krankenversicherung (Settergren 2001: 6). 248 “Up to and including 2002, the sickness insurance contribution financed sickness cash benefit [d.h. das Krankengeld], rehabilitation compensation, allowance for care of close relatives, pregnancy cash benefit, disability pensions from ATP and from the basic pension system for people in the ATP scheme, as well as the major part of the administration costs for these benefits. The costs for the employment guarantee are met out of tax revenue. In January 2003, the disability pension was replaced by sickness and activity compensation. Income-based benefits are financed from the contribution while guarantee allowances are financed out of tax revenue. The contribution also finances national old-age pension contributions for the above benefits.” (Riksförsäkringsverket 2004: 38) Abgesehen von einigen Krankenversicherungsleistungen, die
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Krankenversicherung (Europäische Kommission 2002d; Riksförsäkringsverket 2004: 36).249 5.3.2.2.6 Das Trägersystem Für die Entgeltfortzahlung sind die ArbeitgeberInnen zuständig. Die Träger für das Krankengeld sind die oben beim alten Alterssicherungssystem genannten Träger. 5.3.3 Die Arbeitslosensicherung 5.3.3.1 Die Leistungsarten Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung bestehen aus einer ‚einkommensbezogenen Leistung( ދinkomstrelaterad ersättning) und einer ‚Grundleistungދ (grundbelopp). 250 Die beiden werden von den Arbeitslosenkassen gezahlt. Die einkommensbezogene Leistung erfüllt die gleiche Funktion wie das frühere Arbeitslosengeld und die pauschale Grundleistung hat die gleiche Aufgabe wie zuvor die KAS. 5.3.3.2 Der erfasste Personenkreis Sowohl die Grundleistung als auch die einkommensbezogene Leistung erfassen alle Erwerbstätige. Beruhend auf dem Genter System setzt die schwedische Arbeitslosenversicherung heute noch einen freiwilligen Eintritt in die Vergemäß dem Gesetz aus Steuermitteln finanziert werden, werden die übrigen Leistungen der Krankenversicherung, die im Prinzip aus den Krankenversicherungsbeiträgen finanziert werden, solange mit allgemeinen Steuermitteln subventioniert, wie die Ausgaben der Krankenversicherung die Einnahmen aus den Krankenversicherungsbeiträgen überschreiten. Der Auszahlung für Gesundheitsversorgung und die Elternschaftsversicherung, welche in der Vergangenheit aus den Beiträgen der Krankenversicherung finanziert wurden, wurden von der Krankenversicherung getrennt. Im Jahr 1999 wurde ein eigener Versicherungszweig für die Elternschaftsversicherung errichtet und die Beiträge nur für die Elternschaftsversicherung werden seitdem erhoben (Riksförsäkringsverket 2004: 36). 2002 betrugen die Beitragssätze der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen für die Elternschaftsversicherung jeweils 2,23 % und 2,20 % (Europäische Kommission 2002d). 249 Zwar wurden die Beiträge der abhängig Beschäftigten, 2,95 % ihrer Entgelte, im Jahr 1993 eingeführt. Aber 1998 wurden die Beiträge wieder abgeschafft (Lißner und Wöss 1999: 147). 250 Die genaue Übersetzung von ‚grundbelopp ދist Grundbetrag. Allerdings wird der ‚grundbelopp ދin dieser Arbeit als ‚Grundleistung ދbenannt, um eine Verwechselung mit dem ‚Grundbetrag ދdes Rentensystems zu vermeiden.
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sicherung voraus (Elmér u.a. 2000: 151). Ein großer Unterschied im Vergleich mit der Vergangenheit ist, dass durch die Reform 1997 eine neue komplettierende Arbeitslosenkasse, die ALPA-Arbeitslosenkasse, errichtet wurde. Diese ALPA-Kasse wurde von dem Arbeitslosenkassenverbund (arbetslöshetskassornas samorganisation) gegründet und steht unabhängig von den Wirtschaftsbereichen oder den Berufszweigen allen Erwerbstätigen, die den anderen 37 Arbeitslosenkassen nicht angehören dürfen, offen (MISEP 2002: 12; Elmér u.a. 2000: 151). Heute noch sind die Gewerkschaftsmitglieder verpflichtet, sich einer Arbeitslosenkasse anzuschließen (Elmér u.a. 2000: 151). 5.3.3.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um die einkommensbezogene Leistung zu beziehen, müssen Arbeitslose wenigstens für sechs Monate in einem Zeitraum von zwölf Monaten gerade vor Eintritt der Arbeitslosigkeit eine Erwerbsarbeit ausgeübt haben (Arbeitsvoraussetzung). Außerdem müssen die Arbeitslosen mindestens für 12 Monate Mitglied einer Arbeitslosenkasse gewesen sein (Mitgliedsvoraussetzung) (Europäische Kommission 2002g; Elmér u.a. 2000: 153 f.). Gewährt wird die Grundleistung den Arbeitslosen, die sich der Arbeitslosenversicherung nicht anschließen oder trotz der Mitgliedschaft in einer Arbeitslosenkasse die Mitgliedsvoraussetzung für den Anspruch auf die einkommensbezogene Leistung nicht erfüllen (Lag (1997:238) om arbetslöshetsförsäkring251 § 6). Diese Personengruppen müssen jedoch die gerade oben dargestellte Arbeitsvoraussetzung erfüllen. Die Grundleistung ist an keine Bedürftigkeitsprüfung gebunden. Sie ist also eine Versorgungsleistung (Europäische Kommission 2002g). Sie hat keine Funktion einer Anschlussleistung nach Ablauf der Bezugsdauer der einkommensbezogenen Leistung (Lißner und Wöss 1999: 217).252 5.3.3.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Die einkommensbezogene Leistung beträgt höchstens 80 % des letzten Bruttoverdienstes (Elmér u.a. 2000: 154). Es gibt zudem eine Höchstgrenze des für die Berechnung der einkommensbezogenen Leistung zugrundeliegenden Bruttoeinkommens. Die Grenze belief sich 2002 auf 850 SKR pro Tag. Demzufolge be251 Gesetz (1997: 238) über Arbeitslosenversicherung. 252 Die Tatsache, dass der Anspruch auf eine „bloße Geldleistung“ nach Ablauf der einkommensbezogenen Leistung völlig endet, zwingt de facto die Arbeitslosen, an aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilzunehmen (Lißner und Wöss 1999: 263 f.).
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trug 2002 die maximale Höhe der einkommensbezogenen Leistung 680 SKR pro Tag (Europäische Kommission 2002g).253 Die Karenztage sind fünf Tage (Elmér u.a. 2000: 154). Die Bezugsdauer der einkommensbezogenen Leistung beläuft sich auf 300 Tage. Nach den 300 Tagen können Arbeitslose die einkommensbezogene Leistung anschließend für bis zu 300 Tagen nur einmal verlängern, falls das Arbeitsvermittlungsbüro sich dafür entscheidet, dass die Arbeitslosen an den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen nicht teilnehmen sollen (Lindquist und Wadensjö 2006: 38; MISEP 2002: 37).254 Wenn ein Arbeitsloser während des Leistungsbezugs Teilzeit- oder Kurzzeitarbeit leistet, erfolgt eine Kürzung der Leistung (Europäische Kommission 2002g; Lißner und Wöss 1999: 214). Es gibt bezüglich des Anspruches auf die einkommensbezogene Leistung Sanktionen. Bei Aufgabe des Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund werden die Leistungen für 45 Tage ausgesetzt. Die Ablehnung einer zumutbaren Arbeit führt zur Aussetzung der Leistungen für 40 Tage. Außerdem erfolgt nach der ersten Ablehnung eine Leistungskürzung um 25 % während der weiteren Laufzeit der Leistung. Die zweite Verweigerung einer zumutbaren Arbeit führt neben der Aussetzung der Leistungen für 40 Tage zur Leistungskürzung um 50 %. Bei einer dritten Ablehnung fällt die einkommensbezogene Leistung vollständig weg (Europäische Kommission 2002g). Die einkommensbezogene Leistung ist steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei (Elmér u.a. 2000: 155; Europäische Kommission 2002g).255 Die einheitliche Grundleistung beträgt 2002 270 SKR pro Tag (Europäische Kommission 2002g). Leistungskürzung bei Teilzeitarbeit, Bezugsdauer, Karenztage, Besteuerung und Sanktionen sind wie bei der einkommensbezogenen Leistung geregelt.
253 Nach den ersten 100 Tagen des Leistungsbezugs wird jedoch die höchste Zahlungssumme für die restliche Periode auf 580 SKR gekürzt (National Social Insurance Board 2002: 137). 254 Von dieser Regelung sind zumeist ältere Arbeitslose in der Nähe des Rentenalters begünstigt. Für die anderen Arbeitslosen gilt, dass sie nach Ablauf der ersten 300 Tage in ein aktives Arbeitsmarktprogramm, z.B. eine Aktivitätsgarantie (aktivitietsgarantin), eingebunden werden können. Während der Teilnahme an einem solchen Programm beziehen sie dann eine Aktivitätsunterstützung (aktivitetsstöd), deren Höhe in der Regel dem Betrag der einkommensbezogenen Leistung entspricht (MISEP 2002: 37 ff., 41 f.). 255 Die‚allgemeinen Rentenbeiträge ދvon 7 % für die einkommensbezogenen Renten sind in den Steuern, die von den EmpfängerInnen der Arbeitslosenunterstützungen zu leisten sind, eingeschlossen (Invest in Sweden Agency 2007: 2). In der Folge werden die Leistungen bei Arbeitslosigkeit offiziell für sozialabgabenfrei gehalten. Die restlichen Beiträge von 10,21 % für die Altersrenten trägt die Arbeitslosenversicherung (Settergren 2001: 6).
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5.3.3.5 Der Finanzierungsmodus Die beiden Arbeitslosenleistungen werden aus den staatlichen Zuschüssen und den Mitgliedsbeiträgen an die Arbeitslosenkassen finanziert. Die Zuschüsse setzen sich im Wesentlichen aus den Arbeitsmarktabgaben der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen zusammen (Swedisch Unimpolyment Insurance Board: 2004). Bei einem Defizit ergänzt der Staat die Zuschüsse mit einer Subvention aus allgemeinen Steuermitteln (MISEP 2002: 37). Die Beiträge der ArbeitgeberInnen betragen im Jahr 2002 5,84 % des gesamten Bruttoentgeltes ihrer Beschäftigten. Die Beiträge der Selbständigen belaufen sich auf 3,30 % ihrer Einkommen (Europäische Kommission 2002d; Invest in Sweden Agency 2007: 1). Durch die Beiträge der Mitglieder der Arbeitslosenkassen, die üblicherweise in den Gewerkschaftsmitgliedsbeiträgen eingeschlossen sind, werden 2002 etwa 12 % des Gesamtaufwandes der Arbeitslosenkassen abgedeckt (siehe MISEP 2002: 37). Die Höhe der Mitgliedsbeiträge ist sowohl je nach der Kasse als auch innerhalb einer Kasse je nach Höhe der Löhne und Häufigkeit der Arbeitslosigkeit sehr unterschiedlich (Elmér u.a. 2000: 110). 2002 liegt die Höhe der Beitragsbeträge zwischen 69 SKR und 238 SKR pro Monat (International Social Security Association 2002: 198). 5.3.3.6 Das Trägersystem Die Trägerstruktur mit Bezug auf die Arbeitslosenkassen ist größtenteils unverändert. Jedoch fällt im Regierungsrahmen die Arbeitslosensicherung heute in die Kompetenz des ‚Ministeriums für Industrie, Beschäftigung und Verkehrދ (näringsdepartementet). Hinsichtlich der inneren Struktur und des Status der Arbeitslosenkassen gelten auch die bei der Darstellung der alten Arbeitslosensicherung gegebenen Erläuterungen (vgl. Elmér u.a. 2000: 107). Die Arbeitslosenkassen verwalten die Grundleistungen, die den eigenen Mitgliedern, die keinen Anspruch auf die einkommensbezogene Leistung haben, gewährt werden, und die einkommensbezogenen Leistungen. Den Arbeitslosen, die keine Mitgliedschaft in einer Arbeitslosenkasse haben, zahlt die ALPAArbeitslosenkasse die Grundleistung (MISEP 2002: 12).
5.4 Auswertung der Transformation der schwed. soz. Sicherungssysteme
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5.4 Die Auswertung der Transformation der schwedischen sozialen Sicherungssysteme 5.4 Auswertung der Transformation der schwed. soz. Sicherungssysteme 5.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme 5.4.1.1 Die Restrukturierung Das schwedische Parlament verabschiedete im Jahr 1998 die Gesetze über die neuen staatlichen Renten. Am 01.01.1999 traten die neuen Finanzierungsregeln in Kraft. Im Jahr 2001 erfolgten die ersten Auszahlungen der neuen einkommensbezogenen Renten. Im Januar 2003 wurde die Rentenreform mit dem Inkrafttreten der Garantierente vollendet (Heese 1999: 161; Schmid 2002: 209; Baek 2006: 71).256 Im alten System diente die Volksrente zur Grundsicherung aller EinwohnerInnen Schwedens. Die einkommensbezogene Zusatzrente ergänzte im Prinzip diese Grundrente. Indessen stehen im neuen System die zwei einkommensbezogenen Renten im Zentrum. Die Garantierente spielt bloß eine subsidiäre Rolle (Baek 2006: 91). Während das Volksrentensystem allen Alten eine Rente in gleicher Höhe gewährleistete, wird die Garantierente lediglich denjenigen gewährt, die keinen Anspruch auf die einkommensbezogenen Renten haben oder deren einkommensbezogene Renten einen gewissen Betrag nicht überschreiten. Angesichts dieses ‚Ersatzes ދder Vorsorgungsleistung durch die bedarfsorientierte bzw. fürsorgeprinzipielle Leistung hat sich die Bedeutung des Gleichheitspostulats, das eines der wichtigen Gestaltungsprinzipien des schwedischen Wohlfahrtsstaates ist, deutlich verringert. Die Inhalte der Restrukturierung hinsichtlich der einkommensbezogenen Renten sind folgende: Während die frühere Zusatzrente auf dem ‚Defined-Benefitދ-System beruhte, basieren die neuen einkommensbezogenen Renten auf dem ‚Defined-Con256 Durch die Rentenreform 1998 wurden die Hinterbliebenrenten und die Invalidenrenten von den Altersrenten vollständig getrennt. Im Jahr 1999 wurden die Invalidenrenten dem Krankenversicherungssystem zugeordnet. Für die Hinterbliebenenrente wurde ein eigener Versicherungszweig gegründet und die Beiträge von 1,7 % werden bei den ArbeitgeberInnen und den Selbständigen erhoben (National Social Insurance Board 2000a: 17; 2001: 28; Baek 2006: 72). Mit der Einführung der neuen Altersrentensysteme wurde außerdem die vorgezogene ‚Teilrente( ދdelpension), die seit 1977 neben der Volksrente und der Zusatzrente als ein eigenständiges System und als eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme zur Entlastung des Arbeitsmarktes existierte, zum 1.1.2001 abgeschafft. Wenn abhängig Beschäftigte zwischen dem 61. und 64. Lebensjahr ihre Arbeitszeit verkürzten, wurde ihnen die Teilrente gewährt. Ihre Höhe belief sich auf 55 % der Differenz zwischen den Entgelten vor und nach der Arbeitszeitreduzierung. Der Aufwand für die Teilrenten wurde durch Arbeitgeberbeiträge von 0,2 % der gesamten Entgelte ihrer Beschäftigten abgedeckt (Heese 1999: 165, 171; Baek 2006: 75 f.).
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tributionދ-System (Palmer 2000: 1). 257 Im alten System basierte die Höhe der Rente auf den Einkommen der 15 einkommensstärksten Jahre. Indessen sind die Beiträge des neuen Systems auf Dauer festgelegt und die Rentenhöhe beruht im Wesentlichen auf der Höhe der während des Erwerbslebens entrichteten Beiträge. Die Einführung dieses ‚Lebenseinkommensprinzips ދzielt vor allem darauf ab, eine starke Abhängigkeit der Leistung von den Beiträgen, also eine verstärkte Beitragsäquivalenz, zu erzeugen (Heese 1999: 175; Baek 2006: 92). Die jeweiligen Eigenschaften der Einkommensrente und der Prämienrente, welche einen sehr deutlichen Bruch zur alten Zusatzrente aufweisen, sind wie folgt: Während die frühere Zusatzrente eine einkommensproportionale Leistung war, gehört die Einkommensrente des neuen Systems einer beitragsproportionalen Leistung an. Beim Prämienrentensystem bestimmen die eingezahlten Beiträge und ihre Erträge durch die Anlage auf dem Kapitalmarkt die Höhe der Rente. Im Prämienrentensystem ist ein Element des privaten Rentensystems enthalten. Die Beiträge von 2,5 % werden je einzelne Versicherte in den kommerziellen Fonds auf dem Kapitalmarkt angelegt. Das finanzielle Anlagerisiko inklusive des Verlustrisikos nehmen die einzelnen BeitragszahlerInnen auf sich. Der Staat trägt dabei kein Risiko (Lißner und Wöss 1999: 72; Baek 2006: 93). Trotzdem ist die Prämienrente sicher eine ‚staatliche ދRente: Erstens: „It is [...] important to point out that contributions are compulsory and not voluntary, as is usually the case with private pensions.” (Palme 2005: 160) Die Prämienrente gehört der obligatorischen staatlichen Rentenversicherung an und das angelegte Geld ist ein Teil des staatlichen Rentenbeitrags. Zweitens fließen die Beiträge von 2,5 % für die Prämienrente zunächst dem staatlichen Rententräger zu. Danach werden die Beiträge in den vom Versicherten ausgewählten Fonds auf dem Kapitalmarkt angelegt. Der Staat kauft also für die Versicherten mit den entrichteten Beiträgen die Anteile der Anlagefonds. Dabei werden die Anlageberater der Fonds nicht darüber informiert, wer ihre Kunden sind. Die individuellen Sparer bleiben also für die Anlageberater völlig unbekannt (Kellner 2000: 89; Baek 2006: 89).258 Drittens zahlt die PPM, also der Staat, die Prämienrenten den RentnerInnen aus (Palme 2005: 160). Die Rolle der Anlagefonds, also des Marktes, ist lediglich das Anlegen des Geldes der anonymen Kunden auf dem Kapitalmarkt. 257 Zu dem ‚Defined-Benefitދ-System und dem ‚Defined-Contributionދ-System siehe die Fußnote 114 unter dem Abschnitt ‚4.2.1 Die Finanzierung der sozialen Sicherungssystemeދ. 258 Dass die individuellen Sparer für die Anlageberater völlig anonym bleiben, hat folgende Wirkungen: „Folglich können zum einen die Versicherten der Prämienrente eine Bedrängung von Seiten der Anlageberater aufgrund kommerzieller Gründe vermeiden. Zum anderen ist es für die Wertpapierfonds auch nicht erforderlich, viele Mittel für Werbekampagnen auszugeben, so dass sie die Kosten niedrig halten können“ (Baek 2006: 89; hierzu ausführlicher Kellner 2000: 46).
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Die Idee der Prämienrente ist es, den BeitragszahlerInnen hohe Renten vergleichbar privatem Anlagevermögen zu bieten. Die Renditen sollten es dabei ermöglichen, aus verhältnismäßig bescheidenen Beiträgen eine gute Prämienrente zu erzeugen. Die BeitragszahlerInnen sollen einen gewissen Anteil ihres Einkommens, 2,5 %, für eine solche Anlage bereitstellen. Die 2,5 % entsprechen zwar 13,5 % der Gesamtbeiträge für die staatlichen Rentensysteme, aber die Prämienrente soll für die Rentenjahrgänge ab 2040 etwa 23 % des gesamten Renteneinkommens ergeben (Letzner und Tippelmann 2003: 501).259 Dabei ist der Staat aber nicht bereit, das Risiko für diese Anlageform zu übernehmen. Verluste bei den Anlagen fügen also dem Staat keinen finanziellen Schaden zu. Obwohl 23 % des Renteneinkommens sich durch das ‚Wagnis ދder Anlage ergeben sollen, wird der restliche Teil der Staatsrente, also 77 % des Renteneinkommens, vom Einkommensrentensystem abgesichert gewährleistet. Darüber hinaus obliegt es dem Staat, eine staatliche Mindestrente den Versicherten durch die Gewährung der Garantierente zu sichern. Anders als das ‚Pension Creditދ Großbritanniens, das eine Prüfung aller Einkommen und Vermögen der Antragstellenden und seiner Angehörigen voraussetzt, wird bei der Bedürftigkeitsprüfung für die schwedische Garantierente lediglich die Höhe der staatlichen einkommensbezogenen Renten berücksichtigt. Die Einkommen sowohl aus Kapitaleinkünften als auch aus betrieblicher oder privater individueller Altersrente nehmen keinen Einfluss auf die Höhe der Garantierente. Das britische ‚Pension Credit ދrichtet sich also nach einem ‚Mindesteinkommen ދder Alten. Indessen zielt die schwedische Garantierente darauf ab, eine ‚Mindestrente ދder Alten sicherzustellen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Durch die Rentenreform wurde das frühere ‚Defined-Benefitދ-System durch das ‚Defined-Contributionދ-System ersetzt. Somit wurde die Regelung der 15 einkommensstärksten Jahre abgeschafft und stattdessen die starke Beitragsäquivalenz der Leistung hergestellt. Außerdem wurde ein Element der privaten Altersvorsorge – die individuelle, aber staatlich vermittelte Anlage auf dem Kapitalmarkt – eingeführt. Die Versorgungsleistung wurde durch die Fürsorgeleistung ersetzt. Alle diese Veränderungen wurden allerdings innerhalb des staatlichen Rentengefüges durchgeführt. Und durch den ‚Ersatz ދder alten Leistungen durch die neuen Leistungen wurde die Verantwortlichkeit des Staates für die Alterssicherung nicht auf die privaten Versicherungen oder die ArbeitgeberInnen übertragen. Also ist die gesetzmäßige ‚Zuständigkeitދ für die Renten heute noch beim Staat vorhanden, respektive, sie liegt ausschließ259 Damit 23 % des gesamten Renteneinkommens sich aus 13,5 % der gesamten Rentenbeiträge ergeben, werden nach dem Basisszenario der schwedischen Regierung eine unterstellte Verzinsung von 3,25 Prozent nach Abzug der Verwaltungskosten und ein erwartetes Reallohnwachstum von 1,8 Prozent vorausgesetzt (Letzner und Tippelmann 2003: 501).
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lich bei ihm. Demnach wird die Restrukturierung der schwedischen Rentensysteme gemäß dem Bewertungsmaßstab der Restrukturierung dieser Arbeit als ‚öffentlichkeitszentrierte ދRestrukturierung durch ‚Ersatz ދbewertet. In Schweden bleiben die Privatrenten, also die Betriebsrenten und die individuelle Altersvorsorge, wie früher auch heute noch vollständig getrennt von den staatlichen Renten.260 Der Umbau der Altersrenten ist vor allem auf den Anstieg der Rentenkosten und das schwache Wirtschaftswachstum zurückzuführen (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 3). Durch die Reform der Rentensysteme versucht also die schwedische Regierung, eine „Gewährleistung langfristiger finanzieller Nachhaltigkeit“ (Letzner und Tippelmann 2003: 501) zu schaffen.261 5.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Neben den bereits genannten innerstrukturellen Veränderungen, die oben mit der Restrukturierungsänderung erklärt wurden, lassen sich folgende weitere Veränderungen innerhalb der Struktur beobachten: In den neuen einkommensbezogenen Rentensystemen werden nicht nur die Inflation wie beim alten System, sondern auch die Entwicklung der realen Einkommen berücksichtigt. Durch die Berücksichtigung der Einkommensentwicklung der Erwerbstätigen wird der Wert der Rente an das Wachstum der realen Einkommen angepasst und die Finanzierung der Renten an die vorhandene 260 In Schweden gibt es allerdings auch wie in anderen Ländern staatliche Förderungsmaßnahmen für die Betriebsrenten und die individuellen Privatrenten, z.B. Steuervergünstigung. Ausführlichere Informationen darüber finden sich in Lundström 2001, Government Offices of Sweden 2002 und Lindquist und Wadensjö 2006: 153-199. 261 Laut Ministry of Health and Social Affairs (2003: 18 f.) und Lißner und Wöss (1999: 68) werden zwei Hauptgründe der Rentenreform wie folgt zusammengefasst: „Der erste und wesentlichste Grund für die Rentenreform war, dass der Pensionsaufwand permanent größer wurde, während sich das Wirtschaftswachstum aber verringert hat. Die neuen Rentner bezogen stets höhere ATP-Zusatzrenten als die alten, da die Reallöhne kontinuierlich zugenommen haben. Folglich ist der Aufwand der Renten kontinuierlich gestiegen. Die unveränderte Beitragsrate konnte aber die erheblich steigenden Kosten decken, sofern die Wirtschaftswachstumsraten mindestens bei 2% blieben. Während der 50er und 60er Jahre ist das schwedische BIP jährlich über 3,7% gestiegen. Seit 1975 lag jedoch das Wachstum im Durchschnitt unterhalb der 2%-Marke und es hat sogar starke ökonomische Fluktuationen gegeben. Unter diesen Bedingungen hat der Rentenaufwand trotzdem immer mehr zugenommen. Zweitens verursachte die Erhöhung der Lebenserwartung und des Altenanteils an der Bevölkerung die Rentenreform. Im Jahr 2000 kamen auf 100 Erwerbstätige 30 Altersrentner. 2025 werden 11 Rentner mehr pro 100 Erwerbstätige zu unterstützen sein. Dieser Entwicklungstrend des Pensionsaufwands und des Altenanteils würde bei Fortbestand des alten Pensionsrechts im Jahr 2025 Beiträge in Höhe von 36% der Lohnsumme erfordern.“ (Baek 2006: 71)
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Menge der Ressourcen gekoppelt (Heese 1999: 177; Ministry of Health and Social Affairs 1998: 12; Baek 2006: 92).262 Zudem beeinflusst nun die durchschnittliche Lebenserwartung der Antragstellenden bei der Rentenberechnung die Rentenhöhe. Die Einführung der demografischen Komponente zielt vor allem auf eine finanzielle Stabilität des Rentensystems ab (Settergren 2001a: Baek 2006: 92). Ein notwendiger Vergleich zwischen den Rentenniveaus des alten und des neuen Systems stößt zunächst auf folgendes Problem: Beide Systemniveaus sind schwer miteinander in sinnvolle Gegenüberstellung zu bringen. Die schwedische Regierung legt keine deutlichen Vergleichspunkte wie beispielsweise die ‚Standardrenteދ263 in Deutschland an. Bei der alten Zusatzrente war zumindest deutlich, dass sie sich auf 60 % des Durchschnittsverdienstes der einkommensstärksten 15 Jahre belief. Die neuen sind einkommensbezogene Renten, die sich aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen, der beitragsproportionalen Einkommensrente und der durch die Anlage auf dem Kapitalmarkt verzinslichen Prämienrente, zusammensetzen. Da letztere höchst individuell ist, ist das Niveau der Summe schwer abzuschätzen. Eine Abschätzung mit aufgrund nämlicher Schwierigkeiten hoher Fehlerquote deutet an, dass das Rentenniveau des neuen Systems voraussichtlich bestenfalls gleich hoch, wahrscheinlich aber etwas niedriger als das Niveau des alten Systems sein wird (Heese 2003: 250). Das durchschnittliche Nettoniveau der staatlichen Altersrenten verzeichnete im Jahr 1985 mit 93 % des durchschnittlichen Erwerbseinkommens seinen Höchstwert in der schwedischen Rentengeschichte (Korpi 2000: 52).264 Seitdem
262 Das alte Rentensystem hatte in Zeiten stagnierender oder fallender Reallöhne eine Schwierigkeit der Finanzierung für die Altersrenten, da es die Bestandsrenten nur an den Preisanstieg gekoppelt hat und die Renten daher schneller als die Löhne angestiegen sind. Demgegenüber war in Zeiten stark ansteigender Reallöhne der Wert der Rente hinter der Lohnentwicklung zurückgeblieben. Außerdem überschritten mit der Zeit immer mehr Löhne die obere Leistungsbemessungsgrenze, also das 7,5fache des Grundbetrags, da der Anstieg des Grundbetrags hinter der Lohnentwicklung zurückblieb. Dieses Phänomen führte bei diesem Kreis der Erwerbstätigen zu einem Verlust der lebensstandardsichernden Funktion der Altersversicherung, weil nur der Teil der Löhne, der unter dem 7,5fache des Grundbetrags lag, bei der Rentenberechnung berücksichtigt wurde (Heese 1999: 177; Ministry of Health and Social Affairs 1998: 12; Baek 2006: 84). 263 Die deutsche ‚Standardrente ދwird im folgenden Unterabschnitt ‚6.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur ދerläutert. 264 Hier soll darauf Rücksicht genommen werden, dass das alte Zusatzrentensystem wegen der Regelung der 30 Beitragsjahre eigentlich erst seit 1990 eine ‚volle ދRente hätte gezahlt haben können. Jedoch wurde die ‚volle ދRente gemäß einer Übergangsregel nach 20 Beitragsjahren, also seit 1980, gewährt (Haanes-Olsen 1978: 11; Horlick 1970: 12).
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sank das Nettorentenniveau allmählich265 und betrug 1997 ungefähr 65 % (Heese 2003: 250). Demgegenüber ist das voraussichtliche Nettoniveau der neuen Renten wie folgt: „Zwar liegt die Garantierente über dem Niveau der bisherigen Volksrente. Da es aber [...] den Bezug der alleinigen Volksrente nicht gab, sondern vielmehr immer dann, wenn kein ATP-Rentenanspruch bestand, eine Zulage gewährt wurde und die Summe aus Volksrente und Zulage die Höhe der Garantierente überstieg, wird das Versorgungsniveau im neuen Rentenversicherungssystem niedriger als im alten sein.[ 266 ] Dieses Absinken des Versorgungsniveaus wird noch dadurch verstärkt, dass aufgrund des Lebenserwerbsprinzips die einkommensbezogene Rente[267] unter dem Niveau der bisherigen ATP-Zusatzrente, die nur die 15 einkommensstärksten Erwerbsjahre berücksichtigt, liegen wird. Das schwedische Reichsversicherungsamt rechnet bei der einkommensbezogenen Rente mit einem Absinken des bei durchschnittlich 69% liegenden Versorgungsniveaus des Geburtsjahrgangs 1938[268] auf 51% beim Geburtsjahrgang 1990, wobei die Hälfte der Verringerung, also 9%, auf die gestiegene Lebenserwartung zurückzuführen ist. Ob und inwieweit eine Aufstockung durch die prämienbezogenen Renten möglich sein wird, bleibt abzuwarten.“ (Heese 2003: 250 f.)
Ob das Niveau der neuen Renten die 65 % von 1997, des letzten Jahres vor der Rentenreform, erreichen kann, hängt also vor allem von den Erträgen der Anlage auf dem Kapitalmarkt im Prämienrentensystem ab. Wegen der unvorhersehbaren
265 “Pension benefits [...] but have declined since then – something which reflects, among other things, sizable increases in real wage levels towards the end of the 1980s, but also changes in indexation and marginal tax rates during the 1990s.” (Korpi 2000: 52) 266 Mit Ausnahme der Wohnzulage für RentnerInnen wurden alle anderen Rentenzulagen, die im alten Rentensystem für diejenigen existierten, die keine oder lediglich eine niedrige Zusatzrente erhielten, abgeschafft. 267 In diesem zitierten Absatz bedeutet die einkommensbezogene Rente nur die Einkommensrente ohne die Prämienrente. 268 Das Niveau der Einkommensrente des Geburtsjahrgangs 1938 kann wegen einer Übergangsregelung aus Gründen des Vertrauensschutzes so sehr hoch sein. An ab 1954 geborene Personen wird die Rente, die lediglich nach den für das neue System geltenden Regelungen berechnet wird, gezahlt. Wer vor 1937 geboren ist, bezieht die Rente, die lediglich nach den für das alte System geltenden Regelungen berechnet wird. Für die Geburtsjahrgänge zwischen 1938 und 1953 bemessen sich die Renten teils nach den alten Regelungen und teils nach den neuen Regeln. Zum Beispiel bestehen die Staatsrenten des Geburtsjahrgangs 1938 aus einem Teil von 16/20, der nach den Regelungen des alten Systems berechnet wird, und einem anderen Teil von 4/20, der sich nach den Vorschriften des neuen Rentensystems bemisst. Zu den Übergangsregelungen ausführlich siehe Baek 2006: 90 f.
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Entwicklung der Aktienmärkte ist aber immer ungewiss, ob dies tatsächlich erreichbar sein wird.269 Wenn im alten Rentensystem die Personen mit Erwerbseinkommen vor dem 65. Lebensjahr einen Antrag auf die Altersrente stellten, wurde nur eine Teilrente gewährt. Der Aufschub der Renten war bis zum 70. Lebensjahr möglich. Danach wurde die Rente unbedingt gezahlt. Im alten System konnten die Rentenansprüche von dem 16. bis zum 64. Lebensjahr erworben werden. Demgegenüber kann im heutigen System eine Vollrente ab dem 61. Lebensjahr unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Antragstellenden gewährt werden. Außerdem ist es während des Rentenbezugs immer möglich, statt der Vollrente eine Teilrente in Höhe von 25 %, 50 % oder 75 % zu beziehen. Darüber hinaus können die RentnerInnen den Rentenbezug jederzeit vollständig aussetzen. Dabei werden die Renten ohne obere Altersgrenze bis zur neuen Antragstellung aufgeschoben. Im neuen System können die RentenempfängerInnen oder die Rentenberechtigten alles frei auswählen. Rentenansprüche können nun ohne Altersgrenze erworben werden.270 Die Rentenansprüche können unabhängig vom Rentenbezug solange wachsen, wie die Versicherten oder die RentnerInnen rentenwirksame Einkünfte erzielen. In den neuen einkommensbezogenen Rentensystemen gibt es anders als im altem System keine Anspruchsvoraussetzung der Mindestperiode der Erwerbstätigkeit und keine Regelung über eine ‚volle ދRente. Durch die Rentenreform wurde also die Grenze zwischen Arbeitsleben und Ruhestand aufgeweicht. Die RentnerInnen können beim Rentenbezug – egal ob die Rente eine Teilrente oder eine Vollrente ist – ohne Rentenkürzung eine Erwerbsarbeit ausüben. Dabei können die RentnerInnen aufgrund der ‚rentenwirksamen ދArbeitseinkommen während des Rentenbezugs weitere Rentenansprüche erzielen. Die neue schwedische Alterssicherung hat also einen starken arbeitsfördernden Aspekt (Baek 2006: 92).271 269 Hinsichtlich der unvorhersehbaren Zukunft der schwedischen Renten erzeugt die folgende Nachricht gar nicht positive Erwartung: „Der Presse konnte man entnehmen, dass die Fonds bisher Verluste von weit über 50 Prozent des eingezahlten Kapitals zu verzeichnen haben. [...] Bei einigen Fonds, die sich auf Biotechnologie oder Informationstechnologie konzentriert haben, sind bis zu 90 Prozent des Kapitals vernichtet worden. Insgesamt sind allein im vergangenen Jahr 111,6 Mrd. Schwedische Kronen Verlust gemacht worden, das entspricht etwa 12,3 Mrd. EUR.“ (Letzner und Tippelmann 2003: 507) 270 Die untere Altersgrenze vom 16. Lebensjahr wird ab 1. Januar 2004 abgeschafft (Ministry of Health and Social Affairs of Sweden 2003: 7). 271 Im Ergebnis kann die Senkung des Rentenniveaus aufgrund der Berücksichtigung der Lebenserwartung durch eine längere Lebensarbeitszeit ausgeglichen werden (Letzner und Tippelmann 2003: 513). Allerdings werden nicht alle Erwerbstätigen von der arbeitsfördernden Regelung begünstigt. Während die Regelung sich für die Selbständigen positiv auswirkt, gereicht sie ArbeitnehmerInnen zum Nachteil, da sie aufgrund der Ruhestandregelungen nicht bis zum hohen Alter im Erwerbsleben verbleiben können (vgl. Lißner und Wöss 1999: 74).
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Die ‚Opting-outދ-Regelung für Selbständige wurde abgeschafft. Anders als in den 70er Jahren können heute die Selbständigen nicht mehr aus den staatlichen Rentensystemen austreten. Für den Anspruch auf Garantierente des neuen Systems müssen Antragstellende vorher mindestens für drei Jahre in Schweden wohnhaft gewesen sein. Um eine ‚volle ދGarantierente zu beziehen, müssen sie in Schweden ihren gewöhnlichen Aufenthalt für 40 Jahre gehabt haben. Mitte der 70er Jahre gab es hinsichtlich der Volksrente die Regelungen nicht. Außerdem kann anders als die Volksrente die Garantierente nicht vorgezogen oder aufgeschoben werden. Im neuen System wurden die Regelungen für die gesellschaftlich ‚bedeutenden ދbeitragslosen Zeiten – Zeiten der Kindererziehung, der Pflichtdienstableistung, des Studiums und des Bezuges der Invalidenrenten – eingeführt: Im alten System konnte man ohne andere Anspruchsvoraussetzungen nur mit dem Erreichen des 65. Lebensjahres die Grundrente beziehen. Im Zusatzrentensystem konnten die Versicherten trotz einer fragmentierten Erwerbsbiographie infolge der Berücksichtigung der 15 einkommensstärksten Jahre bei der Rentenberechnung adäquate Rentenansprüche erwerben. Allerdings üben im neuen System beitragslose Zeiten einen unmittelbar negativen Einfluss auf die Rentenhöhe aus, da das neue System auf dem Lebenseinkommensprinzip beruht. Von daher werden im neuen System die expliziten Regelungen für die Personen in den gesellschaftlich ‚bedeutenden ދbeitragslosen Zeiten benötigt, um dem System einen sozialeren Anstrich zu geben (Heese 1999: 175; Baek 2006: 80). Mit Bezug auf die Veränderungen der Finanzierungsmodi lassen sich folgende beobachten: Das alte System beruhte auf dem Umlageverfahren. Im neuen System wurde neben dem Umlageverfahren das Kapitaldeckungsverfahren eingeführt. Die neuen Renten werden also durch die beiden Finanzierungsverfahren finanziert (Baek 2006: 92). Die Beiträge für die einkommensbezogenen Renten sind dauerhaft auf 18,5 % der Rentenberechnungsgrundlage festgelegt. Unter bestimmten Umständen können allerdings die Rentenausgaben die Einnahmen für die Altersversicherung überschreiten. Um diese Gefahr im Voraus abzuschneiden, wurde im Umlagesystem die ‚automatische Bilanzierung ދzur Gewährleistung finanzieller Stabilität eingeführt (Ministry of Health and Social Affairs 2003: 16; Baek 2006: 93). Bei einer anderen Veränderung der Finanzierungsmodi handelt es sich um eine sukzessive Gewichtsverlagerung zwischen den finanziellen Belastungen der ArbeitgeberInnen und der abhängig Beschäftigten. 1995 wurde eine Beitragspflicht der abhängig Beschäftigten eingeführt (Ministry of Health and Social Affairs 1998: 36). Von 1995 bis 1997 betrugen die Beitragsätze 1 % der Entgelte und im Jahr 1998 wurde der Beitragssatz drastisch auf 7 % erhöht (Riksförsäkringsverket 2004: 36). Parallel zu der Einführung und der Steigerung der Bei-
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träge der abhängig Beschäftigten wurde die finanzielle Belastung der ArbeitgeberInnen verringert. 1976 zahlten die ArbeitgeberInnen für die Volksrente und die Zusatzrente insgesamt 17,20 %. Nach der Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen für die Zusatzrentenbeiträge im Jahr 1982 272 betrugen 1986 die Gesamtbeitragssätze der ArbeitgeberInnen für die beiden Renten 19,45 % der Lohnsumme ihrer Beschäftigten (siehe Elmér 1986: 108). Indessen tragen sie heute nur die Beiträge in Höhe von 10,21 %. Heute sind die Hinterbliebenenrenten und die Invalidenrenten von den Altersrenten getrennt und deren Beiträge werden getrennt erhoben. Wenn man diese Beiträge zu den 10,21% addiert, ergibt sich im Jahr 2002 ein Gesamtbeitragssatz von höchstens 15,81 %.273 Also ist der Gesamtbeitragssatz auch niedriger als die früheren Beitragssätze. Eigentlich wurde von der Regierung für die Altersrenten eine paritätische Teilung zwischen den ArbeitgeberInnen und den abhängig Beschäftigten geplant. Bislang wurde dieser Plan noch nicht realisiert, aber eine spätere Angleichung ist vorabsehbar (Ministry of Health and Social Affairs 1998: 5, 31; Schmid 2002: 210; Baek 2006: 88). Mit Bezug auf eine weitere Veränderung der Finanzierungsmodi ist auf die Abnahme der staatlichen Etatlasten durch Verringerung der notwendigen Subventionsbeträge hinzuweisen. Während sich der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtausgaben für die staatlichen Altersrenten im Jahr 1997 auf 13,7 % belief, beträgt er nach der Rentenreform 2003 nur noch 6 %. Diese Reduzierung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass bei dem Grundrenten272 Seit 1982 mussten die ArbeitgeberInnen für die Zusatzrente neben den vorhandenen Beiträgen auch für die Einkommensteile ihrer Beschäftigten, die unter der Untergrenze und über der Obergrenze der rentenbegründenden Einkünfte, also unter dem Grundbetrag und über dem 7,5fachen des Grundbetrages, lagen, Beiträge entrichten. Die Selbständigen zahlten seitdem auch Beiträge für ihre ‚ganzen ދEinkommen (Fölster u.a. 1999: 10). Diese Veränderung wird als eine Erweiterung der Reform von 1976, durch die außer den Zusatzrentenbeiträgen die Beitragsbemessungsgrenzen für die Ermittlung der Sozialversicherungsbeiträge der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen abgeschafft wurden, betrachtet. Für die Beitragsreform 1976 ausführlicher siehe den vorherigen Unterabschnitt ‚5.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahreދ. 273 Heute gibt es für die Invalidenrenten keine eigenen Beiträge, da diese Renten im Jahr 1999 der Krankenversicherung zugeordnet wurden und seitdem aus den Krankenversicherungsbeiträgen finanziert werden. 2002 hat die Krankenversicherung insgesamt 101.940 Mio. SKR ausgegeben. Davon betrugen die Ausgaben für die Invalidenrenten 44.658 Mio. SKR. Der Beitragssatz der ArbeitgeberInnen für die Krankenversicherung war im Jahr 2002 8,8 %. Wenn man unterstellt, dass 44 % (44.658 / 101.940 x 100) der Beiträge der ArbeitgeberInnen für die Invalidenrenten ausgegeben würden, belaufen sich 44 % des Beitragssatzes der ArbeitgeberInnen auf etwa 3,9 %. Der oben erwähnte Gesamtbeitragssatz – 15,81 % – ergibt sich also aus der Summe des Altersversicherungsbeitragssatzes von 10,21 %, des Beitragssatzes für die Hinterbliebenenrenten von 1,7 % und des unterstellten Beitragssatzes für die Invalidenrenten von 3,9 %. Die hier erwähnten Zahlen finden sich in Riksförsäkringsverket 2004: 36, 38.
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bereich die Versorgungsleistung durch die Fürsorgeleistung ersetzt wurde. Wie in altem Rentensystem finanziert der Staat auch im neuen System aus allgemeinen Steuermitteln nur einen Teil der Kosten für den Grundrentenbereich.274 Hinsichtlich der Veränderung des Trägersystems wurde ein neuer Rententräger für die Prämienrente, die PPM, eingerichtet.
274 1975 belief sich der Anteil der Ausgaben für die Volksrente an den Gesamtausgaben für die Volksrente und die Zusatzrente auf 75 %. Der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Ausgaben für die Volksrente betrug dabei etwa 60 %. Der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtausgaben für die beiden Renten lag also bei etwa 45 % (siehe Guldberg 1979: 129). Im Jahr 1975 war der Anteil der Ausgaben für die Zusatzrente an den Gesamtausgaben relativ klein, da die meisten RentnerInnen die Voraussetzung der 30 Beitragsjahre für die ‚volle ދRente nicht erfüllen konnten. 30 Jahre nach der Einführung der ATP-Zusatzrente betrug der Anteil der Ausgaben für die Volksrente an den Gesamtausgaben im Jahr 1992 42 %. 1992 belief sich der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Ausgaben für die Volksrenten auf etwa 39 %. Der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtausgaben für die beiden Renten lag also bei etwa 16,4 % (siehe Schmid 1996: 124 f.). In dem Anteil von 16,4 % waren allerdings die Ausgaben sowohl für die Altersrenten als auch für die Invalidenrenten und für die Hinterbliebenenrenten eingeschlossen. Vor der Rentenreform 1998 belief sich 1997 der Anteil der Ausgaben für die Altersvolksrenten an den Gesamtausgaben für die staatlichen Altersrenten auf 38 % (52.886 Mio. SKR (die Gesamtkosten für die Altersvolksrenten) / 138.391 Mio. SKR (die Gesamtkosten für die Altersvolksrenten und die Alterszusatzrenten) x 100) (für die Zahlen siehe National Social Insurance Board 2000b: 98). Der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Ausgaben für die Volksrenten betrug etwa 36 % (Heese 1999: 165). Der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtausgaben für die staatlichen Altersrenten lag also bei etwa 13,7 %. Nach der Rentenreform 1998 ist der Anteil der Ausgaben für die Grundaltersrente, also die Garantierente, an den Gesamtausgaben im Jahr 2003 drastisch auf 12 % gesunken (siehe Riksförsäkringsverket 2004: 40-42). Obwohl sich der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Ausgaben für die Garantierenten auf etwa 50 % belief, betrug der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtausgaben für die staatlichen Renten nur 6 %. Der Betrag der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtkosten für die Altersvolksrenten betrug 1997 etwa 19.039 Mio. SKR (52.886 Mio. SKR (die Gesamtkosten für die Altersvolksrente) x 0,36 (der Anteil der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtkosten für die Volksrente). Der Betrag der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtkosten für die Garantierente belief sich im Jahr 2003 auf 12,241 Mio. SKR, im Jahr 2004 auf 11,402 Mio. SKR, im Jahr 2005 auf 11,139 Mio. SKR und im Jahr 2006 auf 9.835 Mio. SKR (für die Zahlen siehe Riksförsäkringsverket 2005: 57; 2006: 64; 2007: 55). Laut der Prognose der schwedischen Regierung wird sich die staatliche Etatbelastung in den kommenden Jahren ständig verringern: “In the longer term, expenditure for income-based pensions will increase while expenditure for guarantee pensions will decrease.” (Riksförsäkringsverket 2004: 29) Der vorläufige Betrag der allgemeinen Steuermittel an den Gesamtkosten für die Garantierente beträgt 2008 5.555 Mio. SKR (Riksförsäkringsverket 2007: 55). Er entspricht also etwa einem Viertel des Betrags des Jahres 1997.
