Monika Jungbauer-Gans · Christiane Gross (Hrsg.) Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse
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Monika Jungbauer-Gans · Christiane Gross (Hrsg.) Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse
VS RESEARCH Forschung und Entwicklung in der Analytischen Soziologie Herausgegeben von Prof. Dr. Monika Jungbauer-Gans, Christian-Albrechts-Universität Kiel
Die Reihe nimmt die Forderung der Analytischen Soziologie auf, dass sich die soziologische Theoriediskussion stärker auf erklärende soziale Mechanismen konzentrieren sollte. Die Analytische Soziologie sucht nach präzisen, handlungstheoretisch fundierten Erklärungen für soziale Phänomene. Dabei soll eine Balance zwischen einer abstrahierenden und einer realitätsgerechten Theoriebildung gehalten werden. Im Vordergrund der Reihe steht nicht die Theorieentwicklung und -diskussion, sondern die empirische Umsetzung, die sich den skizzierten theoretischen Grundsätzen verpflichtet fühlt. Der handlungstheoretischen Fundierung widerspricht nicht, dass auch Makrophänomene und insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Strukturen und Individuen untersucht werden. Die Reihe bietet in Folge dessen ein Forum für NachwuchswissenschaftlerInnen, welche die theoretischen Überlegungen der Analytischen Soziologie konsequent in empirischen Untersuchungen umsetzen.
Monika Jungbauer-Gans, Christiane Gross (Hrsg.)
Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17220-0
Inhaltsverzeichnis
Monika Jungbauer-Gans und Christiane Gross Einleitung: Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse......7 Fritz Sack Wie wurde ich Soziologe?.....................................................................21 Rolf Ziegler Chancen und Herausforderungen – ein autobiographischer Rückblick...............................................................................................53 Karl-Dieter Opp Ein nicht vorhersehbarer Lebenslauf?....................................................75 Jürgen Friedrichs Zwei Wege in die Soziologie: Stationen und warum die Entscheidungen so fielen........................................................................95 Karl Ulrich Mayer Lebensverlauf und soziale Ungleichheit..............................................107 Richard Münch Soziologie als Beruf. Ein Erfahrungsbericht........................................129
Einleitung: Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse1 Monika Jungbauer-Gans und Christiane Gross
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Analyse von Wissenschaftskarrieren
Wissenschaftskarrieren standen schon verschiedentlich im Fokus von wissenschaftlichen Analysen. Warum also werden in diesem Band autobiographische Texte namhafter deutscher Soziologen versammelt? Können damit soziale Mechanismen untersucht und verallgemeinerbare Aussagen gewonnen werden, die über den spezifischen Einzelfall hinausgehen? Wir wollen soziale Mechanismen sichtbar machen, indem wir und Autoren des Bandes die Anregung gegeben haben, ihre eigene soziologische Perspektive auf den persönlichen Lebenslauf anzuwenden. Daher gibt es in den Texten hinter den konkreten Ereignissen, Entscheidungen und Prozessen eine weitere Ebene zu entdecken, die die eigene Interpretation des Lebenslaufs und, daraus wiederum ableitbar, die (wissenschafts-) theoretische Auffassung der Autorin bzw. des Autors widerspiegelt. Das Ziel war, möglichst verschiedene theoretische Ansätze zu versammeln, die gerade auch die unterschiedlichen Herangehensweisen an die eigene Biographie beeinflussen sollten. Wenngleich eine gewisse Heterogenität erreicht wurde, spannen die wissenschaftstheoretischen Eckpfeiler der Autoren sicherlich nicht den kompletten Möglichkeitsspielraum der Soziologie auf. Das mag ein Stück weit auf unsere eigenen Zugänge zum Fach zurückgehen und den damit einhergehenden Netzwerken und Affinitäten, die ihre Wurzeln – grob betrachtet – in den Fortführungen der Kölner Schule haben. Wir freuen uns sehr über die nun vorliegenden Beiträge und hoffen, dass mit den Texten nicht nur ein Ausschnitt der jüngeren Geschichte der deutschen Soziologie dokumentiert wird, sondern dass sich auch die eine oder andere auf wissenschaftliche Karrieren bezogene Einsicht aus den Texten gewinnen lässt. Als wir mit diesem Projekt begonnen haben, hatten wir nur eine leise Vorahnung davon, welche Motivationsarbeit zu leisten sein würde, um die Zusage zu einem Beitrag zu bekommen und diesen Beitrag auch tatsächlich nach einem gewissen Zeitraum im Postfach vorzufinden. An dieser Stelle seien ausdrücklich diejenigen positiv erwähnt, deren Zusage spontan erfolgte und die auch ihre Beiträge sehr schnell geschickt haben. 1 Unser herzlicher Dank gilt Dominika Urbanski und Johann Carstensen für die Formatierung dieses Bandes.
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Beim aufmerksamen Lesen des Inhaltsverzeichnisses wird deutlich, dass zum einen die Autorinnen und Autoren des Bandes etwa der zweiten Nachkriegsgeneration deutscher Soziologinnen und Soziologen angehören. Das liegt vor allem am inhaltlichen Zuschnitt dieses Bandes: Wir haben einerseits versucht, Personen anzusprechen, die bereits einen zeitlich hinreichenden Karriereweg in der Wissenschaft durchschritten haben. Andererseits haben sich die wenige Jahre Jüngeren trotz oft schon bewegten Forschungslebensläufen selten dazu bringen lassen, an dem Projekt mitzuarbeiten. Dass dabei Mitarbeiter und das weitere Umfeld des Kölner Soziologen René König überproportional vertreten sind, lag nicht in unserer ursprünglichen Absicht, ist aber ein Stück weit den oben beschriebenen Selbstselektionsprozessen der angesprochenen Autorinnen und Autoren geschuldet. Zum anderen fällt auf, dass keine Soziologin vertreten ist. Sehr gerne hätten wir den Frauen der Zunft Raum für autobiographische Analysen gegeben. Unsere Auswahl an Soziologinnen war aber nicht zuletzt dadurch eingeschränkt, dass in dem von Vogel (2006) herausgegebenen Band viele der potenziellen Autorinnen schon einen autobiographischen Beitrag veröffentlicht haben. Als Herausgeberinnen wollen wir in dieser Einleitung keinesfalls eine Art qualitativer Analyse der zu diesem Band beigetragenen Texte durchführen. Vielmehr wollen wir die autobiographische Methodik und Herangehensweise inhaltlich in den Forschungszusammenhang einordnen, in dem die Idee zu diesem Buch entstanden ist. In einem von der DFG finanzierten Forschungsprojekt (JU 414/5-1) haben wir die wissenschaftlichen Werdegänge von Habilitierten des Zeitraums 1985 bis 2005 an westdeutschen Universitäten in den Fächern Mathematik, Jura und Soziologie erhoben. Diese Daten sind quantitativer Natur und wurden bzw. werden mit multivariaten Verfahren ausgewertet, z.B. um die Dauer und Determinanten des Übergangsprozesses auf eine Professur zu beschreiben. Eine grundlegende Erkenntnis dieser Analysen ist, dass die Selektionskriterien, aber auch die Merkmale des Übergangsprozesses stark zwischen den untersuchten Fächern variieren. Aus diesem Grund stellten wir uns die Frage, inwieweit es in einem Feld mit relativ kleinen Fallzahlen (sieht man wissenschaftliche Spezialisierungen als die relevanten Feldabgrenzungen an) überhaupt möglich sein sollte, allgemeingültige Mechanismen zu extrahieren. Spielen nicht vielmehr Idiosynkrasien der Einzelfälle (markante inhaltliche Profile oder innovative Ideen, die per Definition Alleinstellungsmerkmale sind) eine systematische Rolle im Auswahlprozess für wissenschaftliche Positionen? Wird nicht jeder Einzelfall durch seine auffälligsten Merkmale beurteilt und nicht so sehr daran, welche Menge an standardisierbaren Leistungen verbucht werden kann? Sagen manche nicht zu Recht: „Mein Fall ist so speziell und die Zeiten haben sich so sehr geändert, dass man daraus weder damals noch heute Lehren für andere Nachwuchs-
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wissenschaftler/innen ziehen und Ratschläge erteilen kann?“ Kann man überhaupt zu verallgemeinerbaren, soziologischen Erkenntnissen gelangen wenn, wie z.B. Engler (2001: 14) betont, der Persönlichkeit eine ganz große Bedeutung für die Wissenschaft zukommt? Zusätzlich geht sie in ihrer biographischen Analyse davon aus, dass das soziale Gefüge zum „soziologischen Bezugspunkt“ wird, das die wissenschaftliche Persönlichkeit prägt bzw. sozial konstruiert. Die Biographieforschung untersucht soziale Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden Objekte und nimmt dabei in Kauf, dass soziale Wirklichkeit durch verschiedene Filter überformt wird. Mit zeitlicher Distanz zum Ereignis verschieben sich die Interpretationen durch die berichtenden Akteure. Durch den jeweiligen Situationskontext, in dem berichtet wird, ergeben sich Rahmungen, die die Darstellung der Ereignisse verändern. Die Wirkung psychologischer Mechanismen, wie der Abbau von kognitiver Dissonanz durch die ReInterpretation und selektive Wahrnehmung von Ereignissen, und die in der Umfrageforschung breit diskutierte Tendenz zu sozial erwünschten Antworten bewirken Akzentverschiebungen. Werden biographische Interviews von Forscherinnen und Forschern ausgewertet, kommen noch Faktoren hinzu, die die Interaktion mit der Probandin bzw. dem Probanden betreffen sowie subjektive Dispositionen, die oft unwillkürlich von Einfluss auf die Auswertung und Bewertung sind. Im Fall von Autobiographien wird zwar der Einfluss der Forscherin vermieden. An dessen Stelle treten aber Gestalterschließungszwänge, wie sie Schütze (1976) für narrative Interviews in analoger Weise beschrieben hat. Die „Geschichte“ muss so weit erzählt werden, dass sie für die Leserin nachvollziehbar ist, sie muss einen genügenden Detaillierungsgrad haben und eine plausible Handlungslogik. Der autobiographische Zugang entlastet aber auch von der Gefahr banaler Paraphrasierung von Interviewtexten oder überzogener, den Personen zu nahe tretenden Überinterpretationen. Wovon werden Karrierewege in der Wissenschaft beeinflusst? Pragmatisch wollen wir hierbei individuelle und strukturelle Faktoren unterscheiden. Individuelle Faktoren bilden in erster Linie wissenschaftliche Leistungen und Produktivität (Humankapital), aber auch individuelle Präferenzen in Gestalt von generellen Ambitionen oder inhaltlichen Interessen. Als individuelles Merkmal, aber letztendlich als Auswirkung der Struktur gesellschaftlicher Ungleichheit, spielt auch die soziale Herkunft eine Rolle für wissenschaftliche Karrierechancen (Hartmann 2002). Zwischen individuellen und strukturellen Faktoren liegen als Meso-Ebene die Einflüsse des und Wechselwirkungen mit dem sozialen Netzwerk, das z.B. die Produktivität im wissenschaftlichen Austausch erhöhen und die für Großprojekte notwendigen Kollaborationen sicherstellen kann. Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Karrieren führt immer auch zu der Frage, welche Kriterien hervorragende wissenschaftliche Leistungen belegen
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und (auf den Einzelfall bezogen) die Auswahl einer Kandidatin/eines Kandidaten rechtfertigen. Die zunehmende Evaluation der Leistungen von Instituten im Zuge der universitätsinternen Mittelzuweisung, der Vergleich von Hochschulstandorten durch Zeitschriften oder politikberatende Institute oder sogar weltweite Rankings führen zu einer Standardisierung der Kriterien. Welche Kriterien herangezogen werden und welchen Stellenwert beispielsweise standardisierte bibliographische Maße haben, ist noch weitgehend durch die Fächerkulturen beeinflusst. Es ist zu erwarten, dass sich Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auch in den diesen Verfahren skeptisch gegenüberstehenden Disziplinen zur eigenen Verhaltenssicherheit zunehmend an standardisierbaren Kriterien orientieren. Die in diesem Band versammelten Autoren haben die Entwicklungen des Hochschulwesens in Deutschland am eigenen Leib erfahren und berichten davon, wie ihre individuellen Karriereentscheidungen von den Gelegenheitsstrukturen beeinflusst waren. Sie sind somit Beispiele dafür, wie konkrete historische Ereignisse und Prozesse Einfluss auf individuelle Karriereverläufe nehmen, ein Phänomen, das in der Lebenslaufforschung als Periodeneffekt bezeichnet wird. Im Allgemeinen untersucht die Lebenslaufforschung Brüche und Kontinuitäten, also Prozessmerkmale von Lebensläufen und bildet dadurch Kumulationen von Lebenschancen und -risiken im Zeitverlauf ab (Berger und Sopp 1995). Die Einzelfälle können als Illustrationen dafür genommen werden, wie sich sozialer Wandel auf Individuen auswirkt (Mayer 1995). Sie zeigen, wie soziale Struktur von Individuen erfahren wird und welche Deutungsmuster sie damit verbinden. Diese Deutungsmuster strukturieren implizit auch die Darstellung des eigenen Lebenslaufs. Eine seit Jahren – oder gar seit Jahrzehnten – geführte Diskussion in der Sozialstrukturanalyse dreht sich um die Frage, wie stark Lebensläufe durch gesellschaftliche Institutionen, aber auch Deutungsmuster und Normen angemessenen Verhaltens standardisiert sind bzw. als standardisiert wahrgenommen werden und ob sich der Standardisierungsgrad durch die mit Individualisierung verbundenen Prozesse im Lauf der Zeit reduziert hat (Mayer 1995). Akademische Personalauswahl erfolgt im Gegensatz zur Auswahl in der freien Wirtschaft in Gremien bzw. Abfolgen von Gremien, die von Interessengruppen, d.h. insbesondere akademischen Statusgruppen beschickt werden (sieht man von seltenen Einzelfällen ab, in denen die Ministerialbürokratie von Vetorechten Gebrauch gemacht hat). Ein weiterer soziologischer Grundbegriff soll kurz angesprochen werden: der Begriff der Generation, der von Karl Mannheim geprägt wurde. Gemeint ist er im Kontext von wissenschaftlichen Karrieren als gesellschaftlicher Generationenbegriff (vgl. Szydlik und Künemund 2009), um Gemeinsamkeiten aufgrund
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von generationentypischen Erfahrungen und gemeinsamen Werten und Lebensstilen zu beschreiben. Bereits einleitend wurde erwähnt, dass die in diesem Band versammelten Autoren in etwa der zweiten Nachkriegsgeneration deutscher Soziologen angehören. Sie teilen damit bestimmte Erfahrungen des Ausbaus des Faches, der Implementierung des Faches nach westdeutschem Muster in den neuen Bundesländern sowie der Institutionalisierung sozialwissenschaftlicher Infrastruktur und haben aufgrund der von ihnen bekleideten Positionen zu diesen Prozessen maßgeblich beigetragen. In Bezug auf Einstellungen und Wertorientierungen, aber auch in Bezug auf bestimmte epistemologische Auffassungen von Soziologie können sie als Vertreter von kulturellen Generationen verstanden werden, begreift man wissenschaftliche Paradigmen und Schulen als konstitutiv für kulturelle Generationen in wissenschaftlichen Disziplinen. Im Hinblick auf ökonomische Chancen und Risiken – also konkret auf Karrierechancen in der Wissenschaft – schließlich kann man Kohorten auch als ökonomische Generation begreifen. Die Chancen werden bestimmt durch Kohortengröße und konjunkturelle Lagen beim Berufseintritt bzw. bei wichtigen Positionsübergängen (vgl. dazu in Abschnitt 3 die Ausführungen zu strukturell bedingten Chancen). In der Lebenslaufforschung wurde der Generationenbegriff als wesentliche Analyseperspektive aufgegriffen (Kohli 2009). Er stellt einen Schlüssel zur Analyse der Bewegung von Kohorten durch die Zeit dar, um Kontinuität und Veränderung zu thematisieren. Die Abgrenzung von Generationen ist dabei oft willkürlich und unsystematisch. Konkrete Merkmale oder prägende historische Ereignisse werden herausgegriffen, um Generationen zu beschreiben. Untersucht wird, wie sich historische Ereignisse auf verschiedene Altersgruppen bzw. Kohorten und in verschiedenen Milieus auswirken. Nach diesen allgemeinen Überlegungen ist jedoch zu betonen, dass unsere „Datengrundlage“ weit davon entfernt ist, eine systematische Analyse von wissenschaftlichen Generationen zu erlauben. Daher soll an dieser Stelle nur auf dieses mögliche Forschungsfeld hingewiesen und eine Perspektive aufgezeigt werden, mit der die folgenden autobiographischen Texte gelesen werden könnten.
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Genealogie der Wissenschaften
Gerne wird die Arbeit in der Wissenschaft als eine Art „Isolationshaft“ beschrieben, in der in „Einsamkeit und Freiheit“ (Engler 2001) gearbeitet wird. Zu Erfolg in der Wissenschaft führt nach Weber (Weber [1919]1992: 312f.) „harte Arbeit“, die sich aus der „Leidenschaft“ für den Beruf in Kombination mit dem „Einfall“ speist, der wiederum Ersteres voraussetzt. Beides, harte Arbeit und der Einfall, seien die Voraussetzungen für Wissenschaft als Beruf. Von der Bedeutung sozia-
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ler Beziehungen und Netzwerke ist in Webers „Vom inneren Beruf zu Wissenschaft“ nicht die Rede. Sicherlich ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele für die Darstellung der einsamen Wissenschaftlerin oder des einsamen Wissenschaftlers finden. Schwenkt man nun den Blick auf die Empirie, fällt jedoch die so genannte „Genealogie der Wissenschaften“ auf, die dieses Bild stark in Frage stellt. Genealogie soll dabei in zweifachem Sinne verstanden werden: zum einen in einem konventionellen biologischen Sinne von Verwandtschaftsbeziehung, die natürlich in der Regel soziale Interaktionen beinhalten; zum anderen im Sinne von Mentoren-Mentee-Beziehungen. Beide Formen schließen sich zwar nicht gegenseitig aus, sollen hier dennoch analytisch getrennt behandelt werden. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen erfolgreichen WissenschaftlerInnen im biologischen Sinne lassen sich zahlreiche aufführen. In der Wissenschaftsforschung selbst sind Robert King Merton (1910-2003) und sein Sohn aus der Wirtschaftswissenschaft Robert Carhart Merton (*1944) prominenten Beispiele. Robert King Merton und seine zweite Ehefrau Harriet Zuckerman forschten beide im Rahmen der Wissenschaftssoziologie. Während Harriet Zuckerman im Jahre 1979 ihre Ergebnisse zu der Nobelpreisträgerstudie unter dem Titel „Scientific Elite: Nobel Laureates in the United States“ publiziert, wird ihrem Stiefsohn Robert Carhart Merton im Jahr 1997 selbst der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen. Im Fach Physik scheinen die Vater-Sohn-Paarungen, innerhalb derer jeweils beide den Nobelpreis für Physik erhalten haben, besonders häufig vorzukommen: Joseph und George Thomson; Sir William und Lawrence Bragg2, Niels und Åage Bohr sowie Mann und Kais Siegbahn belegen dies. Arthur und Roger Kornberg erhielten beide den Nobelpreis für Medizin. Auffällig ist, dass Vater und Sohn bei fünf von insgesamt sechs Paarungen jeweils für das gleiche Fachgebiet die höchste Ehrung erhielten. Einzige Ausnahme bilden Hans von Euler-Chelpin (Chemie) und sein Sohn Ulf von Euler (Physiologie oder Medizin3), deren Fachgebiete nun auch nicht sonderlich entfernt voneinander erscheinen. Ulf von Euler hatte mit Svante Arrhenius zudem einen Nobelpreisträger in Chemie als Patenonkel (The Nobel Foundation 2010; Zuckerman 1977: 97). Mit Nikolaas und Jan Tinbergen wurden auch erstmalig Geschwister mit diesem Preis gekürt. Sucht man nach Mutter-Tochter-Kombinationen, trifft man auf die einzige Person, die für zwei unterschiedliche Fachgebiete den Nobelpreis erhielt: Marie Curie. Sie erhielt zusammen mit ihrem Mann Pierre Currie den Nobelpreis für Physik und alleine den Nobelpreis für Chemie, während ihrer Tochter Irène Joliot-Curie zusammen mit ihrem Mann Frédéric Joliot eben-
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Sir William und Lawrence Bragg haben sich sogar einen Nobelpreis geteilt (Zuckerman 1977: 97). Die Kategorie heißt tatsächlich „Physiologie oder Medizin“.
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falls der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde (The Nobel Foundation 2010).4 Das Interessante bei diesem prominenten Beispiel ist, dass nicht nur der Fachbereich „vererbt“ wurde, sondern auch das implizite Wissen, wie man es als Frau in der damaligen Zeit schafft, als Wissenschaftlerin ernst genommen zu werden: durch die Kooperation mit dem Ehemann. In den Vereinigten Staaten waren von den wenigen weiblichen Nobelpreisträgerinnen bis 1977 60% mit männlichen Nobelpreisträgern verheiratet, während man Gleiches nur für 2% der männlichen Preisträger vermelden kann (Zuckerman 1977: 98). Sicherlich ist die Chance, mit einer erfolgreichen Wissenschaftlerin verheiratet zu sein, für einen erfolgreichen Wissenschaftler geringer, solange die Frauenquote in diesen Positionen niedrig ist. Ob sich nun allgemein beim generationenübergreifenden Erfolg eher genetische Prädispositionen, das Lernen im sozialen Umfeld, implizites Wissen oder die Einstellung – man könne es im Leben zu etwas bringen – durchsetzen, bleibt dabei ungeklärt. Mentoren-Mentée-Verhältnisse ohne biologisches Verwandtschaftsverhältnis – wenngleich dies über die Ausdrücke „Doktorvater“ und „Doktormutter“ suggeriert wird – schließen dabei das biologische Vererben (zumindest zwischen den Mentoren und Mentées) aus. Vielmehr geht es hierbei um die Vermittlung impliziten Wissens, die Einbindung in Erfolg versprechende Forschungsprojekte, die Einführung in prominenten Netzwerke und nicht zuletzt die fachliche Förderung im Gegensatz zum Übertragen von Arbeiten, die weder mit Lorbeeren verbunden sind, noch Freiräume für eigene Forschungstätigkeiten schaffen. Mehr als die Hälfte der 92 bis 1977 in den Vereinigten Staaten forschenden Nobelpreisträgerinnen und -preisträger haben mindestens einen Mentor, dem ebenfalls dieser Preis verliehen wurde. „Multiple Mentorenschaften“ durch Nobelpreisträger sind ebenfalls häufig. Felix Bloch hatte sogar vier Mentoren, die ebenfalls Nobelpreise erhalten haben. Das eingangs aufgezeigte Bild des einsamen Wissenschaftlers wird durch diese überzufällig häufigen Verbindungen sicherlich deutlich in Frage gestellt. Zudem prämieren Nobelpreise gerade in den Naturwissenschaften in der Regel Teamleistungen (anders verhält es sich natürlich mit den Nobelpreiskategorien Literatur und Frieden). Zur Erklärung der häufigen Erfolgskombinationen an Mentoren und Mentées verstärken sich zweierlei soziale Kräfte, die die besondere Anziehungskraft bilden: zum einen suchen sich viel versprechende Talente renommierte Mentoren und Mentorinnen; zum anderen wählen die Koryphäen wiederum gute WissenschaftlerInnen aus und haben vermutlich auch keine Probleme mit der Rekrutierung. Das gemeinsame 4 Die gemeinsame Tochter von Irène und Frédéric Joliot – Hélène Langevin-Joliot – ist „immerhin“ Professorin für Nuklearphysik geworden.
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Arbeiten an viel versprechenden Forschungsfragen, forciert zusätzlich den gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisgewinn. Was haben nun diese Ausführungen mit unseren Autoren zu tun; gerade wenn man in Betracht zieht, dass für Sozialwissenschaften gar keine Nobelpreise vergeben werden (allenfalls noch für Wirtschaftswissenschaften)? Wenngleich folglich (noch) keiner der Autoren zu der Wissenschaftselite der NobelpreisträgerInnen hinzuzuzählen ist, fällt auch bei den Autoren ganz stark die Bedeutung der sozialen Beziehungen ins Gewicht. Karl-Dieter Opp, Karl-Ulrich Mayer, Rolf Ziegler und anfangs auch Fritz Sack gehören alle zum Kreis der Kölner Schule um René König. Währenddessen hatte Richard Münch mit Ernst Topitsch und Hans Albert (später auch Horst Reimann) nicht weniger renommierte Lehrer. Insbesondere Karl-Ulrich Mayer als auch Rolf Ziegler haben wiederum unzählige weitere Professorinnen und Professoren im Fach hervorgebracht. Die Reihenfolge der Autoren in diesem Band bestimmt sich durch das Geburtsjahr in „aufsteigender Sortierung“.
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Entwicklung des Hochschulsystems in Deutschland und strukturell bedingte Chancen
Auf die strukturellen Einflussfaktoren auf individuelle Karrieren möchten wir hier näher eingehen. Ein solcher Faktor ist die Gelegenheitsstruktur des akademischen Arbeitsmarktes, die durch bildungs- und wissenschaftspolitische Maßnahmen beeinflusst wird. Der Ausbau des Hochschulwesens im Rahmen der Bildungsexpansion in den 60er und 70er Jahren hat beispielsweise zu einer höheren Nachfrage nach Professoren geführt (Mayer 1993). Universitäten wurden gegründet und Fachbereiche aufgebaut, neue Lehrstühle wurden geschaffen und besetzt. Dies hat zu hervorragenden Chancen der Kohorte des wissenschaftlichen Nachwuchses geführt, die in diesem Zeitraum für die Positionen schon qualifiziert war oder glaubhaft machen konnte, dass sie zumindest über das Potenzial dafür verfügte. Das durchschnittliche Berufungsalter war relativ niedrig (Mayer 1993), weil der Markt frisch Habilitierte oder Personen in noch früherem Karrierestadium rasch absorbierte. Nach dem Ende des Ausbaus litt der akademische Arbeitsmarkt unter der demzufolge relativ jungen Altersstruktur, die zu einem geringen Ersatzbedarf und zu entsprechend schlechten Berufungschancen für die folgenden Kohorten wissenschaftlichen Nachwuchses führte. Burkart (1995: 271) spricht in diesem Zusammenhang von der „biographischen Segnung einer vorteilhaften Geburt“ und der „Irrationalität des Rekrutierungssystem[s]“, die sich durch die „Aufblähung und Schrumpfung von Mittelbau und Professorenschaft gewissermaßen nach dem Naturgesetz des Schweinezyklus“ zeigt (Burkart
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1995: 276).5 Bewegung kam in den akademischen Arbeitsmarkt durch den Fall der Mauer und die Evaluation, Abwicklung und Neugründung von Fächern und Hochschulen in den neuen Bundesländern. Dies hat entsprechende Vakanzketten ausgelöst. Die vereinigungsbedingten Sparpläne der öffentlichen Hand, haben den für die Jahrtausendwende erwarteten Ersatzbedarf für die in den Ausbaujahren berufenen Personen reduziert, sodass der akademische Arbeitsmarkt in den letzten Jahren zwar bessere Bedingungen als in den 80er Jahren bot, dennoch aber keine der Ausbauphase entsprechende Welle an Neuberufungen ausgelöst wurde. Dieser so genannte „Schweinezyklus“ trifft die unterschiedlichen Fachdisziplinen in unterschiedlichem Maße. Der Rückgang an Stellenbesetzungen und der Bedeutungsverlust einer ganzen Fachdisziplin, lassen sich bei den Rechtwissenschaften besonders gut beobachten. In den 40er Jahren machten die RechtwissenschaftlerInnen noch 40% aller AkademikerInnen aus (Hartmann 1989). Ebenso ist die Soziologie trotz steigender Studierendenzahlen von der Streichung von Professoren- und Mitarbeiterstellen betroffen. Von der (geplanten) Streichung von Professorenstellen berichteten im Zeitraum 1995-2005 mehr als ein Drittel der Fachbereiche der Soziologie (Knoll et al. 2000). Bezogen auf den US-amerikanischen akademischen Arbeitsmarkt wurden solche Kohorten- bzw. Jahrgangseffekte (vintage effects) von Levin und Stephan (1991) untersucht. Den Kohorteneffekt dahingehend, dass größere Eintrittskohorten in den Arbeitsmarkt durchschnittlich schlechtere Arbeit leisten, konnten Stephan und Levin (1992) belegen. Für den allgemeinen US-amerikanischen Arbeitsmarkt zeigt die klassische Studie von Welch (1979) einen negativen Zusammenhang von Kohortengröße und individuellem Einkommen auf, der zwar mit zunehmendem Alter abnimmt, jedoch nie völlig verschwindet. Wright (1991) konnte für Großbritannien zwar auch den Einkommensnachteil von geburtenstarken Kohorten belegen, dieser verschwand jedoch im weiteren Lebensverlauf der Probanden.
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Wissenschaft im In- und Ausland
Soziale Mechanismen wissenschaftlicher Karrieren sind durch die in diesem Feld gültigen Institutionen geprägt. Weitgehend Einigkeit besteht hinsichtlich der Auffassung, dass sowohl die Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnis als auch die aus wissenschaftlichen Arbeiten abgeleitete Reputation von Individuen 5 Burkart schreibt dies im Kontext einer Buchreplik auf Schmeiser 1994 und fasst damit die Erkenntnisse Schmeisers zusammen.
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oder Forschergruppen universalistischen Kriterien folgt bzw. folgen sollte. Ein Kennzeichen dieser universalistischen Kriterien mithin ist ihre Internationalität. Dennoch unterscheiden sich manche Regelungen zwischen Regionen und Staaten, in Deutschland in Details auch zwischen den Bundesländern. Das Wissenschaftssystem in Deutschland ist also durch die landesspezifischen institutionellen Regelungen geprägt, die wesentliche Randbedingungen für die individuellen Lebensläufe darstellen. Hierbei ist in erster Linie die formale Habilitation als „zweite“ Doktorarbeit zu nennen, die bis vor kurzem eine formelle Voraussetzung für die Berufbarkeit auf eine Professur war. Dieses Kriterium wurde mittlerweile dahingehend verändert, dass nicht mehr der Abschluss des formellen Verfahrens, sondern eine habilitationsadäquate Leistung Berufungsvoraussetzung ist. Die Habilitation ist bzw. war in der Regel eine zweite Monographie, die in den letzten Jahren in vielen Disziplinen – außerhalb der Geisteswissenschaften – zunehmend von kumulativen Arbeiten, d.h. Zusammenstellungen von Zeitschriften- und Sammelbandbeiträgen ersetzt wurde. Das Habilitationsverfahren wird in der Regel von allen Fakultätsangehörigen oder einem umfangreichen Habilitationsausschuss durchgeführt und prüfte neben der von Gutachtern beurteilten Qualität der Schriften auch das weitere Oeuvre und oft auch den wissenschaftlichen Habitus der Kandidatin/des Kandidaten. Das formelle und strenge Verfahren soll einer Hochschule auf Kandidatensuche garantieren, dass grundlegende Erwartungen an habilitierte Kandidaten nicht enttäuscht werden. In Bezug auf die individuelle berufliche Karriere stellt das Verfassen einer umfangreichen Habilitationsschrift eine erhebliche Investition in das Humankapital dar, das eine zentrale Voraussetzung für einen ‚erfolgreichen’ Weg auf dem akademischen Arbeitsmarkt darstellt(e), für den Arbeitsmarkt außerhalb von Hochschule und Forschung jedoch kaum oder nur in spezifischen Anwendungsfeldern Wert besitzt bzw. besaß. Zudem ist das Durchschnittsalter der Habilitanden höher als das Alter, das außeruniversitäre Arbeitgeber bei Personen erwarten, die in einem Bereich neu einsteigen. Die akademische Karriere zeichnet sich also in vielen Disziplinen dadurch aus, dass hohe Investitionen notwendig sind, bevor eine auf Dauer angelegte Position erreicht werden kann, die zudem außerhalb der Wissenschaft weitgehend wertlos, wenn nicht sogar schädlich (weil „überqualifizierend“) sind. Von hochschulpolitischer Seite wurde versucht, die Habilitation als formelle Voraussetzung für eine Berufung abzuschaffen. In den Hochschulgesetzen der Länder wurde daher verankert, dass der erfolgreiche Abschluss einer Juniorprofessur einer Habilitation formell gleichgesetzt wird. Ein weiteres Merkmal des deutschen Hochschulsystems ist die Zuordnung der Stellen des wissenschaftlichen Mittelbaus zu Professuren, was Schulenbildung erleichtert, aber auch zu Abhängigkeiten führt. Das angelsächsische System hingegen gewährt dem promovierten wissenschaftlichen Nachwuchs in dieser
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Hinsicht größere Freiräume und stellt ‚assistant professors’ im alltäglichen Arbeitszusammenhang auf eine kollegiale Ebene mit unbefristet beschäftigten Fakultätsmitgliedern. Mit der Einführung der Juniorprofessur wurde versucht, diese Konstellation auch im deutschen Hochschulsystem zu verankern, die nun parallel neben herkömmlichen Qualifikationsstellen besteht. Ein weiteres Merkmal des deutschen Hochschulwesens ist die Verbeamtung der auf Lebenszeit berufenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In einzelnen Fällen wird von der Verbeamtung abgesehen, zum Beispiel, wenn der Bewerber zum Zeitpunkt der Berufung in das Bundesland schon ein Höchstalter überschritten hat oder bei der Erstberufung in einigen Bundesländern und dann verbunden mit der Perspektive einer Umwandlung in eine unbefristete Beschäftigung nach einer bestimmten Zeitspanne. Die Verbeamtung und die mit diesem Status verbundenen Pensionsregelungen reduzieren die Mobilität zwischen den Bundesländern und insbesondere die Abwanderung ins Ausland. Auch damit verbunden sind relativ strikte Regelungen des Emeritierungs- bzw. Pensionsalters. Bisweilen sind die fortgesetzte Beteiligung in der Lehre und auch die Fortführung der Forschungstätigkeit unter Umständen nach der Emeritierung und Pensionierung denkbar bzw. im Institut erwünscht und möglich. Im angelsächsischen Bereich hingegen, sind die durch externe Institutionen gesetzten Altersgrenzen nicht in diesem Umfang wirksam, sodass der Wechsel in eine über den Status einer Gastprofessur hinausgehende Tätigkeit in dieser Region auch eine Option für die Zeit nach den Ausscheiden aus der regulären Beschäftigung in Deutschland darstellt, die auch von Personen gewählt wurde, die einen Beitrag zu diesem Band verfasst haben. Die institutionellen Veränderungen im deutschen Hochschulwesen, wie z.B. die Exzellenzinitiative, die Einführung der Juniorprofessur, systematische und flächendeckende Evaluationen, die Studienreformen mit Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen, können als Anzeichen der zunehmenden Dominanz einer Weltkultur interpretiert werden, die dafür sorgt, dass gleiche Denk-, Organisations- und Handlungsschemata sich verbreiten (Münch 2009). Die akademische Elite formiert sich zusehends als globale Elite, wobei die Maßstäbe de facto von den amerikanischen Spitzenuniversitäten geeicht werden. Für die Karrierewege von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern könnte dies auch eine zunehmende Abhängigkeit von den in symbolischer Politik legitimierten Kriterien bedeuten. Ein Indikator dieses Prozesses könnte eine zunehmende Orientierung an standardisierten bibliographischen Maßen bei der Personalselektion sein, ohne dass deren Validität reflektiert wird. Theoretische Argumentationen legen nahe, dass die Bedeutung von Reputation und Prestige der Institutionen, an denen eine Wissenschaftlerin bzw. ein Wissenschaftler tätig ist oder an der sie Kooperationspartner hat, für die eigene Karriere zunehmen könnte. Dazu gehört
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beispielsweise auch der Aufenthalt an einer amerikanischen und englischen Universität der Ivy League. Ob diese These zutrifft bzw. welche Auswirkungen die Reformen, neuen Governance-Formen der Wissenschaft und die von ihnen ausgehenden Dynamiken haben, bleibt in künftigen Studien zu untersuchen, z.B. indem die Karrieren verschiedener Kohorten verglichen werden.
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Einleitung: Soziologische Karrieren in autobiographischer Analyse
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Wie wurde ich Soziologe? Fritz Sack
Eine erste und allgemeine Antwort auf diese Frage lässt sich in wenigen saloppen Worten geben: dass der Weg dahin „kontingent“ war, auch hätte anders verlaufen können, ist zwar richtig, aber auch zu allgemein, es gab immer wieder gewisse Spuren und Pfade, die ich nicht beliebig habe verlassen können und in die ich mich eingefügt und eingepasst habe.