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5.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme 5.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme 5.4.2.1.1 Die Restrukturierung Durch einen Vergleich zwischen dem vergangenen und dem heutigen System lässt sich deutlich kennen, dass im Gesundheitsversorgungsbereich die Verantwortungen für die Kostenübernahme von der sozialen Krankenversicherung an die Provinziallandtage übergingen. Diese Restrukturierung der Kostenübertragungsbereiche hat 1982 mit dem Inkrafttreten des ‚Gesetzes über Gesundheitliche und Medizinische Versorgungދ (Hälso- och sjukvårdslag) begonnen. Gemäß dem Gesetz trugen die Provinziallandtage umfassende Verantwortlichkeit für die medizinische Versorgung und die gesundheitlichen Belange der ProvinzbewohnerInnen. Im Gesetz wurde festgehalten, dass „[Provinziallandtage] had control of the planning and development of health care, its organisation and delivery, health promotion and disease prevention and responsibility for ensuring equal access for all citizens.“ (Brundson 1995: 2) Das Gesetz gab also den Provinziallandtagen eine Autorität, im weitgesteckten Rahmen zentralstaatlicher Leitlinien ihre eigenen Gesundheitssysteme zu betreiben. Die schwedische Regierung behält nun „the authority to set minimum qualification for work in the system and to exercise oversight“ (Twaddle 1999: 8). Weitere Veränderungen kamen mit der ‚Dagmar Reform ދ1985. Sie war eine Maßnahme, um hinsichtlich der Finanzierung für den Gesundheitsversorgungsbereich das ‚Gesetz über Gesundheitliche und Medizinische Versorgungދ 1982 zu ergänzen (Brundson 1995: 2). Seitdem wurden die Zuschüsse des Zentralstaates und die finanzielle Beteiligung der sozialen Krankenversicherung zusammengesetzt und den Provinziallandtagen als ein ,block grantދ, dessen Höhe von der Einwohnerzahl der Sekundärkommune abhängt, zugewiesen (Anell und Svarvar 2001: 702; Twaddle 1999: 8). Dabei wurde die Zuständigkeit für die Kostenübertragungsbereiche des ambulanten Sektors den Provinziallandtagen übergeben. Außerdem wurden die Aufgaben der Vertragschließung mit privat praktizierenden Ärzten und der Vergütung für sie von der sozialen Krankenversicherung auf die Provinziallandtage übertragen (Brundson 1995: 3). Durch diese Reformen wurden die Provinziallandtage ‚wesentliche ދübergeordnete Träger des Gesundheitswesens. Im Jahr 1998 wurde auch die bisher in der Krankenversicherung verortete Verantwortung für die öffentliche Kostenübernahme für Arzneimittelversorgung den Provinziallandtagen übergeben. Durch diese allmähliche Restrukturierung wurde die Verantwortlichkeit der
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Krankenversicherung bzw. der Sozialversicherung im Bereich medizinischer Versorgung massiv verringert. Heute zahlt die Sozialversicherung nur die Zuschüsse zu den Kosten für die Zahnbehandlungen von über 20-Jährigen. Diese Restrukturierung lässt sich durch einen Vergleich der Anteile der öffentlichen Kostenträger an den Gesamtkosten für die Gesundheitsversorgung deutlicher feststellen: 1975 wurden in Schweden 7,6 % des BIP für die Gesundheitsversorgung ausgegeben (OECD 2007a). An den Ausgaben belief sich der Anteil der zentralstaatlichen Beiträge auf 14,9 %, der Anteil der Provinziallandtage auf 57,5 %275, der Anteil der Krankenversicherung auf 16 % und der Anteil des privaten Haushaltes auf 11,6 % (siehe Spek 1980: 186 f.).276 Im Jahr 2003 wurden 9,3 % des BIP für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. An den Gesamtausgaben betrug der Anteil des privaten Haushaltes 15 % und der Anteil der Provinziallandtage 70 %. Die restlichen Kosten wurden durch die zentralstaatlichen Beiträge abgedeckt (Ministry of Health and Social Affairs 2005). Im Anteil der zentralstaatlichen Beiträge waren die Ausgaben der Sozialversicherung für den Gesundheitsversorgungsbereich eingeschlossen. Der Anteil der Sozialversicherung betrug 2003 etwa 1,2 % der Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung.277 Während der Finanzierungsanteil der Krankenversicherung bzw. der Sozialversicherung von 16 % auf 1,2 % drastisch reduziert wurde, wuchs der Anteil der Provinziallandtage von 57,5 % auf 70 %. Diese Vermehrung der Verantwortlichkeit der Provinziallandtage verursachte die Zunahme des Anteils für Gesundheitsversorgung an den Gesamtausgaben der Provinziallandtage und rief eine Steigerung der Steuersätze der Provinziallandtage hervor. 278 Allerdings konnte im Ergebnis die gesundheitsversorgungsbezogene finanzielle Belastung des ‚Staates als Ganzes ދdurch die Restrukturierung verringert werden (siehe Abbildung 2 im Kapitel 7 und Anhang-Tabelle 22).279 275 In den hier dargestellten, früheren und heutigen Anteilen der Provinziallandtage an den Gesamtkosten wurden die zentralstaatlichen Beiträge, die eigentlich in die Haushalte der Provinziallandtage eingeschlossen sind, nicht mit einberechnet. Wie oben gezeigt wurden, werden die zentralstaatlichen Beiträge als ein eigenständiges Segment dargestellt. 276 Die hier dargestellten Anteile ergaben sich aus einer eigenen Berechnung anhand der Zahlen von Spek 1980: 186 und 187. 277 Riksförsäkringsverket (2004: 22) zufolge hat die Sozialversicherung 2003 für den Gesundheitsversorgungsbereich insgesamt 2,8 Mrd. SKR (2,6 Mrd. SKR für Zahnbehandlungen und 0,2 Mrd. SKR für internationale medizinische Versorgung) ausgegeben. Der Aufwand entspricht 1,2 % der Gesamtkosten für die Gesundheitsversorgung Schwedens, also von 226 Mrd. SKR des Jahres 2003 (Ministry of Health and Social Affairs 2005). 278 Für die Anteile und die Steuersätze siehe die Unterabschnitte ‚5.2.2.1.5 Der Finanzierungsmodus ދund ‚5.3.2.1.5 Der Finanzierungsmodusދ. 279 Die Verringerung der gesundheitsversorgungsbezogenen finanziellen Belastung des ‚Staates als Ganzes ދund die Abnahme des Anteils der Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung am
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Es ist in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam zu machen, dass die Verantwortlichkeit für die Kostenübernahme für die Sektoren der ambulanten Versorgung und der Arzneimittelversorgung, die ehemals der sozialen Krankenversicherung oblag, auf die Provinziallandtage übertragen wurde. Der Umbau der Zuständigkeiten für die öffentliche Kostenübertragung wurde also durch eine ‚Dezentralisierung ދdurchgeführt. Die ‚Überantwortung ދder bestehenden Kostenübertragungsbereiche zu anderem öffentlichen Kostenträger wird gemäß dem Bewertungsmaßstab der Restrukturierung dieser Arbeit als ‚öffentlichkeitszentrierte ދRestrukturierung bewertet. Die Hauptanlässe der Reform der 80er Jahre waren „to cap central government grants allocated to the health care sector, and to give county councils a mandate to regulate the market for private practioners; in particular part-time practioners.“ (Anell und Svarvar 2001: 704) Auch Schweden geriet seit der Mitte der 70er Jahre in eine wirtschaftliche Schwierigkeit. Dabei versuchte die schwedische Regierung, im Gesundheitsversorgungsbereich durch die Dezentralisierung eine fiskalische Konsolidierung zu schaffen (Brunsdon und May 1995: 12). Während der Zeit der Rechtsregierung zwischen 1976 und 1982 expandierte der Anteil privater ärztlicher Behandlungen. Besonders verbreitete sich die private ambulante Versorgung durch Ärzte, die neben einer staatlichen Festanstellung nebenberuflich privat praktizierten. Als 1982 die SAP wieder die Regierung übernahm, sah sie sich der Existenz eines privaten Sektors, der inzwischen bedeutend zur Gesundheitsversorgung beitrug, gegenüber. Sie verschob die Aufgaben der Vertragsschließung mit privat praktizierenden Ärzten und der Honorierung für diese Ärzte von der sozialen Krankenversicherung zu den Provinziallandtagen. Ziel war dabei unter anderem, die öffentlichen Einflussmöglichkeiten auf die privat erbrachten Behandlungen zu erhöhen (Brundson 1995: 3; Twaddle 1999: 8). Nach der Reform hatten die privat pratizierenden Ärzte „to negotiate with the county council in their geographic area for a contract in which the number of visits allowed per year is regulated.” (Anell und Svarvar 2001: 705) Die SAP versuchte durch die Reform, die privat erbrachte Leistungsmenge zu reduzieren und die öffentliche Dominanz in der Gesundheitsversorgung zu bewahren.280 BIP werden im Abschnitt ‚7.1.2 Die Auswirkungen der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme ދdargelegt. 280 Der deutliche Wille der sozialdemokratischen Partei, die Dominanz der Öffentlichkeit in der Gesundheitsversorgung bzw. die bedarfsgerechte Versorgungsstruktur zu bewahren, zeigte sich in den 1990er Jahren noch einmal. Die Rechtsregierung, die zwischen 1991 und 1994 regierte, hat ein Hausarztsystem geplant. Im Hausarztsystem waren einige Elemente zur Privatisierung der Gesundheitsversorgung eingeschlossen (hierzu ausführlich siehe Brundson und May 1995: 19). Die im Oktober 1994 an die Regierung gelangte SAP schaffte das ‚Gesetz über den Haus-
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5.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Die Reformen der 80er Jahre erhöhten die Verantwortlichkeit und die Kontrollbefugnis der Provinziallandtage in Bezug auf die Finanzierung und das finanzielle Management für den Gesundheitsversorgungsbereich. Allerdings konnten die Haushalte der Provinziallandtage wegen der wirtschaftlichen Rezession nicht mit derselben Geschwindigkeit wie in den 60er oder 70er Jahren wachsen (Anell und Svarvar 2001: 704). Unter diesen einschränkenden wirtschaftlichen Umständen versuchten die Provinziallandtage, durch folgende innerstrukturelle Veränderungen eine Kostendämpfung und eine Effizienzsteigerung zu erreichen. In den 1980er Jahren waren die Methoden der Provinziallandtage zur Kostendämpfung und zur Effizienzsteigerung ein dezentralisiertes Management und das Globalbudget: “[T]he districts gradually received more responsibility to allocate resources among activities within their respective areas. More importantly, they received more responsibility for keeping actual costs within specified budgets. The instrument used to implement this change was the global budgets, a method with clear incentives for providers to contain costs.” (Anell und Svarvar 2001: 704; Hervorhebung im Original)
In den 90er Jahren wurde mit dem Muster ‚regulierter Märkte ދin dem System der Gesundheitsversorgung experimentiert. Das Muster war „an attempt to follow the lead of the U. K. by dividing the ‘purchase’ of medical care from the ‘sale’ of services.“ (Twaddle 1999: 14; Hervorhebung im Original) Die Provinziallandtage oder die Gemeinderäte fungieren als Käufer der Krankenhausdienste für ihre örtlichen EinwohnerInnen. Die sich noch in Besitz der Provinziallandtage befindlichen Krankenhäuser verkaufen als Anbieter ihre Dienstleistungen vertraglich den Käufern. Ziel ist, dass die Krankenhäuser miteinander bezüglich des Umfangs und der Qualität der Dienstleistungen, des Preises und der Verfügbarkeit konkurrieren (Brunsdon und May 1995: 18). Mitte der 90er Jahre bauten 14 der damals 26 Provinziallandtage unterschiedlich stark einschneidend und verschieden akzentuiert das System der Trennung in Käufer und Anbieter auf (Anell und Svarvar 2001: 710).281 arztދ, das von der Rechtsregierung bereits in Kraft gesetzt worden war, sofort wieder ab und stoppte das ‚Gesetz für die Freiheit zur Gründung privater, öffentlich finanzierter Praxisދ, das das ‚Gesetz über Hausarzt ދergänzt hatte (Anell und Svarvar 2001: 709). 281 „Für Schweden wurde allerdings angenommen, daß die markt- und wettbewerbsorientierten Reformen für eine pragmatische Weiterentwicklung des Gesundheitswesens eingesetzt und nicht als Hebel für die Demontage einer wichtigen Säule des Sozialstaats funktionalisiert würden. Begründet wurde dies mit einem breiten Rückhalt des Sozialstaats, einer tief verankerten
5.4 Auswertung der Transformation der schwed. soz. Sicherungssysteme
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Allerdings war im Vergleich mit Großbritannien das schwedische Muster der Trennung von Käufern und Anbietern nur eine ‚abgeschwächte ދForm (Anell und Svarvar 2001: 710). Außerdem waren die Provinziallandtage (z.B. die in Bohus, in Dala und in Stockholm), die das öffentlich regulierte Wettbewerbsmodel im Lieferungssystem als Hauptmethode zur Kostendämpfung ausgewählt haben, bei der Kostenbeschränkung weniger erfolgreich als die Provinziallandtage (z.B. die in Jönköping, in Kronoberg, in Värmland und in Älvsborg), die das zentralisierte, politisch betriebene traditionelle Budgetsystem in den Vordergrund stellten (Twaddle 1999: 20). Ansonsten wurde durch den Markt-Mechanismus die Öffentlichkeit der Gesundheitsversorgung an sich nicht geschädigt. Der private medizinische Sektor wurde also nicht erweitert. Die meisten Einrichtungen für die Gesundheitsversorgung sind heute noch in Besitz der Provinziallandtage und werden von ihnen betrieben (Anell und Svarvar 2001: 702). Die Zahl privater Krankenhäuser erhöhte sich von 1970 bis 1994 nur um 34 Einrichtungen und die Zahl privater Krankenhausbetten nur um 2.368 Betten.282 Diese privaten Krankenhäuser sind wie früher auch heute noch meistens Pflegeheime (Kaati 2002: 314). Außerdem arbeiten nur 8 % der Ärzte in privaten Praxen und die Bedeutung privater Krankenversicherungen ist sehr begrenzt (Anell und Svarvar 2001: 702). Mit einem Satz kann man sagen: Die Verantwortlichkeit für die Finanzierung und die Bereitstellung der medizinischen Versorgung befindet sich heute noch in einer öffentlichen Hand, in der Hand der Provinziallandtage. Neben den oben dargestellten Maßnahmen zur Kostendämpfung und zur Effizienzsteigerung bei den Leistungserbringern wurde Anfang der 90er Jahre die Politik von „scale cut-back“ durchgeführt: Die Provinziallandtage reduzierten z.B. die Zahl der Betten, die Zahl der Beschäftigten in vollzeitbeschäftigten Stäben und die Prämien für die Arbeit in der Nacht oder am Wochenende (Brunsdon und May 1995: 19). Diese politischen Entscheidungen und Maßnahmen zur Verringerung der Kosten des Krankenhaussektors führten zur erheblichen Kostendämpfung (Anell und Svarvar 2001: 702).283 Zustimmung zu einer auf ,Gleichheit‘ ausgerichteten Politik und der Stärke der sozialdemokratischen Partei. Die SAP galt als Repräsentantin und Garantin des ausgebauten Sozialstaats. Unter dieser Maßgabe sollten die Reformen Probleme des Gesundheitswesens lösen und damit einen Beitrag zur Stabilisierung des Sozialstaats liefern.“ (Michelsen 2002: 351; Hervorhebung im Original) 282 1970 betrug die Zahl der privaten Krankenhäuser 246 und die Zahl der privaten Betten 8.507 (Socialstyrelsen 1972a: 25). 1994 belief sich die Zahl der privaten Krankenhäuser auf 280 und die Zahl der privaten Betten auf 10.875 (Socialstyrelsen 2002a: 132). 283 Außerdem wurde Anfang der 90er Jahre die Verantwortung der Bereitstellung und der Finanzierung für die langfristige Pflege für Alte von den Provinziallandtagen auf die Gemeinderäte übertragen. Diese Reform, die sog. Ädel Reform, führte zur erheblichen Reduzierung
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Parallel zu den inneren Reformen der Provinziallandtage ist die wachsende Bedeutung der unmittelbaren Zahlungen für die Inanspruchnahme der medizinischen Leistungen sichtbar. Mittlerweile wurde die Selbstbeteiligung der Patienten, also die finanzielle Belastung der Individuen, sehr erhöht. Zum Beispiel wurden 1976 die Kosten der Zahnbehandlung für Erwachsene von der Krankenversicherung in Proportion zu den Behandlungskosten – bis zu 75 % – übernommen. Indessen zahlt die Sozialversicherung heute nur die gemäß der Versorgungsart von der Regierung bestimmten Festbeträge an die Leistungsanbieter. Die Patienten zahlen die übrigen Kosten. Der Anteil der öffentlichen Kostenübernahme von der Sozialversicherung reduziert sich derzeit weiter. Zum Beispiel entsprach das Niveau der Zuschüsse zur zahnärztlichen Grundversorgung des Jahres 1999 nur 30 % des Tarifs, der für 1998 galt (Europäische Kommission 1999). In den 70er Jahren gab es bei den stationären Krankenhausbehandlungen keine Zuzahlung. Heute müssen die Patienten bis zu 80 SKR pro Tag zahlen. Außerdem muss man heute die Kosten der Medikamente bis zu einer gewissen jährlichen Grenze komplett selbst entrichten. Wie oben bei dem Vergleich der Anteile der öffentlichen Kostenträger zwischen 1975 und 2003 dargestellt wurde, wurden die direkten Aufwendungen der privaten Hauhalte von 11,6 % auf 15 % vermehrt. Zu dieser Zunahme trug die Erhöhung der Zuzahlungen der Patienten erheblich bei. 5.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme 5.4.2.2.1 Die Restrukturierung 1986 wurde das einheitliche Krankengeld für die haushaltsführenden EhepartnerInnen abgeschafft (Försäkringskassan 2006: 5). Zwar war das Niveau der Leistung bescheiden, da die Leistung zuletzt wie Mitte der 70er Jahre nur noch 8 SKR pro Tag betrug, also nicht an die nicht unerhebliche Inflation angepasst worden war. Aber das einheitliche Krankengeld hatte die gesellschaftliche Bedeutung ,,to upgrade the status of household duties and to encourage the parents to share the childrearing role.“ (Wilson 1979: 54) Die Abschaffung der Leistung zielte darauf ab, den Anreiz zur Erwerbsarbeitsaufnahme der Frauen zu erhöhen.
der Ausgaben der Provinziallandtage für den Gesundheitsversorgungsbereich (Anell und Svarvar 2001: 708). Die langfristige Pflege für Alte gehört allerdings in dieser Arbeit nicht dem Gesundheitsversorgungsbereich, sondern dem Pflegebereich an. Demnach wurde die Ädel Reform aus der Analyse dieser Arbeit ausgeschlossen.
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“Even harder is the position for housewives receiving only the flat-rate benefit from the insurance system; since 1974 the same small amount (8 SKR) has been paid, providing no compensation for inflation and the rising cost of living. As it is still the policy to promote female participation in the labour market, there was a proposal in early 1984 to remove this protection from compulsory insurance altogether. If this proposal had gone through, it should not be seen as an indicator of financial savings (the current fashion in most analyses of the social sector today), as in this respect it is negligible.” (Olsson 1986: 46)
1992 wurde die Entgeltfortzahlung eingeführt (Elmér u.a. 2000: 287). Die Zuständigkeit für die ersten 14 Tage der Lohnersatzleistung für kranke abhängig Beschäftigte wurde also der staatlichen Versicherung entzogen und den ArbeitgeberInnen überantwortet. Die Einführung der Entgeltfortzahlung zielte auf die Reduzierung der rasch steigenden Kosten für das Krankengeld ab (Riksförsäkringsverket 2004: 13 ff.). 2003 wurde die Bezugsdauer der Entgeltfortzahlung auf 21 Tage erhöht (Riksförsäkringsverket 2004: 23). Zusammengefasst kann gesagt werden: Im Bereich der Verdienstersatzleistung bei Krankheit kam es zur ‚privatheitszentrierten ދRestrukturierung durch die ‚Abschaffung ދund durch die ‚Einführungދ. 5.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Zuerst lässt sich die Verringerung des Leistungsniveaus beobachten. Während in den 70er Jahren 90 % des letzten Einkommens gezahlt wurde, wurde die Höhe der Verdienstersatzleitungen später auf 80 % reduziert und beträgt seit dem 01.07.2003 nur noch 77,6 % (Riksförsäkringsverket 2004: 23). Die Verdienstsersatzleistungen bei Krankheit sind ‚offiziell ދheute noch sozialabgabenfrei. Jedoch sind nach der Einführung der neuen Rentensysteme die ‚allgemeinen Rentenbeiträge ދvon 7 % für die einkommensbezogenen Altersrenten in den Steuern, die von den EmpfängerInnen der Verdienstsersatzleistungen zu leisten sind, eingeschlossen. Also werden anders als in den 70er Jahren die heutigen Verdienstersatzleistungen bei Krankheit faktisch als sozialabgabenpflichtig betrachtet. Die Maßnahme zur Erhöhung des Anreizes zur Arbeitsaufnahme wurde deutlich verstärkt. Das Krankengeld wird in Proportion zu den Verlustgraden der Erwerbsfähigkeit heute noch viel stärker reduziert als in den 70er Jahren. Zum Beispiel bezieht eine Person mit einer Erwerbsfähigkeit von 75 % heute ein Krankengeld in Höhe von 25 %. In den 70er Jahren hätte die Person 50 % des Vollbetrags des Krankengeldes erhalten. Um den reduzierten Teil zu ersetzen, bleibt oft keine andere Wahl, als eine Erwerbsarbeit zu leisten. Verglichen mit
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den 70er Jahren wurde also die Eigenverantwortung der EmpfängerInnen deutlich verstärkt. In dem heutigen Krankengeldsystem gibt es keine ‚Opting-outދ-Regelung für Selbständige mehr. Die Selbständigen dürfen also aus dem Krankengeldsystem nicht austreten. Durch die Einführung der Lohnfortzahlung, also die Übergabe der Verantwortung für einen Teil der Verdienstersatzleistung an die ArbeitgeberInnen, wird die Last der ArbeitgebeInnen vermehrt und die finanzielle Belastung des Staates entsprechend verringert (vgl. Lißner und Wöss 1999: 154, 205; Riksförsäkringsverket 2004: 44). 5.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme 5.4.3.1 Die Restrukturierung Im Zuge der Arbeitslosensicherungsreform 1997 wurden 1998 das Arbeitslosengeld durch die einkommensbezogene Leistung und die KAS durch die Grundleistung ersetzt. Vor der Reform 1997 waren die Arbeitslosenkassen nach Wirtschaftsbereichen oder Berufszweigen geordnet. Die Erwerbstätigen, die in einem bestimmten Wirtschaftsbereich oder Berufszweig arbeiteten, durften nur in die Arbeitslosenkasse, die für diesen Wirtschaftsbereich oder Berufszweig zuständig war, eintreten. Durch die Reform 1997 wurde eine neue komplettierende Arbeitslosenkasse, die ALPA-Arbeitslosenkasse, eingerichtet. Diese ALPA-Kasse steht unabhängig von Wirtschaftsbereichen oder Berufszweigen allen Erwerbstätigen, die bisher keiner Kasse beitreten konnten, offen. Auch wenn die schwedische Arbeitslosenversicherung heute noch einen freiwilligen Eintritt in die Versicherung voraussetzt, da sie auf dem Genter System beruht, werden durch die Reform 1997 alle Erwerbstätigen von der Arbeitslosenversicherung erfasst.284 Ein anderes wichtiges Zeichen der Reform 1997 ist, dass die Aufgabe der Leistung für die Erwerbstätigen, die sich der Arbeitslosenversicherung nicht anschließen oder trotz der Mitgliedschaft in einer Arbeitslosenkasse die Mitgliedsvoraussetzung für den Anspruch auf die einkommensbezogene Leistung nicht erfüllen, von der staatlichen Seite an die Arbeitslosenkassen übergeben wurde. Vor der Bewertung der Restrukturierung ist es kurz nötig, den gesetzlichen Status der Arbeitslosenkasse zu bedenken. Zwar sind die Arbeitslosen284 Heute sind beinahe 90 % der Erwerbstätigen der Arbeitslosenversicherung angeschlossen (Swedish Unimployment Insurance Board 2004). Dies ist ein viel höherer Anteil als Mitte der 70er Jahre, als nur 65 % in der Versicherung Mitglied waren (Elmér 1975: 123).
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kassen im ‚schwedischen Sinne ދprivate, also nichtstaatliche und eigenständige Organisationen, die meistens mit den Gewerkschaften oder den Selbständigenorganisationen verbunden sind. Aber die Geldleistungen der Arbeitslosenkassen sind ‚gesetzliche ދund ‚öffentliche ދArbeitslosenunterstützungen, die vom Staat einheitlich reguliert werden (Lindquist und Wadensjö 2006: 31, 57). Zweitens erbringt der Staat nicht nur die finanziellen Mittel für die einkommensbezogene Leistung und die Grundleistung, sondern auch die Verwaltungskosten der Arbeitslosenkassen werden überwiegend staatlich finanziert (Elmér u.a. 2000: 110; Elmér 1975: 90). Drittens werden alle Vorschriften und Aktivitäten der Arbeitslosenkassen gemäß dem ‚Gesetz über Arbeitslosenkassen( ދLag om arbetslöshetskassor) vom Staat strikt reguliert und beaufsichtigt. Auch wenn die schwedische Altersversicherung auf dem Genter System beruht, ist die Lage der Arbeitslosenkassen von dem Status der allgemeinen privaten Versicherungsinstitutionen, die üblicherweise im Markt gesehen werden, deutlich zu unterscheiden. Die schwedischen Arbeitslosenkassen sind somit faktisch als die Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung wie die Rentenversicherungsträger oder die Krankenkassen Deutschlands zu betrachten. Aufgrund des staatsnahen Status und der staatskontrollierten Organisation der Arbeitslosenkassen wird die Übergabe der Zuständigkeit für die Grundleistung von der staatlichen Seite an die Arbeitslosenkassen als ‚öffentlichkeitszentrierte ދRestrukturierung bewertet. Die Restrukturierung des ‚Ersatzesދ der KAS durch die Grundleistung kann also als eine Dezentralisierung in der öffentlichen Sphäre eingeschätzt werden. Die Restrukturierung der zwei Leistungen durch die Reform 1997 zielte vor allem auf die Verringerung der öffentlichen Ausgaben ab (Gould 2001: 139).285 5.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Zuerst ist eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzung sichtbar. Die Arbeitsvoraussetzung wurde von 5 Monaten auf 6 Monate erhöht. In den 70er Jahren gliederte sich das Arbeitslosengeld nach der Höhe der Verdienste der Versicherten in zehn Klassen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes 285 Um die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, Missbrauch der Arbeitslosenunterstützungen zu verhindern und Beschäftigungsaufnahme zu fördern, hatte die schwedische Regierung weitere radikale Reformen geplant: “to reduce the value of benefits; to increase contributions; to make benefits more difficult to get (more waitings days, stricter eligiblitiy rules); to make it easier to end people’s entitlement (limits on durations).” (Gould 2001: 139 f.) Allerdings hat die schwedische Regierung wegen des starken Widerstandes der Gewerkschaften viele Pläne aufgegeben. In der Folge hat die Reform 1997 – wie oben dargelegt – nur die marginalen Veränderungen hervorgerufen. Ausführlichere Erläuterung darüber findet sich in Gould 2001: 138 f.
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in jeder Klasse richtete sich nach der Einkommensersatzrate von etwa 90 % des letzten Bruttoeinkommens (Wilson 1979: 90). 1988 wurde das Arbeitslosengeld zu einer einkommensproportionalen Leistung, deren Höhe 90 % des letzten Verdienstes entsprach, umgestaltet (Lindquist und Wadensjö 2006: 34). Allerdings wurde das Leistungsniveau 1993 auf 80 % gesenkt und 1995 noch einmal auf 75 % verringert (Elmér u.a. 2000: 154). Parallel zur Reform 1997 wurde die Höhe wiederum auf 80 % erhöht. Jedoch ist die heutige Leistungshöhe von 80 % immer noch deutlich niedriger als das Leistungsniveau Mitte der 70er Jahre. In den 70er Jahren wurde das Arbeitslosengeld normalerweise für 300 Tage gewährt. Indessen kann heute für Arbeitslose die einkommensbezogene Leistung nach den 300 Tagen noch um bis zu 300 Tage verlängert werden. Demnach scheint die Bezugdauer sich verbessert zu haben. Jedoch ist faktisch das Gegenteil der Fall. Um dies ausführlich zu erklären, sollte zunächst nach jüngeren Arbeitslosen und alten Arbeitslosen, die sich dem Rentenalter annähern, differenziert werden. Wie in den 70er Jahren können die jüngeren Arbeitslosen heute auch nur für 300 Tage die einkommensbezogene Leistung beziehen. Wenn sie nach Ablauf der Bezugsdauer noch keine Arbeitsplätze finden, nehmen sie an aktiven Arbeitsmarktprogrammen teil. Die Verlängerung der einkommensbezogenen Leistung nach den ersten 300 Tagen ist zwar solange möglich, wie das Arbeitsvermittlungsbüro sich dafür entscheidet, dass die Arbeitslosen an den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen nicht teilzunehmen brauchen. Aber diesen Fortbezug erhalten faktisch nur alte Arbeitslose, deren Fortbildung aufgrund von Alter und Rentennähe dem Büro sinnlos erscheint. Die alten Arbeitslosen können also nach den 300 Tagen die einkommensbezogene Leistung anschließend für weitere 300 Tage erhalten. Diese Verlängerung ist jedoch nur einmal möglich. Nach Ablauf der zweiten 300 Tage gibt es für die alten Arbeitslosen keine Arbeitslosenunterstützungen mehr.286 Indessen konnten im altem System Arbeitslose über 60 Jahre – egal ob sie Mitglieder einer Arbeitslosenkasse waren oder nicht – eine Versorgungsleistung, also die KAS, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres erhalten. Wie bei den Verdienstersatzleistungen bei Krankheit sind die ‚allgemeinen Rentenbeiträge ދvon 7 % für die einkommensbezogenen Altersrenten in den Steuern der Arbeitslosenunterstützungen eingeschlossen. Also werden die Arbeitslosenunterstützungen ebenfalls faktisch als sozialabgabenpflichtig betrachtet. 286 Wenn die einkommensbezogene Leistung ausgelaufen ist und der alte Arbeitslose nicht an einer Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen kann, ist das letzte Sicherheitsnetz Sozialhilfe oder Altersrente. Zwar kann man infolge der Rentenreform 1998 seit 2001 ab dem 61. Lebensjahr die einkommensbezogenen Renten in Anspruch nehmen, aber die Garantierente wird erst ab dem 65. Lebensjahr gewährt.
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Die Maßnahmen zur Erhöhung des Anreizes zur Beschäftigungsaufnahme und zur Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme wurden sehr deutlich verstärkt. Beispielsweise wurden die Sanktionen sehr erhöht. In den 70er Jahren betrug die Dauer der Sanktion höchstens 28 Tage. Indessen kann heute der Leistungsbezug bis zu einer Dauer von 45 Tagen ausgesetzt werden. Hinsichtlich der Finanzierungsmodi ist die Zunahme der finanziellen Last der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen erkennbar. Während der Beitragssatz der ArbeitgeberInnen Mitte der 70er Jahre 0,4 % der Lohnsumme ihrer Beschäftigten betrug, beläuft er sich heute auf 5,84 %. Die Selbständigen zahlen für die Arbeitslosenversicherung Beiträge in Höhe von 3,30 % des Einkommens. In den 70er Jahren waren Arbeitslosenversicherungsbeiträge für Selbständige nicht vorhanden. Zurzeit werden 90 % der Gesamtausgaben für die Arbeitslosensicherung durch die Beiträge der beiden Gruppen abgedeckt. Indessen wurde die staatliche Etatbelastung sehr verringert. Während der Staat in den 70er Jahren aus allgemeinen Steuermitteln etwa 40 % der Gesamtausgaben erbrachte, ergänzt er heute nur bei Defizit mit einer Subvention aus Steuermitteln die Mittel für die Arbeitslosensicherung. Aus den Mitgliedsbeiträgen der Versicherten wurden 1976 etwa 25 % der Gesamtkosten der Arbeitslosensicherung finanziert. Heute werden ca. 10 % durch die Beiträge abgedeckt. Nach der Einführung der Beiträge der ArbeitgeberInnen für die Arbeitslosenversicherung wurde das Gewicht der Mitgliedsbeiträge bei den Gesamtkosten für die Arbeitslosensicherung erheblich vermindert. 1980 wurde der Anteil der Beiträge der Mitglieder auf unter 10 % der Gesamtkosten gekürzt (Olsson 1987: 54). Anfang der 90 Jahre betrug er etwa 5 % (vgl. Lißner und Wöss 1999: 210). Allerdings wurde durch die Reform 1997 die Höhe der Mitgliedsbeiträge gesteigert und der Anteil der Mitgliedsbeiträge an den Gesamtkosten wurde so erhöht (Elmér u.a. 2000: 110). 2002 wurde etwa 12 % der Gesamtausgaben der Arbeitslosenkassen aus den Mitgliedsbeiträgen finanziert (siehe Swedish Unimployment Insurance Board 2004). Der Regierungsplanung zufolge sollen in näherer Zukunft zu 20 % der Ausgaben aus dauerhaft steigenden Mitgliedereinnahmen der Arbeitslosenkassen finanziert werden, während die restlichen 80 % von den ArbeitgeberInnen und den Selbständigen erbracht werden sollen (Lißner und Wöss 1999: 213). Schließlich wurde 1998 das Ministerium für Arbeitsmarkt in das Ministerium für Industrie, Beschäftigung und Verkehr eingegliedert. Heute wird die Grundleistung von den Arbeitslosenkassen geleistet, die Sozialversicherungsorgane beteiligen sich nicht mehr an dem Arbeitslosensicherungsbereich.
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5.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen Im schwedischen Rentensystem entstand eine öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung durch den ‚Ersatz ދder alten Leistungen, Volksrente und Zusatzrente, durch die neuen Leistungen, Einkommensrente, Prämienrente und Garantierente. Im Grundrentenbereich wurde die Versorgungsleistung durch die Fürsorgeleistung ersetzt. Im Vergleich zu der früheren Volksrente wurden die Anspruchsvoraussetzungen der Garantierente deutlich verschärft. Im Bereich der einkommensbezogenen Rente wurde das ‚Defined-BenefitދSystem durch das ‚Defined-Contributionދ-System ersetzt. Die Regelung der 15 einkommensstärksten Jahre wurde abgeschafft und stattdessen wurde die starke Beitragsäquivalenz der Leistung hergestellt. Außerdem wurde das Element der privaten Altersvorsorge – die individuelle, aber staatlich vermittelte Anlage der staatlichen Rentenbeiträge auf dem Kapitalmarkt – innerhalb des staatlichen Rentengefüges eingeführt. Im neuen Rentensystem wird nicht nur der Preisanstieg wie im alten System berücksichtigt, sondern auch die reale Einkommenssteigerung wird in verschiedenartigen Dimensionen in die Betrachtung einbezogen. Außerdem wird die demografische Komponente bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Das Rentenniveau des neuen Systems wird voraussichtlich bestenfalls gleich hoch wie das Niveau des alten Systems sein. Wahrscheinlich wird es aber deutlich niedriger sein. Der Rentenzugang und die Höhe der Rente werden sehr flexibel. Unter dem neuen System können Rentenansprüche ohne Altersgrenze erworben werden. Zugleich ist die Grenze zwischen Arbeitsleben und Ruhestand undeutlich geworden. Die neuen Renten erweisen sich also als arbeitsfördernd. Die ‚Optingoutދ-Regelung für Selbständige wurde abgeschafft. Im neuen System wurden die Regelungen für die gesellschaftlich ‚bedeutenden ދbeitragslosen Zeiten eingeführt. Im neuen System wurde neben dem Umlageverfahren das Kapitaldeckungsverfahren eingeführt. Die Beiträge für die einkommensbezogenen Renten sind auf 18,5 % dauerhaft festgelegt. Zur Gewährleistung finanzieller Stabilität wurde die ‚automatische Bilanzierung ދim Umlagesystem eingeführt. Während die finanzielle Belastung der abhängig Beschäftigten zugenommen hat, wurden die Beiträge der ArbeitgeberInnen und die staatlichen Etatlasten vermindert. Ein neuer Rententräger für die Prämienrente, die PPM, wurde eingerichtet. In den Gesundheitsversorgungsbereich kam es zur öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung durch ‚Überantwortungދ. Die Verantwortungen für öffentliche Kostenübernahme für die Sektoren der ambulanten Versorgung und der Arzneimittelversorgung wurden von der zentralstaatlichen Ebene, also der sozialen
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Krankenversicherung, auf die regionale Ebene dezentralisiert. Demzufolge wurden die finanziellen Lasten des Zentralstaates reduziert. Indessen haben die finanziellen Belastungen der Provinziallandtage zugenommen. Um den Anreiz der Leistungserberinger zur Kostendämpfung und zur Effizienzsteigerung zu erhöhen, haben die Provinziallandtage das dezentralisierte Management, das Globalbudget sowie zum Teil das System der ‚regulierten Märkte ދeingeführt. Außerdem wurden radikale Maßnahmen zur Kürzung des Volumens des Gesundheitswesens durchgeführt. Mittlerweile haben die Selbstbeteiligungen erheblich zugenommen. Im Vergleich mit den 70er Jahren wurden die finanziellen Belastungen der Patienten deutlich erhöht. Im Bereich der Verdienstersatzleistung bei Krankheit entstanden die privatheitszentrierten Restrukturierungen durch die ‚Abschaffung ދder einheitlichen Leistung für die haushaltsführenden EhepartnerInnen und durch die ‚Einführungދ der Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen. Als Veränderungen innerhalb der Struktur können die Verringerung des Leistungsniveaus, die Erhöhung des Anreizes zur Arbeitsaufnahme und die Abschaffung der ‚Opting-outދ-Regelung für Selbständige genannt werden. Faktisch wurden zudem die Verdienstersatzleistungen bei Krankheit sozialabgabenpflichtig. Durch die Einführung der Entgeltfortzahlung wurden die finanziellen Belastungen des Staates reduziert. Im Bereich der Arbeitslosensicherung kam es zu einer öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung durch den ‚Ersatz ދdes Arbeitslosengeldes und der KAS durch die einkommensbezogene Leistung und die Grundleistung. Durch die Restrukturierung wurde die Zuständigkeit für die Grundleistung dezentralisiert und der erfasste Personenkreis bei der einkommensbezogenen Leistung erweitert. Außerdem wurden die Anspruchsvoraussetzungen verschärft. Das Leistungsniveau wurde reduziert und die Bezugsdauer wurde verringert. Die Maßnahmen zur Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme wurden ausgebaut. Faktisch wurden die Leistungen der Arbeitslosensicherung sozialabgabenpflichtig. Während die finanziellen Belastungen der ArbeitgeberInnen und der Selbständigen zunahmen, wurden die staatlichen Etatlasten und der Anteil der Beiträge der abhängig Beschäftigten an den Gesamtausgaben vermindert.
6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland als Beispiel eines konservativen Wohlfahrtsregimes
6.1 Einleitung 6.1 Einleitung 6.1.1 Ein historischer Abriss bis zur Mitte der 70er Jahre Deutschland ist der Pionierstaat, hier wurde zum ersten Mal auf der Welt eine Sozialversicherung im modernen Sinne eingeführt. Durch die Sozialversicherungsgesetze wurde 1883 die Krankenversicherung, im Jahr 1884 die Unfallversicherung und im Jahr 1889 die Alters- und Invalidenversicherung gegründet.287 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erstarkten der Widerstand der Arbeiterschaft und die sozialistischen Bewegungen (vgl. Fülberth 1977). 288 Der damalige Reichskanzler Bismarck wollte mit dem Konzept ‚Zuckerbrot und Peitsche ދdie politische Arbeiterbewegung mit ihren systemalternativen Forderungen unterdrücken. Durch das ‚Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ދ289 von 1878 wurden alle sozialistischen Organisationen sowie Versammlungen und Zeitungen verboten. Zugleich erhoffte Bismarck sich durch die Sozialversicherungen, die Arbeiterklasse in das patriarchalisch-monarchistische Staatsgefüge zu integrieren (Deppe F. 1995: 344; Deppe H.-U. 2002: 12-14; Butterwegge 2005: 38-46; Schmidt 1998: 23-36). So „waren die Absicherungen durch die Sozialversicherungen nicht als eine Art 287 Die Maßnahmen für die Beamtenversorgung wurden noch früher eingeleitet. 1873 wurde das Reichsbeamtengesetz eingeführt: „In den Ruhestand versetzte dienstunfähige Beamte erhalten Anspruch auf eine lebenslange Pension, wenn sie eine Dienstzeit von wenigstens 10 Jahren zurückgelegt haben; Mindestpension 20/80 des zuletzt bezogenen Diensteinkommens, Höchstpension 60/80 nach 50 Dienstjahren.“ (Frerich 1996: 101) Dieses Privileg für die Beamten in Deutschland, welches sich von den Regeln in Großbritannien oder in Schweden beträchtlich unterscheidet, existiert noch heute im Rahmen des Beamtenversorgungsgesetzes. 288 1863 wurde z.B. der ‚Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ދvon Ferdinand Lassalle gegründet. 1869 wurde die ‚Sozialdemokratische Arbeiterpartei ދvon August Bebel und Wilhelm Liebknecht ins Leben gerufen. Die beiden Parteien wurden 1875 unter den Namen ‚Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands ދvereinigt. Diese sozialistische Partei gewann schon 1877 bei den Wahlen zum Reichstag zwölf Plätze. 289 Der Titel des Gesetzes wurde üblicherweise als das ‚Sozialistengesetz ދabgekürzt.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
sozialer Mindestsicherung für alle Bürger gedacht, vielmehr wurden die Versicherungsstrukturen allein für die Arbeitnehmer entworfen.“ (Schmid 2002: 195) In der Krankenversicherung wurden die Mehrzahl der gewerblichen ArbeiterInnen, z.B. in Industrie, in Handwerk und in Handel, und die ‚bestimmten Angestellten ދ290 auf diesem Sektor pflichtversichert (Frerich 1996: 86). Die Krankenversicherung garantierte ihnen medizinische Sachleistungen und Krankengeld. Die Beiträge wurden zu einem Drittel von ArbeitgeberInnen und zu zwei Dritteln von den Versicherten bezahlt (Deppe 2002: 13). An die Einführung der Krankenversicherung anschließend wurden 1892 die Regelungen zum Kassenarztsystem291 geschaffen (Simon 2005: 23). In der Unfallversicherung wurden alle ArbeiterInnen von Industriebetrieben und die ‚bestimmten Angestellten ދauf diesem Sektor pflichtversichert. Das Unfallversicherungsgesetz zwang die ArbeitgeberInnen, auf eigene Kosten ihre ArbeitnehmerInnen gegen Betriebsunfälle zu versichern (Frerich 1996: 90). In der Invaliditäts- und Altersversicherung waren alle ArbeiterInnen und die ‚bestimmten Angestellten ދversicherungspflichtig (Lampert und Althammer 2004: 68). Invaliden mit einem Verlust der Erwerbsfähigkeit von mindestens zwei Drittel und Personen über dem 70. Lebensjahr wurde eine beitragsproportionale Rente gewährt. Diese Rente war im Allgemeinen so gering, dass sie gerade zur Überwindung einer wirtschaftlichen Notlage ausreichte. Die Renten wurden aus den gleich hohen Beiträgen des Versicherten und seines Arbeitgebers finanziert. Der Staat leistete Staatszuschüsse (Döring 1980: 17-23). Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens der Sozialversicherungen wurden nicht alle Absichten Bismarcks verwirklicht. Das von Bismarck vorgesehene Trägersystem der Sozialversicherung sah vor, dass unmittelbar der Staat zum Träger werden sollte. Im Parlament hatte dieser Plan aber, von den Liberalen und vom Zentrum abgelehnt, keine Chance. Diese Parteien fürchteten, dass die Regierung die Staatsgewalt mittels des Versicherungssystems in unitarischer Richtung erweitern könnte und die Demokratie in Form der Rechte des Parlaments so untergraben könnte. Aus den Reihen dieser Kritiker des Bismarckschen Ansatzes wurde der schließlich erfolgreiche Organisationsplan unterstützt: Es 290 Die ‚bestimmten Angestellten ދwaren die gegen Gehalt beschäftigten Personen mit einem Jahresverdienst von weniger als 2.000 Mark. Die Regelung über die ‚bestimmten Angestelltenދ galt nicht nur für die anfängliche Krankenversicherung, sondern auch für die anfängliche Unfall- und Rentenversicherung (siehe Frerich 1996: 80, 86, 90). 291 „Die Krankenkassen hatten durch ein Gesetz von 1892 das Recht erhalten, in ihrer Satzung die Zahl der erforderlichen Ärzte für definierte Versorgungsbereiche festzulegen und mit diesen Ärzten Einzeldienstverträge über die Versorgung ihrer Versicherten abzuschließen. Dem jeweiligen Arzt sicherte die einzelne Kasse im Gegenzug für die Behandlung der Versicherten die Vergütung der erbrachten Leistungen zu.“ (Simon 2005: 23)
6.1 Einleitung
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sollte territorial gegeneinander abgegrenzte Organisationen mit selbständiger autonomer Verwaltung geben, zu deren Kontrolle Organe, die jeweils paritätisch durch VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen und der ArbeitgeberInnen besetzt wurden, eingerichtet wurden (Schmidt 1998: 33 f.). Schließlich wurde der Vorschlag angenommen, dass für die Sozialversicherung und ihre Verwaltung Körperschaften mit Selbstverwaltung genutzt werden sollte. Es kam so zu einer Fortentwickelung der Fürsorge- und Versicherungseinrichtungen, die auf genossenschaftlicher, kommunaler und betrieblicher Grundlage beruhten. Diese korporatistische Tradition dauerte heute noch an. Nach dem Rücktritt von Bismarck 1890 kam es noch im Kaiserreich zu folgenden wichtigen Expansionen der Sozialpolitik: 1911 wurde die Hinterbliebensicherung für Witwen und Waisen gegründet (Frerich 1996: 81). Im selben Jahr wurde die ,Angestelltenversicherung ދals eine eigenständige Sozialversicherung für Angestellte geschaffen. Dabei wurde die Versicherungspflicht auf weitere Gruppen von Angestellten ausgedehnt (Boeckh u.a. 2004: 66 f.; Döring 1980: 26 ff.). Die Zeit der Weimarer Republik (1918 – 1933) ist durch die Ausnahmeverhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg, den Währungsverfall, die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre und permanente hohe Arbeitslosigkeitsraten charakterisiert (Deppe 2002: 14 f.). Unter solchen schlechten Bedingungen vollzogen sich trotzdem die Konsolidierung und der Ausbau des Sozialstaates. Dabei beeinflusste die SPD, die Regierungspartei in einer Koalition demokratischer Kräfte wurde, deutlich die Entwicklung des Sozialstaates (vgl. Schmidt 1998: 47). 1923 wurden die bis dahin vorhandenen fragmentarischen landesrechtlichen Regelungen zur Sozialversicherung der Bergleute im ‚Reichsknappschaftsgesetzދ zusammengefasst (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 55). 1924 wurde das öffentliche Fürsorgerecht eingeführt. Dadurch wurde die bis dahin bestehende Armenpflege durch das moderne Konzept der ‚öffentlichen Fürsorgeދ ersetzt (Boeckh u.a. 2004: 72 ff.). 1927 entstand mit der Einführung der Arbeitslosenversicherung der letzte der vier Stützpfeiler der Sozialversicherung.292 In der Arbeitslosenversicherung waren die krankenversicherungspflichtigen ArbeitnehmerInnen ebenfalls pflichtversichert. Die Arbeitslosenunterstützungen wurden durch Beiträge – je zur Hälfte von ArbeitnehmerInnen und Arbeit292 Durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung wurden die zuvor bestehenden Fürsorgeleistungen und Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung für Erwerbslose, welche zum einem seit der Zeit der Industrialisierung die Arbeitervereinigungen oder die Verbandskassen geleistet hatten und zum anderen seit 1918 die Gemeinden gewährt hatten, zur Form einer Zwangsversicherung mit den deutschlandweit einheitlichen Vorschriften umgesetzt. Dabei wurde für die Verwaltung der Arbeitslosenunterstützungen die ‚Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ދerrichtet, die die Vorgängerin der heutigen Bundesanstalt für Arbeit ist (vgl. Schmidt 1998: 51 ff.; Butterwegge 2005: 49 ff.).
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geberInnen – und öffentliche Zuweisungen finanziert (Butterwegge 2005: 50; Frerich 1996: 93 f.). Die Sozialpolitik im nationalsozialistischen Deutschland (1933 – 1945) wurde in allen Teilen konsequent auf das totalitaristische und rassistische Politiksystem und seine Zielsetzungen ausgerichtet. Beispielsweise „wurde die Selbstverwaltung erheblich eingeschränkt bzw. aufgelöst und das ,Führerprinzip‘ eingeführt. Die Versicherungseinrichtungen erhielten nunmehr einen von der Staatsführung bestimmten Leiter.“ (Lampert und Althammer 2004: 83; Hervorhebung im Original) Aber selbst diese finstere Zeit überstanden die Sozialversicherungen, ja sie wurden zu dieser Zeit weiter ausgebaut. Dieser Ausbau der Sozialversicherung vollzog sich dadurch, dass die Sozialversicherungspflicht auf bestimmte Selbständige ausgeweitet wurde, beispielsweise auf Artisten, Hausgewerbetreibende, selbständige LehrerInnen und ErzieherInnen, Hebammen, Wochenpflegerinnen u.a. (Simon 2005: 25; Lampert und Althammer 2004: 83). Darüber hinaus wurde 1938 eine eigene Zwangsversicherung für selbständige HandwerkerInnen gegen die Risiken des Alters, der Invalidität und der Witwenund Waisenschaft geschaffen (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 105). 293 1941 erhielten auch RentnerInnen einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Krankenversicherung (Frerich 1996: 82). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet.294 Von 1950 bis 1970 erfuhr die Bundesrepublik eine lange Prosperitätsphase (hierzu ausführlich Frerich und Frey 1996: 22-28). Die zum ‚Wirtschaftswunder ދführende Wirtschaftspolitik der bürgerlichen CDU/CSU geführten Regierung war die ‚Soziale Marktwirtschaftދ. Sie beruhte im Wesentlichen auf dem ‚Ordo-Liberalismusދ, der zwar im Neoliberalismus der 30er Jahre wurzelte, aber auf eine sozial gebundene Marktwirtschaft ausgerichtet war (Boeckh u.a. 2004: 97). „[Ordo-Liberalismus] verfolgte das Ziel, private Wirtschaften durch staatliche Rahmensetzung zu lenken: Diese Ordnungspolitik zielte darauf, Entwicklungen zu unterbinden, die das Marktgeschehen verfälschen, wie etwa Absprachen und Kartellbildungen. Ansonsten hatte der Staat durch Geld- und andere Teilpolitiken die Marktentwicklung zu befördern und nur dann einzuschränken, wenn ansonsten eine Blockierung der Marktdynamik drohte.“ (Boeckh u.a. 2004: 97 f.)
293 Die Handwerkerversicherung wird als die erste Einbeziehung einer ‚großen ދSelbständigengruppe in die Versicherungspflicht bezeichnet (Frerich 1996: 82). 294 Diese Arbeit behandelt die sozialen Sicherungssysteme der Deutschen Demokratischen Republik nicht. Es wird lediglich die Sozialpolitik des westdeutschen Sozialstaates und anschließend der vereinigten Bundesrepublik Deutschland untersucht.
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Die Kombination der auf laissez-faire beruhenden Marktbedingungen und der restriktiven Fiskal- und Geldpolitik der Regierung ermöglichte das rasche Wirtschaftswachstum mit Preisstabilität. Dabei wurde streng untersagt, dass der öffentliche Haushalt schneller als das BIP wuchs. Die staatliche Regulierung der Produktion und Arbeitsmärkte wurde soweit wie möglich eingeschränkt (EspingAndersen 1990: 169; Rimlinger 1971: 140-148). Dieses deutsche Leitbild der Nachkriegszeit war für die Expansion der sozialen Sicherungssysteme verglichen mit anderen Ländern wie Schweden, die auf der keynesianischen Wirtschaftspolitik basierten, deutlich ungünstig. Trotzdem konnten die Verteilungsspielräume wegen der durch den außergewöhnlichen Wirtschaftsaufschwung erreichten Wachstumsrate und Prosperität erweitert werden. Sie ermöglichten auch in Deutschland den Ausbau der sozialen Sicherung (Butterwegge 2005: 67 f.; Lampert und Althammer 2004: 89). Allerdings war die Entwicklung der Sozialsysteme eher ‚mittelstandsorientiert ދdenn wie in Schweden oder in Großbritannien für alle BürgerInnen gleichheitsorientiert. Der Ausbau der sozialen Sicherung beruhte im Wesentlichen auf traditionellen christlichen Werten, also Familismus und Subsidiarität (vgl. Kaufmann 2003b: 135 ff.).295 1966 wurde die SPD zum ersten Mal in der Nachkriegszeit die Regierungspartei in einer Koalition unter CDU/CSU-Führung. Im Unterschied zur bis dahin gültigen Politik der CDU/CSU brachte die SPD Ansätze der auf dem Keynesianismus beruhenden ‚mixed economy ދbzw. der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik in die Regierungspolitik ein (Esping-Andersen 1990: 169 f.; Boeckh u.a. 2004: 117-120).296 Nachdem die ‚Große Koalition ދunter anderem an unterschiedlichen Vorstellungen zur Sozialpolitik gescheitert war, bildete die SPD 1969 mit der FDP eine ‚sozialliberale ދKoalition und leitete eine Neuordnungs- sowie Expansionsphase des Sozialstaates ein (Simon 2005: 28; Pilz 2004: 37 f.; Fülberth 1983: 67-86). Jedoch wurde der sozialstaatliche Ausbau auf der Grundlage der Sozialdemokratie bald wieder durch die Wende zum Sparkurs ersetzt (Schmidt 1998: 98). Angesichts der seit 1974 andauernden Öl- und Wirtschaftskrise begann die 295 Als ein typisches Beispiel kann Adenauers 1957er Rentenreform erläutert werden. Durch die Reform wurden die staatlichen Renten von beitragsproportionalen auf einkommensproportionale Leistungen umgestellt. In der Folge erreichten die konservativen politischen Kräfte durch die Beibehaltung und Erweiterung des hierarchischen statusdifferentiellen Sozialversicherungssystems die Loyalität der neuen Mittelschichten (Esping-Andersen 1990: 25). Die Reform wurde von Wilfred Schreiber konzipiert, der katholischer Sozialtheoretiker und Sekretär des Bundes Katholischer Unternehmer war. 296 Als ein Beispiel kann das ,Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ދdes Jahres 1967 erläutert werden. Durch das Gesetz wurde der Bundesregierung das Recht gegeben, für die Stabilität der Volkwirtschaft auf der Grundlage des Keynesianismus in der Ökonomie zu intervenieren. Dies geschah auf Druck des Koalitionspartners SPD (hierzu ausführlich Boeckh u.a. 2004: 118).
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Politik der sozialen Kürzung und Demontage schon seit Mitte der 70er Jahre (Deppe u.a. 1977: 456 f.; Alber 1989: 286; Schmid 2002: 107). Schließlich musste die SPD Anfang der 1980er Jahre der CDU/CSU die Macht übergeben. Die konservativen Kräfte, die eine „restriktive Sozialpolitik“ (Pilz 2004: 40) verfolgten, beherrschten wiederum Deutschland 17 Jahre lang.297 Im Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 70er Jahre traten folgende wichtige Ereignisse bei der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung ein: 1951 wurde die Struktur der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wieder hergestellt. 1954 wurde in Deutschland das Kindergeld 298 eingeführt (Frerich 1996: 83, 97). Mit der Rentenreform im Jahr 1957 wurden die Renten von beitragsproportionalen auf einkommensproportionale Leistungen umgestellt (Esping-Andersen 1990: 25). Zuvor wurde „die Rente nach dem Geldbetrag berechnet, den die Beiträge ausmachten, als sie gezahlten wurden.“ (Auerbach 1971: 227)299 Nach der Reform wurden die Höhe der früheren Arbeitsentgelte und die Versicherungsjahre des einzelnen Versicherten die Grundlage der Rentenberechnung. Außerdem wurde die Dynamisierung der Renten, also die Anpassung der Renten an die Steigerung der Bruttolöhne und -gehälter der Versicherten, geschaffen, sodass die Renten der Einkommensentwicklung der ArbeitnehmerInnen folgen (Schmidt 1998: 81; Kaufmann 2003a: 283 f.). Infolge der Rentenreform 1957 297 Im Zuge der Ölkrise und der Wirtschaftskrise 1974 und 1980-82 kam der deutsche Wohlfahrtsstaat in starke finanzielle Bedrängnis. Das Wirtschaftswachstum sank ständig und die Inflationsraten und die Arbeitslosenquoten stiegen drastisch. Während die Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes, die Inflationsrate und die Arbeitslosenquote im Jahr 1969 jeweilig 7,4 %, 2,1 % und 0,8 % betrugen, befanden sie sich 1975 bei –1,1 %, 5,9 % und 4,6 %. Im Jahr 1982 betrugen sie jeweilig –1,1 %, 5,2 % und 7,2 % (siehe Bührer 2001: 15, Tabelle – Gesamtwirtschaftliche Entwicklung 1969-1985). Außerdem sanken die Einnahmen des Staates, während die Ausgaben sprunghaft anstiegen. Dies führte zu steigenden Haushaltsdefiziten der deutschen Regierung. Vor diesem Hintergrund hat die SPD-Regierung von Helmut Schmidt im Jahr 1975 das ‚Haushaltsstrukturgesetz ދverabschiedet, das die Möglichkeiten verbesserte, staatliche Ausgaben zu kürzen: „Das Haushaltsstrukturgesetz zur Enthaltung des Bundeshaushaltes von 1975 leitete die ,Sozialpolitik der mageren Jahre‘ ein und mündete in eine Reihe von Gesetzen, mit denen Sozialleistungen zurückgeschraubt wurden“ (Schmidt 1998: 98; Hervorhebung im Original). Von dieser Zeit an wurden die sozialen Sicherungssysteme den Schrumpfungsanforderungen ständig untergeordnet. Seit 1982 verschärfte die CDU-Regierung von Helmut Kohl diese politische Richtung weiter. Durch die ‚Sparpolitik ދkonnten die Sozialausgaben bis Ende der 80er Jahre auf unter 30 % des BIP gesenkt werden (Schmid 2002: 117f.). 298 1935 war von den Nationalsozialisten die ‚Kinderbeihilfe ދeingeführt worden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde sie jedoch wieder abgeschafft. Erst nach 10 Jahren wurde das Kindergeld, das auf dem Versorgungsprinzip beruht, erneut eingeführt. 299 Ausführlichere Informationen über die frühere Rente finden sich in Störer 1976: 25 f.