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Der Herkunftspfad
In die Wiege gelegt wurde mir die Professur, die ich erstmalig 1970 an der Universität Regensburg antrat, auch nicht im Entferntesten. Weder kann davon die Rede sein, schon früh, zur Schulzeit oder so, das Fach selbst oder die Universität als erstrebenswertes Ziel im Lebensvisier gehabt zu haben, noch gab es in der Familie – in der Kern- nicht, auch nicht in der Großfamilie – personale Orientierungsvorbilder. Nein, mein Weg zur Professur lässt sich am besten als eine Abfolge kontingenter Situationen, Gelegenheiten und Zufälle darstellen, für eine Professur im Fach Soziologie oder Kriminologie galt dies umso mehr. Geboren 1931 in dem Dorf Neumark (Stare Czarnowo) im heutigen Polen, damaligen Hinterprommern, zwischen dem an der Odermündung gelegenen Stettin, der früheren Hauptstadt Pommerns, und dem 17 km ostwärts entfernten Pyritz, der „Weizacker“-Kreisstadt von ca. 10.000 Einwohnern, verbrachte ich die ersten 14 Jahre meines Lebens in einer relativ behüteten bäuerlichen Lebenswelt. Bis zum 10. Lebensjahr war mein Leben nahezu ausschließlich von dem jahreszeitlichen und familiären Rhythmus auf einem Bauernhof von ca. 65 ha bestimmt. Es war ein Bauernhof traditioneller Art, der noch keine monokulturelle „Entfremdung“ kannte, neben den Familienmitgliedern von ein bis zwei ständigen Arbeiterfamilien „bewirtschaftet“ wurde. Sein Grad der Technisierung war noch nicht bis zur Ebene der Traktoren fortgeschritten – Pferde lieferten die unerlässliche Energie für seinen Betrieb und waren auch das Fortbewegungsmittel für manche Kutsch- und Schlittenfahrten. Natürlich war der Tagesablauf auch vom Besuch der zweiklassigen Volksschule bestimmt – die Ferien verbrachten wir in der Regel auf dem Hof und im Dorf – von zwei oder drei Sommerurlauben
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an der Ostsee abgesehen, die wir im Lehrerhaushalt von Verwandten verbrachten. Allerdings war das Dorf, in dem ich meine Kindheit verbrachte, nicht ein ausgesprochenes Bauerndorf. Schon seine Größe – ca. 1000 Einwohner – sprengte den typischen dörflichen Rahmen. Mehr noch: seine verkehrsmäßige Anbindung an Stettin mittels einer bis an die damalige polnische Grenze reichenden Durchgangsstraße und einer „Kleinbahn“ sowie eine Reihe von Geschäften, Handwerksbetrieben, Gasthöfen sowie Einrichtungen „Gesundheitsinfrastruktur“ (mehrere Ärzte, Apotheke etc.) machten das Dorf einerseits zu einer Art Service- und Versorgungsflecken für eine Reihe kleinerer Dörfer und Siedlungen. Zum anderen brachte es seine Menschen in den Einflussbereich, ja: in den Sog der Stadt und die städtische Moderne. Die Welt der Universität und der höheren Bildung war dennoch für die meisten Bewohner weit weg, von der damals ohnehin im Wesentlichen außerhalb Nazi-Deutschlands stattfindenden Soziologie oder ähnlichen akademischen Metiers ganz zu schweigen. Die akademische Welt bestand aus den „traditionellen“ Berufen, wie sie auch für die Lebenswelt der Bauern dazu gehörten: dem Arzt, dem Apotheker, dem Pastor, dem Lehrer. Die Bezeichnung „Doktor“ wurde nicht als akademischer Titel verstanden, sondern für den Beruf des Arztes reserviert. In gewisser Weise war das Dorf durch zwei Schichtungssysteme gekennzeichnet – einerseits gab es die „agrarische“ Struktur mit einer dezidierten Differenzierung nach Größe und Landbesitz, die sich auch in den „soziometrischen“ und sozialen Beziehungsmustern abbildeten. Es gab eine Gruppe von weniger als zehn „Großbauern“, zu denen auch unser Hof gehörte, dahinter rangierten zwei bis drei Schichten kleinerer Höfe, deren letzte eine Art Nebenerwerbslandwirte waren, die sich u.a. bei den größeren Bauern saisonmäßig zusätzlich „verdingen“ mussten. Das „Ende“ dieser Schichtungsstruktur bildete die Gruppe der besitzlosen Land- und Forstarbeiter. Das zweite Schichtungssystem bestand aus den Angehörigen nichtagrarischer Berufe – der selbständige Mittelstand aus Handwerk, Handel und Dienstleistung zum einen, die Gruppe der Angestellten und kleinen Beamten zum anderen, den erwähnten „dörflichen“ Akademikern an der Spitze dieses sozialen Vektors. Diese beiden Schichtungssysteme waren vertikal deutlich markiert und sozial wie lebensstilmäßig nur gering durchlässig, horizontal kreuzten sie sich regelmäßiger. Von einer Bildungs- und Bücherwelt konnte im bäuerlichen Kontext keine rechte Rede sein. Zwar gab es im Hause einige Identität stiftende Literatur regionaler Art und preußisch-protestantischen Patriotismus und Selbstbewusstseins, jedoch keine „Lesekultur“ – dazu fehlte auch die erforderliche „Freizeit“. Aller-
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dings spielte die Schule schon eine wichtige Rolle – im Sinne einer allgemeinen Vorstellung von „Wissen“ und „Lernen“: darauf wurde auch in der Familie und von den Eltern Wert gelegt. Sitzenbleiben war eine Schmach, Zensuren wurden erfragt, gute Zensuren honoriert. Eine kritische und „dissoziierende“ Frage stellte sich mit Blick auf das erstrebte Schulniveau: sollten die Kinder auf die Oberschule geschickt werden oder nicht? Die Gelegenheit dazu ergab sich aus der bereits erwähnten verkehrsmäßigen Anbindung des Dorfes nach Stettin, so dass ein Besuch der Oberschule als täglicher Fahrschüler sich durchaus nahe legte. Auch die Kreisstadt Pyritz verfügte über ein Gymnasium, das für die umliegenden Dörfer als eine Art Institution des sozialen Aufstiegs und des Übertritts in nicht-agrarische höhere Berufe fungierte. Allerdings war sie nicht im Tagesrhythmus zu besuchen. Die Entscheidung über die Schulbildung war eine durchaus „existentielle“ Frage: Schon damals galt das Abitur als die Eintrittskarte zur Universität und zum Studium. Damit wurde die bäuerlich-typische „Berufsvererbung“ nicht nur in Frage gestellt, sondern praktisch vereitelt, da Art und Größe des elterlichen Bauernhofs einer „akademischen“ Existenz damals noch keinen sozialen und ökonomischen Rahmen boten. Zudem fehlte seinerzeit noch eine einschlägige agrarische Ausbildungsstruktur. Unangesehen dessen reichte meine elterliche Erziehung schon über die rein dörfliche und bäuerliche Lebenswelt hinaus: erst in meinem späteren soziologischen „Horizont“ erschloss sich mir diese Tatsache an einer sprachlichen Gewohnheit und Praxis, die meine Eltern im Umgang mit uns Kindern pflegten: während sie sich auf Hof, in Stall und Feld unter sich und mit den Hilfskräften in der pommerschen Niedersprache, in Plattdeutsch verständigten, benutzten sie mit uns Kindern überwiegend die norddeutsche Hochsprache, was sie zu einem ständigen „code-switching“ veranlasste. Im Übrigen verlief diese Erziehung – wie das meiner zwei älteren Geschwister, einem vier Jahre älteren Bruder und einer zwei Jahre älteren Schwester – im normalen „Dreieck“ einer „erweiterten“ Familie (die ältere Schwester meines Vaters lebte im familiären Versorgungsverbund – auch sie lehrte uns „mores“, Tischsitten und soziale Manieren), konservativer Haltung und protestantischer Prägung und Praxis.
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Konservative Mentalität und politische Ideologie
Man muss nicht die Radikalität eines P. Bourdieu (1985:50) teilen, dass „in die Soziologie (nur eintritt), wer die Bande und Verhaftungen löst, die ihn gemeinhin an eine Gruppe binden …“, auch nicht muss man das große Wort der „Sozio-
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logie als Krisenwissenschaft“ meines akademischen Lehrers R. König6 bemühen, um zu wissen, dass die Affinität zur Soziologie mit in der Regel dezidierten (gesellschafts-)politischen Überzeugungen einhergeht, die mehr sind als bloße Mentalität, wenn auch nicht unbedingt politische Ideologie. Auch wenn ich dieses Merkmal als Ausgangsbedingung meiner soziologischen Karriere abklopfe, so waren meine Herkunftsjahre noch nicht affiziert von dem beruflichen Weg, den ich später ging. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den weitgehenden Exodus der Soziologen in der Nazizeit – auch das die Erfahrung eines Kölner SoziologieStudenten unter König. Die politische Seite während meiner Kindheit und Jugend – bis 1945 und bis zu 14 Jahren – war mir als so begriffene kaum zur Hand und zu Bewusstsein. Schrecken, Unrecht, Zerstörungswillen der Nazizeit „erfuhr“ ich erst mehr als ein Jahrzehnt nach deren Untergang. Nicht nur aus rein biographischen, sondern ebenso aus Gründen nachholender Verarbeitung einer sich anbahnenden „braunen“ Einspurung sind einige wenige Anmerkungen über direkte Kontakte und Erfahrungen mit nationalsozialistischen Institutionen angebracht. So wurde ich mit zehn Jahren Mitglied des Jungvolks – allerdings nicht am Ort der Eltern, sondern in Pyritz, wo ich die dortige „Bismarck-Schule – Oberrealschule für Jungen“ seit dem Jahre 1941 besuchte. Diese Mitgliedschaft bescherte mir bis heute erinnerte demütigende Erfahrungen. Wegen einer Herzmuskelschwäche war ich auf Betreiben meiner „Pensionseltern“ gegen meinen Willen und zu meinem Ärger ärztlich von schulischem Sport und körperlichem HJ-Dienst freigestellt. Meine Jungvolk-Führer sahen darin eher Zeichen anti-parteilicher und „mannesunwürdiger“ Haltung und setzten mir auf unterschiedliche Art und Weise zu und nach. Ich selbst fühlte mich auch ausgeschlossen von Aktivitäten des Jungvolks – wie Geländespiele, „Wochenendzeiten“ und den „körperlichen“ und „sportlichen“ Herausforderungen, in denen ich mich regelmäßig auszuzeichnen vermochte. Ansonsten war das bäuerliche Milieu ein durchweg konservativunpolitisches: Kaisers Geburtstag am 27. Januar zählte mehr als andere weltliche Feiertage, politische Parteien jenseits bzw. links der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) galten als „verachtete“ „Demokraaaten“7. Allerdings war das nicht automatisch ein Votum für die NSDAP, selbst wenn eine formelle Parteizugehörigkeit das nahe legte. So war mein Vater zwar Mitglied der NSDAP, was 6 Der bislang noch nicht erschienene Bd. 8 der König-Schriften (VS Verlag) ist Königs Arbeiten zu seinem „Lehrer“ Durkheim gewidmet und ist mit dem Titel angekündigt: Soziologie als Krisenwissenschaft: Durkheim und das Paradigma der französischen Gesellschaft“. 7 Diese Lautdehnung auf der dritten Silbe drückte ebenso viel kognitive Distanz wie ideologische Missachtung aus. Bei den letzten Reichtagswahlen im März 1933 entfielen im Kreis Greifenhagen, zu dem Neumark gehörte, 62 % auf die NSDAP, 14 % auf die Deutschnationalen, 14 % auf die SPD, 8 % auf die KPD.
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dem Anfang der dreißiger Jahre finanziell bedrängten Hof den formellen Status eines „Erbhofes“ und damit Schutz und Schirm vor wirtschaftlichem Niedergang eintrug – mit einer entsprechenden Plakette am Haus. Aber seinen „politischen“ Pflichten entging er durch den regelmäßigen sonntäglichen Kirchengang, der sich meistens mit den NS-Terminen deckte, durch Aktivitäten im dörflichen Kriegerverein, die durchaus nicht „parteigelitten“ waren sowie durch „Widerstand“ gegen „kriegsbedingte“ auferlegte Leistungen – so opponierte er heftig gegen die „Ungerechtigkeit“ der erzwungenen Abgabe von Pferden für die Zwecke der Wehrmacht. Ebenso kann ich mich an Momente und innerfamiliäre Diskussionen während der Kriegszeit erinnern, in denen es um Vernunft, Aussicht und Ausgang des Krieges ging, die, wären sie außerhalb der Familie erfolgt, einigen die Anklage wegen Defätismus eingetragen hätte. Daraus einen politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu machen, würde sicherlich eine „Gemeinschaft“ mit Menschen aus der damaligen Zeit beanspruchen und vorgeben, die ihr Leben und ihre Existenz weit riskanter aufs Spiel setzten und dafür zu „zahlen“ hatten. Den Nationalsozialisten stand während des Krieges das schlichte soziologische Gesetz über den „Feind“ als sicherstes Bindeglied der Gruppe zur Seite, dessen Inszenierung und Instrumentalisierung sie obendrein mit einer bis dahin kaum gekannten diabolischen Virtuosität entwickelten und beherrschten. Hieraus speiste sich in unserer Familie auch die nur halbherzige Akzeptanz von Überlegungen und Versuchen, den „Kriegsdienst“ meines siebzehnjährigen Bruders hinauszuzögern – Weihnachten 1944 wurde er eins der tausend Opfer, die in der sogen. „Ardennen-Offensive“ zu einem letzten militärischen Aufbäumen in die Schlacht gegen die westlichen deutschen Kriegsgegner geführt wurden. Von seinem Tod erfuhr die Familie erst etliche Jahre später, als Heimat und Hof längst verloren waren. Im Übrigen „hängte“ man sich an die „Machthaber“ von Staat und Gesellschaft – und war anfällig für den Vorwurf mangelnder Loyalität gegenüber dem Staat und „unseren Soldaten an der Front“. Bis heute ist mir eine Erfahrung in Erinnerung, die ich am Tage des Attentats vom 20. Juli 1944 gegen Hitler machte. Es war ein sonniger Tag, am vollen Nachmittag gingen die Meldungen über das Scheitern des Attentats durch den Rundfunk. Es waren Schulferien, die ich wie üblich in unserem Dorfe verbrachte. Wir besaßen einen der damals gängigen „Volksempfänger“ – schwarzer rechteckiger hoher Kasten mit runder Lautsprecheröffnung -, er stand im alltäglichen Wohn- und Esszimmer, mein Vater und die Erntekräfte waren auf dem Felde, meine Mutter bereitete in der Küche das Abendbrot vor, mit ihr hielt sich die ältere Ehefrau eines bei uns wegen der Luftangriffe auf Stettin „einquartierten“ Ehepaars auf. Ich war der erste „Radiozeuge“ des „Führerattentats“ in der Familie. Natürlich erregte es mich, und in dieser Erregung rannte ich in die Küche zu meiner Mutter, um ihr von der gerade ver-
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nommenen „Ungeheuerlichkeit des Attentats“ zu erzählen. Nicht so sehr ihre Reaktion ist mir in Erinnerung geblieben, sondern mein Entsetzen über die Reaktion der einquartierten Frau aus Stettin, eine Freundin aus Kindertagen der in unserem Hause lebenden Schwester meines Vaters. Sie reagierte auf meine Information mit dem spontanen Ausspruch: „Hoffentlich ist das Aas krepiert“. Abends fragte ich meine Eltern, noch immer empört, wie es denn käme, dass in unserem Hause eine Person mit solcher Einstellung lebte. Meine „Ablösung“ von und meine kritische Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ und seinen verbrecherischen Handlungen gegen Recht, Zivilisation und Kultur vollzogen sich erst in einem langen Prozess politischen Bewusstseins und Engagements in der zweiten Hälfte meiner zwanziger Jahre, d. h. als der Krieg längst Geschichte war. Und auch dieser Aspekt meiner biographischmentalen Entwicklung hatte seine Wurzeln und seine Genese in den äußeren Umständen und Ereignissen, denen die Familie und ich selbst in den kommenden Jahren ausgesetzt waren. Und die Soziologie, ihr Milieu und ihre „Kreise“ spielten dabei eine entscheidende Rolle. Soweit bin ich jedoch noch nicht.
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Die „Ablösung“ aus Dorf und bäuerlicher Welt sowie deren Ende
Zuvor ist von einer anderen Ablösung zu sprechen. Diese hing mit dem Wechsel aus der zweiklassigen dörflichen Schule und dem Wechsel auf das „BismarckGymnasium“ in dem eingangs erwähnten Pyritz zusammen. Nach intensivem „Extra-Training“ durch einen der beiden Dorfschullehrer bestand ich die Aufnahmeprüfung für das „Realgymnasium“ in dieser Klein- und Kreisstadt von ca. 10.000 Einwohnern. Dieser Wechsel war für mich eine sehr einschneidende Zäsur. Er bedeutete für mich ein durchaus „lebensweltlich“ neues Szenario – das meines Alltags und meiner Existenz. Es war nicht bloß eine Umstellung in schulischer Hinsicht. Gravierender und folgenreicher für mich war die neue „familiäre Umwelt“, in die ich mit dem Beginn meiner Gymnasialzeit eingefügt war und die sich noch weit in meine Zukunft erstrecken sollte. Pyritz war von Neumark nicht täglich zu erreichen, so dass eine „Bleibe“ gefunden werden musste. Da fügte es sich gut, dass in Pyritz zwei der fünf Brüder meiner Mutter in eigenen Häusern lebten – mit genügend Raum für Dauergäste: In den nächsten vier Jahren – von 1941 bis zum Frühjahr 1945 – vollzog sich mein Leben im Rhythmus der Schulzeit in Pyritz in einem kinderlosen Haushalt strenger Erwachsener, die ihre „Verantwortung“ für einen Sohn aus der „Großfamilie“ an Maßstäben und Prinzipien orientierten, die vom Leben in einem dörflichen Bauernhaushalt ebenso weit entfernt waren wie von der Welt junger Menschen.
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Natürlich war mit dieser Bildungsentscheidung, für die neben meinen Eltern sowie der besagte Bruder meiner Mutter auch mein Volksschullehrer ein Wort mitredeten – letzterer hatte mir bereits am Ende der ersten Klasse – im Frühjahr 1938 – eine euphorische Beurteilung ins Zeugnis geschrieben – , mein weiterer Weg in die Erwachsenen- und Berufswelt keineswegs vorgezeichnet. Aus meiner späteren Erinnerung gewann ich den Eindruck, dass die Eltern mit einer Fortführung des Bauernhofes durch mich rechneten. Mein Bruder bereitete sich schon auf den Försterberuf vor, für meine Schwester, die nicht in den Genuss einer höheren Schulbildung kam (das war halt so – ich kann mich an kein Bauernmädchen aus unserem Dorfe erinnern, das ein Gymnasium oder ein Lyzeum besuchte), gab es zu jener Zeit noch gar keine „Perspektive“. Mir selbst sannen meine Eltern – unmerklich mehr als gezielt – eine bäuerliche Identität an, indem man mir etwa beibrachte, danach gefragt, mich als „Erbhofbauer Fritz Sack“ vorzustellen. Ich selbst entwickelte auch Affinität und Spaß an der (mithelfenden) Tätigkeit auf dem Bauernhof. Bis auf den heutigen Tag erfüllt es mich mit Stolz, dass ich die letzte Getreideernte auf unserem Bauernhof im Sommer 1944, zusammen mit einem langjährigen Arbeiter des Hofes, mit einbringen half – als „Gehilfe“ bei der Bedienung des Selbstbinders, mit dem das Getreide vom Halm geholt wurde. Diese Sommerferien waren fast die letzte reguläre Episode meiner gymnasialen Schulzeit in Pyritz und Pommern. Im Sommer 1944 war das Kriegsgeschehen und der Frontverlauf schon dicht an die deutschen Grenzen herangerückt. Kriegswirtschaft begann, den Alltag zu erreichen. Das Gebäude unserer Pyritzer Schule wurde in ein Lazarett verwandelt, was den Unterricht unmöglich machte. Im wöchentlichen bzw. vierzehntätigen Rhythmus mussten wir zum Empfang bzw. zur Ablieferung von Hausarbeiten die Schule aufsuchen. Unmittelbare Kriegshandlungen erreichten uns allmählich in Form meist nächtlicher Luftangriffe durch russische Kampfmaschinen, durch stationierte deutsche Soldaten, denen Quartier und Versorgung zu gewähren war, durch das Aufgebot des sog. Volkssturms, dem auch mein Vater vorübergehend zum Opfer fiel, bevor reguläre deutsche Soldaten sie „entwaffneten“ und nach Hause schickten. Auch die Mobilisierung und die „freiwillige“ Bildung einer HJ-Division, zu der sich auch einige ältere Klassenkameraden meldeten – einige von ihnen erlitten schwere Verwundungen und bezahlten den Einsatz mit ihrem Leben.
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Das Ende des Krieges und die Flucht aus der Heimat
Unaufhaltsam näherten sich die russischen Soldaten auch unserer Gegend. Die Oder war zwar noch eine natürliche Barriere, die aber den Vormarsch der russi-
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schen Armee nur noch Tage oder wenige Wochen aufzuhalten vermochte. Auf den Tag der Flucht vor den russischen Truppen bereiteten sich Eltern, Verwandte, die meisten der Arbeiter, einschließlich der „Fremdarbeiter“ aus Polen und Russland, sowie die Bewohner des Dorfes durch Herrichtung und Beladen der Fuhrwerke vor – niemand durfte bei drastischen Strafandrohungen ohne amtliche Anordnung die Flucht antreten. In der Scheune standen die Wagen abfuhrbereit – beladen mit Vorräten zum Essen und Kleidung und Wäsche etc. gegen Kälte und Wetter, mit Teppichen als notdürftigem Dach8. Der Tag des „(an-)geordneten“ Verlassens des Dorfes erreichte seine Bewohner am 3. März 1945 – am Abend zuvor war der „Treckbefehl“ mit dem Ziel „Lüneburger Heide“ ergangen. Damit begann eine Phase im Leben der Familie und in meinem Leben, die sich als Odyssee einerseits, als schmerzhafter Prozess eines sozialen Absturzes der Familie, insbesondere meiner Eltern, bezeichnen lässt. Das Schicksal, das wir seit dem Herbst 1944 an den vielen Trecks und Flüchtlingen aus den weiter östlich gelegenen Teilen Deutschlands beobachten konnten, hatte nun auch uns erfasst: Überleben in einer Welt, die von Tag zu Tag unsicherer und gefährlicher wurde, vorbei an zerschossenen Trecks und verzweifelten, herumirrenden Menschen, täglich bedroht von der längst erreichten Luftherrschaft der deutschen Kriegsgegner, deren Tiefflieger zum Teil regelrecht Jagd machten auf die Trecks und Fahrzeuge auf den Straßen, auf der täglichen Suche nach einem Dach über dem Kopf, nach Unterkunft für fünf Pferde und einem Dutzend Personen der Familie, von Verwandten und Arbeitern. Ein nie mehr vergessenes Bild und ein unauslöschlicher Moment in meinem noch jungen Leben verbindet sich mit einem nächtlichen Blick von der Autobahn des hohen westlichen Oderufers auf die nieder gelegenen Gebiete östlich der Oder, denen wir durch einen eintägigen Gewaltmarsch gerade entronnen waren. Der Horizont war erleuchtet von brennenden Dörfern und entferntem Kriegsgeräusch. Der Flüchtlingstreck verharrte eine Weile zur Schonung von Pferd und Mensch. Nie vorher und nie wieder habe ich meine Eltern in ähnlicher Verzweiflung und Verstörung erlebt – es war der Moment, in dem sie – beide noch im vierten Jahrzehnt ihres Lebens – nicht nur buchstäblich den Boden unter ihren Füßen verloren. Nach zehn bis zwölf Tagen gelangten wir in Tagesmärschen von Dämmerung zu Dämmerung in die mecklenburgischen Kleinstadt Plau am See, die für meine Eltern zu einer Art „zweiten Heimat“ werden sollte. Diverse Umstände führten dazu, dass wir unser eigentliches Treckziel, die Lüneburger Heide, nicht erreichten – u.a. deshalb nicht, weil die Eltern sich in Angesicht des baldigen 8
Wertvolles Geschirr und Bestecke etc. hatten die Eltern in einer großen Holzkiste unter Geräten in einem Schuppen vergraben – als wir es Wochen später wieder bergen wollten, war es nicht mehr vorhanden.
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Kriegsendes von dem Argument haben betören lassen, dass der Weg zurück in die Heimat um so länger sei, je weiter man gen Westen zog. Das Städtchen Plau erwies sich als „verhängnisvoll“ und „trügerisch“, wie meine Eltern den Rest ihres Lebens klagten, weil es eine kurzfristige Sicherheit zu Lasten der weiteren Zukunft von Eltern und Familie eintauschte. In dieser kurzen Periode äußerlicher Normalität, während der mein Vater mit diversen Transportdienstleistungen die finanzielle Seite der Familie sichern konnte, kehrte für mich auch vorübergehend schulische Routine durch den Besuch der dortigen Mittelschule ein und der Familie bescherte sie Anflüge eines Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit.
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Der endgültige Verlust der sozialen Existenz: die Erfahrung der „Vertreibung“
Allerdings: das Ende des Krieges war für die Eltern und die Familie der Beginn einer mehrmonatigen Irrfahrt, die sich als eine Abfolge falscher, kopfloser und riskanter Entscheidungen erwies. Die „Autorität“ eines zufällig deutsch sprechenden russischen Offiziers reichte aus, um eine folgenreiche existentielle Fehlentscheidung zu treffen: in den ersten Maitagen 1945 brachen meine Eltern mit zum Teil inzwischen fremden Pferden – die eigenen waren von den russischen Truppen „requiriert“ und durch ausgemergelte andere ersetzt worden – auf zur Rückkehr in unser Dorf jenseits der Oder. Es war eine gefahrvolle und völlig unbedachte Situation: während wir mit Pferd und Wagen wieder ostwärts durch einen von fremden Soldaten besetzten Teil Deutschlands strebten, dessen politische, staatliche und gesellschaftliche Institutionen weitgehend zerstört waren, bewegten sich endlose Ströme russischer Soldaten – auf motorisierten oder von Pferden gezogenen Gefährten uns entgegen. Auf letzteren saßen seine Soldaten zum Teil auf Klubsesseln und Wohnstühlen. Die Tage waren bestimmt vom nackten Überleben, der Suche nach Nahrung und dem Ausweichen vor feindlichen Soldaten, die mehrmals unsere Wagen anhielten, nach Uhren fahndeten, wobei mir eine bedrohliche Situation nie mehr aus dem Gedächtnis ging: als ein betrunkener Russe damit drohte, mich zu erschießen, wenn wir ihm nicht eine Uhr beschaffen würden – er schoss auch, allerdings über meinen Kopf hinweg durch das „Dach“ unseres Wagens, auf dem ich in der ersten Reihe neben dem Kutscher saß – noch Minuten danach war ich mir nicht sicher, ob ich unverletzt geblieben war. Die Nächte verbrachten wir zum Teil fernab von Dörfern und Gehöften und im Schutz von Wäldern und natürlichen Sichtbarrieren.
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Wir erreichten auf diese Weise nach mehreren Tagen die Oder, die wir zwei Monate zuvor in die andere Richtung überquert hatten. Unter großer Anspannung bangten wir dem Augenblick entgegen, der uns sagen sollte, was an Gerüchten zutraf, dass von unserem Haus und Hof nicht mehr vieles unversehrt geblieben wäre. Je näher wir uns Neumark näherten, desto definitiver wurde die Gewissheit, dass wir unseren Bauernhof nicht mehr in Besitz nehmen konnten: das über hundertjährige Wohnhaus war bis auf die Grundmauern abgebrannt, ebenso der sich anschließende Pferde- und Großviehstall; lediglich ein großer Stall war verschont geblieben. Meine Eltern waren sehr niedergeschlagen, für einige Zeit gelähmt und unfähig zu weiterem Handeln. So habe ich mich mit dem anderen Bauern auf den Weg zu einer Art polnischen Bürgermeisterei begeben, um unsere Ankunft zu melden und eine Unterkunft zu erbitten. Der Empfang durch die dortigen Amtsträger war kühl und unwillig, vor allem bestimmt von der Kontrolle mittels einer Einwohnerliste, ob wir rechtmäßige Dorfbewohner waren, und, folgenreicher, welchen „Leumund“ wir in Bezug auf die Behandlung von früheren polnischen „Fremdarbeitern“ hätten. Für etwa zwei bis drei Monate bezogen wir einige Räume ganz in der Nähe sowohl der polnischen wie der russischen „Besatzung“, was uns wegen der schon damals offensichtlichen Rivalität zwischen beiden Gruppen eine gewisse Sicherheit bot. Während dieser Zeit versuchten die wenigen „Rückkehrer“ – es waren wohl keine 10 % der Dorfbewohner, nachdem bald nach uns der Weg ostwärts über die Oder für Deutsche gesperrt war -, „Normalität“ zu etablieren, die verzögerte Frühjahrsbestellung zu besorgen, das tägliche (Über-)leben – ohne Elektrizität und sonstige „Infrastruktur“ – zu organisieren. Dieser Prozess wurde jäh unterbrochen, als ein deutscher Junge aus dem Dorf meinen Vater, mich und zwei andere Helfer, die wir gerade an einem heißen Sommervormittag dabei waren, die erste Frühjahrsheumahd unserer Wiesen einzubringen, aufgeregt und unter Tränen darüber informierte, dass wir das Dorf binnen einer halben Stunde zu verlassen und uns auf dem Marktplatz zu versammeln hätten. Ich selbst ritt schnell auf einem unserer Pferde zurück ins Dorf, ohne an mein Ziel zu gelangen: ein Pole trennte mich etwas unsanft und gegen meinen anfänglichen Widerstand von unserem Pferd. Am Hause angekommen, fand ich dieses bereits – durch vernagelte Türen – als unbetretbar vor, wodurch mir auch verwehrt war, mir noch festes Schuhwerk zu besorgen (die Feldarbeit verrichtete ich damals barfuß). Meine Mutter, der der Ausweisungsbefehl im Hause erreichte, hatte geistesgegenwärtig eine Reihe von noch unausgepackten Kartons und Koffern von der ersten Flucht aus dem Fenster geworfen, um auf diese Weise noch einige der Sachen zu „retten“. Die Nutzung von Transportmitteln – nur um Pferde und Fuhrwerke ging es – war aus-
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drücklich untersagt, lediglich was auf dem Leibe oder mit der Hand zu tragen war, durfte man mit sich führen. (Schon nach wenigen Hunderten Metern mussten sich einige der älteren Menschen ihrer Habseligkeiten entledigen und diese am Straßenrand hinter sich lassen.) Mir selbst gelang es, auf dem verlassenen Mühlengrundstück, von dem wir unser Mehl und Schrot zu beziehen pflegten, eine eiserne Schubkarre zu organisieren, die mir den weiteren „Transport“ der „überlebten“ Sachen erleichterte und die mir bis zum vorläufigen Ziel Plau über die Straßen und Wege Pommerns und Mecklenburgs hinweg willige „Fluchthilfe“ leistete – und mich noch Jahre des späteren Lebens an diesen Fußmarsch durch ein geschlagenes Land erinnerte. Dieser erste Tag unserer „Vertreibung“ – und damit endgültigem Verlust von Haus, Hof und Eigentum – wird mir zeitlebens in Erinnerung bleiben – ein heißer Tag, der uns durch etliche Dörfer und auf einem Umweg bis vor die Tore der Kreisstadt Greifenhagen (poln. Gryfino) brachte, wo wir uns für die Nacht im Straßengraben „zur Ruhe“ legten, um uns am nächsten Morgen erneut über die Oder an das „rettende Ufer“ des geschlagenen Deutschlands zu begeben – damals schon die sog. SBZ („Sowjetisch Besetzte Zone“). Unterwegs gelang mir in einem der durchwanderten Dörfer die „Beschuhung“ meiner Füße – unter einem Haufen neuer Schuhe, die nicht als Paare, sondern nur als linke oder rechte Einzelstücke herumlagen, suchte ich mir zwei möglichst gleiche Schuhe in meiner Größe aus, die mir noch Monate hindurch als einziges Schuhwerk dienen sollten…und mich oft genierten und mir bis heute eine Schuh-Sensibilität eintrugen. Die dann folgenden vierzehn Tage Fußmarsch durch ein geducktes, danieder liegendes und gedemütigtes Land mit zerfallenden Institutionen, rudimentären Versorgungsmöglichkeiten und –mitteln, denen wir durch „Bettelei“, „Selbstversorgung“ von den reifenden Früchten auf den Feldern, durch gelegentliche Versorgung aus russischen Feldküchen zu begegnen suchten, waren voller Unglück und Schmerzen. In der ersten Nacht wieder im „eigenen“ Land, erhängte sich ein alter Arbeiter unseres Hofes, der meinen damals 50-jährigen Vater bereits hat aufwachsen sehen – einen Tag später folgte ihm ein Großonkel von uns, ein Polizeioffizier aus Frankfurt am Main, der den weiteren Strapazen von Flucht und Vertreibung körperlich und mental nicht mehr gewachsen war und aus dem Wege gehen wollte. Als ich ihn im Pferdestall entdeckte, fand ich ihn noch lebend, aber ohnmächtig vor – mein Vater brachte ihn auf einem notdürftig aus Ackergeräten gebauten „Handwagen“ ohne funktionierende Lenkung in ein Krankenhaus nach Prenzlau in der Uckermark, wo er nach wenigen Tagen verstorben ist. Sein Suizid lastete als Schuld auf der Familie und wurde gegenüber seinen beiden im Westen lebenden erwachsenen Kindern als ein zu hütendes Familiengeheimnis behandelt.
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Da die Familie weder über Bluts- noch Freundesnetzwerke außerhalb Pommerns und der näheren Heimat verfügte, strebten wir als unmittelbares Fluchtziel die bereits erwähnte Stadt Plau an, in der wir die Flucht in den Westen abgebrochen und die letzten sechs Wochen bis zum Kriegsende verbracht hatten. Es folgten Monate der Ungewissheit, der Suche von Verwandten und Bekannten… Der Alltag war bestimmt von den Mühen des Überlebens, von der „Verarbeitung“ der verlorenen sozialen Existenz, dem orientierungslosen Neuanfang des Lebens etc. Das Schulleben war zunächst eingestellt und erholte sich auch nicht wieder in den Monaten, die ich noch in Plau verbringen sollte. Mich selbst ereilte noch eine lebensbedrohliche Typhuserkrankung, der viele Menschen in jener Zeit zum Opfer fielen. Meine Regeneration nach einem mehrwöchigen Hospitalaufenthalt war langwierig, aber erfolgreich. Der anfänglich als vorübergehendes Provisorium betrachtete Aufenthalt in Plau sah uns eher in der Rolle als Fremde, die auf dem Sprung in eine andere Wirklichkeit und Region waren. Beruflich entwurzelt, sozial entblößt und abgestiegen, „heimatlos“ geworden – das war die Situation, in der sich meine Eltern befanden. Als damals Fünfzigjähriger hat mein Vater seine Existenz als selbständiger und stolzer pommerscher Bauer gegen eine Abfolge kurzfristiger ungelernter Gelegenheitsarbeiten eintauschen müssen – als Nachtwächter, Fabrikarbeiter, Gärtnergehilfe – immer auf dem Sprung fort aus den gerade gegebenen Umständen, dadurch Gelegenheiten verpassend, die wenigstens vorübergehend Stabilität und Orientierung vermittelt hätten, für etliche Jahre eine Art „Spätsiedler“ aus der „Konkursmasse“ eines russisch bewirtschafteten Landguts, das er mit einem Ochsen über mehrere Kilometer Entfernung zu bewirtschaften hatte. Etliche Versuche eines bäuerlichen Neuanfangs in den westlichen Besatzungszonen scheiterten an passenden Gelegenheiten oder mangelnder Risikobereitschaft. So wurde aus der Rolle des Fremden die des Bleibenden – und des Arrangements und Sich-Einrichtens in einer politisch fremden und abgelehnten Welt: ein Leben auf der „Hinterbühne“ des Offiziellen – mit einem allmählichen Erwerb all jener „zivilisatorischen“ Gegenstände des täglichen Gebrauchs, derer es bedurfte, um die elementaren Bedürfnisse des Essens, des Schlafens und des Arbeitens zu erfüllen: und das auf niedrigem Niveau. Über Jahre hinweg unterstützte ich meine Eltern finanziell – auf damals üblichen Weg der – illegalen und gefährlichen – Ausnutzung des West-Ost-Währungsgefälles zwischen der DDR und der BRD. Dass meine Mutter dadurch zur „Heldin“ der Familie wurde, bedarf kaum der Erwähnung.
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Neuanfang im „Westen“ Mein eigenes Schicksal und weiterer Gang in die Erwachsenenwelt sollte einen anderen Verlauf nehmen. Vorübergehende Pläne des Ergreifens eines handwerklichen Berufes – meine Eltern erwogen für mich eine Ausbildung als Bäcker – waren von unmittelbarer Sorge ums tägliche Brot diktiert, erledigten sich jedoch durch eine Wendung meines Lebens, die für mehr als ein halbes Jahrzehnt prägend werden sollte. Nachdem wir im Herbst nach Kriegsende den Kontakt zu meinen Pyritzer „Schuleltern“, deren Flucht sie über Naumburg/Saale nach Bordesholm, zwischen Kiel und Neumünster gelegen, verschlagen hatte, wieder gefunden hatten, schlugen sie mir und meinen Eltern vor, dass ich zu ihnen übersiedeln und den Oberschulbesuch dort fortsetzen sollte. Da meine Eltern ohnehin keine Zukunft für sich im „kommunistischen“ Deutschland sahen und der festen Absicht waren, in die westlichen Zonen zu gehen, kam ihnen der Vorschlag, dass ich nach Schleswig-Holstein wechselte, was damals noch problemlos möglich war, sehr gelegen. So geschah es, dass meine Mutter mich und meine Schwester gleich nach Weihnachten 1945 in den „Westen“ begleitete. Zwar hielt es meine Schwester nur einige Wochen in Bordesholm, aber ich verbrachte mein weiteres Leben im westlichen Teil Deutschlands. Dieses verlief indessen keineswegs geradlinig – war holperig, zum Teil ein Vor und Zurück, was die weitere Schulzeit betraf und was die ersten Jahre danach anging. Überhaupt begann ein regelmäßiger Schulbesuch erst jetzt wieder – nach fast einem Jahr Unterbrechung. Zunächst besuchte ich im nahen Neumünster die dortige Holstenschule und schaffte mit etwas Mühe die Versetzung in die „Obertertia“, die 5. Klasse der Oberschule. Einem, der Notsituation als „Flüchtling“ geschuldeten Sinneswandel meines Onkels folgend, wechselte ich kurzfristig auf die Mittelschule nach Bordesholm, um den Weg in einen „Brotberuf“ zu verkürzen. Schon während der Sommerferien führte ein neuerlicher Sinneswandel meines Onkels zur Rückkehr auf die Oberschule, diesmal nicht in Neumünster, sondern in Kiel an die dortige Max-Planck-Schule, Oberschule für Jungen am Königsweg, die ich als Fahrschüler von Bordesholm aus bis zu meinem Abitur im Jahre 1951 ohne Unterbrechung besuchte. Aus der geplanten Übersiedlung meiner Eltern in die westlichen Teile Deutschlands wurde nichts, so dass ich von den Eltern und der Familie vom 15. Lebensjahr an weitgehend getrennt aufwuchs, nachdem die Jahre davor ja auch schon einen nur sehr beschränkten Kontakt zur Familie ermöglichten. Durch die allmähliche Verfestigung der Trennung beider Teile Deutschlands waren die Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten der Eltern für mich sehr rar und beschwerlich – mehr als einmal jährlich, in der Regel zu Weihnachten, sahen wir uns nicht. Dabei waren die Verkehrsverhältnisse noch sehr umständlich und zeitrau-
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bend – für eine Strecke, die sich heute per PKW in etwas mehr als zwei Stunden bewältigen lässt, brauchte ich jahrelang bis zu zwei Tage. Meine weitere Schulzeit fand unter der Regie und dem Regime des kinderlosen Ehepaars statt, das mich bereits in den ersten vier Oberschuljahren in ihrer Obhut hatten. Mit zunehmendem Alter und wachsendem pubertärem „Freiheitswillen“ habe ich die letzten Jahre meiner Schulzeit in Anlehnung an Fritz Reuter als „mine Festungstid“ erlebt und bezeichnet. Die Schule war für mich nichts als ein Raum des Lernens und der Disziplin. Einzig meine Existenz als Fahrschüler, der über einige Jahre hinweg einen Weg zur oder von der Schule oft nur als „Anhalter“ bewältigen konnte, um nicht mehrere „tote“ Stunden am Tage in der unwirtlichen und kriegszerstörten Stadt Kiel verbringen zu müssen, schaffte einen gewissen Freiraum, der der „Kontrolle“ durch meine „Vertretungseltern“ entzogen war. So lief das informelle und außerschulische Klassenleben weitgehend an mir vorbei, von Freizeit- und Abendaktivitäten war ich praktisch ausgeschlossen. „Ausschluss“ – das war auch eine Erfahrung, die mit dem Status eines „Flüchtlings“ im „Westen“ zusammenhing. Dieser äußerte sich in praktischen Dingen des Alltags, angefangen bei dem Problem des Wohnens, dessen Zwangsbewirtschaftung vielfach auf dem Rücken der Flüchtlinge und „Eingewiesenen“ ausgetragen wurde, bis hin zu den „Netzwerk“ abhängigen Praktiken der Versorgung mit und Beschaffung von den alltäglichen Gütern des Lebens, in einer Welt, deren „Währung“ zunehmend vom Geld auf Naturaltausch und soziale Beziehungen umgestellt wurde. Ähren auf abgeernteten Feldern sammeln, von der Maschine nicht oder nicht voll erfasste Kartoffeln suchen, Bruchholz aus dem Wald zusammen tragen – das waren Gelegenheiten und Situationen, Flüchtlinge, nicht: Einheimische zu treffen, auch mit ihnen um die liegen gebliebenen „Brosamen“ zu wetteifern. In den Ferien sich in den umliegenden Dörfern bei den Bauern zu verdingen, dafür am Abend mit deftigen Bratkartoffeln und einem Stück Fleisch „entlohnt“ zu werden – das war in einem eine dankbar erlebte Abwechslung des kargen alltäglichen Speiseplans und gleichzeitig eine – zwar situativ verdrängte – Demütigung vor dem Hintergrund meiner Herkunft und meines früheren Lebens.
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Wege und Umwege in die Welt des Berufs und der Akademie
6.1 Der erste Schritt in die Welt des Berufs und aus der Enge der „Familie“ Meinem Abiturzeugnis im Jahre 1951 ließen sich ebenso wenig berufliche Richtungen und Fingerzeige entnehmen wie spezifische Neigungen und Begabungen. Einem Studium, dem sich zehn von zwölf Klassenkameraden – Jura, Gymnasiallehrer, Medizin waren die Fächer – unmittelbar nach dem Abitur zuwandten, standen finanzielle Hürden sowie mein Bedürfnis nach Selbstständigkeit bzw. Verlassen meiner „Schuleltern“ im Wege. Ich strebte zunächst meine individuelle „Freiheit“ an. Dazu musste ich auf „eigenen Beinen“ stehen, wofür ich keinen anderen Weg sah als den des Sprungs ins Wasser des Berufslebens. Obwohl ich später die temporäre Existenz als Werkstudent zur „Hebung des Lebensstandards“ schätzen lernte, fehlten mir – mangels jeglicher elterlicher finanzieller Unterstützung – Fantasie und Risiko zu einem komplett auf Eigenleistung gegründeten Studium. Stattdessen ging ich auf die Suche nach einer beruflichen Ausbildung, die nach Möglichkeit mit einer Unterkunftsmöglichkeit verbunden war. Erst der zweite Anlauf gelang: eine kaufmännische Spur, meine erste Wahl, wurde es nicht, wohl aber eine staatliche: ich ergatterte in Kiel – dank wohl auch eines gewissen Vorwissens im Steuerberater-Büro meines Onkels – einen dreijährigen Ausbildungsplatz zum Finanz/Steuerinspektor, der mir eine zwar bescheidene, aber unabhängige Existenz ermöglichte: mit einem – damals „fürstlichen“ – „Unterhaltszuschuss“ von monatlich DM 125,- konnte ich 75 DM für eine Unterkunft mit Vollpension im Dreibettzimmer eines christlichen Hospiz aufbringen. Der Rest musste für den Rest der alltäglichen und sonstigen Bedürfnisse reichen. Die Ausbildung selbst verlief glatt und ohne Zwischenfälle bis zum planmäßigen und erfolgreichen Ende im Jahre 1954. Aber unterwegs keimte bereits der „Drang“ heraus aus der sich anbahnenden Enge einer bedrohlich frühen Beamtenexistenz auf „mittlerem gehobenen“ Niveau in einer der zahlreichen kleinstädtischen Finanzämter Schleswig-Holsteins. „Das kann es nicht gewesen sein…“, wie später meine „Rationalisierung“ des beginnenden Verlassens der eingeschlagenen Spur lautete. Dieser Schritt fiel mir umso leichter, als ich zwischen Ende meiner Ausbildung und der Entlassung aus dem „Staatsdienst“ als erste Station als Finanzinspektor im Status eines „Beamten auf Widerruf“ an das Finanzamt der Stadt Oldenburg in Schleswig-Holstein versetzt wurde – dort als Aktenbearbeiter in einer Lastenausgleichsabteilung Dienst zu tun hatte. Es war
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eine Erfahrung kleinstädtischer Langeweile und beruflicher Gleichförmigkeit, der ich nur durch fast tägliche Kneipenbesuche zu begegnen wusste.
6.2 Mein Aufbruch in die Welt der Universität: erste Zwänge und Umstände Erleichtert und begünstigt wurde dieser Ausstieg aus dem ersten Berufseinstieg durch eine Entwicklung in der hohen Politik, die die finanziellen Rahmenbedingungen eines Studiums für mich entscheidend verbesserte. Im Jahre 1952 war das so genannte Lastenausgleichsgesetz in Kraft getreten, das Kriegs- und Vertreibungsschäden mildern sollte. Meine Eltern waren wegen ihres Verbleibens in der damals schon bestehenden DDR für den verlorenen Bauernhof nicht anspruchsberechtigt, was ihnen zeitlebens nachhing – für die nicht häufige Situation der Trennung der Kinder von den Eltern in beiden Teilen Deutschlands sah das Gesetz allerdings die Gewährung eines Ausbildungs- bzw. Studiumsstipendiums vor, in dessen Genuss ich gelang. Allerdings hatte dies seine „Kosten“: das Gesetz knüpfte die Gewährung des Stipendiums an zwei gestaffelte Bedingungen. Es galt prinzipiell nur für die Erlangung einer ersten berufsqualifizierenden Ausbildung bzw. Studiums. Dieser Bedingung stand meine Steuerinspektorenausbildung entgegen. Allerdings gab es eine Ausnahme, wenn das Studium einer „soziologischen Logik“ folgte, nämlich dazu beitrug, eine der sozialen Herkunft äquivalente soziale bzw. berufliche Lage zu ermöglichen. Die Frage war, ob die „soziale“ Lage eines Steuerinspektors der eines Bauern entsprach. Dies wurde zwar in meinem Falle dank der Gewogenheit des zuständigen Beamten bejaht – ich entsinne mich noch heute: es war ein Vertriebener wie ich! –, aber auch das war’s noch nicht. Das „sozialadäquate“ Studium hatte eine inhaltliche „Verwandtschaft“ mit der Erstausbildung aufzuweisen. Damit aber war dem lebensweltlich näheren Wunsch eines Medizinstudiums definitiv ein Riegel vorgeschoben. Ich hatte zwei Optionen, in die Welt der Akademiker aufzurücken: aus der „Feld-Logik“ eines Staatsbeamten im Steuerbereich, nach N. Elias und der modernen Staatstheorie – neben dem staatlichen Gewaltmonopol – Signum und zweite Säule moderner Staatlichkeit, war es zum einen – und am nächsten liegend – die Rechtswissenschaft; zum anderen – und damals, in der BRD von Ludwig Erhard und der „sozialen Marktwirtschaft“ schon auf dem Weg zur gesellschaftlichen Hegemonie – die Ökonomie: Absolventen dieser Disziplin machten als „Quereinsteiger“ im Rahmen steuerlicher Betriebsprüfung und Steuerbetrugsfahndung bereits Karriere innerhalb der staatlichen Finanzverwaltung. Die zunehmende ökonomische Bedeutung war mir während einer Woche Ausbildungseinsatz in der Steuerfahndung bei den stolzen Fehmarner Bauern sehr nachhaltig zu Ge-
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sicht gekommen: es ging um die Aufdeckung der Lieferung von Gerste an Brauerein zu „Knappheitspreisen“, die erheblich über deren gesetzlicher Höhe lagen. Damals lernte ich erstmalig Situationen des hoheitlichen Eindringens in die intime Privatsphäre und die damit verbundenen Verletzungen der davon Betroffenen kennen. Aus Gründen, deren genauen Hintergrund ich nicht mehr recht zu rekonstruieren vermag, die aus meiner heutigen Sicht im Wesentlichen einer eher „assoziativen“ als „logischen“ Kompetenz und Vorliebe, in inzwischen gängiger Terminologie: eher der konstruktivistischen „Hermeneutik“ als dem „abbildenden Objektivismus“ geschuldet ist, fiel meine Wahl nicht auf die Juristerei. Mit ihr habe ich mich in meinem späteren wissenschaftlichen Arbeiten mehr gerieben als versöhnt, insbesondere nachdem ich mich aufs Terrain der Kriminal- und Rechtssoziologie begeben hatte – und dort hautnah erfahren habe, wie wenig das Recht, das Strafrecht in Sonderheit mit strukturellen Thesen und Zusammenhängen soziologischer Provenienz anzufangen wusste9. Ich entschied mich also für die Ökonomie als Studienfach und begann damit im Sommersemester 1954 – noch während ich dabei war, meinen Ausflug in die staatliche Steuereintreiberei hinter mich zu bringen. Er endete formell im Oktober desselben Jahres – mit einer offiziellen Entlassungsurkunde aus dem Status eines „außerplanmäßigen Steuerinspektors“ des Landes Schleswig-Holstein, und er endete mit der nicht wahr gemachten schriftlichen Ankündigung, die für meine Ausbildung aufgewendeten Kosten zurückfordern zu wollen. Ausgestattet mit einem monatlichen Stipendium in Höhe von DM 175, – machte ich mich auf den Weg in und durch die Universität. Ich betrat die Welt der Universität in der Stadt, in der ich meine Schule beendet und meinen ersten Schritt in die Erwachsenenwelt getan hatte: an der Christian-AlbrechtUniversität in Kiel. Allerdings hielt es mich dort lediglich die ersten drei Semester, aber auch die hatten es in sich. Ältere „Semester“ werden sich erinnern, dass von Kiel aus eine Art Revolution der wissenschaftlichen Ökonomie ausging: dort lehrte der legendäre und international renommierte Schumpeter-Schüler Erich Schneider, dessen Lehrbücher für Generationen von Studenten zum geradezu biblischen Kanon von Unterricht und Studium gehörten. Schneider beendete für die deutsche Ökonomie die Vorherrschaft ihrer historischen und geisteswissenschaftlichen Tradition und stellte ihr ihre ökonomische, ökonometrische und mathematische Modellanalyse an die Seite. Schneider war ein gestrenger und gefürchteter „Ordinarius“ alten Typs, der mit seinen Studenten umging, wie er es als Gymnasiallehrer, der er einige Jahre war, gewohnt war. Ich erinnere mich noch eines Seminars, als er auch mich an die Tafel zitierte, um eine seiner ma9 Dass daraus dennoch etliche kooperative Publikationen mit dem Strafjuristen-Kollegen Klaus Lüderssen erwuchsen, sei nicht unterschlagen (Lüderssen/Sack 1975 ff.)
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thematischen Modelle zu reproduzieren – das tat er autoritär und charismatisch zugleich, dem man sich nicht zu entziehen traute. Von Soziologie erfuhr man bei ihm nur wenig – das war für jemand, der seine akademischen Meriten zunächst in der Physik und Mathematik erworben hatte, nicht nur eine terra incognita, sondern auch ein „toxisches“ Gelände. Wir Studenten kriegten dies auf den Gängen der Universität und in einer parallelen wissenschaftlichen „Gegenwelt“ mit. Mehr noch: in Gerhard Mackenroth, dem 1955 plötzlich verstorbenen Inhaber eines „Ordinariats für Soziologie, Sozialwissenschaft und Statistik“10, akademischer Lehrer von Karl-Martin Bolte, lehrte an der Kieler Universität ein Antipode von Schneider, der sich dessen durchaus grenzüberschreitenden Ansprüchen auf gesellschaftliche Analyse widersetzte – und dies aus einem soziologischen Verständnis heraus, das – dem entfernten Mackenroth-Schüler Josef Schmid zufolge11 – von der „verstehenden Soziologie im Sinne von Dilthey, Max Weber, Werner Sombart und Alfred Schütz“ geprägt war. Dieser inhaltliche Konflikt war mir natürlich noch nicht in der erst später erfahrenen epistemologischen und methodologischen Rhetorik und Brisanz verfügbar – die legendäre Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Soziologischen Gesellschaft, die als Ausgangspunkt des „Positivismusstreits“ in die Literatur einging, fand erst sechs Jahre nach Mackenroths Tod, im Oktober 1961, statt. Wir Studenten erlebten den Konflikt vielmehr als persönliche Differenz und Animosität zwischen zwei unserer akademischen Lehrer. Überhaupt war der machtbewusste Schneider so etwas wie ein Kristallisationspunkt gruppendynamischer Vorgänge und Konflikte in Fakultät und Universität. Der Weg in die Soziologie vollzog sich indessen in Kiel noch keineswegs. Meine erhaltenen Studiendokumente aus jener Zeit – es war noch die Zeit, als man als Student sich für die einzelnen Lehrveranstaltungen „einzuschreiben“ und „Testate“ am Semesterende einzusammeln hatte und die Lehrenden eine Art Kopfgeld pro Hörer kassierten – verweisen schwerpunktmäßig auf ökonomische Vorlesungen und Seminare. In Kiel – dies auch die Handschrift von Erich Schneider – gab es, anders als damals schon an anderen Universitäten, keine disziplinäre Trennung von Volks- und Betriebswirtschaft (von VWL und BWL), was übrigens einer der Gründe war, mein Studium nach drei Semestern an der Kölner Universität fortzusetzen, wovon gleich noch die Rede sein wird.
10 Soziologiegeschichtlich und wissenschaftspolitisch bemerkenswert verdient der Hinweis Erwähnung, dass Mackenroth von 1934 bis 1939 an der Kieler Universität eine a.o-Professur für „Wirtschaftswissenschaft und Statistik“ innehatte – ohne die „Krisenwissenschaft“ Soziologie, die erst nach dem Kriege seine Lehrstuhlbezeichnung ergänzte. 11 http://prof-josef-schmid.de/de/mackenroth-archiv.html
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6.3 Mein Umweg in die Soziologie – existentielle Hintergründe und „Investitionen“ Von mir besuchte nicht-ökonomische Vorlesungen und Seminare in diesen ersten drei Semestern waren juristischer und zeithistorischer bzw. politologischer Art – letztere bei dem faszinierend und mit Sinn für Polemik lehrenden Michael Freund. Gleich drei von insgesamt 14 Veranstaltungen, die ich in meinem dritten und letzten Kieler Semester besuchte, waren politologische Vorlesungen von Freund – die im Studienbuch verzeichneten Titel verweisen auf ein bis heute anhaltendes wissenschaftliches und außerwissenschaftliches Interesse meiner Arbeit: neben der „Einführung in die Politik“ waren es die beiden anderen einstündigen Vorlesungen von Freund, die mich inhaltlich am meisten beschäftigten und berührten: „Sozialismus, Marxismus, Leninismus“ die eine Thematik, „Kampf zwischen Demokratie und Diktatur“ die andere: in meiner Teilnahme an diesen Vorlesungen manifestierte sich mein Bedürfnis nach Diskussion und Auseinandersetzung mit lebensweltlichen, ja: existentiellen Erfahrungen in und mit drei staatlichen Regimen: der Nazizeit, der BRD und der DDR, die ich alle aufgrund der biographischen und familiären Umstände aus unmittelbarem Erleben kannte. Die Kanalisierung dieses existentiell motivierten Interesses in soziologische Richtung kriegte einen weiteren Schub durch die „Begegnung“ mit einem der prägenden Figuren der deutschen „Wiedergeburt“ der Soziologie nach dem Kriege. Aus dem tragischen Tod des erwähnten Mackenroth im März 1955 – unmittelbar vor Beginn meines letzten Kieler Semesters – resultierte eine Vertretung durch den damals an der Hamburger Universität lehrenden Helmut Schelsky: und seine Vorlesung war gleichsam das soziologische Korreferat zu den Vorlesungen Michael Freunds. Schelsky war ebenfalls ein eindrucksvoller und konzentrierter Redner und souveräner Rhetoriker – er hatte eine Gewohnheit, die uns Studenten gleichermaßen verschüchterte wie disziplinierte: er erschien pünktlich auf die Minute zu seinen Vorlesungen. Seine Zuhörer hielt er zur gleichen Pünktlichkeit dadurch an, dass er die Hörsaaltür bei seinem Erscheinen verschließen ließ, um sein „Kolleg“ nach zehn Minuten für die verspäteten Hörer noch einmal zu öffnen. (Wie wenig ich damals erst „Soziologe“ war, habe ich aus Anlass dieses Textes beim Blättern in meinem alten Studienbuch an einer fast peinlichen Kleinigkeit realisiert: in meiner handschriftlichen Eintragung der besuchten Vorlesung ist der Name Schelsky mit einem „T“ vorweg geschrieben: „Tschelsky“.)
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6.4 Eintritt und „Sozialisation“ in die „Soziologie und nichts als Soziologie“. Den Schritt in die Soziologie tat ich erst nach Verlassen der Kieler Universität und der Fortsetzung des Studiums an der Kölner Universität, die die eigentliche Prägungsphase meiner wissenschaftlichen Identität werden sollte. Der Gang zur Albertus-Magnus-Universität in Köln war für mich mehr als ein Universitätswechsel. Er war für mich in seiner Totalität, Konsequenz und Intensität der erzwungenen Zäsur durch Krieg und Kriegsfolgen vergleichbar. Die äußere Begründung für diesen Universitätswechsel war der Ruf, den die Kölner Betriebswirtschaft damals bundesweit genoss – mit Prof. Erich Gutenberg, der ähnlich wie Schneider für die VWL als Begründer der modernen BWL in Deutschland gilt, als Nachfolger des ebenso berühmten Eugen Schmalenbach aus der Vorgängergeneration an der Spitze einer Reihe herausragender Wissenschaftler an der Kölner Universität. Den Weg des betriebswirtschaftlichen Studiums habe ich bis zum Erwerb des Zertifikats eines Diplom-Kaufmanns zum Ende gebracht – mit einer Diplomarbeit zur Steuerpolitik in beiden deutschen Staaten, betreut vom Hauptassistenten – und späteren Schwiegersohn – Gutenbergs, Prof. Horst Albach, der seinem Schwiegervater im Erwerb akademischer und wissenschaftlicher Meriten in nichts nachstand. Die Soziologie stand keineswegs vom Kölner Beginn an auf meinem Semesterplan: es sind ausschließlich wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Vorlesungen und Seminare, die mein Studienbuch als besuchte Lehrveranstaltungen des ersten dortigen Semesters ausweist. Dies änderte sich erst mit dem zweiten Kölner Semester: ich hatte das Glück, noch den damaligen Nestor der Kölner Soziologie, Leopold von Wiese, damals bereits achtzigjährig, zu „hören“, daneben aber schon an René Königs berühmter vierstündigen Vorlesung zur „Strukturanalyse der Gesellschaft“ teilzunehmen. Ab dann aber reißt die Liste soziologischer Kollegs in meinen Dokumenten nicht mehr ab: ich hatte Soziologie zu einem meiner „Nebenfächer“ für das wirtschaftswissenschaftliche Studium gewählt – als eigenständiger Diplomstudiengang existierte die Soziologie damals noch nicht, sondern die Soziologie konnte in gewissen Grenzen eine besondere Gewichtung innerhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Rahmens erhalten. Was aber brachte mich zur Soziologie? Es war sowohl ein „push“ wie ein „pull“. Um mit ersterem zu beginnen: Köln war zu jener Zeit eine der ersten „Massenuniversitäten“ – mit Hunderten von Hörern in den Vorlesungen, besonders in den Massenfächern der Ökonomie und des Rechts, und einer kaum überbrückbaren Distanz zwischen Studenten und Dozenten. Abzuwickelnde Kontakte über Prüfungsvorgänge etc. geschahen auf der Ebene der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Assistenten – einige meiner Dozenten und Professoren kriegten
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mich erst in der Fakultätssitzung anlässlich meines Habilitationsvortrags im Jahre 1970 zu Gesicht. Diese Anonymität des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums war geradezu ein Kontrastprogramm zu meinen Kieler Erfahrungen. Sie nährten das Bedürfnis nach einer „Studiernische“ sowie – ich will es mal so nennen – einer direkten Lehrer-Schüler-Beziehung oder auch einer Flucht aus der Anonymität. Bis heute erinnere ich eine meiner ersten „Konfrontationen“ mit der Anonymität einer Massenuniversität in der großen Eingangshalle der Kölner Universität. In einem Gedränge von vorbei eilenden und hastigen Studenten, die mir alle fremd waren, kam ich mir verloren und verlassen vor, bis ich ein mir aus Kieler Schulzeiten bekanntes Gesicht entdeckte, das genauso fremd in die Gegend schaute. Es war ein etwas jüngerer Schulkamerad, der von der Frankfurter an die Kölner Universität gewechselt war und ebenfalls erste Schritte auf noch nicht vertrautem Gelände machte. Aus dieser spontanen Begegnung wuchs eine Studien- und Lebensfreundschaft, die bis zu seinem Tode vor einigen Jahren anhielt, obwohl wir uns zu Schulzeiten nur aus Pausenbegegnungen kannten. Er spielte damals in der Schulband der Kieler Max-Planck-Schule. Indessen frönte er seinen Talenten nur noch passiv durch zahlreiche Besuche zweier Kölner Jazzkeller: das „Tabu“ und das „Bohème“, wodurch sich für mich die damals noch einigermaßen fremde Welt des Jazz und seiner „Subkultur“ erschloss – keine schlechte Erfahrung für einen angehenden Soziologen, wie ich erst allmählich begriff. An diesem Kieler/Kölner Freund vollzog sich ein tragisches Schicksal mit einer absehbaren Zwangsläufigkeit, die eine „soziologische Logik“ aufwies, ohne dass man ihr als Freund in den Arm fallen konnte. Dieser bereits erwähnte Freund war ein begnadeter Pianospieler, der seiner Begabung jedoch nicht nachgehen konnte, weil sein prominenter, unternehmerisch erfolgreicher Vater ihn – als ältesten Sohn – zwecks Fortführung und Ausbau des väterlichen Geschäfts ein ökonomisches Studium auferlegte. Diesem Ansinnen gab er nach, wählte als Akt des Protests die Soziologie als Prüfungsfach, in dem er auch seine Promotion absolvierte. Als er den beruflichen Schritt in die Fußstapfen seines Vaters anzutreten gezwungen war, „bewältigte“ er diese „Rolle“ nur mit Hilfe von Alkohol und Tabletten, die ihn an den Rand seines Lebens brachten. Das ihm oktroyierte Leben musste er gegen eine jahrelange Existenz im therapeutischen Milieu eintauschen. „Rollenkonflikt“ und „Rollendistanz“ und Goffman’sche Soziologie waren die Stichworte, die die uns verbindende Soziologie für sein Leben bereithielt, ohne dass unsere freundschaftliche Nähe es zuließ, dies auch so zu nennen und zu diskutieren. Soweit zum studienbezogenen „push“ zur Soziologie. Hinzu kamen ein Bruch in meiner privaten Lebensführung und ein radikaler Milieuwechsel – auch das ein zweites, vielleicht noch stärkeres Element des „push“-Faktors.
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Der Gang nach Köln war für mich die Vollendung des Abbruchs eines schon weit vorangeschrittenen Stadiums normaler Bürgerlichkeit. Ich löste mich ohne Umzuschauen aus Sozialbeziehungen beiderlei Geschlechts, sah Klassenkameraden erst nach Jahrzehnten wieder; entzog mich geographisch dem unkontrollierten Zugriff meiner Verwandten; legte mir ein verändertes Äußeres durch einen Kurzhaarschnitt und andere „Eingriffe“ in mein „presentation of self“ zu. Über den bereits erwähnten Kieler Schulkameraden gelangte ich in einen Freundeskreis von Architekten und Künstlern, deren ästhetisierender und tabufreier Lebensstil und deren lockere Lebens- und Beziehungsmuster fernab meiner bisherigen Erfahrungen und Erlebnisse – und natürlich: Herkunft – lagen. Ich erfuhr das Nebeneinander zweier völlig konträrer Welten und Lebenshorizonte: Konventionalität im Verhalten unter Studenten, man siezte sich noch; Prüderie der Zimmervermieter, die, wie sie zu sagen pflegten, „Damenbesuch“ wenn überhaupt, nur bei Tageslicht duldeten; Heterosexualität als die Musternorm der Beziehung zwischen Mann und Frau – das war die eine Seite. Entgrenzungen und ein exzessives Leben jedweder Art außerhalb der Universität war die andere. Die damals so begründeten sozialen Beziehungen waren die dauerhafteren und stabileren Kontakte auch in der weiteren Zukunft. Dieser Bruch im Lebensstil und in der Art meiner Umwelt und sozialen Kontakte hatte nur wenig Affinität und „Verwandtschaft“ mit dem ökonomischen „Feld“ im Sinne P. Bourdieus – akademisch nicht, und auch nicht beruflich, die Welt von Steuern und Finanzen eingeschlossen. Folglich erlebte ich es als einen „push“ aus eben dieser Welt, die mich bis dahin geprägt hatte. Worin aber bestand der „pull“, der „Sog“, als den ich die Kölner Soziologie erlebte? Da kamen personelle, inhaltliche und institutionelle Aspekte zusammen. In erster personeller Hinsicht war es natürlich die eindrucksvolle, „charismatische“, souveräne, kosmopolitische und bis ans Anarchische grenzende unkonventionelle Figur und Person von René König. Diese hier zu charakterisieren, liegt jenseits meiner Möglichkeiten – aus Gründen des Raums nicht nur, auch aus solchen der mangelnden Kraft und der Besorgnis, die dafür erforderliche Balance zwischen Distanz und Nähe zu verfehlen, war ich doch einer seiner letzten Assistenten, die ihn aus gemeinsamer Arbeit als Redaktionssekretär der „Kölner Zeitschrift“ ebenso kannten wie aus vielen privaten Abenden in Widdersdorf vor den Toren Kölns, wo König mit Frau und zwei Kindern lebte – bei manchmal schnell von ihm bereiteten, köstlichen „Hurenspaghetti“12 und immer einer Flasche Rotwein (oder auch zwei). Auch hatte ich das Privileg, ihn in spä12 Die deutsche Übersetzung des aus Süditalien und Sizilien bekannten Schnellgerichts „Spaghetti alla Puttanesca“ – „Spaghetti nach Art der Huren“ – , das unter dieser Bezeichnung Eingang in jedes italienische Kochbuch findet. König kannte es von seinen mehreren „existentiellen“ Aufenthalten in Sizilien.
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teren Jahren in seinem schönen italienischen Refugium Genzano in den Albaner Bergen zu erleben. Schon die Absicht eines Porträts versagt angesichts des reichen biographischen Materials in der 20-bändigen Ausgabe der René-König-Schriften. Der sensible und genaue Blick seines Sohns Oliver auf das Leben seines Vaters im 18. Band der König’schen „Autobiographischen Schriften“ erschließt das bewegte und facettenreiche Leben dieses einflussreichen Neubegründers der deutschen Nachkriegssoziologie, die als „Kölner Soziologie“ ebenso hartnäckig wie missverstanden zum Kanon soziologiehistorischer Selbstbeschreibung geworden ist. Im Umgang mit seinen Studenten, Mitarbeitern und Schülern war er informell, jovial und „zugänglich“: seine Tür stehe immer offen, wie er gerne und zu Recht im Kontrast zu seinen Kollegen betonte, ohne dabei kumpelhaft zu werden (das „Du“ bot er mir erst nach erfolgreich bestandener Habilitation an). In verschiedenen Zusammenhängen benutzt Oliver König (1999) in seinem „Nachwort“ das Adjektiv „bohèmehaft“ zur Charakterisierung der Lebenshaltung seines Vaters. So treffend diese Beobachtung ist, so wenig darf sie unterschlagen, dass König in seiner beruflichen Auffassung und Praxis äußerste Disziplin und Strenge walten ließ und auch von seinen Mitarbeitern forderte. Klagen über Arbeit und Druck ließ er erst gar nicht an sich heran, sondern wehrte sie mit ermunternden und saloppen Kommentaren nach dem Tenor „Arbeit schändet nicht“ ab. Am nachhaltigsten an der Soziologie von R. König war für mich das wissenschaftliche und intellektuelle Rüstzeug, das er zur Orientierung und zum Erfassen der Gesellschaft und ihrer institutionellen und ideologischen Strukturen an die Hand gab. Dass dieses soziologische Begreifen von Gesellschaft und ihren sozialen Beziehungen eine Perspektive und Haltung evoziert, die einen nahezu zwangsläufig in Opposition, Widerstand und Widerspruch zu ihr bringt, ist eine Erfahrung, die König wie kaum ein anderer deutscher Soziologe vermittelt und gelebt hat. Ihn auf die „positivistische“ Schiene zu setzen, gar in die Ecke der „Fliegenbeinzählerei“ zu stellen – ein Begriff, den er selbst zur Charakterisierung einer in der Empirie stecken bleibenden „Soziologie ohne Gesellschaft“ prägte – ,zeugt entweder von mangelnder Kenntnis seiner Schriften oder von wenig lauterem Interesse. Die König’sche „Soziologie und nichts als Soziologie“ verdankte ihre Faszination und Unwiderstehlichkeit zu einem ganz entscheidenden Maß der Souveränität und dem Charisma ihres Vertreters. Daneben waren es indessen auch seine Mitarbeiter, von denen einige nicht mehr leben (P. Heintz, E.-K. Scheuch), andere (D. Rüschemeyer) Deutschland den Rücken gekehrt haben und immer noch von sich reden machen, die die Attraktivität Kölns ausmachten – ja, die Spannweite und das Spektrum von Themen und Zugängen zur Gesellschaft: das
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lässt sich in eher wissenschaftlichen (quantitativ vs. qualitativ-historisch) oder auch in eher politischer Grammatik erfassen. Darin drückte sich eine „Liberalität“ großbürgerlicher Herkunft und traditioneller Ordinarien“kultur“ aus – jenseits parteipolitischer Grenzen und Logik. Doch es gab auch Grenzen – wissenschaftliche wie politische: an Durkheims Prämissen und „faits sociaux“ kam bei König niemand vorbei. Als einer seiner Assistenten es versuchte, wurde er brüsk abgewiesen – und musste weiterziehen, was indessen seine weitere berufliche Karriere in keiner Weise behinderte. Die politischen Grenzen markierte König durch seine Unerbittlichkeit und Schonungslosigkeit, mit der er Kollegen und andere Mitglieder der gesellschaftlichen Eliten öffentlich bloßstellte, wenn er Gründe sah, ihr politisches Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern und anzuprangern. Seine mehr als zehnjährige Emigration, die er in der Schweiz verbrachte, waren für König eine lebenslange Verletzung, deren politische „Urheber“ und „Mitläufer“ er dingfest zu machen nicht rastete. Diese Erfahrung gehört für mich bis heute zu den prägendsten, bleibendsten und dankbarsten Erinnerungen, die mir das Kölner Soziologiestudium unter René König bereitet hat. Zuletzt erlebte ich ihn in dieser Rolle – es war Ende der achtziger Jahre, und er selbst bereits im Alter von ca. 80 Jahren – , als er anlässlich eines Vortrags über die Emigration in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek das „Denkmal“ Martin Heidegger wegen dessen Nazi-Nähe mit Schmäh und Schimpf überzog – zu einer Zeit, als darüber weitgehend schon der Mantel des Schweigens gebreitet und Heidegger längst wieder Gegenstand philosophischer Renaissance und Diskussion war. In der Tat waren es auch diese Umstände und war es diese politische „oral history“ von René König, die Inhalte und persönlichen Bezüge ebenso sehr wie die Unerschrockenheit, mit der er ihnen zu Leibe rückte, die in mir eine politische „Konversion“ auslösten – von einer mehr oder weniger politisch unreflektierten konservativ-agrarischen Herkunftsmentalität, die weiter gehegt und verstärkt wurde im Beamtenmilieu der Adenauer-Zeit, zu einer bewussten politischen Positionierung in der deutschen Sozialdemokratie, der ich mich während des Bundestagswahlkampfes im Jahre 1961 anschloss und der ich seither angehöre, für die ich auch kurze Zeit als Stadtverordneter in der Kölner Bürgerschaft praktische Politik betrieb, bevor mein erster Ruf an die Universität Regensburg im Jahre 1970 meinem politischen Treiben ein Ende setzte. Diese „geoutete“ politische Orientierung war nicht immer gerade hilfreich – als ich 1973 in Regensburg einen Ruf an die Universität Hannover erhielt, verweigerte mir das bayerische Kultusministerium unter seinem damaligen Minister Hans Maier die üblichen „Bleibeverhandlungen“ – ein offener Affront, obwohl ich vermutlich auch ohne ihn den Freistaat verlassen hätte (Gerade stoße ich auf
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eine schöne biographische Notiz des bekannten amerikanischen Kollegen von der Columbia University, Herbert J. Gans – auch er ein 20 Jahre jüngerer Emigrant aus Deutschland – , in der er davon spricht, dass er „…have always indicated that I see myself as a left-liberal on many issues…“ (Gans 2009, S. 5), eine politische Freimütigkeit, die in dieser Offenheit unter deutschen Soziologen eher selten und verpönt ist – für die deutsche Soziologie dürfte sicher nicht zutreffen, was für die US-amerikanische fast durchweg gilt, dass ihre Vertreter Anhänger der Demokraten sind – in Deutschland wäre es wohl die Sozialdemokratie.).
6.5 Einige weitere „Wechselfälle“ meiner Karriere Der vorige Abschnitt ist allzu linear und ungebrochen geraten – unter Suspendierung auch der zuvor geübten Chronologie der Entwicklungen. Unter Hinwendung zu der ausdrücklichen und verdienstvollen herausgeberischen Zielsetzung, außerhalb oder neben der Wissenschaft liegende Umstände und Kontingenzen zur Sprache zu bringen, möchte ich noch einige solcher Nachträge notieren. Dass die Soziologie nicht nur zur Studienpräferenz avancierte, sondern auch dem Broterwerb diente, war trotz meiner sehr guten Diplomnote in diesem Fach keineswegs ausgemacht. Da an eine „freihändige“ Promotion nicht zu denken war, war am Ende des Studiums im Jahre 1958 zunächst und erneut eine „Jobsuche“ angesagt. Diese – die Wachstumsjahre der Hochschulen ließen noch einige Jahre auf sich warten – ge-staltete sich damals ähnlich beschwerlich wie Jahre später nach dem soziologischen Boom ab Mitte der achtziger Jahre. So und noch vor meiner politischen „Konversion“ geschah es, dass ich mich für einige Monate beruflich in einer neutral getarnten CDU-Initiative eines sog. „Komitees zur sozialen Eigentumsbildung“ – das notorische politische Palliativ konservativer Provenienz – wiederfand, vermittelt über das „schwarze Brett“ eines finanzwissenschaftlichen Universitätsinstituts der Universität zu Köln. Dass ich daraus alsbald erlöst wurde, verdanke ich meiner „Zweitplatzierung“ bei der Besetzung einer halben Assistentenstelle im Bereich der Soziologie – die erste Wahl war der oben erwähnte Kieler Studienfreund, der aus den dort genannten Gründen den Rückzug aus der Universität in die Unternehmenswelt anzutreten hatte. Damit erst war ich in der Welt angekommen, die fortan zum Mittelpunkt meiner beruflichen und sozialen Karriere werden sollte – und mich bis heute nicht mehr los ließ. Vorgezeichnet war der Weg gleichwohl noch nicht. Die Stellensituation am Institut entlastete sich zu meinen Gunsten erst durch einen Umstand, der weder zu planen noch zu erwarten gewesen war. Mein Kollege und Freund Dietrich Rüschemeyer kehrte unerwartet von einem einjährigen US-Aufenthalt nicht auf seine Assistenten-Stelle und nach
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Deutschland zurück, sondern entschloss sich aus familiären Gründen zu einer Emigration in die USA. Damit war für mich der Weg frei für eine nicht nur temporäre und zwischenfinanzierte Anstellung, sondern für eine Art „tenure track“ deutscher Art, und zwar zunächst als „Seminar“-, später „Instituts“assistent, zu dessen zentraler Funktion die redaktionelle Betreuung der „Kölner Zeitschrift“ gehörte, der ich von 1963-1969 als Redaktionssekretär „diente“ – das war die größte Nähe, die man als Mitarbeiter der Kölner Soziologie zu René König erreichen konnte, um die man von Kollegen beneidet wurde und die man manchmal auch anderen „Neidern“ wünschte, die lediglich die privilegierende, nicht auch die verletzungsanfällige Seite einer solchen Nähe sahen. Profitiert hat man in Köln als Soziologe auch von dem ungeheuren „Sozialkapital“ von König. Er kannte, um es salopp auszudrücken, Gott und die Welt und war auf allen Kontinenten zu Hause – vornehmlich allerdings in den USA, wo er zahlreiche Einladungen und Gastprofessuren wahrgenommen hat. Was die Soziologie angeht, so hatte ihn seine Mitarbeit an der Gründung der International Sociological Association (ISA) 1948/49 und deren Gründung in Oslo sowie seine vierjährige Präsidentschaft 1962-1966 zu einem der wenigen „Weltsoziologen“ gemacht. Ihm hatte ich meinen einjährigen Aufenthalt in den USA zu verdanken, den ich zur Hälfte – nach Sommermonaten an der Ohio State University in Columbus – an der damals – 1965/66 – im weltweiten Brennpunkt hochschul- und bürgerrechtspolitischer Unruhen und Demonstrationen stehenden kalifornischen University Berkeley verbrachte. Auch trugen Besuche und Gastvorträge prominenter in- und ausländischer Kollegen zur beruflichen Sozialisation erheblich bei – diese gingen auch immer wieder über die engen Grenzen der Soziologie hinaus – zur Anthropologie, Psychoanalyse, auch zur Welt der Kunst und des Journalismus – zur Soziologie stieß König bekanntlich erst nach einem Studium der Philosophie, Psychologie, Kunst- und Kulturwissenschaften, Orientalistik, Ethnologie – seine Dissertation gehört noch ganz in diesen Bereich. Der Weg in die Soziologie war das eine, der Weg und eine Karriere in die Welt der Universität und Akademie war das andere. Als mich eine in Berlin lebende Verwandte, bei der ich während der Teilnahme am Berliner Soziologenkongress im Jahre 1959 wohnte, in Gegenwart meines Kollegen D. Rüschemeyer danach fragte, ob ich auch zu habilitieren gedächte, empfand ich das – noch vier Jahre entfernt von meiner Promotion – als eine mir äußerst peinliche Frage, an die ich noch keinen Gedanken zu hegen mich traute. Dem fühlte ich mich damals noch in keiner Weise gewachsen. Und überhaupt sprach man nicht darüber, man plante das nicht nach Art einer Berufsausbildung oder eines Studiums – man hatte dies abzuwarten und „angetragen“ zu kriegen. Dies ist inzwischen im Zuge der „Verrechtlichung“ der Universität und der Qualifikationsprozesse deutlich
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versachlicht, obwohl auch heute die persönliche „Betreuung“ durch Doktor- und Habilitations“vater/mutter“ eine Rolle spielt. Meine Qualifikationsschwellen habe ich jeweils nicht gerade mit Bravour gemeistert, mehr Zeit gebraucht als manche „Überflieger“ (Dipl.-Kfm. 1958; Prom. Soz. 1963; Habil. Soziologie 1970) – nicht nur wegen der Beanspruchung durch das „Hauptamt“, sondern auch aus Gründen des eigenen „Zutrauens“ und der ständigen und manchmal hindernden Zweifel. Bei meiner Dissertation schwankte König zwischen „magna“ und „summa“ cum laude – erstere hätte möglicherweise den Traum einer weiteren Universitätskarriere zunichte gemacht; dass es schließlich nach einigen Tagen doch zur Höchstnote reichte, war auch dem guten Zureden eines Assistenten-Kollegen zuzuschreiben. Etwas dramatischer noch ging es bei meiner Habilitation zu. Ein damals bereits zum stimmberechtigten Fakultätsmitglied der „Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät“ der Kölner Universität aufgestiegener früherer Assistentenkollege, der zum Zweitgutachter meiner Habilitationsschrift bestimmt worden war, äußerte in seinem schriftlichen, jedoch noch „informellen“ Votum erhebliche Bedenken gegen meine Arbeit. Seine Einwände betrafen meine theoretische Orientierung an der sog. Labelingtheorie, die ich in die deutsche Kriminalsoziologie eingeführt und auf die ich mich auch in meiner Arbeit bezogen hatte. Seine erste negative Gutachtenversion erblickte jedoch dank der Intervention von König nicht das Licht der Fakultäts- und Institutsöffentlichkeit. Sie wurde durch eine gefälligere und der „Lehrbefähigung“ zustimmende ersetzt. Die eigentliche Pointe dieses Bremsversuchs meiner weiteren Laufbahn fällt unter die Rubrik „außerwissenschaftliche“ Kontingenzen. Der Hintergrund dieser Intervention war ein Interview von mir im „Kölner Stadtanzeiger“, in dem ich vor der „dramatisierenden Behandlung“ von so genannten Mädchenheimen gewarnt hatte, die zur weiteren Stigmatisierung der Insassinnen führen würde und durchaus „kontraproduktive“ Effekte haben könnte. Dies löste seitens einer sich bildenden Frauenorganisation, der die Ehefrau meines Zweitgutachters angehörte, heftige Proteste aus. Hierauf bezog sich explizit die Kritik des Zweitgutachters an meiner Habilitationsschrift.