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wurde das Renteniveau angehoben und die Lohnersatzfunktion der Rente sehr deutlich verstärkt. Demzufolge wirkt sie nun statuserhaltender.300 Im selben Jahr wurde die ,Altershilfe für Landwirte ދgeschaffen, die eine öffentliche Altersvorsorge für landwirtschaftliche UnternehmerInnen ist (Zacher 2001: 546). Durch die Rentenreform im Jahr 1972 wurden in der Rentenversicherung folgende Maßnahmen eingeführt, bei denen Selbständige und nicht erwerbstätige Personen bevorzugt wurden: Selbständig Erwerbstätige, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen in der Rentenversicherung nicht pflichtversichert waren, konnten auf Antrag die Versicherungspflicht für sich herbeiführen. Ihnen wurde das Recht gegeben, innerhalb von 2 Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit einen Antrag auf Einbeziehung in die Rentenversicherungspflicht zu stellen. Außerdem hatten alle Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz hatten, die Möglichkeit, freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten (Frerich und Frey 1996: 53 f.).301 Im Krankensicherungsbereich kann die Einführung der Lohnfortzahlung im Jahr 1957 als die erste bedeutende Reform der Nachkriegszeit erwähnt werden. Bis dahin hatten Angestellte einen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts für sechs Wochen. Demgegenüber bekamen ArbeiterInnen nur ein Krankengeld in Höhe von 50 % des Grundlohns von ihrer Krankenkasse (Simon 2005: 28). Nach schweren Arbeitskämpfen, vor allem dem sechswöchigen Metallarbeiterstreik in Schleswig-Holstein, wurde das Lohnfortzahlungsgesetz 1957 zur Gleichstellung von ArbeiterInnen und Angestellten im Krankheitsfall eingeführt. Die ArbeitgeberInnen hatten für die Leistung in Höhe von 90 % des Nettoentgeltes bei Krankheitsfall der ArbeiterInnen Zuschüsse an die Krankenkassen zu zahlen (Frerich 1996: 103). Nach der Novellierung des Lohnfortzahlungsgesetzes im Jahr 1969 wurde ab 1970 die Aufgabe der Lohnfortzahlung für ArbeiterInnen von der Krankenversicherung auf die ArbeitgeberInnen übertragen. Seitdem erhalten alle ArbeitnehmerInnen im Fall ihrer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit für die ersten sechs Wochen das durch die ArbeitgeberInnen weiter300 Anders als in Schweden und in Großbritannien gibt es allerdings in Deutschland bisher keine Grundrente. „Eine generelle Aufstockung von geringfügigen Rentenbeträgen auf ein Mindestniveau ist nicht vorgesehen. Sehr geringe »Einzahlungen« ergeben auch sehr geringe Renten.“ (Lißner und Wöss 1999: 103) 301 Diese Rentenreform 1972 wurde häufig als „Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für alle Bürger“ (Frerich 1996: 84) bewertet. Allerdings unterscheidet sich das deutsche System (die Versicherungspflicht auf Antrag in der begrenzten Zeit für Selbständige und das Recht für die ‚freiwillige ދVersicherung für nicht versicherungspflichtige Personenkreise) unter dem Aspekt des erfassten Personenkreises erheblich vom schwedischen oder britischen Rentensystem. Die beiden Länder entwickelten die ‚Pflichtversicherung ދfür alle Erwerbstätigen bzw. die gesamte Bevölkerung.
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bezahlte Arbeitsentgelt (Deppe 2002: 18; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 153).302 1972 wurden die Bundesländer verpflichtet, „den Bedarf an Krankenhausleistungen zu ermitteln und die zur Deckung des Bedarfs notwendigen Krankenhäuser und Betten in einem Landeskrankenhausplan aufzuführen.“ (Simon 2005: 31)303 Seitdem hat sich im Krankenhaussektor ein duales Finanzierungssystem herausgebildet (Deppe 2002: 19): „Die Finanzierung der Krankenhäuser obliegt den Ländern, soweit Investitionen in Betracht kommen, und den Krankenkassen, soweit es sich um die laufenden Betriebskosten handelt.“ (Specke 2001: 432) Im ambulanten Versorgungssektor honorieren die Krankenkassen ebenso wie früher über einen Versorgungsvertrag die Ärzte.304 Anfang der 1970er Jahre fand zudem eine Ausweitung der Versicherungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auf weitere Schichten der Bevölkerung statt: 1972 wurde die Krankenversicherung der selbständigen Landwirte geschaffen (Deppe 1980: 113). 1975 wurden Behinderte und StudentInnen in die pflichtversicherten Gruppen der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen (Rosenbrock und Gelinger 2004: 35; Simon 2005: 30). 302 Dies führte drüber hinaus folglich zu einer deutlichen Ausgabenentlastung der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf die Kosten für das Krankengeld entfielen 1965 25 % der Gesamtausgaben. Nach der Reform blieb der Anteil bis 1975 unter 10 % (Simon 2005: 29). 303 Die Maßnahmen hatten dabei die Bedeutung der staatlichen Reaktion gegen die bis dahin als soziale Frage aufgeworfene Unterfinanzierung, die unzureichende Modernisierung und den erheblichen Personalmangel im Krankhausbereich (siehe Simon 2005: 27, 31). 304 Die Krankenhäuser in Deutschland werden von öffentlicher, freigemeinnütziger oder privater Trägerschaft betrieben (zu den Anteilen der öffentlichen, freigemeinnützigen und privaten Krankenhäuser an der Gesamtzahl der Krankenhäuser siehe den Unterabschnitt ‚6.4.2.1.1 Restrukturierung)ދ. Allerdings nimmt der Unterschied der Trägerschaft gar keinen Einfluss auf die Versorgungsverträge, die die Träger der Krankenversicherung mit den Krankenhäusern bezüglich der Vergütung ihrer laufenden Betriebskosten abschließen. Auch bezüglich der Verträge über die Zuweisung der Investitionsförderung seitens der Bundesländer gibt es keine trägerbedingten Unterschiede im Umgang mit den Krankenhäusern. Die soziale Krankenversicherung selbst bietet medizinische Dienste in eigenen Einrichtungen im Allgemeinen nicht an. Die Krankenkassen schließen für ambulante Versorgung ihrer Versicherten einen Vertrag mit den Ärzten ab. Diese Ärzte, also Vertragsärzte oder Kassenärzte, sind privat niedergelassene Ärzte mit eigener Praxis. Etwa 98 % aller niedergelassenen Ärzte nehmen heute an der vertragsärztlichen Versorgung teil (Rosenbrock und Gelinger 2004: 107) und erbringen zu Lasten der gesetzlichen Krakenversicherung medizinische Leistungen. Die Hauptaufgabe der sozialen Krankenversicherung ist, bei Krankheit ihrer Versicherten anfallende Kosten zu decken. Die Krankenversicherung schützt die privaten Haushalte vor den wirtschaftlichen Auswirkungen von Krankheiten. Darüber hinaus hat die Krankenversicherung auch für das gesamte Gesundheitswesen eine große Bedeutung. Der Leistungskatalog der Kassen bestimmt „das Angebot an medizinischen, vor allem ärztlichen Leistungen. Die Krankenversicherung wirkt durch ihre Preis-, Honorar- und Gebührenpolitik auf die Struktur und die Leistungsfähigkeit des medizinischen und pharmazeutischen Angebots ein.“ (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 151).
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Das große Ereignis in dem Bereich der Arbeitslosensicherung war die Einführung des ‚Arbeitsförderungsgesetzes ދdes Jahres 1969. Bei dem Gesetz handelte es sich um „die Ergänzung der passiven Arbeitsmarktpolitik – Arbeitslosengeld und -hilfe – um die aktive Arbeitsmarktpolitik“ (Schmid 2002: 106): Dies wurde konzipiert, um die Geldleistungen durch das Angebot der verbesserten Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung, Berufsbildung, Umschulung und Weiterqualifizierung von Arbeitskräften effektiver zu machen. 6.1.2 Die Auswertung der Entwicklung der deutschen sozialen Sicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg In den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland eine beträchtliche Erweiterung in Bezug auf die Art und den Umfang der Leistungen sowie die erfassten Personenkreise. Aber die sozialen Sicherungssysteme sind ebenso wie in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg noch nach Berufsgruppen differenziert organisiert. In deutschen sozialen Sicherungssystemen dominiert von drei Gestaltungsprinzipien ebenso wie früher noch das Versicherungsprinzip. Das alle BürgerInnen umfassende Versorgungsprinzip spielt eine sekundäre, marginale Rolle. Ein wichtigeres Problem ist das Fehlen von Veränderung der grundlegenden Rahmen der sozialen Sicherungssysteme, die sich vornehmlich auf den Schutz der abhängig Beschäftigten in den ‚Normalarbeitsverhältnissen ދausrichten. Die neu eingeführten Maßnahmen für Selbständige transformierten die grundlegenden Rahmen nicht: Es wurde nur einige Gruppen der Selbständigen den bestehenden Sozialversicherungen für die ArbeitnehmerInnen hinzugefügt. Für einige andere Gruppen der Selbständigen wurden eigene spezifische Institutionen, z.B. die öffentliche Altersvorsorge für Landwirte oder die Versorgungswerke für freiberuflich Selbständige305, eingerichtet. Anders als Großbritannien oder Schweden schuf Deutschland in der Nachkriegszeit kein universalistisches System, im dem ArbeitnehmerInnen, Beamte, Selbständige, ja im Endeffekt alle BürgerInnen umfassend eingeschlossen sind. Das Deutschland der Nachkriegszeit wird also so bewertet, dass es bei der auf
305 Die Versorgungswerke sind das öffentliche Alterssicherungssystem für kammerfähige freie Berufe. Ärzte, Steuerberater, Architekten, Rechtsanwälte, Apotheker usw. werden in den Versicherungs- und Versorgungseinrichtungen auf landesgesetzlicher Grundlage pflichtversichert. Die ersten Versorgungswerke wurden in den 1920er Jahren gegründet. In den 1950er Jahren wurden die zahlreichen weiteren Versorgungseinrichtungen für die freiberuflich Selbständigen errichtet (siehe Frerich 1996: 100 f.).
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der ‚Solidarität ދberuhenden Herausbildung der sozialen Sicherungssysteme scheiterte (Rimlinger 1971; Baldwin 1990).306 6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre 6.2.1 Die Alterssicherung 6.2.1.1
Die Leistungsarten
Die soziale Rentenversicherung gewährte eine einkommensbezogene Altersrente.307 306 Ausführliche Erklärungen über das Scheitern Deutschlands auf dem Weg zum solidarischen Wohlfahrtsstaat in der Nachkriegszeit bieten Baldwin 1990: 158-207 (Kapitel 3: The Failure of the Solidaristic Welfare State: France and Germany) und Rimlinger 1971: 137-192 (Kapitel 5: Social Security Reform in Postwar Germany: Comparisons with Great Britain). 307 In der Mitte 70er Jahre fanden sich in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt sieben Arten der öffentlichen Alterssicherungssysteme. Diese beruhten auf unterschiedlichen Gesetzen: Arbeiterrentenversicherung auf der Reichversicherungsordnung; Angestelltenversicherung auf dem Angestelltenversicherungsgesetz; Knappschaftliche Rentenversicherung auf dem Reichsknappschaftsgesetz; Rentenversicherung der Handwerker auf dem Handwerkerversicherungsgesetz; Rentenversicherung der Landwirte auf dem Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte; Alterssicherung der freien Berufe auf den verschiedenen Landesgesetzen; und Beamtenversorgung auf dem Beamtenversorgungsgesetz. Davon waren die Regelungen für die Arbeiterrentenversicherung und die Angestelltenversicherung identisch. Mit Ausnahme von der Höhe der Beiträge und der Rentenhöhe folgte die Knappschaftliche Rentenversicherung ebenfalls den Vorschriften der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten. Die Rentenversicherung der Handwerker hatte auch mit einigen Unterschieden, z.B. der Pflichtversicherungsdauer und der Höhe der Beiträge, die Grundsätze, die für die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten galten. Zudem wurde die Rentenversicherung der Handwerker durch die Träger der Rentenversicherung der Arbeiter durchgeführt. Die Rentenversicherung der Landwirte, die Alterssicherung der kammerfähigen freien Berufe und die Beamtenversorgung waren ganz anderen Regelungen als die obigen vier öffentlichen Rentensysteme unterworfen. Die Rentenversicherung der Landwirte bestand aus einheitlichen Beiträgen und Leistungen ohne Bezug zum vorherigen Einkommen. Die Alterssicherung der kammerfähigen freien Berufe beruhte meist auf Grund von Landesgesetzen auf eigenen Versorgungswerken. Die Art und Höhe der erbrachten Leistungen variieren stark von Land zu Land und von Kammer zu Kammer. Schließlich wurden beamtenrechtliche Leistungen, z.B. Ruhegehalt oder Hinterbliebenenversorgung, nach dem Versorgungsprinzip gewährt. Gegen Anfang der 70er Jahre betrug die Anzahl der Pflichtversicherten der öffentlichen Rentensysteme wie folgt:
6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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6.2.1.2 Der erfasste Personenkreis Versicherungspflichtig waren hauptsächlich ArbeiterInnen und Angestellte. Neben den ArbeitnehmerInnen waren die folgenden Selbständigen auch versicherungspflichtig: Hausgewerbetreibende, HeimarbeiterInnen, KüstenfischerInnen und KüstenschifferInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, MusikerInnen, ArtistInnen, Kinder-, Säuglings-, Wochen- und Krankenpflegepersonen, Hebammen sowie HandwerkerInnen. Außerdem konnten die Selbständigen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen nicht pflichtversichert waren, innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit einen Antrag auf Einbeziehung in die Versicherungspflicht stellen. Es galten im Übrigen als Pflichtversicherte unter anderen folgende Personengruppen: Wehr- und Ersatzdienstleistende, EmpfängerInnen von Übergangs-
Tabelle 14: Die Zahl der Pflichtversicherten der öffentlichen Rentensysteme in den 70er Jahren (in 1000) Art des Rentensystems Arbeiterrentenversicherung Angestelltenversicherung Knappschaftliche Rentenversicherung Rentenversicherung der Handwerker Rentenversicherung der Landwirte Alterssicherung der freien Berufe Beamtenversorgung
Anzahl der Pflichtversicherten 15.900 10.200 316 146 746 100 1.5001
1: Da die Beamtenversorgung auf dem Versorgungsprinzip beruhte, hatte sie in sich kein Konzept der Pflichtversicherung. Somit war es die Zahl der Beamten (ohne Soldaten), die bei Bund, Ländern und Gemeinden beschäftigt wurden. Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 58, 106, 110,119, 125; eigene Darstellung Von den sieben öffentlichen Rentensystemen behandelte diese Arbeit lediglich die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, die die beiden deutlich größten der sieben genannten Rentenversicherungen war. Die Rentenarten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten waren in Altersrente, Hinterbliebenenrenten (Witwenrente, Witwerrente und Waisenrente) und Renten wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit unterteilt. Anfang der 70er Jahre finanzierten neun Zehntel der Alten, Invaliden, Witwen und Waisen ihre Lebensunterhaltskosten zum größten Teil aus den Leistungen der sozialen Rentenversicherung für die ArbeitnehmerInnen (Minister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 49). Bei der Analyse dieser Arbeit wird von den drei Rentenarten lediglich auf die Altersrente eingegangen, weil die anderen Renten nicht auf die Abdeckung des Altersrisikos zielen.
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geld308 und Behinderte in anerkannten Werkstätten309 (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 59 f.; Ströer 1976: 54-59). 6.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Versicherte, die das 65. Lebensjahr vollendet hatten, erhielten Altersrente. Die Wartezeit, d.h. die Mindestversicherungszeit, betrug 15 Beitrags- oder Ersatzjahre310 (Lampert 1980: 244). Im deutschen Rentensystem konnten die Rentenansprüche bis zum Altersrentenbezug erworben werden (Ströer 1976: 17, 59). Gegenüber der ‚Normalrente ދbestanden in Deutschland vier Arten von vorzeitigen Renten: Die Versicherten, die das 63. Lebensjahr vollendet hatten, konnten auf ihren Antrag hin eine vorgezogene Altersrente erhalten. Die Ver308 Solange sich die Versicherten der Rentenversicherung in der Kur oder in einem Berufsförderungswerk für Rehabilitation befanden, wurde das Übergangsgeld in Höhe von 80 % ihres Regellohns gewährt (siehe Ströer 1976: 90). 309 Unter ‚Behinderten in anerkannten Werkstätten ދin der Sozialversicherung versteht man die Behinderten, die in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen oder in anerkannten Blindenwerkstätten sowie in Anstalten, Heimen oder vergleichbaren Einrichtungen, in denen die Behinderten in gewisser Regelmäßigkeit eine Beschäftigung ausüben, beschäftigt sind. Die behinderten Menschen sind unabhängig von der Verdiensthöhe versicherungspflichtig (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002c: 14, 70). 310 Zu anrechnungsfähigen Versicherungsjahren für die Rente zählten Beitragszeit, Ersatzzeit, Ausfallzeit und Zurechnungszeit: Beitragszeiten waren die Zeiten, für die die Beiträge wirksam entrichtet wurden. Die Beiträge wurden grundsätzlich von den ArbeitgeberInnen und den Versicherten paritätisch gezahlt. Bei Wehr- und Ersatzdienstleistung wurde der Beitrag vom Bund getragen. Bei der Berechnung dieses Beitrags wurde einheitlich ein Durchschnittverdienst aller Versicherten zugrundegelegt (Ströer 1976: 74). Die Ersatz-, Ausfall-, und Zurechnungszeiten wirkten ohne Beitragsleistung rentenbegründend und rentenerhöhend: Ersatzzeiten waren von den Versicherten nicht selbst zu verantwortende Zeiten fehlender Beitragszahlung: Kriegsgefangenschaft, Kriegsdienst oder Inhaftierung im Nationalsozialismus oder in der DDR (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 83). Ausfallzeiten waren Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit, Zeiten, in denen Schlechtwettergeld bezogen wurde, Zeiten von Arbeitslosigkeit, Zeiten der Schwangerschaft etc. Zurechnungszeit war die Zeit zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalls und der Vollendung des 55. Lebensjahres des Versicherten. Bei Versicherten, die vor dem 55. Lebensjahr berufsunfähig oder erwerbsunfähig geworden waren, wurde die Zeit zwischen dem Versicherungsfall und dem 55. Lebensjahr bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zu den übrigen Versicherungszeiten hinzugerechnet (Ströer 1976: 35-38). Die Anrechnung der Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten erfolgte aber nur, solange die Versicherten besondere Voraussetzungen erfüllten. Zum Beispiel wurden die Zeiten dann angerechnet, wenn die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalls mindestens zur Hälfte mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt war (sog. ‚Halbdeckung)ދ. Für ausführlichere Informationen über unterschiedliche besondere Voraussetzungen für die Anrechnung der Ersatz-, Ausfall-, und Zurechnungszeit siehe Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 83-86.
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sicherten, die anerkannte Schwerbeschädigte oder berufsunfähig oder erwerbsunfähig waren, konnten ab dem 62. Lebensjahr eine vorzeitige Altersrente erhalten. Für den Bezug der beiden vorzeitigen Altersrenten wurde eine Erbringung von mindestens 35 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren, in denen 15 Beitragsoder Ersatzjahre vorhanden sein mussten, vorausgesetzt (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 74 f.). Frauen, die in den letzten 20 Jahren vor der Rentenantragstellung Beiträge für mindestens 121 Kalendermonate geleistet hatten, konnten ab Vollendung des 60. Lebensjahres eine vorgezogene Altersrente beziehen. Die Versicherten, die innerhalb von 1,5 Jahren vor der Antragstellung mindestens 52 Wochen arbeitslos gewesen waren, konnten auch ab dem 60. Lebensjahr eine Altersrente beziehen. Die vorzeitigen Renten für Frauen und Arbeitslose setzten eine Wartezeit von 15 Beitrags- oder Ersatzjahren voraus (Lampert 1980: 244). Anders als die vorzeitige Rente des früheren schwedischen Systems führte in Deutschland der vorgezogene Bezug vor dem 65. Lebensjahr nicht zu Rentenabschlägen (Ströer 1976: 43). Man konnte nach Vollendung des 65. Lebensjahres den Beginn der Altersrente aufschieben. Dabei erhielt der Versicherte für jeden Monat seines Rentenverzichtes zwischen dem 65. und 67. Lebensjahr einen besonderen Rentenzuschlag (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 86; Ströer 1976: 18). 6.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Bei der Rentenberechnung waren vor allem die Höhe der Arbeitsentgelte der einzelnen Versicherten und die Dauer der Berufstätigkeit ausschlaggebend. Die Jahresrente errechnete sich aus folgenden vier Faktoren.
286
6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Schaubild 7:
Die Rentenformel der deutschen Rentenversicherung der 70er Jahre Jahresrente = (P x B) x (J x St)
P:
Prozentsatz der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage (Verhältnis zwischen dem Bruttoarbeitsentgelt des einzelnen Versicherten zu dem Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten)
B:
Allgemeine Bemessungsgrundlage (Durchschnittliches Bruttojahresentgelt aller Arbeiter und Angestellten im Mittel des dreijährigen Zeitraums vor dem Kalenderjahr, das dem Jahr des Versicherungsfalles vorausgegangen ist)
J:
Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (Zahl der Beitragszeiten, Ersatzzeiten, Ausfallzeiten und Zurechnungsjahre)
St:
Steigerungssatz je anrechnungsfähigem Versicherungsjahr (Rente wegen Berufsunfähigkeit – 1,0 %; Rente wegen Erwerbsunfähigkeit – 1,5 %; Altersrente – 1,5 %)
P x B: Persönliche Bemessungsgrundlage J x St: Vomhundertsatz für alle Versicherungsjahre Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 76; eigene Darstellung
Der ‚Prozentsatz der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage( ދP) drückte in erster Linie das Verhältnis des Bruttoarbeitsentgeltes des einzelnen Versicherten zum Durchschnittsentgelt aller Versicherten aus (Ströer 1976: 26). Für jedes Beitragsjahr wurde das Arbeitsentgelt bis zur für das Jahr geltenden Beitragsbemessungsgrenze311 durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten des betreffenden Jahres geteilt und mit 100 multipliziert. Daraus wurde der ‚Prozentsatz der persönlichen Jahresbemessungsgrundlage ދdes Jahres berechnet (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 79). Aus einem Arbeitsentgelt in
311 Unter der Beitragsbemessungsgrenze versteht man eine Obergrenze für die Beitragsleistung. Beiträge der Versicherten bemessen sich also höchstens nach dem Betrag der Beitragsbemessungsgrenze, auch wenn die Versicherten mehr verdienen. 1974 betrug die Beitragsbemessungsgrenze monatlich 2.500 DM bzw. jährlich 30.000 DM (Störer 1976: 102). Sie entsprach etwa dem Doppelten der allgemeinen Bemessungsgrundlage, die für die Versicherungsfälle des laufenden Kalenderjahres galt (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 96).
6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
287
Höhe von exakt dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten ergaben sich genau 100 %. Der ‚Prozentsatz der persönlichen Jahresbemessungsgrundlage ދwurde Jahr für Jahr ermittelt. Daraus wurde der Durchschnitt vor dem Eintritt des Versicherungsfalls gebildet. Er war der ‚Prozentsatz der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage ދdes Versicherten (P). Bei der Berechnung des ‚Prozentsatzes der persönlichen Jahresbemessungsgrundlage ދgab es eine besondere Regelung zur „Anhebung von Kleinrenten“ (Ströer 1976: 29): Dem Versicherten, der mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre nachweisen konnte, wurde für jedes Jahr der Beitragszeiten vor 1973 nicht sein tatsächlicher Wert, sondern 75 % zugeordnet, wenn aus der oben dargestellten Normalausrechnung aus allen Beiträgen vor 1973 sich ein niedrigerer Durchschnitt als 75 % ergab. Zudem wurden bei der Berechnung des ‚Prozentsatzes der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage ދauch die beitragslosen Zeiten der Versicherten, also die Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten, berücksichtigt. Den Zeiten wurden bestimmte Werte zugeordnet. Der monatliche Wert der Ersatz- und Ausfallzeiten entsprach dem durchschnittlichen Monatswert der ‚Prozentsätze der persönlichen Jahresbemessungsgrundlageދ, die sich aus den Beitragszeiten ergaben. Der monatliche Wert der Zurechnungszeiten entsprach dem durchschnittlichen Monatswert, der sich im Zeitpunkt des Versicherungsfalles aus den übrigen anrechenbaren Zeiten ergab (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 80 ff.; Ströer 1976: 31 f.). Die ‚allgemeine Bemessungsgrundlage( ދB) entsprach dem Durchschnittswert der Jahresarbeitsentgelte der ArbeiternehmerInnen im Zeitraum der letzten drei Jahre vor dem Kalenderjahr, das dem Renteneintrittsjahr vorausging (Lampert 1980: 245 f.).312 Dank der ‚allgemeinen Bemessungsgrundlage ދblieb der Lebensstandard, der von den RentnerInnen im Verlauf ihres Arbeitslebens erreicht worden war, während der Rentenzeit erhalten. Durch die Multiplizierung des ‚Prozentsatzes der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage ދund der ‚allgemeinen Bemessungsgrundlage ދwurde die ‚persönliche Bemessungsgrundlage( ދP x B) ermittelt.313 Der ‚Steigerungssatz ދje Versicherungsjahr (St) war für die einzelnen Rentenarten unterschiedlich. Bei der Altersrente entsprach der ‚Steigerungssatzދ 1,5 %. Mit dem Prozentsatz wurde die ‚Zahl der anrechnungsfähigen Ver312 Die allgemeine Bemessungsgrundlage für die im Jahr 1974 eintretenden Versicherungsfälle betrug 14.870 DM (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 79). 313 „Die persönliche Bemessungsgrundlage ist ein Prozentsatz der allgemeinen Bemessungsgrundlage, die in DM ausgedrückt ist; die persönliche Bemessungsgrundlage ist also ebenfalls ein DM-Betrag.“ (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 75)
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
sicherungsjahre( ދJ), also die Zahl der Beitrags-, Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten, multipliziert.314 Der so errechnete Prozentsatz (J x St) wurde mit dem DB-Betrag der ‚persönlichen Bemessungsgrundlage( ދP x B) multipliziert. Daraus ergab sich schließlich die Jahresrente (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 75). RentnerInnen wurde für jedes Kind ein Kinderzuschuss in jährlicher Höhe von 1/10 der jeweils geltenden allgemeinen Bemessungsgrundlage gezahlt (Lampert 1980: 246). Der Kinderzuschuss wurde normalerweise bis zum 18. Lebensjahr des Kindes, längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, gewährt.315 Beim Hinausschieben des Rentenbeginns nach Vollendung des 65. Lebensjahres entsprach der monatliche Zuschlag 0,6 % der bei Vollendung des 65. Lebensjahres erreichten Rente. Da der Zuschlag nur für den Rentenverzicht bis zum 67. Lebensjahr gewährt wurde, konnten durch diese Regelung die Versicherten ihre Altersrente maximal um 14,4 % erhöhen (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 86). Die laufenden Renten wurden bruttolohnbezogen, und zwar nach der Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter der ArbeitnehmerInnen, dynamisiert: Die jährliche Anpassung der bereits bewilligten Renten erfolgte nach Maßgabe der jährlichen Veränderung der allgemeinen Bemessungsgrundlage. Allerdings wurden sie nicht automatisch, sondern durch Gesetz angepasst (Hilfer 1982: 41 f.). Beim Rentenbezug ab dem 65. Lebensjahr spielte es keine Rolle, ob und in welcher Höhe die RentnerInnen noch Arbeitseinkünfte erzielten. Eine Reduzierung oder Erhöhung der Rente trat dadurch nicht ein. Einfach gesagt waren RentnerInnen versicherungsfrei. Allerdings konnte ein Anspruch auf die vorgezogenen Altersrenten nicht gleichzeitig mit der Erwerbstätigkeit der Antragstellenden bestehen. 316 Beim Hinausschieben des Rentenbeginns über das 65. Lebensjahr hinaus konnte man bei versicherungspflichtiger Weiterarbeit weitere Rentenansprüche erwerben und somit die Altersrente erhöhen (Ströer 1976: 43). Die Renten waren grundsätzlich steuerpflichtig, aber sozialabgabenfrei. Die Krankenversicherungsbeiträge für RentnerInnen wurden von den Trägern der
314 Zum Beispiel ergab sich aus 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren eine Altersrente von 60 % der persönlichen Bemessungsgrundlage. 315 Der Kinderzuschuss schloss jedoch den Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz aus (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 75). 316 Den EmpfängerInnen der vorzeitigen Renten wurde eine geringfügig Beschäftigung oder eine Nebenbeschäftigung mit niedrigem Einkommen erlaubt. Allerdings fiel die vorzeitige Rente ab dem Monat, für das das Arbeitsentgelt eine bestimmte Grenze überschritten hatte, sofort wieder weg (siehe Ströer 1976: 17-19, 43 f.).
6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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Rentenversicherung allein aufgebracht (Ströer 1976: 96; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 94). 6.2.1.5 Der Finanzierungsmodus Die Renten wurden im ‚Umlageverfahren ދfinanziert. Der Beitragssatz für die Rentenversicherung betrug im Jahr 1974 18 % des Einkommensanteils, der unter der Beitragsbemessungsgrenze lag. Die Beiträge wurden von den ArbeitnehmerInnen und den ArbeitgeberInnen je zur Hälfte getragen. 317 Die ArbeitgeberInnen entrichteten aber die Beiträge allein, wenn das monatliche Entgelt der Versicherten 250 DM nicht überstieg (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 96). Zu diesen Sonderfällen gehörten z.B. die Behinderten in anerkannten Werkstätten. In der Rentenversicherung zahlte der Bund im Jahr 1974 17,7 % der Gesamtenausgaben (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003c: 300).318 6.2.1.6 Das Trägersystem Träger der ‚Rentenversicherung der Arbeiter ދwaren 18 Landesversicherungsanstalten, die Bundesbahn-Versicherungsanstalt für die Bundesbahnarbeiter und die Seekasse für Seeleute, Küstenschiffer und Küstenfischer. Der Träger der ‚Rentenversicherung der Angestellten ދwar die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Der Rentenversicherungsträger für die Bergleute war die Bundesknappschaft. Die ‚Rentenversicherung der Handwerker ދwurde durch die Landesversicherungsanstalten durchgeführt (Lampert 1980: 247; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 102-103, 107). Die Versicherungsträger waren Selbstverwaltungskörperschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die staatlicher Aufsicht unterstanden. Die obersten Arbeitsbehörden eines Bundeslandes führten die Aufsicht über die Versicherungsträger, deren Geschäftsbereich sich nur auf das Gebiet des Bundeslandes erstreckte. Die Träger, deren Geschäftsbereich sich auf mehrere Bundesländer erstreckte, standen unter der Aufsicht des Bundes, und zwar des ‚Bundes317 1974 waren die geringfügig Beschäftigten mit den monatlichen Entgelten unter 312,50 DM versicherungsfrei (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 60). Die Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen zahlten also keine Beiträge und die Beschäftigten erwarben keine Rentenansprüche. 318 Dieser Prozentsatz, 17,7 %, war lediglich für die Arbeiterrenten- und die Angestelltenversicherung. Für alle sieben Arten der öffentlichen Rentensysteme zahlte der Bund fast ein Fünftel der Gesamtausgaben (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 98).
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
versicherungsamts ދim Geschäftsbereich des ‚Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung( ދBundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 102 f.; Frerich 1987: 343). 6.2.2 Die Krankensicherung 6.2.2.1 Die Gesundheitsversorgung 6.2.2.1.1 Die öffentlichen Kostenträger Mitte der 70er Jahre übernahm in Deutschland die soziale Krankenversicherung für ihre Versicherten die Kosten für ambulante und zahnärztliche Versorgung sowie Arzneimittelversorgung. Von den Kosten für stationäre Versorgung zahlten die Krankkassen die Betriebskosten der Krankenhäuser und die Bundesländer deren Investitionskosten. Mit Ausnahme von den Investitionskosten beruhte das Gesundheitsversorgungssystem in Deutschland im Wesentlichen auf dem Modell der ‚Versicherungsmitgliedschaftދ. 6.2.2.1.2 Der erfasste Personenkreis Die Kernmitglieder der sozialen Krankenversicherung waren ArbeiterInnen und Angestellte: „Grundlage ist ein abhängiges, entgeltliches Beschäftigungsverhältnis.“ (Ströer 1975: 80; Hervorhebung im Original) Neben den ArbeitnehmerInnen zählten zu den Versicherungspflichtigen einige Gruppen von selbständigen Erwerbstätigen, RentnerInnen, Arbeitslose, StudentInnen, Behinderte in anerkannten Werkstätten etc. Die Familienangehörigen dieser Mitglieder wurden auch beitragsfrei mitversichert (Hilfer 1982: 124; Deppe 1980: 112-114; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 155-163). Zu den versicherungspflichtigen Selbständigen gehörten land- und forstwirtschaftliche UnternehmerInnen, Hausgewerbetreibende und selbständige HeimarbeiterInnen, selbständige LehrerInnen, Artisten, selbständige Hebammen und Kinder-, Wochen- und Krankenpflegepersonen (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 157). Für die Angestellten galt eine Jahresarbeitsverdienstgrenze als Versicherungspflichtgrenze. 319 Wer mehr als 75 % der Beitragsbemessungsgrenze 319 Die Höhe der Versicherungspflichtgrenze war identisch mit der Beitragsbemessungsgrenze für die Krankenversicherung. Die Grenzen entsprachen 75 % der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung und betrugen 1975 monatlich 2.100 DM (Ströer 1975: 18).
6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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der Rentenversicherung verdiente, konnte aus der Krankenversicherung austreten (Deppe 1980: 113). 6.2.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Es gab keine besondere Anspruchsvoraussetzung. War man Versicherter der sozialen Krankenversicherung, dann übernahm die eigene Krankenkasse die Kosten der medizinischen Versorgungen (vgl. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 161). 6.2.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Für eine ambulante Behandlung zahlten die Versicherten keine Gebühren. Alle Kosten übernahm die Krankenversicherung (Fulcher 1974: 72). Die stationäre Krankenhausversorgung war auch für die Versicherten kostenlos, und zwar auf unbegrenzte Dauer (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 167; Fulcher 1974: 72). Die Krankenversicherung zahlte also die Betriebskosten der Krankenhäuser. Deren Investitionskosten wurden von den Bundesländern finanziert. Von den Kosten für Medikamente und kleinere Heilmittel hatten die Versicherten 20 %, höchstens jedoch 2,50 DM je Rezept selbst zu tragen. Die restlichen Kosten übernahm die Krankenversicherung. Von dieser Selbstbeteiligung waren folgende Personen befreit: RentnerInnen, Schwerbehinderte, Kinder und die Versicherten, die Krankengeld, Verletztengeld oder Übergangsgeld erhielten (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 166; Ströer 1975: 27). Für größere Heilmittel 320 zahlten die Krankenkassen meist etwa ein Drittel der Kosten. Ein weiteres Drittel wurde zu Lasten der Rentenversicherung von den Krankenkassen ausgezahlt. In der Folge haben die Versicherten das restliche Drittel gezahlt (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 167). Mit Ausnahme des Zahnersatzes übernahm die Krankenversicherung die Gesamtkosten der Zahnbehandlungen für ihre Versicherten. Als Zuschüsse zum Zahnersatz zahlte die Krankenkasse üblicherweise ein Drittel der Kosten selbst und ein weiteres Drittel im Auftrag der Rentenversicherung (Fulcher 1974: 72: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 165).
320 „Der Unterschied zwischen kleineren und größeren Heilmitteln ist kein wesenhafter, er ist nur in der Kostenhöhe begründet.“ (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1974: 166)
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6.2.2.1.5 Der Finanzierungsmodus Die soziale Krankenversicherung wurde in der Regel aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert. Für sie waren staatliche Zuschüsse sehr selten (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 174). Die Höhe der Beiträge, also der Prozentsatz des Einkommensteils unter der Beitragsbemessungsgrenze, setzten die Krankenkassen im Rahmen vorgeschriebener Grenzen selbst fest. Der durchschnittliche Beitragssatz lag 1975 bei 10,50 % (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 116). ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen entrichteten die Beiträge hälftig.321 Die ArbeitgeberInnen zahlten allerdings die Beiträge allein, wenn das monatliche Entgelt ihrer versicherten ArbeitnehmerInnen 280 DM nicht überstieg (Ströer 1975: 105). Die Investitionskosten der Krankenhäuser wurden im Prinzip aus Steuern der Bundesländer finanziert. Ein Drittel der Kosten war eine Subvention seitens des Bundes (Breddemann 1980: 166). 6.2.2.1.6 Das Trägersystem Die Krankenversicherung wurde 1976 von 1.436 Krankenkassen durchgeführt, die nach örtlichen, betrieblichen und berufsbezogenen Kriterien entstanden waren. Sie gliederten sich im Allgemeinen in sieben Grundtypen: Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen für größere Betriebe, Innungskrankenkassen für das Handwerk, Landwirtschaftliche Krankenkassen, Seekrankenkasse für die auf Seeschiffen Beschäftigten, Bundesknappschaft als Träger der knappschaftlichen Krankenversicherung, Ersatzkassen für Angestellte und Ersatzkassen für Arbeiter (Deppe 1980: 114 f.; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 175). Die Träger der sozialen Krankenversicherung waren Selbstverwaltungskörperschaften und verantworteten selbst den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben. Um die überregionalen und gemeinsamen Interessen der Kassen zu fördern, verfügten sie über Zusammenschlüsse auf Länder- und Bundesebene (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 175 f.). Die Träger für die Krankenversicherung waren auch Körperschaften des öffentlichen Rechts, die staatlicher Aufsicht unterstanden. Die Aufsicht über die Krankenkassen, deren Zuständigkeitsbereich sich nur auf das Gebiet eines Bundeslandes erstreckte, und über die Landesverbände führten Aufsichtsbehörden der Länder. Die nach landesrechtlichen Rechtsverordnungen zu dieser Aufgabe 321 1975 waren die geringfügig Beschäftigten mit den monatlichen Entgelten unter 350 DM versicherungsfrei (Ströer 1975: 92). Die Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen zahlten also keine Beiträge und die Beschäftigten erwarben keine Ansprüche.
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bestimmten Aufsichtsbehörden können als oberste Versicherungsverwaltungsbehörden der Länder bezeichnet werden und waren den Arbeitsministern bzw. den Senatoren für Arbeit untergeordnet. Die Krankenkassen, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckte, standen unter der Aufsicht des Bundesversicherungsamtes. Schließlich war für die Spitzenverbände der Krankenkassen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung zuständig (Störer 1975: 123). Für die Zuweisung der Investitionskosten der Krankenhäuser waren die Landesregierungen verantwortlich (Breddemann 1980: 166). 6.2.2.2 Die Verdienstersatzleistungen 6.2.2.2.1 Die Leistungsarten In den 70er Jahren setzten sich die Verdienstersatzleistungen bei Krankheit aus der Gehalts- und Lohnfortzahlung und dem Krankengeld zusammen. Für die Gehalts- und Lohnfortzahlung waren die ArbeitgeberInnen zuständig, während das Krankengeld von der sozialen Krankenversicherung gewährt wurde. 6.2.2.2.2 Der erfasste Personenkreis Die Gehalts- und Lohnfortzahlung erfasste die ArbeitnehmerInnen. Von den Pflichtversicherten der Krankenversicherung, die schon oben erklärt wurden, hatten die Versicherten ausgenommen einiger Gruppen, z.B. RentnerInnen, StudentInnen, und Familienversicherte, einen Anspruch auf das Krankengeld (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 171). 6.2.2.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um die Verdienstersatzleistungen zu bekommen, musste die Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit dem Arbeitgeber und der Krankenkasse gemeldet werden. Dabei wurde eine ärztliche Bescheinigung benötigt (Ströer 1975: 35; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 171 f.). 6.2.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 6.2.2.2.4.1 Die Gehalts- und Lohnfortzahlung Während der ersten 6 Wochen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit wurde das volle Entgelt von den ArbeitgeberInnen weitergezahlt. Dabei gab es
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keine Karenztage. Die Gehalts- und Lohnfortzahlung war steuer- und sozialabgabenpflichtig (Maynard 1975 29: Ströer 1975: 38). 6.2.2.2.4.2 Das Krankengeld Im Anschluss an die Gehalts- und Lohnfortzahlung wurde das Krankengeld gezahlt. Je nach der Zahl der Familienangehörigen belief sich das Krankengeld auf 75 % bis 85 % des letzten Bruttoarbeitsentgeltes bis zur Beitragsbemessungsgrenze (Fain 1977: 254). Die oberste Grenze des Betrags des Krankengelds war das bisherige Nettoeinkommen des Versicherten (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 172). Das Krankengeld wurde wegen derselben Krankheit für höchstens 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren gewährt. Wenn die Krankheit über 78 Wochen hinaus andauerte, konnte das Krankengeld durch eine Leistung aus der Rentenversicherung ersetzt werden (Lampert 1980: 229, 244). Das Krankengeld wurde solange ausgesetzt, wie dem Empfänger ein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt gezahlt wurde (Ströer 1975: 38 f.). Das Krankengeld war steuer- und sozialabgabenfrei (vgl. Frerich 1987: 210). 6.2.2.2.5 Der Finanzierungsmodus Die ArbeitgeberInnen finanzierten die Gehalts- und Lohnfortzahlung für ihre ArbeitnehmerInnen. Kleinbetriebe bekamen jedoch 80 % des fortgezahlten Arbeitsentgeltes und die Arbeitgeberanteile der Sozialversicherungsbeiträge von den Krankenkassen wieder zurück.322 An diesem Ausgleichsverfahren nahmen die ArbeitgeberInnen teil, die in ihrem Betrieb nicht mehr als 20 ArbeitnehmerInnen beschäftigten. Diese Mittel wurden im Umlageverfahren bei den beteiligten ArbeitgeberInnen erhoben (Ströer 1975: 38 f.; Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 171). Der Finanzierungsmodus für die Krankenversicherung wurde oben unter dem Unterabschnitt ‚6.2.2.1.5 Der Finanzierungsmodus ދdargestellt. 6.2.2.2.6 Das Trägersystem Träger der Gehalts- und Lohnfortzahlung waren ArbeitgeberInnen. Die Träger für das Krankengeld waren Krankenkassen, die oben unter dem Unterabschnitt ‚6.2.2.1.6 Das Trägersystem ދgenannt wurden. 322 „Da die Kostenbelastung durch die Lohfortzahlung an Arbeiter für lohnintensive Klein- und Handwerksbetriebe zu einem wirtschaftlichen Risiko führen kann, ist ein Ausgleichsverfahren für die Arbeitgeberaufwendungen vorgesehen worden.“ (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 171)
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6.2.3 Die Arbeitslosensicherung 6.2.3.1 Die Leistungsarten Die finanziellen Unterstützungsleistungen im Rahmen der Arbeitslosenversicherung ließen sich in zwei große Kategorien unterteilen: Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. 6.2.3.2 Der erfasste Personenkreis Die Arbeitslosenversicherung war eine Pflichtversicherung für ArbeitnehmerInnen (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1977: 52; Leder 1968: 6). 6.2.3.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Anspruch auf das Arbeitslosengeld hatte, wer die Anwartschaftszeit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung von sechs Monaten in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung erfüllt hatte (Blaustein und Craig 1977: 191). Die Arbeitslosenhilfe erhielt derjenige, dessen Anspruch auf das Arbeitslosengeld aufgrund ausgelaufener Bezugsdauer erloschen war oder der einen solchen Anspruch mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit noch nicht erworben hatte. Letzterer musste zudem innerhalb eines Jahres vor der Arbeitslosmeldung mindestens 10 Wochen lang eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben. Darüber hinaus setzte die Bewilligung für den Bezug von Arbeitslosenhilfe eine Bedürftigkeitsprüfung voraus. Bei der Bedürftigkeitsprüfung wurden nicht nur Einkommen und Vermögen der Antragstellenden, sondern auch Einkommen und Vermögen ihrer im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten, Eltern oder Kinder berücksichtigt (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1977: 70 ff.). 6.2.3.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 6.2.3.4.1 Das Arbeitslosengeld Das Arbeitslosengeld bestand aus einem Hauptbetrag und Familienzuschlägen.
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Tabelle 15: Beispiel für die Gewährung des Hauptbetrages des Arbeitslosengeldes (in DM/Woche) Einheitslohn 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 550 585
Hauptbetrag 27,60 51,00 72,00 93,60 114,60 134,40 153,00 169,80 186,60 202,80 218,40 228,60
Höchstbetrag 35,40 70,80 106,20 134,40 162,60 191,40 219,60 248,40 276,60 303,60 330,00 348,00
Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 228
Der Hauptbetrag wurde im Wesentlichen nach dem letzten Arbeitsentgelt der Antragstellenden berechnet. Für die Bemessung des Hauptbetrages wurde in erster Linie ein ‚Einheitslohn ދzugrunde gelegt. Der Einheitslohn war eine rechnerische Angleichung der Bemessungsentgelte an einen durch fünf teilbaren Betrag: Aus 37,9 DM wurde so der Einheitslohn 40 DM, aus 32,2 DM 35 DM Einheitslohn. Das höchste Bemessungsentgelt betrug 1974 wöchentlich 585 DM. Die Leistungsbemessungsgrenze entsprach der Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitslosenversicherung (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 228; Leder 1968: 13). Ein Alleinstehender erhielt als sein Arbeitslosengeld den Hautbetrag, der dem Einheitslohn zugeordnet wurde, dem sein letztes Arbeitsentgelt zugehörte. Wenn z.B. sein letzter Wochenlohn 248 DM war, entsprach sein Einheitslohn 250 DM. Sein Arbeitslosengeld betrug also 114,60 DM pro Woche. Das Niveau des Arbeitslosengeldes für Alleinstehende entsprach durchschnittlich etwa 62,5 % seines Nettoentgelts (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 228). Der Familienzuschlag betrug 12 DM wöchentlich für jeden Angehörigen. Dem Versicherten mit Familie wurden also sein Hauptbetrag und die Familienzuschlägen für seine Ehepartnerin und für jedes Kind gewährt, welche zusammen den Höchstbetrag aber nicht überschreiten durften (Leder 1968: 13). Der Höchstbetrag entsprach 80 % des Nettoentgeltes eines Verheirateten mit zwei Kindern (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 229).
6.2 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme der 70er Jahre
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Beim deutschen Arbeitslosengeld gab es keine Karenztage (ILO 1976: 60). Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld war abhängig von der Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der letzten drei Jahre vor der Arbeitslosmeldung (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 227). Die Bezugsdauer von ca. einem Jahr wurde nach etwa zweijähriger Beschäftigungsdauer erreicht. Tabelle 16: Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der 70er Jahre nach einer beitragspflichtigen Beschäftigung von ...Wochen 26 39 52 78 104
für ...Tage 78 120 156 234 312
Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 227
Wenn der Empfänger des Arbeitslosengeldes durch eine geringfügige Nebenbeschäftigung ein Einkommen erzielte, erfolgte eine Kürzung der Leistung (Leder 1968: 13). Daneben gab es Sanktionen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld entfiel je nach Lage des Falles für 2 bis 4 Wochen. Verhängt wurden die Sperrzeiten z.B. wegen Aufgabe des Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund, Ablehnung einer zumutbaren Arbeit, Ablehnung oder Abbruchs einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 227 f.). Das Arbeitslosengeld war steuer- und sozialabgabenfrei (Wilson 1979: 89). Die Krankenversicherungsbeiträge für EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld entrichtete allein der Träger für die Arbeitslosenversicherung (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 174, 230). 6.2.3.4.2 Die Arbeitslosenhilfe Was bei der Darstellung des Arbeitslosengeldes zum Einheitslohn, zu den Familienzuschlägen und zum Höchstbetrag erläutert wurde, galt auch für die Arbeitslosenhilfe. Jedoch waren die Hauptbeträge niedriger als beim Arbeitslosengeld.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Tabelle 17: Beispiel für die Gewährung eines Hauptbetrages der Arbeitslosenhilfe (in DM/Woche) Einheitslohn 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 550 585
Hauptbetrag 23,40 42,60 60,60 78,60 96,00 112,80 128,40 142,80 156,60 170,40 183,00 192,00
Höchstbetrag 35,40 70,80 106,20 134,40 162,60 191,40 219,60 248,40 276,60 303,60 330,00 348,00
Quelle: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 230
Nach der Prüfung der Einkommen und Vermögen konnte je nach Höhe dieser Prüfkriterien die Arbeitslosenhilfe gekürzt oder ganz ausgesetzt werden. Die Arbeitslosenhilfe wurde zwar ohne zeitliche Beschränkung gewährt. Sie wurde jedoch längstens für zwei Jahre bewilligt und konnte anschließend erneut beantragt werden (Leder 1968: 20). Die Regelungen des Arbeitslosengeldes über Karenztage, Arbeitseinkommen während des Leistungsbezugs, Sanktionen, Besteuerung und Sozialabgaben galten auch für die Arbeitslosenhilfe. 6.2.3.5 Der Finanzierungsmodus Die Mittel für das Arbeitslosengeld wurden 1974 durch die Beiträge von 1,7 % des Einkommensanteils unter der Beitragsbemessungsgrenze aufgebracht.323 Die Beiträge wurden von den ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen je zur Hälfte getragen.324 Die Beitragsbemessungsgrenze, z.B. monatlich 2.500 DM des Jahres 1974, stimmte mit der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung 323 „Jedoch wird der Beitrag nicht allein zur Finanzierung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhoben. Vielmehr dienen die Beiträge auch zur Finanzierung der Kosten der Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung sowie zahlreicher Maßnahmen [...], die der Verhütung und Beendigung der Arbeitslosigkeit dienen.“ (Leder 1968: 8) 324 1974 waren die geringfügig Beschäftigten mit den monatlichen Entgelten unter 312,50 DM versicherungsfrei (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 210). Die Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen zahlten also keine Beiträge und die Beschäftigten erwarben keine Ansprüche.
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
299
überein. Wenn das Entgelt eines Versicherten 1974 monatlich 250 DM nicht überstieg, zahlte seine Arbeitgeber die Beiträge allein (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 228, 231). Die Kosten der Arbeitslosenhilfe finanzierte demgegenüber der Bund mit allgemeinen Steuermitteln. Die Bundesregierung übertrug ihren Haushalt für die Arbeitslosenhilfe an die Bundesanstalt für Arbeit (Lampert 1973: 200). Außerdem zahlte der Bund Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit, wenn ihr Etatverhältnis zwischen Beiträgen und Ausgaben defizitär war (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 232). 6.2.3.6 Das Trägersystem Die Aufgaben zur Gewährung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe wurden von der ‚Bundesanstalt für Arbeit ދdurchgeführt. Die Bundesanstalt für Arbeit war in die Hauptstelle in Nürnberg, 9 Landesarbeitsämter und 146 Arbeitsämter unterteilt. Sie war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die Aufsicht über sie führte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 1975: 232; Leder 1968: 5). 6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme 6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme 6.3.1 Die Alterssicherung 6.3.1.1 Die Leistungsarten Die Altersrente der gesetzlichen Rentenversicherung325 basiert auf einem Beitragssystem und richtet sich auf die vorherigen Einkommen der Versicherten hin aus.
325 Die unterschiedlichen Gesetze betreffend der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten, der knappschaftlichen Rentenversicherung und der Rentenversicherung der Handwerker wurden 1992 zum ‚Sozialgesetzbuch VI ދvereinigt. Seitdem bestehen nicht mehr die separaten Rentengesetze: Reichsversicherungsordnung, Angestelltenversicherungsgesetz, Reichsknappschaftsgesetz und Handwerkerversicherungsgesetz. Allerdings sind die Träger für die ArbeiterInnen, für die Angestellten und für die Bergleute heute noch unterschiedlich. Außerdem bleiben einige Sonderegelungen bezüglich der Bergleute und der HandwerkerInnen im Sozialgesetzbuch VI noch erhalten. Demnach hat die Vereinigung zum Sozialgesetzbuch VI die Bedeutung als lediglich ein Zusammenschluss mehrerer Gesetze.