6.6 Ein „Verlassen“ der Soziologie? Unter deutschen Soziologen bin ich zu so etwas wie einem disziplinären „Grenzgänger“ geworden – und das hängt wiederum mit Entwicklungen zusammen, die nicht nur eine wissenschaftsimmanente Logik beanspruchen, sondern durchaus von „außen“ kamen. Meine weitere Entwicklung ging in Richtung einer Disziplin, die zwar ein erklärter „Kostgänger“ der Soziologie ist, jedoch stets unter dem
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Anspruch der „Interdisziplinarität“ eine deutliche Distanz wahrte, die „Kriminologie“. Ihre bis heute in der deutschen Variante durchgehaltene Nähe zur juristischen, strafrechtlichen „Logik“ verpflichtet sie, den „individuellen“ Täter – und nicht den „sozialen“ Täter und damit die gesellschaftlichen Strukturen – zum „Fluchtpunkt“ ihrer Überlegungen und Zielsetzungen zu machen13. Durkheim bleibt für die deutsche Kriminologie weiter weitgehend ausgespart und ausgesperrt. Zur Kriminologie bin ich aufgrund der soziologie-politischen Strategie zur Erneuerung der Soziologie in der Bundesrepublik gekommen, deren Durchsetzung ebenfalls eng mit Königs Namen verbunden ist. Es war die „Kolonisierung“ der zahlreichen institutionellen und diskursiven „Subsysteme“ der Gesellschaft durch die Soziologie, die zu einer Reihe von Einzel- bzw. Bindestrichsoziologien führte – von der politischen zur Industrie-, zur Familien-, so auch zur Kriminal- und Rechtssoziologie führte. Diese Soziologiepolitik spiegelte sich auch in den „Sonderheften“ der Kölner Zeitschrift, auch in den Lehrinhalten der soziologischen Seminare wider, an deren mehr oder weniger selbständigen Mit(wirkung) wir Assistenten durch König herangezogen wurden. So geschah es auch mit der „Kriminalsoziologie“, zu der ich Ende der fünfziger Jahre „verdonnert“ wurde. Dazu kamen Umstände, die einer Kriminologie, die damals von einer Troika forensisch-psychiatrischer Autoritäten dominiert wurde, ins Gesicht bliesen und nach einer „sozialwissenschaftlichen Öffnung“ riefen; ferner wollte es der Zufall, dass die DFG König um ein wegweisendes Gutachten zur Etablierung eines kriminologischen Sonderforschungsbereichs an der Universität Tübingen gebeten wurde. Alles dies „landete“ auf meinem Schreibtisch und setzte mich auf die Fährte der deutschen Kriminologie – und brachte mir die Autorenschaft für das Kapitel „Kriminalsoziologie“ des König’schen Handbuchs zur empirischen Sozialforschung ein (Sack 1969, 1978). Mit diesen „Investitionen“ habe ich meine Rolle am Rande der deutschen Soziologie eingerichtet, die sich – anders als ihre Gründer (Durkheim in Sonderheit) und spätere Kritiker (Foucault) – aus diesen gesellschaftlichen Zonen mehr oder weniger zurückgezogen hat14. Ich habe zwei „Rufe“ auf soziologische
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Vor dieser zu großen Nähe der Kriminologie zum „individualisierenden“ Strafrecht – und damit zu großen Distanz der Kriminologie zur Soziologie – hat kürzlich in einem key-note-Vortrag vor dem internationalen Kongress der Kriminologie David Garland (2008) nachdrücklich gewarnt. 14 „Symptomatisch“ für diesen „Eigensinn“ der deutschen Soziologie erscheint mir eine Einzelbeobachtung der „Verspätung“ der deutschen Soziologie gegenüber etwa der amerikanischen Situation: die in der englischsprachigen Soziologie euphorisch aufgenommene und sogleich in etliche andere Sprachen übersetzte Studie von D. Garland, The Culture of Control, – „Sociology at its best“ hieß es im American Journal of Sociology – ist in der deutschen Soziologie erst nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe angekommen.
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Lehrstühle (Wien, Bielefeld) abgelehnt – zugunsten der Arbeit in den juristischen Fakultäten in Hannover und Hamburg.
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Zum Abschluss: noch eine Zäsur im Rahmen der Wissenschaft selbst
Zu dieser persönlichen Laufbahn-Entwicklung, die mir professionelle Reputation in dem neu eingerichteten Feld der „kritischen Kriminologie“ – eine Bezeichnung, die mehr von außen als von innen gepflegt wird: in meiner eigenen Wahrnehmung geht es um nichts anderes als um eine „wissenschaftliche“ Kriminologie, die den „Gegenstand“ ihrer Analyse um den gesellschaftlich und politisch vorgeformten Bereich der Kriminalität erweitert – eingebracht hat, gehört eine „Konversions“erfahrung letzter, diesmal professioneller Art, mit der ich meine Überlegungen abschließen möchte. Nur zu gut und folgenreich erinnere ich eine Begegnung aus dem Jahre 1965. Von meiner damaligen Gastuniversität in Columbus/Ohio unternahm ich eine Autoreise nach Toronto, um an der dortigen York University den bereits erwähnten Dietrich Rüschemeyer zu besuchen. Dieser hatte zu einem abendlichen Dinner einige Kollegen eingeladen, zu denen auch ein etwas „esoterischer“ und extrovertierter Professor gehörte. Er bzw. es stellte sich als meine erste Begegnung mit der damals gerade ihren „Siegeszug“ – hauptsächlich an der amerikanischen „west coast“ – antretenden Ethnomethodologie dar. Marvin B. Scott – so sein Name – hämmerte buchstäblich einen Abend lang euphorisch und in grenzenloser Begeisterung auf mich ein, um mir die „theoretische Revolution“ der Ethnomethodologie gegen einen angeblichen Durkheimschen Objektivismus nahe zu bringen. Diese gehe von der University of California in Berkeley aus, von wo aus drei ihrer prominenten Vertreter – H. Sacks, E. Schegloff und D. Sudnow – deren Konturen entwickelt hätten. Ebenso verwies er mich auf die im Vorjahr erschienene berühmte linguistisch inspirierte methodologische Kritik an der Soziologie von A. Cicourel, „Method and Measurement in Sociology“ (1964). Sein Verfasser schreibe gerade in Berkeley an seiner „Social Organisation of Juvenile Justice“ (1968) und ich müsse ihn unbedingt sofort nach meiner Ankunft sehen. Was ich denn auch tat und woraus sich nicht nur ein bis heute währender Kontakt entwickelte, sondern auch der Zugang zu dem ethnomethodologischen Netz – bis hinunter zur UCLA im entfernten Los Angeles, wo der Gründungsvater der Ethnomethodologie, H. Garfinkel und sein wohl berühmtester Schüler, der bereits erwähnte, früh verstorbene H. Sacks lehrten. Mich faszinierte in der Tat diese Aussicht – nicht nur, weil ich schon realisiert hatte, dass der – zur gleichen theoretischen Familie wie die Ethnomethodologie gehörende – „interactionist turn“ insbesondere in der Kriminologie „para-
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digmatische“ Unruhen ausgelöst hatte, sondern auch wegen meiner grenzenlosen Enttäuschung über eine „paper-and-pencil-Kriminologie“, die glaubte, das Rätsel der Kriminalität über drei Bogen „items“ lösen zu können, die ganze Schulklassen im Verbund nach vorgegebenen Antwortalternativen auszufüllen hatten. Dabei war ich an die Ohio State University gegangen, um vor Ort den als avanciert geltenden Stand der US-Kriminologie kennen zu lernen. Seither galt mein Interesse der Analyse des Prozesses der sozialen Kontrolle, d.h. den Bedingungen und den Mechanismen, mit denen die Gesellschaft ihre „Wirklichkeit“ der Kriminalität erzeugt und konstituiert. Dies jedoch erfordert den Blick nicht auf die Kriminalität selbst, sondern auf die Art ihrer „Sichtbarmachung“ sowie der Reaktion auf sie. Unter diesem Stichwort verfolge ich seit fast zehn Jahren einen Prozess, der in der führenden angelsächsischen Kriminologie als „punitive turn“ thematisiert und intensiv diskutiert wird, unter deutschen Kollegen so gut wie keinen und meistens ablehnenden Widerhall findet, diktiert von einem historisch bedingten Prinzip, demzufolge – frei nach Christian Morgenstern – „nicht sein kann, was nicht sein darf“ – ein letztes Beispiel der „Einbettung“ wissenschaftlicher Befunde und Thesen in außerwissenschaftliche Umstände und Rücksichten15.
Literaturverzeichnis Bourdieu, Pierre. 1985. Leçon sur la leçon. In Sozialer Raum und >Klassen< – Leçon sur la leçon. Zwei Vor-lesungen, Hrsg. Pierre Bourdieu. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Cicourel, Aaron V. 1964. Method and Measurement in Sociology. Glencoe, Ill.: The Free Press. Dt.: 1970. Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Cicourel, Aaron V. 1968. The Social Organisation of Juvenile Justice. Wiley: New York. Dinges, Martin, und Fritz Sack. 2000. Unsichere Großstädte? In Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Hrsg. Martin Dinges und Fritz Sack, 9-65. Konstanz: UVK Universitätsverlag. Gans, Herbert J. 2009. Working in Six Research Areas: A Multi-Field Sociological Career. Annual Review of Sociology 35, 1-19. Garland, David. 2001. The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford: Oxford University Press. Dt.: 2008. Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart. Mit einem Vorwort von K. Guenther, und A. Honneth. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Garland, David. 2008. Disciplining Criminology? Annales internationales de criminologie, Heft 1-2, 19-37.
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Vgl. hierzu: M. Dinges u. F. Sack (2000) sowie F. Sack (2010).
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König, Oliver. 1999. Nachwort. In René König: Autobiographische Schriften, Bd. 18, Hrsg. Mario König, und Oliver König, 429-450. Opladen: Leske + Budruch. Lüderssen, Klaus, und Fritz Sack. 1975 ff. Seminar: Abweichendes Verhalten, Bd. 1-4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sack, Fritz. 1978. Probleme der Kriminalsoziologie, In Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 12 (1969), Hrsg. René König, 192-492. Stuttgart: Enke-Verlag. Sack, Fritz. 2010. Der weltweite "punitive turn": ist die Bundesrepublik dagegen gefeit? In Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Hrsg. Hans-Georg Soeffner, Wiesbaden: VS Verlag.
Chancen und Herausforderungen – ein autobiographischer Rückblick Rolf Ziegler
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Gelegenheitsketten und Weichenstellungen
Die gelebte Zeit besteht aus Episoden und Ereignissen, einmaligen oder sich wiederholenden. Erst im reflektierenden, abstrahierenden und vergleichenden (Rück)Blick erschließen sich verallgemeinerbare Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten. Vor allem werden Verkettungen und Wechselwirkungen von Lebensbereichen und Netzwerken sichtbar, die weder beabsichtigt noch vorhersehbar waren. Als Gymnasiast und Student war ich Mitglied des nach dem ersten Weltkrieg gegründeten, jugendbewegten, katholischen „Bund Neudeutschland“ (ND). Natürlich waren dafür die in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht im Überfluss vorhandenen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Teilnahme an Zeltlagern ausschlaggebend. Ich erwähne diese Tatsache jedoch nicht deshalb, sondern weil im Rückblick die Erfahrungen und Bekanntschaften in dieser Jugendorganisation für die Wahl meines Studienfaches und Studienortes entscheidende Weichen stellten. Eigentlich wollte ich Elektrotechnik studieren und hatte mich dafür an der Technischen Hochschule meiner Heimatstadt Stuttgart eingeschrieben, in der ich 1936 geboren worden war. Eine Zulassungsvoraussetzung war, dass man die Hälfte des einjährigen Pflichtpraktikums vor dem Studienbeginn absolvierte. Während der siebenmonatigen Praktikantenzeit bei der Firma Bauknecht änderte sich mein Studieninteresse. Die Erfahrungen als Jugendleiter mit Gruppendynamiken und als Praktikant mit der „informalen Organisation“ einer Lehrwerkstätte und verschiedener Produktionsabteilungen eines Industriebetriebes – sie lieferten mir für die späteren betriebssoziologischen Vorlesungen viele anschauliche Beispiele – weckten und verstärkten mein Interesse an dem Fach „Soziologie“, das seinerzeit noch recht unbekannt war. Gespräche mit dem „Bundesbruder“ Bernhard Vogel, der damals an der Universität Heidelberg Soziologie bei Alfred Weber studierte und in Politologie bei Dolf Sternberger promovierte, bestärkten mich in meinem Entschluss. Er empfahl mir Köln als einen Ort, wo man bei René König eine empirisch orientierte Soziologie studieren könne. Ich begann im Wintersemester 1955/56 an der TH Stuttgart das Studium der Volkswirtschaftslehre und wechselte zum Sommersemester 1956 an die Universität zu
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Köln, wo ich 1960 die Diplomprüfung für Volkswirte mit dem Pflichtwahlfach Soziologie absolvierte, 1967 promovierte und mich 1971 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät habilitierte. Noch eine andere erfahrungsreiche und unvergessliche Chance ergab sich aus meiner Tätigkeit im ND. Im Sommer 1958 konnte ich am Cleveland International Program für Jugendleiter und Sozialarbeiter teilnehmen, das zwei Jahre zuvor von Henry Ollendorff gegründet worden war. Henry Ollendorff war ein jüdischer Rechtsanwalt, der 1938 nach über einjähriger Einzelhaft durch die Nazis in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte und nach dem Studium der Sozialarbeit an der New York School of Social Work der Columbia University ein großes Sozialprojekt in Cleveland leitete. Während des fünfmonatigen Aufenthaltes besuchten wir Kurse für Sozialarbeit an der Western Reserve University in Cleveland und arbeiteten danach neun Wochen in Einrichtungen der Jugend- und Sozialarbeit. Ich selbst betreute eine Gruppe von 8 bis 12-jährigen Kindern in einem jüdischen day-camp und wohnte jeweils drei Wochen bei sechs verschiedenen Familien. Diese Erfahrung im alltäglichen Umgang mit Amerikanern unterschiedlichen Alters und die Kontakte mit den über fünfzig Programmteilnehmern aus neun westeuropäischen Ländern, Israel und der Türkei waren ein unvergessliches und prägendes Erlebnis, zumal in einer Zeit, in der das Ende des Zweiten Weltkrieges gerade erst eine gute Dekade zurücklag. Eine sechswöchige, 16.000 km lange Reise in einem gebrauchten Ford, den wir für 100 Dollar erstanden hatten, von Cleveland bis an die Westküste nach San Francisco zeigte uns die unendliche Weite der Great Plains und die herrlichen Landschaften der wundervollen Naturparks in den Rocky Mountains. Dass diese Fahrt jeden von uns Fünfen alles in allem nur ganze 115 Dollar kostete, ist heute wohl kaum mehr vorstell- und machbar. Im Januar 1957 starb mein Vater, vier Jahre zuvor war meine Mutter gestorben. Ich erbte rund eintausend DM, ein Betrag, der auch bei größter Sparsamkeit höchstens ein halbes Jahr ausgereicht hätte. Mein Studium konnte ich daher nur fortsetzen und erfolgreich beendigen, weil ich auf Vorschlag eines Geistlichen aus dem ND noch im selben Jahr in das Cusanuswerk aufgenommen wurde, die Studienförderung der katholischen Kirche, die 1956 gegründet worden war. Das Stipendium stockte ich dann später durch meine Arbeit als Amanuensis in der Bibliothek des Soziologischen Seminars etwas auf. Diese Tätigkeit verschaffte mir – vor allem durch die jährlichen Inventuren – einen oberflächlichen Überblick über zahlreiche Verfasser und Titel soziologischer Werke. Die überblicksartige Kenntnis der soziologischen Literatur wurde später vertieft, als ich als Assistent acht Jahre lang jede Woche einen halben Tag damit beschäftigt war, Prospekte und Rezensionen durchzusehen und alle Bestellungen für die Seminarbibliothek vorzunehmen.
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Auch im Privaten wurden die Weichen in Köln gestellt. Ich lernte dort – auf einer Karnevalsparty, wie hätte es anders sein können – ein „Kölsches Mädchen“ kennen, und wir heirateten ein paar Jahre später. Ingrid hat mir in über 45 Jahren, auch unter Zurückstellung eigener Interessen, stets beigestanden. Ihre Herzlichkeit und ihr Engagement für Andere, ihr künstlerisches Schaffen und ihr Interesse an fremden Menschen und Kulturen haben mir bewusst gemacht, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als Job und Computer. Ich habe ihr sehr viel zu verdanken.
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Der professionelle Sozialisationskontext: die „Kölner Schule“
Für mein Verständnis der Soziologie als einer theoretisch fundierten, methodisch kontrollierten, problembezogenen, empirisch prüfbaren und geprüften Sozialwissenschaft war sicher die Ausbildung und Assistenzzeit an der Universität zu Köln prägend. René König vermittelte uns das Leitbild einer ideengeschichtlich fundierten Soziologie, die auf dem Hintergrund einer historischen und kulturvergleichenden Perspektive Struktur und Wandel moderner Industriegesellschaften mit den Methoden der empirischen Sozialforschung erforschte und analysierte.16 Die professionelle und internationale Orientierung wurde uns nicht nur durch die in der Lehre behandelte und geforderte Literatur nahe gebracht (Werke in Englisch und Französisch waren selbstverständliche Pflichtlektüre), sondern auch durch die zahlreichen auswärtigen Gastvorträge und Gastprofessuren (u.a. Peter L. Berger, Fritz Croner, Ralf Dahrendorf, Max Horkheimer, Paul F. Lazarsfeld, Paul Neurath, Talcott Parsons, Stein Rokkan) lebendig veranschaulicht. Die Idee einer Soziologie, die nichts als Soziologie ist, kennzeichnete die eine Dimension des Koordinatensystems, das man sehr schnell erkannte. Sie hatte auch eine benennbare Antipode: die Frankfurter Schule. Die andere Orientierungsdimension war – und sie zeigt, dass René König bei aller Akzeptanz des methodologischen Prinzips der Werturteilsfreiheit in seinen wissenschaftspolitischen und politischen Urteilen wertete und wahrlich nicht zu knapp – eigentlich eine gesellschaftspolitische, bei der die Antipoden ebenfalls klar bestimmt waren. Es waren die – vor allem intellektuellen – Feinde einer offenen Gesellschaft, denen René König im Grunde nie verzieh, dass sie das nationalsozialistische Regime unterstützt, mit ihm kollaboriert, davon schlicht (auf Kosten der in die Emigration getriebenen) profitiert, dazu geschwiegen hatten oder – vielleicht die
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In meiner Gedenkrede bei der Akademischen Gedenkfeier der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln am 3. November 1993 (Ziegler 1998a) habe ich versucht, Leben und Werk von René König zu würdigen.
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intellektuell schlimmste Sünde – es schlicht nicht begriffen hatten und auch jetzt nicht begreifen wollten. René Königs Soziologie war keine spezialistisch verengte Disziplin, sondern gerade den Studierenden bot er in seinen großen, 4-stündigen Vorlesungen – z.B. über die Entwicklung von Familie, Wirtschaft, Recht und Staat – einen Überblick und vermittelte Bezüge zu anderen Disziplinen, vor allem der Anthropologie, der Philosophie und der (Sozial)Geschichte, wie sie selten geworden sind. Wenn er nach zwei Stunden – mit lebhafter Gestik und Mimik seinen Vortrag unterstreichend, die Frontseite des Hörsaales zig-mal auf- und abschreitend, dabei immer wieder am Pult innehaltend und in dem sorgfältig auf einem DIN A5 großen Stenogrammblock vorbereiteten Manuskript blätternd – die großen Tafeln mit Namen, Jahreszahlen, Titeln, Stich- und Fremdwörtern gefüllt hatte, boten sie den Zuhörern ein anschauliches Bild der Weite und Fülle des durchmessenen Terrains. Hatte René König seine Vorlesungen bis aufs letzte – trotz freien Vortrages – vorbereitet, so bestritt er die Seminare in unvorbereiteter Präsenz. Ich entsinne mich aber noch genau des Seminars über die Marx´schen Frühschriften – es fand übrigens einige Jahre vor 1968 statt –, in dem er aus dem Stegreif eine philologische Textexegese mit historischen, geistesgeschichtlichen und philosophischen Exkursen vorgetragen hat, die wohl alle 120 Seminarteilnehmer – so groß waren damals die Seminare selbst in der Soziologie – tief beeindruckte. René König hat sich immer gegen das plumpe Stereotyp gewandt, die „Kölner Schule“ sei der von ihm betriebene Import der amerikanischen empirischen Sozialforschung, die letzten Endes zu nichts anderem führe als theorieloser Fliegenbeinzählerei, spitzfindiger Methodenakrobatik und forschungstechnischem Leerlauf. Wo er solche Tendenzen spürte, hat er sie selbst schonungslos gegeißelt und verspottet. Professionelle Methodologen, „die immerfort stammeln ‘Empirie, Empirie’ und weder jemals ein Stück realer Forschung geleistet noch bewiesen haben, dass sie überhaupt imstande sind, ‘Probleme zu sehen’“ (König 1979: 370), waren ihm ebenso ein Gräuel wie „Forschungstechnokraten“, „die das Instrument behandeln, als sei es allgemein ‘disponibel’ ohne Rücksicht auf Gegenstand oder Umstände“ (König 1984: 201). Die Warnung an die „Jünglinge“, richtige Soziologie zu machen und wirkliche Probleme zu behandeln, war auch für jeden von uns unüberhörbar. Im übrigen waren auch unter Königs jüngeren Mitarbeitern der 60er Jahre durchaus verschiedene inhaltliche Positionen vertreten: z.B. die „strengen“ Parsonianer Heidrun und Wolfgang Kaupen, der während seines Aufenthaltes an der University of Chicago zum Symbolischen Interaktionismus „konvertierte“ Fritz Sack oder die „Reduktionisten“ HansJoachim Hummell und Karl-Dieter Opp.
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In den allerersten Studienjahren konnte man noch Vorlesungen von Leopold von Wiese, dem Vorgänger von René König und Nestor der deutschen Soziologie, sowie von Karl Gustav Specht besuchen, der 1959 an die Universität Nürnberg berufen wurde. Später kamen Alphons Silbermann, der die Gebiete der Massenkommunikation, der Kunst- und Kultursoziologie vertrat, und die Psychoanalytikerin Edeltrud Seeger-Meistermann hinzu. Für die Ausbildung in den Übungen und Seminaren waren vor allem die beiden Assistenten wichtig: Dietrich Rüschemeyer, der die theoretische Soziologie lehrte, und Erwin K. Scheuch, der die Methodenausbildung betreute. Erwin K. Scheuch ging nach seiner Habilitation an die Harvard University und erhielt 1964 den neu geschaffenen zweiten Lehrstuhl für Soziologie an der Kölner Universität. Das wissenschaftstheoretische Verständnis eines „Kritischen Rationalismus“ wurde uns durch den Assistenten des Sozialpolitikers Wilfried Schreiber und späteren Privatdozenten Hans Albert mit großem Engagement und argumentativer Brillanz vermittelt. Die von ihm und anderen Kölner „Jungtürken“17 (z.B. Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Mommsen, Hans Watrin) initiierten „AlpbachSeminare“ sind mir immer noch als Beispiel eines selbst-organisierten, wahrhaft interdisziplinären Diskussionsforums in Erinnerung, auf dem mit intellektueller Schärfe und menschlicher Fairness gestritten und gerungen wurde. Eine weitere Erfahrung verdanke ich der „Kölner Schule“. Empirische Sozialforschung bedarf einer gewissen „Betriebsförmigkeit“ und „Infrastruktur“, um längerfristig und kumulativ mit Erfolg ein Problemfeld bearbeiten zu können. Die von René König geleiteten Forschergruppen und „Institute an der Universität“, z.B. die soziologische Abteilung des Instituts für Mittelstandsforschung, an der ich unter Betreuung von Hansjürgen Daheim meine empirische Diplomarbeit über den Beruf des Textilingenieurs, seine Professionalisierung und Herkunft schrieb, sowie das von Erwin K. Scheuch (und Günter Schmölders) aufgebaute „Zentralarchiv für empirische Sozialforschung“ waren anschauliche Lehrbeispiele.
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Die „Jungtürken“ waren eine politische Bewegung im Osmanischen Reich, die seit 1876 illegal auf liberale Reformen und eine konstitutionelle Staatsform hinarbeitete. Im übertragenen Sinn wurden in den 60er Jahren jüngere Politiker oder Parteigänger mit radikalen Ideen, die sie im Rahmen ihrer politischen Gruppe durchzusetzen versuchen, als „Jungtürken“ bezeichnet. In Deutschland am bekanntesten waren die Jungtürken der FDP um Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Willi Weyer, die ihre Partei in der politischen Mitte positionieren wollten, um sowohl mit der CDU/CSU als auch mit der SPD koalitionsfähig zu sein.
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Rolf Ziegler Lehrjahre: die Kölner Assistentenzeit
Wenige Monate nach dem Diplom-Examen erhielt ich das Angebot einer Assistentenstelle in der „Wehrsoziologischen Forschergruppe“, die von der Schule für Innere Führung der Bundeswehr finanziert wurde. Zusammen mit Klaus Roghmann und Reinmar Cunis arbeitete ich zwei Jahre in diesem Projekt, bevor ich 1962 auf die Planstelle als Assistent im Soziologischen Seminar wechselte, nachdem Dietrich Rüschemeyer aus privaten Gründen in die USA emigriert war. Dort war ich für die Studienberatung und für die Betreuung eines großen Teils der Diplomarbeiten verantwortlich, plante und leitete insgesamt elf thematisch verschiedene Hauptseminare von René König – während seiner häufigen Abwesenheit auch allein – und korrigierte die etwa vier bis fünf Dutzend Seminararbeiten. Im Rückblick war dies eine gute Vorbereitung auf die eigene akademische Lehre. Obwohl es sich bei den Projekten der Wehrsoziologischen Forschergruppe um angewandte Forschung handelte – z.B. sollten wir die staatsbürgerlichen Kenntnisse der Rekruten und Offiziersanwärter erheben –, hatten wir den Ehrgeiz, die relevante Literatur über das Militär – eine angesichts ihrer gesellschaftlichen und historischen Bedeutung in der deutschen Soziologie zu Unrecht vernachlässigte Institution – umfassender aufzuarbeiten. Das von uns gestaltete Sonderheft der Kölner Zeitschrift (König et al. 1968) enthielt daher nicht nur Beiträge von Mitarbeitern, sondern auch von externen in- und ausländischen Autoren und befasste sich sowohl mit internen Strukturproblemen des Militärs als auch, in historisch und international vergleichender Perspektive, seiner gesellschaftlichen Stellung und politischen Kontrolle. Auf der Suche nach einer theoretischen Basis für die Analyse des Militärs arbeitete ich mich nicht nur in die spezielle militärsoziologische Literatur, sondern auch in das breite Feld der Organisationsforschung ein, das in Zukunft einen Schwerpunkt meiner Forschungen bilden sollte. Die Aufarbeitung insbesondere der empirischen Befunde in diesen beiden Forschungsfeldern fand ihren Niederschlag in den zwei „enzyklopädischen“ Artikeln im Handbuch der empirischen Sozialforschung (Mayntz und Ziegler 1976; Roghmann und Ziegler 1976). Das wissenschaftstheoretische Verständnis des Kritischen Rationalismus und die empirisch-methodische Ausrichtung der Kölner Soziologie bestimmten die Vorgehensweise meiner Dissertation (Ziegler 1968). Es ging um die explizite Formulierung einer Reihe von Hypothesen über die Wirkungen verschiedener Kommunikationsstrukturen auf die Leistung zielorientierter sozialer Systeme und die Zufriedenheit ihrer Mitglieder sowie ihre Überprüfung anhand des vorliegenden empirischen Materials, überwiegend aus experimentellen Kleingruppenstudien. Dabei verwendete ich auch die formalen Mittel der Darstellung und
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Analyse mit Hilfe der Graphentheorie, die für die präzise Explikation von relationalen Strukturbegriffen besonders geeignet war. Schließlich haben zwei mehrwöchige, internationale Sommerkurse und die Textsammlung von Renate Mayntz (1967) zu einer gewissen Schwerpunktbildung meiner wissenschaftlichen Interessen beigetragen. Beide Kurse behandelten die Probleme der Anwendung mathematischer Modelle in den Sozialwissenschaften. Die Begegnung mit den Dozenten Robert Abelson, Paul F. Lazarsfeld, Benoit Mandelbrot und Howard Raiffa 1962 in Gösing, Niederösterreich, sowie James Coleman und Gudmund Hernes 1970 in Bergen gaben den Anstoß zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem „Beitrag der Formalisierung zur soziologischen Theoriebildung“, wie dann der Titel meiner Habilitationsschrift lautete (Ziegler 1972). Mit einer dreibändigen Textsammlung wichtiger Beiträge über die „linearen Strukturmodelle“ haben Hans J. Hummell und ich diese Analyseverfahren und ihre Anwendungen in Deutschland bekannt gemacht (Hummell und Ziegler 1976). Um die mathematischen Modelle verstehen zu können, haben wir beide die für das Vordiplom in Mathematik vorgeschriebenen Scheine erworben. Der Besuch der Vorlesungen und Übungen in Linearer Algebra I-II, Analysis I-III und Wahrscheinlichkeitstheorie zeigte uns die disziplinierende Kraft eines streng strukturierten und systematisch aufeinander aufbauenden Stoffes. Hatte man einmal den Anschluss verpasst, dann half nur, wieder von vorne anzufangen. Nach längerer Vorbereitung begannen 1969 Hans J. Hummell, Michael Klein, Maria Wieken-Mayser und ich ein umfangreiches und ambitioniertes Forschungsprojekt „Strukturanalyse der Schule“, das vom Land NordrheinWestfalen finanziert wurde. Wir befragten 3240 Schüler aus 121 Klassen der Untersekunda, ihre Eltern und Lehrer sowie die Direktoren von 68 nordrheinwestfälischen Gymnasien über die Bedingungen ihres Schulerfolgs, ihrer Bildungs- und Berufsaspirationen sowie der Erziehungsziele ihrer Eltern und Unterrichtskonzepte ihrer Lehrer. Leider konnten die umfangreichen Daten zu diesem Zeitpunkt nicht adäquat ausgewertet und publiziert werden. Das hatte zwei Gründe: Zum einen fiel das Projekt gewissermaßen in die Lücke zwischen unseren auseinanderstrebenden Karrieren und zum anderen fehlten damals noch die leistungsstarken Auswertungsprogramme wie z.B. SPSS oder gar netzwerkanalytische Routinen für die Analyse der multiplen Soziogramme aus den 121 Schulklassen. Daher entstand nur ein interner, deskriptiver Abschlussbericht. Allerdings wurden die Daten sorgfältig aufbereitet, dokumentiert und dem Zentralarchiv für empirische Sozialforschung zur Verfügung gestellt.
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Rolf Ziegler Wanderjahre: Frankfurt, Kiel und Wien
Die 70er Jahre brachten für mich und meine Frau viele Ortsveränderungen mit sich. Diese hohe Mobilität war auch die Folge der Expansion unseres Faches in den 60er und 70er Jahren, die unserer Generation unerwartet einmalige Karrierechancen eröffnete. Von 1960 bis 1971 war der Bestand von H3- und H4Professuren18 an wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik von 35 auf 190 gestiegen (Lepsius 1973: 18) und erhöhte sich bis 1974 auf 279 (Lepsius 1974: 95f). Diese Entwicklung war zum Zeitpunkt meiner Fächer- und Laufbahnwahl in den 50er und zu Beginn der 60er Jahre völlig unvorstellbar gewesen. „Das seinerzeit (d.h. 1960) viel beachtete Gutachten des Wissenschaftsrates zum Ausbau der Hochschulen empfahl insgesamt die Einrichtung von etwa 10 neuen Lehrstühlen, die Denkschrift für die Deutsche Forschungsgemeinschaft forderte insgesamt etwa 15 bis 20 neue Lehrstühle.“ (Lepsius 1979: 49) Bereits Mitte der 70er Jahre war allerdings schon absehbar, dass diese Expansion sich nicht fortsetzen und die Karrierechancen der nächsten Generation erheblich schlechter sein würden. Der Grund war die Tatsache, „daß drei Viertel der Hochschullehrer im Jahre 1974 unter 50 Jahre alt waren und daß in den Jahren 19751989 nur ca. 30 Hochschullehrer durch Emeritierung bzw. Pensionierung ihre Position verlassen werden. Der durchschnittliche Ersatzbedarf wird 1 1/2 Jahrzehnte lang nur etwa zwei Bewerbern pro Jahr eine Aufstiegschance geben.“ (Neidhardt 1976: 81) Unmittelbar nach der Habilitation erhielt ich im April 1971 den Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Frankfurt. Die näheren Umstände der Berufungsverhandlungen mit dem neu gebildeten Fachbereich, der sich schließlich nicht einmal in der Lage sah, einen Teilbetrag von 9000 DM der von der Universität mir zugewiesenen Mittel für die Beschaffung einer elektrischen Schreibmaschine und die Ergänzung des Literaturbestandes zur Verfügung zu stellen, ohne dass zuvor eine Sachkonzeption vorgelegt und die generelle Struktur des Fachbereichs geklärt worden sei, veranlassten mich, den Ruf abzulehnen. In dem mehrseitigen Schreiben an den damaligen hessischen Kultusminister, Prof. Ludwig von Friedeburg, führte ich u.a. aus: „Das ständige Hin und Her muß zwangsläufig den Eindruck erwecken, daß die Mehrheit der Fachbereichskonferenz nicht fähig oder nicht willens ist, eine klare Entscheidung zu treffen, und es vermeidet, den Stellenwert der empirischen Sozialforschung im Fachbereich näher zu um18 Die H-Besoldung unterschied zwischen den ordentlichen H4-Professoren („Ordinarien“) mit Emeritierungsrecht, besserer Bezahlung und Ausstattung, höherem Status und der Möglichkeit von Berufungs- und Rufabwehrverhandlungen und den H3-Professoren ohne diese Rechte und Privilegien, die länderspezifisch unterschiedlich bezeichnet wurden. Sie wurde Ende der 70er Jahre mit der Abschaffung des Emeritierungsinstituts durch die C-Besoldung abgelöst.
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reißen. Das an sich rationale Argument, eine solche Bestimmung könne nur in einer umfassenden Diskussion des Funktions- und Stellenplans sowie der Curricula erfolgen, verliert an Überzeugungskraft, wenn z.B. gleichzeitig für die Überleitung in die neue Personalstruktur weit reichende Beschlüsse angestrebt werden, noch ehe eine solche Diskussion stattgefunden hat und ihre Ergebnisse vorliegen.“ Der letzte Satz bezog sich auf ein höchst merkwürdiges Verfahren, das ein Schlaglicht auf die propagierte „Rationalität“ der Entscheidungsprozesse warf und meine Skepsis gegen die „Mantras“ mancher Universitätsreformer verstärkte. Im neuen hessischen Universitätsgesetz war die Möglichkeit der Überleitung von Assistenten in H2-Professuren vorgesehen. Von den führenden Vertretern des Mittelbaus wurde erheblicher Druck auf alle Assistenten ausgeübt, sich geschlossen um eine solche Übernahme zu bewerben. Nur wenige widersetzten sich diesem Druck, u.a. die Assistenten von Wolfgang Zapf: Peter Flora und Karl-Ulrich Mayer. Die knapp 50 Bewerber mussten sich dann einem im Grunde lächerlichen, natürlich öffentlichen Verfahren unterziehen. In einem großen Hörsaal, der nach dem ersten Tag nur noch von den Mitgliedern der Beurteilungskommission besetzt war, spulten sie ihre 20-minütigen Präsentationen ab. Am Ende wurden nach meiner Erinnerung zwei Personen übergeleitet, von denen man das schon vorher hatte erwarten können. Meine Ablehnung fiel mir nicht leicht, denn ich hätte gerne mit Wolfgang Zapf zusammengearbeitet. Aber auch er folgte ein Jahr später dem Ruf an die Universität Mannheim. Nach der zweisemestrigen Lehrstuhlvertretung in Frankfurt nahm ich zum Sommersemester 1972 die Stelle eines Wissenschaftlichen Rates und Professors in Köln an und folgte zum Wintersemester 1973/74 dem Ruf auf ein Ordinariat an der Universität Kiel. Ich hätte in Köln bleiben und die Nachfolge von René König, der 1974 emeritiert wurde, antreten können. Die Kölner Fakultät hatte wegen der Ablehnung des Frankfurter Rufes das Hausberufungsverbot außer Kraft gesetzt, und eine Berufungsliste mit mir als Erstplaziertem lag beim Ministerium. Nach meinem Wechsel an die Kieler Universität wurde ein neues Berufungsverfahren eingeleitet und Friedhelm Neidhardt 1975 auf den Lehrstuhl berufen. Ich habe es nicht bedauert, auf diese Möglichkeit einer „Hauskarriere“ verzichtet zu haben, auch wenn die Kölner Infrastruktur und der kollegiale Kontext – Renate Mayntz war 1973 auf das dritte Ordinariat berufen worden – attraktiv waren. Im Sommersemester 1974 begann ich mit der Organisation der jährlichen Internationalen Tagungen über die Anwendung mathematischer Verfahren in den Sozialwissenschaften. Mit Unterstützung der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg gelang es, ein informelles Netzwerk aufzubauen und dazu auch jedes Jahr ausländische Gäste einzuladen, u.a. Harrison White, Raymond Boudon, Aage Sörensen, Jeremy Boissevain, Samuel Leinhardt, Keith Hope, Gudmund
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Hernes, James Coleman, Edward Laumann, Frans N. Stokman, Stephen Berkowitz, Karl Jöreskog, Robert Hamblin, Mark Granovetter, Anatol Rapoport, Michael Hannan, Patrick Doreian, Peter Blau, Siegwart Lindenberg, Gordon Tullock, Bruno Frey. Diese „MASO-Tagungen“ wurden bis 1982 von Hans J. Hummell jährlich und danach in unregelmäßiger Reihenfolge fortgesetzt und führten 20 Jahre später zur Bildung der DGS-Sektion „Modellbildung und Simulation“. Zum Wintersemester 1975/76 folgte ich einem Ruf an die Universität Wien. Leider konnte mich nur einer meiner Kieler Mitarbeiter, Peter Kappelhoff, begleiten, weil die schlechte Bezahlung von Assistenten in Österreich einen Umzug von Heinz Sahner und seiner Familie unmöglich machte. Peter Kappelhoff hat wesentlich an der Konzipierung des von der DFG geförderten Projektverbundes „Analyse sozialer Netzwerke“ (1977-1981) mitgewirkt, an dem vier andere Kollegen (Hubert Feger, Aachen später Hamburg; Hans J. Hummell, Duisburg; Franz Urban Pappi, Mannheim später Kiel; Wolfgang Sodeur, Wuppertal) mit acht wissenschaftlichen Mitarbeitern beteiligt waren. Während einer vierwöchigen Kontaktreise im Frühjahr 1977 zu 26 amerikanischen und kanadischen Forschern an 14 Orten (u.a. Richard Alba, Stephen Berkowitz, Ronald Breiger, Ronald Burt, Patrick Doreian, Linton Freeman, Mark Granovetter, Maureen Hallinan, Frank Harary, Paul Holland, Charles Kadushin, Edward Laumann, Barry Wellman, Harrison White) konnte ich Informationen über aktuelle Forschungsschwerpunkte auf dem Gebiet der Netzwerkanalyse einholen, noch unveröffentlichte Arbeitspapiere und Programme sammeln, sowie Kooperationsmöglichkeiten erkunden und anbahnen, die ich in einem internen Arbeitsbericht für die Kollegen dokumentierte. Die theoretischen, methodischen und empirischen Ergebnisse des Projektverbundes, der sich als erster in der deutschsprachigen Soziologie mit dieser neuen Forschungsrichtung befasste, fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Publikationen der Beteiligten und in einem gemeinsam gestalteten Schwerpunktheft „Analyse sozialer Netzwerke“ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Heft 3, 1984). Mein und meiner Mitarbeiter empirischer Beitrag war eine Untersuchung der „Personen- und Kapitalverflechtungen großer Wirtschaftsunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich“ (Ziegler 1984a). Ein paar Jahre später publizierte der Forschungsverbund dann noch einen speziellen Band über die Methoden der Netzwerkanalyse (Pappi 1987).
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Zwei Jahrzehnte in München: „institution-building“
Mit meiner Ernennung zum 1.9.1978 wurde der neu errichtete Konkordatslehrstuhl „Soziologie IV“ am Institut für Soziologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München zum ersten Mal besetzt. Konkordatslehrstühle sind eine bayerische Besonderheit, und es interessierte auch mich, welche Bewandtnis es mit einem solchen Lehrstuhl auf sich hat. Meine explizite Frage in den Berufungsverhandlungen wurde mir in meinem Berufungsschreiben vom 31.3.1978 wie folgt beantwortet: „Zu Ihrer Frage über die Bedeutung der Konkordatsbindung, der der Lehrstuhl unterliegt, darf ich auf folgendes hinweisen: In Art. 3 § 5 des Bayerischen Konkordats ist u.a. festgelegt, daß der Staat an der Universität München in einem für das erziehungswissenschaftliche Studium zuständigen Fachbereich einen Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaften unterhält, gegen dessen Inhaber hinsichtlich seines katholisch-kirchlichen Standpunkts keine Erinnerung zu erheben ist. Der Erzbischof von München-Freising hat versichert, daß er gegen Ihre Berufung auf dem o.g. Lehrstuhl keine Erinnerung erhebt. Das Konkordat verpflichtet unmittelbar nur den Freistaat Bayern als Vertragspartner. Auch eine evtl. künftig geänderte Auffassung der zuständigen kirchlichen Stellen über ihren katholisch-kirchlichen Standpunkt würde als solche auf Ihren beamtenrechtlichen Status keinen Einfluß haben.“ Diese Aussagen entsprechen völlig meiner 21-jährigen Erfahrung. Die Konkordatsbindung bedeutete keinerlei inhaltliche Festlegung oder Einschränkung. Nur zweimal wurde sie relevant, als es um die Vertretung des Lehrstuhls während meiner Beurlaubung ohne Bezüge ging. Im einen Fall war es unproblematisch, der Vertreter war katholisch; im anderen Fall – hier war der Vertreter evangelisch – wurde schließlich vom Ministerium und dem Erzbischöflichen Ordinariat eine sehr irdische Lösung gefunden: Er wurde nicht nach C4 sondern nur nach C3 bezahlt. Der Bereich der Lehre am Institut für Soziologie war bestimmt durch den Diplomstudiengang Soziologie und die Nebenfachfunktionen des Faches in einer Vielzahl von Magisterstudiengängen, in den Diplomstudiengängen in Wirtschaftsgeographie, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspädagogik, Statistik und Journalistik sowie in den Lehramtsstudiengängen in Sozialkunde und im Erziehungswissenschaftlichen Studium. In Absprache mit den Münchner Kollegen Karl Martin Bolte, Walter Bühl und Horst Helle übernahm ich mit meinen ursprünglich drei Mitarbeitern neben der Beteiligung an der Ausbildung in „Allgemeiner Soziologie“ die Betreuung der Vertiefungsgebiete Bildungssoziologie, Methodologie der empirischen Sozialforschung und Organisationssoziologie. Die etwas ungewöhnliche Formulierung „Methodologie der empirischen Sozialforschung“ sollte deutlich machen, dass dieser Bereich nicht nur die üblichen (quantitativen und qualitativen) Methoden der empirischen Sozialfor-
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schung, sondern auch wissenschaftstheoretische Fragen und Probleme der Modellbildung und Simulation in der Soziologie umfasste. In all diesen Bereichen wurden regelmäßig Vorlesungen, Übungen und Seminare auf einführendem und fortgeschrittenem Niveau angeboten. Eine sog. „mittelfristige Lehrplanung“, die jedes Semester fortgeschrieben und ausgehängt wurde, stellte sicher, dass die von der Prüfungs- und Studienordnung geforderten Veranstaltungen im Turnus angeboten wurden, so dass die Studierenden im Rahmen der Regelstudienzeit die geforderten Veranstaltungen besuchen und die notwendigen Scheine erwerben konnten. Jede/r Mitarbeiter/in hatte die Verantwortung für ein Vertiefungsgebiet und bot in diesem Bereich regelmäßig Übungen an, hielt mit mir Seminare ab, verfolgte die einschlägige Literatur, betreute die Diplomarbeiten und fertigte darüber Vorgutachten an. Nachdem ich bei Dienstantritt von Karl Martin Bolte die Verantwortung für den Methodenbereich übernommen hatte, wechselte ich mich mit ihm (bis 1984) und ab 1994 mit Jutta Allmendinger in der Durchführung der jeweils im Sommersemester stattfindenden großen Einführungsvorlesung in die Methoden der empirischen Sozialforschung ab. Die arbeitsintensiven Methodenkurse wurden bis zur Ernennung von Jutta Allmendinger 1992 ausschließlich durch meine Mitarbeiter/innen abgehalten. Im Rahmen dieser zweisemestrigen Übungen wurden empirische Projekte durchgeführt, die entweder aus Etatmitteln oder durch öffentliche bzw. private Geldgeber in München finanziert wurden. Während inhaltlich im Grundstudium die Vermittlung eines breiten Wissens der verschiedenen soziologischen Konzepte und Ansätze die Lehrkonzeption bestimmte, ging es im Hauptstudium vor allem um die Analyse der gesellschaftlichen Meso-Ebene der „intermediären Instanzen“. Auf der Grundlage der akteurstheoretischen Perspektive eines „liberalen Rational-Choice Ansatzes“ wurden kollektives soziales Handeln und organisierte korporative Akteure analysiert. Dies sind nicht nur wesentliche Strukturelemente gerade moderner Gesellschaften, sondern Gegenstandsbereiche, an denen sich in besonderem Maße die Fruchtbarkeit theoretischer Ansätze erweisen und par excellence genuin soziologische Fragestellungen aufzeigen lassen: die (kollektiv) unbeabsichtigten Folgen (individuell) absichtsvollen Handelns, emergente Effekte und das allgegenwärtige Mikro-Makro-Problem oder die evolutionäre Dynamik und Wechselwirkung zentraler institutioneller Regelungsmechanismen: die „invisible hand“ spontaner, selbstorganisierender Interdependenzsysteme, der „Leviathan“ eines organisierten Herrschaftssystems und die Voraussetzungen und Folgen gemeinsam geteilter Wertvorstellungen und Normen. Ein weiterer Schwerpunkt des Lehrstuhls im Hauptstudium war die Ausbildung in einer theoretisch fundierten, methodisch kontrollierten empirischen Sozialforschung. Die Vermittlung eines adäquaten Methodeninstrumentariums zur
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empirischen Analyse komplexer Strukturen und Prozesse war Teil dieser Lehrkonzeption. Dies ging einher mit der praktischen Einübung in die computergestützte Datenverarbeitung und -analyse sowie in neuere Verfahren der Simulation komplexer Akteurssysteme. Der Anwendungsbezug wurde insbesondere über die Forschungsschwerpunkte hergestellt. Eine große Zahl von empirischen Diplomarbeiten hat in eigenständigen empirischen Erhebungen konkrete Problemstellungen in einzelnen Praxisfeldern behandelt. Die Befragung der Münchner Absolventenjahrgänge 1985-1999 belegt, dass Studierende mit einem solchen empirischen Schwerpunkt signifikant bessere Berufs- und Einkommenschancen hatten (Berger und Kriwy 2004; Brüderl 1997; Brüderl et al. 1995, 1996). Zwar waren die Erfahrungen in vier sehr unterschiedlichen Städten und Universitäten eine Bereicherung – insbesondere die beeindruckende Kultur Wiens und die Mentalität ihrer Bewohner –, aber der Aufbau einer Forschungstradition erfordert mehr Kontinuität. Die Voraussetzungen dafür waren in München gegeben, und das Bleibeangebot im Jahre 1988 verbesserte sie noch. Eine Million DM für den räumlichen Ausbau des Instituts und die Computerausstattung sowie eine fünfte Assistentenplanstelle bewogen mich, den Ruf an die Universität Mannheim abzulehnen, obwohl sicher das dortige institutionelle und personelle Umfeld meiner Auffassung von Soziologie besonders entsprochen hätte. Als einen besonderen Erfolg empfinde ich es, dass es gelang, einer großen Zahl von hoch qualifizierten Nachwuchswissenschaftler/innen Entwicklungschancen zu bieten, die sie mit großem Einsatz erfolgreich genutzt haben. Insgesamt 21 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren während meiner Münchner Tätigkeit auf Plan- und Forschungsstellen tätig. Darüber hinaus waren mehrere Dutzend studentische Hilfskräfte und Tutoren über kürzere oder längere Zeiten beschäftigt und wurden aus Etat- und Drittmitteln bezahlt. Sie alle haben dazu beigetragen, dass Lehre und Forschung am Lehrstuhl erfolgreich durchgeführt werden konnten. Aus dieser Gruppe der Münchner Mitarbeiter/innen und dem Kreis meiner früheren Doktoranden und Assistent/innen haben inzwischen 13 eine Professur erhalten und zwar an den Universitäten Bayreuth (Rudolf Schüßler), FU Berlin (Helmut Kromrey), Eichstätt (Siegfried Lamnek), Erfurt (Nicole Saam), Halle (Heinz Sahner), Kiel (Monika Jungbauer-Gans), Konstanz (Thomas Hinz), Leipzig (Thomas Voss), Mainz (Peter Preisendörfer), Mannheim (Josef Brüderl), Potsdam (Dieter Holtmann), Wuppertal (Peter Kappelhoff) und ETH Zürich (Andreas Diekmann). Anerkennung erfuhr ich auch durch die Wahl zum ordentlichen Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Wintersemester 1995/96, die Wahl zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle/Saale, im Sommersemester 1999 und die Aufnahme in die European Academy of Sociology im Herbst 2008. Dass ich
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erst der zweite Soziologe nach Max Weber als ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie bin, wie mir Knut Borchardt verriet, ist wohl eher ein Kuriosum.
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Vier Jahrzehnte Forschung: die Schwerpunkte
Die während meiner fast 40-jährigen Assistenz- und Professorenzeit bearbeiteten Forschungsschwerpunkte wurden zum Teil bereits erwähnt und lassen sich vier Bereichen zuordnen: der Netzwerkanalyse, der Bildungs- und Schichtungssoziologie, der Organisationssoziologie und den Anwendungen des Rational ChoiceAnsatzes. Die Forschungen in den beiden ersten Bereichen waren Fortsetzungen von Arbeiten, die bereits vor meiner Zeit in München begonnen wurden bzw. bauten darauf auf. Im Durchschnitt waren 2-3 zusätzliche Projektmitarbeiter sowie eine größere Zahl studentischer Hilfskräfte in diesen Drittmittelprojekten beschäftigt. Die in Wien durchgeführte Netzwerkanalyse der Personen- und Kapitalverflechtungen war anschließend Teil eines international vergleichenden Projektes in neun westeuropäischen Ländern und den Vereinigten Staaten über „Intercorporate Structure“ (1978-1983). Die Ergebnisse dieses gemeinsamen Projektes wurden in einer englischsprachigen Publikation veröffentlicht, die auch ins Japanische übersetzt wurde (Stokman et al. 1985). Das abschließende Kapitel, das ein inhaltliches Resümee des Zehn-Länder-Vergleichs zog, wie auch das Schwerpunktheft der Kölner Zeitschrift über die „Analyse sozialer Netzwerke“ konnte ich während meines einjährigen Aufenthaltes 1983/84 als Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS), Wassenaar, abschließen, weitgehend ungestört von den üblichen Turbulenzen eines normalen Universitätsinstitutes. Die Querschnittsanalyse des deutschen Unternehmensnetzwerks von 1976 wurde im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogrammes „Methodologische Probleme in der Organisationsforschung“ (19821986) als „Netzwerkpanel“ für die Jahre 1981 und 1983 fortgeführt (Biehler/Ortmann 1984; Ziegler 1993). Das bildungssoziologische Projekt „Strukturanalyse der Schule“ wurde bereits erwähnt. Zwar wurde es von den Primärforschern nicht richtig ausgewertet, aber gut dokumentiert und archiviert. Außerdem hatte ich die Adressen der Eltern aufbewahrt, und Heiner Meulemann (Köln) hatte 1981/82 die Schulakten mit den Abiturs- und Abgangszeugnissen ausgewertet. Er, sein Mitarbeiter Wilhelm Wiese, Hans J. Hummell (Duisburg), Maria Wieken-Mayser (ZA Köln) und ich führten 1983-1987 eine Wiederbefragung der Gymnasiasten nach Studienabschluss und Berufsfindung durch. Die wesentlichen Ergebnisse dieser
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Panelstudie finden sich in Meulemann (1995). Zwei kleinere Arbeiten wurden von mir beigesteuert (Ziegler et al. 1988; Ziegler und Schladt 1993). Heiner Meulemann und Klaus Birkelbach haben dann 1996-1998 die ehemaligen Gymnasiasten erneut im Alter von 43 Jahren befragt (Birkelbach 1998). Damit liegt eine einmalige Datenbasis über Ausbildungsgang, Berufserfolg, Familiengründung und Erfolgsdeutung einer Kohorte von Gymnasiasten vom Jugendalter bis zur Lebensmitte vor. Im Forschungsschwerpunkt „Organisationssoziologie“ wurden größere Projektserien durchgeführt, die aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurden. Hervorzuheben sind: 1.
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Im Rahmen des SFB 333 wurde 1986-1989 eine Längsschnittstudie über einen internen Arbeitsmarkt in einem deutschen Großbetrieb durchgeführt (Brüderl et al. 1993). Gemeinsam mit Glen Carroll von der University of Berkeley untersuchte eine populationsökologische Studie 1989 die Entwicklung der deutschen Brauereiindustrie in den vergangenen 120 Jahren (Wiedenmayer 1992). Von 1989 bis 1991 wurden in einer retrospektiven Längsschnittsbefragung die Überlebens- und Erfolgschancen von in den Jahren 1985/86 neugegründeten Betrieben im Bereich der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern durchgeführt. Ausführlich dargestellt werden die theoretischen Ansätze zur Gründungsforschung und die empirischen Befunde der Münchner Gründerstudie in Brüderl et al. (2007 [1996]). Der Forschergruppe wurde für diese Arbeiten der mit DM 10.000,-- dotierte „bifegoGründungsforschungspreis 1993“ verliehen. Auf dieser Datenbasis hat Monika Jungbauer-Gans (1993) in ihrer Dissertation die Erfolgs- und Überlebenschancen der von Frauen und Männern gegründeten Betriebe verglichen. Ein in der Zeitschrift für Soziologie zum selben Thema veröffentlichter Artikel erhielt den Fritz Thyssen-Preis (Jungbauer-Gans/Preisendörfer 1992). Auf der Grundlage der Münchner Gründerstudie haben Monika JungbauerGans (1994) und Walter Kiefl (1994) auch zwei „Ratgeber für die Praxis“ veröffentlicht. Unmittelbar nach der Wende entstand die Idee, eine ähnliche Studie in den Neuen Bundesländern durchzuführen. Mit Unterstützung der Handwerkskammer und der IHK Leipzig führte ich – zusammen mit Peter Preisendörfer und in Kooperation mit Steffen H. Wilsdorf von der Partneruniversität Leipzig – von 1992 bis 1996 eine prospektive Befragung neugegründeter Unternehmen durch. Ausführlich dokumentiert wurden die Ergebnisse der Leipziger Gründerstudie in der Dissertation von Thomas Hinz (1998), die mit dem Förderpreis der Münchner Universität ausgezeichnet wurde. Die
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Rolf Ziegler Analysen des erstmalig in der Gründungsforschung eingesetzten Netzwerkmoduls finden sich in der Dissertation von Christoph Bühler (2001). Einen vergleichenden Überblick der Ergebnisse beider Gründerstudien enthält Ziegler (2000a). Alle drei Kammern machten uns die prozessproduzierten Daten für das Meldegeschehen der von uns untersuchten Münchner und Leipziger Betriebe über einen Zeitraum von 10 bis 12 Jahren zugänglich, so dass auch die längerfristigen Überlebenschancen analysiert werden konnten. Von der Münchner IHK erhielten wir außerdem die vollständigen Meldedaten für drei Gründungskohorten, so dass ein Vergleich der konjunkturell sehr unterschiedlich gelagerten Jahrgänge 1985/86, 1990/91 und 1993/94 möglich wurde. Diese Analysen sind in dem Anhang zur dritten, erweiterten Auflage unseres Buches (Brüderl et al. 2007) beschrieben, das auch ein vollständiges Verzeichnis aller 63 Publikationen enthält, die aus diesen Münchner und Leipziger Gründerstudien entstanden sind.
Während die bisher geschilderten Forschungsprojekte „Teamarbeit“ waren, sind die theoretischen Publikationen zum Rational Choice Ansatz die Werke eines „Einzelforschers“, die selbstverständlich im Kontext der relevanten Literatur und des einschlägigen Diskurses stehen. Anknüpfend an frühere, vereinzelte Ansätze (Ziegler 1984b, 1994, 1997a) und in Vorbereitung und Fortführung meines von der DFG 1995/96 finanzierten Forschungsfreijahres wurde ein Forschungsvorhaben über „Normen, soziale Ordnung und Rational Choice“ begonnen, dessen Ergebnisse auf mehreren internationalen Fachtagungen und in internationalen Zeitschriften vorgestellt worden sind (Ziegler 1997b, 1998b, 2000b, 2000c, 2008a). Die Beschäftigung mit diesem Themenkreis bildet auch einen Schwerpunkt meiner Arbeiten nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Universitätsdienst.
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In den Gremien der Forschungsförderung: der Blick über Fachgrenzen
Von den etwa zwei Dutzend Mitgliedschaften in Beiräten, Kommissionen und sonstigen Gremien waren sicher die interessantesten und den Horizont erweiternden die Jahre im Senat und Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1986-1992), als Mitglied des Standing Committee for the Social Sciences der European Science Foundation (1980-1992) und vor allem die sehr arbeitsintensive, aber faszinierende Mitwirkung nach der Wende 1990/91 in den Evaluationsgremien des Wissenschaftsrates für die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Akademieinstitute und Fakultäten in der DDR sowie später in
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den Struktur- und Berufungskommissionen der Universitäten Leipzig und Rostock. In meiner Abschiedsrede bei einem kleinen Empfang für die Mitarbeiter der DFG-Geschäftsstelle habe ich meine Erfahrungen über die Arbeit in der DFG wie folgt zusammengefasst: „Für die Institution ist es Routine: eine Amtszeit ist zu Ende, ein Nachfolger ist gewählt, die Arbeit geht weiter. Und das ist gut so. Die Weisheit von Statuten zeigt sich ja gerade darin, daß sie mit wenigen, klaren Bestimmungen die zentralen Strukturelemente, Entscheidungsprozeduren und Rekrutierungsweisen einer Organisation so festlegen, daß sich eine gelebte Praxis entwickeln kann, die im Weber´schen Sinne berechenbar ist, unvorhersehbaren Situationen flexibel zu begegnen vermag und doch zugleich den wesentlichen Prinzipien im alltäglichen Handeln durchschnittliche Geltung verschafft und dadurch glaubwürdig bleibt. Sie alle kennen diese wesentlichen Strukturprinzipien der DFG: Selbstverwaltung der Wissenschaft, alle Disziplinen unter einem Dach, gewähltes Fachgutachtersystem, gemeinsame Einzelfallentscheidung von Wissenschaftlern und Geldgebern, ‚bottom-up Prinzip’ bei den Inhalten der Forschung, kein eigenes, materielles Existenzsicherungsinteresse des verantwortlichen Antragstellers bei der Projektförderung. Man kennt diese Prinzipien vielleicht auch als Außenstehender, aber ihr Funktionieren im Alltag selbst mitzuerleben, ist doch etwas anderes. Ich würde z.B. jedem, der verlangt, die breite Förderung der Grundlagenforschung an irgendwelchen speziellen inhaltlichen – wissenschaftlichen oder gesellschaftspolitischen – Relevanzkriterien auszurichten, empfehlen, einmal ein halbes Dutzend Hauptausschußlisten zur Hand zu nehmen und dann anzugeben, welche fachübergreifenden, inhaltlichen Kriterien er meint anwenden zu können. Die DFG ist zwar keine ‚Honoratiorenverwaltung’, aber doch von der ehrenamtlichen Mitarbeit zahlreicher Kolleginnen und Kollegen abhängig. Und das muß so sein, denn es ist die unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren und die Legitimation einer selbstverwalteten Wissenschaftsförderung. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen den Aufwand eines – ich glaube nicht ganz untypischen – Senats- und Hauptausschußmitgliedes einmal beziffere. Ich tue das als Empiriker und – wie es eine Kollegin einmal so nett formulierte – bei meinem libidinösen Verhältnis zu Zahlen mit einer kleinen Statistik auf der Grundlage meines regelmäßig geführten Zeitbudgets. In den 6 Jahren nahm ich an 120 Sitzungstagen von Gremien, Kommissionen und ad hoc-Ausschüssen der DFG und der ESF teil, fertigte fast 600 schriftliche Stellungnahmen und Berichte an und erhob in etwa 180 Fällen Einspruch, der anderen Kollegen (aber auch mir) weitere Arbeit bescherte. Dies und die Durchsicht der nahezu 3000 Listen (jede dieser Listen enthält auf ca. 50 Seiten alle zur Entscheidung anstehenden Anträge für alle Fächer, das beantragte Budget, die Zusammenfassung des Antragstellers, die Gutachten und den darauf basierenden Entscheidungsvorschlag der Geschäftsstelle) hat weitere 230 Arbeitstage beansprucht, wobei ich zu statistischen Vergleichszwecken kontrafaktisch einen 8-stündigen Normalarbeitstag zugrundegelegt habe. Diese 350 Tage waren sicher nur aufzubringen, weil
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Rolf Ziegler Professoren wegen ihrer nicht fixierten Dienstzeiten trotz unvermindertem Arbeitsaufwand und ohne Deputatreduktion im Weber´schen Sinne ‚abkömmlich’ sind und weil sie dem Marx’schen Ideal sehr nahe kommen, nicht-entfremdete Arbeit zu verrichten, in der u.a. Privat- und Arbeitssphäre nicht getrennt sind. Meine Frau, der nicht nur ich, sondern ich glaube auch die DFG Dank schuldet, würde dies in der Alltagssprache wohl etwas plastischer ausdrücken. Man fragt sich sicher manchmal auch selbst, was einen eigentlich zu dieser Arbeit motiviert. Es wäre unaufrichtig, sich und anderen nicht einzugestehen, daß Ansehen und die Chance, etwas mitzugestalten, keine Rolle spielten. Das zweite wird aber oft überschätzt, und das erste hilft nicht mehr viel beim Lesen der Akten und Listen im Arbeitszimmer. Weit wichtiger ist dagegen der Anreiz, der aus dem besseren Informiertsein herrührt, aus dem Über- und Durchblick – und zwar über den Tellerrand des eigenen Faches hinaus –, den man sonst nicht gewonnen hätte. In der Routine des Alltags hilft allerdings m.E. nur Disziplin: Es ist schließlich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die übernommene Aufgabe zuverlässig, pünktlich und ordentlich zu erfüllen, von der nicht nur so hehre und wichtige, aber schlecht operationalisierbare Ziele wie die Förderung der Grundlagenforschung abhängen, sondern sehr viel unmittelbarer und konkreter die Arbeit und das Fortkommen des wissenschaftlichen Nachwuchses. Daß man bei seinem Urteil keine gravierenden Fehler und Ungerechtigkeiten begangen hat, kann man hoffen. Die DFG jedenfalls hat offensichtlich einen institutionell festgegründeten Glauben an die Wirkung des ‚Amtscharismas’, wenn sie einer Person die Betreuung der Soziologie, Politikwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Erziehungswissenschaft und Humangeographie überträgt.“
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Epilog: im (Un)Ruhestand
Zwar besaß ich das Emeritierungsrecht und hätte bis Ende des Sommersemester 2004 noch im Amt bleiben können, aber ich entschloss mich, unter Inanspruchnahme der sog. „Antragsaltersgrenze“ die Versetzung in den Ruhestand mit 63 Jahren zum Ende des Sommersemester 1999 zu beantragen. Dafür ausschlaggebend war die Überlegung, Zeit zu gewinnen für die Dinge, die mir wichtig sind und die um der korrekten Pflichterfüllung willen immer wieder zurückgestellt werden mussten. Zeit wird, insbesondere wenn man – so Gott will – bei körperlichen und geistigen Kräften bleibt, ein immer kostbareres Gut. Für die Wahl des Zeitpunktes war auch mitbestimmend, dass die Forschungsprojekte erfolgreich abgeschlossen und die daran beteiligten Mitarbeiter mit Erfolg ihren nächsten Karriereschritt getan hatten bzw. in absehbarer Zeit tun würden. Diese Überlegungen haben sich als richtig erwiesen. Ich konnte – aufbauend auf früheren Arbeiten (Ziegler 1987, 1990) – ein recht arbeitsaufwändiges Simulationsmodell über die Evolution des Kula-Ringes von Bronislaw Malinowski entwickeln (Ziegler 2007, 2008b), für dessen empirische Basis umfang-
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reiche Literaturrecherchen notwendig waren. Dafür oder auch für die Analyse größerer Datensätze bedarf es keines universitären „Apparates“, sondern es genügen die heutigen leistungsfähigen PCs und die Recherchiermöglichkeiten des Internet. Die gewonnene Zeit ermöglichte es auch meiner Frau und mir, gemeinsam noch viele interessante und erlebnisreiche Reisen in alle Kontinente unseres schönen Heimatplaneten zu unternehmen. Dafür bin ich besonders dankbar, denn Ingrids völlig unerwarteter Tod in diesem Frühjahr (2009) zeigt, wie wenig selbstverständlich und was für ein Geschenk eine solche Chance ist. Die von mir in meinem letzten Semester begonnenen und von meinem Nachfolger Norman Braun jedes Jahr fortgeführten einwöchigen Seminare an der Venice International University sind – im schönen Ambiente der Serenissima – eine anregende und stets interessante Gelegenheit, alte Bekannte wieder zu sehen und neue hoch motivierte und qualifizierte Studentinnen und Studenten kennen zu lernen. Ich wünsche dieser „Enkelgeneration“, dass sie ihre Chance bekommt, und bin sicher, dass sie sich der Herausforderung stellen wird.
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Ein nicht vorhersehbarer Lebenslauf? Karl-Dieter Opp
Lässt man Lebensläufe von Verwandten, Freunden, früheren Mitschülern oder Personen der Zeitgeschichte Revue passieren, dann kann man zwei Arten von Verläufen unterscheiden. Bei der ersten Art ist schon bei der Geburt oder zumindest während der Schulzeit klar, welches die künftige berufliche Tätigkeit sein wird. So zeigten Mitschüler ein ausgeprägtes Interesse und, so schien es, auch eine besondere Begabung für Mathematik oder Kunst, so dass schon zu dieser Zeit die Voraussage lautete, dass die betreffenden Mitschüler einen Beruf wie Lehrer oder Professor wählen würden, in dem mathematische Fragen oder Kunst im Mittelpunkt stehen. Bei der zweiten Art von Lebenslauf entwickelt sich die berufliche Weichenstellung erst kurze Zeit vor der Berufswahl. So wussten viele Mitschüler bis kurz vor dem Abitur nicht, welchen Beruf sie denn nun wählen sollten. Die hier zu behandelnde Biographie gehört zu dieser zweiten Art von Lebenslauf. Wenn ich zurückblicke auf die Zeit bis zum Beginn meines Studiums, hätte wohl kaum einer voraussagen können, dass ich einmal Professor für Soziologie werden würde. Wie ist es zu erklären, dass ein nicht besonders guter (aber auch kein besonders schlechter) Schüler eines altsprachlichen Gymnasiums ohne besonders ausgeprägte Interessen Soziologieprofessor wird? Die Beantwortung dieser Frage ist Gegenstand dieses Beitrages.1
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Wie erklärt man berufliche Karrieren?
Die Wahl eines Berufes kann zum einen durch die Ziele bzw. Vorlieben der betreffenden Person erklärt werden. Ein weiterer Faktor sind Ereignisse, die man durch eigene Handlungen mehr oder weniger beeinflussen kann. So ist eine Bewerbung zwar meist der erste Schritt für ein Stellenangebot, aber Bewerbungen sind nicht immer erfolgreich, d.h. deren Ergebnis ist nicht oder nur begrenzt beeinflussbar. Andere Ereignisse kommen ohne eigenes Zutun zustande wie z.B. 1 Dieser Aufsatz enthält also nicht die detaillierten Daten meines Lebenslaufes und mein Schriftenverzeichnis. Siehe hierzu die Internetseite des Instituts für Soziologie der Universität Leipzig: http://www.uni-leipzig.de/~sozio/content/site/mitarbeiter_main.php. In Englisch: http://www.soc.washington.edu/users/oppkd/vitapubl2engSEATTLE.pdf. Siehe auch Diekmann et al. (2008).
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das Angebot einer Gastprofessur, für die man sich nicht beworben hat. Dieses einfache Erklärungsmodell soll im Folgenden angewendet werden, um die Darstellung meines beruflichen Lebenslaufes zu strukturieren, d.h. ich werde über diejenigen Ereignisse berichten, die diesen beeinflusst haben.
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Der familiäre Hintergrund
Bei meiner Geburt (26.5.1937) deutete wohl nichts darauf hin, dass ich einmal Professor für Soziologie werden würde. Mein Vater war Bankangestellter und brachte es bis zum Prokuristen einer Privatbank in Köln. Dessen Vater war Tanzlehrer und Inhaber einer vor dem zweiten Weltkrieg bekannten Tanzschule in Köln. Mein Vater half in der Tanzschule aus, indem er für die musikalische Begleitung des Tanzunterrichts sorgte. Photos aus dieser Zeit zeigten, dass er ein gut aussehender Mann war. Er war auch ein guter Klavierspieler und hätte sicher die Fähigkeit gehabt, die Tanzschule meines Großvaters weiter zu führen (bzw. nach dem Krieg wieder neu aufzubauen). Er wurde aber nicht Tanzlehrer, sondern absolvierte eine Banklehre. Die Frau meines Großvaters – also meine Großmutter väterlicherseits – war Hausfrau. Auch meine Mutter hatte keinerlei Beziehung zur Wissenschaft. Sie eröffnete nach dem zweiten Weltkrieg ein Einzelhandelsgeschäft in Köln, in dem Spielwaren, Andenken und Zauberartikel verkauft wurden. Sie erbte dann ein weiteres Einzelhandelsgeschäft von ihrer Mutter (später schloss sie dann das eigene Geschäft). Dieses Geschäft meiner Großmutter – "Der Zauberkönig" – bestand seit 1912 in der Hohestraße und war über die Grenzen Kölns hinaus bekannt. Meine Großmutter stammte aus einer Familie von Magiern. Sie stand schon als Kind auf der Bühne. Ich besitze ein Photo von 1894, auf dem sie als sechsjähriges Mädchen abgebildet ist. Auf dem Bild hat sie einen Orden umhängen, den sie vom Großfürsten Michael von Russland verliehen bekommen hatte. Sie hatte drei Schwestern, die in München, Hamburg und Berlin ebenfalls einen "Zauberkönig" betrieben. Ich habe als Kind einmal nach dem zweiten Weltkrieg den Zauberkönig in Hamburg auf dem Neuen Jungfernstieg, der ihrer Schwester Rosa (die mit dem Ungarn Janos Bartl verheiratet war) gehörte, besucht. Ich habe dabei ein Gespräch von Janos Bartl mit einem professionellen Zauberkünstler mitbekommen, in dem es um den Verkauf eines Zaubertricks ging, der mehrere tausend DM kostete. Meine Großmutter mütterlicherseits war Jüdin und wurde von den Nazis für mehrere Jahre bis zum Ende des zweiten Weltkrieges in das Konzentrationslager Theresienstadt verbracht, was sie überlebte. Die Geschäftsräume in der Ho-
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hestraße wurden im Krieg zerstört. Nach Ende des zweiten Weltkrieges erfolgte eine Neugründung auf der völlig zerbombten Hohestraße, beginnend mit gehorteten Waren und einigen Brettern als Ausstellungsfläche. Nach ihrem Tod 1964 erbte meine Mutter das Geschäft. Der Mann meiner Großmutter, der weitaus älter als sie war und der bereits 1926 verstorben war, war u.a. Kapellmeister in Wien und am Gärtnerplatztheater in München.
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Die Zeit bis zum Studium
Die Kriegsjahre verbrachten wir (d.h. meine Eltern und mein Bruder) in einem kleinen Ort im Westerwald (Uckerath) bei einer Bauernfamilie. Ich ging dort von 1943 bis 1948 in die Volksschule. Danach wohnte ich bei meiner Großmutter mütterlicherseits in Köln und besuchte dort das humanistische Staatliche Friedrich-Wilhelm-Gymnasium von Ostern 1948 bis Ostern 1957. Im März 1957 legte ich das Abitur ab. Ich lernte bis zum Abitur Latein und wählte dann die letzten drei Jahre Alt-Griechisch. Weiter wurde vier Jahre Englisch unterrichtet. Französisch lernte ich in der Volkshochschule. Ich hatte bis zum Abitur keinerlei Vorstellungen darüber, welchen Beruf ich wählen sollte. Besondere intellektuelle Neigungen oder Fähigkeiten hatte ich nicht. Ich hatte in Betracht gezogen, Jura zu studieren – wie viele meiner Klassenkameraden. Aber ich war mir nicht sicher, ob dies das richtige Studienfach sei. Meine Eltern empfahlen mir eine kaufmännische Ausbildung. Mein Vater argumentierte, dass eine solche Ausbildung ja zu nichts verpflichte. Zumindest hätte ich eine berufliche Grundlage und könne danach frei entscheiden, ob und ggf. was ich studieren wolle. Ich absolvierte eine kaufmännische Industrielehre bei den Ford-Werken AG, Köln, vom 1. April 1957 bis zum 30. September 1959, die ich mit der Kaufmannsgehilfenprüfung (Note "sehr gut"!) abschloss. Bemerkenswert ist, dass weder mein Bruder Manfred (der vier Jahre jünger ist als ich und in Frankfurt am Main eine eigene Firma aufgebaut hat, die erfolgreich Unternehmen berät) noch ich in Betracht gezogen haben, das Geschäft meiner Mutter zu übernehmen. Wir wollten auch nicht in die Fußstapfen meines Vaters treten und z.B. eine Banklehre beginnen. Die Zeit der Lehre kann man im Nachhinein als meine "kritischen Jahre" bezeichnen. Als Schüler, der Aristoteles und Plato gelesen hatte, dachte ich, dass ich nun bei den Ford-Werken wichtige Aufgaben übertragen bekommen würde. Stattdessen landete ich zuerst in der Registratur und musste Rechnungen sortieren. Dies war eine riesengroße Enttäuschung, und die Arbeit empfand ich als äußerst frustrierend. In den zwei Jahren Lehrzeit arbeitete ich jeweils mehrere Monate in den wichtigsten Abteilungen wie Einkauf, Rechnungswesen und Ver-
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kauf. Zu der Ausbildung gehörte auch ein Aufenthalt in der Produktion, d.h. einige Wochen Arbeit am Fließband. Die Ausbildung, die durch wöchentlichen beruflichen Unterricht ergänzt wurde, verschaffte mir einen guten Überblick darüber, wie ein großer Wirtschaftsbetrieb funktionierte. Mir war schon ganz zu Beginn meiner Lehre klar, dass die Tätigkeit in einem solchen Betrieb keineswegs meinen Neigungen entsprach. Trotzdem hat mich die Funktionsweise des Unternehmens, d.h. die Arbeitsabläufe, Tätigkeiten der Mitarbeiter und die Beziehungen zu anderen Firmen, sehr interessiert. Dies dokumentiert ein ausführliches Berichtsheft, das ich während meiner Lehrzeit schrieb. Nach dem Abitur hatte ich mich zuerst sehr auf die praktische Tätigkeit bei Ford gefreut. Ich war froh, dass ich die Schule abgeschlossen hatte. Dann kam, wie gesagt, der Schock: die Arbeit in der Registratur! Auch die weitere Arbeit in den einzelnen Abteilungen fand ich wenig abwechslungsreich und vor allem wenig anspruchsvoll. Vielleicht war der krasse Unterschied zwischen der "reinen" Welt der Wissenschaft, der Literatur und Kunst, die wir in der Schule kennen lernten, und der Tätigkeit bei Ford ein Grund, dass ich nun plötzlich intellektuelle Interessen entwickelte. Diese bezogen sich zunächst auf die Funktionsweise des Betriebes und der Wirtschaft generell. Aber auch gesellschaftliche Sachverhalte interessierten mich. Dieses Interesse an "Gesellschaft" wurde verstärkt durch zwei öffentliche Vorträge des damaligen Ordinarius für Soziologie an der Universität zu Köln, René König. Ein Vortrag befasste sich mit der Soziologie der Masse. Ich hatte damals das Buch von Gustave Le Bon (Psychologie der Massen) gelesen, von dem ich ganz begeistert war. Die (im Nachhinein natürlich berechtigte) Kritik von König konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Der zweite Vortrag von König handelte über Jugendkriminalität. Dieses Mal beeindruckten mich die Thesen Königs. Weiter war ich von der Persönlichkeit Königs und dessen Art des souveränen und interessanten Vortrags begeistert. All dies geschah während meiner Lehrzeit. Ich begann während meiner Lehrzeit Literatur über Wirtschaft und Gesellschaft zu lesen. Dabei stieß ich auch auf das "System der allgemeinen Soziologie" von Leopold von Wiese und Kaiserswaldau. Wieder war ich begeistert – dass es sich hier um ein bloßes Begriffssystem und nicht um erklärende Hypothesen handelte, wurde mir erst später während des Studiums klar. Ich habe im Übrigen als Student bei von Wiese Vorlesungen gehört, die er noch lange nach seiner Emeritierung hielt. Schon während der Lehrzeit wurde mir klar, dass ich studieren wollte und dass Gegenstand des Studiums insbesondere das Fach "Soziologie" sein sollte, da ich besonders an gesellschaftlichen Sachverhalten interessiert war. Da ich
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nicht aus Köln weggehen wollte, kam nur ein Studium an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln in Betracht. Von den Studiengängen wählte ich nicht Volkswirtschaftslehre oder Betriebswirtschaftslehre, sondern Wirtschaftspädagogik, die damals von Friedrich Schlieper vertreten wurde. "Soziologie" konnte bei Studienbeginn nur als Nebenfach studiert werden. Der angestrebte Studienabschluss war Diplom-Handelslehrer. Der Grund war, dass ich nicht in einem Betrieb arbeiten wollte. Aber ein Lehrberuf mit dem Schwerpunkt "Wirtschaft" schien mir attraktiv zu sein. Außerdem dachte ich, dass mir dieser Beruf genug Zeit ließ, mich weiter mit Wirtschaft und Gesellschaft zu befassen. Eine Tätigkeit an der Universität wagte ich überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Wie ist es zu erklären, dass sich diese Interessen erst während der kaufmännischen Lehre herausbildeten? Die wenig positive Bewertung wirtschaftlicher Tätigkeit dürfte durch die humanistische Ausbildung während der Schulzeit bedingt sein. Das Studium der griechischen und lateinischen Klassiker, das Erlernen von Latein und Griechisch, und auch die vermittelten Inhalte der anderen Fächer wie Geschichte oder Deutsch ließen generell das Wirtschaftliche in einem wenig positiven Licht erscheinen. Diese negative Einstellung wurde dadurch verstärkt, dass ich mich regelmäßig in den Geschäften meiner Großmutter und meiner Mutter aufhielt und auch in Stoßzeiten (z.B. in der Weihnachts- und Karnevalszeit) beim Verkaufen helfen musste. Dies hat mir überhaupt keine Freude gemacht, was vielleicht ebenfalls die Abneigung gegen eine wirtschaftliche Tätigkeit erklärt.