300
6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
6.3.1.2 Der erfasste Personenkreis Die von der gesetzlichen Rentenversicherung versicherte Hauptgruppe sind auch heute noch die ArbeitnehmerInnen. Von den Selbständigen sind im Jahr 2002 folgende bestimmte Gruppen pflichtversichert: LehrerInnen und ErzieherInnen, Pflegepersonen, Hebammen und Entbindungspfleger, SeelotsInnen, KünstlerInnen und PublizistInnen, Hausgewerbetreibende, KüstenschifferInnen und KüstenfischerInnen sowie HandwerkerInnen. Außerdem werden auch die Selbständigen, die auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind, pflichtversichert (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 203). Zudem können die Selbständigen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen nicht pflichtversichert sind, innerhalb von fünf Jahren nach Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit auf Antrag in die Versicherungspflicht einbezogen werden (Lampert und Althammer 2001: 258). Folgende Personenkreise gehören im Übrigen auch zu den Versicherungspflichtigen: Wehr- und Zivildienstleistende, Behinderte in anerkannten Werkstätten, EmpfängerInnen von Lohnersatzleistungen326, nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen327, nicht erwerbstätige Elternteile328 etc. (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 43 f.) Die Rentenversicherung der Landwirte, die Alterssicherung der freien Berufe und die Beamtenversorgung beruhen heute noch auf den unterschiedlichen Gesetzen und den verschiedenen Systemen. Von den obigen öffentlichen Rentensystemen behandelt diese Arbeit lediglich die ‚gesetzliche Rentenversicherung ދgemäß dem Sozialgesetzbuch VI. Um die Vergleiche zwischen der Rentenversicherung der 70er Jahre und der von heute zu erleichtern, werden die Sonderregelungen bezüglich der Bergleute und der HandwerkerInnen im Sozialgesetzbuch VI bei der Untersuchung nicht einbezogen. Die Rentenarten der gesetzlichen Rentenversicherung sind in Altersrenten, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Hinterbliebenenrenten unterteilt. Die gesetzliche Rentenversicherung deckt allein etwa 80 % der Rentenzahlungen aller verschiedenen Systeme, die nicht nur die öffentlichen Alterssicherungen, sondern auch betriebliche Renten und individuelle private Vorsorge einschließen (Lißner und Wöss 1999: 99). Bei der Analyse dieser Arbeit wird wie die Untersuchung der Rentenversicherung der 70er Jahre bezüglich der genannten drei Rentenarten nur auf die Altersrente eingegangen, weil die anderen Renten nicht auf die Abdeckung des Altersrisikos zielen. 326 Zu den Lohnersatzleistungen gehören Krankengeld, Verletztengeld, Übergangsgeld, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld und Altersübergangsgeld (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002c: 16). 327 Die ‚nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegepersonen ދwerden als Personen, die einen zumindest erheblich pflegebedürftigen Menschen wenigstens 14 Stunden pro Woche in ihrer häuslichen Umgebung pflegen, definiert (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 44). 328 Als pflichtversichert gelten ‚nicht erwerbstätige Mütter ދoder bei gemeinsamer Erklärung beider Elternteile ‚kindererziehende Väter ދfür die drei Jahre nach der Geburt eines Kindes (Lampert und Althammer 2001: 258).
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
301
6.3.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Die Altersrente kann ab dem vollendeten 65. Lebensjahr mit mindestens fünf Jahren ‚Wartezeit ދbezogen werden (Stahl 2003: 65). Auf die Mindestversicherungszeit von fünf Jahren werden Beitragszeit oder Ersatzzeit angerechnet.329 Im deutschen Rentensystem können die Rentenansprüche bis zum Bezug
329 Das heutige Rentenrecht unterscheidet drei rentenrechtliche bzw. rentenwirksame Zeiten: Beitragszeit, beitragsfreie Zeit und Berücksichtigungszeit (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 291-296). Unter Beitragszeit versteht man zuerst die Zeiten, in denen Beiträge aus ‚realen ދArbeitsentgelten der Versicherten erhoben werden. Als Beitragszeit gelten auch die Zeit des Wehr- und Zivildienstes, die nicht erwerbstätige Elternzeit (Kindererziehungszeit), die nicht erwerbstätige Pflegezeit usw. Die Beiträge werden von dem Staat oder den Sozialversicherungsträgern aus einem ‚fiktiven ދVerdienst aufgebracht. Zum Beispiel wird die nicht erwerbstätige Elternzeit für drei Jahre nach der Geburt eines Kindes mit dem Durchschnittverdienst aller Versicherten im jeweiligen Erziehungsjahr bewertet. Die Beitragsleistung erfolgt durch den Bund aus Steuermitteln. Für die drei Jahre werden Mütter oder Väter so gestellt, als hätten sie einen Durchschnittsverdienst erzielt und daraus Beiträge entrichtet (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002c: 69-71; Stahl 2003: 73). Die beitragsfreien Zeiten bestehen aus Anrechnungs-, Zurechnungs- und Ersatzzeit: Anrechnungszeiten sind vor allem die Zeit der Schwangerschaft gemäß der Schutzfrist nach dem Mutterschutzgesetz, die Zeit der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug, die Zeit der Krankheit ohne Leistungsbezug etc. Die Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Schwangerschaft liegen nur vor, wenn hierdurch eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen wird. „Zurechnungszeiten werden bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes angerechnet, um dem Versicherten oder seinen Hinterbliebenen unabhängig vom Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung oder des Todes eine angemessene Sicherung zu ermöglichen. Je jünger ein Versicherter bei Eintritt der Erwerbsminderung oder des Todes ist, desto weniger Versicherungsjahre hat er bis dahin zurücklegen können und desto geringer sind deshalb seine Rentenanwartschaften. Über die Zurechnungszeit wird bei der Rentenberechnung deshalb so getan, als ob der Versicherungsfall erst in fortgeschrittenem Alter und einer entsprechend langen Versicherzeit eingetreten wäre, d.h. die fehlenden Beitragsjahre werden dem Versicherten als Zurechnungszeit hinzugerechnet.“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 52) Ersatzzeiten sind vom Versicherten nicht selbst zu verantwortende Zeiten fehlender Beitragszahlung wie Kriegsgefangenschaft, Kriegsdienst oder Inhaftierung im Nationalsozialismus oder in der DDR. Unter der Berücksichtigungszeit versteht man die Zeit, in der Väter oder Mütter Kinder erziehen, ohne Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen. „Durch die Berücksichtigungszeiten werden Versicherungslücken eines Elternteiles geschlossen, die durch die Erziehung von Kindern bis zu deren 10. Lebensjahr entstehen“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002c: 76). Die ‚Berücksichtigungszeiten ދsind allerdings von den oben erwähnten ‚Kindererziehungszeiten ދzu unterscheiden, die als Beitragszeiten gelten. Die beitragsfreien Zeiten und die Berücksichtigungszeiten werden nicht nur auf die Wartezeit angerechnet, sondern wirken auch positiv auf die Höhe der Renten ein. Wie die beiden Zeiten die Rentenhöhe beeinflussen, wird in dem folgenden Unterabschnitt ‚6.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer ދdargelegt.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
einer Vollrente erworben werden (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 205). Gegenüber der ‚Regelaltersrente ދab dem 65. Lebensjahr gibt es in Deutschland vier Arten vorzeitiger Renten: die ‚Altersrente für langjährig Versicherteދ können die Versicherten ab dem 63. Lebensjahr beziehen, wenn sie eine Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Die ‚Altersrente für schwerbehinderte Menschen ދkann für die Personen ab dem 60. Lebensjahr bezogen werden, die bei Rentenbeginn als Schwerbehinderte anerkannt sind und mindestens 35 Jahre Wartezeit erfüllt haben. Auf die 35 Jahre Wartezeit der beiden vorzeitigen Renten werden alle rentenrechtlichen Zeiten, und zwar die Beitragszeiten, die beitragsfreien Zeiten und die Berücksichtigungszeiten angerechnet (Boeckh u.a. 2004: 311). Die ‚Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit ދkann ab dem 60. Lebensjahr bei Erfüllung der folgenden Voraussetzungen bezogen werden: Versicherte müssen eine Wartezeit von 15 Jahren erfüllen. Sie müssen innerhalb der letzten 10 Jahre vor Rentenbeginn für acht Jahre die Beiträge für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit getragen haben und direkt vor Rentenbeginn arbeitslos gewesen sein oder eine Altersteilzeittätigkeit geleistet haben. 330 Die ‚Altersrente für Frauen ދkann ab dem 60. Lebensjahr gezahlt werden, wenn eine versicherte Frau die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt und nach dem 40. Lebensjahr mehr als 10 Jahre Beiträge abgeführt hat. Auf die 15 Jahre Wartezeit der beiden vorzeitigen Renten werden die Beitragszeiten und die Ersatzzeiten angerechnet (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 215). Jeder Monat beim vorzeitigen Rentenbezug führt allerdings zu einem während der gesamten Rentenlaufzeit wirksamen Rentenabschlag. Bei der ‚Altersrente für schwerbehinderte Menschen ދentstehen die Abschläge bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres und bei den übrigen drei vorzeitigen Renten bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 45-48). Wenn ein Rentenberechtigter nach Vollendung des 65. Lebensjahres den Rentenbeginn aufschiebt, wird ihm für jeden aufgeschobenen Monat ein Rentenzuschlag gewährt (Stahl 2003: 66).
330 Hier relevante Arbeitslosigkeit liegt vor, wenn der Versicherte vor Beginn der Rente arbeitslos ist und nach Vollendung eines Lebensalters von 58 1/2 Jahren insgesamt 52 Wochen arbeitslos war. Altersteilzeit wird als Grund wirksam, wenn der Versicherte vor Rentenbeginn mindestens für zwei Jahre Altersteilzeitarbeit ausgeübt hat (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 46).
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
303
6.3.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Der Monatsbetrag der Rente errechnet sich aus drei Faktoren: Persönliche Entgeltpunkte (unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors), Rentenartfaktor und aktueller Rentenwert. Schaubild 8:
Die Rentenformel der heutigen deutschen Rentenversicherung Monatsrente = PEP x RAF x AR
PEP: Persönliche Entgeltpunkte Versichertes Arbeitsentgelt (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) für jedes Kalenderjahr geteilt durch das Durchschnittsentgelt aller Versicherten für dasselbe Kalenderjahr, aufsummiert für das gesamte Versicherungsleben und multipliziert mit dem Zugangsfaktor (ZF). RAF: Rentenartfaktor Ein nach dem jeweiligen Sicherungsziel festgelegter Faktor AR:
Aktueller Rentenwert Betrag, der einer monatlichen Rente wegen Alters entspricht, die sich aus Beiträgen aufgrund eines Durchschnittentgelts für ein Kalenderjahr ergibt (Im Jahr 2002 ca. 25 Euro in alten Bundesländern, ca. 22 Euro in neuen Bundesländern)*
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 48; eigene Ergänzungen (* Zeichen bedeutet Ergänzung zur genaueren Beschreibung)
Zuerst werden die während des Arbeitslebens erzielten Arbeitsentgelte eines Rentenberechtigten in Entgeltpunkte umgerechnet. Das Bruttoarbeitsentgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze331 für jedes Kalenderjahr wird durch das Durchschnittsarbeitsentgelt aller Versicherten für das entsprechende Kalenderjahr geteilt. Aus einem Arbeitsentgelt in Höhe von exakt dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten ergibt sich genau 1 Entgeltpunkt für das Jahr (Lampert und Althammer 2004: 275). Wenn der Durchschnittswert der Entgeltpunkte eines Versicherten, der die rentenrechtlichen Zeiten von mindestens 35 Jahren vorweisen kann, weniger als 0,75 Entgeltpunkte ist, erhält er zusätzliche Entgeltpunkte. Sein tatsächlicher Entgeltpunkt für jedes Jahr der Beitragszeiten bis 1991 wird um das 1,5fache 331 Die Beitragsbemessungsgrenze beträgt 2002 monatlich 4.500 € in den alten und 3.750 € in den neuen Bundesländern (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 280).
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
erhöht. Die Anhebung erfolgt jedoch höchstens auf 0,75 Entgeltpunkte (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 244). Für einen erziehenden Elternteil mit rentenrechtlichen Zeiten von mindestens 25 Jahren werden seine durch Erwerbstätigkeit erworbenen Entgeltpunkte im Zeitraum nach Ablauf der dreijährigen Kindererziehungszeit bis zum 10. Lebensjahr des Kindes auf das 1,5fache angehoben, jedoch maximal auf einen Entgeltpunkt pro Jahr (Stahl 2003: 73). Ist der erziehende Elternteil während der ‚Kindererziehungszeit ދvon drei Jahren erwerbstätig, werden die Entgeltpunkte für die drei Jahre „um die zeitgleich durch die Kindererziehung[szeit] erworbenen Ansprüche erhöht. Die Erhöhung erfolgt jedoch maximal bis zur Höhe des Anspruchs, der mit einem Entgelt in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze hätte erworben werden können.“ (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003d: 36) Darüber hinaus erhalten Erziehungspersonen, die gleichzeitig zwei oder mehr Kinder unter zehn Jahren erziehen und keine Beiträge entrichten, weil sie in dieser Zeit nicht erwerbstätig sind, für die Zeit eine Gutschrift in Höhe von 0,33 Entgeltpunkten pro Jahr (Pilz 2004: 175; Stahl 2003: 73). Auch für die beitragsfreien Zeiten – Anrechnungs-, Zurechnungs-, und Ersatzzeit – werden bestimmte Entgeltpunkte eingesetzt. Der monatliche Entgeltpunkt der beitragsfreien Zeiten entspricht grundsätzlich dem monatlichen Durchschnittswert der eigenen Entgeltpunkte aus Beitragszeiten. Der durchschnittliche Wert wird über die „Gesamtleistungsbewertung“ ermittelt, die eine Division der erworbenen individuellen Entgeltpunkte aus Beitragszeiten durch die Zahl der Kalendermonate vom 17. Lebensjahr bis zum Renteneintrittsjahr unter Abzug der beitragsfreien Zeiten vorsieht. Dabei wirken sich die Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung auf den Zähler steigernd ein. Zeiten, in denen keine rentenrechtlichen Zeiten vorliegen, werden dabei als ‚Null-Beitragދ betrachtet. Die Lücken in der Versicherungsbiografie wirken sich also negativ auf den Durchschnittswert der Entgeltpunkte aus (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002c: 87 f.; Lampert und Althammer 2004: 273).332 Alle derart errechneten Entgeltpunkte werden aufsummiert und dann mit dem Rentenzugangsfaktor multipliziert. Dadurch entstehen die persönlichen Entgeltpunkte (PEP). Der Zugangsfaktor richtet sich nach dem Zeitpunkt des Rentenantritts. Seine Rolle bei der Rentenberechnung ist, „bei vorzeitiger oder bei aufgeschobener Inanspruchnahme der Altersrente in der Höhe der Rente die im Vergleich zu einer ,Normalrente‘ unterschiedliche Rentenbezugsdauer zu be332 Noch ausführlicheren Überblick hierzu bietet Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 248-250.
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
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rücksichtigen.“ (Lampert und Althammer 2001: 261; Hervorhebung im Original). Bei den Normalrenten, die ab dem 65. Lebensjahr – mit Ausnahme der Altersrente für Schwerbehinderte, bei der die Vollendung des 63. Lebensjahres der relevante Zeitpunkt ist – bezogen werden, beträgt der Zugangsfaktor 1,0. Bei vorzeitiger Inanspruchnahme verringert sich der Zugangsfaktor um 0,3 % für jeden Monat, den die Rente vorgezogen wird. Bei aufgeschobener Inanspruchnahme erhöht sich der Zugangsfaktor um 0,5 % für jeden Monat, den die Rente aufgeschoben wird (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 250).333 Verschiedene Rentenarten haben unterschiedliche Werte des Rentenartfaktors (RAF). Der Rentenartfaktor soll Sicherungsziele der Rentearten berücksichtigen. Bei den Altersrenten beträgt dieser Faktor genau 1,0 (Boeckh u.a. 2004: 315).334 Der letzte Bestimmungsfaktor der Zugangsrente ist der aktuelle Rentenwert (AR). Definiert wird er als ein Monatsbetrag der Rente, die ein Versicherter für ein Jahr Beiträge, die auf der Grundlage des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten entrichtet werden, beziehen würde. Der Grundwert des aktuellen Rentenwertes betrug 41,44 DM des Jahres 1992. Seitdem wird er jährlich gemäß dem ‚Rentenanpassungssatzދ, der durch die Rechtsverordnung der Bundesregierung bestimmt wird, erhöht (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 252, 257).335 Zurzeit werden bei dem Anpassungssatz neben der Veränderungsrate des Bruttoarbeitsentgeltes der Versicherten auch „jene Belastungen, die durch Aufwendungen zur Altersvorsorge in Form von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur staatlich geförderten privaten
333 „Bei einem Jahr vorzeitigen Rentenbezugs verringert sich also die Rente um 3,6 % (Zugangsfaktor: 1,0 – 0,036 = 0,964), bei einem Jahr aufgeschobener Inanspruchnahme erhöht sie sich um 6 % (Zugangsfaktor: 1,0 + 0,06 = 1,06).“ (Lampert und Althammer 2001: 271) 334 Folgende Rentenartfaktoren sind unterschiedlichen Rentenarten zugeordnet (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 252): Altersrenten, Renten wegen voller Erwerbsminderung, Erziehungsrenten – 1,0 Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung – 0,5 Große Witwer- und Witwenrenten – 1,0, anschließend 0,55 Kleine Witwer- und Witwenrenten – 1,0, anschließend 0,25 Vollwaisenrenten – 0,2 Halbwaisenrenten – 0,1 335 Dank des ‚aktuellen Rentenwertes ދbleibt der Lebensstandard, der von den RentnerInnen im Verlauf ihres Arbeitslebens erreicht wurde, während der Rentenzeit erhalten.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Altersvorsorge[ 336 ] entstehen“ (Lampert und Althammer 2004: 277), berücksichtigt.337 Schließlich werden alle drei Faktoren – die persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert – miteinander multipliziert. Daraus ergibt sich der Monatsbetrag der Rente. Die laufenden Renten werden gemäß der ‚modifizierten Bruttolohnanpassung ދerhöht, indem die Renten durch den oben dargestellten ‚Anpassungssatz ދangepasst werden (Lampert und Althammer 2004: 277). Beim Rentenbezug ab dem 65. Lebensjahr spielt es keine Rolle, ob der Rentner erwerbstätig ist und in welcher Höhe er Arbeitseinkommen erzielt. Die RentnerInnen sind versicherungsfrei (Stahl 2003: 65). Die vorzeitigen Altersrenten hängen jedoch mit der Erwerbstätigkeit der RentnerInnen zusammen. Wenn ein Versicherter noch erwerbstätig ist, kann er seine vorzeitige Altersrente als ‚Teilrente ދerhalten. Bei Inanspruchnahme einer Teilrente darf zum einen Erwerbseinkommen unter bestimmten Grenzen weiter erzielt werden. Zum anderen können weitere Rentenansprüche durch Beitragsleistung erworben werden. Bei der Beantragung der Altersrente als Teilrente können Antragstellende zwischen 1/3, 1/2 oder 2/3 der Vollrente wählen. Die Hinzuverdienstgrenze beträgt 2000 bei einer Teilrente von 1/3 der Vollrente das 23,3fache des aktuellen Rentenwertes. Bei einer Teilrente von 1/2 der Vollrente beträgt die Grenze das 17,5fache, bei 2/3 der Vollrente das 11,7fache (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 48). Beim Aufschieben des Rentenbeginns über das 65. Lebensjahr hinaus kann man bei versicherungspflichtiger Weiterarbeit weitere Rentenansprüche erwerben und somit die Altersrente erhöhen. Die Altersrenten unterliegen grundsätzlich der Besteuerung. Die Beiträge der Krankenversicherung und Pflegeversicherung sind hälftig von dem Rentner und seinem Rentenversicherungsträger aufzubringen (Europäische Kommission 2002j: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 271-274). 6.3.1.5 Der Finanzierungsmodus Die Renten werden heute noch im ‚Umlageverfahren ދfinanziert. 2002 beträgt der Beitragssatz 19,1 % des Einkommensanteils, der unter der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Die Beiträge werden von den ArbeitnehmerInnen und
336 Die ‚staatlich geförderte private Altersvorsorge ދbedeutet die sogenannte ‚Riester-Renteދ. Die Riester-Rente wird unter dem Unterabschnitt 6.4.1.1 dargelegt. 337 2002 beträgt der aktuelle Rentenwert in den alten Bundesländern 25,86 € und in den neuen Bundesländern 22,70 €. Zu weiteren Angaben darüber, wie der Anpassungssatz für den aktuellen Rentewert ermittelt wird, siehe Lampert und Althammer 2004: 274 f.
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den ArbeitgeberInnen je zur Hälfte geleistet (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 279 f., 282). In einer geringfügigen Beschäftigung, deren Entgelt 2002 unter 325 € im Monat liegt, besteht grundsätzlich Versicherungsfreiheit (Europäische Kommission: 2002j). Die geringfügig Beschäftigten zahlen keine Beiträge, aber ihre ArbeitgeberInnen haben 12 % ihres Entgeltes an die Rentenversicherung zu leisten. Zwar sind die ArbeitnehmerInnen nicht versicherungspflichtig, jedoch werden die Beiträge für sie rentensteigernd und zur Erfüllung der Wartezeiten angerechnet (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 281).338 Der Bund leistet Staatszuschüsse zu der Rentenversicherung. 2002 beträgt der Staatszuschuss 26 % der Ausgaben der Rentenversicherung (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003c: 300). 6.3.1.6 Das Trägersystem Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sind in die 23 Landesversicherungsanstalten, die Bundesbahnversicherungsanstalt, die Seekasse, die Bundesknappschaft und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte unterteilt. Der Träger für Angestellte ist der letztgenannte. Der Träger für die Bergleute ist die Bundesknappschaft. Die übrigen Organisationen sind für ArbeiterInnen. Die HandwerkerInnen sind heute noch in den Landesversicherungsanstalten versichert (Lampert und Althammer 2001: 268; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 53). Die Träger der Rentenversicherung sind Selbstverwaltungskörperschaften und Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Aufsicht über die Versicherungsträger, deren Geschäftsbereich sich nur auf das Gebiet eines Bundeslandes erstreckt, führt die oberste Arbeitsbehörde des Bundeslandes. Die Träger, deren Geschäftsbereich sich auf mehrere Bundesländer erstreckt, stehen unter der Aufsicht des Bundes, also des Bundesversicherungsamts im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 275).
338 Ausführlichere Informationen darüber finden sich in Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 248.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
6.3.2 Die Krankensicherung 6.3.2.1 Gesundheitsversorgung 6.3.2.1.1 Die öffentlichen Kostenträger Im Jahr 2002 übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung für ihre Versicherten die Kosten für ambulante und zahnärztliche Versorgung sowie Arzneimittelversorgung. Die Finanzierung für die stationäre Versorgung obliegt der Krankenversicherung, soweit es sich um die Betriebskosten der Krankenhäuser handelt, und den Bundesländern, soweit deren Investitionskosten in Betracht kommen. 6.3.2.1.2 Der erfasste Personenkreis In der gesetzlichen Krankenversicherung sind vornehmlich ArbeiterInnen und Angestellte pflichtversichert. Neben den ArbeitnehmerInnen gehören zu den Versicherungspflichtigen Landwirte, KünstlerInnen und Publizisten, RentnerInnen, Arbeitslose, StudentInnen, Behinderte in anerkannten Werkstätten etc. (Simon 2005: 105). Außerdem sind Ehepartner/in und Kinder solcher Mitglieder beitragsfrei mitversichert (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 56). Die Pflichtversicherten, deren Arbeitsverdienst über der Versicherungspflichtgrenze liegt, können aus der Krankenversicherung austreten. Die Höhe der Versicherungspflichtgrenze ist identisch mit der Beitragsbemessungsgrenze für die Krankenversicherung. Die Grenzen betragen 75 % der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung (Simon 2005: 107).339 6.3.2.1.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Es gibt keine besondere Anspruchsvoraussetzung. Ist man Versicherter der gesetzlichen Krankenversicherung, dann übernimmt seine Krankenkasse die Kosten der medizinischen Versorgungen (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 48).
339 Sie betragen 2002 3.375 € in den alten Bundesländern (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 132).
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6.3.2.1.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer Für die ambulante Behandlung zahlen die Versicherten keine Zuzahlung. Die Kosten übernimmt die Krankenversicherung (Europäische Kommission 2002h). Für die stationäre Krankenhausversorgung gibt es eine Selbstbeteiligung. Bei Aufenthalt im Krankenhaus haben die Versicherten längstens für 14 Tage in einem Jahr pro Tag 9 € zu entrichten (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 147). Die restlichen Kosten für die Krankenhausbehandlung übernehmen die Krankenkassen. Die Investitionskosten der Krankenhäuser sind von den Bundesländern zu übernehmen (Specke 2001: 432). Für Medikamente zahlen die Versicherten je nach Größe der Packung 4 €, 4,5 € oder 5 € zu. Bei Verbandsmitteln beträgt die Selbstbeteiligung einheitlich 4 € je Verordnung. Für Heilmittel müssen die Versicherten 15 % der Kosten zuzahlen. Für Bandagen, Einlagen und Hilfsmittel zur Kompressionstherapie zahlen sie 20 % der Kosten. Die übrigen Kosten dieser Versorgung sind von der Krankenversicherung zu übernehmen (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 56). Bei der Versorgung mit Zahnersatz zahlen die Krankenkassen einen Zuschuss von 50 %. Wenn eine langjährige Zahnpflege des Versicherten nachgewiesen wird, kann der Zuschuss für ihn auf 65 % angehoben werden. Für die übrigen zahnärztlichen Behandlungen gibt es in der Regel keine Selbstbeteilung der Versicherten (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 170173). Die Regelungen über die Befreiung von den Selbstbeteiligungen sind wie folgt: Kinder unter 18 Jahren sind von den Zuzahlungen mit Ausnahme der Selbstbehalte bei Zahnersatz befreit. Die EmpfängerInnen von Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Bundesausbildungsförderung und die Versicherten, deren Familieneinkommen unter der bestimmten Einkommensgrenze 340 liegen, sind außer der Selbstbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt von den übrigen Zuzahlungen vollständig befreit. Befreit werden von den Zuzahlungen zu Arzneimitteln die chronisch Kranken, wenn sie vorher ein Jahr lang für die Behandlung derselben Krankheit Zuzahlungen in Höhe von 1 % ihres Einkommens geleistet haben, und die Versicherten, deren Einkommen die Einkommensgrenze für die vollständige Befreiung überschreiten, wenn sie vorher im Kalenderjahr 2 % ihres
340 „2002 beträgt diese Einkommensgrenze für Alleinstehende 938 Euro im Monat und für Verheiratete 1.289,75 Euro im Monat. Für jeden weiteren Angehörigen, der im Haushalt lebt (zum Beispiel Kinder), erhöht sich der Betrag um jeweils 234,50 Euro. Die Einkommensgrenzen ändern sich jedes Jahr mit der allgemeinen Einkommensentwicklung.“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 57)
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Einkommens für Arzneimittel zugezahlt haben (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 56 f.; 2002b: 152-154). 6.3.2.1.5 Der Finanzierungsmodus Die gesetzliche Krankenversicherung ist in der Regel beitragsfinanziert. Der Beitragssatz variiert je nach Krankenkasse. Der durchschnittliche Beitragssatz liegt 2002 bei 14 % des Einkommensanteils unter der Beitragsbemessungsgrenze. Die Beiträge sind hälftig von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aufzubringen (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 44). In einer geringfügigen Beschäftigung, deren Entgelt 2002 unter 325 € im Monat liegt, besteht grundsätzlich Versicherungsfreiheit (Europäische Kommission: 2002h). Allerdings müssen die ArbeitgeberInnen Pauschalbeiträge von 10 % des Arbeitsentgeltes an die Krankenversicherung zahlen, wenn die versicherungsfreien geringfügig Beschäftigten in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert, z.B. freiwillig versichert oder familienversichert, sind (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 137). Die Krankenkassen bekommen in der Regel keine Zuschüsse aus Steuermitteln des Bundes (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 131). Die Investitionskosten der Krankenhäuser werden in der Regel aus Steuern der Bundesländer finanziert. Die Bundesregierung und die Krankenkassen zahlen zudem an die ostdeutschen Bundesländer Sonderbeiträge für die Investitionskosten. Diese sollten „zur Modernisierung des maroden Krankenhauswesens der ehemaligen DDR und Anpassung des Versorgungsniveaus an das der alten Bundesländer dienen“ (Simon 2005: 206 f.). 6.3.2.1.6 Das Trägersystem Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind in zahlreiche und zum Teil kleine Kassen zergliedert. 2002 gibt es ca. 420 Krankenkassen. Sie gliedern sich im Allgemeinen in die Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen, die Seekasse, die Angestellten- und Arbeiterersatzkassen, die Bundesknappschaft sowie die landwirtschaftlichen Krankenkassen auf (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 181). Bei allen Krankenkassen handelt es sich um Selbstverwaltungskörperschaften. Sie sind finanziell und organisatorisch unabhängig und verantworten selbst den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben. Um die überregionalen und gemeinsamen Interessen der Kassen zu fördern, verfügen sie über Zusammenschlüsse auf Länder- und Bundesebene (Lampert und Althammer 2004: 249).
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
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Die Träger für die Krankenversicherung sind auch Körperschaften des öffentlichen Rechts, die staatlicher Aufsicht unterstehen. Die Aufsicht über die Krankenkassen, deren Zuständigkeitsbereich sich nur auf das Gebiet eines Bundeslandes erstreckt, und über die Landesverbände der Krankenkassen führen die Aufsichtsbehörden der Länder. Diese obersten Versicherungsaufsichtsbehörden der Länder unterstehen den entsprechenden Länderministerialverwaltungen, also den Ministern und Senatoren für Arbeit und Soziales, oder, entsprechend abweichender landesrechtlicher Rechtsverordnung, den dann für sie zuständigen Ministerien. Die Krankenkassen, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, und die Spitzenverbände der Krankenkassen stehen unter der Aufsicht des Bundesversicherungsamtes und des Bundesministeriums für Gesundheit (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 188). Für die Investitionskosten der Krankenhäuser und ihre Zuweisung sind die Landesregierungen verantwortlich. 6.3.2.2 Die Verdienstersatzleistungen 6.3.2.2.1 Die Leistungsarten Verdienstersatzleistungen bei Krankheit bestehen aus der Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen341 und dem Krankengeld der gesetzlichen Krankenversicherung. 6.3.2.2.2 Der erfasste Personenkreis Die Entgeltfortzahlung erfasst die ArbeitnehmerInnen. Von den bereits oben genannten Pflichtversicherten der Krankenversicherung haben die Versicherten mit Ausnahme einiger Gruppen, z.B. RentnerInnen, StudentInnen und Familienversicherte, Anspruch auf das Krankengeld (Sozialgesetzbuch V § 44 Abs.1; Merkens und Birgelen 1993: 110). 6.3.2.2.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um die Verdienstersatzleistungen zu bekommen, muss die Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit dem Arbeitgeber und der Krankenkasse gemeldet werden. 341 „Mit dem Entgeltfortzahlungsgesetz vom 1.6.1994 wurde die bisher gesetzlich zersplitterte und nach einzelnen Arbeitnehmergruppen differenzierende Lohn- und Gehaltsfortzahlung bei Krankheit […] auf eine einheitliche Basis gestellt.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006c: 4). D.h. der offizielle Titel der Gehalts- und Lohnfortzahlung ist seit 1994 die ‚Entgeltfortzahlungދ.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Dabei wird eine ärztliche Bescheinigung benötigt (Europäische Kommission 2002i; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 150). 6.3.2.2.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 6.3.2.2.4.1 Die Entgeltfortzahlung Bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit wird zunächst die Entgeltfortzahlung gewährt. Sie hat keine Karenztage und beträgt 100 % des Bruttoarbeitsentgeltes. Nach sechs Wochen wird sie durch das Krankengeld abgelöst (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003b: 66). Sie ist steuer- und sozialabgabenpflichtig (Europäischen Kommission 2002i). 6.3.2.2.4.2 Das Krankengeld Das Krankengeld beträgt 70 % des letzten Bruttoarbeitsentgeltes bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Es kann jedoch 90 % des letzten Nettoarbeitsentgeltes nicht überschreiten. Für dieselbe Krankheit wird das Krankengeld höchstens für 78 Wochen innerhalb von drei Jahren geleistet (Lampert und Althammer 2004: 248). Dauert die Krankheit über 78 Wochen hinaus an, kann das Krankengeld durch eine Leistung aus der Rentenversicherung ersetzt werden. Das Krankengeld wird ausgesetzt, soweit ein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt bezogen wird (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 150 f.). Es ist steuerfrei (Europäische Kommission 2002i), jedoch sozialabgabenpflichtig (Boechk u.a. 2004: 285). Die Beiträge zur Renten- und zur Arbeitslosenversicherung bezüglich des Krankengeldes werden hälftig von der Krankenkasse und von dem Leistungsempfänger getragen (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 69, 295). 6.3.2.2.5 Der Finanzierungsmodus Die ArbeitgeberInnen finanzieren die Entgeltfortzahlung für ihre ArbeitnehmerInnen. Allerdings gibt es für kleine Betriebe ‚Kostenrückerstattungsregelungenދ. Diese Regelungen sind identisch mit den früher bezüglich der 70er Jahre bereits erklärten Regeln (vgl. Techniker Krankenkasse 2002; Lißner und Wöss 1999: 191). Zur Finanzierung für die Krankenversicherung siehe oben den Unterabschnitt ‚6.3.2.1.5 Der Finanzierungsmodusދ.
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
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6.3.2.2.6 Das Trägersystem Die Träger der Entgeltfortzahlung sind die ArbeitgeberInnen. Die Träger für das Krankengeld sind Krankenkassen, die oben unter dem Unterabschnitt ‚6.3.2.1.6 Das Trägersystem ދgenannt wurden. 6.3.3 Die Arbeitslosensicherung 6.3.3.1 Die Leistungsarten Die Hauptleistungen der Arbeitslosenversicherung setzen sich aus dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe zusammen. 6.3.3.2 Der erfasste Personenkreis In der Arbeitslosenversicherung werden ArbeitnehmerInnen pflichtversichert (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 26 f.). 6.3.3.3 Die Anspruchsvoraussetzungen Um das Arbeitslosengeld zu beziehen, müssen Arbeitslose die Anwartschaftszeit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung von 12 Monaten in den letzten 3 Jahren vor der Arbeitslosmeldung erfüllen (Lampert und Althammer 2001: 281). Die Arbeitslosenhilfe erhält derjenige, dessen Anspruch auf das Arbeitslosengeld aufgrund ausgelaufener Bezugsdauer erloschen ist oder der einen solchen Anspruch mangels Erfüllung der Anwartschaft noch nicht erworben hat. Letzterer muss zudem innerhalb eines Jahres vor der Arbeitslosmeldung mindestens fünf Monate eine versicherungspflichtige Arbeit geleistet haben. Darüber hinaus ist die Bewilligung für den Bezug von Arbeitslosenhilfe an eine Bedürftigkeitsprüfung geknüpft. Bei der Bedürftigkeitsprüfung werden die Einkommen und Vermögen der Antragstellenden und des/der Ehepartners/-in berücksichtigt (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 7). 6.3.3.4 Das Leistungsniveau und die Leistungsdauer 6.3.3.4.1 Das Arbeitslosengeld Das Arbeitslosengeld bemisst sich nach dem letzten Arbeitsentgelt und dem Familienstand der Antragstellenden. Das Arbeitslosengeld entspricht für einen
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Versicherten, der mindestens ein Kind hat, 67 % seines letzten Nettoentgeltes bis zur Beitragsbemessungsgrenze.342 Die übrigen Arbeitslosen erhalten 60 % des letzten Nettoentgeltes (Werner und Winkler 2003: 24; Lampert und Althammer 2004: 297). Es bestehen keine Karenztage für den Bezug des Arbeitslosengeldes (Europäische Kommission 2002c). Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes hängt von einer beitragspflichtigen Beschäftigungszeit innerhalb der letzten sieben Jahre vor der Arbeitslosmeldung und dem Lebensalter der Antragstellenden ab. Die untere Tabelle 26 zeigt die Relationen zwischen der Bezugsdauer und den zwei Faktoren (Lampert und Althammer 2001: 282). Tabelle 18: Die Bezugsdauer vom heutigen Arbeitslosengeld Nach Versicherungszeit von insges. mindestens 12 Monaten 16 Monaten 20 Monaten 24 Monaten 28 Monaten 32 Monaten 36 Monaten 40 Monaten 44 Monaten 48 Monaten 52 Monaten 56 Monaten 60 Monaten 64 Monaten
Und nach Vollendung des Lebensjahres
45. 45. 45. 47. 47. 52. 52. 57. 57. 57.
Dauer des Anspruchs 6 Monate 8 Monate 10 Monate 12 Monate 14 Monate 16 Monate 18 Monate 20 Monate 22 Monate 24 Monate 26 Monate 28 Monate 30 Monate 32 Monate
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 7
Die Versicherten können desto länger das Arbeitslosengeld beziehen, je älter sie sind und je länger sie gearbeitet haben. Wenn der Empfänger des Arbeitslosengeldes durch eine geringfügige Nebenbeschäftigung ein Einkommen erzielt, erfolgt eine Kürzung der Leistung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 58). Daneben gibt es Sanktionen. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld entfällt je nach Lage des Falles für 3 bis 12 Wochen. Verhängt werden die Sperrzeiten z.B. wegen Aufgabe des Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund, Ablehnung einer zu342 Die Beitragsbemessungsgrenze ist mit der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung identisch.
6.3 Die heutigen deutschen sozialen Sicherungssysteme
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mutbaren Beschäftigung, Ablehnung oder Abbruchs einer Trainingsmaßnahme oder eines Beschäftigungsprogramms (Werner und Winkler 2003: 24; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 58 f.). Das Arbeitslosengeld ist steuer- und sozialabgabenfrei. Während der Bezugszeit des Arbeitslosengeldes entrichtet der Träger der Arbeitslosenversicherung Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung (Europäische Kommission 2002c; Lampert und Althammer 2001: 282). 6.3.3.4.2 Die Arbeitslosenhilfe Die Arbeitslosenhilfe richtet sich auch wie beim Arbeitslosengeld nach dem letzten Arbeitsentgelt und dem Familienstand der Antragstellenden. Die Arbeitslosenhilfe beträgt für Versicherte mit mindestens einem Kind 57 % des letzten Nettoentgeltes. Für die übrigen Arbeitslosen beläuft sie sich auf 53 %. Nach der Prüfung der Einkommen und Vermögen kann je nach Höhe dieser Prüfkriterien die Arbeitslosenhilfe gekürzt oder ganz ausgesetzt werden (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002a: 7). Die Arbeitslosenhilfe wird grundsätzlich zwar ohne zeitliche Begrenzung gewährt, jedoch muss sie jährlich erneut beantragt werden (Werner und Winkler 2003: 24). Die Regelungen des Arbeitslosengeldes über Karenztage, Arbeitseinkommen während des Leistungsbezugs, Sanktionen, Besteuerung und Sozialabgaben gelten ebenso für die Arbeitslosenhilfe (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 61). 6.3.3.5 Der Finanzierungsmodus Die Mittel für die Finanzierung des Arbeitslosengeldes werden durch Beiträge aufgebracht. Der Beitragssatz beträgt 2002 6,5 % des Einkommensanteils unter der Beitragsbemessungsgrenze. Die Beiträge sind von den ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen je zur Hälfte zu tragen (Europäische Kommission 2002k).343 Die Arbeitslosenhilfe wird vom Bund mit allgemeinen Steuermitteln finanziert. Die Bundesregierung überträgt den Haushalt der Arbeitslosenhilfe an die Bundesanstalt für Arbeit. Außerdem gleicht der Bund mit staatlichen Zuschüssen
343 Versicherungsfrei sind 2002 die geringfügig Beschäftigten mit den monatlichen Entgelten unter 325 € (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 27). Die Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen zahlen also keine Beiträge und die Beschäftigten erwerben keine Ansprüche.
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mögliche Etatdefizite der Bundesanstalt für Arbeit aus (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 67).344 6.3.3.6 Das Trägersystem Die Aufgaben zur Gewährung des Arbeitslosengelds und der Arbeitslosenhilfe werden im Jahr 2002 von der Bundesanstalt für Arbeit mit ihren 10 Landesarbeitsämtern und 181 örtlichen Arbeitsämtern durchgeführt. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die Arbeitslosenversicherungsträger stehen unter der Aufsicht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (Werner und Winkler 2003: 23). 6.4 Die Auswertung der Transformation der deutschen sozialen Sicherungssysteme 6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme 6.4.1 Die Transformation der Alterssicherungssysteme 6.4.1.1 Die Restrukturierung Im Bereich Alterssicherung Deutschland entstanden die ‚Abschaffungދ, der ‚Ersatz ދoder die ‚Einführung ދnicht, das heißt keine Restrukturierungen der Leistung.345 1992 wurde die Rentenformel reformiert. Die Höhe der Renten wird nach einer neuen Formel berechnet. Allerdings: „Diese führte im Wesentlichen zum 344 Seit der Mitte der 70er Jahre wiederholen sich Zu- und Abnahme des Defizits kontinuierlich. In fast allen Jahren sind aber die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit höher als ihre Einnahmen. D.h. sie erhält nahezu jedes Jahr Zuschüsse vom Bund (siehe Statistisches Bundesamt 2002: 466; 2004: 200; Schmid und Frank 2005: 276; 2007: 478). 345 Auch in Deutschland gab es mittlerweile im Zuge der Reformdiskussion noch weitere Vorschläge, die auf eine strukturelle Umgestaltung der Rentenversicherung abzielten (siehe Lampert und Althammer 2004: 289 ff.; Zacher 2001: 609 f.; Neumann 2004: 69 f.; Pilz 2004: 177 ff.). Beispielsweise wurden die Vorschläge zur Einführung einer Grundrente eingebracht. Allerdings: „Vorschläge, das Alterssicherungssystem auf steuer- oder beitragsfinanzierte Staatsbürger-Grundrenten umzustellen, die zur Vermeidung von Armut im Alter ein Mindestsicherungsniveau für jedermann gewährleisten, werden u.a. vom Sozialbeirat, von der CDU/CSU und von der SPD abgelehnt, weil steuerfinanzierte Grundrentensysteme den Zusammenhang zwischen Arbeitsleistung und Altersversorgungsniveau auflösen, die Entstehung einer Versorgungsmentalität fördern, die durch die Überalterung der Bevölkerung in Zukunft entstehenden Finanzierungsprobleme nicht wesentlich entschärfen würden und zu einer starken Differenzierung der Altersrenten führen, weil sich nur Wohlhabende über die private Vermögensbildung und/oder eine private Rentenversicherung hohe Renten leisten könnten.“ (Lampert und Althammer 2004: 289)
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
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gleichen Ergebnis wie die seit 1957 angewandte Rentenformel.“ (Lampert und Althammer 2004: 270; Hierzu ausführlicher Michaelis und Heller 1990 und Ruland 1989).346 Nach langen Diskussionen über die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung, die durch die Schrumpfung der Bevölkerungszahl und die Überalterung der Bevölkerung – weniger BeitragszahlerInnen auf immer mehr RentenempfängerInnen – gefährdet ist347, wurde am 11. Mai 2001 das ‚Altersvermögensgesetz ދverabschiedet: „Das am 01. Jan. 2002 im Kraft getretene Gesetz soll den Beitragssatz in der GRV stabilisieren sowie zu einer verstärkten betrieblichen und privaten Altersvorsorge anregen. Dadurch wird die umlagefinanzierte GRV durch eine kapitalstockgedeckte private Rentenversicherung ergänzt“ (Lampert und Althammer 2004: 96). Um die Überlastung der jungen Generationen durch die Finanzierung der Renten der ständig zunehmenden Alten zu vermeiden, wird vorrangig nach einer nachhaltigen Dämpfung des Beitragssatzanstiegs der gesetzlichen Rentenversicherung gestrebt: „Daher wurden die langfristigen Beitragssatzziele erstmals gesetzlich festgelegt. Seit dem Jahr 2001 ist gesetzlich vorgegeben, dass der Beitragssatz bis zum Jahr 2020 nicht die Marke von 20 % und bis zum Jahr 2030 nicht die Marke von 22 % überschreiten soll.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 251) Dementsprechend soll das gegenwärtige Bruttoniveau der Altersrente von ca. 50 % bis zum Jahr 2030 auf 43 % schrumpfen und das heutige Nettoniveau von etwa 70 % auf 64 % zurückgehen.348 Um das sich mindernde Niveau der öffentlichen Renten zu ergänzen, werden zugleich die Privatrenten, also die Betriebsrente und die private individuelle Altersvorsorge, staatlich gefördert. Förderberechtigt für die sogenannte ‚Riester-Rente ދsind alle Pflichtversicherten der gesetzlichen Rentenversicherung (Lampert und Althammer 2004: 291). Bei ihrem Vertragsabschluss bzw. beim Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Privatrente hilft der Staat ihnen mit finanziellen Zuschüssen in Form von Zulagen (Grundzulage und Kinderzulage), Steuervorteilen und Beitragsersparnissen in der Sozialversicherung (Pilz 2004: 171 f.; Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006a: 105 ff.).349 346 „Die Rentenformel wurde neu gestaltet, so dass es auch dem Sozialversicherungslaien möglich sein sollte, den mathematischen Hintergrund der Rentenberechnung zu verstehen und nachzuvollziehen.“ (Lißner und Wöss 1999: 118) 347 Der Rentnerquotient, der aus der Zahl der RentenempfängerInnen und der Zahl der beitragszahlenden Versicherten ermittelt wird, wird sich voraussichtlich von gegenwärtig 53 % bis 2030 auf 88 % erhöhen (Lampert und Althammer 2004: 281). 348 Die Schrumpfung des Rentenniveaus und die Maßnahmen dafür werden unten ausführlicher erklärt. 349 Ausführlichere Informationen über die finanziellen Zuschüsse finden sich in Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006d.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Allerdings sollte hier darauf hingewiesen werden, dass der Eintritt in die Privatrente nicht obligatorisch ist. Neben dem verpflichtenden Aufbau eigener Rentenansprüche in der Staatsrente können ihre Versicherten freiwillig entscheiden, ob sie zusätzlich eine Privatrente aufbauen oder nicht (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 261), obwohl „[t]here is a direct link between contributions for private pension provision and the level of public pensions via the pension formula of social pension insurance.“ (Schmähl 2005a: 133) Folglich wird diese staatlich geförderte ‚freiwillige ދPrivatrente nicht als die ‚Einführung ދbewertet, weil es bei der Restrukturierung im Sinne dieser Arbeit um ‚obligatorische ދLeistung geht.350 Parallel zu der Förderung der Privatrente lässt sich in Deutschland auch wie in Großbritannien die Verstärkung der Sozialhilfeleistung für Alte beobachten, um den stetigen Rückgang des Rentenniveaus zu ergänzen. Durch das ‚Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderungދ, das im Juni 2001 verabschiedet wurde und im Januar 2003 in Kraft trat, wurden die in dem Sozialhilfegefüge vorhandenen Fürsorgeleistungen für Alte und Erwerbsgeminderte von der Sozialhilfe getrennt und zugleich verstärkt. Die Leistungen für die hilfebedürftigen Personen über dem 65. Lebensjahr und die dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen umfassen den Regelsatz der Sozialhilfe zuzüglich eines Mehrbedarfszuschlags von 17 % sowie der Unkosten für Unterkunft und Heizung. Dafür werden alle Einkommen und Vermögen der Antragstellenden und des/der Partners/-in geprüft. Im Unterschied zur Sozialhilfe werden allerdings die Einkommen und Vermögen ihrer unterhaltspflichtigen Eltern oder Kinder nicht berücksichtigt, sofern deren jährliche Einkommen 100.000 € nicht überschreiten. Im Jahr 2005 wurden diese Regeln des Gesetzes in das SGB XII, das sog. Sozialhilfegesetz, als das vierte Kapitel überführt (Lampert und Althammer 2004: 329; Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005). 6.4.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Im Modellfall der deutschen Rentenversicherung gibt es eine ‚Standardrenteދ. Sie entspricht der Altersrente aus 45 Versicherungsjahren mit Durchschnittsverdienst aller Versicherten ab Vollendung des 65. Lebensjahres. „Der Begriff suggeriert, dass es sich hierbei um eine Durchschnittsrente handelt.“ (Lißner und Wöss 1999: 108) Nach der Rentenreform 1957 war das Rentenniveau, vor allem das Nettoniveau, ständig gestiegen. 1977 betrug das Bruttoniveau der Standardrente 350 Eine ausführliche Erklärung über die Riester-Rente bieten Döring 2002 und Schmähl 2005a.
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
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52,1 % des Bruttoarbeitseinkommens und das Nettoniveau 73,8 % des Nettoarbeitseinkommens (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 245). Seitdem versuchte die deutsche Regierung, durch vielfältige Maßnahmen die beiden Niveaus der Renten zu vermindern. Die als ‚Stabilisierungsmaßnahmenދ bezeichneten Maßnahmen waren folgende: In den Jahren 1979, 1980 und 1981 wurden die Rentenanpassungen unabhängig von der Erhöhung der Löhne und Gehälter mit den bestimmten Sätzen von 4,5 % (1979) und 4 % (1980 und wiederum 1981) festgesetzt (Schmidt 1998: 99; Frerich 1996: 84). Sie waren damit geringer als die damaligen Bruttolohnzuwächse. Außerdem haben die RentnerInnen in den Jahren 1983 bis 1987 stufenweise steigend die Beiträge für ihre Krankenversicherung – 1987 entsprach diese Zahlung schließlich dem halben Beitragssatz – zu zahlen, „so dass der Anstieg der verfügbaren Rente nach Abzug des von den Rentnern zu tragenden Krankenversicherungsbeitrages niedriger ausfiel als der Anstieg der Bruttorente.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 316) Seit 1992 wurden für die Rentenanpassung neben der Veränderungsrate der Bruttolöhne und -gehälter zudem „die durchschnittliche Belastungsveränderung dieser Entgelte durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sowie die Belastungsveränderungen bei den Renten berücksichtigt“ (Lampert und Althammer 2004: 277).351 Dieser Übergang zur Nettoanpassung führte dazu, dass sich das im Jahr 1991 vorgelegte Nettorentenniveau von ca. 70 % nicht mehr erhöhte, sondern das an diesem Niveau festgehalten wurde (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 250). 2001 wurden die Faktoren für die Rentenanpassung noch einmal geändert (Pilz 2004: 172). Die Veränderungsrate des Bruttoarbeitsentgeltes der Versicherten werden seitdem „nicht mehr um die gesamte Änderung der Steuer- und Abgabenlast korrigiert, sondern nur noch um jene Belastungen, die durch Aufwendungen zur Altersvorsorge in Form von Beiträgen zur Gesetzlichen Rentenversicherung und zur staatlich geförderten privaten Altersvorsorge entstehen.“ (Lampert und Althammer 2004: 277) Nach der neuen Anpassungsformel werden die Renten gemäß der Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter abzüglich der Beiträge für die Rentenversicherung und der Beiträge für die privaten Riester-Renten angepasst (Pilz 2004: 178). Durch die geringere Rentenanpassung erhofft man sich die Verminderung des Bruttoniveaus auf 43 % bis 2030 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 253) und die Verringerung des Nettoniveaus auf 64 % bis zum nämlichen Jahr (Lampert und Althammer 2004: 290). 351 Ausführlichere Informationen über die Rentenanpassungsformel von 1992 finden sich in Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2002b: 258 f. und Lampert und Althammer 2001: 264 f.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Infolge der oben erwähnten Maßnahmen der deutschen Regierung vermindern sich ständig die Rentenniveaus. 2002 belief sich das Bruttoniveau der Standardrente auf 48,3 %, das Nettoniveau auf 68,9 % (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 245). Eine andere Veränderung innerhalb der Rentenstruktur ist, dass der Kinderzuschuss für Zugangsrenten nach dem 01. Januar 1984 nicht mehr gezahlt wird (Lampert und Althammer 2004: 276). Der Kinderzuschuss schloss das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz aus. Seit 1984 bekommen die RentnerInnen mit Kindern das Kindergeld statt des Kinderzuschusses. Die Anspruchsvoraussetzungen wurden mittlerweile einerseits verschärft und anderseits gelindert. Als Linderung sind die folgenden zu nennen: 1984 wurde die Wartezeit für die Regelrente von 15 Jahren auf 5 Jahre verkürzt. Die Altersgrenze der ‚Altersrente für schwerbehinderte Menschen ދwurde 1980 von dem 62. Lebensjahr auf das 60. Lebensjahr herabgesetzt. 1992 wurden die Voraussetzungen für die Anrechnung der Ausfall-, Ersatz- und Zurechnungszeiten, z.B. die Halbdeckung, abgeschafft.352 Als Verschärfung wurde 1982 die Regelung der Pflichtbeiträge von acht Jahren bei der ‚Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ދeingeführt. Des Weiteren führen seit 1992 die vorzeitigen Renten zu den Abschlägen. Ziel der Einführung des Rentenabschlages ist es, „die durch die Verschlechterung der Altersstruktur der Bevölkerung verursachte Verschlechterung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen Rentnern und beitragszahlenden Erwerbstätigen zu verbessern, um die Rentenfinanzierung langfristig zu sichern und die Beitragszahler nicht übermäßig zu belasten“ (Lampert und Althammer 2004: 269). Bis Ende 1991 konnten Rentenberechtigte keinen Antrag auf eine vorzeitige Rente stellen, wenn sie dabei erwerbstätig waren. Seit 1992 kann allerdings ein Rentenberechtigter bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit im Rahmen bestimmter zulässiger Hinzuverdienstgrenzen einen bestimmten Teil seiner vorzeitigen Altersrente erhalten (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 222). Gleichzeitig mit dem Bezug der Teilrente können sie außerdem Rentenansprüche weiter erwerben. Infolge dieser Reform wurde die Grenze zwischen Arbeitsleben und Ruhestand aufgeweicht. Durch die Reform wird nicht nur der gleitende Übergang von der Vollerwerbstätigkeit in den Ruhestand gefördert, sondern auch der Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung durch die RentnerInnen erhöht, denn die Summe aus Teilrente und dem Hinzuverdienst ist 352 „[B]ei Rentenbeginn ab 1992 [werden] beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten ohne weitere Voraussetzungen angerechnet. Durch den Verzicht auf die bisherige Anrechnungsvoraussetzung der Halbbelegung bzw. einer bestimmten Beitragsdichte werden die damit verbundenen Zufallsergebnisse (Alles-oder-Nichts-Prinzip) vermieden.“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 248)
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
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deutlich höher als der Betrag der vorzeitigen Vollrente (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 222 f.). Eine weitere Förderung der Arbeitsaufnahme stellt die Tatsache dar, dass die Zuschläge beim Hinausschieben des Rentenbeginns nach dem 65. Lebensjahr heute unbegrenzt gewährt werden, während in der Vergangenheit die Rentenberechtigten die Zuschläge nur für den Rentenverzicht bis zum 67. Lebensjahr erhalten konnten. Mit Bezug auf den erfassten Personenkreis lässt sich eine geringfügige Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten beobachten. In erster Linie wurden einige Gruppen der Selbständigen hinzugefügt. Zum Beispiel werden seit 1999 die ‚Scheinselbständigenދ, also die auf Dauer nur für einen Auftraggeber tätigen Selbständigen, in die Rentenversicherungspflicht einbezogen. Daneben wurde die Zeitgrenze der Beantragung für den Einbezug in die Versicherungspflicht für Selbständige von zwei Jahren auf fünf Jahre erweitert. Von den nicht erwerbstätigen Bevölkerungsteilen werden die Eltern und die ehrenamtlichen Pflegepersonen pflichtversichert. Allerdings besteht der Sinn der gesetzlichen Rentenversicherung als „eine Einrichtung zur Daseinvorsorge hauptsächlich für Arbeitnehmer( “ދStröer 1976: 56) heute noch unverändert fort. Im deutschen Rentenrecht wurde eine Reihe von familienbezogenen Regelungen, d.h. die Familienkomponenten, die vor allem der besonderen Situation von Müttern Rechnung tragen, kontinuierlich eingeführt. 1986 wurde eine Kindererziehungszeit für ein Jahr nach der Geburt eines Kindes eingeführt. Dadurch erfolgte erstmals eine ‚reale ދBeitragszahlung vom Staat für kindererziehende und nicht erwerbstätige Frauen. Vorher konnten die wegen der Erziehung von Kindern nicht erwerbstätigen Frauen keine Altersrentenansprüche erwerben. Das Rentenreformgesetz 1992 setzte die Entwicklung der Maßnahmen zum Ausgleich für die rentenrechtlichen Nachteile der Mütter fort. Die Kinderziehungszeit wurde auf 3 Jahre erweitert. Damit werden Mütter – ggf. auch Väter – für die Zeiten der Kindererziehung in die Versicherungspflicht für die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen. Dabei wurde auch die ‚Berücksichtigungszeit ދwegen Kindererziehung eingeführt, welche sich rentenbegründend und im Rahmen der Bewertung beitragsfreier Zeiten rentensteigernd auswirkt (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 268). Später wurden die familienpolitischen Leistungen im Rahmen der Rentenreform 2001 weiter verbessert. Dazu gehört insbesondere die Regelung der kinderbezogenen Rentengutschrift von 33 % des Durchschnittsverdienstes für die Frauen, die wegen der Erziehung von zwei oder mehr Kindern nicht erwerbstätig sein können. Des Weiteren wurden die Vorschriften der Höhebewertung der Beiträge für die Zeit bis zum 10. Lebensjahr eines Kindes eingeführt. Dadurch sollten die rentenrechtlichen Nachteile für die Elternteile ausgeglichen werden, die sich im Wesentlichen um die Erziehung eines Kindes kümmern und in der
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Folge nur eine Teilzeitarbeit ausüben oder nur unterdurchschnittlich verdienen. Durch die Vorschriften der Höhebewertung sollten also die eigenen Renten der erziehenden und gleichzeitig erwerbstätigen Mütter erhöht werden und die eigenständige Alterssicherung von Frauen verbessert werden (Pilz 2004: 175; Lampert und Althammer 2004: 272). Wie oben bei der Erklärung der Veränderung des erfassten Personenkreises erwähnt wurde, wurden seit 1992 auch die Personen, die ein Familienmitglied mit einem bestimmten Zeitaufwand pflegen, in die Versicherungspflicht einbezogen. Mit der Regelung wird die gegenwärtige Pflegetätigkeit der Frauen in der Familie bei ihrer zukünftigen Rente vergütet (Stahl 2003: 74). 1999 wurde das ‚Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ދeingeführt. Gemäß dem Gesetz haben ArbeitgeberInnen 12 % des Entgelts der geringfügig Beschäftigten an die Rentenversicherung zu entrichten. Die geringfügig Beschäftigten sind zwar nicht versicherungspflichtig, aber die Beiträge der ArbeitgeberInnen wirken sich für die Beschäftigten rentensteigernd aus und werden auch zur Erfüllung der Wartezeiten angerechnet. Darüber hinaus wird den geringfügig Beschäftigten eine Möglichkeit gegeben, auf die gesetzlich vorgesehene Versicherungsfreiheit zu verzichten und den Differenzbetrag zum regulären Beitragssatz selbst abzuführen.353 Dadurch erwerben sie die vollen Rentenansprüche (Lampert und Althammer 2001: 257). Diese Reform zielt darauf ab, mittelfristig die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen, die Personen in diesen Beschäftigungsverhältnissen sozial abzusichern und der Rentenversicherung weitere Beitragsquellen zu ihrer finanziellen Stabilisierung zu erschließen (Deutscher Gewerkschaftsbund 2000; Lampert und Althammer 2001: 257).354 Auch der Sinn der Berücksichtigung der ‚Scheinselbständigenދ, und zwar der ‚scheinselbständigen ArbeitnehmerInnenދ, die seit 1999 in die Rentenversicherungspflicht einbezogen werden, ist ähnlich mit den Zielen der Reform für geringfügig Beschäftigte: Die Transformation von sozialversicherungspflichtigen in sozialversicherungsfreie Arbeitsplätze soll gestoppt werden (Lampert und Althammer 2004: 267).355 353 Der Differenzbetrag beträgt 2002 also 7,1 %. 354 „Die Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse war in den letzten Jahren sehr umstritten, weil solche Arbeitsverhältnisse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in wachsendem Umfang abgeschlossen werden, um die Abführung von Sozialbeiträgen zu vermeiden. Durch das Gesetz zur Neuregelung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999 wurden diese Beschäftigungsverhältnisse grundlegend neu geregelt.“ (Lampert und Althammer 2001: 257) 355 „Sinn dieser Norm ist die Bekämpfung der sog. Scheinselbständigkeit, d.h. der Umgehung der Sozialversicherungsbeitragspflicht durch ,Umwandlung‘ eines vormals abhängigen Beschäftigungsverhältnisses in eine selbständige Erwerbstätigkeit im Auftrag des vorherigen Arbeitsgebers.“ (Lampert und Althammer 2004: 267; Hervorhebung im Original)
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
323
In der Rentenversicherung, der Krankenversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung gab es traditionell die ‚Geringfügigkeitsgrenze ދund die ‚Geringverdienergrenzeދ. Die Geringfügigkeitsgrenze ist der Grenzwert des Arbeitsentgeltes für die Versicherungsfreiheit in einer geringfügig entlohnten Beschäftigung. Die Geringverdienergrenze war die Grenze für die alleinige Beitragspflicht der ArbeitgeberInnen. Überstieg das Arbeitsentgelt die Geringverdienergrenze nicht, trugen die ArbeitgeberInnen für ihre ArbeitnehmerInnen die gesamten Versicherungsbeiträge, um die finanzielle Belastung der Geringverdienenden zu verringern. Seit 1979 wurde die Geringverdienergrenze höher als die Geringfügigkeitsgrenze festgelegt (vgl. Döring 1980: 40 f.; Püllmann 1978: 22; Jorks 1978: 29; Schneider 1984: 52, 154). 356 Seitdem konnten also nicht nur die ‚speziellenދ Pflichtversicherten, z.B. Behinderte in anerkannten Werkstätten, sondern auch die ‚üblichen ދPflichtversicherten auch keine Beiträge zahlen, wenn ihre Entgelte zwischen den beiden Grenzen lagen. Trotzdem erwarben die Versicherten die Leistungsansprüche, weil ihre ArbeitgeberInnen die gesamten Beiträge allein entrichten mussten. Im Jahr 1997 wurden die Höhe der Geringfügigkeitsgrenze und die der Geringverdienergrenze aneinander angeglichen, deshalb wurde seit 1997 die Geringverdienergrenze bedeutungslos. 1999 wurde die Geringverdienergrenze ganz aufgehoben (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 282).357 Gemäß dem Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, dem sogenannten Hartz-II-Gesetz, werden seit dem April 2003 die Bewertungsgröße des Mini-Jobs, dessen Entgelt unter 400 € liegt, und des Midi-Jobs, dessen Entgelt zwischen 401 € und 800 € liegt, eingeführt. Die Regelungen bezüglich des Mini-Jobs sind ähnlich der gerade oben erwähnten Regelungen für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Ein Unterschied ist die Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze von 325 € auf 400 €. Beim Midi-Job tragen die entsprechenden ArbeitnehmerInnen für ihre Arbeitsentgelte die von 4 auf 21 Prozent stufenweise gemäß der Höhe des Entgeltes steigenden Sozialversicherungsbeiträge. Die ArbeitnehmerInnen werden also desto abgabengünstiger, je mehr ihre Arbeitsentgelte innerhalb der Grenze von 401 € und 800 € sich 400 € annähern. Aber ihre ArbeitgeberInnen haben die üblichen Beitragsbeträge bis zu den regulären Beitragssätzen zu entrichten (Pilz 2004: 164).358 Mit den Ermä356 Z.B. betrug im Jahr 1987 die Geringfügigkeitsgrenze 430 DM, während die Geringverdienergrenze sich auf 570 DM belief (Frerich 1987: 155, 315). 357 Allerdings besteht eine Sondergrenze für spezielle Pflichtversicherte heute noch. 358 Ausführlichere Informationen über Mini- und Midi-Job finden sich in Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003c: 292-295.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
ßigungsmaßnahmen der Sozialbeiträge für die geringverdienenden ArbeitnehmerInnen erhofft man sich vornehmlich, den Niedriglohnbereich massiv auszubauen, den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen und damit mehr Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen (vgl. Bundesregierung 2003: 33; Pilz 2004: 164). Wenn man die Maßnahmen bezüglich der geringfügigen Arbeitsverhältnisse im Jahr 1999 und die Regelungen des Mini-Jobs und Midi-Jobs im Jahr 2003 zusammen berücksichtigt, wird der Wille der deutschen Regierung wahrgenommen, dass sie zwar einerseits nach der Ausweitung der Niedriglohnbereiche strebt, aber andererseits zunehmende Ausweichungsbestrebungen zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken versucht. Schließlich lässt sich bei den Finanzierungsmodi beobachten, dass in Deutschland in Gegensatz zu Großbritannien und Schweden die Beteiligung des Staates aus allgemeinen Steuermitteln an der Finanzierung der Rentenversicherung mittlerweile sogar zugenommen hat.359 1974 zahlte der Bund 17,7 % der Gesamtenausgaben der Rentenversicherung. Demgegenüber betragen die Staatszuschüsse heute 26 %, also ein Viertel der Gesamtenausgaben.360 Die deutsche Bundesregierung erhöhte vor allem zur Senkung der Beitragssätze der Versicherten und ihrer ArbeitgeberInnen die allgemeinen Bundeszuschüsse aus Steuermitteln (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 286f.).361
359 „Der Staatszuschuss stellt seit jeher eine Finanzierungsart dar, die für die gesetzliche Rentenversicherung typisch ist. Diese Zuschüsse zur Rentenversicherung werden seit Einführung der Invalidenversicherung im Jahre 1891 ununterbrochen gezahlt“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 284). 360 Die Rentenausgaben in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten betrugen im Jahr 1975 72.832 Mio. DM und im Jahr 2000 272.914 Mio. DM (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 198). 361 „Mit dem Haushaltssanierungsgesetz vom 22. Dezember 1999 wurde vorgesehen, dass die Steuerzahler einen weiteren Beitrag zur Dämpfung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung leisten, indem sie das Aufkommen aus den weiteren Stufen der ökologischen Steuerreform zur Senkung des Beitragssatzes bereitstellen. Mit dem Gesetz zur Fortführung der ökologischen Steuerreform wurde bzw. wird die Mineralölsteuer in den Jahren 2000 bis 2003 um jeweils 6 Pfennige je Liter erhöht. Die hieraus gewonnenen Mittel werden zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung eingesetzt, indem der zusätzliche Bundeszuschuss um einen Erhöhungsbetrag ergänzt worden ist.“ (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2002b: 287) „Durch die Mehrbeteiligung des Bundes konnte der Beitragssatz zur Rentenversicherung trotz steigender Ausgaben zum 01. April 1999 von 20,3 % auf 19,5 % und 2001 zwischenzeitlich auf 19,1 % gesenkt werden.“ (Lampert und Althammer 2004: 281)
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
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6.4.2 Die Transformation der Krankensicherungssysteme 6.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme 6.4.2.1.1 Die Restrukturierung Im deutschen Gesundheitsversorgungssystem bleiben die Finanzierungsverantwortlichkeiten der Krankenkassen und der Bundesländer bislang im Wesentlichen unverändert362. Innerhalb der Sektoren der ambulanten Versorgung, der stationären Versorgung, der Arzneimittel und der zahnärztlichen Versorgung lässt sich keine Abschaffung der bestehenden Kostenübertragungsbereiche beobachten. In der jüngeren Zeit lässt sich eine Privatisierungstendenz staatlicher Krankenhäuser beobachten (Specke 2001: 450; Simon 2005: 78). Die Krankenhäuser in Deutschland werden von öffentlicher, freigemeinnütziger oder privater Trägerschaft betrieben. Auch wenn der Privatisierungsprozess des Krankenhauswesens nun erkennbar ist, gibt es heute keinen großen Unterschied zu den 70er Jahren bei den Anteilen nach Trägerschaft. Tabelle 19: Anteil der Krankenhäuser und Betten nach Trägerschaft in Deutschland 19781
Öffentliche Krankenhäuser Freigemeinnützige Krankenhäuser Private Krankenhäuser
20002
Krankenhäuser
Betten
Krankenhäuser
Betten
37 %
52,3 %
37,1 %
54,2 %
34 %
35,4 %
40,6 %
38,3 %
30 %
12,3 %
22,3 %
7,4 %
Quelle: 1: Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit 1980: 233; 2: Simon 2005: 192; eigene Darstellung
362 Bisher gab es viele, jedoch allesamt nichtrealisierte Versuche, die Grundstruktur der Verantwortlichkeit für die Kostenübertragung zu transformieren. Zum Beispiel war im Rahmen der ‚Gesundheitsreform 2000 ދvon der SPD-Grünen Koalitionsregierung beabsichtigt, „die dualistische Finanzierung der Krankenhäuser stufenweise auf Monistik umzustellen, also den Krankenkassen schrittweise auch die Investitionsfinanzierung zu übertragen.“ (Specke 2001: 432) Der Gesetzentwurf sah eine stufenweise Einführung der monistischen Finanzierung bis zum Jahr 2008 vor und wurde vom Bundestag verabschiedet. Jedoch scheiterte das Gesetz am Widerstand des Bundesrates und konnte deshalb nicht in Kraft treten (Rosenbrock und Gerlinger 2004: 146).
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Außerdem sind die nicht-staatlichen Krankenhäuser von den öffentlichen Unterstützungen nicht ausgeschlossen. Das oben erwähnte duale Finanzierungssystem, in dem die Investitionskosten von den Bundesländern im Wege öffentlicher Förderung zu übernehmen sind und die Finanzierung der Betriebskosten grundsätzlich den Krankenkassen obliegt, gilt nach § 4 ‚Krankenhausfinanzierungsgesetz ދfür die ‚zugelassenen ދKrankenhäuser (Specke 2001: 438). Außerhalb dieses öffentlich finanzierten Kreises existieren im Jahr 2000 nur 5,8 % der Krankenhäuser, die nur 0,5 % des Bettangebotes beibehalten (siehe Simon 2005: 204). Letztlich gab es im deutschen Gesundheitsversorgungsbereich keine Restrukturierung. 6.4.2.1.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Innerhalb des deutschen Gesundheitsversorgungsgefüges lassen sich nach der Mitte der 70er Jahre in erster Linie vielfältige Versuche zur Kostendämpfung beobachten. Bei den Hauptansatzpunkten der Kostendämpfungspolitik waren die Veränderungen der Vergütungssysteme im ambulanten und stationären Sektor die üblichen Wege zum Erreichen der Kostendämpfung (Deppe 2002: 19; Simon 2005: 32). Zunächst wurde im Jahr 1977 „die Anbindung der kassenärztlichen Vergütungen an die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassenmitglieder (Grundlohnsumme) eingeführt. Zwischen den Landesverbänden [der Krankenkassen] und der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung ist seitdem eine Gesamtvergütung für die Honorierung sämtlicher ambulanter ärztlicher Leistungen zu vereinbaren, deren Erhöhung sich an der Entwicklung der Grundlohnsumme zu orientieren hat.“ (Simon 2005: 32 f.; Hervorhebung im Original) Mit Bezug auf die Krankenhausfinanzierung wurde 1984 der Grundsatz der ‚retrospektiven ދSelbstkostenerstattung abgeschafft und die ‚prospektive ދBudgetierung eingeführt. Die für die Betriebskosten des Krankenhauses geltenden, auf tagesbezogenen Pflegesatz beruhenden Krankenhausbudgets wurden seitdem für zukünftige Zeiträume bewilligt. Eine nachträgliche Erhöhung des Budgets fand nicht statt (Frerich 1996: 89; Simon 2005: 33). 1993 wurde eine ‚sektorale Budgetierung ދder Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt (Deppe 2002: 20): „Um weitere Beitragssatzerhöhungen zu vermeiden, wurden die Erhöhung der Gesamtvergütung für die ambulante ärztliche Versorgung, die Ausgaben für Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel und die Steigerungsraten der Krankenhausbudgets gesetzlich be-
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grenzt. Sie durften nicht stärker steigen als die beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung“ (Simon 2005: 43).363 Im Jahr 1995 wurde hinsichtlich der Krankenhausfinanzierung ein pauschaliertes, verweildauerunabhängiges Vergütungssystem eingeführt (Specke 2001: 441). Das neue Entgeltsystem für Krankenhäuser beruht grundsätzlich auf den leistungsbezogenen ‚Fallpauschalen ދund ‚Sonderentgeltenދ.364 Mit dem Fallpauschalengesetz 2002 wird ein ‚diagnoseorientiertes Fallpauschalensystem( ދdas sog. DRG-System)365 im Krankenhausbereich eingeführt und in der Folgezeit stufenweise umgesetzt. Das an Diagnosen geknüpfte, vollpauschalisierte Entgeltssystem ersetzt nicht nur die Fallpauschalen und die Sonderentgelte, sondern auch die tagesgleichen Pflegesätze, aus denen die Krankenhausleistungen, die nicht mit den Fallpauschalen und den Sonderentgelten berechnet werden, bisher vergütet wurden. Außerdem werden die Krankenhausbudgets durch das neue leistungsorientierte Entgeltsystem vollständig abgeschafft (Becker-Berke und Lautwein-Reinhard 2004: 85; Specke 2001: 444). Durch die Einführung dieser leistungsorientierten und pauschalierten Vergütungssysteme, also des Prinzips ‚gleiche Preise für gleiche Leistungenދ, erhofft man sich, einen Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern anzuregen und in der Folge Effizienzsteigerung und Kostendämpfung zu bewirken (Specke 2001: 445; Becker-Berke und Lautwein-Reinhard 2004: 66).366 363 Mit der Gesundheitsreform 2000 versuchte die Rot-Grüne Regierung, „die starren sektoralen Budgetgrenzen“ zwischen den medizinischen Sektoren durch ein sektorübergreifendes Globalbudget aufzulösen. Aber das Vorhaben scheiterte im Gesetzgebungsprozess (Simon 2005: 45). 364 „Mit Fallpauschalen werden die allgemeinen Krankenhausleistungen für einen Behandlungsfall vergütet, für den ein Entgelt in den von den Vertragsparteien auf Bundesebene vereinbarten Entgeltkatalogen bestimmt ist. Mit Sonderentgelten wird ein Teil der allgemeinen Krankenhausleistungen für einen in den vereinbarten Entgeltkatalogen bestimmten Leistungskomplex eines Behandlungsfalles vergütet [...]; sie werden zusätzlich zu dem sonst geltenden tagesgleichen Pflegesatz berechnet“ (Specke 2001: 442). 365 Das DRG (Diagnosis Related Groups) System bildet „die Grundlage für ein leistungsorientiertes Vergütungssystem für Krankenhausleistungen, mit dem alle Behandlungsfälle nach pauschalierten Preisen vergütet werden.“ (Becker-Berke und Lautwein-Reinhard 2004: 66). Vielfältige Krankheiten und Diagnosen werden zu einem Katalog von Abrechnungspositionen zusammengefasst. In der Folge können die Krankenkassen die Krankenhausleistungen nach bundesweit gleichen pauschalen Preisen für ihre jeweiligen Behandlungen vergüten. Ausführlichere Informationen über das DRG-System finden sich in Becker-Berke und LautweinReinhard 2004: 66 f. 366 „[D]ie neuen Vergütungssysteme veranlassen die Krankenhäuser, sich stärker als bisher leistungsorientiert zu verhalten und Rationalisierungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung werden für das einzelne Krankenhaus zu Existenzfragen. Auch das Dienstleistungsverhalten wird für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Krankenhäuser entscheidend sein. Patienten, niedergelassene Ärzte und Krankenkassen werden sich bei erforderlicher stationärer Behandlung hinsichtlich der Auswahl des geeigneten Krankenhauses verstärkt an solchen Kriterien orientieren.“ (Specke 2001: 450)
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Infolge der institutionellen Besonderheit der deutschen Gesundheitsversorgung im Vergleich zu Großbritannien und Schweden wurde eine Politik, einen Wettbewerb zwischen den öffentlichen Kostenträgern anzuregen, eingeführt. Durch die Erhöhung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen sollte die Beitragssatzstabilität erreicht werden (Deppe 2002: 20). 1996 wurde die exklusive Entrittsmöglichkeit bestimmter Versichertengruppen, die bis dahin für mehrere Kassenarten galt, abgeschafft. Seitdem sind fast alle Krankenkassen für alle Versicherten geöffnet und die Versicherten können ihre Krankenkasse innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung wechseln (Lißner und Wöss 1999: 173). Zudem gilt: „Um finanzielle Verwerfungen durch den Wechsel von Versicherten zu vermeiden, wurde ab 1994 ein sogenannter Risikostrukturausgleich eingeführt. Mit diesem Finanzausgleich zwischen den verschiedenen Kassenarten sollen unterschiedliche Morbiditätsstrukturen der Versicherten und Einkommensstrukturen der Mitglieder ausgeglichen werden.“ (Simon 2005: 44) Die Ausweitung und Erhöhung von Zuzahlungen der Versicherten war auch einer der Hauptansatzpunkte der Kostendämpfungspolitik (Simon 2002: 32). Seit dem Jahr 1977, als das ‚Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung ދverabschiedet wurde, ist „die Selbstbeteiligung eines der wesentlichen Kostenreduzierungsinstrumente im Rahmen der vielfältigen Gesundheitsreformen geworden.“ (Lißner und Wöss 1999: 179) Zum Beispiel wurde 1982 die Zuzahlungsverpflichtung bei Aufenthalt im Krankenhaus eingeführt (Frerich 1996: 89). Im Vergleich zwischen den 70er Jahren und heute wurde die Selbstbeteiligung der Patienten bei Zahnersatz von 30 % auf 50 % erhöht. Außerdem hat die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln auch drastisch zugenommen. Beispielsweise war ihr Anteil an den gesamten Arzneimittelausgaben bis Ende 1992 weniger als 5 %. Jedoch wurde sie nach dem im Jahr 1993 in Kraft getretenen Gesundheitsstrukturgesetz – dem ‚Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung – ދso drastisch gesteigert, dass der Anteil 7,5 % im Jahr 1993, 8,8 % im Jahr 1994 und etwa 12 % im Jahr 1996 betrug (Busse und Howorth 2001: 324). Diese deutlichen Erhöhungen der privaten Ausgaben für Gesundheitsversorgung spiegelten die Tatsache wider, dass der gegenwärtige Anteil der privaten Zahlung an den gesamten Ausgaben für Gesundheitsversorgung im Vergleich zu den 70er Jahren etwas höher ist. Im Jahr 1975 betrug der Anteil der Ausgaben für die Gesundheitsversorgung 7,8 % des BIP (Brunsdon 1995: 11), der Anteil der privaten Zahlung an den gesamten Ausgaben für Gesundheitsversorgung
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21 %.367 Demgegenüber beträgt der erstere im Jahr 2003 11,1 % und der letztere 21,8 % (WHO 2006: 60). Der gegenwärtige Anteil der privaten Zahlung an den gesamten Ausgaben ist im Vergleich zu den 70er Jahren um 0,8 % höher. Schließlich lassen sich einige Veränderungen hinsichtlich des erfassten Personenkreises der gesetzlichen Krankenversicherung beobachten. Heute wird die Regelung der ‚Versicherungspflichtgrenze ދnicht nur auf die Angestellten, sondern auch auf die ArbeiterInnen angewendet. Zudem wurden einige Gruppen der Selbständigen pflichtversichert und einige Gruppen von der Pflichtversicherung ausgeschlossen. Allerdings bleibt letztlich in der deutschen Krankenversicherung die Zentralität der abhängigen Beschäftigungsverhältnisse ebenso wie früher auch heute noch erhalten. Des Weiteren ist wegen des Versicherungsprinzips das grundsätzliche Ausschlussproblem im Gesundheitsversorgungssystem nicht gelöst, auch wenn von der Krankenversicherung der größte Teil der Bevölkerung erfasst wird. „[E]s können – im Gegensatz zur Staatsbürgerversorgung – Sicherungslücken auftreten.“ (Schmid 2002: 275)368 6.4.2.2 Die Transformation der Verdienstersatzleistungssysteme 6.4.2.2.1 Die Restrukturierung Im Bereich Verdienstersatzleistung bei Krankheit kam es auch zu keiner Restrukturierung. Ebenso wie früher besteht sie heute aus der Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen und dem Krankengeld aus der Krankenversicherung. 6.4.2.2.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Als eine innerstrukturelle Veränderung lässt sich in erster Linie eine Verringerung des Leistungsniveaus beobachten. Während die Höhe des Krankengeldes in der Vergangenheit 75 % bis 85 % des letzten Bruttoarbeitsentgeltes entsprach, beträgt sie seit 1996 70 %. Außerdem war die oberste Grenze des Betrags früher das letzte Nettoeinkommen des Leistungsempfängers. Heute hat sich der Oberbetrag auf 90 % des letzten Nettoarbeitsentgeltes vermindert (Deppe 2002: 20). 367 Die Prozentzahl für den Anteil der privaten Zahlung an den Gesamtausgaben beruht auf der Angabe der OECD (1996b), die besagt, dass der Anteil der öffentlichen Ausgaben an den Gesamtausgaben 1975 79,0 % sei. 368 1999 betrug der Anteil der Versicherten einschließlich mitversicherten Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung 88,5 % der gesamten Bevölkerung. Der Anteil der Versicherten in den privaten Krankenversicherungen betrug 8,9 %. 2,4 % wurden mit sonstigem Versicherungsschutz ausgestattet. Die übrigen 0,2 % waren jedoch überhaupt nicht versichert (Rosenbrock und Gelinger 2004: 89).
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Während das Krankengeld in den 70er Jahren sozialabgabenfrei war, wird es seit 1984 sozialabgabenpflichtig (Frerich 1987: 210). Folglich ist es erkennbar, dass das Nettoniveau also in dem Maße gedämpft wird, wie die Höhe der Beiträge, die LeistungsempfängerInnen zu zahlen haben, zunimmt. Hinsichtlich der Veränderung des Finanzierungsmodus innerhalb der Krankenversicherung lässt sich zuerst die Regelung beobachten, gemäß der die ArbeitgeberInnen die Pauschalbeiträge von 10 % des Arbeitsentgeltes ihrer geringfügig Beschäftigten an die Krankenversicherung zu zahlen haben.369 Anders als in der Rentenversicherung entstehen jedoch keine zusätzlichen Ansprüche aus diesen Beiträgen, weil diese ArbeitnehmerInnen bereits vollen Krankenversicherungsschutz genießen (Lampert und Althammer 2001: 257). Demzufolge lässt sich wahrnehmen, dass die Maßnahme dieser Pauschalbeiträge darauf ausgerichtet ist, die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen und die Beitragsseite der Krankenversicherung zu stärken. Wie schon bei den Veränderungen der Finanzierungsmodi in der Rentenversicherung gezeigt wurde, entfiel die Geringverdienergrenze auch in der Krankenversicherung. Und wie in der Rentenversicherung werden seit 2003 die Regelungen des Mini-Jobs und des Midi-Jobs auch auf die Krankenversicherung angewendet. Die ArbeitnehmerInnen werden also desto abgabengünstiger, je mehr ihre Arbeitsentgelte innerhalb der Grenze von 401 € und 800 € sich 400 € annähern. Durch die Ermäßigungsmaßnahmen der Beiträge für die ArbeitnehmerInnen mit niedrigen Einkommen erhofft man sich vor allem, den Niedriglohnbereich auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen (vgl. Bundesregierung 2003: 33; Pilz 2004: 164). In Bezug auf den parallelen Verlauf der Maßnahmen bezüglich der geringfügigen Arbeitsverhältnisse im Jahr 1999 und der Regelungen des Mini-Jobs und des Midi-Jobs im Jahr 2003 wird wie in der Rentenversicherung auch in der Krankenversicherung der Wille der deutschen Regierung wahrgenommen, dass sie zwar einerseits nach der Ausweitung der Niedriglohnbereiche strebt, aber andererseits zunehmende Ausweichungsbestrebungen zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken versucht.
369 Die Pauschalbeiträge erhöhen sich 2003 auf 11 %.
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6.4.3 Die Transformation der Arbeitslosensicherungssysteme 6.4.3.1 Die Restrukturierung Im Bereich Verdienstersatzleistung bei Arbeitslosigkeit entstand auch keine Restrukturierung. Ebenso wie in der Vergangenheit besteht sie im Jahr 2003 aus dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe.370 6.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur Bei beiden Leistungen, dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe, wurden die Anspruchsvoraussetzungen verschärft. Beim Arbeitslosengeld erhöhte sich die Anwartschaftszeit im Jahr 1983 von sechs Monaten auf ein Jahr. Bei der Arbeitslosenhilfe für die Arbeitslosen, die mangels Erfüllung der Anwartschaftszeit vorher kein Arbeitslosengeld erhalten haben, müssen diese derzeit vor der Arbeitslosmeldung nicht 10 Wochen, sondern fünf Monate eine versicherungspflichtige Arbeit geleistet haben. Bei der Bedürftigkeitsprüfung für die Arbeitslosenhilfe wurden früher sowohl Einkommen und Vermögen der Arbeitslosen und ihrer Ehegatten als auch das der im gemeinsamen Haushalt lebenden Eltern oder Kinder berücksichtigt. Heute wird lediglich dem Einkommen und Vermögen der Arbeitslosen und ihrer Ehegatten Rechnung getragen. Als eine weitere innerstrukturelle Veränderung lässt sich eine Verringerung des Leistungsniveaus beobachten (siehe Schmid und Oschmiansky 2005: 263; 2007: 461; Schäfer 2003: 37). Zum Beispiel beträgt das Arbeitslosengeld für Alleinstehende heute 60 % ihres Nettoentgeltes, während es in den 70er Jahren 62,5 % entsprach. 1985 wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zugunsten älterer Arbeitsloser anhand des Lebensalters differenziert und erhöht (siehe Schäfer 2003: 35 ff.). Je älter ein Arbeitsloser ist, desto länger ist die Bezugsdauer. Dementsprechend wird freilich längere Anwartschaftszeit vorausgesetzt. Die Arbeitslosenhilfe wird noch heute ohne zeitliche Beschränkung gewährt. Sie muss jedoch nicht alle zwei Jahre, sondern jährlich erneut beantragt werden.
370 Wie die anderen Versicherungszweige wurde auch in der Arbeitslosenversicherung seit 1980 ihre Restrukturierung diskutiert. Zum Beispiel schlug der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Mitte der 80er Jahre ein sogenanntes ‚Arbeitslosengeld II ދvor. Jedoch konnten zahlreiche Vorschläge, die auf eine strukturelle Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung abzielten, nicht verwirklicht werden (hierzu ausführlich Schmid und Oschmiansky 2005: 266 ff.; Schäfer 2003: 43-48).
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Zur Erhöhung des Anreizes zur Aufnahme einer Beschäftigung und zur Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme wurden die Sanktionen verstärkt. Während beispielsweise die maximale Sperrzeit in der Vergangenheit vier Wochen betrug, kann sie heute maximal bis 12 Wochen verhängt werden. Wie in der Rentenversicherung und in der Krankenversicherung wurde auch in der Arbeitslosenversicherung 1999 die Geringverdienergrenze aufgehoben. Darüber hinaus werden seit 2003 ebenfalls auf die Arbeitslosenversicherung die Regelungen des Mini-Jobs und des Midi-Jobs angewendet. Durch die Ermäßigungsmaßnahmen der Beiträge für die geringverdienenden ArbeitnehmerInnen erhofft man sich vor allem, den Niedriglohnbereich auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. 6.4.4 Zusammenfassung der Auswertungen Im Bereich Alterssicherung kam es zu keiner Restrukturierung der Leistung. Auch wenn keine Restrukturierung entstand, lässt sich wie in anderen Untersuchungsländern die Verstärkung der Bedeutung und der Rolle der Privatrente und die Verstärkung der Fürsorgeleistung für Alte beobachten. Als eine innerstrukturelle Veränderung lässt sich in erster Linie eine Verringerung des Leistungsniveaus beobachten. Darüber hinaus ist es zu erwarten, dass zur Dämpfung des Beitragssatzanstiegs das Leistungsniveau sich weiter vermindert. Bei der Rentenanpassung wird neben der Veränderungsrate des Bruttoarbeitsentgeltes auch die Höhe der Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung und für die staatlich geförderten Privatrenten berücksichtigt. Außerdem ist die Altersrente heute sozialabgabenpflichtig. Die Anspruchsvoraussetzungen wurden zum Teil verschärft und zum Teil gelindert. Zur finanziellen Stabilisierung wird bei vorzeitigen Renten die Regelung des Abschlags eingeführt. Die Grenze zwischen Arbeitsleben und Ruhestand wird aufgeweicht und der Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung der RentnerInnen wird verstärkt: Anders als in den 70er Jahren können die Rentenberechtigten bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit einen bestimmten Teil ihrer vorzeitigen Altersrente erhalten und zugleich weitere Rentenansprüche erwerben. Des Weiteren wurde die Zeitgrenze für den Erwerb der Zuschläge bei aufgeschobener Rente abgeschafft. Die Regelungen, die der besonderen Situation von KindererzieherInnen, ehrenamtlichen PflegerInnen, geringfügig Beschäftigten und scheinselbständigen ArbeitnehmerInnen Rechnung tragen, wurden eingeführt. Vor allem sind die Maßnahmen zum Ausgleich der rentenrechtlichen Nachteile der Mütter in den
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
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letzten zwei Jahrzehnten in mehreren Dimensionen kontinuierlich erweitert worden. 1999 wurde die Geringverdienergrenze abgeschafft. Danach wurde allerdings eine neue Form der Ermäßigung der Sozialversicherungsbeiträge für die ArbeitnehmerInnen mit niedrigen Einkommen eingeführt. Dadurch erhofft man sich vor allem, den Niedriglohnbereich auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Demgegenüber wird versucht, zunehmende Ausweichungsbestrebungen zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken, indem den ArbeitgeberInnen Pauschalbeiträge aus den Entgelten der geringfügig Beschäftigten auferlegt werden. Es liegt hier also eine zwiespältige Politik vor. Im Vergleich zu den 70er Jahren erhöht sich heute die Beteiligung des Bundes aus allgemeinen Steuermitteln an der Finanzierung der Rentenversicherung. Zur nachhaltigen Dämpfung des Beitragssatzanstiegs wurden zudem die langfristigen Beitragssatzziele gesetzlich festgelegt. Auch wenn es während der letzten Jahrzehnte vielfältige Versuche gab, das System der Gesundheitsversorgung zu transformieren, blieben die Grundstrukturen der Finanzierungsverantwortlichkeit im Wesentlichen unverändert. Innerhalb der Struktur lassen sich vor allem zur Kostendämpfung beträchtliche Veränderungen im Vergütungssystem beobachten. Durch die strikte Budgetierung und andere ähnliche Maßnahmen wurde die Regulierung der Leistungserbringer verstärkt. Durch die Einführung der leistungsorientierten und pauschalierten Vergütungssysteme wird versucht, einen Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern anzuregen. Zum gleichen Ziel wurde außerdem eine Wettbewerbstruktur innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, also zwischen den Krankenkassen, herausgebildet. Schließlich erhöhten sich die finanziellen Belastungen der Patienten, indem die Zuzahlungsregelungen für die Versicherten deutlich ausgebaut wurden. Bei der Verdienstersatzleistung bei Krankheit entstand auch keine Restrukturierung. Innerhalb der Struktur wurde vor allem das Leistungsniveau gekürzt. Das Krankengeld wurde zudem sozialabgabenpflichtig. Hinsichtlich der Finanzierungsmodi der Krankenversicherung wurde die Geringverdienergrenze abgeschafft. Danach wurde eine neue Form der Beitragsermäßigung für die geringverdienenden ArbeitnehmerInnen eingeführt. Dadurch hofft man vor allem, den Niedriglohnbereich auszubauen und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Demgegenüber wird versucht, zunehmende Ausweichungsbestrebungen zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen entgegenzuwirken, indem den ArbeitgeberInnen die Pauschalbeiträge aus den Entgelten der geringfügig Beschäftigten auferlegt werden.
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Im Bereich Arbeitslosensicherung kam es ebenfalls zu keiner Restrukturierung. Innerhalb der Struktur lässt sich die Verstärkung der Anspruchsvoraussetzungen bei den beiden Leistungen, dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe, beobachten. Anders als in der Vergangenheit werden allerdings heute bei der Bedürftigkeitsprüfung der Arbeitslosenhilfe die Einkommen und Vermögen der Eltern und Kinder der Arbeitslosen nicht mehr berücksichtigt. Mittlerweile verringerte sich das Leistungsniveau. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde zugunsten älterer Arbeitsloser anhand des Lebensalters differenziert und erhöht. Die Arbeitslosenhilfe wird heute noch ohne zeitliche Beschränkung gewährt. Sie muss jedoch nicht alle zwei Jahre, sondern jährlich erneut beantragt werden. Zur Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme wurden die Sanktionen verstärkt. Die Geringverdienergrenze wurde auch in der Arbeitslosenversicherung abgeschafft. Allerdings wurde ebenfalls die nämliche Form der Beitragsermäßigung für die ArbeitnehmerInnen mit niedrigen Einkommen eingeführt. 6.4.5 Exkurs: Zusammenfassung und Auswertung der Reformen seit 2004 Deutschland in der ersten Hälfte des ersten Jahrzehntes nach dem Millenniumswechsel kann als ein „Reform-Haus“ (Mahler u. a. 2003) bezeichnet werden. Pausenlos hört man in den Nachrichten von neuen Reformen mit Auswirkungen im Sozialbereich: die Gesundheitsreform, die Rentenreform, die Arbeitsmarktreform, die Arbeitslosenversicherungsreform, die Sozialhilfereform, die Steuerreform usw. Der Zeitraum für die empirische Untersuchung dieser Arbeit wurde als die Zeit zwischen der Mitte der 70er Jahre und dem Jahr 2002 oder dem Jahr 2003 eingeschränkt. Im Vergleich zu Großbritannien und Schweden wurden in Deutschland mehr Reformen in der jüngsten Zeit angekündigt, diskutiert und umgesetzt. Demnach erscheint es in diesem Zusammenhang nötig, dass die seit 2004 durchgesetzten Reformen der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung in Deutschland kurz umrissen und ausgewertet werden. 6.4.5.1 Die Reformen der Arbeitslosensicherung Durch ‚Hartz IV( ދdas vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) mit Wirkung ab 01. Januar 2005 wurde das Arbeitslosensicherungssystem beträchtlich verändert. Die Arbeitslosenhilfe der Arbeitslosenversicherung und die Geldleistung der Sozialhilfe für Erwerbsfähige wurden zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt. Das vorherige Arbeitslosengeld wurde in das Arbeitslosen-
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
335
geld I umbenannt. Wenn Anspruch auf Arbeitslosengeld I entweder noch nicht oder nicht mehr besteht, dann kann Arbeitslosengeld II gewährt werden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 17). Das Arbeitslosengeld I wurde auf die Hälfte der Laufzeit des früheren Arbeitslosengeldes gesenkt (siehe Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006a: 15). Während die Arbeitslosenhilfe eine einkommensbezogene Leistung war, ist das Arbeitslosengeld II nun eine pauschalisierte Leistung. Sie bleibt außerdem auf einem Niveau sowohl unterhalb der vorherigen Arbeitslosenhilfe (Mahler u. a. 2003: 32) als auch unterhalb der Sozialhilfeleistung einschließlich der verschiedenen Einmalleistungen des Sozialamtes. Die Bewilligung des Arbeitslosengeldes II trägt den Einkommen und Vermögen der Antragstellenden und enger Angehöriger der Antragstellenden Rechnung (siehe Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 19). Zu den Ansprüchen der beiden Arbeitslosengelder wurden die Voraussetzungen, insbesondere mit Bezug auf Zumutbarkeit, sehr verschärft (Mahler u. a. 2003: 33). Bundesweit wurden die Job-Center als Anlaufstelle für alle Arbeitssuchenden gegründet. Die ‚Bundesanstalt für Arbeit ދund das ‚Arbeitsamtދ wurden in die ‚Bundesagentur für Arbeit ދund die ‚Agentur für Arbeit ދumgebaut. Sie verwalten die beiden Arbeitslosengelder (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 40). Die Sozialämter der Kommunen kümmern sich derzeit bei der Sozialhilfe um Nichterwerbsfähige. Die Restrukturierung der Arbeitslosensicherung des Jahres 2005 in Deutschland wird gemäß dem Schätzungsrahmen dieser Arbeit als öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung durch ‚Ersatz ދbewertet. Dieser Umbau der Arbeitslosensicherung in Deutschland ist sehr ähnlich der ‚Jobseeker allowanceދReform des Jahres 1996 in Großbritannien, die damals von der konservativen Partei durchgesetzt wurde. 6.4.5.2 Die Reformen der Krankensicherung Im Bereich Krankensicherung vollzogen sich große Reformen 2004 und 2007. Zum 01.01.2004 wurde das ‚Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung( ދGKV-Modernisierungsgesetz) in Kraft gesetzt. Die wichtigen Neuregelungen sind folgende: Von den Zuzahlungen bei Arzneimitteln sind Erwachsene nicht vollständig befreit. Von den Selbstbeteiligungen sind nur noch Kinder ausgenommen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 181; Lampert und Althammer 2004: 262). Für Medikamente, Verbands-, und Hilfsmittel sind von den Versicherten im Wesentlichen 10 % der Kosten zu entrichten. Jedoch sind die Zuzahlungen auf mindestens 5 € und höchstens 10 € begrenzt. Bei der ersten Inan-
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6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
spruchnahme eines Arztes wird pro Quartal eine ‚Praxisgebühr ދin Höhe von 10 € fällig. Bei stationärer Krankenhausbehandlung müssen die Patienten längstens für 28 Tage innerhalb eines Kalenderjahres 10 € pro Tag zuzahlen (Lampert und Althammer 2004: 247 f.). Des Weiteren wurden folgende Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung vollständig gestrichen: Brillen und Kontaktlinsen, mehrere Medikamente wie Hustensaft oder Potenzmittel, Sterilisation etc. (Simon 205: 47).371 Krankengeld und Zahnersatz werden von den Versicherten allein, ohne Beteiligung der ArbeitgeberInnen, finanziert. Hierzu wurde der Beitragsanteil der ArbeitnehmerInnen um 0,9 % erhöht (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 146). „Zeitgleich zum 1. Juli 2005 mussten alle gesetzlichen Krankenkassen ihre Beitragssätze um 0,9 Beitragssatzpunkte senken.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006a: 75) Der Beitragssatz für die ArbeitgeberInnen sank um 0,45 %, der für die ArbeitnehmerInnen, minus 0,45 % plus 0,9 %, stieg um 0,45 %. Bei den Bereichen Zahnersatz und Krankengeld wurde also das Prinzip der paritätischen Beitragsfinanzierung durch ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aufgegeben, das seit der Bismarck-Ära fortbestanden hatte (Pilz 2004: 201). Durch die Gesundheitsreform des Jahres 2007 vollzogen sich folgende Veränderungen: Ein Gesundheitsfonds wird am 01.01.09 eingeführt. In den Fonds fließen die Beiträge von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen sowie staatliche Zuschüsse für Kinder ein. Die Beiträge, die nicht von jeder Krankenkasse, sondern vom Staat bundesweit gleich festgesetzt werden sollen, werden aber ebenso wie bisher von den gesetzlichen Krankenkassen eingezogen, die das Geld an den Fonds weiterleiten. Aus diesem Topf bezieht jede gesetzliche Krankenkasse eine bestimmte Pauschale pro Versicherte. Die Krankenkassen erhalten auch einen Zuschlag für Kranke, Behinderte und Ältere (Frankfurter Rundschau 2007a; Focus 2007a).372 Wenn die Krankenkassen mit der ihr zugewiesenen Summe aus dem Fonds nicht auskommen, können sie eine Zusatzprämie von ihren Versicherten fordern. Sie darf jedoch ein Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten 371 Obwohl viele Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung vollständig gestrichen wurden, führte diese Reform zu keiner Abschaffung von Kostenübertragungsbereichen. 372 Zwar wird die Einführung des Gesundheitsfonds zu vielen Veränderungen bei den Finanzierungsmodi führen. Aber die Kostenträger für die Kostenübertragungsbereiche sind letztlich noch immer die Krankenkassen und die Bundesländer. Bei den bestehenden Bereichen, für die die öffentlichen Kostenträger die Kosten übernehmen, wird auch keine Veränderung hervorgerufen.
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
337
(Frankfurter Rundschau 2007a). Außerdem können die gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten Wahltarife anbieten: sogenannte ‚Teilkaskotarife ދfür Gesunde und ‚Vollkaskotarife ދfür Kranke. Ab 2009 gilt zudem eine generelle Krankenversicherungspflicht. Aber die Mitgliedschaft der gesetzlichen Krankenkassen ist nicht für alle BürgerInnen offen. Von ca. 300.000 Menschen ohne Krankenversicherung (Kazim 2007) dürfen ehemals gesetzlich Versicherte in ihre letzte gesetzliche Kasse zurückkehren. Die Übrigen müssen privaten Krankenkassen beitreten, die künftig einen Basistarif anbieten müssen, dessen Leistungsumfang dem der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht (Frankfurter Rundschau 2007a). Aber „[e]in Zurück in die gesetzliche Kasse bleibt nach wie vor schwierig. Sinkt das Einkommen und wird einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, ist eine Rückkehr möglich.“ (Spiegel 2007a) Darüber hinaus gibt es nach wie vor keinen Wechsel von der privaten zur gesetzlichen Krankenversicherung (Focus 2007a).373 Bei Arzneimitteln sollen die Krankenkassen Höchstgrenzen festlegen, bis zu denen Medikamente von den Kassen gezahlt werden (Focus 2007a). Die Krankenhäuser haben von ihrem Budget einen Sanierungsbetrag von ca. 380 Mio. € zu erbringen (Frankfurter Rundschau 2007a). 6.4.5.3 Die Reformen der Altersicherung Die Rentenversicherung hat vor allem 2004 und 2007 zahlreiche Veränderungen erfahren. Durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) im Jahr 2004 wurden die folgenden Reformschritte umgesetzt: „Den Anstieg der Renten mindert [...] der ab 2005 nach der neuen Rentenformel geltende Nachhaltigkeitsfaktor. Dieser Faktor berücksichtigt bei der Rentensteigerung die Arbeitslosigkeit und das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern. Der Rentenanstieg wird also in dem Maße gedämpft, wie die Zahl der Arbeitslosen und der Rentner zunimmt“ (Gersdorff von 2004: 9, zit. n. Pilz 2004: 229; Hervorhebung von I.R. 373 Infolge dieser Reform werden die Verantwortungen der privaten Krankenkasse zunehmen. Allerdings steht die Erhöhung ihrer Verantwortlichkeit gar nicht mit der ‚Restrukturierungދ dieser Arbeit, also mit ‚Abschaffungދ, ‚Überantwortung ދund ‚Einführung ދin Zusammenhang. Durch die Reform wurden die bestehenden Kostenübertragungsbereiche der öffentlichen Kostenträger nicht transformiert. Die öffentlichen Kostenträger überantworten keine bestimmten Übertragungsbereiche den privaten Versicherungen. Die privaten Versicherungen übernehmen keine Verantwortung für neue Kostenübertragungsbereiche. Demnach wird die Reform der generellen Krankenversicherungspflicht in dieser Arbeit nicht als eine Restrukturierung bewertet.