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Das Studium
Mein wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln begann im Wintersemester 1959/1960. Im Dezember 1963 legte ich das Examen als Diplom-Handelslehrer ab. Meine Studienfächer waren Betriebswirtschaftslehre (mit dem Spezialfach Industriebetriebslehre), Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspädagogik, Recht und Soziologie. Das Thema meiner Diplomarbeit im Fach Soziologie war "Einige neuere Entwicklungen in der soziologischen Theorie der Jugendkriminalität". Eine überarbeitete Fassung erschien 1968 als Buch (Opp 1968). Die Soziologie in Köln hat sehr verschiedene Arten von Soziologen hervorgebracht, z.B. überzeugte Anhänger von Talcott Parsons, die dann zum Teil später zu Marxisten mutierten, "normale" quantitative Empiriker ohne besondere theoretische Orientierung, aber auch methodologische Individualisten, d.h. Anhänger des strukturell-individualistischen Forschungsprogramms, zu denen ich
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gehörte. Bei diesem Forschungsprogramm geht es darum, kollektive Sachverhalte wie gesellschaftlichen Wandel oder soziale Konflikte zu erklären, indem man soziales Handeln der individuellen Akteure erklärt. Die wissenschaftstheoretische Orientierung ist der Kritische Rationalismus, basierend auf den Schriften von Karl R. Popper und im deutschen Sprachbereich von Hans Albert, der während meines Studiums in Köln lehrte. In dieser wissenschaftstheoretischen Strömung geht es u.a. um die Entwicklung und Anwendung von generellen, informativen und testbaren theoretischen Ideen, die strengen empirischen Prüfungen zu unterziehen sind. Zu den Vertretern dieser Strömung in Köln im Bereich der Soziologie gehörten insbesondere Hans Joachim Hummell, Franz Josef Stendenbach und vermutlich auch Rolf Ziegler. Warum hat meine wissenschaftliche Entwicklung ausgerechnet diese Richtung genommen? Die an der Universität angebotenen Lehrinhalte zeigten eine sehr große Vielfalt. Die dominante theoretische Orientierung in der Soziologie war damals der Funktionalismus von Talcott Parsons und, als Gegenprogramm, die Soziologie von George C. Homans. Die Ideen der beiden Schulen wurden auch unter den Studierenden intensiv diskutiert. Der Marxismus und qualitative Strömungen standen noch nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Weiter lernten wir Methoden der empirischen Sozialforschung, insbesondere von Gerhard Kunz und Erwin K. Scheuch. In der Ökonomie vertrat Günter Schmölders eine empirische Ökonomik. Ansonsten wurde die Volkswirtschaftslehre als reine Wirtschaftstheorie vertreten, d.h. es wurde nicht gezeigt, dass es sich hier um generelle theoretische Aussagen handelte, die auch außerhalb der Ökonomie anwendbar waren. Die Wirtschaftspädagogik von Friedrich Schlieper basierte auf der katholischen Moraltheologie. Einer der Privatdozenten im Bereich der Sozialpolitik (der Lehrstuhlinhaber war Gerhard Weisser) war Hans Albert. Aber er war eben nur einer unter vielen Dozenten an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Wichtig ist, dass – mit Ausnahme von Hans Albert – eine dem Kritischen Rationalismus verpflichtete und individualistisch orientierte Sozialwissenschaft in Köln nicht vertreten wurde. Ich hatte zwar von Hans Albert gehört, hatte aber nie eine seiner Vorlesungen besucht. Er war eben, aus der Sicht eines normalen Studenten, einer unter vielen. Im Nachhinein scheint es eher ein Zufall gewesen zu sein, der mich zum Kritischen Rationalismus brachte. Vieles, was ich in Vorlesungen hörte, war für mich nicht überzeugend oder unverständlich. So war mir nicht klar, wie man mit dem Parsons´schen Funktionalismus konkrete Sachverhalte wie den Anstieg der Kriminalität in einem Stadtviertel erklären konnte. Genau solche konkreten Fragen interessierten mich. Als Studierender begegnet man immer wieder unterschiedlichen Definitionen bestimmter Begriffe wie "Betrieb" oder "Gesellschaft". Ich fragte mich, welche der verschiedenen Definitionen denn nun richtig
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ist. Der Wirtschafts- und Sozialpädagoge Friedrich Schlieper leitete die Erziehungsziele aus dem Wesen des Menschen ab. Welcher Art dieser Schluss war, erschien mir ein Rätsel. Ich stöberte regelmäßig in den Regalen der Seminarbibliotheken, um Schriften zu finden, die vielleicht meine Fragen beantworten konnten. Eines Tages stieß ich in der Präsenz-Bibliothek des Seminars für Soziologie auf ein Buch mit dem Titel "The Logic of Scientific Discovery" von Karl R. Popper (Popper 1959). Der Titel klang viel versprechend. Ich begann mit der Lektüre und war fasziniert. Der Text beantwortete eine Vielzahl meiner Fragen in überzeugender Weise. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, dass z.B. der Funktionalismus überhaupt keine testbare Theorie war. Ich lernte weiter zentrale Sachverhalte über Begriffsdefinitionen, Falsifizierbarkeit, Erklärung und Informationsgehalt. Poppers Schrift und andere wissenschaftstheoretische Schriften (wie die von Hans Albert, Carl G. Hempel oder Ernest Nagel), die ich dann las, wurden eine Art Waffe oder Werkzeugkasten, mit dem man die Schwächen vieler Argumentationen aufdecken konnte. Auch andere Studierende hatten damals Popper und die Wissenschaftstheorie entdeckt. Eine Konsequenz war, dass wir oft in Seminaren unangenehme Fragen stellten. Warum fand ich, im Gegensatz zu anderen Studierenden, die Poppersche Wissenschaftstheorie so überzeugend? Vielleicht lag das an meinen Fragen, die ich beantwortet haben wollte: Ich war unzufrieden mit "Theorien", die nicht in der Lage waren, konkrete soziale Sachverhalte in klarer (und das hieß für mich in verständlicher) Weise zu erklären, und ich wollte nicht bloß das, was andere schrieben, nacherzählen, sondern ich wollte wissen, ob das, was ich las, richtig war. Dies erklärt vielleicht auch, warum mir die Arbeiten von George C. Homans besonders überzeugend erschienen – ich komme hierauf später noch einmal zurück. Obwohl es in Köln damals nur wenige Personen gab, die das Homans´sche Programm nicht ablehnten, so war uns dieses Programm bekannt. Homans wurde öfter in Vorlesungen erwähnt. Weiter hatte mir Hans Gerd Schütte, zu Beginn meines Studiums wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Soziologie, bei einer Studienberatung "The Human Group" von Homans als Lektüre empfohlen – ein Buch, das mich sehr beeindruckte.
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Assistentenjahre in Köln
Aufgrund meiner Diplomarbeit über abweichendes Verhalten (1963) kam ich in Kontakt mit Fritz Sack, der damals wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Soziologie der Universität zu Köln war, das von René König geleitet
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wurde. Weiter hatte ich während des Studiums Kontakt mit Helmut Heid, der wissenschaftlicher Assistent bei Friedrich Schlieper war. Heid betreute eine Seminararbeit, bei der ich Koautor war. Da auch er dem Kritischen Rationalismus nahe stand, kamen wir ins Gespräch. Ich erwähne dies, da sowohl Sack als auch Heid mir nach dem Examen eine (halbe) Assistentenstelle anboten. Ich entschied mich aber dann, auch auf Anraten von Helmut Heid, für die Soziologie. Dort war ich ab 1. Januar 1964 wissenschaftliche Hilfskraft, dann Verwalter einer planmäßigen Assistentenstelle bzw. (nach der Promotion) planmäßiger Assistent bis zum 30. Oktober 1967. Meine erste Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft bei René König verdanke ich im übrigen Fritz Sack, der mich bei König empfahl. Die Assistentenjahre in Köln waren für meine weitere Entwicklung wichtig.2 Die Soziologie in Köln wurde Anfang der sechziger Jahre von René König vertreten. Er war der einzige Soziologie-Professor, leitete das Seminar für Soziologie, mehrere Institute, mehrere Forschungsgruppen und hatte eine Vielzahl von Mitarbeitern, u.a. auch Hans Joachim Hummell. Wir waren beide am Forschungsinstitut für Soziologie beschäftigt und teilten einen Raum. Die theoretische Debatte in der Soziologie fand auch unter den soziologischen Mitarbeitern der verschiedenen Institute und Forschungsgruppen statt. Es stellte sich heraus, dass Hummell und ich ähnliche Ansichten hatten. Wir diskutierten die Werke von Homans und Parsons. Weiter lasen und diskutierten wir wissenschaftstheoretische Schriften zum methodologischen Individualismus bzw. Reduktionismus. Diese Position schien uns die plausibelste zu sein. Wir begannen, ein Manuskript zu verfassen, in dem wir, aufbauend auf Homans und den wissenschaftstheoretischen Schriften, die wir gelesen hatten, unsere Position darlegten. Der Titel lautete: "Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre theoretische Bedeutung". Die erste Fassung von 1966 schickten wir an einige Kollegen. Das überarbeitete Manuskript wurde dann 1971 als Buch publiziert (Hummell und Opp 1971). Weiter erschien 1968 ein englischsprachiger Aufsatz mit dem Titel "Sociology without Sociology" (Hummell und Opp 1968). Wir gaben die erste Fassung des Manuskripts auch René König. Er war Anhänger einer kollektivistischen Soziologie, wie sie von Émile Durkheim und dann Talcott Parsons vertreten wurde. Aber es schien uns, dass er die Homans´sche Position nicht für völlig unsinnig hielt. Außerdem ließ König bei seinen Mitarbeitern eine große Breite von Positionen zu. Wir waren gespannt auf 2 Eine detailliertere Darstellung der Anfänge des individualistischen Programms in Köln ist enthalten in Opp 2009. Dort habe ich auch die Argumente, die für die individualistische Position aus damaliger Sicht sprachen, dargelegt. Weiter finden sich in diesem Aufsatz eine Diskussion der damaligen Kritik, der scheinbaren Weiterentwicklungen der Ideen von Hummell und mir und eine Beschreibung meiner gegenwärtigen Position.
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die Reaktion Königs auf unser Manuskript. Da wir glaubten, gute Argumente zu haben, erwarteten wir eher eine positive Reaktion. Wir hatten uns getäuscht. König sagte, das alles habe mit Soziologie überhaupt nichts zu tun. Ich erinnere mich genau, dass er das Manuskript demonstrativ in den Papierkorb warf. Wir waren besonders enttäuscht, dass König keine Argumente vorbrachte, warum das alles mit Soziologie nichts zu tun hatte. Wir hatten auch erwartet, dass König darlegen würde, welche unserer Argumente fragwürdig waren. All das geschah nicht: Es gab keine Diskussion. Aus heutiger Sicht waren wir damals ziemlich naiv, d.h. wir kannten den Wissenschaftsbetrieb nicht. Wir dachten, dass Wissenschaftler eher als "normale" Menschen detaillierten Argumenten zugänglich sind. Entsprechend haben wir z.B. nicht versucht, unsere Argumente in einer diplomatischen Sprache vorzubringen. Wir hatten nicht in Betracht gezogen, dass der Ausdruck "Reduktion" von Soziologen als ein Affront gegen ihre Wissenschaft aufgefasst wurde. Besonders schlimm war der provokative Titel des englischsprachigen Aufsatzes "Sociology without Sociology" von 1968. Das alles schien zu implizieren, dass wir die Soziologie abschaffen wollten. Das Gegenteil war der Fall, wie wir in den Publikationen betonten. Es scheint, dass viele oder die meisten Kollegen nur den Titel des Buches kannten und von der alltäglichen Bedeutung von "Reduktion" ausgingen. Danach wird das Reduzierte, in diesem Falle die Soziologie, überflüssig. In den Publikationen wurde jedoch ausführlich dargelegt, dass "Reduktion", in Anlehnung an Homans, "Erklärung" bedeutet. Mit "Reduktion von Soziologie auf Psychologie" war gemeint, dass Makroaussagen (also Aussagen über gesellschaftliche Zusammenhänge) durch eine Mikrotheorie (also eine Theorie über menschliches Handeln) erklärt werden sollten. Selbst bei ernsthaften Auseinandersetzungen mit unseren Thesen ist man im Nachhinein über die vielen Missverständnisse erstaunt (siehe hierzu im Einzelnen Opp 2009). Welche persönlichen Konsequenzen hatten unsere Publikationen zur "Reduktion"? Es ist schon bemerkenswert, dass wir nicht entlassen oder in irgendeiner Weise von König diskriminiert wurden. König schien unsere Ideen eher als Jugendsünde oder als eine kurzfristige Verirrung zu betrachten. Vielleicht dachte er, dass seine harsche Kritik uns wieder auf den richtigen Weg führen würde. Für mich gab es eine unangenehme Konsequenz. Ich konnte (oder wollte) meine Dissertation, die kurz vor dem Abschluss stand und in der ich ebenfalls den individualistischen Ansatz vertrat, nicht einreichen. Stattdessen verfasste ich innerhalb eines halben Jahres eine neue Dissertation (Opp 1968b). Die Promotion fand am 25. Juli 1967 statt. Dies war in so kurzer Zeit möglich, da Gegenstand der Dissertation ein laufendes Forschungsprojekt über die ökologische Verteilung der Kriminalität in Köln war, an dem ich mitarbeitete und deren Lei-
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ter Fritz Sack war. Grundideen der abgebrochenen Dissertation habe ich dann in meiner Habilitationsschrift ausgearbeitet (Opp 1970). Im November 1967 habe ich das Kölner Institut verlassen und bin als wissenschaftlicher Assistent an das Seminar für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg (siehe hierzu weiter unten) gegangen. Die Frage, ob eine Habilitation auch in Köln möglich gewesen wäre, stellte sich entsprechend nicht. Hat die Reduktionismus-These negative Konsequenzen für meine berufliche Karriere gehabt? Insgesamt ist dies schwer zu beurteilen. Für den Wechsel von Köln nach Nürnberg (siehe unten) spielte sie keine Rolle. Auch für die Berufung auf einen Lehrstuhl nach Hamburg direkt nach der Habilitation 1970 scheint sich die Vertretung des individualistischen Programms nicht negativ ausgewirkt zu haben. Dies war aber offensichtlich der Fall für eine Berufung nach Köln (siehe unten). Ich habe mich mehrfach in Köln beworben. Wie ich hörte, wurde ein erster Platz auf einer Berufungsliste vor allem von Erwin K. Scheuch verhindert. Dies änderte sich erst 1991, als ich auf Platz 1 einer Liste für eine Professur für Soziologie in Köln stand (Nachfolge Hartmut Esser). Der Finanzminister hat der Erteilung des Rufes als Beamter nicht zugestimmt. Als Grund wurde genannt, dass ich die festgelegte Altersgrenze (meines Wissens 52 Jahre) überschritten hatte (ich war damals 54 Jahre alt). Zu erwähnen ist, dass Assistenten damals entweder keine Lehrveranstaltungen halten mussten oder bestenfalls ein zweistündiges Seminar. Letztes galt für mich: Ich hielt einen Einführungskurs für Soziologie, aber, wie das damals üblich war, "für König". Nicht nur die Lehrbelastung, auch die Belastung durch die Korrektur von Seminararbeiten war gering. Es gab in Köln nur wenige Pflichtscheine. Dies schaffte enorme Freiräume für Diskussionen, die Arbeit an Publikationen und an der Dissertation.
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Assistentenjahre in Nürnberg
Am 1. November 1967 wurde ich planmäßiger Assistent am Seminar für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg, dessen Direktor Prof. Dr. Karl Gustav Specht war. Nach der Promotion in Köln wäre eine meiner Aufgaben gewesen, das von König herauszugebende Handbuch der empirischen Sozialforschung zu betreuen. Dies wäre sehr zeitaufwendig und auch für mich wenig attraktiv gewesen. Es passte sehr gut, dass ich nach dem Weltkongress für Soziologie in Evian 1966 bei einem Urlaub in Cassis zufällig Clausjohann Lindner traf, den ich vom Studium in Köln kannte. Er war wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Soziologie in Nürnberg und fragte mich, ob ich nicht Interesse an einer Assistentenstelle hätte, die zu besetzen war. Ich hätte dort, wie er mir sagte, nur ein Se-
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minar zu halten und genug Zeit für wissenschaftliche Arbeiten. Außerdem habe der Direktor Karl Gustav Specht ein gutes persönliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern und belaste sie nicht mit irgendwelchen Aufgaben. Lindner vermittelte dann ein Gespräch mit Professor Specht, das sehr zufrieden stellend verlief. Wichtig war auch, dass mir eine Habilitation in Aussicht gestellt wurde. In Nürnberg habe ich mich weiter mit dem individualistischen Forschungsprogramm, mit Kriminalität bzw. abweichendem Verhalten und auch mit dem Gebiet "Normen und Institutionen" befasst. Die Habilitation erfolgte am 18. Februar 1970, die Habilitationsschrift wurde 1970 veröffentlicht (Opp 1970). Weiter habe ich das Manuskript "Methodologie der Sozialwissenschaften" fertig gestellt, dessen erste Auflage 1970 erschien (Opp 1970b). Die Zeit in Nürnberg hat meine grundlegende wissenschaftliche Orientierung nicht verändert. Sie wurde eher bestärkt durch viele Diskussionen mit Mitarbeitern der verschiedenen Lehrstühle und Studierenden. Durch die relativ geringe Anzahl von Studierenden und die geringe Belastung mit Selbstverwaltung waren die Arbeitsmöglichkeiten ganz hervorragend.
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Lehrstuhlinhaber in Hamburg
Bereits im Wintersemester 1970/71, also kurz nach der Habilitation 1970, vertrat ich den neu geschaffenen dritten Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hamburg. (Er wurde nach meinem Weggang nach Leipzig 1993 gestrichen.) Die beiden anderen Lehrstuhlinhaber waren Heinz Kluth und Janpeter Kob. Am 12. Juli 1971 wurde ich zum Ordentlichen Professor für Soziologie an der Universität Hamburg ernannt. Obwohl ich etwa 22 Jahre an der Hamburger Universität geblieben bin, habe ich mich dort nie wohl gefühlt. Ein Grund war, dass ich kaum Gesprächspartner hatte. Es gelang jedoch, eine kleine Gruppe aus Mitarbeitern und Studierenden aufzubauen, die zumindest mit meiner Position vertraut waren. Das kann man von den Kollegen nicht sagen: Ich hörte mehrfach von Studierenden, welche unsinnigen Behauptungen über das individualistische Programm in deren Lehrveranstaltungen verbreitet wurden. Eine wissenschaftliche Diskussion zu diesem Programm mit Kollegen gab es nie! Ein anderes Negativum war die Belastung durch Selbstverwaltung, obwohl ich mich häufig weigerte, Mitglied neuer Kommission zu werden. Drittens waren die ununterbrochenen, uns von den Politikern aufgezwungenen Sparauflagen frustrierend, weil sie RessourcenKämpfe unter den Kollegen hervorriefen, die sehr zeitaufwendig waren. Ein Lichtblick war die relativ geringe Belastung durch Studierende. Der Hauptgrund war, dass ich als "schwer" (nicht "schwierig"!) verrufen war. Bei anderen Kolle-
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gen konnte man leicht eine gute Note bekommen (ein Kollege gab nur "gut" oder "sehr gut"). Schließlich war eine wissenschaftsfeindliche Verwaltung dann noch sozusagen das Sahnehäubchen. Hätte ich nicht immer wieder Mittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der Volkswagen-Stiftung erhalten, hätte ich wohl Kopien oder auch einen Computer selbst bezahlen oder, wie viele Hamburger Kollegen, aus der Wissenschaft aussteigen müssen. Meine wissenschaftlichen Interessengebiete haben sich während meiner Zeit in Hamburg geändert: Ich habe mich von der Kriminologie bzw. Soziologie des abweichenden Verhaltens abgewendet und mich in die Literatur über politische Partizipation, insbesondere politischen Protest, soziale Bewegungen und Revolutionen, eingearbeitet. Was waren die Gründe hierfür? Anfang der sechziger Jahre wurde die Soziologie des abweichenden Verhaltens, wie sie sich in den USA entwickelt hatte, in der Bundesrepublik von einer Gruppe von Soziologen, zu denen ich auch gehörte, rezipiert. Beteiligt waren weiter insbesondere Lieselotte Pongratz, Stephan Quensel und Fritz Sack. Es erfolgte die Gründung des Arbeitskreises Junger Kriminologen, der regelmäßig Tagungen veranstaltete. Weiter wurde von Mitgliedern dieses Kreises das Kriminologische Journal begründet. Es stellte sich bald heraus, dass sich die (damals) jungen Kriminologen in eine marxistische Richtung entwickelten. Hinzu kam, dass der "labeling approach" (Reaktionsansatz) in seiner radikalen Variante, insbesondere vertreten von Fritz Sack, Fuß fasste. Ätiologische Forschung (d.h. die Frage nach den Ursachen der Kriminalität) wurde als sinnlos abgetan, da ja Kriminalität durch die Sanktionsinstanzen geschaffen wurde – so die These des radikalen Reaktionsansatzes.3 Entsprechend richtete sich das Interesse auf die Reaktionen von Sanktionsinstanzen. Als Einzelgänger hatte ich keine Lust, mich mit einer derartigen Entwicklung auf Dauer auseinanderzusetzen. Ich arbeitete mich insbesondere in die Literatur über Protest und soziale Bewegungen ein. Der Grund war, dass es sich hier auch zumindest bei Formen illegalen Protests um abweichendes Verhalten handelte, so dass ich den Bereich der Kriminologie nicht völlig verlassen musste. Auch schien mir, dass in der Soziologie sozialer Bewegungen normale theoretisch-empirische Forschung betrieben wurde. Im Nachhinein war dies nur teilweise richtig (Opp 2009b). Warum bin ich so lange in Hamburg geblieben? Der Hauptgrund war, dass die Situation meiner Einschätzung nach an den meisten anderen Universitäten nicht besser, sondern eher schlechter war. Wie gesagt, hätte ich gerne an die Universität Köln gewechselt. Dies war aber, wie oben ausgeführt wurde, nicht 3 Siehe meine Kritik (Opp 1972), auf die nie im Detail geantwortet wurde – wenn man einmal von einer kurzen Replik von Fritz Sack absieht (siehe hierzu Opp 1973).Die Absurdität der These, dass Kriminalität nicht real ist sondern geschaffen wird, illustriert die Frage eines Studenten in Leipzig über die Vertreter dieser These: "Sind diese Leute eigentlich verrückt?"
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möglich. Immerhin hatte ich mir in Hamburg einen gewissen Freiraum geschaffen. Auch gab es keine marxistischen Kollegen, die einem die Art der Forschung und Lehre vorschreiben wollten. Marxisten saßen nur in den studentischen Gremien, die Professoren als ihre natürlichen Feinde betrachteten. Als ich nach Leipzig kam, war ich erstaunt, dass ich dort mit ganz normalen studentischen Vertretern zu tun hatte, mit denen man Probleme gemeinsam lösen konnte. Die wissenschaftlichen Kontakte hatte ich mit Kollegen anderer Universitäten. Also: man konnte in Hamburg wissenschaftlich überleben und produzieren, wenn auch in einem wenig stimulierenden wissenschaftlichen Umfeld, das man sich aber dann außerhalb suchen konnte. In dieses Bild der Universität Hamburg passt auch die Reaktion auf einen Brief mit dem Titel "22 Jahre Professor an der Uni Hamburg – Jetzt reicht es!", den ich an Kollegen, die Presse, die Wissenschaftsbehörde, den Präsidenten der Universität und an andere Personen geschickt habe. Dort habe ich die Misere der Universität beschrieben, wie sie vorher skizziert wurde. Der damalige Wissenschaftssenator Prof. Dr. Leonhard Hajen schrieb mir am 20.7.1994, ich sei "an analytischer Schärfe nicht zu überbieten" – also hatte ich Recht.4 Dann bat er mich, den Kolleginnen und Kollegen die Qualität nicht abzusprechen. Von der Universitätsspitze hat niemand reagiert. Ich nehme an, man war froh, dass ein Lehrstuhl frei wurde, den man streichen konnte. Das Hamburger Abendblatt hat am 25. Januar 1994 und die Bild-Zeitung am 2. Februar über meinen Weggang, basierend auf dem genannten Brief, berichtet. Die Bild-Zeitung hat die Wissenschaftsbehörde um eine Stellungnahme gebeten und berichtet, der Sprecher Jenspeter Rosenfeld habe geäußert: "Wir sind auch nicht zufrieden. Aber die Mittel sind eben begrenzt". Dies ist sicher publikumswirksamer als etwa: "Wir wollen schließlich die Wahlen gewinnen und brauchen Geld. Wenn wir an der Uni sparen, merken die Leute das am wenigsten."
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Im August 1993 erhielt ich einen Ruf auf einen Gründungslehrstuhl an die Universität Leipzig, den ich im Dezember 1993 annahm. Es schien, dass ich hier ein weitaus stimulierenderes wissenschaftliches Umfeld finden würde als in Hamburg. Für Leipzig sprach weiter, dass die Lehrstuhlausstattung weitaus besser war als in Hamburg und dass das kleinere Institut (sechs Professuren) weniger 4 Die wenig freundliche Behandlung der Universität durch die Hamburger Politik wird treffend in einem Artikel in DIE WELT, Hamburg-Teil, vom 22.7.2008, beschrieben mit der Überschrift: "Die Universität ist nie in Hamburgs Mitte angekommen. Die Kaufmannsstadt schätzte die Forschung lange Zeit nicht – und so richtig geändert hat sich daran bis heute wenig. Eine Analyse."
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konfliktreiche Entscheidungen ermöglichen würde als das Institut in Hamburg. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich die Universität Hamburg verlassen habe. Ich hatte zwar befürchtet, dass aufgrund der Neugründung des Instituts in Leipzig nach der Wende viel Gremienarbeit auf mich zukommen würde. Dies war jedoch überhaupt nicht der Fall, da die Gründungskommission bereits Prüfungsordnungen vorgeschlagen hatte, die auch erlassen worden waren. Auch waren zunächst einmal alle Stellen besetzt, so dass es kaum Personal-Kommissionen gab. Die Institutssitzungen fanden einmal im Semester statt und dauerten höchstens zwei Stunden – unvorstellbar, wenn man aus Hamburg kam. Weiter war auffallend, wie kollegial und freundschaftlich der Umgang miteinander war. Es gab sogar wissenschaftliche Diskussionen, was in Hamburg nie der Fall war. Hinzu kam, dass in den ersten Jahren die Seminare klein waren und aus sehr motivierten und fleißigen Studierenden bestanden. Die Verwaltung war, ebenfalls im Gegensatz zu Hamburg, äußerst kooperativ. Besonders positiv ist weiter zu vermerken, dass es in den ersten Jahren zusätzliche Mittel aus Westdeutschland gab, so dass regelmäßig Kollegen zu Vorträgen eingeladen werden konnten. Meine Forschungen in Leipzig konzentrierten sich zunächst auf die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Panel-Studie über die Proteste in Leipzig, deren erste Welle im Herbst 1990 erhoben wurde. Die Daten bezogen sich auf die Situation im Jahr 1989 (siehe z.B. Opp et al. 1993). Ich war zum ersten Mal im Zusammenhang mit diesem Projekt im März 1990 in Leipzig. Dort hatte ich mich mit Peter Voß getroffen, den ich als Mitarbeiter für das Projekt gewinnen wollte und auch gewonnen habe. Ich hätte mir damals nicht träumen lassen, dass ich einmal Professor in Leipzig werden würde. Weitere Wellen des Panels wurden 1993, 1996 und 1998 erhoben. Dies ist ein einmaliger Datensatz, an dessen Auswertung ich auch heute (2009) noch arbeite. In der Soziologie sozialer Bewegungen wird "Identität" als eine zentrale Variable für politische Partizipation betrachtet. Mir war nicht klar, in welcher Beziehung "Identität" mit den Variablen der Theorie rationalen Handelns stand. Es hat mich deshalb gereizt, in dem 1998 beantragten und genehmigten Sonderforschungsbereich "Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel Sachsen" mitzuarbeiten. Im Rahmen dieses SFB (und auch nach dessen Schließung) habe ich mit Kurt Mühler eine dreiwellige Panel-Studie (Erhebungszeitpunkte 2000, 2002 und 2003) durchgeführt. Hier ging es um die Ursachen und Wirkungen regionaler und überregionaler Identifikation. Dabei wurden auch die Wirkungen auf Protest thematisiert (siehe Mühler und Opp 2004, 2006). Für mich war dabei besonders interessant, wie "Identifikation" in die Theorie rationalen Handelns integriert werden kann (siehe Mühler und Opp 2006: Kapitel VII).
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Die Zeiten in Leipzig haben sich in den letzten Jahren vor meiner Emeritierung im Jahre 2002 geändert. Dies gilt zum einen für die stark gewachsene Zahl von Studierenden. An der Universität Leipzig waren 1990 ca. 13000 Studierende eingeschrieben, 2008 waren es über 30000 – selbstverständlich blieb die personelle Ausstattung dabei konstant, und die Sachmittel wurden gekürzt. In den letzten Jahren vor meiner Emeritierung war es üblich, dass Seminare für Fortgeschrittene aus 80 und mehr Studierenden bestanden. Entsprechend stark wurde die Prüfungsbelastung. Nach meiner Emeritierung wurden die neuen Studiengänge BA/MA eingeführt, die Sparbeschlüsse der sächsischen Regierung wurden noch rigoroser, und die Zahl der Studierenden stieg weiter (und wird weiter steigen, wie mir Kollegen sagten – Stand 2008), natürlich bei konstantem Personal. Entsprechend habe ich auch nicht versucht, meine aktive Zeit in Leipzig zu verlängern. Leider ist Leipzig heute eine ganz normale deutsche Universität (dies ist in einem sehr negativen Sinne gemeint). Nach meiner Emeritierung halte ich in Leipzig jedes Semester eine dreitägige Blockvorlesung, in der die Studierenden auch Leistungsscheine erwerben können. Dies zwingt mich, auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem ist dies eine Gelegenheit, Kollegen in Leipzig regelmäßig zu treffen und Kontakte mit Studierenden aufrecht zu erhalten. Ein weiterer Grund ist, dass ich gerne lehre – aber nicht acht oder neun Semesterwochenstunden.
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Professor an der University of Washington in Seattle
Ich habe bisher niemanden gefunden, der mir erklären kann, warum ein Hochschullehrer in Deutschland mit 65 Jahren gezwungen wird, seine aktive Tätigkeit einzustellen. In den USA kann der Hochschullehrer selbst entscheiden, wann er in den Ruhestand gehen will. Die deutsche Zwangspensionierung ist nicht nur eine gigantische Verschwendung von Ressourcen, sondern auch eine Diskriminierung. Warum darf man z.B. nach Alter diskriminieren, aber nicht nach Geschlecht oder Religion? Wie dem auch sei: Ich hatte keineswegs die Absicht, nach meiner Emeritierung meine wissenschaftlichen Aktivitäten und die Lehre an Universitäten einzustellen. Meine Vorstellung war, in einem anderen Land, vorzugsweise USA, mehrere Monate im Jahr zu lehren. Entsprechend fragte ich eine Reihe von Kollegen, ob sie hierfür Möglichkeiten sähen. Kurz nach meiner Emeritierung schrieb mir dann Michael Hechter, zu dieser Zeit noch Professor an der University of Washington in Seattle, ob ich nicht im Winter-Quartal 2003 (Ende September bis Anfang Dezember) als Gast-Professor nach Seattle kommen wollte. Ich habe sofort zugestimmt, da ich Seattle von vorherigen Besuchen kannte. Seit
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dieser Zeit (mit Ausnahme von 2004 – durch ein Missverständnis bin ich in diesem Jahr nicht in Seattle gewesen) habe ich regelmäßig im Frühjahrsquartal (Ende März bis Anfang Juni) einen Kurs für graduierte Studierende gehalten. Im September 2007 wurde ich zum "Affiliate Professor" ernannt. Für die kommenden Jahre habe ich eine "standing invitation", wie es der damalige Direktor, Prof. Stewart Tolnay, ausdrückte. Vergleicht man die University of Washington in Seattle, und insbesondere das Department of Sociology, mit deutschen Universitäten der Gegenwart, dann wird einem deutlich, was man eigentlich während der langen Zeit in Deutschland versäumt hat. Ein regelmäßiges "Department Colloquium", andere regelmäßige Veranstaltungen wie ein "Seminar of Institutional Analysis", kurzfristig angesetzte "workshops" oder andere Veranstaltungen, in denen z.B. ein Forschungsprojekt diskutiert wird, sind Beispiele für die Aktivitäten des Departments. Hinzu kommen zahlreiche Vorträge, die von anderen Institutionen organisiert werden. Bemerkenswert ist auch die besonders intensive Betreuung graduierter Studierender (die also ihren BA erworben haben). Sie präsentieren z.B. "papers" und fungieren als "discussants" in Veranstaltungen. In meinen Seminaren ist eine Bedingung für ein "grade", also einen Leistungsschein, eine Hausarbeit. Die Qualität dieser Arbeiten ist mit denen meiner Studierenden in Leipzig oder Hamburg überhaupt nicht zu vergleichen. Dies gilt nicht für die sehr wenigen Ausnahme-Studierenden, die es auch hierzulande gibt.
10 Auslandsaufenthalte Man kann im deutschen Universitätssystem auf verschiedene Weise überleben, d.h. forschen und publizieren. Eine Möglichkeit ist, eine Auszeit zu nehmen. Dabei kommt der Aufenthalt an einem sog. Institut für fortgeschrittene Studien ("Institute for Advanced Study") in Betracht. An einem solchen Institut werden Wissenschaftler eingeladen, die von ihren Universitäten beurlaubt werden und an den Instituten Bücher oder wissenschaftliche Artikel verfassen. Weiter sind Gastprofessuren an nicht-deutschen Universitäten wichtig: Die Lehrbelastung ist fast immer deutlich geringer als in Deutschland, so dass mehr Zeit für Forschung und Diskussionen bleibt. Außerdem führen die neuen Kontakte und die neue Umgebung oft zu Kooperationen oder Anregungen für neue wissenschaftliche Arbeiten. Meine wichtigsten "Stationen" waren ein Aufenthalt am Netherlands Institute of Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS, August 1976 bis August 1977), die Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research in New York City (September 1991 bis Mai 1992) und ein Auf-
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enthalt bei der Russell Sage Foundation in New York City (September 1996 bis Ende März 1997). Alle diese Aktivitäten fielen in meine Zeit in Hamburg. Dies – und viele weitere kürzere Aufenthalte an anderen Universitäten und auch die Teilnahme an vielen internationalen Kongressen – haben mir das wissenschaftliche Überleben in Hamburg erheblich erleichtert.
11 Das persönliche Umfeld Wenn man trotz der hohen Lehrbelastung und anderer Restriktionen viel Zeit in die Lehre investieren will, um gute Lehrveranstaltungen anbieten zu können, und empirisch forschen und auch publizieren will, ist der Zeitaufwand groß. Eine 60Stunden Woche oder mehr ist keine Seltenheit. Das verfügbare Zeitbudget wird auch durch die Erfüllung alltäglicher Pflichten – vom Einkaufen bis zur Erteilung von Daueraufträgen bei Banken – beeinflusst. Meiner Frau habe ich es zu verdanken, dass ich im häuslichen Arbeitszimmer – obwohl unsere zwei Söhne einige Bewegung ins Haus brachten – ungestört arbeiten konnte: Sie hat die Rolle der Hausfrau, Mutter und Managerin des Haushalts seit unserer Heirat 1966 übernommen. Eine gewisse gelernte Lebensuntüchtigkeit habe ich dabei in Kauf genommen.
12 Einige kleine Reflektionen zum deutschen Universitätssystem Ich habe mich im Laufe der Zeit immer wieder gefragt, warum sich die Situation an den deutschen Universitäten seit meiner Studentenzeit Anfang der sechziger Jahre nicht verbessert sondern eher verschlechtert hat. Warum betonen Politiker in den Sonntags- und Wahlreden und in Fernsehdiskussionen immer wieder die Bedeutung der Bildung, und kürzen dann die Mittel oder wählen andere Maßnahmen, die die Situation an den Universitäten weiter verschlechtern. Spektakuläre Aktionen wie die Exzellenz-Initiativen sind bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Erhöhung der Lehrverpflichtung, von 6 bis 8 Stunden in den siebziger Jahren, auf 8 und gegenwärtig oft 9 Stunden wöchentlich ist eine Maßnahme, die die Forschungsmöglichkeiten weiter einschränkt. Die Anzahl zu betreuender Studierender pro Professor – in Deutschland gegenwärtig im Durchschnitt 70 und dabei weitaus höher als z.B. in den USA – wird nicht reduziert. Maßnahmen wie die neue Besoldungsordnung bedeuten für neue Professoren eine drastische Verminderung ihrer Bezüge und schaffen damit negative Anreize für eine Universitätskarriere (siehe z.B. die Süddeutsche Zeitung vom 8.2.2008: "Ausgezogen bis aufs letzte Hemd. Die neue Professorenbesoldung ist skandalös
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niedrig: Wer will da noch Forscher werden?"). Das relativ konstante Budget der Deutschen Forschungsgemeinschaft, obwohl durch die Vereinigung das Antragsvolumen deutlich gestiegen ist, vermindert die Forschungsmöglichkeiten weiter. Warum wird nicht deutlich mehr in die Universitäten investiert? Die Antwort gibt wahrscheinlich die ökonomische Theorie der Politik: Politiker wollen Stimmen oder Unterstützung maximieren. Bildungsausgaben sind dabei nur ein Mittel zu diesem Zweck. Man wird die Bildungsausgaben senken und dass gesparte Geld anderweitig ausgeben, wenn das die Unterstützung durch den Wähler erhöht. Da die Wähler über das Universitätssystem nur mangelhaft informiert sind, ist es leicht, tatsächliche Mittelkürzungen oder Maßnahmen, die die Situation an den Universitäten verschlechtern, zu verschleiern oder sogar als Maßnahmen der Verbesserung zu deklarieren. Dies ist auch deshalb leicht, weil die Wirkungen solcher Maßnahmen erst langfristig auftreten und nur schwer bestimmten politischen Entscheidungen zuzurechnen sind. Ein Bespiel: fragen Sie, der Leser oder die Leserin, einmal Freunde und Bekannte, die nicht in einer Universität arbeiten, was sie über die neue W-Besoldung wissen. Was denkt ein normaler Bürger über eine Lehrverpflichtung von 9 oder vielleicht 12 Stunden? Ein Bekannter, der wenig über Universitäten wusste und dem ich über die Lehrverpflichtung von 8 Stunden berichtete, äußerte: "Das ist ja toll, ich wusste gar nicht, dass Professoren nur 8 Stunden wöchentlich arbeiten." Die Prognose: es wird sich wenig im deutschen Universitätssystem ändern.
13 Rückblick und Fragen Das zu Beginn skizzierte einfache Erklärungsmodell scheint sich zu bestätigen. Zum einen waren die Konsequenzen einer Reihe von Aktivitäten kaum voraussehbar. Als ich die Vorträge von René König hörte, habe ich nicht geahnt, dass diese dazu beigetragen haben, dass ich Soziologie studierte. Auch bei erfolgreichen Bewerbungen sind die Konsequenzen kaum absehbar. So war nicht vorauszusehen, dass bei meiner ersten Assistentenstelle in Köln Hans Joachim Hummell mein Kollege war und das Dienstzimmer mit mir teilte. Andere Ereignisse treten unabhängig von eigenen Aktivitäten auf. Dies gilt etwa für die Einladung, als Theodor Heuss Professor ein Jahr an der New School for Social Research in New York City zu lehren. Inwieweit hat ein Akteur Kontrolle über die Ereignisse, die seinen beruflichen Werdegang beeinflussen? Vermutlich sind die meisten Handlungskonsequenzen nur in geringem Maße beeinflussbar. Ob z.B. eine Bewerbung erfolgreich ist, hängt von sehr vielen Faktoren ab, auf die man keinen Einfluss hat. Dasselbe gilt, wenn man einen Aufsatz einer Zeitschrift zur Publikation ein-
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reicht. Andererseits wird man aber solche Handlungen wie Bewerbung oder Einreichung eines Aufsatzes nur dann ausführen, wenn die (erwünschten) Handlungskonsequenzen wenigstens in gewissem Ausmaß wahrscheinlich sind. So habe ich mich nicht auf Stellen beworben, wenn ich wusste, dass eher marxistisch orientierte Personen gesucht wurden. In das skizzierte Modell passen auch die objektiv gegebenen Restriktionen wie die Anzahl der offenen Stellen oder die hohen Lehrverpflichtungen. Als ich mich Ende der sechziger Jahre um eine Professur bewarb, gab es noch viele offene Stellen. Ist das nicht der Fall, werden die wahrgenommenen Wahrscheinlichkeiten, dass eine Bewerbung erfolgreich ist, geringer oder sinken auf null, so dass Bewerbungen unterbleiben. Bei hohen Lehrverpflichtungen können bestimmte Handlungen – etwa Ideen für neue Projekte oder Publikationen – nicht verfolgt werden. Weiter sind solche Restriktionen Anreize, sich Handlungen zu überlegen, die im Rahmen der vorgegebenen Restriktionen (in legaler Weise) Freiräume erhöhen. Selbstverständlich wird über diese Strategien und Taktiken hier nicht gesprochen. Ein Faktor wurde bisher nicht betrachtet: die Interessen oder Präferenzen. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich bestimmte Interessen hatte. Wie kommen die Interessen zustande? Die Antwort auf diese Frage muss hier allein schon aus Raumgründen unterbleiben. Eine andere Frage ist: Wie genau steuern Interessen Verhalten? In meinem Falle waren die Interessen relativ breit: Ich wollte mich generell mit "Gesellschaft" befassen. Dass ich mit der Kriminalsoziologie begann, ist vermutlich dadurch zu erklären, dass dies das erste Thema war, mit dem ich mich aufgrund eines Vortrages von René König befasste. Ich hätte mich z.B. auch für Stadtsoziologie, Berufssoziologie oder irgendeine andere spezielle Soziologie interessiert (und habe mich damit auch befasst). Die Beschäftigung mit genereller Theorie ist bedingt durch die "Entdeckung" der Wissenschaftstheorie (siehe vorher), die zeigte, dass für Erklärungen Theorien unabdingbar sind. Von Bedeutung für einen beruflichen Lebenslauf sind aber auch eher stabile Persönlichkeitseigenschaften – was immer das genau sein mag. Dies ist ein Faktor, den Soziologen normalerweise nicht in Betracht ziehen. Wie steht es aber z.B. mit einer Unempfindlichkeit gegenüber kollegialen Sanktionen? Es hat mich z.B. nie in irgendeiner Weise beeinflusst, dass viele Soziologen meine Positionen nicht akzeptierten. Mich haben nur Argumente interessiert. Entsprechend enthalten meine Schriften auch of Kritik, die nicht immer zurückhaltend formuliert ist. Dies hatte sicherlich Konsequenzen für Bewerbungen, Einladungen zu Vorträgen etc. Aber damit konnte und kann ich sehr gut leben!
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Literaturverzeichnis Diekmann, Andreas, Klaus Eichner, Peter Schmidt, und Thomas Voss (Hrsg.). 2008. Rational Choice: Theoretische Analysen und empirische Resultate. Festschrift für Karl-Dieter Opp zum 70. Geburtstag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hummell, Hans J., und Karl-Dieter Opp. 1968. Sociology without Sociology. The Reduction of Sociology to Psychology: A Program, a Test, and the Theoretical Relevance. Inquiry 11, 205-226. Hummell, Hans J., und Karl-Dieter Opp. 1971. Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre theoretische Bedeutung. Braunschweig: Vieweg. Opp, Karl-Dieter. 1968. Kriminalität und Gesellschaftsstruktur. Eine kritische Analyse soziologischer Theorien abweichenden Verhaltens. Neuwied und Berlin: Luchterhand (2. Auflage 1974 mit dem Titel "Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur"). Opp, Karl-Dieter. 1968b. Zur Erklärung delinquenten Verhaltens von Kindern und Jugendlichen. Eine ökologische Analyse der Kinder- und Jugenddelinquenz in Köln und eine Kritik des kriminalökologischen Ansatzes. München: Verlag des Deutschen Jugendinstituts. Opp, Karl-Dieter. 1970. Soziales Handeln, Rollen und soziale Systeme. Ein Erklärungsversuch sozialen Verhaltens. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag. Opp, Karl-Dieter. 1970b. Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theorienbildung, Reinbek: Rowohlt Verlag (Rowohlts deutsche Enzyklopädie). Opp, Karl-Dieter. 1972. Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie. Eine kritische Analyse einiger Thesen des "labelling approach". Kriminologisches Journal 4, 3252. Opp, Karl-Dieter. 1973. Ideologie und wissenschaftstheoretische Positionen im labeling approach. Ein Nachtrag zu Fritz Sack. Kriminologisches Journal 5, 142-146. Opp, Karl-Dieter. 2009. Das individualistische Erklärungsprogramm in der Soziologie. Entwicklung, Stand und Probleme. Zeitschrift für Soziologie 38, 26-47Opp, Karl-Dieter. 2009b (im Druck). Theories of Political Protest and Social Movements. A Multidisciplinary Introduction, Critique and Synthesis. London and New York: Routledge. Opp, Karl-Dieter, Peter Voß, und Christiane Gern.1993. Die volkseigene Revolution. Stuttgart: Klett-Cotta (englische Übersetzung 1995). Mühler, Kurt, und Karl-Dieter Opp. 2004. Region und Nation. Zu den Ursachen und Wirkungen regionaler und überregionaler Identifikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mühler, Kurt, und Karl-Dieter Opp unter Mitarbeit von Michael Mäs, und Ralph Richter. 2006. Region – Nation – Europa. Die Dynamik regionaler und überregionaler Identifikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Popper, Karl R.1959. The Logic of Scientific Discovery. New York: Basic Books.
Zwei Wege in die Soziologie: Stationen und warum die Entscheidungen so fielen Jürgen Friedrichs
Wenn man versucht, eine Person zu schildern, so muss man aus deren Leben auswählen, Ausschnitte präsentieren, von denen man meint, sie stellten die Person – bei aller Begrenztheit der jeweils gewählten Ausschnitte – doch als typisch und richtig dar. Einer von wenigen Zugängen ist, nach Situationen zu fragen, in denen die Person für ihr weiteres Leben wichtige Entscheidungen getroffen hat (vgl. Friedrichs und Schwinges 2009: 205f., 302f.). Dabei sind vermutlich besonders jene Situationen wichtig, in denen für die Person schon in der Entscheidungssituation deutlich war, hier an einem Scheideweg- oder einem Scheidedelta zu stehen und nun einen Weg zu wählen mit erheblichen Konsequenzen für das künftige Leben. Da ich mich hier selbst befrage, ist die Sache noch komplizierter, denn man kann bekanntlich seine Rationalisierungen nicht hinreichend durchschauen. Damit müssen die Autoren und ebenso die Leser/innen leben. Ich greife zwei solcher Situationen mit sehr folgereichen Entscheidungen heraus. Sie hatte gesagt. „Bitte, laß mich in Ruhe, geh jetzt nach Hause, ich habe drei Kinder zu versorgen, ich in meiner Lage kann gar nicht daran denken, wieder zu heiraten.“ „Sag ja, und ich gehe“, sagte Jacob selbstbewußt. Das fanden alle Umstehenden so lustig, dass auch sie laut auflachte. „Gib mir wenigstens Bedenkzeit, ich kann mich doch nicht so Knall auf Fall entscheiden.“ „Das kannst du sehr wohl, du kannst sofort einwilligen. Dann handelst du nicht dümmer als andere Menschen, die meinen, sie würden einen solchen Schritt nach reiflicher Überlegung tun. Für jeden von uns ist es ein Schritt ins Dunkle, und hat man ihn getan, macht es, bei Lichte betrachtet, nichts aus, ob du ja oder nein sagst. Was du auch tust, und was du auch läßt, du kennst doch nie die Folgen von dem, was du tust, du könntest ebenso gut bei jeder Entscheidung, die du fällst, einen stuiver in die Luft werfen und dann, ja nachdem, ob du Kopf oder Zahl bekommen hast, danach handeln. Vielleicht wärst du dann sogar besser dran. Nun aber, weil du ja sozusagen eine Entscheidung gefällt hast, ist es, als könnte alles, was du tust, dir zugeschrieben werden, denn sonst hättest du immer die Entschuldigung: Ja aber der stuiver zeigte Zahl, dafür kann ich doch nichts.“ Maarten t’Hart, Die Netzflickerin
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Vielleicht ist es hilfreich, so zu denken oder nach einer solchen Entscheidungsheuristik zu handeln, aber so war es in meinem Falle nicht: Ich kann die Verantwortung nicht „Kopf“ oder „Zahl“ zuweisen.
Situation 1: Der Weg ins Studium der Soziologie Mai 1961, Berlin-Grunewald, Tennisclub Rot-Weiß. An diesem Tag sitze ich mit einigen Clubmitgliedern auf der Terrasse des Tennisclubs bei strahlendem Sonnenschein. Ein Anwesender berichtet, im „Stern“ sei ein sensationeller Artikel erschienen: Zum ersten Mal sei es Journalisten aus Deutschland gestattet worden, mit mehreren PKWs eine Reise durch die Sowjetunion zu machen, darunter Henry Nannen. Die Photos waren sehr eindrucksvoll, denn wer hatte mit einer Öffnung der Sowjetunion gerechnet und wer hatte schon eine solche Reise gemacht? Sehr lustig war z.B. ein Photo von Russen an einer Tankstelle, die Schlafanzüge trugen, weil, wie man aus dem Artikel lernen konnte, dies die Freizeitkleidung war. Ich weiß leider nicht mehr, wem ich es verdanke, den Artikel auf den Tisch gelegt und daraus zitiert zu haben, mit der Bemerkung am Ende „Müsste man auch mal machen“. Mit am Tisch saß auch mein Freund Hans-Jürgen Brückner, damals Student der Betriebswirtschaft, der meinte, das könne man ja wirklich machen, und es fiel der nachgerade programmatische Ausdruck „irre Idee“. Nach einigen Witzeleien über diese Idee wurde es ernst, denn derjenige, der den Artikel mitgebracht hatte, fand, er sei zu alt dafür, aber wir sollten doch eine solche Reise machen. Wir beschlossen, diese abwegige Idee, abwegig, weil durch den Ost-WestKonflikt seit Jahren geprägte Gesellschaft und Denkweise, dennoch zu verfolgen. Deshalb gingen wir zu dem sowjetischen Reisebüro, „Intourist“, am Olivaer Platz in Berlin und erkundigten uns nach den Bedingungen einer solchen Reise. Wie kaum anders zu erwarten, waren die Genossen im Reisebüro überfordert, denn bislang hatten sie individuelle Reisen noch nicht im Gepäck. Dennoch: eine Woche später sagte man uns, welche Informationen und Unterlagen wir beibringen sollten, u.a. die Orte, die wir besuchen wollten, die Dauer des Aufenthaltes in den Orten sowie die Ein- und Ausreisepunkte in der Sowjetunion. Sie gaben uns Karten von der Sowjetunion (die wir zuvor nicht hatten), und so konnten wir in wenigen Tagen die Reiseroute festlegen: Warschau (von dort Einreise in die SU)– Minsk – Moskau – Kiew – Sotschi – Lwow (Lemberg) und (Ausreise aus der SU)) – Szegedin.
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Dazu muss man anmerken, dass hier ein Mechanismus wirksam wurde, der die gesamte Planung durchzog: Die Idee war so unglaublich, ja: abwegig, dass man – vor allem unsere Eltern – fast wehrlos war, dagegen zu sprechen. Und genau das passierte. Sie waren so sprachlos, dass sie uns gewähren ließen und diese Reise in der Tat im Juli und August 1961 in einem schwarzen VW-Käfer stattfand. Die Seitentüren waren mit großen Decofix-Buchstaben beklebt: (Deutsche Studenten) – was auch einen symbolischen Vorgriff auf mein Leben bedeutete, denn ich war zu diesem Zeitpunkt ja kein Student. So merkwürdig es klingen mag: Der Sinn dieser vierwöchigen Reise ist mir erst am Ende der Reise klar geworden. Zunächst waren es die unglaublich vielen Eindrücke von der bis dahin völlig unbekannten Sowjetunion, die anregenden Gespräche mit vielen anderen Touristen, die wie wir als „early adopter“, die vor allem aus Frankreich und den USA kamen, durchweg links orientiert waren. Dann aber auch die Herzlichkeit, die uns entgegengebracht wurde, obwohl wir Deutsche waren und der „Große Vaterländische Krieg“ noch nicht lange zurücklag. Da die Reise nicht Gegenstand des Aufsatzes ist, belasse ich es bei diesen Worten. Sekundär, und darauf kommt es hier an, bewegte mich die Frage, wie mein Leben weitergehen sollte. Ich war zu diesem Zeitpunkt quasi Mitinhaber des Rauchwaren (Pelz)-Großhandels und als Kaufmann recht erfolgreich. Obwohl ich ursprünglich studieren wollte, bin ich doch dem Wunsch meines Vaters gefolgt und 1957 in das väterliche Geschäft eingetreten. Aber mir war seit langem klar, dass dies nicht mein Leben sein würde, zumal ich durch einen Freund, der in der Schule neben mir saß, auf die Soziologie aufmerksam wurde und er mich als Gasthörer mit an die Freie Universität Berlin nahm. Neben den Vorlesungen von Prof. Lieber in Philosophie war ich in Seminaren von Dr. Margarita von Brentano und Dr. Peter Furth, die beide zu dem Argument-Kreis um Wolfgang Fritz Haug gehörten. Wir lasen und diskutierten über Marx, Hegel und vor allem Horkheimer und Adorno. Mit Maßanzug und Krawatte wurde ich in deren Seminar mit „Ach, da kommt unser Kaufmann“ begrüßt. Es sollte nicht ganz so diskriminierend sein, wie es klang, hat aber dennoch seine Wirkung nicht verfehlt. Diese Wirkung erstreckte sich unterschwellig auf eben die Reise im Sommer 1961 durch die Sowjetunion. Es war die Frage danach, ob ich weiter machen sollte, oder die ebenso kostenreiche Alternative wählen sollte, alles hinzuwerfen und doch noch ein Studium zu beginnen. So hätte ich auch meinen besten Freund, der zu dem Zeitpunkt Jura studierte, ebenbürtiger entgegentreten können. Vielleicht, so habe ich damals oft überlegt, war allein die Entscheidung, diese ungewöhnliche Reise durchzusetzen, schon der Anfang, mich auszuprobieren und am Ende sogar von
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den Eltern und der Arbeit im Geschäft meines Vaters und mithin einer kaufmännischen Karriere abzulösen. Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass im Jahre 1961 der Gedanke, in die Sowjetunion zu reisen, durch die Phase des Kalten Krieges geradezu widersinnig und erschreckend war. Viele fragten uns, ob wir nicht fürchteten, nicht wiederzukommen. Nun muss man endgültig über Opportunitätskosten sprechen. Ich verdiente sehr gut, hatte einen Wagen und war in der Firma meines Vaters erfolgreich. Aber es zeichnete sich damals schon ab, dass unsere Kunden, nämlich die Kürschner, also der Einzelhandel, lieber fertige Mäntel in Kommission nehmen wollten und seltener die Rohware für eine Pelzjacke oder einen Pelzmantel im Großhandel kauften. Ich sah langfristig wenige Chancen für den traditionellen Großhandel, in dem mein Vater gelernt hatte und groß geworden war. Von der Pelzkonfektion, die die Zukunft zu sein schien, verstanden wir so gut wie gar nichts. Ich hätte also über kurz oder lang das Geschäft meines Vaters zugunsten eines Unternehmens der Pelzkonfektion verlassen müssen. Die unterschwellige Diskussion mit mir selbst über meine Zukunft, von der ich die ganze Zeit schon spreche, endete nach der Rückkehr in Berlin. Dort war im Übrigen, während wir in der Sowjetunion waren, der erste Teil der Mauer entstanden, und ich konnte noch sehen, wie der „antifaschistische Schutzwall“, mit dem sich die DDR einmauerte, jeden Tag weiter wuchs. Den Hass auf die DDR-Regierung habe ich nie verloren. Zwei Wochen nach der Rückkehr von der Reise packte ich meine Bücher, kündigte bei meinem Vater, der nun morgens alleine ins Büro fuhr, zog nach Hamburg als Untermieter in eine Wohnung einer Freundin meiner Mutter. Meine Mutter unterstützte meinen Entschluss, weil sie ohnehin immer der Ansicht war, ich solle studieren. Im Übrigen war mir klar, dass ich keine finanzielle Unterstützung durch meine Eltern erhalten würde (und auch nicht erhalten habe). Im Wintersemester 1961/62 begann ich mein Studium mit Soziologie als Hauptfach, Psychologie und Philosophie als Nebenfächern und für zwei Semester auch Volkswirtschaftslehre. In den Sozialwissenschaften lehrten die Soziologen Heinz Kluth, Rudolf Tartler, dem nach seinem plötzlichen Tod Jan-Peter Kob auf den Lehrstuhl folgte, Siegfried Landshut und später Wilhelm Hennis, sowie als Dozenten an der Akademie für Wirtschaft und Politik Karl-Martin Bolte und Elisabeth Pfeil. Bei ihr habe ich viele Jahre an Forschungsprojekten mitgearbeitet, bei Heinz Kluth habe ich promoviert und wurde danach einer seiner Assistenten. In der Philosophie lehrte unter anderem Carl-Friedrich von Weizsäcker, bei dem ich auch mein Rigorosum abgelegt habe – mit einer anregenden Prüfung über den Wiener Kreis. Für lange Zeit war aber die Sozialpsychologie der für mich lehrreichste Teil des Studiums. Im Psychologischen Institut hatte Peter R. Hofstätter eine akademische Konstellation, wie man sie sich für
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eine gute Lehre und Forschung wünscht: homogen in der wissenschaftstheoretischen Ausrichtung, hier: quantitativ und auf hohem Niveau der Statistik, dennoch diversifiziert in den Teilen: Klaus Eyferth, Gustav A. Lienert, Friedrich Sixtl, Werner Tack. Ihre Seminare haben meine quantitative Ausrichtung in der Soziologie geprägt. Noch ein Rückblick: Schon damals hatte ich den Eindruck, der bis heute anhält, während dieser Reise die Entscheidung getroffen zu haben. Für meinen Vater, der mich wohl mit der Hoffnung gezeugt hatte, ich würde sein Geschäft übernehmen und fortführen, war dies die größte Enttäuschung seines Lebens. Er hat sie nie verwunden. Denn in der Tat gingen nach meinem Fortgang die Geschäfte schlechter, was aber vor allem an den veränderten Bedingungen des Großhandels lag, denn die vermutete wirtschaftliche Konzentration wurde größer und die Großhändler immer weniger bedeutsam.
Situation 2: Der Weg nach Köln Eine andere sehr schwierige Entscheidung meines Lebens war, mich in Köln auf die Stelle des Direktors des Forschungsinstituts für Soziologie, Nachfolge Professor Neidhardt, zu bewerben. Es war ein Entscheidungsprozess, dessen einzelne Phasen durch die jeweils vorangegangenen Entscheidungen bedingt waren. Im Jahre 1988 wurde eine C4-Stelle in der Allgemeinen Soziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ausgeschrieben. Zu dieser Zeit war die von mir in Hamburg gegründete und geleitete „Forschungsstelle vergleichende Stadtforschung“ noch immer erfolgreich. (Vgl. zur Arbeit dort: Alpheis 2004). Ich hatte rund ein Drittel aller Drittmittel des Fachbereichs eingeworben – nicht zu jedermanns Freude. Aber es gab auch das Problem, mich von meiner Spezialisierung, der Stadtforschung, stärker zur Allgemeinen Soziologie bewegen zu wollen. Zudem war die Arbeitsbelastung, den Stand der Forschungsstelle zu halten und deshalb immer neue Drittmittel einwerben zu müssen, sehr belastend. Jeder kennt diese Situation: Man möchte Personen weiter beschäftigen, möchte auch noch mehr Projekte durchführen, aber das geschieht irgendwann nicht mehr freiwillig, sondern wird zu einer Art Mühle, ein rat race. Hinzu kam, dass zwischen mir und meinem damaligen Assistenten, Jens Dangschat, den ich inzwischen für gleichberechtigt hielt, die Arbeitsteilung aufgehoben wurde, sich damit aber eine Konkurrenz entwickelte, die für den Jüngeren vermutlich zwingend war, mir aber zunehmend weniger produktiv erschien. Ich hatte sehr lange gezögert, mich auf diese Stelle in Köln zu bewerben, denn meine Spezialisierung in Methoden und Stadtforschung entsprach nicht
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ganz den dort geforderten Kenntnissen in Allgemeiner Soziologie. Erst ein Brief aus Köln, warum ich mich denn nicht bewerbe, wozu ich dann noch zwei Tage Zeit hätte (Bewerbungsschluss 16. 9. 1988), nötigte mich zu einer endgültigen Entscheidung. Der Brief besagte ja, die Wahrscheinlichkeit, zumindest einen Listenplatz zu erlangen, sei wesentlich größer als die von mir wahrgenommene Wahrscheinlichkeit. Ich habe deshalb noch am gleichen Morgen alle Unterlagen kopiert, ein Anschreiben diktiert, das Ganze in einen großen Umschlag getan, Briefmarken gekauft und diesen Umschlag abgeschickt. Am Abend habe ich dann meiner Frau davon erzählt, mich heute in Köln beworben zu haben. Ihre Reaktion war gespalten. Einerseits fand sie es für meine berufliche Karriere sinnvoll, andererseits hätte sie die Entscheidung, mich zu bewerben, gerne vorher mit mir diskutiert. Schließlich hatte sie eine gute berufliche Position, die sie hätte aufgeben müssen, ohne zu wissen, ob und wie rasch sie in Köln eine neue Position fände. Meine Rechtfertigung bestand nur darin, dass ich die Chance, den Ruf zu erhalten, noch immer für gering hielt oder sogar im Falle eines Rufes noch absagen könnte. Hier war natürlich eine Selbsttäuschung im Spiel: Ich habe diese Rückzugsposition in der Tat für möglich gehalten, andererseits war mir klar, dass ich im Falle des Rufs zu meiner Bewerbung stehen und den Ruf annehmen sollte, obgleich der Gedanke, Hamburg zu verlassen, uns sehr schwer fiel, nicht zuletzt, wenn man in Hamburg-Eppendorf in einer großen Altbauwohnung wohnt. Aber es war die große Chance des Neubeginns im Alter von 50 Jahren, und es gibt vermutlich viele Kolleginnen und Kollegen, die genau zu diesem Zeitpunkt ähnlich denken. Es ist der Reiz des neuen Beginns und die Gewissheit, dass dies die letzte Station der akademischen Karriere ist. Es ist auch ein Punkt, an dem die Biographie neu geschrieben werden kann. „Ich könnte je nach Zufall auch eine ziemlich andere Biographie mit allen Daten, die einem zum Hals heraushängen, sie braucht nicht einmal die wahrscheinlichste zu sein: sie ist nur eine mögliche, eine von vielen, die ebenso möglich wären unter denselben gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen und mit derselben Anlage der Person.“ Max Frisch, Biographie: Ein Spiel.
Lange Zeit erfuhr ich, wie es bei Berufungen so üblich ist, gar nichts. Hartmut Esser berichtete mir, der Kollege Franz-Urban Pappi stünde auf Platz 1 und ich auf Platz 2, wobei die Entscheidung nicht einstimmig war. Pappi, damals auf einem Lehrstuhl in Kiel, hatte sich ebenfalls in Köln, aber auch in Mannheim beworben und stand auch dort auf Platz 1. Er verhandelte in Kiel, Köln und Mannheim fast anderthalb Jahre lang. Es ist eines der Mirakel und Defizite der deutschen Universitäten zu jener Zeit, ein Verhandeln an drei Orten und über
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einen so langen Zeitraum überhaupt zuzulassen. Aber offenbar sind insbesondere Personen, die der Rational Choice-Theorie nahestehen, häufig geneigt, die Externalitäten ihres Handelns zu ignorieren. Da ich dieser Theorie auch zuneige, hat mich dies besonders irritiert. Als Pappi sich entschieden hatte, den Ruf in Mannheim anzunehmen, erging im Juli 1990 der Ruf an mich. Er erreichte mich nun in einer völlig anderen Situation. Meine Frau war schwanger und erwartete die Geburt des Kindes im Frühjahr des Jahres 1991. Also hatten wir ein langes Gespräch darüber, ob ich den Ruf annehmen solle, denn die Bedingungen waren nun völlig andere als zum Zeitpunkt der Bewerbung. Ich neigte sehr stark dazu, den Ruf anzunehmen, während meine Frau skeptisch war, weil wir Hamburg und unsere Freunde verlassen würden. Andererseits waren wir gemeinsam der Ansicht, dass es ein großartiger Neuanfang sein könne, mit sehr viel besseren Arbeitsbedingungen und größeren Herausforderungen in der Allgemeinen Soziologie. Diese Nutzen wogen dann doch die Vorteile des Bleibens an der Universität Hamburg auf. Um meine Chancen der Bleibeverhandlung zu prüfen, hatte ich ein ausführliches Gespräch mit dem Präsidenten der Universität Hamburg, Dr. Peter Fischer-Appelt. Wir waren freundschaftlich verbunden, denn er hatte mich vor einigen Jahren gebeten, ihn nach Baltimore zu einem Besuch der Johns Hopkins Universität zu begleiten. Wir wohnten dort auf dem Campus im Haus des Präsidenten und führten Gespräche mit verschiedenen Instituten über eine Kooperation der beiden Universitäten. Peter Fischer-Appelt und ich haben sowohl in Baltimore als auch auf den langen Flügen viel über Wissenschaft und die Internationalisierung der Universitäten gesprochen. Es war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute andauert. Dieser Umstand ist deshalb wichtig, weil mein Versuch, durch Bleibeverhandlungen meine Position zu verbessern (was ich letztlich gar nicht recht wollte), offenbar auch mit einer gewissen Zurückhaltung geführt wurde. Wir saßen im Büro des Präsidenten an einem sonnigen Tag im Juli und Peter FischerAppelt riet mir, nach Köln zu gehen, denn der Fachbereich würde eine Verbesserung meiner Position eher mit Missgunst aufnehmen, deshalb solle ich doch besser den Ruf annehmen. Also ging ich direkt nach Hause und überbrachte die Nachricht, die zugleich eine Entscheidung war: Köln. Im Wintersemester 1990/91 lehrte ich dann parallel in Hamburg und Köln. Die Aufenthalte in Köln nutzte ich, mit der Verwaltung der Universität zu Köln die Ausstattung des Forschungsinstituts zu organisieren: von den Assistenten bis zum Fotokopierer. Ich saß in einem großen Zimmer, am Schreibtisch von René König, und war mit der Situation außerordentlich zufrieden. Im März 1991 erhielt ich die Bestätigung des Ministeriums und nahm eine kleine Wohnung in
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Köln-Weidenpesch. Donnerstagabends fuhr ich nach Hamburg, Montag früh nach Köln, mit einem Zug, der gegen 11.00 Uhr in Köln war. Im April 1991 wurde unsere Tochter geboren, was den Druck erhöhte, eine Wohnung in Köln zu suchen. Diese Suche erwies sich als außerordentlich schwierig, und ich bin fast zwei Jahre zwischen Köln und Hamburg gependelt. Auf den vielen Zugfahrten habe ich viele Examensarbeiten gelesen, Seminare vorbereitet und Artikel gelesen. Die Bahn erwies sich als ein sehr guter Arbeitsplatz (damals noch ohne Laptop). Immer noch nach einer Bleibe für die Familie suchend, besichtigte ich Häuser in Köln und Umgebung. Ein Haus zu kaufen war aufgrund unserer wirtschaftlichen Umstände nicht möglich, deshalb musste ich mich auf solche konzentrieren, die vermietet wurden. Leider habe ich die Häuser, die ich besichtigte, nicht photographiert, denn es wären wundervolle Beispiele für eine Neuauflage des Buches von Alphons Silbermann „Vom Wohnen der Deutschen“ geworden. Hier nur ein Beispiel: Im Keller eines 110 qm großen freistehenden Eigenheims gab es einen Partykeller und einen Hobbykeller. Der Partykeller hatte eine Bar mit einer stolzen Sammlung von Biergläsern zahlreicher Brauereien sowie schmiedeeiserne Barhocker. Der Hobbykeller enthielt alle Werkzeuge, die man wohl braucht, wenn man ein Haus hat. Die Besitzer reagierten entsetzt, als ich laut überlegte, den ganzen Kram auf den Müll zu werfen und dort unten eine Bibliothek einzurichten – auch ein „clash of cultures“. Im Januar 1993 sind wir endgültig nach Köln gezogen. Es war ein reiner Zufall – oder nicht: Ich hatte häufiger in Vorlesungen fallen lassen, dass ich eine Wohnung suche. Im Dezember 1992 kam eine Studentin auf mich zu und sagte, ganz in der Nähe der Universität würden Freunde von ihr ausziehen; sie hätten noch keine Nachmieter. Diese Wohnung, in einem Gebäudeblock 1920er Jahre gelegen, erwies sich als sehr gut geeignet, nachdem ich schon fast aufgegeben hatte, eine solche Wohnung zu finden. Einen Tag nach dieser Besichtigung kam meine Frau nach Köln, wir schauten uns die Wohnung an und unterschrieben kurz danach den Vertrag. Es war die Wohnung, in der früher Leopold von Wiese gewohnt hatte. So habe ich ihn dreifach „beerbt“: seine Wohnung, als Direktor des Forschungsinstituts für Soziologie und als Herausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Diese Entscheidungen sind rückblickend völlig richtig gewesen. In Hamburg wäre es nicht weitergegangen, und der intellektuelle Schub, der durch die Forderung entstand, nun in viel stärkerem Maße Allgemeine Soziologie zu lehren, war das Beste, was mir zu diesem Zeitpunkt passieren konnte. Für meine Frau bedeutet es hingegen, arbeitslos gewesen zu sein und sich voll dem Kind gewidmet zu haben. Es war auch eine (traditionelle) Entscheidung des spieltheoretischen „Kampf der Geschlechter“-Dilemmas. Meine Frau Ulrike hat es zu-
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nehmend weniger ertragen, nicht zu arbeiten und war froh, als sie später wieder eine Arbeitsstelle fand. Als Rational Choice-Anhänger bin ich nachgerade gezwungen, diese komplizierte Entscheidung im Lichte der Theorie zu analysieren. Ob mir dabei nachträgliche Rechtfertigungen im Wege stehen, ist nur schwer zu beurteilen. Wichtiger erscheint mir ein anderes Merkmal der Entscheidungssequenz: Sie ist komplex und einfach zugleich. Insofern besagt sie auch etwas über Entscheidungsheuristiken (Friedrichs und Opp 2002). Einfach ist daran, dass ich mich grundsätzlich entschieden hatte, nach Köln zu gehen, denn sonst hätte ich mich gar nicht erst beworben. Vielleicht würde Hartmut Esser dies als einen frame bezeichnen, unter dem alle folgenden Entscheidungen beurteilt und getroffen wurden. Man kann es zugleich auch als ein commitment ansehen, das man mit der Bewerbung eingeht, und nur bei sehr großen Opportunitätskosten zurücknehmen würde. In der Zeit arbeitete ich in Köln zusammen mit Gudrun Engelbrecht und Martin Stolle an dem in Hamburg begonnenen DFG-Forschungsprojekt „Arbeitslose“. Nach dem Ausscheiden von Gudrun Engelbrecht führten Martin Stolle und ich das Projekt zu Ende. Zugleich arbeitete ich auf akademischinstitutioneller Ebene mit zwei meiner Diplomanden aus Hamburg zusammen: Robert Kecskes und Christof Wolf. Sie waren nach dem Diplom in Hamburg nach Köln gegangen, um an dem Graduiertenkolleg Sozialwissenschaften von Hartmut Esser, Renate Mayntz und Erwin K. Scheuch teilzunehmen. Mit ihnen besetzte ich die beiden Assistentenstellen. Die dritte Assistentenstelle erhielt Peter Hartmann, ebenfalls aus Hamburg. Er gehörte zusammen mit Christof Wolf und Robert Kecskes zu einer Clique von Studierenden, die Seminare bei Karl-Dieter Opp, Walter Kristof und mir besuchten. Hierzu gehörten auch Jörg Blasius, Andreas Diekmann und Steffen Kühnel. Von Walter Kristof muss man wissen, dass er sich ursprünglich bei den Psychologen beworben hatte (ich saß damals als Assistenten-Vertreter in der Berufungskommission), aber abgelehnt wurde, weil er zu mathematisch spezialisiert war. Die Soziologen hingegen beriefen ihn. Er hatte nicht viele Studenten, aber rückblickend muss man wohl sagen, dass fast alle sehr erfolgreich waren und heute Lehrstühle einnehmen. Durch diese Besetzung der Assistentenstellen entstand eine über Jahre hinweg sehr gute Zusammenarbeit, die nicht nur produktiv war, sondern auch zu einer intensiven Betreuung der Studierenden führte. Zudem arbeitete am Zentralarchiv für empirische Sozialforschung Jörg Blasius, der bei mir in Hamburg sowohl seine Diplomarbeit als auch seine Dissertation geschrieben hatte und mit dem ich bis heute zusammen forsche und publiziere.
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Es war eine jener Situationen, die an den Universitäten immer nur für einige Jahre bestehen: ein sich ergänzendes Team. Wir lehrten zum Teil gemeinsam, es wurde eine intensive Beratung der Studierenden vor jedem Referat durch die Assistenten eingeführt, was die späteren Assistenten Henning Best, Alexandra Nonnenmacher und gegenwärtig Jennifer Klöckner fortgeführt haben. Es war der Teamgeist „Wir schaffen es schon“, der aus der Forschungsstelle in Hamburg in das Forschungsinstitut in Köln übertragen wurde und in Resten auch heute noch lebt. Leicht übertrieben formuliert: Wenn wir voneinander begeistert sind, begeistern wir auch die Studierenden.
Ein Nachwort Vielleicht können wir unsere Biographie nicht ändern. Vielleicht ist die Trägheit oder das, was man in der Makrosoziologie als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnet, viel zu stark. Aber wir geraten sicherlich in unserem Leben mehrfach an Kreuzungen, an denen wir entscheiden können, ob wir nach links oder rechts gehen, wohl wissend, dass wir damit eine Entscheidung mit weit reichenden Folgen für den Rest des Lebens treffen. Wenn „links“ und „rechts“ mit Vorstellungen von dem damit jeweils verbunden Leben verknüpft sind, also Optionen und Restriktionen unterschiedlicher Art enthalten, dann wird es wohl keine spontane Entscheidung geben. In den beiden hier berichteten, für mein Leben zentralen Situationen, waren es ohnehin keine spontanen Entscheidungen. Die beiden ausgewählten Situationen belegen vielmehr, dass Entscheidungen latent vor der zunächst noch nicht vorhandenen Entscheidungssituation, quasi auf Vorrat, getroffen sind und bereit liegen. Die Entscheidung wartet auf die passende Situation und nicht umgekehrt. Dennoch ist auch zutreffend, dass Entscheidungen andere nach sich ziehen. Können wir unser Leben an Kreuzungen neu entscheiden und in die eine oder die andere Richtung gehen, zumindest darüber nachdenken? Ich meine, dem ist so, wir sollten allerdings vermuten, dann andere Fehler zu machen. So betrachtet, ist unser Leben nicht nur eine Abfolge von Entscheidungen, sondern wichtiger noch, vermutlich eine immer weiter zunehmende Einengung künftiger Entscheidungen durch die jeweils früheren. Noch ein konstruiertes Beispiel zur gewollten Pfadabhängigkeit: Die Tochter, die in ein Internat mit hohen finanziellen Kosten geht, soll dort eine sehr enge Auswahl von Söhnen reicher Eltern kennen lernen. Mit diesen zu verkehren, ist mit weiteren hohen Kosten verbunden, unter anderem, sich mit ihnen in einer europäischen Großstadt zu treffen. Es ist dann eine fast zwingende Folge der ursprünglichen Entscheidung. Und wenn diese Sozialisation dazu geführt hat,
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die Standards für die Partnerwahl der Tochter nachhaltig zu erhöhen, dann wird der tatsächliche soziale Status vererbt oder besser noch: der von den Eltern angestrebte. Die Verpflichtung, die die Eltern eingehen, werden zu Verpflichtungen der Tochter, was eine von der Tochter nicht notwendig erkannte, aber dennoch eingehaltene Reziprozität herbeiführt. Soziale Ungleichheit wird sozialisiert, nur die Ideologie der deutschen Gesellschaft, in den 1950er und 1960er Jahren eine Gesellschaft von Gleichen ohne demonstrativen Konsum zu sein, ist längst überholt. Das Erstaunen von Soziologen über die soziale Ungleichheit in Deutschland ist symptomatisch für die lange gepflegte Legende sozialer Gleichheit im Nachkriegsdeutschland. Es ist die aufgestiegene Mittelschicht, deren Verhalten die beabsichtige oder unbeabsichtigte Konsequenz hat, die soziale Ungleichheit zu fördern, um den weiteren Aufstieg zu sichern. Ich habe zwei Stationen ausgewählt, beide betreffen vor allem meine wissenschaftliche Biographie – weil das mein Leben bis heute ist: Lehren und Forschen. und jeder Tag ist für ihn überraschendes Hier, so leuchtend leicht und klar begrenzt wie die Spanne zwischen den ausgebreiteten Schwungfedern eines gleitenden Vogels. Aus: Hilde Domin „Wen es trifft“
Literaturverzeichnis Alpheis, Hannes. 2004. „Wissenschaft als Neugier und Nachdenken“ oder „The Managerial Scholar“: Jürgen Friedrichs als Professor in Hamburg. In Angewandte Soziologie, Hrsg. Robert Kecskes, Michael Wagner und Christof Wolf, 441-456. Wiesbaden: VS Verlag. Domin, Hilde. 1979. Abel steh auf. Stuttgart: Reclam. Friedrichs, Jürgen, und Karl-Dieter Opp. 2002. Rational Behavior in Everyday Situations. European Sociological Review 18, 401-415. Friedrichs, Jürgen, und Ulrich Schwinges. 2009. Das journalistische Interview. 3. überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag. Frisch, Max. 1989. Biographie: Ein Spiel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. t’Hart, Maarten. 2000. Die Netzflickerin. München: Piper.