338
6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Baek). „Darüber hinaus wird die für die Rentenanpassung maßgebende Lohndynamik, die sich nach der Bruttolohn- und -gehaltsumme der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bemisst, in der auch die Löhne und Gehälter von nicht in der Rentenversicherung versicherten Personengruppen (z. B. Beamte) und Entgeltbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze eingehen, um die Entwicklung der in der allgemeinen Rentenversicherung beitragspflichtigen Lohnund Gehaltssumme korrigiert.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 253).374 Die Altersgrenzen für die vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit werden ab 2006 stufenweise vom 60. Lebensjahr auf das 63. Lebensjahr angehoben (Verband deutscher Rentenversicherungsträger 2004: 279). Mit dem Gesetz zur Änderung des SGB VI wird zum 01. 04. 2004 von allen RentnerInnen nicht mehr der halbe, sondern der volle Beitrag für die Pflegeversicherung entrichtet (Pilz 2004: 229). Durch die Rentenreform des Jahres 2007 vollzogen sich folgende Veränderungen: Von 2010 an steigt das gesetzliche Renteneintrittsalter bis 2029 stufenweise vom 65. Lebensjahr auf das 67. Lebensjahr. Wer 45 Jahre Beiträge bezahlt hat, kann dennoch weiterhin ab der Vollendung des 65. Lebensjahres ohne Abschläge seine Rente erhalten (Bergius 2007).375 Wer 35 Versicherungsjahre vorlegt, kann ab der Vollendung des 63. Lebensjahres eine vorzeitige Rente für ‚langjährig Versicherte ދbeziehen. Aber er muss dafür Abschläge von 0,3 % für jeden Monat bis zum 67. Lebensjahr in Kauf nehmen. Die vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen kann für die Schwerbehinderten mit 35 Jahren Wartezeit ab der Vollendung des 62. Lebensjahres gewährt werden. Aber sie müssen dafür die Abschläge für jeden Monat zwischen dem vorzeitigen Rentenantritt und dem 65. Lebensjahr in Kauf nehmen (Focus 2007b). Die Anhebung des Renteneintrittsalters wurde von einer Maßnahme zur Erhöhung des Anreizes zur Aufnahme einer Beschäftigung für Ältere, der ‚Initiative 50 Plusދ, flankiert: „Vorgesehen ist ein Kombilohn, der älteren Arbeitslosen die Lohn-Differenz bei Annahme einer schlechter bezahlten Stelle im ersten Jahr zur Hälfte und im zweiten Jahr zu 30 % ausgleicht. Rentenbeiträge werden auf 90 % des früheren Wertes aufgestockt. Hinzu kommen Eingliederungszuschüsse für Arbeitgeber, wenn sie Arbeitslose einstellen und sie mindestens ein Jahr beschäftigen. Der Zuschuss von 30 % bis 50 % der Lohnkosten wird zwischen einem und drei Jahren bezahlt.“ (Focus 2007b)
374 Ausführlichere Informationen über die neue Rentenanpassung finden sich in Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 321-327. 375 „Allerdings kommt derzeit nur der kleinere Teil der Beschäftigten auf 45 Beitragsjahre: Bei den Männern waren es zuletzt 28 Prozent, bei den Frauen knapp vier Prozent.“ (Focus 2007b)
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
339
6.4.5.4 Die Auswertung der Reformen Wie oben dargestellt wurde, fanden seit 2004 in den Bereichen der sozialen Sicherungssysteme zahlreiche Veränderungen statt. Jedoch erwiesen sich die Grundstrukturen bislang stabil. Mit Ausnahme von der Arbeitslosenversicherung transformierten sie sich nicht grundlegend. Die Reformen für die Altersrente, die Gesundheitsversorgung und die Verdienstersatzleistungen bei Krankheit haben große oder kleine Veränderungen innerhalb der bestehenden Struktur hervorgebracht. Also ist zu erkennen, dass den deutschen sozialen Sicherungssystemen insgesamt die grundlegende Strukturreform, also die Restrukturierung im Sinne dieser Arbeit, fehlt. Bei den Reformprozessen seit 2004 bleiben so die Tendenzen des Status-quo-Erhaltes noch dominant. Die wesentlichen Konstruktionselemente der sozialen Sicherungssysteme werden in der Folge noch beibehalten. Die rot-grüne Regierung von Schröder seit 1998 strebte enthusiastisch nach wesentlichen Strukturreformen für das deutsche Sozialsystem und den Arbeitsmarkt (hierzu ausführlich siehe die ‚Agenda 2010( ދBundesregierung 2003) und den ‚Bericht der Rürup-Kommission( ދBundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003a)). Die Reformansätze der Schröder-Regierung, welche unter Agenda 2010 gebündelt wurden, beruhten im Wesentlichen auf den „neoliberal-angebotsorientierte[n] Konzepten und Strategien“ (Pilz 2004: 61) „in Anlehnung an die englische New-Labour-Politik“ (Nullmeiner 2004: 48). Damit versuchte die Schröder-Regierung, die Sozialsysteme zu demontieren. Diese Strategien unterscheiden sich deutlich von den konservativen sozialpolitischen Strategien der CDU/CSU. Warum bleiben jedoch die Tendenzen des Status-quo-Erhaltes in den sozialen Sicherungssystemen heute noch dominant, obwohl die rot-grüne Regierung die grundlegende Strukturreform des deutschen Sozialsystems durchzusetzen versuchte? Basierend auf den Auswertungen von Frank Pilz (2004: 226-235) über die Reformen der Schröder-Regierung lassen sich die Ursachen wie folgt zusammenfassen: Zuerst können begrenzte Reformspielräume innerhalb dem über Jahrzehnte ausgebauten deutschen Wohlfahrtsstaat erwähnt werden. Die hohe Sozialleistungsquote, die immer erheblichere finanzielle Mittel erfordert, die andauernde Krise der Staatshaushalte und die hohe finanzielle Erblast aus der deutschen Wiedervereinigung führen zu den geringen Realisierungschancen für die tief greifenden, strukturändernden Reformpläne, deren Umsetzung unter Umständen zusätzliche Ausgaben aus den öffentlichen Haushalten fordern könnte (Pilz 2004: 230).
340
6 Das soziale Sicherungssystem von Deutschland
Vor diesem Hintergrund hat die Existenz zahlreicher Vetopositionen den politischen Handlungs- und Reformspielraum beträchtlich beschränkt (Pilz 2004: 229; Schmid 2004: 122). Gegen die Regierung Schröder erwies sich vor allem der Bundesrat als sehr mächtiger institutioneller Vetospieler. Der Bundesrat konnte „aufgrund seines absoluten Vetorechts und der Mehrheit der unionsgeführten Länder die Entscheidungsfindung bis zum Schluss der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss der Gefahr der Blockade aussetzen“ (Pilz 2004: 229). Gerade vor den vorgezogenen Bundestagswahlen im Jahr 2005 standen dort 18 Stimmen der SPD-geführten Länder gegen 51 Stimmen der unionsgeführten Länder (siehe die Internet-Homepage des Bundesrates (www.bundesrat.de)). Neben diesem parteipolitischen und institutionellen Vetospieler war die rotgrüne Regierung zudem mit dem Widerstand der Interessengruppen konfrontiert, zu nennen sind hier besonders die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Verbände der Ärzte und die Sozialversicherungskassen (Pilz 2004: 229). Die Gewerkschaften kämpften besonders heftig für die sozialen Rechte gegen die erstarkenden neoliberalen Angriffe. Der Widerstand der Arbeiterklasse, die im bisherigen Wohlfahrtsstaat den relativ privilegierten Status besitzen und zugleich die traditionelle Klientel der SPD sind, erschien der Regierungspartei SPD als sehr schwere Belastung (vgl. Hebestreit 2008; Nullmeier 2004: 48). Diese Existenz der verschiedenen und mächtigen Vetopositionen hat zu langwierigen Verhandlungen oder einer Einrichtung informeller Verhandlungssysteme geführt. Beispielsweise hat sich die Gesundheitskommission im Jahr 2003 aus Vertretern von Bundesregierung, Bundestag, Landesregierungen und Landtagen zusammengesetzt. Bei diesen Verhandlungsprozessen gegen die „latente Blockadeanfälligkeit der Politik“ verbreiteten sich „die Politik des Tauschhandels“ und die Politik der „Paketlösung“: Diese Tauschgeschäfte erreichten zwar die Konsensfindung und ermöglichten kleine Reformschritte, aber sie erschwerten grundlegende strukturverändernde Reformen (Pilz 2004: 232 ff.; hierzu auch Schmid 2004: 122). In den Verhandlungsprozessen entarteten letztlich die originalen Absichten und Ziele für die Reform des Sozialsystems. Die grundlegenden strukturverändernden Reformen waren also nicht durchzusetzen. 2005 ließ es Kanzler Schröder zu vorgezogenen Bundestagswahlen kommen, um die schwere politische Lage zu überwinden. Allerdings scheiterte er schließlich damit und verlor die Macht. Ab dem November 2005 regiert eine CDU/CSU-geführte Koalitionsregierung aus Union und SPD unter Kanzlerschaft von Angela Merkel.376 376 Ausführlichere Erklärungen und Auswertungen über die rot-grüne Regierungspolitik finden sich in Schmidt 2005: 112-114; Butterwegge 2005: 159-266; Poy 2004; Schmidt 2004.
6.4 Die Auswertung der Transformation der dt. soz. Sicherungssysteme
341
2008 war der ‚fünfte Geburtstag ދder Agenda 2010. Eine dabei von einem der Wirtschaftsweisen gegebene Bewertung der Ergebnisse der Agenda 2010 legt nahe, dass die Reformprogramme der Schröder-Regierung überhaupt nicht erfolgreich sind: „Auch Schröder hat sein Reich verloren, aber die Agenda wird heute als wirtschaftspolitischer Erfolg gefeiert. Dabei wird übersehen, dass es diesem Programm nicht gelungen ist, die sich selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Der Bundeskanzler verkündete damals: „Unsere Agenda 2010 erhält weit reichende Strukturreformen. Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.“ Vergleicht man dazu das reale Wirtschaftswachstum in Deutschland mit dem vergleichbarer Volkswirtschaften, ist der Befund ernüchternd. Von 2003 bis 2008 erreichte Deutschland ein durchschnittliches Wachstum von 1,8 % und liegt damit unter den OECD-Ländern auf dem drittletzten Platz. Der Abstand im Wohlstand zum EU-Durchschnitt hat sich also vergrößert. Nachdenklich sollte stimmen, dass die skandinavischen Länder, die – anders als die Agenda – auf einen kraftvollen und sozial ausgleichenden Staat setzten, Wachstumserfolge erzielen konnten. In Schweden und Finnland fiel das Wachstum doppelt so hoch aus wie im reformfreudigen Deutschland. Und wie steht es mit den Erfolgen am Arbeitsmarkt? Im Dezember 2007 gab es 27,2 Mio. reguläre Arbeitsplätze, das ist genau der gleiche Wert wie im März 2003, der damals als viel zu gering angesehen wurde. Was für ein Erfolg der Agenda!“ (Frankfurter Rundschau 2008a; Anführungszeichen vom Autor)
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder 7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 7.1.1 Die Unterschiede der Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme Durch die Vergleiche der sozialen Sicherungssysteme Mitte der 1970er Jahre mit denen Anfang der 2000er Jahre von Großbritannien, Schweden und Deutschland werden folgende Ergebnisse festgestellt.
344
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Tabelle 20: Die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder
Alterssicherung: Renten
Großbritannien Pri. Re.
Schweden Öff. Re.
(SERPS Æ Zweite Staatsrente)
(Volksrente und Zusatzrente Æ Einkommensrente, Prämienrente und Garantierente)
Sta. Qu.
Öff. Re.
Sta. Qu.
(Zentralstaat Æ regionale Selbstverwaltungen)
G
Pri. Re.
Pri. Re.
Sta. Qu.
(Abschaffung der einkommensbezogenen Leistung)
(Abschaffung der einheitlichen Leistung für Ehepartner/-in)
(Einführung der Entgeltfortzahlung)
(Einführung der Entgeltfortzahlung)
Pri. Re.
Öff. Re.
(Abschaffung der einkommensbezogenen Leistung)
(Arbeitslosengeld und KAS Æ Einkommensbezogene Leistung und Grundleistung)
Krankensicherung: Gesundheitsversorgung
Krankensicherung: Verdienstersatzleistungen bei Krankheit
Arbeitslosensicherung: Verdienstersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit
Öff. Re.
Deutschland Sta. Qu.
Sta. Qu.
(Arbeitslosengeld Æ JSA) Öff. Re.: Öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung; Pri. Re.: Privatheitszentrierte Restrukturierung Sta. Qu.: Status quo (keine Restrukturierung) Æ: Ersatz oder Überantwortung Quelle: Eigene Darstellung
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 345 7.1.1.1 Die britischen sozialen Sicherungssysteme – privatheitszentrierte Restrukturierung Bei den Restrukturierungen der britischen sozialen Sicherungssysteme lassen sich zwar die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung und der Status quo beobachten, aber die privatheitszentrierte Restrukturierung wird als Haupttrend der Restrukturierung erkennbar. Bei allen Sektoren Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung ist als gemeinsame Restrukturierungsform die privatheitszentrierte Restrukturierung sichtbar. Angesichts dieser privatheitszentrierten Restrukturierungen wird in den britischen sozialen Sicherungssystemen die Verantwortlichkeit des Staates reduziert und die Verantwortlichkeit des Marktes oder die Eigenverantwortung des Individuums erweitert. Also ist zu erkennen, dass für die Restrukturierungen der britischen sozialen Sicherungssysteme die ‚Privatisierung öffentlicher Aufgaben‘ charakteristisch ist. 7.1.1.2 Die schwedischen sozialen Sicherungssysteme – öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung Bei den schwedischen sozialen Sicherungssystemen lässt sich im Bereich der Verdienstersatzleistung bei Krankheit die privatheitszentrierte Restrukturierung beobachten. Im Unterschied zu den britischen sozialen Sicherungssystemen wird allerdings in Schweden bei allen Sektoren der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung als Haupttrend der Restrukturierung erkennbar. Angesichts dieser öffentlichkeitszentrierten Restrukturierungen bleibt in den schwedischen sozialen Sicherungssystemen die ‚Staatszentrierung‘ bei Wohlfahrtsproduktion erhalten. Während Großbritannien die ‚Privatisierung‘ als Hauptmethode der Restrukturierung angewendet hat, war eine der Vorgehensweisen Schwedens die ‚Dezentralisierung‘ innerhalb der öffentlichen Sphäre. Diese Dezentralisierung wird bei den Bereichen Gesundheitsversorgung und Arbeitslosensicherung erkennbar.377 7.1.1.3 Die deutschen sozialen Sicherungssysteme – Status quo (keine Restrukturierung) In Deutschland wird bei allen Sektoren der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung der Erhalt des Status quo erkennbar. Die Grundstrukturen der deut377 Der schwedische Wohlfahrtsstaat neigte dazu, die Privatisierung zu vermeiden und als Alternative nach der Dezentralisierung zu streben. Ausführliche Erläuterungen darüber finden sich in Olsson 1993: Kapitel IV – The Dialectics of Decentralization and Privatization.
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
schen sozialen Sicherungssysteme sind über Jahrzehnte weitgehend unverändert geblieben, wobei diese Tendenz durch finanzielle Konsolidierungsbemühungen und allenfalls durch leichte Modifizierungen ergänzt wurde. Die Reformpolitik der konservativen Regierung in den 80er und 90er Jahren kann vor allem durch die Sparpolitik und die Erweiterung der Familienpolitik charakterisiert werden (vgl. Lampert und Althammer 2004: 96; Schmid 2002: 107, 117; 1998: 35).378 Durch die Sparpolitik, und zwar die „Politik der sozialen Einschnitte und Kürzungen“ (Schmid 2002: 107), strebte die deutsche Regierung die Reduzierung der Sozialausgaben und eine fiskalische Konsolidierung an (siehe Schmidt 1998: 108: Frerich und Frey 1996: 162). „Im Gegensatz zum System Sozialer Sicherung, in dem es darum ging, den Ausgabenanstieg zu bremsen, wurden in der Familienpolitik auch in den 80er und 90er Jahren noch Fortschritte erzielt.“ (Lampert und Althammer 2004: 96) In den empirischen Untersuchungen dieser Arbeit wurde auch erkennbar, dass die familienpolitischen Elemente in der deutschen Rentenversicherung ständig erweitert wurden und immer deutlicher, anders als in der britischen und in der schwedischen Alterssicherung, hervortraten. Insgesamt gesehen kann jedoch in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland festgehalten werden, dass die grundlegenden Strukturen der sozialen Sicherungssysteme im Wesentlichen unverändert geblieben sind.379
378 Die Reformpolitik der sozialdemokratischen Regierung nach 1998 und die Ergebnisse der Reformpolitik wurden schon im Abschnitt ‚6.4 Die Auswertung der Transformation der deutschen sozialen Sicherungssysteme‘, besonders im Unterabschnitt ‚6.4.5 Exkurs: Zusammenfassung und Auswertung der Reformen seit 2004‘ erläutert. 379 Da diese Arbeit von den Bereichen der sozialen Sicherungssysteme die ‚Pflegebedürftigkeit‘ als ein soziales Risiko in die Untersuchungsgegenstände nicht eingeschlossen hat, wurde die deutsche Pflegeversicherung bei den empirischen Untersuchungen nicht behandelt. Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 ist die einzige faktische Strukturveränderung in der Kohl-Ära. Allerdings wird selbst diese Restrukturierung als durchaus „systemkonforme“ Veränderung betrachtet (Schmid 2002: 106). Angesichts des Einflusses des Familismus, der noch heute das Denken der konservativen Politiker beherrscht (siehe Frankfurter Rundschau 2008b) und der davon ausgeht, dass die Frau in der Regel für die Pflege innerhalb des Haushalts verantwortlich ist, bleiben in Deutschland staatliche Sozialdienste, besonders Familiendienste, unterentwickelt. Vor diesem Hintergrund rief die Vermehrung der Pflegebedürfnisse im Zuge der Überalterung der Bevölkerung die soziale Frage der unzureichenden Absicherung im Fall der Pflegebedürftigkeit hervor. Dies führte zudem zum Konflikt zwischen den Gemeinden als Träger der Sozialhilfe und den Sozialversicherungsträgern. Beim Konflikt ging es darum, wer die Aufgabe der Absicherung gegen die Pflegebedürfnisse übernahm (Simon 2005: 33). Um das Pflegerisiko abzusichern und die öffentliche Zuständigkeit zu klären, wurde 1995 die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt. Strikt gesagt ist jedoch auch die Pflegeversicherung keine ganz ‚neue‘ Institution: Die Geschäfte für die Pflegesicherung lagen unter dem Dach der Aufgaben der bestehenden Krankenkassen. Der Pflegeversicherungsbeitrag von 1 % wurde mit dem vorhandenen Kran-
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 347 7.1.2 Die Auswirkungen der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme Durch die empirischen Untersuchungen zu Großbritannien und zu Schweden konnte bezüglich der Zielvorgaben der Veränderungen der Sozialen Sicherungssysteme festgestellt werden, dass die offenkundigen Ziele der Restrukturierungen beider Länder einander sehr ähnlich waren. Beide Länder wünschten die öffentlichen Ausgaben zu verringern und den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Die ‚Erhöhung des Anreizes zur Arbeitsaufnahme‘ ließ sich bei der JSA Reform der britischen Arbeitslosensicherung und bei der Abschaffung des einheitlichen Krankengeldes für Ehegatten in Schweden beobachten. Die ‚Verringerung der öffentlichen Ausgaben‘ war in Großbritannien bei der Restrukturierung der Renten, der Verdienstersatzleistungen bei Krankheit und der Arbeitslosenunterstützungen und in Schweden bei der Restrukturierung aller untersuchten Bereiche (Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Verdienstersatzleistung bei Krankheit und Arbeitslosensicherung) sichtbar. Diese Ziele der Restrukturierung stimmen auch mit den im Kapitel 2 dargestellten Eigenschaften oder Erscheinungsformen der Workfare-Orientierung nach Jessop überein. Die ‚Erhöhung des Anreizes zur Aufnahme einer Beschäftigung‘ ist einer der Eigenschaften der ersten Dimension der Workfare-Orientierung, also der ‚Unterordnung der Sozialpolitik unter die erweiterten Normen der Wirtschaftspolitik‘. Die ‚Verringerung der öffentlichen Ausgaben‘ bzw. eine ‚nachhaltige finanzielle Stabilisierung‘ ist eine typische Erscheinungsform der zweiten Dimension der Workfare-Orientierung, also von „downward pressure on the ‘social wage’ and attack on welfare rights“. Diese Arbeit fokussierte eher auf die Politik der sozialen Sicherung als auf die Arbeitsmarktpolitik. Folglich rückt die zweite Dimension der WorkfareOrientierung bei den Restrukturierungen deutlicher ins Blickfeld als die erste Dimension. Demnach wird in diesem Abschnitt geprüft, ob Großbritannien und Schweden durch die Restrukturierungen das bezüglich der Zielvorstellungen in beiden Ländern am häufigsten genannte offensichtliche Ziel, also die Verringerung der finanziellen Belastungen des Staates bzw. die finanzielle Stabilisierung, tatsächlich erzielten. Zudem wird untersucht, welche finanziellen Probleme in dem Land, das keine Restrukturierung vollzog, also in Deutschland, vorhanden sind.
kenversicherungsbeitrag von den Versicherten an ihre Krankenversicherung entrichtet (siehe Schmidt 1998: 141-143).
348
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Abbildung 1:
Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in % des jeweiligen höchsten Wertes eines Landes)
(%) 105 100 95 90 85 80 75 70 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Deutschland
Schweden
Großbritannien
Quelle: aufbauend auf OECD 2008a
Abbildung 2:
Anteil der öffentlichen Sozialausgaben für Gesundheitsversorgung am BIP (in % des jeweiligen höchsten Wertes eines Landes)
(%) 105
100 95 90 85 80 75 70 65 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Deutschland
Schweden
Großbritannien
Quelle: aufbauend auf OECD 2008a
In den Sozialausgaben in den beiden Abbildungen waren lediglich die ‚öffentlichen‘ Sozialausgaben eingeschlossen. Die Ausgaben für die gesetzlichen priva-
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 349 ten Leistungen, z.B. die Entgeltfortzahlung, wurden ausgeschlossen. Zum besseren Verständnis wurde der höchste Wert jedes Landes als 100 % gerechnet.380 7.1.2.1 Schweden Zuerst kann durch die Beobachtung des Bereichs Gesundheitsversorgung festgehalten werden, dass nur in Schweden der Anteil der Sozialausgaben dauerhaft deutlich reduziert wurde. Von den drei Ländern hat nur Schweden im Bereich Gesundheitsversorgung die Restrukturierung vollzogen. In Großbritannien und Deutschland waren die Anteile der öffentlichen Sozialausgaben für Gesundheitsversorgung tendenziell gestiegen. Dieser Trend bedeutet, dass die finanziellen Lasten des Staates und die Steuer- oder Beitragsbelastungen der Nation entsprechend vermehrt wurden. In Schweden wurden zur fiskalischen Konsolidierung des Zentralstaates die Verantwortungen für die Kostenübernahme der Krankenversicherung an die Provinziallandtage übergeben. Durch diese Restrukturierung wurde der Anteil des Zentralstaates an den Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung von ca. 31 % im Jahr 1975 auf 15 % im Jahr 2003 um etwa die Hälfte verringert.381 Den reduzierten Teil sollten die Provinziallandtage mit den Regionalsteuern erfüllen. Allerdings konnten die regionalen Selbstverwaltungen die Steuern nicht grenzenlos erhöhen. Ihnen blieb so letztlich keine andere Wahl, als – wie im Kapitel 5 dargestellt – zahlreiche eigene Maßnahmen zur Kostendämpfung und zur Effizienzsteigerung zu suchen. Durch den stufenweisen Verlauf bei der Kostenverlagerung sowie durch die regional gesteuerte Effizienzsteigerung konnten die öffentlichen Finanzlasten für Gesundheitsversorgung allmählich reduziert werden. Im Vergleich mit den 70er Jahren sind heute die finanziellen Belastungen der Provinziallandtage für den Gesundheitsversorgungsbereich zwar erhöht: Der Anteil der Provinziallandtage an den Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung war von 57,5 % im Jahr 1975 auf 70 % im Jahr 2003 gestiegen. Wie aus 380 Bei den öffentlichen Geldleistungen beträgt der höchste Wert von Deutschland 16,3 % des Jahres 2003, der Wert von Schweden 18,9 % des Jahres 1993 und der Wert von Großbritannien 11,7 % des Jahres 1984. Alle Anteile zwischen 1980 und 2003 werden in der Anhang-Tabelle 22 gezeigt. In den Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen ist der Aufwand aller öffentlichen Geldleistungen einschließlich der Leistungen der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung eingeschlossen. Bei der Gesundheitsversorgung beträgt der höchste Wert von Deutschland 8,3 % des Jahres 1996, der Wert von Schweden 8,5 % des Jahres 1982 und der Wert von Großbritannien 6,7 % des Jahres 2003. Alle Anteile zwischen 1980 und 2003 werden in der Anhang-Tabelle 23 gezeigt. 381 Der Gesamtanteil des Zentralstaates bedeutet die Summe des Anteils der zentralstaatlichen Beiträge und des Anteils der Ausgaben der Krankenversicherung bzw. der Sozialversicherung an den Gesamtausgaben für die Gesundheitsversorgung.
350
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Abbildung 2 ersichtlich ist, wurde aber die finanzielle Belastung des ‚Staates als Ganzes‘ für den Gesundheitsversorgungsbereich verringert: In der Abbildung beträgt der höchste Anteil 8,2 % im Jahr 1982 und der niedrigste Anteil 6,3 % im Jahr 1995 und im Jahr 1997. Dabei wurde auch der Anteil der Gesamtausgaben für Gesundheitsversorgung am BIP reduziert. Schweden gab 1982 für Gesundheitsversorgung 9,2% am BIP aus. Indessen betrug der Anteil 1995 und 1997 jeweils 8,0 % und 8,1 % (für die Zahlen siehe OECD 2007a). Die Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen in Schweden waren bis zum Anfang der 90er Jahre ständig deutlich angestiegen. Danach erhöhten sie sich tendenziell geringer oder sie wurden sogar reduziert (siehe AnhangAbbildung 3). Infolge dieser Tendenz bleibt der heutige Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP auf dem Niveau der Mitte der 80er Jahre. Die Kosten der Verdienstersatzleistung bei Krankheit nahmen während der 80er Jahre erheblich zu. Zwischen 1980 und 1990 stiegen die Kosten um 40 % im realen Geldwert. In den 90er Jahren wurde aber die Erhöhungstendenz angesichts mehrerer Reformmaßnahmen, vor allem durch die Einführung der Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen, gebrochen und die Tendenz sogar umgekehrt (National Social Insurance Board 2001: 11). Die staatlichen Kosten der Verdienstersatzleistung bei Krankheit nahmen ab und die Krankenversicherung erzielte hohe Überschüsse. Dabei erfolgten keine staatlichen Zuzahlungen an die Krankenversicherung, während Mitte der 70 Jahre die Subventionen noch etwa 15 % der Gesamtausgaben der Krankenversicherung entsprochen hatten. Der Arbeitgeberbeitragssatz für die Krankenversicherung sank von 10,60 % im Jahr 1980 auf 7,90 % im Jahr 1997 (Lißner und Wöss 1999: 147, 154).382 Anders als früher ist die heutige schwedische Arbeitslosensicherung ein System, das im Prinzip lediglich aus den Beiträgen der ArbeitgeberInnen, der Selbständigen und der Versicherten finanziert wird. Während in der Mitte der 70er Jahre der Staat 40 % der Gesamtausgaben durch allgemeine Steuermittel deckte, beteiligt er sich heute nur bei Defizit mit einer Subvention. Um die Sozialausgaben der Arbeitslosenunterstützungen zu reduzieren, hat der Staat – wie im Abschnitt ‚5.4.3.2 Die Veränderung innerhalb der Struktur‘ erklärt – mehrere Maßnahmen zur Kostendämpfung ergriffen. Hinsichtlich der Restrukturierung wurde 1998 die KAS durch die Grundleistung ersetzt und die Zuständigkeit für die Leistung wurde von der staatlichen Seite auf die Arbeitslosenkassen übertragen.
382 Seit 1998 gab es im Leistungskatalog der Krankenversicherung viele Veränderungen. In der Folge ist es sehr schwierig, die finanzielle Situation der Krankenversicherung nach 1998 mit der Lage vor dem Jahr zu vergleichen.
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 351 Im Bereich Alterssicherung fand 1998 eine öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung statt. Die Beiträge für die Renten sind auf 18,5 % ‚dauerhaft‘ festgelegt. Die Gefahr eines Defizits im Einkommensrentensystem führt durch den Mechanismus der automatischen Bilanzierung zu einer Kürzung der Renten. Folglich können die Ausgaben die Einnahmen nicht überschreiten. Im Prämienrentensystem übernimmt der Staat das finanzielle Anlagerisiko nicht. Das Risiko des Geldverlustes nehmen die einzelnen BeitragszahlerInnen auf sich. Im Prämienrentensystem entsteht also auch kein Defizit. Außerdem nahmen die staatlichen Etatlasten durch Verringerung der Subventionsbeträge erheblich ab. Diese Reduzierung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass bei dem Grundrentenbereich die Versorgungsleistung durch die Fürsorgeleistung ersetzt wurde. Infolge dieses ‚Ersatzes‘ wird sich die staatliche Etatbelastung in den kommenden Jahren ständig verringern (Riksförsäkringsverket 2004: 29). 7.1.2.2
Großbritannien
In Großbritannien betrug 2003 der Anteil für öffentliche Geldleistung am BIP 10,2 %. Dies ist ein ähnliches Niveau wie im Jahr 1980 mit 9,9 % (siehe Anhang-Tabelle 22). Großbritannien erzielte die Verringerung der finanziellen Belastungen des Staates vor allem durch die Kostendämpfung aufgrund der Privatisierung der staatlichen Aufgaben. Im Bereich der Verdienstersatzleistung bei Krankheit wurde die einkommensbezogene Leistung abgeschafft und die Entgeltfortzahlung der ArbeitgeberInnen eingeführt. Im Bereich Arbeitslosensicherung wurde die einkommensbezogene Leistung abgeschafft. Zudem wurde durch den Ersatz des Arbeitslosengeldes durch die JSA I die Bezugsdauer um die Hälfte reduziert. Die Alterssicherung unterliegt jetzt der privatheitszentrierten Restrukturierung, so dass sich das Verhältnis bei den Rentenausgaben von 60 % des öffentlichen Anteils und 40 % des privaten Anteils zu 60 % des privaten Anteils und 40 % des öffentlichen Anteils verschieben soll. Im Zuge dieser Bestrebungen zahlt derzeit der Staat für die Sozialversicherung keine Subventionen aus allgemeinen Steuermitteln. In den 70er Jahren wurden 18 % des Gesamtaufwandes durch allgemeine Steuermittel abgedeckt. Zwar ist der Staat heute auch verpflichtet, bei Defizit staatliche Subventionen zu zahlen, jedoch ist derzeit der Beitrag des Zentralstaates unnötig, da zurzeit der Sozialversicherungsfonds jedes Jahr erhebliche Einnahmenüberschüsse erzielt. Diese Überschüsse des Sozialversicherungsfonds ermöglichen nicht nur problemlos die Deckung von ca. 12 % der NHS-Ausgaben durch die Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch die Maßnahmen zur Verminderung der Beiträge bei dem niedrigeren Teil der Einkommen: Anders als früher entrichten heute alle versicherten Beschäftigten und ihre ArbeitgeberInnen keine Beiträge
352
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
für den Einkommensteil unter der unteren Verdienstgrenze. Darüber hinaus zahlen sowohl die Beschäftigten mit niedrigen Einkommen als auch ihre ArbeitgeberInnen gar keine Beiträge. Dennoch werden die Beschäftigten so gestellt, als hätten sie Sozialversicherungsbeiträge entrichtet. Sie haben Ansprüche auf alle Sozialversicherungsleistungen. Trotz dieser zusätzlichen Ausgaben und des faktischen Wegfalls der staatlichen Subvention ist die Reserve der Sozialversicherungsfonds heute 2,5- bis 3,5-mal größer als die von der Regierung festgesetzte Mindestreserve.383 Ein Zeichen der Veränderung der Finanzierungsmodi der britischen Sozialversicherung ist die Neuerhebung der Beiträge für den Teil des Einkommens, der über der oberen Beitragsbemessungsgrenze liegt. Seit 2003 zahlen die abhängig Beschäftigten und die Selbständigen für den höheren Teil ihrer Einkommen Beiträge von 1 %. Jedoch werden diese Beiträge nicht für die Sozialversicherung, sondern für die Finanzierung des NHS verwendet (Ogus und Wikeley 2002: 107).384 7.1.2.3 Deutschland Im Unterschied zu Schweden und Großbritannien hat Deutschland keine Restrukturierung der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen. Der Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP und der Anteil für Gesundheitsversorgung sind tendenziell ständig gestiegen. In der Folge leidet Deutschland heute noch unter der Forderung nach Vermehrung des Finanzvolumens. Im Bereich Alterssicherung hat 1998 die deutsche Regierung den Bundeszuschuss aus allgemeinen Steuermitteln von 68,9 Mrd. DM (21,7 % an den Gesamtausgaben für die Rentenversicherung) 1997 auf 82,3 Mrd. DM (25,1 %) drastisch erhöht, um die Beitragssätze für die Rentenversicherung zu reduzieren (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 365). Durch die Mehrbeteiligung des Bundes konnte der Beitragssatz für die Rentenversicherung von 20,3 % im Jahr 1999 auf 19,1 % im Jahr 2002 gesenkt werden. Allerdings ist wegen steigender Ausgaben der Beitragssatz 2007 auf 19,9 % gestiegen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: 106). Dieser Beitragsatz ist 383 “In practice, in recent years, the Fund’s income has regularly exceeded its expenditure, leaving it with a much bigger balance than the Government Actuary recommends. The amount needed to cover two months’ benefits in 2005-06 would be à10.1 billion. The balance predicted for March 2006 is à34.6 billion - à24.5 billion above the recommended level.” (Lynes 2008) 384 Im Vergleich mit anderen Sozialsystemen unterliegt das britische System der Gesundheitsversorgung heute noch einem hohen Reformbedarf. Gordon Brown, der zum 27.06.2007 als Premierminister sein Amt antritt, unterstrich dies, als er erklärte, dass das NHS ein Gegenstand notwendigster Reformen sei (siehe Frankfurter Rundschau 2007b).
7.1 Die Auswertung der Restrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme 353 nur 0,1 % niedriger als der gesetzlich vorgegebene Höchstbeitragssatz von 20 %, der bis zum Jahr 2020 nicht überschritten werden soll. Parallel zur Erhöhung des Beitragssatzes ist der Bundeszuschuss aus allgemeinen Steuermitteln ständig gestiegen. 2005 betrug der Anteil an den Gesamtausgaben 27,2 % (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006b: 365). Also ist zu erkennen, dass in der deutschen Alterssicherung derzeit die Beitragssätze und die Beteiligung des Bundes gleichzeitig steigen. Im Bereich Krankenversicherung wurde 2004 das Prinzip der paritätischen Beitragsfinanzierung durch ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aufgegeben. Krankengeld und Zahnersatz werden von ArbeitnehmerInnen allein, ohne Beteiligung der ArbeitgeberInnen, finanziert, um Lohnzusatzkosten zu reduzieren (Sievers 2008). Der durchschnittliche Beitragssatz des Jahres 2007 betrug 14,8 %. Der Beitragssatz abzüglich des Eigenteils für Krankengeld und Zahnersatz von 0,9 % ist 13,9 %. Die ArbeitgeberInnen zahlten also 2007 6,95 %, die ArbeitnehmerInnen dagegen 7,85%. Dies bedeutet, dass die Beitragshöhe für die ArbeitgeberInnen fast wieder die Höhe des Jahres 2002 erreicht hat. Die ArbeitnehmerInnen mussten 2007 ca. 2 % mehr zahlen als im Jahr 2002.385 Diese Ergebnisse stehen dem Plan der Regierung, dass ab 2005 der Beitragssatz der Krankenversicherung unter die 13-Prozent-Marke fallen solle und einseitig für ArbeitnehmerInnen der Sonderbeitrag von 0,9 % fällig werden würde (Bergius 2008), entgegen. Des Weiteren haben ArbeitnehmerInnen in näherer Zukunft persönlich eine Zusatzprämie zu zahlen. Steuerteile an der Krankenversicherung, z.B. die staatlichen Zuschüsse für Kinder zum Gesundheitsfonds, werden neu ausgebaut, während früher in der Regel keine Bundeszuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln zur Krankenversicherung aufgebracht wurden. Diese Problemkonstellation wird als sehr ernst betrachtet, zumal die sukzessive Erhöhung der Abgaben und der Zuschüsse aus Steuern für die Sozialversicherungen unter verbesserten makroökonomischen Umständen stattfand. Zurzeit steigt die wirtschaftliche Wachstumsrate allmählich an und die Arbeitslosenquote nimmt ständig ab. Zum Beispiel betrug die wirtschaftliche Wachstumsrate 2005 0,9 %, 2006 2,7 % und 2007 2,5 %. Die Arbeitslosenquote befand sich 2005 bei 11,7 %, 2006 bei 10,8 % und 2007 bei 9,0 % (für die Zahlen siehe Statistisches Bundesamt 2007: 71, 635; 2008: 13; Arbeitsagentur 2008). In Unterschied zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung, welche unter der unaufhörlichen Forderung nach Vermehrung des Finanzvolumens leiden, überschreiten im Bereich Arbeitslosenversicherung die Einnahmen seit 2006 die Ausgaben (siehe Statistisches Bundesamt 2007: 210). In der Folge sind derzeit die zentralstaatlichen Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln für die 385 2002 lag der durchschnittliche Beitragssatz bei 14%. Die Beiträge waren hälftig von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aufzubringen.
354
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Arbeitslosenversicherung unnötig. Nach 25 Jahren fand keine Subventionierung des Staates im Bereich Arbeitslosenversicherung statt. Der Arbeitslosenversicherungsbeitragssatz nahm drastisch von 6,5 % im Jahr 2006 über 4,2 % im Jahr 2005 auf 3,3 % im Jahr 2008 ab. Diese Reduzierung des Beitragssatzes ist viel schneller als die Geschwindigkeit der Abnahme der Arbeitslosenquote. Zu den Einnahmenüberschüssen der Arbeitslosenversicherung mag es beigetragen haben, dass durch die Restrukturierung 2005 die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um die Hälfte reduziert wurde.386
386 Hinsichtlich der obigen Analysen der finanziellen Stabilität können einige zusätzliche Fragen gestellt werden. Diese Fragen werden wie folgt kurz gestellt und beantwortet: Die erste Frage ist, ob die Erhöhung der Ausgaben der Geldleitungen in Deutschland auf die historische Besonderheit, also auf die deutsche Einigung, zurückgeführt werden kann. Wie aus Anhang-Abbildung 1 ersichtlich ist, ist der Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und in Italien seit 1990 ständig gestiegen. Demnach wird die Erhöhung der Ausgaben der Geldleistungen in Deutschland eher als die Folge des strukturellen Problems des konservativen Wohlfahrtsstaates betrachtet denn als das Resultat der deutschen Einigung. Bei der zweiten Frage geht es darum, ob es einen Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Höhe der Sozialausgaben für die Geldleistungen und den Schwankungen der makroökonomischen Faktoren, vor allem der Wirtschaftswachstumsrate und der Arbeitslosenquote, gibt. In den Anhang-Abbildungen 2, 3 und 4 wird die Wachstumsrate der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen jedes der drei Länder mit der Wirtschaftswachstumsrate und der Arbeitslosenquote verglichen. Im Ergebnis wurde mit Hilfe der Regressionsanalyse des SPSS-Programms keine alle drei Länder umfassende, statistische Regelmäßigkeit über den Einfluss der unabhängigen Variablen, also der Wirtschaftswachstumsrate und der Arbeitslosenquote, auf die abhängige Variable, die Geldleistungswachstumsrate, gefunden. Die dritte Frage ist, ob ‚erhebliche‘ Erhöhungen des BIP die Verringerungen des Anteils der Sozialausgaben für öffentliche Geldleitungen am BIP in Schweden und in Großbritannien verursachten. Wie die Anhang-Abbildungen 2 und 3 zeigen, bleiben die Wirtschaftswachstumsraten in Schweden und in Großbritannien seit den 90er Jahren im Vergleich zu früher niedrig. Da die Länder also in der Konstellation des niedrigeren Wirtschaftswachstums die Geldleistungswachstumsrate niedriger als die Wachstumsrate des BIP erhielten, konnten die Anteile der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP verringert werden. Deutschland konnte vor 1990 infolge der restriktiven Politik bzw. der Sparpolitik der KohlRegierung die Geldleistungswachstumsrate niedriger als die Wirtschaftswachstumsrate erhalten. Aber seit 1990 drehte die Beziehung zwischen den beiden Indizes um. Dies ist unter anderem darin evident, dass in Deutschland die Geldleistungswachstumsrate nach 1990 nur einmal unter 2 % fiel. Während die Geldleistungswachstumsrate in Schweden in den Jahren 1995, 1996, 1997 und 1998, also viermal, und in Großbritannien in den Jahren 1994, 1997 und 2002, also dreimal, unter 2 % fiel, blieb sie in Deutschland nur 1997 unter 2 % (siehe Anhang-Abbildung 2, 3, und 4). Wie im Kapitel 6 dargestellt wurde, hat Deutschland nach 1990 zwar zahlreiche Maßnahmen zur Kostendämpfung ergriffen, aber der konservative Wohlfahrtsstaat konnte nur mit diesen innerstrukturellen Veränderungen die angestrebte finanzielle Stabilität nicht erzielen.
7.2 Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme
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7.2 Die Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder 7.2 Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme 7.2.1 Die Gemeinsamkeiten in der Alterssicherung Mit Bezug auf die Gemeinsamkeiten in den Rentensystemen ist zuerst auf die Verringerung des Leistungsniveaus hinzuweisen. Im Vergleich mit den 70er Jahren ist das Rentenniveau in Deutschland und in Großbritannien deutlich gesunken. Auch in Schweden wird das Leistungsniveau in Zukunft wahrscheinlich deutlich niedriger sein. Als die zweite Gemeinsamkeit kann die Veränderung der Rentenanpassungsfaktoren genannt werden. In Großbritannien wurden die laufenden Grundrenten in den 70er Jahren jedes Jahr nach der Steigerung des Lohnes oder des Preises, je nachdem, welcher von beiden Faktoren für die RentenempfängerInnen günstiger war, erhöht. Seit den 80er Jahren werden die Grundrenten Großbritanniens nur noch an die Preissteigerung angepasst. In Schweden wurden in den 70er Jahren die bereits bewilligten Zusatzrenten an die Inflation gekoppelt. In neuen einkommensbezogenen Rentensystemen werden nicht nur die Inflation wie beim alten System, sondern auch die Entwicklung der realen Einkommen berücksichtigt. In Deutschland wurden in den 70er Jahren die laufenden Renten bruttolohnbezogen, und zwar entsprechend der Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter, dynamisiert. Seit 1992 werden für die Rentenanpassung neben der Veränderungsrate der Bruttolöhne und -gehälter einige weitere Faktoren mit berücksichtigt. Durch diese Veränderungen der Faktoren für Rentenanpassung strebten alle die Länder nach der Reduzierung des Rentenniveaus mit dem Ziel der finanziellen Stabilität des Rentensystems. Drittens lässt sich die Verstärkung der Privatrenten oder des Elementes der privaten Altersvorsorge beobachten. Dies bedeutet, dass das Gleichgewicht beim Finanzierungsverfahren vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren verschoben wird. Zugleich bedeutet diese Verstärkung, dass die Rolle des Marktes und die Verantwortung der Individuen erweitert werden. In Großbritannien konnten in den 70er Jahren die abhängig Beschäftigten gemäß der Regelung des ‚Contracting-out‘ die staatliche SERPS-Rente verlassen und der Betriebsrente angehören. Damals beruhten die Betriebsrenten auf dem ‚Defined-Benefit‘-System. Seit 1988 können sich die Beschäftigten statt der staatlichen Rente dem ‚Defined-Contribution‘-Betriebsrentensystem anschließen. Außerdem trat auch die private individuelle Altersvorsorge, die APP, an die Stelle der staatlichen Rente. 2001 wurde die Stakeholder-Rente, die eine APP ist, eingeführt. Die Einführung dieser neuen Privatrente zielt darauf, Personen, die z.B. als Teilzeitbeschäftigte oder befristet arbeiten oder deren Branche üblicher-
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
weise keine Betriebsrenten kennt, die Chance zu einem ,Contracting-out‘ mittels einer Privatrente zu bieten. Durch diese ständige Ausweitung der ‚Contractedout‘-Privatrenten strebte die britische Regierung danach, dass noch mehr Versicherte des staatlichen Rentensystems die staatliche Rente verlassen und für Privatrenten einzahlen. 2002 wurde das SERPS durch die Zweite Staatsrente ersetzt. Das britische staatliche Rentensystem befindet sich in einem Reformprozess, durch den der Staat die Versicherten mit mittleren oder höheren Einkommen quasi-zwangsmäßig aus der staatlichen Rente drängt. Nach dieser die ‚Selbstausgliederung‘ anregenden Restrukturierung sollen lediglich Einkommensschwache im Gefüge der staatlichen Rente verbleiben. In Schweden werden durch die Einführung der kapitalgedeckten Prämienrente Beiträge von 2,5 % des Einkommens je einzelne Versicherte in kommerziellen Fonds auf dem Kapitalmarkt angelegt. Das finanzielle Anlagerisiko inklusive des Verlustrisikos nehmen die einzelnen BeitragszahlerInnen auf sich. Der Staat trägt dabei kein Risiko. Trotzdem ist die Prämienrente definitiv als eine ‚staatliche‘ Rente anzusehen: Erstens gehört die Prämienrente der obligatorischen staatlichen Rentenversicherung an und das angelegte Geld ist ein Teil des staatlichen Rentenbeitrags. Zweitens fließen die Beiträge von 2,5 % für die Prämienrente zunächst dem staatlichen Rententräger zu. Danach werden die Beiträge in den vom Versicherten ausgewählten Fonds auf dem Kapitalmarkt angelegt. Der Staat kauft also für die Versicherten mit den entrichteten Beiträgen die Anteile der Anlagefonds. Dabei werden die Anlageberater der Fonds nicht darüber informiert, wer ihre Kunden sind. Die individuellen Sparer bleiben also für die Anlageberater völlig unbekannt. Drittens zahlt die PPM, also der Staat, die Prämienrenten den RentnerInnen aus. Die Rolle der Anlagefonds, also des Marktes, ist lediglich das Anlegen des Geldes der anonymen Kunden auf dem Kapitalmarkt. In Schweden bleiben die Privatrenten, also die Betriebsrenten und die individuelle Altersvorsorge, wie früher auch heute noch vollständig getrennt von den staatlichen Renten. In Deutschland wird staatlich gefördert, dass die Versicherten des staatlichen Rentensystems sich eine Privatrente aufbauen, da der Staat plant, das Niveau der öffentlichen Renten zu verringern, um den Beitragssatzanstieg der gesetzlichen Rentenversicherung zu dämpfen. Beim Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Privatrente hilft der Staat dem Versicherten mit Zulagen, Steuervorteilen und Beitragsersparnis in der Sozialversicherung. Wenn die Beiträge für diese Privatrenten zunehmen, wird die Höhe der staatlichen Rente gemäß der Rentenanpassungsformel reduziert. Allerdings ist der Eintritt in die Privatrente nicht obligatorisch. Neben dem verpflichteten Aufbau der Staatsrente können ihre Versicherten freiwillig entscheiden, ob sie zusätzlich eine Privatrente aufbauen oder nicht.
7.2 Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme
357
Als die vierte Gemeinsamkeit kann die Verstärkung der Fürsorgeleistung genannt werden. In Großbritannien und in Deutschland wurde die Leistung für Alte innerhalb der vorhandenen Sozialhilfe von der normalen Sozialhilfe begrifflich und faktisch getrennt und verstärkt. In Schweden wurde beim Grundrentenbereich die Volksrente, die auf dem Versorgungsprinzip basiert, durch die Garantierente, die auf dem Fürsorgeprinzip beruht, ersetzt. In Großbritannien und in Deutschland wird für den Anspruch auf die Fürsorgeleistung für Alte eine Prüfung aller Einkommen und Vermögen des Antragstellenden und seiner Angehörigen vorausgesetzt. Bei der Bedürftigkeitsprüfung für die schwedische Garantierente wird lediglich die Höhe der staatlichen einkommensbezogenen Renten berücksichtigt. Die Einkommen sowohl aus Kapitaleinkünften als auch aus betrieblicher oder privater individueller Altersrente nehmen keinen Einfluss auf die Höhe der Garantierente. Die britische und deutsche Fürsorgeleistung für Alte richtet sich also nach einem ‚Mindesteinkommen‘ der Alten. Indessen zielt die schwedische Garantierente darauf ab, eine ‚Mindestrente‘ der Alten sicherzustellen. Fünftens wurden in allen drei Ländern die Regelungen, die der Kindererziehungszeit rentenrechtlich Rechnung tragen, eingeführt. Dies kann einerseits als eine Vermehrung des gesellschaftlichen Interesses an Müttern, die wegen der Erziehung von Kleinkindern häufig nicht erwerbstätig sein können und damit in dieser Zeit eigene Rentenansprüche nicht aufbauen können, interpretiert werden. Andererseits ist die Einführung der rentensteigernden Berücksichtigung auf die Bestrebung zurückzuführen, besonders Benachteiligte etwas zu fördern, um die allgemeine Schlechterstellung aufgrund der das Rentenniveau verringernden Veränderung der Rentenformel als weniger schlimm erscheinen zu lassen und dem Rentensystem einen sozialeren Anstrich zu geben.387 Sechstens wurden in den Rentensystemen Maßnahmen zur Erhöhung des Anreizes zur Beschäftigungsaufnahme der RentnerInnen eingeführt. Dadurch wurde die Grenze zwischen Arbeitsleben und Ruhestand aufgeweicht. In Großbritannien können die RentnerInnen nach der Abschaffung der Ruhestandsvoraussetzung unabhängig von fortlaufenden Arbeitseinkommen die Renten beziehen. Im neuen schwedischen System können RentenempfängerInnen während des Rentenbezugs – egal ob die Rente eine Teilrente oder eine Vollrente ist – ohne Rentenkürzung eine Erwerbsarbeit ausüben. Rentenansprüche können 387 Die Regelung der besten 20 Jahre der britischen Altersrente, von der die Personen mit kürzeren Erwerbsphasen bzw. mit häufigeren Unterbrechungen der Erwerbsbiographie sehr begünstigt wurden, wurde gemäß dem Gesetz sozialer Sicherung 1986 abgeschafft. In Schweden wurde die Vorschrift der einkommensstärksten 15 Jahre durch die Einführung des neuen Rentengesetzes 1998 abgeschafft. Statt der Berücksichtigung der einkommensstärksten 15 Jahre wurde nun das Lebenseinkommensprinzip eingeführt.
358
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
nun ohne Altersgrenze erworben werden. Die Rentenansprüche können also unabhängig vom Rentenbezug solange wachsen, wie die RentnerInnen rentenwirksame Arbeitseinkommen erzielen. In Deutschland können anders als früher Rentenberechtigte bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit im Rahmen bestimmter zulässiger Hinzuverdienstgrenzen einen gewissen Teil ihrer vorzeitigen Altersrente erhalten. Dabei können die RentnerInnen aufgrund der rentenwirksamen Arbeitseinkommen während des Bezugs der Teilrente weitere Rentenansprüche erzielen. 7.2.2 Die Gemeinsamkeiten in der Krankensicherung Die zuerst zu nennenden Gemeinsamkeiten im Bereich Gesundheitsversorgung sind wie folgt: Seit Ende der 70er Jahre streben alle drei Länder nach der Kostendämpfung im System der Gesundheitsversorgung. Der drastische Anstieg der Ausgaben für die Gesundheitsversorgung ist vor allem auf die zunehmende Überalterung der Gesellschaft zurückgeführt (vgl. Schmid 2002: 282). Zur Kostendämpfung wurden folgende Maßnahmen, die auf Leistungserbringer angewendet wurden, ergriffen: Zum einen haben die Länder durch strikte Budgetierung die Regulierung der Leistungserbringer verstärkt. Zum anderen wurden durch die Vermehrung des Wettbewerbs zwischen den Leistungsanbietern die Entscheidungskriterien im Gesundheitsdienst ökonomisiert. Dieser Wettbewerbsdruck wurde in Großbritannien und in Schweden durch die Einführung des ‚Internen Marktes‘ und in Deutschland durch die Einführung der leistungsorientierten und pauschalierten Vergütungssysteme erhöht. Mit Bezug auf die Gemeinsamkeiten im Gesundheitsversorgungsbereich ist zudem auf die Vermehrung der Selbstbeteiligung hinzuweisen. Diese Erhöhung der finanziellen Belastungen der Patienten bedeutet eine weitere Verschiebung der Ausgaben für Krankheit von der Solidargemeinschaft auf die Individuen und von den Einkommensstarken auf die Einkommensschwachen (Wanless 2002: 141). Beim Bereich Verdienstersatzleistung bei Krankheit ist allen drei Ländern gemeinsam, dass das Leistungsniveau gesenkt wurde. Anders als früher sind heute zudem die Verdienstersatzleistungen sozialabgabenpflichtig. Die Sozialabgabenpflicht wirkt sich negativ auf das reale Niveau der Leistung aus.
7.2 Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme
359
7.2.3 Die Gemeinsamkeiten in der Arbeitslosensicherung Erstens wurde wie in der Alterssicherung und in der Krankensicherung in allen drei Ländern das Leistungsniveau auch in der Arbeitslosensicherung reduziert. Zweitens wurden in allen drei Ländern die Anspruchsvoraussetzungen verschärft. Im Vergleich zu den 70er Jahren muss heute länger eine Beitragszahlung erfolgen, um Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Drittens wurden die Sanktionen bezüglich des Anspruches auf Arbeitslosenunterstützungen sehr verstärkt. Angesichts der notwendigen Begrenzung dieser Arbeit wurde bei der Darstellung und der Analyse der Arbeitslosensicherung auf die Voraussetzungen der Verfügbarkeit und der Zumutbarkeit und auf die Verflechtungen zwischen dem Arbeitslosengeld und der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht näher eingegangen.388 Festgehalten werden kann jedoch durch die Analysen der Sanktionen im Rahmen dieser Arbeit, dass eine Erhöhung des Anreizes zur Aufnahme einer Beschäftigung und eine Verschärfung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme in allen drei Ländern offensichtlich sind. Die Gemeinsamkeiten in der Alters-, Kranken- und Arbeitslosensicherung werden wie folgt in einer Tabelle zusammengefasst.
388 Laut Lodovici (2000a: 57, 61) wurden in allen drei Ländern mittlerweile die Voraussetzungen der Verfügbarkeit und der Zumutbarkeit verschärft und die Verflechtungen zwischen dem Arbeitslosengeld und der aktiven Arbeitsmarktpolitik verstärkt.
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Tabelle 21: Gemeinsamkeiten der Veränderung in den sozialen Sicherungssystemen der drei Länder Art Alterssicherung: Renten
Gemeinsamkeit Verringerung des Leistungsniveaus Veränderung der Faktoren für Rentenanpassung Verstärkung der Privatrente oder des Elementes der privaten Altersvorsorge Verstärkung der Fürsorgeleistung Berücksichtigung der Kindererziehungszeit Erhöhung des Anreizes zur Beschäftigungsaufnahme der RentnerInnen
Krankensicherung: Gesundheitsversorgung
Verstärkung der Regulierung der Leistungserbringer Vermehrung des Wettbewerbs zwischen Leistungserbringern Erweiterung der Selbstbeteiligung der Patienten
Krankensicherung: Verdienstersatzleistungen
Verringerung des Leistungsniveaus Einführung der Sozialabgabenpflicht
Arbeitslosensicherung: Verdienstersatzleistungen
Verringerung des Leistungsniveaus Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen Verstärkung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme
Quelle: eigene Darstellung
7.3 Die Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation der sozialen Sicherungssysteme 7.3 Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation Die oben erklärte Konvergenz der Veränderung der sozialen Sicherungssysteme ist auf die der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates innenwohnende Workfare-Orientierung zurückzuführen. Vor der Analyse des Zusammenhangs zwischen jedem Punkt der Gemeinsamkeiten der Transformation und der Workfare-Orientierung werden Ursachen der Entstehung der Workfare-Orientierung erläutert. Hinsichtlich der sozialen Sicherungssysteme von der Sozialpolitik des kapitalistischen Staates verursachen folgende drei sozioökonomische Umbrüche die Workfare-Orientierung.
7.3 Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation
361
7.3.1 Ursachen der Workfare-Orientierung und ihr Einfluss auf die sozialen Sicherungssysteme 7.3.1.1 Die postfordistische Vergesellschaftungsdynamik Bei den Veränderungen in der Art der Reproduktion-Regulation, die im gegenwärtigen Kapitalismus auftreten, lassen sich in Europa laut Jessop vier entscheidende Tendenzen deutlich beobachten: das Aufkommen neuer Technologien; die Globalisierung nationaler Ökonomien; der Wandel des dominanten technisch-ökonomischen Paradigmas; und die Regionalisierung nationaler Ökonomien und das Fortschreiten der Europäischen Integration (vgl. Jessop 1997: 78; 1992: 245). Diese vier Trends rufen die Transformation der Ökonomie im integralen Sinne mit den Begriffen „Akkumulationsregime + Sozialregulationsweise“ hervor. Infolge dieser postfordistischen Vergesellschaftungsdynamik liegt die gegenwärtige kapitalistische Staatsform unter dem tendenziellen Übergang vom keynesianischen Welfare-Staat (KWS) zum Schumpeterianischen Workfare-Staat (SWS) (Jessop 1993: 9) oder dem ‚Schumpeterian Workfare Postnational Regime’‘ (SWPR) (Jessop 2001: 149; 2002: 247). Die strategische Richtung bzw. Leitlinie der sozialen Funktion des kapitalistischen Staates, die Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskraft zu sichern, wandelt sich von der Welfare-Orientierung zur Workfare-Orientierung. Die Workfare-Orientierung wird als eine Unterordnung der Sozialpolitik unter die erweiterten Normen der Wirtschaftspolitik und „downward pressure on the ‘social wage’ and attack on welfare rights“ bezeichnet (Jessop 2002: 252; Hervorhebung im Original). Mit Bezug auf die erste Dimension der WorkfareOrientierung wird für die Erhöhung der strukturellen Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft die Sozialpolitik den Erfordernissen der Arbeitsmarktflexibilität untergeordnet und die produktivistische und innovative Vorsorge hinsichtlich der Sozialleistungen und des kollektiven Konsums gefördert (Jessop 2002: 168). Die zweite Dimension wird, wie im Kapitel 2 erläutert, durch die Kürzungen der Sozialleistungen, die Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen, die Privatisierung der sozialpolitischen Institutionen etc. charakterisiert. 7.3.1.2
Die Auswirkungen der Europäischen Integration
Von den oben genannten vier Tendenzen ist die Regionalisierung der nationalen Ökonomien im Vergleich mit den anderen dominanten Triaderegionen – Nordamerika und Südostasien – in Europa infolge der Konstruktion der ‚Europäischen Union‘ deutlich sichtbarer.
362
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Im Kapitel 2 wurde erläutert, dass die Bereiche der Sozialpolitik der EU im Vergleich mit der europäischen Wirtschaftspolitik faktisch unausgefüllt bleiben. Die Sozialpolitik, die zum einen die soziale Reproduktion der Arbeitskraft gewährleisten und zum anderen Arbeitsunfähige absichern soll, bleibt also noch immer eine Angelegenheit der Mitgliedsländer und nicht der EU. Die auf die Sozialleistungen der Mitgliedsländer direkt bezogene Politik der EU beeinflusst kaum die sozialen Sicherungssysteme der einzelnen europäischen Staaten. Aber die wettbewerbs- und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik der EU, die seit den 80er Jahren durch die Beseitigung der tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnisse, die Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen, die vereinheitlichte Regulierung der Geldpolitik und der Finanzpolitik der Mitgliedsländer usw. charakterisiert wird, dereguliert und flexibilisiert die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer (vgl. Deppe 1993: 36; Scharpf 2000: 84 f.; Leibfried 2000: 87; Bieling 2002: 22-28; Huffschmid 2004b: 164 ff.; Hering 2004). Zum Beispiel führt die Disziplinierung der europäischen Finanzpolitik, vor allem die streng begrenzte Neuverschuldung der Mitgliedsländer und ihre massiven Steuersenkungen, zur Kürzung oder zum Streichen staatlicher Ausgaben der Mitgliedsländer. Diese Reduzierung der staatlichen Ausgaben findet unter anderem in den Bereichen der Sozialleistungen und des kollektiven Konsums statt. Diese strenge Beschränkung der Ressourcen im Zuge der restriktiven Finanzpolitik der EU führt letztlich zum Abbau, zur Flexibilisierung und zur Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer (vgl. Huffschmid 2004a: 7; Urban 2003: 22; Hering 2004: 365-369). Eine andere Achse der EU-Politik, die den Abbau der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer hervorruft, ist die ‚Offene Methode der Koordinierung‘ für die ‚Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme‘. Durch dieses ‚besondere‘ Instrument der EU sollen sowohl die öffentlichen Alterssicherungssysteme als auch die Krankensicherungssysteme der Mitgliedsländer durch private – meist kommerzielle – Pläne ergänzt bzw. zunehmend ersetzt werden (Etxezarreta 2004: 149; Urban 2003: 23; Huffschmid 2004a: 7). Früher fehlte der EU die rechtliche Kompetenz, um in die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer einzugreifen. Um nun für die EU einen Spielraum bezüglich legislativer Lösungen in diesem Bereich zu schaffen, ohne nominell in die Struktursouveränität der Mitgliedsländer im Bereich der sozialen Sicherungssysteme einzugreifen, wurde im Zuge der Lissabon-Strategie 2000 die Offene Methode der Koordinierung für die Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme in der EU eingeführt. Bei der Methode handelt es sich um starken politischen Druck auf den Mitgliedsstaaten, der in den europäischen Ländern die legislativen Eingriffe für die Privatisierung und Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme hervorrufen soll: „[Ü]ber das vereinbarte Benchmarking- und
7.3 Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation
363
Überwachungsverfahren könnte sich eine erhebliche Dynamik und eine reale Einschränkung der Autonomie der Nationalstaaten entwickeln.“ (Urban 2003: 27) Dabei spielt die EU lediglich die Rolle der Anleiterin oder des Auferlegenden, ohne dass sie Verantwortungen für Sozialpolitik oder die realen sozialen Angelegenheiten für EU-BürgerInnen übernimmt (Etxezarreta 2004: 133-135). Die Offene Methode der Koordinierung, die nicht vertraglich vorgesehen, sondern durch Entscheidungen des Europäischen Rates angestoßen wurde, hat zwar mehr Einflussmöglichkeiten als eine Empfehlung oder eine politische Erklärung (Etxezarreta 2004: 133), ist aber letztlich noch kein rechtlich verbindliches Verfahren (Weidenfeld und Wessels 2006: 337; Huffschmid 2005: 164-177). Zusammenfassend kann gesagt werden: Hinsichtlich der Wohlfahrtsproduktion und der Reaktionsweise auf Sozialfragen fehlt der EU eine ‚konkrete‘ europäische sozialpolitische Strategie. Europäische Systeme der sozialen Sicherung, die die EU-BürgerInnen gegen soziale Risiken schützen, sind nicht faktisch vorhanden. Außerdem gibt es keine europäisch akzeptierten Leitvorstellungen in Bezug auf die europäische Sozialpolitik (Kaufmann 2005a: 271). Trotz der „strukturellen Defizite“ (Deppe 1995: 354) der EU-Sozialpolitik drängen in der Tat die neoliberale europäische Wirtschaftspolitik und ‚besondere‘ Instrumente der EU wie die Offene Methode der Koordinierung auf den Abbau, die Privatisierung und die Flexibilisierung der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer. Diese zwei Achsen der EU-Politik fördern also den Wandel der strategischen Leitlinie der sozialen Funktion des europäischen kapitalistischen Staates von der Welfare- zur Workfare-Orientierung. 7.3.1.3 Die Überalterung der Bevölkerung Neben den oben erläuterten Ursachen drängt auch die Überalterung der Bevölkerung auf die Umsetzung der Workfare-Orientierung in den sozialen Sicherungssystemen. Wie unten aus der Tabelle 30 zu ersehen ist, taucht ein solcher sozialstruktureller Umbruch in nahezu allen fortgeschrittenen europäischen Gesellschaften als eine ernste Sozialfrage auf. Jessop (Jessop 2002: 159 f.) betrachtet die Frage der alternden Gesellschaft als eine strukturelle Problematik, die vor allem in der Alters- und der Krankensicherung die Workfare-Orientierung fördert.389 In den empirischen Untersuchungen dieser Arbeit wurde auch beobachtet, dass die Überalterung der Bevölkerung eine der Ursachen des Reformbedarfs bei den sozialen Sicherungssystemen ist. 389 Ausführliche Erläuterungen über die Implikation der Überalterung der Bevölkerung für die Workfare-Orientierung finden sich in Jessop 2002: 159-161.
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Tabelle 22: Demografische Entwicklung in europäischen Ländern1 (in %) Jahr 2000 2050 Jahr 2000 2050 Jahr 2000 2050 Jahr 2000 2050
Belgien 28 50 Frankreich 28 58 Italien 29 71 Österreich 25 55
Dänemark 24 39 Griechenland 27 64 Luxemburg 23 40 Portugal 27 63
Deutschland 26 54 Britannien 27 47 Niederlande 22 39 Schweden 30 43
Finnland 25 52 Irland 19 50 Norwegen 26 45 Spanien 27 73
1. Altenquotient = Zahl der Bevölkerung ab 65 Jahren / Zahl der Bevölkerung von 20-64 Jahren x 100 Quelle: OECD 2007b; eigene Darstellung
Die Überalterung der Bevölkerung ist vor allem zum einen auf den Geburtenrückgang bzw. die Verringerung der Fruchtbarkeit390 und zum anderen auf die Erhöhung der Lebenserwartung und die daraus folgende Steigerung des Altenanteils an der Bevölkerung zurückzuführen (Kaufmann 2005a: 147-151, 169172; 1997: 69-73; Sesselmeier 2004: 170 f.). Die steigende Anzahl älterer Menschen und die sinkende Zahl jüngerer Menschen verursachen folgende Probleme: die Erhöhung des Rentnerquotienten391, also die überproportionale Zahl der RentenempfängerInnen im Verhältnis zu den BeitragszahlerInnen; die Ausdehnung der Rentenbezugsdauer; die Gefährdung der Finanzierbarkeit der Renten; der Anstieg der Kosten für Gesundheit und Pflege für Alte; die Verringerung der Quelle der staatlichen Einnahmen; die Erhöhung der Steuer- und Beitragssätze, also die Steigerung der Finanzlasten der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter; der aus der Steigerung der Lasten folgende Steuerwiderstand; und die Frage der Generationsgerechtigkeit und des Generationskonfliktes (Myles 1984: Kapitel 6; Kaufmann 2005a: Kapitel 6 und 7; 2005b; Birg 2004: 35-51; Schmid 2002: 282, 296 f.; Lampert und Althammer 2004: 281 ff.).
390 Die Fruchtbarkeit heißt die Anzahl der Kinder, die eine Frau durchschnittlich im Laufe des Lebens hat. 391 Der Rentnerquotient wird aus dem Verhältnis der Zahl der RentenempfängerInnen zur Zahl der beitragszahlenden Versicherten ermittelt (Lampert und Althammer 2004: 281).
7.3 Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation
365
7.3.2 Die Implikationen der Workfare-Orientierung für die Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme Der Zusammenhang zwischen jedem Punkt der Gemeinsamkeiten der Transformation der sozialen Sicherungssysteme und den Eigenschaften bzw. den Erscheinungsformen der Workfare-Orientierung, die im Kapitel 2 dargestellt wurden, ist wie folgt: Eine typische Erscheinungsform der zweiten Dimension der WorkfareOrientierung ist die ‚Verringerung des Leistungsniveaus‘. Dies wurde bei der Veränderung der Renten aller drei Länder gefunden. Die Reduzierung der Renten wurde nicht nur durch eine unmittelbare Beschneidung der Leistungshöhe, sondern auch durch die ‚Veränderung der Faktoren für Rentenanpassung‘ durchgesetzt. Die Einführung der ‚Berücksichtigung der Kindererziehungszeit‘ ist auf die Bestrebung zurückzuführen, besonders Benachteiligte etwas zu fördern, um die allgemeine Schlechterstellung aufgrund der das Rentenniveau verringernden Veränderung der Rentenformel als weniger schlimm erscheinen zu lassen und dem Rentensystem einen sozialeren Anstrich zu geben. Hinsichtlich der Veränderung der Renten ließen sich die ‚Verstärkung der Privatrente oder des Elementes der privaten Altersvorsorge‘ und die ‚Verstärkung der Fürsorgeleistung‘ gemeinsam in den drei Ländern beobachten. Diese zwei Gemeinsamkeiten sind auch typische Erscheinungsformen der zweiten Dimension der Workfare-Orientierung. Die letzte Gemeinsamkeit der Alterssicherung, die ‚Erhöhung des Anreizes zur Beschäftigungsaufnahme der RentnerInnen‘ ist mit der ‚produktivistischen Vorsorge hinsichtlich der Sozialleistungen‘, die eine Eigenschaft der ersten Dimension der Workfare-Orientierung ist, verbunden. Die Staaten versuchen, die EmpfängerInnen der Sozialleistung, also die RentenempfängerInnen, möglicht lang auf dem Arbeitsmarkt zu halten. Dadurch wird auch danach gestrebt, die Rentenausgaben zu dämpfen. Im Bereich Gesundheitsversorgung wurde als Gemeinsamkeit der Veränderung die ‚Verstärkung der Regulierung der Leistungserbringer‘ und die ‚Vermehrung des Wettbewerbs zwischen Leistungserbringern‘ festgehalten. Diese zwei Gemeinsamkeiten sind stellvertretende Beispiele der typischen Erscheinungsform der zweiten Dimension der Workfare-Orientierung, der „cost-cutting or, at least cost-containment, measures“ (Jessop 2002: 152, 168). Die Verankerung des Konkurrenzprinzips bzw. der Einbau marktwirtschaftlicher Strukturelemente im Gesundheitsversorgungssystem steht zudem mit der ‚produktivistischen und innovativen Vorsorge hinsichtlich des kollektiven Konsums‘ der ersten Dimension der Workfare-Orientierung, also mit der Innovation des Produktionsprozesses im Sektor des kollektiven Konsums, in Zusammenhang.
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Die letzte Gemeinsamkeit im Bereich Gesundheitsversorgung, die ‚Erweiterung der Selbstbeteiligung der Patienten‘ kann als eine Erscheinungsform der zweiten Dimension der Workfare-Orientierung interpretiert werden. Bei den kollektiven Konsumgütern, die früher öffentlich bereitgestellt und finanziert wurden, werden heute zur Verringerung der staatlichen Belastungen die Privatisierungstrends verstärkt und mindestens die Selbstbehalte der Konsumenten vermehrt (Jessop 1997: 74; 2002: 158 f., 162). Beim Bereich Verdienstersatzleistung bei Krankheit wurde als Gemeinsamkeiten der Veränderung die ‚Verringerung des Leistungsniveaus‘ und die ‚Einführung der Sozialabgabenpflicht‘ beobachtet. Diese zwei Gemeinsamkeiten beziehen sich auf die Erscheinungsform der zweiten Dimension der WorkfareOrientierung. Im Verlauf der Verwirklichung der Workfare-Orientierung soll die Höhe der Leistung reduziert und die Belastung bzw. Verantwortung der Individuen erweitert werden. Beim Bereich Arbeitslosensicherung werden die ‚Verringerung des Leistungsniveaus‘ und die ‚Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen‘ nicht nur mit der zweiten Dimension der Workfare-Orientierung, sondern auch mit den Maßnahmen für Arbeitsmarktflexibilität der ersten Dimension der WorkfareOrientierung verbunden. Die letzte Gemeinsamkeit im Bereich Arbeitslosensicherung, die ‚Verstärkung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme‘, ist eine typische Erscheinungsform der ‚produktivistischen Vorsorge hinsichtlich der Sozialleistungen‘ der ersten Dimension der Workfare-Orientierung. In der gegenwärtigen Phase der Kapitalismusentwicklung bleibt Staaten und Parteien der kapitalistischen Länder keine andere Wahl, als diese WorkfareOrientierung zu befolgen. Wenn die Workfare-Orientierung verweigert wird, kann ein Hindernis bei sozialer Reproduktion der Arbeitskraft entstehen, da die soziale Funktion des kapitalistischen Staates den veränderten sozioökonomischen Konstellationen nicht angepasst ist. Die Kluft und der Fehlschlag bei dem Reproduktionsprozess der Arbeitskraft können letztlich zur Krise der Kapitalakkumulation und der erweiterten Reproduktion des Kapitalkreislaufes führen. Da alle kapitalistischen Staaten die Workfare-Orientierung befolgen, wohnt die Workfare-Orientierung als strategische Leitlinie allen im Kapitel 3 erklärten sozialpolitischen Strategien in der postfordistischen Ära inne. Sowohl der liberalen Strategie als auch der sozialdemokratischen und der konservativen sozialpolitischen Strategie wohnt die Workfare-Orientierung inne. Wie in den empirischen Untersuchungen dargestellt wurde, haben die drei Länder mittlerweile durch zahlreiche ‚Reformprogramme‘ die eigenen Systeme sozialer Sicherung verändert. Als Anlässe der Reformen können z.B. spezifische wirtschaftliche
7.3 Ursachen der Gemeinsamkeit der Transformation
367
Konstellationen und historische Besonderheiten genannt werden.392 Aber in den meisten Fällen wurden das ‚Ziel‘ und die ‚Richtung‘ der Reformprogramme von der Workfare-Orientierung determiniert. Daher können die drei Länder trotz ihrer unterschiedlichen institutionellen Merkmale und ihrer verschiedenen Entwicklungsbedingungen viele Gemeinsamkeiten der Veränderungen zeigen und die Ziele und Richtungen dieser Veränderungen entsprechen den Eigenschaften bzw. den Erscheinungsformen der Workfare-Orientierung. Nahezu alle Veränderungen, in denen sich die drei Länder unterscheiden, wurden auch von der Workfare-Orientierung hervorgerufen. Auch wenn das ‚Erscheinungsbild‘ der Veränderung wegen der nationalspezifischen institutionellen Charaktere unterschiedlich ist, richten sich die Zielsetzungen und Richtungen auch der meisten unterschiedlichen Veränderungen an der Workfare-Orientierung aus. Die drei Länder zeigten zum Beispiel im Bereich Alterssicherung folgende unterschiedliche Veränderungen: In Deutschland wurde der Abschlag bei den vorzeitigen Renten und in Schweden die demografische Komponente eingeführt. Beide Veränderungen zielten dabei auf die Verringerung der Finanzlasten des Staates ab. Großbritannien strebte durch die Abschaffung der Sozialversicherungsbeiträge für den niedrigeren Einkommensanteil an, den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen. Die Entwicklungsform der Wohlfahrtsstaaten seit den 80er Jahren, die infolge der Workfare-Orientierung Flexibilisierung, Einschränkung und Verkürzung darstellt, ist von der vorherigen Form der Entwicklung, die auf der Welfare-Orientierung beruht und als ständiger Ausbau der Sozialsysteme bezeichnet wird, deutlich unterschieden. Angesichts dieser Differenz nennt man die Entwicklungsform des liberalen britischen Wohlfahrtsstaates in der postfordistischen Ära die ‚neoliberale Transformation‘ (Jessop 2002: 169). Die Entwicklung des deutschen Wohlfahrtsstaates seit den 80 Jahren wird die „liberalkonservative Transformation des Sozialstaates“ (Butterwegge 2005: 137) genannt. Die Entwicklung des schwedischen Wohlfahrtsstaates in der postfordistischen Ära wird mit dem Schlagwort ‚Dritter Weg‘ (Stephens 1996: 44) oder der ‚Liberalisierung‘ von der vorherigen Form der Entwicklung differenziert. Allerdings kann die Workfare-Orientierung bloß mit der ‚(Neo-)Liberalisierung‘ oder mit der Flexibilisierung nicht erklärt werden. Vielmehr ist der Workfare-Orientierung die Reorganisation oder die Restrukturierung der Sozialsysteme wesenimmanent (vgl. Albertsen 1988; Offe 1987; Hirsch 1991; 1998: 28-40). In der neu konfiguriert werdenden, postfordistischen Gesellschafts392 Als ein Beispiel der spezifischen wirtschaftlichen Konstellation kann die Erhöhung der Bezugsdauer bei der deutschen Arbeitslosensicherung zur Unterstützung älterer Arbeitsloser genannt werden. Mit Bezug auf die historische Besonderheit ist auf die Dezentralisierung des britischen Gesundheitsversorgungssystems hinzuweisen.
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
formation soll die Sozialpolitik des kapitalistischen Staates mit und/oder durch die Flexibilisierungstendenzen restrukturiert werden (Jessop 2002: 142, 148, 152, 168; 1997: 73; 1992: 253). “[A]lthough the crisis of Atlantic Fordism did exclude continuation of the KWNS in its old form, it did not require that attempts be made to dismantle or destroy the welfare state rather than to reform it. Indeed, given my arguments about the necessity of extra-economic factors in the reproduction of labour-power as a fictitious commodity, it is improbable that a general and enduring rollback could be consolidated. Far more likely are attempts to redesign institutions and/or to reorient their role in social reproduction.” (Jessop 2002: 142)
7.4 Die Ursachen der Diversität der Restrukturierungsform der sozialen Sicherungssysteme393 7.4 Ursachen der Diversität 7.4.1 Der wesentliche Grund: Die machtpolitischen Kräfteverhältnisse Im Kapitel 3 wurde erklärt, dass wegen der im Vergleich zur Vergangenheit fast unveränderlich bleibenden Regierungs- und Parteikonstellationen und der sich wenig wandelnden Patterns der Arbeiterklasse als gesellschaftlicher Akteur die sozialpolitischen Strategien zur Anpassung an die neuen sozioökonomischen Konstellationen auf der Grundlage des jeweiligen spezifischen Charakters des Wohlfahrtsregimes herausgebildet werden. Die sozialpolitischen Gefüge werden auf der Basis dieser unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien transformiert. Sowohl Jessop als auch Esping-Andersen behaupten, dass infolge der veränderten sozioökonomischen Umstände die Restrukturierung bzw. die Reorganisation der Sozialpolitik gefordert wird (Jessop 1992: 253; 2002: Kapitel 4; Esping-Andersen 1996b; 2002b). Bei der Analyse der Auswirkung der Restrukturierung im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde empirisch festgestellt, dass für eine fiskalische Stabilität des Staates eine grundlegende Restrukturierung über die Veränderungen innerhalb der Struktur hinaus benötigt wird. Dies bedeutet, dass für eine völlige Durchsetzung der Workfare-Orientierung über die innerstrukturellen Veränderungen hinaus, zu denen die meisten oben 393 Von den Restrukturierungsänderungen, den innerstrukturellen Veränderungen und den Veränderungen außerhalb der Struktur, z.B. die Verstärkung der britischen und deutschen Fürsorgeleistung mit Bezug auf die Alterssicherung, fokussiert diese Arbeit bei der Analyse der Differenz der Veränderung der sozialen Sicherungssysteme lediglich auf die Restrukturierungsänderungen, die bezüglich der drei Arten der Veränderung der entscheidendsten Veränderung entsprechen und bei Inhalten und Ergebnissen der Reform die Unterschiede zwischen den drei Ländern am deutlichsten zeigen.
7.4 Ursachen der Diversität
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dargestellten Punkte der Gemeinsamkeiten der Veränderung gehören, die strukturverändernde Transformation erreicht werden muss. Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels dargestellt wurde, erzielte ein Land der drei Länder keine Restrukturierung der sozialen Sicherungssysteme. Die anderen zwei Länder zeigen unterschiedliche Restrukturierungsformen. Diese Unterschiede zwischen den drei Ländern sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass die sozialpolitischen Strategien in letzter Instanz determinieren, ob die Restrukturierung erzielt werden kann und, wenn ja, welche Form die Restrukturierung erzeugt. Im obigen jüngsten Abschnitt wurde erklärt, dass die den Strategien innewohnende Workfare-Orientierung bei der Bildung der Reformprogramme ihr ‚Ziel‘ und ihre ‚Richtung‘ bestimmt. Aber die ‚Inhalte‘ der Reformprogramme werden am stärksten von den Grundkonzeptionen bzw. der inneren Logik der sozialpolitischen Strategien beeinflusst. Denn die durch die Reform veränderten sozialpolitischen Systeme müssen mit dem spezifischen Modus der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft, der von der sozialpolitischen Strategie des entsprechenden Staates verfolgt wird, korrespondieren. Von den Reformprogrammen, die sich gemäß den vielfältigen Niveaus und Ausmaßen der Reform differenzieren, ist das Reformprogramm zur Restrukturierung durch die Grundkonzeptionen der sozialpolitischen Strategie noch deutlicher geprägt als das Reformprogramm, das die Veränderungen innerhalb der Struktur hervorruft. Denn ein relativ marginaler Wandel wie eine leichte Reduzierung des Leistungsniveaus wirkt sich kaum oder sehr gering auf den spezifischen Modus der sozialen Reproduktion der Arbeitskraft des entsprechenden Staates aus. Daher kann beim Inhalt eines Reformprogramms zur innerstrukturellen Veränderung – z.B. bei der ‚Einführung der Sozialabgabenpflicht‘ bei der Verdientersatzleistung bei Krankheit – kein Unterschied zwischen den Ländern gefunden werden. Indessen spiegeln die Inhalte des Reformprogramms zur Restrukturierung für eine grundlegende Transformation viel deutlicher die innere Logik der sozialpolitischen Strategie wider, und diese Inhalte des Reformprogramms bestimmen die Restrukturierungsform. Gegebenenfalls werden infolge der Wirkung der sozialpolitischen Strategie die strukturändernde Transformation bzw. die gründliche Verwirklichung der Workfare-Orientierung nur zaghaft durchgeführt und im Endeffekt verweigert. In diesem Fall wird das Reformprogramm zur Restrukturierung an sich abgelehnt und ausgebremst. Dieses Land kann also die entscheidendste Veränderung zur Umsetzung der Workfare-Orientierung nicht erreichen. Dabei vergrößert sich die Kluft zwischen den Grundkonzeptionen der Strategie und der darin innewohnenden Workfare-Orientierung innerhalb der sozialpolitischen Strategie.394 394 Gegebenenfalls kann ein Reformprogramm zur Restrukturierung, das bereits vom Parlament verabschiedet wurde, am Widerstand anderer politischer und sozialer Kräfte scheitern und nicht
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7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Die Vielfalt bei der Beantwortung der Herausforderungen aus der sozioökonomischen Struktur spiegelt letztlich die Grundkonzeptionen der sozialpolitischen Strategien, die die Wohlfahrtsstaaten wählen, wider. Die grundlegenden Transformationen der Sozialpolitik werden auf der Basis der sozialpolitischen Strategien unternommen und diese unterschiedlichen sozialpolitischen Strategien werden von den dominierenden machtpolitischen Konstellationen bestimmt. Die Transformationsformen werden also „durch das vorherrschende Gleichgewicht der politischen Kräfte geprägt“ (Jessop 1992: 249). Zusammenfassend kann gesagt werden: Zwar wird die Forderung nach der Reorganisation der Sozialpolitik von der strukturellen Seite, vor allem von dem inneren Umbruch der kapitalistischen Produktionsweise in den Raum gestellt. Aber ob die Sozialsysteme restrukturiert werden können und zu welcher Form sie transformiert werden, hängt von der Kräftekonstellation der Klassen und Klassenfraktionen ab. Die Transformation folgt einfach nicht einer Logik des radikalen Bruchs (Deppe 1997: 138). Klassenpraxis beschränkt „so die möglichen Optionen bzw. den zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gegebenen Handlungsspielraum“ (Kohl 1993: 78). In Schweden regierte die sozialdemokratische Partei zwischen 1982 und 2006 mit Ausnahme der vier Jahre zwischen 1991 und 1994. Die schwedischen Gewerkschaften behalten heute noch die landesweit koordinierten und – wenn auch rudimentär regionalisierten – zentralisierten Tarifverhandlungssysteme bei. Ein solches kollektives Handeln der Arbeiterklasse bildet eine grundlegende Voraussetzung bzw. eine bestmögliche institutionelle Infrastruktur für die solidarische Politik und den universalistischen Wohlfahrtsstaat. In Deutschland regierten die konservativen Kräfte, also die CDU/CSU, von 1982 bis 1998. Danach strebte die SPD mit den Grünen auf der Basis der neoliberalen Strategie nach einer Reorganisation der sozialpolitischen Systeme. Aber zumeist scheiterten diese Reformen am Widerstand der konservativen Kräfte und der Interessengruppen wie auch der Gewerkschaften, wobei zu bemerken bleibt, dass die Gründe und Intentionen der Konservativen und der Gewerkschaften für den Widerstand unterschiedlich, wenn nicht sogar gegensätzlich waren. Schließlich verlor die Schröder-Regierung die Macht. Ab 2005 regiert eine CDU/CSU-geführte Koalitionsregierung aus Union und SPD unter Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die heutigen deutschen Gewerkschaften behalten zwar die zentralisierten Tarifverhandlungssysteme bei, aber ihr Koordinationsgrad ist niedriger als die Koordinationsgrade in den sozialdemokratischen Ländern. Diese Struktur der kollektiven Aushandlung verursacht tendenziell, in Kraft treten. Dieser Fall fand sich bei dem Versuch der Schröder-Regierung, den Gesundheitsversorgungsbereich zu restrukturieren. Hierzu ausführlicher siehe den Abschnitt ‚6.4.2.1 Die Transformation der Gesundheitsversorgungssysteme‘.
7.4 Ursachen der Diversität
371
dass die einzelnen Gewerkschaften nur gemäß ihren eigenen unmittelbaren Einzelinteressen handeln. Sie betreiben so eher egoistische ‚Rent-Seeking‘-Tarifverhandlungen denn solidarische und universalistische Politik für die Gesamtheit der Arbeiterklasse. In Großbritannien regierte die konservative Partei, die die britischen Bourgeois-Klassen vertritt, in den Jahren zwischen 1979 und 1997. Danach gelangte Blairs Arbeitspartei an die Regierung. Aber die Ansätze von ‚New Labour‘ weichen dabei erheblich von den klassischen Forderungen der britischen Arbeitspartei ab. Die Blair-Regierung folgte fast ohne Änderung den Grundlinien der liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die von der konservativen Partei herausgebildet worden waren. In Großbritannien werden die Tarifverhandlung und die Lohnfestsetzung auf den dezentralisierten Ebenen und in unkoordinierten industriellen Arbeitsbeziehungen mit nur marginalem Niveau des Erfassungsgrades ausgeführt. Die britischen Gewerkschaften erlebten in der Thatcher-Zeit schwere Niederlagen in der Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie und wurden erheblich geschwächt. Angesichts dieser zugrundliegenden politischen und sozialen Kräfteverhältnisse kann in Schweden als die ‚dominierende‘ sozialpolitische Strategie in der postfordistischen Ära die sozialdemokratische sozialpolitische Strategie, die im Kapitel 3 erklärte wurde, genannt werden. In Deutschland existierte in dieser Zeit die konservative sozialpolitische Strategie als dominierende sozialpolitische Strategie. Für Großbritannien kann die liberale sozialpolitische Strategie als dominierende sozialpolitische Strategie genannt werden. Die Auswirkungen dieser dominierenden sozialpolitischen Strategien auf die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme sind in den drei Ländern folgendermaßen. 7.4.2 Die Auswirkung der sozialpolitischen Strategien auf die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme 7.4.2.1 Großbritannien In der dominierenden sozialpolitischen Strategie des liberalen Wohlfahrtsstaates in der postfordistischen Ära ist der vorrangige Bezugspunkt bei der Wohlfahrtsproduktion die Expansion der Marktkräfte zur Erfüllung der Wohlfahrtsbedürfnisse (Esping-Andersen 1999: 165). Daraus resultiert, dass die offensichtliche Vorherrschaft der Erwerbsarbeit bei der Wohlfahrtsproduktion bestätigt wird, dass dabei die Rolle des Marktes noch mehr ausgeweitet wird und dass eine
372
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
„‘recommodification’ of labour“ (Esping-Andersen 1999: 165; vgl. Candeias 2004: 299 ff.) gefördert wird. Die liberalen Wohlfahrtsstaaten versuchen, zur Absicherung sozialer Risiken die Eigenverantwortung der Individuen zu erweitern. Diese Bestrebungen werden naturgemäß an die Reduzierung der öffentlichen, wohlfahrtstaatlichen Verantwortungen angeschlossen. Beispielsweise wurde das stigmatisierende, zielgerichtete Fürsorgeprinzip mit größerer Selektivität ausgeweitert. Zugleich wurden die privaten Sicherungspläne verstärkt gefördert (vgl. Esping-Andersen 1996b: 16; 1999: 153, 161, 165; 2002b: 15). Infolge dieser Grundkonzeptionen der liberalen sozialpolitischen Strategie, also der Expansion der Marktkräfte und der Vermehrung der Eigenverantwortung der Individuen, kam es in Großbritannien am häufigsten im Vergleich der drei Länder zur privatheitszentrierten Restrukturierung.395 Da diese Form der Restrukturierung verfolgt wurde, war die ,Entstaatlichung‘ bei den Systemen der sozialen Sicherung in Großbritannien der häufigste Trend der drei Umstrukturierungstrends des Nationalstaates, die im zweiten Kapitel beschrieben wurden. 7.4.2.2 Schweden In der dominierenden sozialpolitischen Strategie des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates in der postfordistischen Ära ist der vorrangige Bezugspunkt bei der Wohlfahrtsproduktion die Erhaltung der Staatszentrierung. Trotz eines im Vergleich zu früher niedrigeren Wirtschaftswachstums ist Schweden eins der Länder, deren universelle Einkommenserhaltungsprogramme noch heute bei den Indikatoren der Dekommodifizierung die höchsten Punkte auf der Welt bekommen. Die Bestrebungen nach der Erhaltung der Staatszentrierung können auch darin gefunden werden, dass sich die Vollbeschäftigungspolitik – die aktive Arbeitsmarktpolitik und die öffentliche Beschäftigung – und die Bereiche der 395 Bei dem Gesundheitsversorgungsbereich wurde in der Thatcher-Zeit der Plan, das NHS durch ein soziales Krankenversicherungssystem zu ersetzen, in Erwägung gezogen. Es gab in der konservativen Partei sogar Forderungen nach einer Privatisierung des NHS. Diese Pläne konnten jedoch nicht umgesetzt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die nachhaltige Unterstützung für das NHS seitens der Bevölkerung sehr groß war. Die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung in der Arbeitslosensicherung kann wie folgt erklärt werden: Beim Bereich Verdienstersatzleistung bei Arbeitslosigkeit ist im Vergleich mit anderen Bereichen sozialer Sicherung, z.B. der Rentenversicherung, wegen niedriger Ertragsfähigkeit eine Kommerzialisierung sehr schwierig. Ebenso ist es kaum durchsetzbar, das entsprechende Risiko voll zu individualisieren oder ganz den ArbeitgeberInnen zu übertragen. Statt der Privatisierung der Zuständigkeit für die Arbeitslosensicherung hat die konservative Regierung die JSA Reform durchgeführt und die Bezugsdauer extrem, nämlich auf die Hälfte, reduziert.
7.4 Ursachen der Diversität
373
Sozialdienste während der letzten 30 Jahre ständig weiterentwickelt haben (vgl. Esping-Andersen 2002b: 1, 13 f.; 1996b: 10 f.; Hemerijck 2002: 179; Huber und Stephens 2001: 301). Infolge dieser Betonung der Rolle der Regierung zeigt die Reaktion des schwedischen Wohlfahrtsstaates auf Sozialfragen anders als Großbritannien eine Form der ‚Inklusion‘ mittels der ausreichenden Gewähr von Sozialtransfers, der vielfältigen Sozialdienste und der öffentlichen Programme. Schweden strebt also durch diese aktive Reaktion auf Sozialfragen danach, den Ausschluss der sozial Anfälligen aus der Gesellschaft möglichst zu minimieren und ihre Sozialinklusion zu maximieren (vgl. Esping-Andersen 1996b: 14; 1999: 18, 161, 122 f., 142; 2002b: 14). Demnach ist die öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung der schwedischen sozialen Sicherungssysteme auf die sozialdemokratische sozialpolitische Strategie, also die Erhaltung der Staatszentrierung und die aktive Inklusion, zurückzuführen.396 Da diese Form der Restrukturierung verfolgt wurde, kam es bei den Systemen der sozialen Sicherung in Schweden viel deutlicher zur ‚Entnationalisierung‘, also zur ‚Dezentralisierung‘ innerhalb der öffentlichen Sphäre, als zur ,Entstaatlichung‘. 7.4.2.3 Deutschland Die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sind der Status quo. In welchem Zusammenhang stehen dann ‚Nicht-Restrukturierung‘ und die dominierende sozialpolitische Strategie des konservativen Wohlfahrtsstaates? Der vorrangige Bezugspunkt bei der Wohlfahrtsproduktion des konservativen Wohlfahrtsstaates ist der Schutz des männlichen Ernährers. Diese Grundkonzeption der Strategie geht vom Familismus aus (Esping-Andersen 1999: 165; 2002b: 16). Der Familismus beruht auf dem Modell eines männlichen Ernährers und einer weiblichen Pflegerin: „Dieses Bild beinhaltet die traditionelle Sichtweise, dass der Mann die Familie ernährt, während die Frau die Hausarbeit verrichtet.“ (Sesselmeier 2004: 168) Dieses Rollenverhältnis zeigt sich deutlich in den abgeleiteten Ansprüchen in den Sozialversicherungen, bei denen die Frau über den Mann mitversichert ist. In diesem Modell hängen alle Familien396 Die Abschaffung des einheitlichen Krankengeldes für die haushaltsführenden EhepartnerInnen zielte nicht auf die Reduzierung der staatlichen Ausgaben ab. Ziel der Reform war die Erhöhung des Anreizes zur Erwerbsaufnahme der Frauen. Dieses Ziel steht der sozialdemokratischen sozialpolitischen Strategie, die danach strebt, Beschäftigung zu maximieren und Vollbeschäftigung zu erreichen, nicht entgegen. Die Entgeltfortzahlung wurde 1992 von der Rechtsregierung eingeführt.
374
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
mitglieder von dem Lohn und von den Sozialansprüchen des vollzeitbeschäftigten männlichen Ernährers ab (Esping-Andersen 1996b: 18 f.; 1996c: 67, 76; 1999: 18, 44). Für diese männlichen Ernährer werden im Arbeitsmarkt der hohe Familienlohn und die strenge Arbeitsplatzsicherheit benötigt. Der Wohlfahrtsstaat soll während der passiven Phasen des Lebenszyklus des männlichen Haupternährers ihm hohe Sozialleistungen gewähren, um die gesamte Familie zu bewahren (Esping-Andersen 1996c: 75; 1999: 83; Goodin u.a. 1999: 257). Vor diesem Hintergrund besitzt unter den veränderten, neuen sozioökonomischen Umständen auch der Schutz des Arbeitsplatzes, des hohen Lohnes und der Sozialansprüche der vollzeitbeschäftigten männlichen Haupternährer, also der ‚Schutz des männlichen Ernährers‘, heute noch den Vorrang bei der sozialpolitischen Strategie. Denn eine mögliche soziale Gefährdung des männlichen Haupternährers ist nicht nur das Risiko für ihn selbst, sondern es wächst sich auch zum Risiko für die gesamte Familie, die von dem Haupternährer abhängt, aus (Esping-Andersen 1996c: 75; 1999: 23, 153; 2002b: 16; EspingAndersen und Regini 2000: 5 f.). Demzufolge werden die Forderungen der postfordistischen Ära, also die Arbeitsmarktflexibilität, z.B. die Flexibilisierung des Lohnes und des Arbeitsplatzschutzes, und die Flexibilisierung der Sozialleistungen, z.B. Abschaffung der Leistung oder radikale Kürzung, nur zaghaft durchgeführt und im Endeffekt verweigert (vgl. Esping-Andersen 1996c: 79, 80, 84; 1999: 151; Schmid 2002: 119; 2004: 126). Beispielsweise ist anders als im liberalen und im sozialdemokratischen Regime die Arbeitsmarktflexibilität im konservativen Regime kein allgemeiner Grundsatz, auf dem der Betrieb der Arbeitsmärkte beruht, oder kein Leitprinzip, dem die Gesetzgebung und die Strategien zwischen Sozialpartnern zu folgen hätten. Die immerhin eingeführten partiellen Deregulierungsmaßnahmen lassen im Wesentlichen viele Vorrechte der KernarbeiterInnen unberührt (Esping-Andersen und Regini 2000: 6, 336). Im Vergleich mit Großbritannien und Schweden, deren Wohlfahrtsstaaten auf einer weniger familistischen und mehr individualistischen Logik, also auf der Zwei-Ernährer-Familie und den individuellen Sozialansprüchen, beruhen, ist Deutschland im Sumpf des „welfare-state/famliy/work nexus“ (Esping-Andersen 1996c: 79) versunken. Das von den Konservativen herausgebildete Modell des Wohlfahrtregimes an sich ist schwer zu verändern. Die Reaktionsweise der konservativen sozialpolitischen Strategie auf Sozialfragen – ‚Maßnahmen zentriert auf Einkommenserhaltungsprogramme‘ – übt zudem sehr negative Einflüsse auf Änderungsversuche aus. Die konservativen Wohlfahrtsstaaten entwickelten aufgrund des Familismus die subsidiäre, lohnersatzleistungs-zentrierende Sozialpolitik. Der Staat greift also auf dem Subsidiaritätsprinzip mit Einkommenserhaltungsprogrammen nur dann ein, wenn die
7.4 Ursachen der Diversität
375
Selbsthilfefähigkeit der Familie erschöpft ist (Esping-Andersen 1990: 27; 1999: 51, 83; Pierson 1998: 175). Dieser passive Modus des konservativen Wohlfahrtsstaates wurde durch die Vermehrung der sozioökonomischen Fragen in der postfordistischen Ära noch verstärkt: Angesichts der Maßnahmen zum Arbeitsplatzschutz für bereits beschäftigte, erwachsene männliche Ernährer nehmen die ‚Outsider‘ während der letzten drei Jahrzehnte ständig zu. Dies führte zur Ausweitung des Volumens der Einkommenserhaltungsprogramme, also zur Zunahme der Belastungen der Sozialversicherungen (Esping-Andersen 1996c: 73, 77, 82; Lessenich 2005: 22 f.). Infolge dieser hohen Finanzlasten des Staates haben die tief greifenden bzw. strukturändernden Reformpläne, deren Umsetzung unter Umständen zusätzliche Ausgaben aus den öffentlichen Haushalten erfordern könnte, geringe Realisierungschancen. Zum Beispiel werden angesichts der Vermehrung der familiären Krisen, der strukturellen Arbeitslosigkeit und anderer korrespondierender Probleme neue öffentliche Sozialdienste heute immer erforderlicher. Aber aufgrund der sozialen Budgetlasten und der steigenden Staatsverschuldung ist die fiskalische Potenz des Wohlfahrtsstaates zu eingeschränkt, als dass er die Mittel zum Aufbau der notwendigen Sozialdienste aufbringen könnte. Die Entwicklung dieser Dienste wird daher signifikant verzögert (Esping-Andersen 1996c: 79, 83; 2002b: 17; vgl. Pilz 2004: 230). Aufgrund der hohen Finanzlasten sind zudem die sozialpolitischen Leistungen der konservativen Wohlfahrtstaaten, z.B. deren staatliche Rente, schwer zu privatisieren, zumal die Umsetzung dieser Reform meistens von Sozialabgaben- oder Steuervergünstigungen begleitet wird und daher der Staat die beträchtliche Verringerung der staatlichen Einnahmen in Kauf nehmen muss. Diese Reduzierung der Einnahmen führt z.B. im Altersicherungsbereich zur Schwierigkeit bei der Finanzierung der jetzigen Renten (vgl. Esping-Andersen 1996c: 84).397 Im Vergleich zu anderen konservativen Ländern sind in Deutschland die Reformspielräume durch die hohe finanzielle Erblast aus der deutschen Wiedervereinigung noch mehr eingeschränkt (Pilz 2004: 230).398 397 “[T]hose that propose more privatization do so half-heartedly. For one, it is obvious to all that if privatization means company welfare plans, the idea is simply unrealistic given employer’s already burdensome fixed labour costs. A gradual, albeit probably slow, rise in individual private welfare plans is under way. But it is uncertain whether this, in the long run, will result in a major ‘system change’. In part, it is fuelled by uncertainty regarding the viability of public schemes, and if the latter are brought on a surer financial footing, the thrust may be limited to a relative small, high-income clientele. And, in part, a massive surge in individual or group insurance is unlikely unless governments grant favourable tax concessions. It is difficult to see how governments can afford such today.” (Esping-Andersen 1996c: 84) 398 Im Unterschied zu Großbritannien und Schweden hat Deutschland einen radikalen gesellschaftlichen Umbruch, die Wiedervereinigung, erfahren. „Die Deutsche Einheit 1990 stellte den bundesdeutschen Sozialstaat vor noch erheblich größere finanzielle und regulative Herausforderungen. Aber auch hierbei bewies das System der sozialen Sicherung neben seiner Leis-
376
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Zusammenfassend kann gesagt werden: In den deutschen Systemen sozialer Sicherung ist aufgrund der inneren Logik der konservativen sozialpolitischen Strategie – ‚Schutz des männlichen Ernährers‘ und ‚Maßnahmen zentriert auf Einkommenserhaltungsprogramme‘ – schwer, grundlegende Strukturveränderungen einzuführen. In Deutschland werden infolge der Wirkung der sozialpolitischen Strategie die strukturverändernde Transformation bzw. die gründliche Verwirklichung der Workfare-Orientierung zaghaft durchgeführt und sogar verweigert. Mit einem Wort ist Deutschland als „insgesamt relativ reformresistent“ (Schmid 2004: 126) zu bezeichnen. 7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates, die Form der Flexibilisierung und die sozialen Folgen 7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates In diesem Abschnitt wird schließlich untersucht, welche Formen der Transformation des Wohlfahrtsstaates und welche Formen der Flexibilisierung der Sozialpolitik die Unterschiede der Restrukturierung verursachen, die bei den sozialen Sicherungssystemen als ein vertretender Kernbestandteil der Sozialpolitik gefunden wurden. Zudem werden die sozialen Folgen, die aus unterschiedlichen Veränderungen resultieren, analysiert. 7.5.1 Transformation, Form und Folge im liberalen Wohlfahrtsregime Bei der Restrukturierung der britischen sozialen Sicherungssysteme, die als ein Repräsentant der Sozialpolitik des liberalen Wohlfahrtsstaates analysiert wurden, kam es als Haupttrend zur privatheitszentrierten Restrukturierung. Angesichts dieser Restrukturierungsform, in der die Verantwortung des Staates bzw. der öffentlichen Organe reduziert und die Verantwortlichkeit des Marktes oder die Eigenverantwortung des Individuums erweitert wird, kann die Transformation der liberalen Wohlfahrtsstaaten von den drei Transformationsformen des Wohlfahrtsstaates, ‚Umbau‘, ‚Abbau‘, und ‚Erhaltung‘, durch den ‚Abbau‘ charakterisiert werden. Da die Sozialpolitik in die Richtung der ‚Privatisierung öffentlicher tungsfähigkeit zugleich ein bemerkenswertes Maß an Kontinuität“ (Schmid 2002: 107). Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde nicht durch den Zusammenschluss zweier gleichberechtigter Staaten, sondern durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland erreicht. Daraus resultierte, dass im Rahmen der Rechtsangleichung die Rechtsvorschriften der westdeutschen Systeme der sozialen Sicherung und damit auch ihre Grundstrukturen auf das ehemalige DDR-Gebiet ohne Veränderung übertragen wurden (Deppe 2002: 21; Schmidt 1998: 138; Simon 2005: 43). Daher beeinflusste die Deutsche Einheit kaum die strukturelle Transformation der westdeutschen Sozialpolitik.
7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates
377
Aufgaben‘ restrukturiert wird, wird der Wohlfahrtsstaat zum Abbau oder zur Erosion transformiert. Wenn die ‚Restrukturierung‘ ein Durchsetzungsprozess der ‚WorkfareOrientierung‘ ist, kann die ‚Flexibilisierung‘ als ein Demontageprozess der ‚Welfare-Orientierung‘ interpretiert werden. Im Vergleich mit den anderen Wohlfahrtsregimes zeigte die Flexibilisierung des liberalen Wohlfahrtsstaates eine schnelle und marktkonforme Flexibilisierungsform. Diese Arbeit nennt die durch Privatisierung und Deregulierung laufende Flexibilisierung eine ‚beschleunigte‘ Flexibilisierung. Infolge dieser Veränderungsformen des liberalen Wohlfahrtsstaates ist in den liberalen Wohlfahrtsregimes zwar die Arbeitslosigkeit niedrig, aber die Armut hoch: Im Kapitel 3 wurde durch die Untersuchungen der 12 Indikatoren in Bezug auf Arbeitslosigkeit und Armut analysiert, dass die liberalen Wohlfahrtsregimes tendenziell eine niedrige Arbeitslosenquote und eine hohe Armutsgefährdungsquote zeigen. In den liberalen Wohlfahrtsregimes wurden im Zuge der Arbeitsmarktflexibilität durch die Lohndämpfung die Niedriglohnbereiche deutlich erweitert. Durch diese Flut an Arbeitsplätzen konnten Jugendliche, Frauen und Unqualifizierte in den Arbeitsmarkt integriert werden. Da aber den Beschäftigten meistens nur äußert geringe Löhne gezahlt werden, tritt heute in den liberalen Wohlfahrtsregimes die ernste soziale Frage der ‚Working Poor‘ auf, deren Zahl massiv zunimmt. Außerdem wurde die Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates wegen des Abbaus des Wohlfahrtsstaates so geschwächt, dass er nicht gegen die wachsende Armut effektiv wirkt. Wie aus der Anhang-Abbildung 4 ersichtlich ist, wurde die heutige Arbeitslosenquote in Großbritannien im Vergleich mit den 80er Jahren um ca. die Hälfte reduziert. Wie die Anhang-Tabelle 21 zeigt, ist aber die Armutsgefährdungsquote399 sowohl in Großbritannien als auch in Irland heute viel höher als in den 80er Jahren. Besonders deutlich ist die Vermehrung der Armut in Großbritannien. Mitte der 80er Jahre lag die Armutsquote in Großbritannien auf dem Niveau der sozialdemokratischen Länder. Indessen ist die heutige Armutsgefährdungsquote bis zum Niveau der südeuropäischen ‚rudimentären‘ Wohlfahrtsstaaten angestiegen. Diese drastische Steigerung der Armut ist vor allem auf die Erhöhung der Lohnunterschiede und die Reduzierung der Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates zurückzuführen. Beim liberalen Wohlfahrtsregime vergrößert sich in der postfordistischen Ära die Spaltung zwischen den Reichen und den trotz Arbeit Armen noch deutlicher.
399 Die Armutsgefährdungsquote bedeutet den Anteil von Personen unter der Armutsgefährdungsschwelle, die auf 50 % des nationalen Median-Einkommens festgelegt ist.
378
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
7.5.2 Transformation, Form und Folge im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime Bei der Restrukturierung der schwedischen sozialen Sicherungssysteme, die als ein Repräsentant der Sozialpolitik des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus analysiert wurden, kam es als Haupttrend zur öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung. Angesichts dieser Restrukturierungsform, in der die Öffentlichkeit bei der Wohlfahrtsproduktion erhalten bleibt, kann die Transformation des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates von den drei Transformationsformen des Wohlfahrtsstaates, ‚Umbau‘, ‚Abbau‘, und ‚Erhaltung‘, durch den ‚Umbau‘ charakterisiert werden. Demzufolge zeigt die Flexibilisierung der Sozialpolitik eine vom Staat regulierte Flexibilisierungsform. Diese Arbeit nennt die durch Reorganisierung und Reregulierung laufende Flexibilisierung eine ‚kontrollierte‘ Flexibilisierung. Im Kapitel 3 wurde analysiert, dass in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes heute die Arbeitslosigkeitsquote und die Armutsgefährdungsquote tendenziell niedrig sind. Die Arbeitsmarktflexibilität wurde in den skandinavischen Ländern durch die Aktivierungsprogramme, z.B. berufliche Umschulung und öffentliche Arbeitsplatzbeschaffung, betrieben (Esping-Andersen 1999: 122 f., 142; 1996b: 18). In der Folge behalten die sozialdemokratischen Länder heute noch die komprimierteste Lohnstruktur aller entwickelten kapitalistischen Länder bei (siehe Anhang-Tabelle 2). Parallel dazu zeigen die Länder mit Bezug auf die Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates, dass die universellen Einkommenserhaltungsprogramme noch heute bei den Indikatoren der Dekommodifizierung die höchsten Punkte auf der Welt bekommen (Esping-Andersen 1999: 79). Wie aus der Anhang-Abbildung 3 zu ersehen ist, ist die Arbeitslosenquote in Schweden Anfang der 90er Jahre auf 10 % gestiegen. Aber heute beträgt sie nur ca. 5 %. Wie die Anhang-Tabelle 21 zeigt, ist nicht nur in Schweden, sondern auch in Dänemark und in Norwegen die Armutsquote niedriger als in den 80er Jahren. Diese Verringerung der Armut ist vor allem auf die solidarische Lohnpolitik und die Erhaltung der staatlichen Umverteilungsfunktion zurückzuführen. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes vermehrt sich die soziale Inklusion in der postfordistischen Ära weiter.400
400 Angesichts dieser Entwicklungsform wird bewertet, dass die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten in der Übergangsphase vom Fordismus zum Postfordismus ihre wesentlichen eigenen Merkmale nicht verloren haben und mit der Wirtschafts- und Sozialstruktur positiv funktionieren (Werner 2002; Palme 2002; Kvist 2002; Kuhnle 2002).
7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates 7.5.3
379
Transformation, Form und Folge im konservativen Wohlfahrtsregime
Bei der Restrukturierung der deutschen sozialen Sicherungssysteme, die als ein Repräsentant der Sozialpolitik des konservativen Wohlfahrtsstaatstypus analysiert wurden, kam es als Haupttrend zum Erhalt des Status quo. Da die Grundstrukturen weitgehend unverändert geblieben sind, kann die Transformation des konservativen Wohlfahrtsstaates von den drei Transformationsformen des Wohlfahrtsstaates, ‚Umbau‘, ‚Abbau‘, und ‚Erhaltung‘, durch die ‚Erhaltung‘ bzw. durch die ‚Kontinuität‘ charakterisiert werden. Demzufolge zeigt die Flexibilisierung der Sozialpolitik eine relativ langsame Flexibilisierungsform, also eine verzögerte Demotage der Welfare-Orientierung, auf. Diese Arbeit nennt diesen Weg der Flexibilisierung eine ‚retardierte‘ Flexibilisierung. Insgesamt gesehen bleibt der konservative Wohlfahrtsstaat bei der Durchsetzung der Workfare-Orientierung relativ zaghaft. Im Kapitel 3 wird untersucht, dass die Arbeitslosigkeit in den konservativen Wohlfahrtsregimes heute tendenziell sehr hoch ist. Wie aus der AnhangAbbildung 2 ersichtlich ist, nimmt die Arbeitslosenquote in Deutschland im Vergleich zu früher ständig zu. Im konservativen Regime hat wegen des Schutzes des männlichen Ernährers in einer Familie die Arbeitsmarktflexibilität den Status des allgemeinen Grundsatzes, auf dem der Betrieb der Arbeitsmärkte beruht, nicht bekommen (Esping-Andersen und Regini 2000: 6, 336). Angesichts der Maßnahmen zum Schutz der ‚Insider‘ nehmen die ‚Outsider‘ ständig zu. Im Zuge dieser Konstellation des Arbeitsmarktes tritt in den konservativen Ländern die ‚Arbeitsmarktexklusion‘ als eine ernste soziale Frage auf. Im Kapitel 3 wird auch analysiert, dass die Niveaus der Armut der südeuropäischen Länder wie die der liberalen Wohlfahrtsstaaten sehr hoch sind, während in den nordkontinentaleuropäischen Ländern die Armutsquoten infolge der Entwicklung großzügiger Einkommenserhaltungsprogramme sowohl für Erwerbstätige als auch für die Outsider tendenziell niedrig sind. Wie die Anhang-Tabelle 21 zeigt, sind allerdings in allen nordkontinentalen konservativen Ländern mit Ausnahme von Frankreich die Armutsquoten im Vergleich mit den 80er Jahren heute sehr gestiegen. Diese Tendenz der Erhöhung der Armut ist von der Verringerung der Armut in den sozialdemokratischen Ländern deutlich zu unterscheiden.401 401 Von den Daten der nordkontinentaleuropäischen Länder fehlen in OECD 2006d die Zahl der Schweiz für die Mitte der 1980er Jahre und die Zahl von Belgien im Jahr 2000. Wie die Anhang-Tabelle 21 zeigt, sind im Vergleich mit den 80er Jahren die Armutsquoten der südeuropäischen konservativen Wohlfahrtsstaaten auch angestiegen. Von den Daten der südeuropäischen Länder fehlen in OECD 2006d die Zahl Portugals für die Mitte der 80er Jahre und die Zahl für Spanien im Jahr 2000.
380
7 Die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse
Die meisten nordkontinentalen konservativen Wohlfahrtsstaaten behalten heute noch die komprimierte Lohnstruktur bei (siehe Anhang Tabelle 2). Demnach kann die Erhöhungstendenz der Armut als Folge der Zunahme der Arbeitslosen und der Schwächung der Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates interpretiert werden. Die Schwächung der Umverteilungsfunktion ist besonders auf die ständige Reduzierung der Leistungsniveaus zurückzuführen. Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat – wie z.B. in der Untersuchung der Rentenversicherung gezeigt – keine grundlegenden Maßnahmen zur finanziellen Stabilität ergriffen und stattdessen zur Kostendämpfung durch innerstrukturelle leichte Modifizierungen ständig die Leistungssätze reduziert. Diese unaufhörliche Verringerung des Leistungsniveaus schwächt naturgemäß die Umverteilungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates und diese Schrumpfung der Umverteilungsfunktion führt vor allem zur Erhöhung der Armut der Outsider, die aus der komprimierten Lohnstruktur im Arbeitsmarkt exkludiert sind. In den konservativen Ländern nehmen die Arbeitslosigkeit und die Armut heute gleichzeitig zu. In der postfordistischen Ära lassen sich in den konservativen Wohlfahrtsregimes eine tiefgreifende Spaltung zwischen ‚Insidern‘ und ‚Outsidern‘ und die Verarmung der ‚Outsider-Klasse‘ beobachten. Der konservative Wohlfahrtsstaat hat heute noch das Problem eines Modernisierungsdefizits. Die soziale Funktion des kapitalistischen Staates passt sich nicht an die veränderten, neuen sozioökonomischen Konstellationen an.402
402 Angesichts dieses übergreifenden Problems des konservativen Wohlfahrtsstaates versuchen die konservativen politischen Kräfte derzeit, ihre vorhandenen Strategien zu modifizieren. Diese Bestrebungen für die Novellierung stoßen allerdings nicht nur gegen eine Resistenz der Struktur des Wohlfahrtsstaates an sich, sondern auch gegen Widerstand innerhalb der Kräfte. Zum Beispiel plante die heutige deutsche Regierungspartei, die CDU, einen massiven Ausbau der Krippen- und Tagesmütterplätze, um die Beschäftigung der Frauen zu fördern. Aber ihr konservativerer Partner in der Union, die CSU, forderte hingegen ganz im Sinne des Familismus ein Betreuungsgeld für die Kindererziehung zu Hause. Es müsse eine „gleichrangige Verankerung“ des Betreuungsgelds mit der Erweiterung der Krippen geben (siehe Frankfurter Rundschau 2007c). Diese Richtung der CSU innerhalb der konservativen Kräfte wird wiederum zur Verfestigung des Familismus und zur Verstärkung der Maßnahmen zentriert auf Einkommenserhaltungsprogramme führen.
7.5 Die Transformation des Wohlfahrtsstaates
381
Tabelle 23: Restrukturierung, Flexibilisierung, Transformation des Wohlfahrtsstaates und soziale Folge Liberaler Wohlfahrtsstaat
Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat Öffentlichkeitszentrierte Restrukturierung
Konservativer Wohlfahrtsstaat
Restrukturierungsform
Privatheitszentrierte Restrukturierung
Transformationsmerkmal des Wohlfahrtsstaates
Abbau
Umbau
Erhaltung
Form der Flexibilisierung
Beschleunigte Flexibilisierung
Kontrollierte Flexibilisierung
Retardierte Flexibilisierung
Soziale Folge
Arbeitslosigkeit Ļ Verarmung Ĺ
Arbeitslosigkeit Ļ Verarmung Ļ
Arbeitslosigkeit Ĺ Verarmung Ĺ
Ĺ: Steigend, Ļ: Sinkend Quelle: Eigene Darstellung
Status quo
8 Schlussbetrachtung
Angesichts der Transformation der Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaftsformation wandelt sich die strategische Orientierung der sozialen Funktion des Staates vom ‚Welfare‘ zum ‚Workfare‘. Diese Workfare-Orientierung fordert Flexibilisierung und Restrukturierung der bisher ausgeübten Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaates. Die europäischen Länder verändern deshalb nun ihre eigene Sozialpolitik. Allerdings zeigen sie keine gleiche Reaktionsform auf die Forderung nach der Strukturveränderung. Die unterschiedlichen Formen der Flexibilisierung und der Restrukturierung sind unter anderem auf die Unterschiede der sozialpolitischen Strategien der Länder zurückzuführen. Diese Differenz der sozialpolitischen Strategien resultiert aus unterschiedlichen machtpolitischen Kräfteverhältnissen der Länder. In den liberalen Wohlfahrtsregimes sind die dominierenden machtpolitischen Kräfte seit den Weltwirtschaftskrisen der 70er und der 80er Jahre die liberalen Kräfte. Ihre sozialpolitische Strategie richtet sich nach der Expansion der Marktkräfte und der Vermehrung der Eigenverantwortung der Individuen. Infolge dieser Grundkonzeptionen der sozialpolitischen Strategie kam es bei der Restrukturierung der Sozialpolitik des liberalen Wohlfahrtsstaates zur privatheitszentrierten Restrukturierung. Daher zeigt die Transformationsform des Wohlfahrtsstaates die Abbautendenz, und die Flexibilisierung der Sozialpolitik stellt die beschleunigte marktkonforme Flexibilisierungsform dar. Im Zuge dieser Entwicklung des Wohlfahrtsstaates wächst trotz der niedrigen Arbeitslosigkeit heute die Armut immer schneller. In den liberalen Wohlfahrtsregimes vergrößert sich in der postfordistischen Ära also die Spaltung zwischen Reichen und Armen. In den konservativen Wohlfahrtsregimes sind die dominierenden machtpolitischen Kräfte seit den Weltwirtschaftskrisen der 70er und der 80er Jahre die konservativen Kräfte. Ihre sozialpolitische Strategie orientiert sich an dem Schutz des männlichen Ernährers in einer Familie und den Maßnahmen zentriert auf Einkommenserhaltungsprogramme. Infolge dieser inneren Logik der sozialpolitischen Strategie wurde die Sozialpolitik des konservativen Wohlfahrtsstaates nicht grundlegend transformiert. Daher zeigt die Transformationsform des Wohlfahrtsstaates die Tendenz der Erhaltung, und die Flexibilisierung der
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8 Schlussbetrachtung
Sozialpolitik stellt die retardierte Flexibilisierungsform dar. Die konservativen Länder bleiben bei der Durchsetzung der Workfare-Orientierung relativ zaghaft und die sozialen Folgen dieser Entwicklung des Wohlfahrtsstaates sind hohe Arbeitslosigkeit und die Vermehrung der Armut. In der postfordistischen Ära lassen sich in den konservativen Wohlfahrtsregimes eine tiefgreifende Spaltung zwischen ‚Insidern‘ und ‚Outsidern‘ und die Verarmung der ‚Outsider-Klasse‘ beobachten. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes waren während der letzten 30 Jahre die sozialdemokratischen Kräfte die dominierenden machtpolitischen Kräfte. Ihre sozialpolitische Strategie richtet sich nach der Erhaltung der Staatszentrierung und der aktiven Inklusion. Infolge dieser Grundkonzeptionen der sozialpolitischen Strategie kam es bei der Restrukturierung der Sozialpolitik des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates zur öffentlichkeitszentrierten Restrukturierung. Daher stellt die Transformationsform des Wohlfahrtsstaates die Umbautendenz dar und die Flexibilisierung der Sozialpolitik zeigt die vom Staat kontrollierte Flexibilisierungsform. Im Zuge dieser Entwicklung des Wohlfahrtsstaates verringern sich sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Armut. In den sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes verstärkt sich auch in der postfordistischen Ära weiterhin die soziale Inklusion. Durch diese Ergebnisse der Untersuchung dieser Arbeit ist zu erkennen, dass bei der Anpassung der sozialen Funktion des Staates an die veränderten, neuen sozioökonomischen Konstellationen das unbedingte ‚Folgen‘ wie im liberalen Regime und das ‚Verweigern‘ wie im konservativen Regime keine passenden Reaktionen sind. Nur wenn die Anpassung an die neuen Konstellationen von aktiver Kontrolle und Regulierung des Staates begleitet sind, können positive soziale Folgen erwartet werden. Von den oben dargestellten drei Reaktionsweisen ist der sozialdemokratische Modus, durch den sich Arbeitslosigkeit und Armut zusammen reduzierten, wohl eine passende Antwort. Dies bedeutet, dass sowohl die Transformationen der Sozialpolitik der einzelnen europäischen Länder als auch mögliche verbindliche europäische Harmonisierungsvorgaben für Sozialpolitik seitens der EU dem Weg der skandinavischen Länder folgen sollten. Diese ‚sozialdemokratische‘ Transformation kann allerdings nicht nur durch Entscheidung und Planung der Politiker oder der Administratoren erreicht werden. Die Transformationsform der Sozialpolitik wird von den Grundkonzeptionen bzw. der inneren Logiken der sozialpolitischen Strategien determiniert. Die sozialpolitischen Strategien werden vom vorherrschenden Gleichgewicht der politischen und sozialen Kräfte geprägt. Also bestimmen letztlich die machtpolitischen Kräfteverhältnisse die Transformationsform der Sozialpolitik. Dabei spielen das Pattern des kollektiven Handelns der Arbeiterklasse als gesellschaftlicher Akteur und die Natur der politischen Mobilisierungsfähigkeit der Arbei-
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terbewegung eine ausschlaggebende Rolle. Diese Schlussfolgerung ist die Implikation, die von dieser Arbeit bezüglich der Situation der europäischen Länder gegeben wird. Die zweite Implikation dieser Arbeit bezieht sich auf das marxistische Lager. Wie erwähnt zeigt von den drei Reaktionsweisen der sozialdemokratische Modus die positivsten Ergebnisse in der kapitalistischen Gesellschaft. Aber der Autor dieser Arbeit verbleibt nicht bei einer Verehrung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates. Es gibt keinen Wohlfahrtsstaat in der kapitalistischen Gesellschaft, der eine wirkliche Lösung der gesellschaftlichen Konflikte beinhaltet. In der kapitalistischen Gesellschaftsformation verändert sich die Beziehung zwischen Ökonomie und Staat anhand der Logik der Selbstverwertung des Kapitals und das Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie nimmt wechselnde Formen an (vgl. Polanyi 1944). Mal übte der kapitalistische Staat starken Einfluss auf die Ökonomie aus und zu einer anderen Zeit schwächte der Staat seine ökonomischen Interventionen aufs äußerste ab. Allerdings existieren in der kapitalistischen Gesellschaft immer die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, also die Aneignung des Mehrprodukts von der herrschenden Klasse, und die Entfremdung der Arbeit als ein entscheidendes Hindernis für die Verwirklichung der Menschheit. Für die grundlegende Abschaffung der Ausbeutung und der Entfremdung muss das kapitalistische System, also das private Eigentum an den Produktionsmitteln, abgeschafft werden. Heute befindet sich nach Meinung des Autors dieser Arbeit das marxistische Lager in einem ‚langwierigeren‘ Stellungskrieg im Sinne von Gramsci. Seit 1991, also seit der Explosion des sowjetischen Blocks und der Katastrophe des Realsozialismus, erlebte das marxistische Lager weitere schwere Niederlagen. Der Marxismus und sein Begriff Sozialismus gerieten nicht nur in die defensive Position, sondern auch in eine existenzielle Krise (Deppe 1997: 186). Im Zentrum dieser Krise steht die Abwesenheit einer konkreten ökonomischen Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise. Die Alternative sollte von dem gescheiterten, vom Staatsplan geleiteten Wirtschaftsprogramm deutlich unterschieden werden. In der Folge sind jetzt unter anderem Kritik und Reflexion der Vergangenheit und Bestrebungen zur Konzipierung einer neuen Gesellschaftsordnung sehr erforderlich.403 Parallel dazu gibt es nach Meinung des Autors dieser Arbeit auch eine andere bedeutende Aufgabe für heutige Marxisten, in der Konstellation des ‚langwierigeren‘ Stellungskriegs dieser Zeit durch die Bewahrung der Sozialsysteme der kapitalistischen Gesellschaft sozial Schwache zu schützen. Dies 403 Ansätze finden sich z.B. bei: Hobsbawm u.a. 1998, Deppe 1997; 2003b; 2006; 2007; Fülberth 1998a; 1998b; 2005; Hirsch 1990; 2002; W. Haug und F. Haug 2002; Bischoff und Draheim 2003; Altvater 2005; Dieterich 2006; Steinitz 2007; Moulian 2003.
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bedeutet eine aktive Intervention des marxistischen Lagers in die kapitalistische Gesellschaft. Da die sozialdemokratischen Parteien oder die Arbeiterparteien heutzutage immer mehr nach rechts driften, muss das marxistische Lager die durch das Kapital betriebene Plünderung der „Elemente Menschenrechte – nicht nur auf dem Gebiet der materiellen Subsistenzsicherung, sondern auch der bürgerlichen Freiheitsrechte sowie der sozialen Grundrechte“ (Deppe 2005: 15) – verhindern.‘ In der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus ist es also nötig, nicht über eine ‚marxistische‘ Sozialpolitik in der ‚sozialistischen‘ Gesellschaft, sondern über eine ‚marxistische‘ ,Sozialpolitik‘ in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft nachzudenken.404 Diese ‚marxistische‘ Sozialpolitik in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft ist freilich nur im Modus der kapitalistischen Produktion gültig, also nur bis zum Aufkommen einer neuen Gesellschaftsordnung. Hinsichtlich der ‚marxistischen‘ Sozialpolitik in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft hat das marxistische Lager nun folgende drei Aufgaben: Bei der ersten Aufgabe geht es um die Inhalte der Sozialpolitik und die Mittel und Wege der Verwirklichung dieser Sozialpolitik. Die marxistische Sozialpolitik strebt nach mehr Umverteilung des Mehrprodukts, nach mehr Garantie der Beschäftigung und nach der Erweiterung der Emanzipation der Geschlechter. Zum Erfolg der Sozialdemokratie als eine politische Ideologie trug der Keynesianismus als ein Wirtschaftsprogramm ausschlaggebend bei (vgl. Pierson 1998: 25 f.). Der Keynesianismus bot eine theoretische Basis, auf der eine Expansion der staatlichen Ausgaben für Umverteilungspolitik auch für Kapitalakkumulation positiv funktionieren kann. Allerdings verliert der Keynesianismus heute mehr und mehr seine Auswirkungskräfte. Angesichts dieser Schwächung des Keynesianismus stehen der Sozialdemokratie beträchtliche Schwierigkeiten ins Haus. Im Postfordismus, der nach Jessop auf dem Schumpeterianismus beruht, liegt die staatliche Sozialpolitik unter dem Druck der Dämpfung. Vor diesem Hintergrund ist die erste und wichtigste Aufgabe der ‚marxistischen‘ Sozialpolitik, die Inhalte der Sozialpolitik, die die „Elemente Menschenrechte“ gewährleisten, zu konzipieren und konkrete Mittel und Wege, durch welche diese Sozialpolitik in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus erweitert werden kann, herauszufinden. Die zweite Aufgabe bezieht sich auf die praktische Methode auf der politischen Ebene. Dabei sollte das Bündnis mit der Bourgeoisie, das die Sozial404 In der Vergangenheit gab es – obgleich sehr selten – diese Versuche. Auf der Mikroebene der Sozialpolitik befand sich die ‚Radikale‘ oder ‚Marxistische‘ Sozialarbeit (social work). Dazu sind z.B. Corrignan und Leonard (1978), Statham (1978) und Phillipson (1982) zu nennen. Diese Autoren versuchten, bei den Behandlungen individueller Fragen, die aus den strukturellen Fragen der kapitalistischen Gesellschaft resultierten, im Zusammenhang mit einer Aussicht auf die sozialistische Gesellschaft in der Tat individuelle, problembezogene Lösungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu finden.
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demokraten gewählt haben, ausgeschlossen werden. Die ‚marxistische‘ Sozialpolitik sollte keinesfalls der Kapitalakkumulation der herrschenden Klasse dienen. Eine alternative Methode kann sein, dass durch die Schaffung ‚hochqualifizierter‘ sozialpolitischer Pläne eine Agenda für außenparlamentarische und parlamentarische Bewegungen des marxistischen Lagers geschaffen wird und dass dadurch die ‚marxistische‘ Sozialpolitik eine Vorherrschaft im sozialpolitischen Diskurs der entsprechenden Gesellschaft erringt. Diese Position der ‚marxistischen‘ Sozialpolitik kann so zu einer Leitungsfunktion der ‚marxistischen‘ Sozialpolitik in der Debatte über soziale Fragen und Sozialpolitik des entsprechenden Landes führen. Folglich kann dann die ‚marxistische‘ Sozialpolitik zum Fortschritt der Sozialpolitik des entsprechenden ‚kapitalistischen‘ Landes beitragen oder zumindest als ein Moment fungieren, einen Rückschritt des Niveaus der Sozialpolitik des entsprechenden Landes zu verhindern Bei der letzten Aufgabe tritt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Überlegung für die ‚marxistische‘ Sozialpolitik in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft und der Bestrebung, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen, auf. Auch wenn die ‚marxistische‘ Sozialpolitik ein Plan in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft ist, sollte man im Prozess der Konzipierung der Sozialpolitik für die heutige Arbeiterklasse, deren Arbeitskraft eine Ware ist, eine zukünftige Sozialpolitik für die Arbeiterschaft in der Gesellschaft, in der die Produktionsmittel sozialisiert sind, konkreter nachdenken. Diese Bestrebung wird zum Plan der nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung unmittelbar beitragen. Die letzte Implikation dieser Arbeit ist auf die Schwellenländer wie Südkorea, die Heimat des Autors dieser Arbeit, gerichtet. Während in den fortgeschrittenen Ländern Sozialsysteme und Wirtschaftssysteme gleichgewichtig ausgebaut sind, haben sich in den Schwellenländern die beiden Systeme infolge der raschen Wirtschaftsentwicklung ungleichgewichtig ohne Harmonie entwickelt.405 Zum Beispiel zeigt Südkorea 2003 ein Wirtschaftsvolumen mit einem BIP von 20.000 Dollar pro Kopf und die industrielle Struktur des Landes wandelt sich heute bereits zur postindustriellen Struktur. Im Vergleich mit dieser Wirtschaftssituation sind die Sozialsysteme sehr unterentwickelt (vgl. Baek 2003; Köllner und Frank 1999). Beispielsweise betrug der Anteil der Sozialausgaben am BIP im selben Jahr 5 %. Das Niveau der Sozialausgaben ist selbst im Vergleich mit Spanien (BIP von 25.000 Dollar pro Kopf, Anteil der Sozialausgaben am BIP 20 %), einem rudimentären Wohlfahrtsstaat in Europa, sehr niedrig (für die Zahlen siehe OECD 2008a). Südkorea befindet sich in einer Lage, bei der ein Sozialstaat erst jetzt also verspätet in der postindustriellen Gesellschaft aufgebaut wird. Der Heimat des 405 Man denke hier zum Beispiel an die Verhältnisse in Südkorea und in Mexiko. Für Korea siehe Koo 1998: 108-244; Heide 2000. Für Mexiko siehe Boris 1996; Boris und Sterr 2002.
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Autors dieser Arbeit stehen dabei die Schwierigkeiten entgegen, einen Aufbau, der sich nach der Welfare-Orientierung richtet, und eine Veränderung, die auf der Workfare-Orientierung beruht, gleichzeitig durchführen zu müssen. Die ausführlichen Untersuchungen der Systeme der 70er Jahre und heute in dieser Arbeit können so auf die Frage des dialektischen Verhältnisses beim Ausbau des koreanischen Wohlfahrtsstaates bezogen werden. Die Antwort auf die Frage gehört freilich nicht in diese Arbeit. Sie wird in Zukunft durch weitere Untersuchungen und persönlichen Einsatz nicht nur des Autors dieser Arbeit gefunden werden können. Allerdings kann nun deutlich gesagt werden, dass man bei der Suche nach Ansätzen am ehesten im Modell des sozialdemokratischen Typus eine Basis der Antwort finden sollte. Dieses Sozialmodell wird in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus das effizienteste System sein, die Plünderung der Arbeiterklasse durch das Kapital und die Ausbeutung der sozial Schwachen in Korea zu begrenzen. Diese Bestrebung zum Aufbau des koreanischen Wohlfahrtsstaates sollte daher von den Bestrebungen der koreanischen Marxisten, eine ‚marxistische‘ Sozialpolitik in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft zu entwickeln, positiv begleitet werden. Einen besonderen Denkstoß bezüglich ‚marxistischer‘ Sozialpolitik in der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft gab dem Autor dieser Arbeit ein Zitat von Karl Marx. Andrew Ure, ein bürgerlicher Ökonom des 19. Jahrhunderts, hatte sich zu der spitzen Bemerkung verstiegen, dass die Arbeiterklasse, die für die Befreiung der Arbeit gegen das Kapital kämpfte, nach der „Sklaverei der Fabrikakte“, die nur ihre Arbeitszeit bestimmte, gestrebt habe, und er hatte diese noch mit dem Spott gewürzt, dass dies eine „unauslöschliche Schmach der englischen Arbeiterklasse“ gewesen sei (Marx 1977: 317). Marx hatte darauf wie folgt geantwortet: „Wir erklären die Beschränkung des Arbeitstags für eine vorläufige Bedingung, ohne welche alle anderen Bestrebungen nach Emanzipation scheitern müssen … Wir schlagen 8 Arbeitsstunden als legale Schranke des Arbeitstags vor.“ (Marx 1977: 319; Hervorhebung von I.R. Baek).
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Wilensky, Harold L. (1975): The Welfare State and Equality – Structural and ideological roots of public expenditures, Berkeley: University of California Press Willke, Helmut (1983): Entzauberung des Staates – Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Athenäum Willke, Helmut (1992): Ironie des Staates – Grundlinie einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp Wilson, Dorothy (1974): Sweden, in: Wilson, Thomas (Hg.): Pensions, Inflation and Growth – A Comparative Study of the Elderly in the Welfare State, London: Heinemann Educational Books, S. 155-200 Wilson, Dorothy (1979): The Welfare State in Sweden, London: Heinemann Woodsworth, David E. (1977): Social Security and National Policy – Sweden, Yugoslavia, Japan, London: McGill-Queen’s University Press Zacher, Hans F. (2001): Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1, Baden-Baden: Nomos, S. 333-684 Ziebura, Gilbert (1992): Nationalstaat, Nationalismus, supranationale Integration. Der Fall Frankreich, in: Leviathan 20, S. 467-489
Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen
Abkürzungen AMS: ATP: APP: CDU: COMPS: COSRS: CSU: DWP: EG: EPL: EU: EWS: EZB: FDP: GP: GRV: JSA I: JSA II: KAS: KWNS: KWS: LET: NHS: PCT: QEF:
Arbetsmarknadsstyrelsen (Arbeitsmarktbehörde) Allmän Tilläggspension (öffentliche Zusatzrente) Appropriate Personal Pension Christlich Demokratische Union Deutschlands Contracted-out money purchase scheme Contracted-Out salary-related scheme Christlich Soziale Union Department for Work and Pensions Europäische Gemeinschaften Employment Protection Legislation Europäische Union Europäisches Währungssystem Europäische Zentralbank Freie Demokratische Partei General Practioner Gesetzliche Rentenversicherung Contribution-based Jobseeker’s Allowance Income-based Jobseeker’s Allowance Kontant Arbetsmarknadsstöd (barausgezahlte Arbeitsmarktunterstützung) Keynesian Welfare National State Keynesian Welfare State Low Earnings Threshold National Health Service Primary Care Trust Qualifying Earnings Factor
420 SAP: SERPS: SGB: SPD: SSPA: SWPR: SWR: SWS: TUC: UET: WWU:
Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen Sveriges Socialdemokratiska Arbetareparti (Schwedische Sozialdemokratische Arbeitspartei) State Earnings-Related Pension Scheme Sozialgesetzbuch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Social Security Pension Act Schumpeterian Workfare Postnational Regime Schumpeterian Workfare Regime Schumpeterian Workfare State Trades Union Congress Upper Earnings Threshold Wirtschafts- und Währungsunion
Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17:
Zusammenfassung der Charakteristiken der Wohlfahrtsregimes..............58 Grundmerkmale der Sozialpolitik der drei Wohlfahrtsregimes nach Esping-Andersen ..............................................................................68 Wage-Setting: Haupttrends seit dem Anfang der 1980er Jahre ................87 Dominierende sozialpolitische Strategien in der postfordistischen Ära.. 116 Beispiele der vier Charaktere des Wohlfahrtsstaates .............................. 137 Beitragsklasse und zustehende Leistungen in den 70er Jahren in Großbritannien ....................................................................................... 142 Index der Aufwertungsprozentsätze bei der Berechnung des SERPS, 1998 (Steuerjahr 98/99) ......................................................................... 149 Beitragssätze bei ‚Not-Contracting-out( ދSteuerjahr 02/03) ................... 159 Beitragssätze bei ‚Contracting-out( ދSteuerjahr 02/03) ......................... 160 Beitragsklasse und zustehende Leistungen in der Gegenwart in Großbritannien ...................................................................................... 161 Steigerungsfaktoren je nach Renteneintrittsjahr im novellierten SERPS ........................................................................... 168 Beträge der drei Bänder im Berechnungsverfahren der Zweiten Staatsrente .......................................................................... 169 Steigerungssätze der Zweiten Staatsrente ............................................... 170 Die Zahl der Pflichtversicherten der öffentlichen Rentensysteme in der 70er Jahren (in 1000).................................................................... 283 Beispiel für die Gewährung des Hauptbetrages des Arbeitslosengeldes (in DM/Woche) ................................................ 296 Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld der 70er Jahre........................... 297 Beispiel für die Gewährung eines Hauptbetrages der Arbeitslosenhilfe (in DM/Woche) .................................................... 298
Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23:
421
Die Bezugsdauer vom heutigen Arbeitslosengeld .................................. 314 Anteil der Krankenhäuser und Betten nach Trägerschaft in Deutschland ........................................................................................ 325 Die Restrukturierungsformen der sozialen Sicherungssysteme der drei Länder ....................................................................................... 344 Gemeinsamkeiten der Veränderung in den sozialen Sicherungssystemen der drei Länder ...................................................... 360 Demografische Entwicklung in europäischen Ländern (in %) ................ 364 Restrukturierung, Flexibilisierung, Transformation des Wohlfahrtsstaates und soziale Folge ....................... 381
Anhang-Tabellen Anhang-Tabelle 1: Anhang-Tabelle 2: Anhang-Tabelle 3: Anhang-Tabelle 4: Anhang-Tabelle 5: Anhang-Tabelle 6: Anhang-Tabelle 7: Anhang-Tabelle 8: Anhang-Tabelle 9: Anhang-Tabelle 10: Anhang-Tabelle 11: Anhang-Tabelle 12: Anhang-Tabelle 13: Anhang-Tabelle 14: Anhang-Tabelle 15: Anhang-Tabelle 16: Anhang-Tabelle 17: Anhang-Tabelle 18: Anhang-Tabelle 19: Anhang-Tabelle 20: Anhang-Tabelle 21: Anhang-Tabelle 22: Anhang-Tabelle 23:
Strenge der Regeln für den Beschäftigungsschutz ..................... 423 Lohnunterschied Vollzeitbeschäftigter....................................... 423 Mindestlöhne (als % des Durchschnittswertes der Bruttolöhne)....................... 424 Gesamte ‚Tax Wedge( ދals % der Arbeitskosten) ..................... 424 Beschäftigungsquote, 2004 (in %) ............................................. 425 Arbeitslosenquote, 2004 (in %).................................................. 425 Langzeitarbeitslosenquote (12 Monate und mehr), 2004 (in %) ................................................................................ 426 Langzeitarbeitslosenquote (24 Monate und mehr), 2004, (in %) ............................................................................... 426 Beschäftigungsquote der Frauen, 2004 (in %) ........................... 427 Arbeitslosenquote der Frauen, 2004 (in %)................................ 427 Beschäftigungsquote der unter 24-jährigen Jugendlichen, 2003 (in %) ................................................................................ 428 Arbeitslosenquote der unter 24-jährigen Jugendlichen, 2004 (in %) ................................................................................ 428 Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger (55-64 Jahre), 2004 (in %) ................................................................................ 429 Erwerbsaustrittsalter, 2004......................................................... 429 Armutsgefährdungsquote nach Sozialtransfers, 2003 (in %) ..... 430 Ungleichheit der Einkommensverteilung, 2003 ......................... 430 Sozialausgaben, 2003 (als % des BIP) ...................................... 431 Sozialausgaben für Alte, 2001 (als % des BIP) ......................... 431 Nettoersatzrate der Rente (in %) ................................................ 432 Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes (in %) ........................... 432 Entwicklung der Armutsgefährdungsquote (in %) ..................... 433 Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in %) ............................................................................ 434 Anteil der öffentlichen Sozialausgaben für Gesundheitsversorgung am BIP (in %) ...................................... 434
422
Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen
Schaubilder Schaubild 1: Schaubild 2: Schaubild 3: Schaubild 4: Schaubild 5: Schaubild 6: Schaubild 7: Schaubild 8:
Rentenformel vom SERPS ......................................................... 150 Rentenformel des novellierten SERPS ....................................... 169 Die Rentenformel der schwedischen Rente der 70er Jahre ........ 219 Die Rentenformel der schwedischen Einkommensrente ............ 233 Die Rentenformel der Garantierente für Alleinstehende ............ 236 Die Rentenformel der Garantierente für Verheiratete ................ 236 Die Rentenformel der deutschen Rentenversicherung der 70er Jahre ............................................................................. 286 Die Rentenformel der heutigen deutschen Rentenversicherung ................................................... 303
Abbildungen Abbildung 1: Abbildung 2:
Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in % des jeweiligen höchsten Wertes eines Landes) ... 348 Anteil der öffentlichen Sozialausgaben für Gesundheitsversorgung am BIP (in % des jeweiligen höchsten Wertes eines Landes) ............................................................................. 348
Anhang-Abbildungen Anhang-Abbildung 1: Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in %) ............................................................................ 435 Anhang-Abbildung 2: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Deutschland ............................................................................... 435 Anhang-Abbildung 3: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Schweden ................................................................................... 436 Anhang-Abbildung 4: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Großbritannien ........................................................................... 436
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 1: Strenge der Regeln für den Beschäftigungsschutz 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Portugal Griechenland Italien Spanien Frankreich Deutschland Norwegen Schweden Belgien Österreich Japan Niederlande Finnland Dänemark Schweiz Australien Irland Kanada Neuseeland Großbritannien USA
Anhang-Tabelle 2: Lohnunterschied Vollzeitbeschäftigter1 3,7 3,5 3,4 3,1 2,8 2,6 2,6 2,6 2,5 2,3 2,3 2,2 2,1 1,5 1,5 1,2 1,1 1,1 0,9 0,9 0,7
1. Von den OECD-Ländern wurden lediglich die entwickelten kapitalistischen Länder ausgewählt und ihre Rangordnung wurde erneut gestellt. Die Zahlen rechts neben den Staatsnamen bedeuten die Noten, die von der OECD auf der Grundlage der Strenge des Arbeitsplatzschutzes für Vollzeitbeschäftigte, der Regulierung befristeter Arbeitsverhältnisse und Regulierung der Massenentlassung angesetzt wurden. Stand: Ende der 90er Jahre. Quelle: OECD 1999a: 66
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
USA Irland Portugal Kanada Österreich Großbritannien Neuseeland Frankreich Australien Deutschland Niederlande Schweiz Italien Finnland Belgien Schweden Dänemark Norwegen
4,59 3,97 3,76 3,65 3,56 3,45 3,28 3,07 2,94 2,87 2,85 2,69 2,40 2,36 2,28 2,23 2,16 1,96
1. Von den OECD-Ländern wurden lediglich die entwickelten kapitalistischen Länder ausgewählt und ihre Rangordnung wurde erneut gestellt. Die Zahlen rechts neben den Staatsnamen bedeuten 90-10 Perzentilwerte der Bruttolöhne der Vollzeitbeschäftigten. Stand: 1990-94 für Österreich, Belgien, Dänemark und Portugal; 1995-1999 für die anderen. Quelle: OECD 2004b: 141
424
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 3: Mindestlöhne (als % des Durchschnittswertes der Bruttolöhne)1
Anhang-Tabelle 4: Gesamte ‚Tax Wedge’ (als % der Arbeitskosten)1
1 2 3 4 5 7 8 10 11 13 14 15 16
Italien Norwegen Österreich Belgien Niederlande Deutschland Dänemark Finnland Schweden Frankreich Portugal Neuseeland Großbritannien USA Kanada Spanien
71 64 62 60 55 55 54 52 52 50 45 45 40 39 35 32
1. Stand: 1991 für Kanada und Neuseeland; 1993 für die anderen. Quelle: Lodovici 2000a: 59; eigene Darstellung
1 2 3 4 5 6 7 * 8 9 10 11 * 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Belgien Deutschland Frankreich Schweden Österreich Italien Finnland EU 15 Dänemark Spanien Griechenland Niederlande OECD Norwegen Portugal Luxemburg Großbritannien Kanada Schweiz USA Island Australien Japan Irland Neuseeland
55,4 51,8 50,1 47,9 47,4 45,4 44,6 42,1 41,4 39,0 38,8 38,6 37,3 37,3 36,2 35,3 33,5 31,6 29,5 29,1 29,0 28,3 27,7 25,7 20,5
1. Tax Wedge besteht aus Einkommensteuern und Sozialversicherungsbeiträgen der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen. Von den OECD-Ländern wurden lediglich die entwickelten kapitalistischen Länder ausgewählt und ihre Rangordnung wurde erneut gestellt. Stand: 2005. Quelle: OECD 2005b
Anhang-Tabellen und -Abbildungen Anhang-Tabelle 5: Beschäftigungsquote, 2004 (in %) 1 2 3 4 5 6 8 9 10 * 11 12 13 14 15 16
Dänemark Norwegen Niederlande Großbritannien Schweden Österreich Portugal Finnland Irland Deutschland EU 15 Frankreich Luxemburg Spanien Belgien Griechenland Italien
75,7 75,1 73,1 71,6 72,1 67,8 67,8 67,6 66,6 65,0 64,7 63,1 61,6 61,1 60,3 59,4 57,6
Quelle: European Commission 2006b; eigene Darstellung
425 Anhang-Tabelle 6: Arbeitslosenquote, 2004 (in %) 1 2 3 4 5 6 * 7 8 9 10 * 11 12 14 15 16
Spanien Griechenland Frankreich Deutschland Finnland Belgien EU 15 Italien Portugal Schweden Dänemark USA Großbritannien Luxemburg Österreich Niederlande Irland Norwegen
10,6 10,5 9,6 9,5 8,8 8,4 8,1 8,0 6,7 6,3 5,5 5,5 4,7 4,8 4,8 4,6 4,5 4,4
Quelle: European Commission 2006c; eigene Darstellung
426
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 7: Langzeitarbeitslosenquote (12 Monate und mehr), 2004 (in %)
Anhang-Tabelle 8: Langzeitarbeitslosenquote (24 Monate und mehr), 2004 (in %)
1 2 3 4 5 6 * 7 8 9 11 12 14 15 16 *
Griechenland Deutschland Belgien Italien Frankreich Spanien EU 15 Portugal Finnland Irland Niederlande Österreich Dänemark Schweden Luxemburg Großbritannien Norwegen USA
5,6 5,4 4,1 4,0 3,9 3,5 3,4 3,0 2,1 1,6 1,6 1,3 1,2 1,2 1,1 1,0 0,8 0,7
Quelle: European Commission 2006d; eigene Darstellung
1 2 3 * 5 6 7 8 9 10 11 13 14 15
Deutschland Griechenland Belgien Italien EU 15 Spanien Frankreich Portugal Finnland Irland Niederlande Österreich Großbritannien Dänemark Luxemburg Schweden Norwegen
3,5 3,1 2,6 2,6 2,0 1,9 1,8 1,6 1,0 0,8 0,6 0,5 0,5 0,4 0,3 0,0 0,0
Quelle: European Commission 2006e; eigene Darstellung
Anhang-Tabellen und -Abbildungen Anhang-Tabelle 9: Beschäftigungsquote der Frauen, 2004 (in %) 1 2 3 4 5 * 7 8 9 10 * 11 12 13 14 15
Norwegen Dänemark Schweden Niederlande Finnland Großbritannien USA Österreich Portugal Deutschland Frankreich EU 15 Irland Belgien Luxemburg Spanien Italien Griechenland
72,2 71,6 70,5 65,8 65,5 65,5 65,4 60,7 61,7 59,2 57,4 56,8 56,5 52,6 50,6 48,3 45,2 45,2
Quelle: European Commission 2006f; eigene Darstellung
427 Anhang-Tabelle 10: Arbeitslosenquote der Frauen, 2004 (in %) 1 2 3
6 * 7 8 9 10 11 * 12 13 14 15 16
Griechenland Spanien Deutschland Frankreich Italien Belgien EU 15 Finnland Portugal Luxemburg Schweden Dänemark USA Österreich Niederlande Großbritannien Irland Norwegen
16,2 14,3 10,5 10,5 10,5 9,5 9,3 8,9 7,6 6,8 6,1 6,0 5,4 5,3 4,8 4,2 4,1 4,0
Quelle: European Commission 2006g; eigene Darstellung
428
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 11: Beschäftigungsquote der unter 24jährigen Jugendlichen, 2003 (in %)
Anhang-Tabelle 12: Arbeitslosenquote der unter 24-jährigen Jugendlichen, 2004 (in %)
1 2 3 4 * 5 6 7 * 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Niederlande Großbritannien Dänemark Norwegen USA Österreich Irland Schweden EU 15 Deutschland Finnland Portugal Spanien Luxemburg Belgien Griechenland Italien Frankreich
1. Zahl des Jahres 2002 Quelle: OECD 2004b: 297-299; eigene Darstellung
68,4 59,8 59,4 55,3 53,9 50,7 45,8 45,0 42,6 42,4 38,5 38,4 36,8 32,31 27,1 26,3 26 24,11
1 2 3 4 5 6 7 * 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Griechenland Spanien Italien Frankreich Belgien Finnland Luxemburg EU 15 Schweden Portugal Deutschland Großbritannien Norwegen Österreich Irland Dänemark Niederlande
26,9 23,9 23,6 21,9 21,2 20,7 18,1 16,7 16,3 15,4 15,1 12,1 11,4 9,6 8,9 8,2 8,0
Quelle: European Commission 2006h; eigene Darstellung
Anhang-Tabellen und -Abbildungen Anhang-Tabelle 13: Beschäftigungsquote älterer Erwerbstätiger (55-64 Jahre), 2004 (in %) 1 2 3 * 4 5 6 7 8 * 9 10 11 12 13 14 15 16
Schweden Norwegen Dänemark USA Großbritannien Finnland Portugal Irland Niederlande EU 15 Deutschland Spanien Griechenland Frankreich Luxemburg Italien Belgien Österreich
69,1 65,8 60,3 59,9 56,2 50,9 50,9 49,5 45,2 42,5 41,8 41,3 39,4 37,3 30,8 30,5 30,0 28,8
Quelle: European Commission 2006i; eigene Darstellung
429 Anhang-Tabelle 14: Erwerbsaustrittsalter, 2004 1 3 5 7 8 9 * 10 11 12 13 14 15 16
Schweden Irland Portugal Spanien Dänemark Großbritannien Norwegen Deutschland Niederlande EU 15 Italien Finnland Griechenland Belgien Frankreich Österreich Luxemburg
62,8 62,8 62,2 62,2 62,1 62,1 62,0 61,3 61,1 61,0 61,01 60,5 59,5 59,4 58,9 58,81 57,7
1. Zahl des Jahres 2003 Quelle: European Commission 2006j; eigene Darstellung
430
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 15: Armutsgefährdungsquote nach Sozialtransfers, 2003 (in %)
Anhang-Tabelle 16: Ungleichheit der Einkommensverteilung, 2003
1 3
6 * 7 9 10
13
16
Irland Griechenland Spanien Portugal Italien Großbritannien EU 15 Belgien Deutschland Österreich Frankreich Niederlande Dänemark Finnland Norwegen Schweden Luxemburg
21 21 19 19 191 18 15 15 15 13 12 12 12 11 11 112 10
1 2 3 4 6 * 7 8
12 14 16
Portugal Griechenland Großbritannien Irland Spanien Italien EU 15 Deutschland Belgien Österreich Niederlande Luxemburg Frankreich Norwegen Finnland Dänemark Schweden
7,4 6,6 5,3 5,1 5,1 4,81 4,6 4,3 4,0 4,0 4,0 4,0 3,8 3,8 3,6 3,6 3,32
1. Zahl des Jahres 2001 2. Zahl des Jahres 2002
1. Zahl des Jahres 2001 2. Zahl des Jahres 2001
Quelle: European Commission 2006k; eigene Darstellung
Quelle: European Commission 2006m; eigene Darstellung
Anhang-Tabellen und -Abbildungen Anhang-Tabelle 17: Sozialausgaben, 2003 (als % des BIP)1 1 2 4 5 6 * 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Schweden Dänemark Frankreich Deutschland Österreich Belgien EU 15 Niederlande Norwegen Finnland Großbritannien Italien Griechenland Portugal Luxemburg Spanien Irland
33,5 30,9 30,9 30,2 29,5 29,7 28,3 28,1 27,7 26,9 26,7 26,4 26,3 24,3 23,8 19,7 16,5
1. Die Zahlen sind die 2005 von der Europäischen Kommission veröffentlichten vorläufigen Werte. Quelle: European Commission 2006a; eigene Darstellung
431 Anhang-Tabelle 18: Sozialausgaben für Alte, 2001 (als % des BIP) 1 2 3 4 5 6 * 7 8 10 11 13 14 15 * 16
Griechenland Deutschland Italien Österreich Frankreich Schweden EU 15 Belgien Spanien Dänemark Großbritannien Portugal Finnland Luxemburg Norwegen Niederlande USA Irland
Quelle: OECD 2004a; eigene Darstellung
12,7 11,7 11,3 10,7 10,6 9,2 8,8 8,7 8,3 8,3 8,1 7,9 7,9 7,5 6,8 6,4 5,3 2,7
432
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 19: Nettoersatzrate der Rente1 (in %)
Anhang-Tabelle 20: Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes1 (in %)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 * 10 11 12 13 14 * 15 16
Luxemburg Griechenland Österreich Italien Spanien Niederlande Portugal Deutschland Finnland OECD Frankreich Schweden Norwegen Belgien Dänemark USA Großbritannien Irland
109,8 99,9 93,2 88,8 88,3 84,1 79,8 71,8 71,5 69,1 68,8 68,2 65,1 63,1 54,1 51,0 47,6 36,6
1.Nettoersatzrate des Lohnes der Männer, die vor dem Ruhestand durchschnittlichen Lohn bezogen haben. Die Zahlen wurden 2005 von der OECD veröffentlicht. Quelle: OECD 2006b; eigene Darstellung
1 2 3 4 5 6 7 8 * 9 10 11 12 13 14 15 16
Luxemburg Portugal Schweden Frankreich Niederlande Spanien Norwegen Belgien USA Dänemark Deutschland Finnland Österreich Italien Griechenland Großbritannien Irland
85 78 77 73 71 69 66 63 62 61 61 60 55 54 48 45 30
1. Anteil des Arbeitslosengeldes, das 2004 Alleinstehenden für die Anfangsphase der Arbeitslosigkeit gewährt wurde, an dem durchschnittlichen Verdienst der ProduktionsarbeiterInnen. Quelle: OECD 2006c; eigene Darstellung
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
433
Anhang-Tabelle 21: Entwicklung der Armutsgefährdungsquote (in %)
Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat Dänemark
Mitte der 80er Jahren
2000
5,3
4,3
Schweden
6,0
5,3
Norwegen
6,9
6,3
Finnland
5,1
6,4
Nordkontinentaler konservativer Wohlfahrtsstaat Deutschland
6,4
9,8
Niederlande
3,1
6,0
Österreich
6,1
9,3
Luxemburg
5,4
5,5
Frankreich
8,0
7,0
Südkontinentaler konservativer Wohlfahrtsstaat Italien
10,3
12,9
Griechenland
13,4
13,5
Großbritannien
6,9
11,4
Irland
10,6
15,4
Liberaler Wohlfahrtsstaat
Quelle: OECD 2006d; eigene Darstellung
434
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Tabelle 22: Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in %) 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 Deutschland
15,2 15,6 15,8 15,5 15,2 14,9 14,6 14,8 14,7 14,3 13,8 14,1
Schweden
14,0 14,8 14,8 15,0 14,4 15,0 15,3 15,5 16,1 15,9 16,2 17,2
Großbritannien
9,9 11,0 11,5 11,7 11,7 11,6 11,6 11,0 10,1 9,6
9,2 10,3
1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Deutschland
14,5 15,2 15,3 15,5 15,8 15,7 15,7 15,6 15,6 15,6 16,0 16,3
Schweden
18,4 18,9 18,0 16,8 16,2 15,6 15,2 14,9 14,4 14,4 14,6 15,5
Großbritannien 11,1 11,5 11,0 10,9 10,7 10,2 9,8
9,9
9,9 10,4 10,0 10,2
Quelle: OECD 2008a; eigene Darstellung
Anhang-Tabelle 23: Anteil der öffentlichen Sozialausgaben für Gesundheitsversorgung am BIP (in %) 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 Deutschland
6,9
7,1
6,9
6,8
6,9
7,0
6,9
6,9
7,1
6,5
6,5
6,9
Schweden
8,3
8,4
8,5
8,4
8,2
7,8
7,5
7,5
7,4
7,4
7,5
7,2
Großbritannien
4,9 5,2 5,0 5,2 5,1 5,0 4,9 4,9 4,8 4,8 5,0 5,3 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Deutschland
7,9
7,8
8,0
8,2
8,3
7,8
7,7
7,7
7,7
7,8
7,9
8,0
Schweden
7,2
6,8
6,4
6,3
6,5
6,3
6,4
6,5
6,4
6,7
7,0
7,1
Großbritannien
5,8
5,8
5,8
5,8
5,7
5,4
5,5
5,7
5,8
6,2
6,3
6,7
Quelle: OECD 2008a; eigene Darstellung
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
435
Anhang-Abbildung 1: Anteil der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen am BIP (in %)1 (%) 105 100 95 90 85 80 75 70 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Deutschland
Frankreich
Italien
1. Der höchste Wert jedes Landes wurde als 100 % gerechnet. Quelle: aufbauend auf OECD 2008a.
Anhang-Abbildung 2: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Deutschland (%)
25
20
15
10
5
0 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Geldleistungswachstumsrate
Quelle: aufbauend auf OECD 2008a und 2008b
Wirtschaftswachstumsrate
Arbeitslosenquote
436
Anhang-Tabellen und -Abbildungen
Anhang-Abbildung 3: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Schweden (%)
20
15
10
5
0
-5 1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
Geldleistungswachstumsrate
1991
1992
1993
1994
1995
1996
Wirtschaftswachstumsrate
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
Arbeitslosenquote
Quelle: aufbauend auf OECD 2008a und 2008b
Anhang-Abbildung 4: Vergleich zwischen den Wachstumsraten der Sozialausgaben für öffentliche Geldleistungen, den Wirtschaftswachstumsraten und den Arbeitslosenquoten – Großbritannien (%)
25
20
15
10
5
0 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 Geldleistungswachstumsrate
Quelle: aufbauend auf OECD 2008a und 2008b
Wirtschaftswachstumsrate
Arbeitslosenquote