Lebensverlauf und soziale Ungleichheit1 Karl Ulrich Mayer
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Zur Einleitung: Kalt erwischt!
Die Bitte der Herausgeberinnen, den eigenen wissenschaftlichen Werdegang „mit den Mitteln der eigenen soziologischen Perspektive darzustellen“ erwischt den professionellen Lebensverlaufsforscher kalt. Soll die eigene, so offensichtlich unverwechselbare Biographie nun beschrieben und verstanden werden unter dem Blickwinkel struktureller, kollektiver Lebensverlaufsmuster? Soll das reichhaltige analytische Arsenal der Theorie des Lebensverlaufs sich nun ergiebig erweisen im Hinblick auf die Idiosynkrasien des eigenen Lebens? Ich nenne nur einige dieser Kategorien: Übergänge und Passagen, Wendepunkte, on time/off time, Entwicklung und Alterung, Generationszugehörigkeit und Kohorteneinbettung, Verschränkung von Pfaden in verschiedenen Lebensbereichen, Altersnormen, Standardisierung/De-Standardisierung, sensible Lebensphasen, kumulative Vorteile und Nachteile, exposure to risk, Ereignisabhängigkeit, Zustandsabhängigkeit und Dauerabhängigkeit, Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat oder in der dreigeteilten Arbeitsgesellschaft. Und soll nun das eigene Leben und die eigene wissenschaftliche Biographie dazu dienen, die Fiktionen biographischer Lebensgestaltung und wissenschaftlicher Individualität zu belegen anstelle der postmodernen Auflösung des Individuums und seiner biographischen Einheit?2 Schlimmer noch, soll ich riskieren, die bereits gewonnen geglaubten Auseinandersetzungen über den „biographischen Bias“ der Individualisierungsthese (Mayer 1989; Friedrichs et al. 1998) oder die soziologische Blindheit der life span psychology (Mayer 2003) verloren zu geben mit der hier zu enthüllenden Evidenz der autobiographischen Beschränktheit des soziologischen Autors bzw. der Irrelevanz sozialer und historischer Kontexte in der eigenen Entwicklung? 11 Ich widme diesen Beitrag meinem akademischen Lehrer und Mentor Wolfgang Zapf. Der Beitrag ist entstanden während eines sabbaticals am Mannheim Zentrum für Europäische Sozialforschung vom Dezember 2008 bis März 2009. Ich danke dem MZES, und insbesondere Bernhard Ebbinghaus und Walter Müller, für die Gastfreundschaft und Unterstützung. 2 Mit dem besonderen Genre der Wissenschaftlerbiographie bin ich als Herausgeber der „biographies section“ der International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences (Mayer 2001c) eng vertraut. Allerdings machten wir dafür die weise Entscheidung, Biographien nur von verstorbenen Wissenschaftlern aufzunehmen.
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Und ist der eigenen Erinnerung wirklich zu trauen trotz meiner Verteidigung retrospektiver Messung (Mayer 2008c)? Wird nicht offensichtlich werden wie in der Rekonstruktion des Rückblicks aus den Zufälligkeiten des Lebens eine auf lange Sicht zielgerichtete Lebensgestaltung herbeigezaubert wird? Ist unsere (meine) kulturelle Investition in Individualität nicht zu groß, um sich selbst als Ausdruck eines Massenschicksals begreifen zu können? Und laufen wir nicht zwangsläufig Gefahr, den eigenen wissenschaftlichen Beitrag zu überschätzen und die Eigendynamik der Popper’schen Dritten Welt3 zu unterschätzen? Soll man dies nicht besser den Nachrufen überlassen? Und wenn wir die Annahme teilen, dass die Entwicklung in verschiedenen Lebensbereichen eng miteinander verzahnt ist, bin ich bereit, die privaten Bedingungen der Ausrichtung der eigenen wissenschaftlichen Arbeit aufzudecken (zumal als Mobilitätsforscher)? Und wenn Max Weber recht hat und das Leben sozial nur als „Kampf“ verstanden werden kann, sind dann diese autobiographischen Notizen nicht als Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu verstehen, in welche man verstrickt war oder sich absichtlich verstrickt hat? Man sieht leicht, auf welch schlüpfriges Gelände sich der professionelle Lebensverlaufsforscher begibt, soll er seinen eigenen wissenschaftlichen Werdegang „mit Mitteln der eigenen soziologischen Perspektive“ darstellen, als doppelter Experte sozusagen: „als Experten [der] eigenen Biographie und als Experten für die sozialen Mechanismen, die jeweils im Hinblick auf die eigene Biographie reflektiert werden.“ Offensichtlich hat der Biographieforscher es da leichter, ist denn für ihn ohnehin klar, dass es sich um interessierte Selbstdeutungen des Akteurs handelt, der sich zwangsläufig im Rahmen kultureller Schemata bewegt, sein Selbstwertgefühl maximiert und literarischen Gestaltschließungszwängen unterworfen ist. Schon das Alter bzw. der Karrierezeitpunkt, zu dem dieses Ansinnen gestellt wird, erscheint problematisch. Wird da schon ein Abgesang eingeläutet? Wird man da nicht durch all die Festschriften und Emeritierungsfeiern (die nun weder das Eine noch das Andere mehr sein dürfen!) hinreichend mürbe gemacht? Mit 64 ist man zwar nach eigenen Kategorien ein „junger Alter“, aber stimmt das mit dem eigenen subjektiven Alter überein? Warum nicht, im Gegensatz dazu, einen noch ganz offenen wissenschaftlichen Horizont skizzieren, zumal ich den Pensionierungs- und Emeritierungszwängen durch Gesellschaftswechsel entronnen bin? Wird man da nicht zu Unrecht in eine WissenschaftlerInnenkohorte eingereiht, die nun endlich den Löffel an die Nachrückenden übergeben soll? Soll da nicht mit den Personen auch die methodische Grundrichtung mitsamt unbequemen Kriterien entsorgt werden? Wenn die 68er schon aus der Politik verbannt werden, warum dann nicht auch aus der Wissenschaft? Warum 3
Siehe Karl Poppers Objektive Erkenntnis (1972)
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die weniger bedeutsamen Hochschulexpansionsgewinnler nicht gleich zusammen mit den um 1929 geborenen Heroen des Faches (Dahrendorf, Habermas, Lepsius, Lutz, Mayntz) verabschieden, damit die Generation Golf übernehmen kann? Aus der Vielzahl der möglichen aus der Lebensverlaufstheorie abgeleiteten Fragen will ich vor allem drei für diese autobiographische Skizze herausgreifen: 6. 7. 8.
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Inwieweit war dieser wissenschaftliche Werdegang durch die historischen Zeitumstände „geprägt“?( Kohorte) Inwieweit muss er entwicklungsgenetisch verstanden werden im Gegensatz zu zufälligen oder situativen Einflüssen? (Entwicklung) Wie fügt er sich ein in die Gesamtentwicklung der Soziologie als Fach und Forschungsfeld? (Wissenschaft als individuelles vs. kollektives Unterfangen)
Wissenschaftsbiographische Skizzen
2.1 Warum Soziologie? Auf meinem Humanistischen Gymnasium (1955-64) konnte man über Soziologie nichts erfahren, eher viel über Geschichte (aber nur bis zum 1. Weltkrieg, um die Nazi-Vergangenheit der Lehrer nicht zu kompromittieren) und über existentialistische Philosophie (Karl Jaspers). Über Soziologie hörte ich zum ersten Mal etwas in einem Volkshochschulkurs, in dem einige sozialpsychologische Kategorien vermittelt wurden. Ich wollte Soziologie studieren, um mit meinen anderen Fächern (Germanistik, Philosophie) nicht zwangsläufig als Gymnasiallehrer zu enden und um mich auf eine Tätigkeit als Journalist vorzubereiten. Ich war Chefredakteur der Schülerzeitung gewesen, Lokalredakteur in den Semesterferien und Redakteur einer überregionalen katholischen Jugendzeitschrift. Da ich in Tübingen studieren wollte, habe ich dann zwischen Abitur und Studium (neben der Vorbereitung einer Abiturrede über die Ursprünge der Olympiade) in der Ulmer Stadtbibliothek Ralf Dahrendorfs Aufsatzsammlung „Pfade aus Utopia“ gelesen. Ich war der Jüngste unter uns fünf Geschwistern und der Erste unter ihnen und unter den zahlreichen Vettern und Cousinen, der direkt nach 9 Jahren Gymnasium ein Universitätsstudium begann. Mein ältester Bruder hatte nach der Mittleren Reife erst eine Maschinenschlosserlehre absolviert, dann das Abitur nachgemacht und danach Germanistik studiert und mir so den Weg nach Tübingen erleichtert. Es scheint damit so, als ob ich als Erster in meiner Familie von der Bildungsexpansion unmittelbar profitiert hätte. Tatsächlich war aber meine
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ursprüngliche Entscheidung, auf ein Humanistisches Gymnasium zu gehen, darin begründet, dass ich katholischer Priester werden wollte. In meinen drei Semestern in Tübingen wurde die Soziologie vor allem durch Ralf Dahrendorf und seine Tübinger „Schule“ zu der für mich wichtigsten intellektuellen Einflussquelle. Friedrich Beissners Poetik-Vorlesung, Proseminare zu Franz Kafka, deutscher Lyrik und Grammatik, formale Logik, Jaspers und Kant, Hans Küngs Mittwochmittags-, Walter Jens’ Mittwochnachmittags- und Ernst Blochs Freitagnachmittags-Vorlesungen waren eindrucksvoll, aber weniger bestimmend und folgenreich. Die Soziologie schien Antworten zu geben auf die Konflikte in der Gesellschaft der späten Adenauerzeit und Erhard´schen Zwischenphase und der persönlichen Konfliktsituation zwischen proletarisch/kleinbürgerlicher Herkunft, bündischer katholischer Jugendbewegung, dem protestantischen bildungsbürgerlichen Milieu des Gymnasiums, den Bildungserfahrungen im Ambiente von Inge Aicher-Scholls Ulmer Volkshochschule4, der Ulmer Hochschule für Gestaltung und dem Ulmer Theater (als Statist) unter Peter Zadek, Peter Palitzsch und Kurt Hübner. In meinen ersten Tübinger Wochen schrieb ich eine Seminararbeit bei Dahrendorf über Eysencks „Political Psychology“, lernte in Wolfgang Zapfs Durkheim-Seminar, dass Soziologie keine Heilslehre und Individualität selbst eine gesellschaftliches Produkt sei, und wurde in Elisabeth Bindereifs Lektürekurs in die struktur-funktionalistische Anthropologie von Malinowski und anderen eingeführt. Ich wurde sofort studentische Hilfskraft, hatte meinen Schlüssel zur Institutsbibliothek, übernahm in Hansgert Peiserts Methodenkurs Tutorenaufgaben und verdiente ein Zubrot als Interviewer in der Tübinger Gymnasialabbrecherstudie. Ich las alles von Dahrendorf, hörte seine Vorlesungen zur Politischen Soziologie und Sozialstruktur der Bundesrepublik (und kopierte als Hiwi sein eigenhändig getipptes, aus den Ferien gebrachtes Manuskript von Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.) Abends im Studentenkeller am Neckar machten einem dann die schon älteren Soziologiestudenten klar, warum dies alles höchst angreifbar sei und dass es noch andere Positionen im Positivismusstreit gab (personifiziert u.a. durch Dahrendorfs Assistenten Wolfram Burisch und seine Arbeiten über Ideologiekritik). Wie meine sorgfältig annotierten Bände ausweisen, ackerte ich Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ vollständig durch. Wolfgang Zapf bildete den nüchternen empirischen Gegenpol zu Dahrendorfs normativ aufgeladenem Liberalismus mit seinen Arbeiten zur Eliteforschung und seinen, nach einem USA-Aufenthalt an der Harvard University ganz neuen Zugängen zu Theorien und Forschungen 4 Inge Aicher-Scholl war langjährige Leiterin der Ulmer Volkshochschule. Sie war die Schwester der Geschwister Scholl und schrieb ein Buch über deren Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“. Die Ulmer Volkshochschule war ein Ort lebendiger liberaler Auseinandersetzung in einer konservativen Zeit an einem konservativen Ort.
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sozialen Wandels. In Tübingen wurde ich auch für das CUSANUS-Werk, die Studienstiftung der katholischen Bischöfe, vorgeschlagen. Als Kind der American re-education5 in der US-besetzten Zone wollte ich schon während der Gymnasialzeit in die USA, bekam aber keines der begehrten Stipendien des American Field Service. Ich bewarb mich daher während meines ersten Semesters um ein Fulbright-Stipendium, das ich mit einer vierzeiligen Fürsprache von Dahrendorf auch bekam. Die Tübinger Soziologie war ohnehin in der Auflösung, weil Dahrendorf an die neugegründete Uni Konstanz ging und dort noch keine Studenten aufgenommen wurden. Wenn ich das FulbrightStipendium nicht bekommen hätte, wäre ich nach Köln gegangen. So ging es aber an ein kleines vorkonziliar-konservatives Jesuitencollege in Spokane, Washington: Gonzaga University. Soziologie war mein major und Theologie (vor allem Thomas von Aquin und Teilhard de Chardin) das vorgeschriebene minor. Die intellektuellen Gegensätze zwischen Tübingen und Gonzaga, aber auch dem Westdeutschland der 60er-Jahre und der ROTC6-Kultur der amerikanischen Provinz hätte kaum größer sein können. Ich machte viel Statistik und empirische Sozialforschung, erwarb nach einigen Konflikten innerhalb eines Jahres einen B.A. und verfasste eine B.A. thesis auf der Grundlage einer schriftlichen Umfrage unter allen deutschen Fulbright-Stipendiaten über Residential Patterns of Foreign Students and Attitudes Toward Americans. Dies war meine erste Forschungsarbeit, die durch die Frustration über das Zusammenpferchen der foreign students in einem dormitory motiviert war. Intellektuell war für meine soziologische Formation mein zweites USA-Jahr wichtiger, als grad student und teaching assistant an der Fordham-University in der Bronx in New York City. Ich belegte u.a. Kurse in Theorie und Wissenssoziologie (bei dem Prager Emigranten und Religionssoziologen Werner Stark), moderne Organisationssoziologie (Pittsburger Prägung), Demographie, Stadtsoziologie und fertigte Forschungsarbeiten zur Lower East Side Legal Aid Society (teilnehmende Beobachtung), zur ideologischen Ausrichtung der Leitartikel der New York Times und New York Amsterdam News (Inhaltsanalyse) und zum Vergleich der Studentenrebellion in Berkeley und an der FU Berlin durch, las Talcott Parsons Structure of Social Action und die Werke von Alfred Schütz. Ich unterrichtete Statistik und Methoden der empirischen Sozialforschung. Nach einem Jahr (und zusätzlichen Sommerkursen) hatte ich – im Alter von 22 Jahren und nach sechs Semestern – meinen M.A. erworben. Ich musste mich nun entscheiden, ob ich in den USA (an der Brown 5 Re-Education war der umstrittene, aber vermutlich nicht erfolglose Versuch der Amerikaner, die deutsche Bevölkerung im Sinne demokratischer Einstellungen zu resozialisieren, u.a. durch die Bibliotheken der Amerikahäuser. 6 ROTC, Reserve Officers’ Training Corps, im USA der sechziger Jahre fast selbstverständliche militärische Ausbildung an den Colleges und Universitäten.
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University) eine Promotion (dann vermutlich in Demographie) erwerben wollte oder der Ermunterung von Ralf Dahrendorf und Wolfgang Zapf folgen sollte, nach Konstanz zu gehen und dort zu promovieren. Ich entschloss mich für Letzteres, weil ich in den USA doch ein politischer Fremder war und meine Rolle und Chance zum Engagement eher in Deutschland sah. Meine damalige Freundin (und jetzige Frau) wollte ebenfalls ihr Slawistik-Studium nach einem Jahr als Deutschlehrerin am Fordham Teacher´s College in New York in Tübingen fortsetzen. Das waren also die soziologischen Grundlagen, die ich aus dem Studium mitbrachte: Struktur-Funktionalismus, Systemtheorie und noch mehr die Kritik daran, Rollentheorie und soziale Normen, politische Soziologie und soziale Ungleichheit, Wissenssoziologie und Phänomenologie, viel Methoden der empirischen Sozialforschung und (nicht genügend) Statistik.
2.2 Konstanz und Frankfurt 1967 – 1973: Soziale Mobilität und soziale Indikatoren Als in der Phase der Tübinger Bildungssoziologie einmal ein Arbeiterkind unter den Studenten gesucht wurde, war ich der Einzige, der sich dafür formal qualifizierte. Ich sage formal, weil zwar mein im Zweiten Weltkrieg vermisster Vater Maschinenschlosser war, aber meine soziale Herkunft vermutlich eher durch das kleinbürgerliche (und katholische) Milieu meines selbständigen und sehr erfolgreichen Schuhmachergroßvaters geprägt war. Meine Mutter machte die Mittlere Reife und war gelernte Buchhalterin und in ihrer Jugend sogar ein Jahr auf eine Höhere Töchterschule geschickt worden. Es würde daher nahe liegen, meine soziologische Beschäftigung mit sozialer Mobilität in meiner Promotion und Habilitation als interessebedingten Ausdruck meines eigenen sozialen Aufstiegs zu verstehen. Diese simple wissenssoziologische Ableitung trifft aber nicht zu. Ich ging nach Konstanz mit der vagen Idee über Demokratie in der Massengesellschaft im Fahrwasser von William Kornhauser zu promovieren. Das Mobilitätsthema wurde von Ralf Dahrendorf vorgeschlagen, der 1967, als ich mit der Matrikelnummer 50 in Konstanz mein Studium fortsetzte, dazu ein Forschungsprojekt initiierte. Aber natürlich stieß das Problem der Chancenungleichheit auf eine starke persönliche Resonanz und passte zum damaligen Klima der Sozialreform. In einem Jahr Konstanz studierte ich neben Soziologie bei Dahrendorf und Zapf (ein Pareto-Seminar) politische Wissenschaften und Zeitgeschichte bei Waldemar Besson, Nationalökonomie, und vor allem analytische Philosophie der Erlanger Schule bei Friedrich Kambartel, war geschäftsführender Assistent der
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Deutschen Gesellschaft für Soziologie und unterrichtete bei den Philosophen ein Proseminar über Kants Prolegomena der reinen Vernunft. Im Kontext des Dahrendorf´schen Mobilitätsprojektes lautete mein Dissertationsthema Ungleichheit und Mobilität im sozialen Bewusstsein (Mayer 1975). Ich begann meine Arbeiten mit einem über hundert Seiten langen, nie veröffentlichten Versuch einerseits soziale Mobilität rollentheoretisch und in Gleichungen symbolischer Logik abzubilden und andererseits phänomenologisch und sozialpsychologisch zu bestimmen. Dies hätte leicht in eine der damals durchaus noch üblichen begriffsschweren und als Literaturreferate angelegten Dissertationen enden können. Ein entscheidender Wendepunkt für die Richtung meiner eigenen Forschungsarbeiten erfolgte durch zwei Umstände. Zum einen wurde aus Köln als frischgebackener Diplomand Walter Müller rekrutiert und wir konzipierten rasch gemeinsam eine empirische Untersuchung von Konstanzer Männern der Jahrgänge 1936 und 1937 in völliger Eigenregie und finanziert durch Forschungsmittel der Universität. Zum andern ging Dahrendorf in die Politik (erst als Baden-Württembergischer Landtagsabgeordneter, dann als Bundestagsabgeordneter und Staatsminister im Auswärtigen Amt) und überließ das Mobilitätsprojekt seinen Assistenten, die es dann Walter Müller und mir überließen. Damit hatten wir als Noch-Nicht-Promovierte freies Feld, unsere eigene Studie durchzuführen. Als Wolfgang Zapf nach Frankfurt berufen wurde (an das damalige Seminar für Gesellschaftslehre der WISO-Fakultät, wo auch Thomas Luckmann mit seinen Assistenten Günter Dux, Hansfried Kellner, Walter Sprondel und Richard Gratthoff lehrte) nahm er mich im Herbst 1968 als „Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle“ mit. In den Folgejahren pendelte ich zwischen der Lehrtätigkeit im Frankfurt und dem Forschungsprojekt in Konstanz. Die Dissertation schloss ich 1972 ab, verzögert durch die Studentenrebellion in Frankfurt (meine erste Vorlesung wurde gesprengt und in eine AG über die „Restauration des Kapitalismus in Hessen nach 1945“ transformiert) war im Ergebnis eine halb qualitative, halb quantitative empirische Untersuchungen über Vorstellungen von Ungleichheitsstrukturen und Mobilitätszielen. Ungewöhnlich war wahrscheinlich, dass die ersten drei Kapitel bereits im Voraus veröffentlicht worden waren (u.a. in der ZfS 1972). Stolz war ich auch darüber, dass der Züricher Soziologe Peter Heintz die Arbeit als eine exemplarische theoriegeleitete Studie in sein Buch über Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität (1982) aufnahm. Wichtige Befunde der Arbeit waren u.a., dass der Berufserfolg (für Männer) in der Tat auch subjektiv die dominante Mobilitätsdimension darstellte (und damit die Annahmen der quantitativen Mobilitätsforschung stützte), dass der subjektive Mobilitätsglaube ein wenn auch relativ schwacher Faktor für die Legitimität der sozialen Ordnung ist und dass Wahrnehmungen einer Sozialhierarchie eher
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schwach ausgeprägt waren. Trotz vieler Kontakte mit den Soziologen der Philosophischen Fakultät hat die Kritische Theorie mit Ausnahme von Habermas (damals vor allem „Erkenntnis und Interesse“) wenig abgefärbt. In dem gemeinsamen Assistententreff (u.a. mit Offe und Oevermann) trug ich über Blau und Duncans American Occupational Structure vor als das Unternehmen von den Frauen des Rates der umherschweifenden Haschgesellen unterlaufen wurde. Entscheidend für meine weitere wissenschaftliche Entwicklung war der Soziologiekongress in Varna 1970, wo wir als Jungrebellen (u.a. zusammen mit John Goldthorpe) das altersschwach gewordene Research Committee on Social Stratification and Mobility (RC 28) übernahmen, aber auch das Paper von Walter Müller und mir sofort von Quality and Quantity zur Publikation angenommen wurde (Mayer und Müller 1971a) . Walter Müller und ich organisierten dann 1972 in Konstanz die erste Konferenz des „neuen“ RC 28. Die Beiträge zu dieser Konferenz publizierten wir auf Ermunterung durch Stein Rokkan als Band in dessen Reihe bei Mouton (Müller und Mayer 1973). In derselben Zeit stürzten wir uns in eine in der Kölner Zeitschrift publizierte Kontroverse mit Gerhard Kleining über methodische Probleme der Mobilitätsanalyse (Mayer und Müller 1971b). Der internationale Austausch und die internationale Kooperation im Rahmen des RC 28 war für die kommenden Jahre der wesentliche intellektuelle Impuls und die Grundlage lebenslanger Netzwerke und Freundschaften (so u.a. mit John Goldthorpe, Aage und Mette Sorensen, Bob Hauser, David Featherman, Robert Erikson, Judah Matras und Vered Kraus und vielen anderen).7
2.3 Mannheim 1973-1983: Soziale Mobilität und Lebensverlauf Die Frankfurter Zeit von 1968 bis 1973 war neben der Studentenrevolte auch geprägt durch die Mitarbeit an dem Sozialindikatorenprojekt von Wolfgang Zapf und in der Sozialpolitischen Forschergruppe (SPES 1972-1979), aus der dann der inzwischen legendäre Sonderforschungsbereich 3 „Mikroanalytische Grundlagen der Sozialpolitik“ (1979-1998) entstand. Die in diesen beiden Projekten praktizierte Zusammenarbeit mit empirisch arbeitenden Ökonomen wie Hans-Jürgen Krupp, Richard Hauser und Gert Wagner funktioniert bis heute – mit solchen wichtigen Folgen wie dem Sozio-Ökonomischen Panel und dem Rat für Sozialund Wirtschaftsdaten. Im DFG-geförderten SPES-Projekt beantragte ich – immer noch unpromoviert – ein Projekt zur Analyse intergenerationaler Mobilität, das ich dann nach meinem Wechsel nach Mannheim mit Wolfgang Zapf dort zusammen mit Johann Handl und Walter Müller bis 1978 durchführte. Grundlage 7
Ich korrigiere diese Fahnen während der 2009 RC 28 Konferenz an der Yale University.
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dieses Projekts waren die damals zugänglichen Individualdaten der Mikrozensus-Zusatzerhebung „Berufliche und soziale Umschichtung“. Daraus entstanden u.a der Band „Klassenlagen und Sozialstruktur“ (Handl et al. 1977) und drei (leider nur teilweise veröffentlichte) Habilitationsschriften. Zentrale Befunde aus diesen Arbeiten waren u.a. die ersten verlässlichen Daten zur Intergenerationenmobilität in Westdeutschland (Mayer 1977b) und der hohe Grad an sozialer Heiratshomogamie (Mayer 1977a). Am folgenreichsten aus diesem Projekt waren nicht nur die Analysen der deutschen Klassenstruktur und der Ungleichheit von Bildungschancen, die sich auch im Rückblick als treffsicher erwiesen, wie z.B. ein Gutachten für den Deutschen Bildungsrat (Müller und Mayer 1976 ), sondern vor allem die Entdeckung historisch bedingter Ungleichheiten zwischen Geburtskohorten (Mayer 1980, 1988; Müller 1978). Mit dem Plenarvortrag über Soziale Ungleichheit, Prozesse der Statuszuweisung und Legitimitätsglaube (Mayer/Müller 1976) auf dem 17. Deutschen Soziologentag in Kassel 1975 gaben wir unser Debüt in der Profession. Die Zeit als Assistent an der Universität Mannheim setzte mich ferner intellektuellen Einflüssen aus, die eine gewisse Kontinuität zur Tübinger Zeit und Dahrendorf bildeten und für mich wichtig waren: eine starke Dosis politischer und historischer Soziologie und die hohen intellektuellen Ansprüche von Rainer Lepsius, wie schon im SPES-Projekt eine Auseinandersetzung mit Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat insbesondere auch durch Wolfgang Zapf und die Arbeiten meines Freundes und Mitassistenten Peter Flora, sowie ein Schuss Wissenschaftstheorie über Hans Albert und Sozialpsychologie über Martin Irle und seinen jüngeren MitarbeiterInnen. Damit waren die intellektuellen, methodischen, normativen und thematischen Weichenstellungen meines wissenschaftlichen Werdegangs im Grossen und Ganzen festgezurrt: das Ärgernis sozialer Ungleichheit und eine optimistische, sozialdemokratisch gefärbte Vorstellung von gesellschaftspolitischen Gestaltungschancen, eine systematische, empirisch-quantitative Sozialstrukturanalyse auf der Grundlage von Umfragedaten und Massendaten der amtlichen Statistik, der Glaube an die aufklärende Wirkung der Aufdeckung legitimitätswidriger sozialer Tatsachen, eine kritische Haltung gegenüber soziologischen Essayisten und Zeitdiagnostikern8. 1977 legte ich eine kumulative, zumeist aus bereits publizierten Artikeln bestehende Schrift zur Intergenerationenmobilität vor (Fluktuation und Umschichtung) und wurde, 32-jährig, von den Fakultäten für Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim habilitiert. Mein Habilitationsvortrag befasste sich mit Prognosen der tertiären Bildungsbeteiligung auf der Basis von Daten zur intergenerationalen Bildungsreproduktion, 8
Jens Alber hat die dieser Position zugrunde liegende wissenschaftstheoretische Grundhaltung trefflich so formuliert: „Keep your mouth shut as long as you cannot contribute to the debate on the basis of your own empirical research findings.“
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die im Wissenschaftsministerium in Stuttgart mit Unglauben quittiert wurden. 1977/78 verbrachte ich als Fellow am Nuffield College in Oxford und ging auf den akademischen Arbeitsmarkt, der zwar im Rückblick durch die Hochschulexpansion besonders chancenreich war, sich subjektiv aber ganz anders darstellte. Nach mindestens sechs Bewerbungen und fast so vielen Vorstellungsvorträgen, erhielt ich Rufe an die Gesamthochschulen Wuppertal und Kassel. An beiden Orten waren empirische Sozialforscher eher Außenseiter und ich zog diesen Rufen (trotz zwei kleiner Kinder) einen 1-Jahresvertag als Programmdirektor an dem neugegründeten Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) vor. Zwei Jahre später wurde ich als Nachfolger von Max Kaase Geschäftsführender Direktor. Neben ihm waren Hans-Dieter Klingemann und Franz-Urban Pappi meine Direktorenkollegen. Neben vielen Projektbetreuungen war meine größte Aufgabe die Konzeption und der Start des ALLBUS, einer nationalen Mehrthemen-Replikationsumfrage. Daneben beantragten Walter Müller und ich zwei Großprojekte: in dem geplanten SFB 3 ein Projekt zu „Lebensverläufe und sozialem Wandel“ als retrospektive Kohortenuntersuchung und „Fortsetzung“ der Mikrozensuszusatzerhebung „Berufliche und soziale Umschichtung“ sowie bei der Volkswagenstiftung das VASMA-Projekt („Vergleichende Sozialstrukturanalyse mit Massendaten der amtlichen Statistik“). Beide Projekte wurden bewilligt. Nach kurzer Zeit teilten wir uns die Verantwortlichkeiten und ich entwickelte ein Forschungsdesign für eine national repräsentative Retrospektivbefragung von drei Kohorten (1929-31, 1939-41, 1949-51) mit dem übergreifenden Ziel einer angemessenen Beschreibung und Erklärung sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf. Dabei waren viele Methodenproblem zu lösen, von der Stichprobenziehung von Einzelkohorten über die Erhebungsinstrumente für auf Einzelmonate bezogene Rekonstruktionen der Lebenszeit bis hin zur dynamischen Analyse von Längsschnittsdaten. Dass ich während dieser Entstehungsphase der Lebensverlaufsstudie bei ZUMA arbeitete, war ein ausgesprochener Glücksfall, denn ohne die hausinterne Expertise (u.a. von Erika Brückner und Peter Kirschner), die enge Kooperation mit GETAS und Gastwissenschaftlern wie Karl Schuessler und Aage Sorensen wäre dies nicht ein so exemplarisches und gutes Projekt geworden. Bei ZUMA war das allerdings ein Feierabend- und Wochenendprojekt. Die Serviceprojekte hatten immer Vorrang vor den eigenen Forschungsprojekten. Es war daher ein weiterer Glücksfall, dass ich nach der ersten Kohortenerhebung, als die Daten für die Analyse zur Verfügung standen, als Direktor an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nach Berlin berufen wurde.
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2.4 Berlin 1983-2003: Bildungsforschung, Human Development and Aging, Lebensverlauf Die Analyse von Mustern von Lebensverläufen, d.h. Ausbildungs- und Berufskarrieren, Wohn- und Familiengeschichten im Kontext des sozialen Wandels war das Forschungsprogramm, das ich in Berlin mit großer Freiheit und großzügiger materieller Unterstützung durchführen konnte. Analytisch ging es um die Verknüpfung von Sozialdemographie und Makrosoziologie, nämlich von kohortendifferenzierten Populationsprozessen in institutionellen Kontexten (Brückner und Mayer 2005), sowie um die Aufdeckung von Mechanismen der Reproduktion und Entfaltung sozialer Ungleichheiten (Mayer 2004, 2006). Es ging aber auch um die innovative Verknüpfung von individuellen Prozessen in verschiedenen Lebensbereichen. Diese konzeptuellen Arbeiten haben ihre eigene Wirksamkeit entfaltet, so insbesondere die Texte zur Einbettung von Lebensverläufen in den Wohlfahrtsstaat (Mayer und Müller 1986), in Institutionen und in die politische Ökonomie (Mayer 1997, 2005) sowie um die Interaktionen zwischen menschlicher Entwicklung und der Sozialstruktur von Lebensverläufen (Mayer 2003; Mayer und Diewald 2007). Methodisch ging es um die weitere Entwicklung von Erhebungs-, Dateneditions- und Analyseverfahren für retrospektive Kohortenbefragungen (persönlich, telefonisch, computerunterstützt) und die Anwendung von explorativen Verfahren sowie neuen Modellen der Ereignisanalyse (Mayer und Tuma 1990; Mayer und Huinink 1990, 1994; Blossfeld et al. 1986). Insgesamt haben wir in West- und Ostdeutschland zwischen 1981 und 2005 neun verschiedene Repräsentativbefragungen bei 7 (West) bzw. 4 (Ost) Kohorten(gruppen) durchgeführt mit über 10.000 Personen, über 12.000 Befragungen und vier verschiedenen Feldorganisationen (GETAS, Infratest, infas, und ein MPI-internes Telefonlabor) (Brückner und Mayer 1998; Mayer 2008a). Wir, das waren eine große, rasch wechselnde Gruppe von StabsmitarbeiterInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, studentischen Hilfskräften, Doktoranden, Postdoktoranden und Gastwissenschaftlern. Die Lebensverlaufsstudie ist ein kollektives Produkt und insbesondere die Arbeit derer, die bei der Instrumentenentwicklung, Feldarbeit und Datenaufbereitung mitgearbeitet haben, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Datenedition, als Überprüfung und Korrektur der Daten, dauerte in der Regel länger und kostete mehr als die eigentliche Feldarbeit. Entstanden sind aus dem Lebensverlaufsprojekt u.a. exemplarische Datendokumentationen (siehe www.yale.edu/ciqle), viele Bücher, so u.a. „Kohortendifferenzierung und Karriereprozess“ (Blossfeld 1989), „Lebensverläufe und sozialer Wandel“ (Mayer 1990), „Vom Regen in die Traufe“ (Mayer et al. 1991), „Ereignisanalyse“ (Blossfeld et al. 1986), „Lebensverlauf und Sozialpolitik: Die Ungleichheit von Mann und Frau und ihr öffentlicher Ertrag“ (Allmen-
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dinger 1994), „Wozu noch Familie?“ (Huinink 1995), „Kollektiv und Eigensinn: Lebensverläufe in der DDR und danach“ (Huinink und Mayer et al. 1995), „Scheidung in Ost- und Westdeutschland: Zum Verhältnis von Ehestabilität und Sozialstruktur“ (Wagner 1997), „Geboren 1964 und 1971“ (Hillmert und Mayer 2004), „Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft?“ (Solga 2005), „After the Fall of the Wall. Life Courses in the Transformation of East Germany” (Diewald et al. 2006).9 Eine besondere Herausforderung für das Lebensverlaufsforschungsprogramm war die deutsche Einheit. Ich nahm teil an den sozialwissenschaftlichen Deutungen und Erklärungen des Zusammenbruchs der DDR (Mayer 1991, 1994; Huinink und Mayer 1993). Bereits 1990 weiteten wir unser Erhebungsprogramm auf Ostdeutschland aus. Mit zwei Befragungen über vier Geburtskohorten (192931, 1939-41, 1951-53, 1959-61 und 1971), und zwei Panels rekonstruierten wir zum einen die Gesellschaft der DDR (Huinink und Mayer et al. 1995; Solga 1995; Trappe 1995), zum andern untersuchten wir die komplexen Beziehungen zwischen Lebensverläufen und Systemwandel (Mayer 2001a; Diewald et al. 2006, Mayer und Schulze 2009). Entscheidend für den Erfolg dieses Teils der Lebensverlaufsstudie waren nicht zuletzt die Ostdeutschen in unserer Arbeitsgruppe: Gaby Bendmann, Anne Goedicke, Britta Matthes, Anke Hoehne, Anja Rampolokeng, Heike Solga, und Heike Trappe. Seine Wirksamkeit entfaltete dieses Forschungsprogramm neben den Publikationen mindestens ebenso in dem Modell der empirischen Erhebungen und in den mehr als zwanzig HochschullehrerInnen, die aus der Lebensverlaufsgruppe hervorgegangen sind. Unterstützt wurde diese Forschungsarbeit nicht zuletzt durch meine langjährigen Direktorenkollegen Paul Baltes, Wolfgang Edelstein und Peter Roeder. Mit Paul Baltes und zwei Medizinern, Elisabeth Steinhagen-Thiessen und Hansfried Helmchen, initiierte und leitete ich zwischen 1988 und 1998 die Berliner Altersstudie, eine außergewöhnlich intensive, interdisziplinäre Untersuchung von 70bis über 100-Jährigen (Mayer und Baltes 1996). Mit den Erziehungswissenschaftlern arbeitete ich bei den letzten Ausgaben des „Bildungsberichts“ zusammen (Cortina et al. 2008). Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung war in 9 Hinzu kommen noch die auf der Grundlage von Dissertationen entstandenen Bücher mit Daten der Lebensverlaufsstudie, u.a.: „Räumliche Mobilität im Lebenslauf“ (Wagner 1985), „Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft?“ (Solga 1995), „Emanzipation oder Zwang: Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik“ (Trappe 1995), „Ausbildung und Beruf: Die Geburtsjahrgänge 1919-1961“ (Konietzka 1999), „Ausbildungssysteme und Arbeitsmarkt“ (Hillmert 2001), „Beschäftigungschancen und Betriebszugehörigkeit: Die Folgen betrieblichen Wandels für ostdeutsche Erwerbstätige“ (Goedicke 2002), „Mehrfachausbildungen : Karriere, Kollage, Kompensation“ (Jacob 2004), „Autobiografisches Gedächtnis und retrospektive Datenerhebung: Die Rekonstruktion und Validität von Lebensverläufen“ (Reimer 2005).
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diesen Jahren eine keineswegs konfliktfreie, aber intellektuell immer anregende, interdisziplinäre Forschungsinstitution. Neben den eigenen Forschungsarbeiten und dem Management eines großen Forschungsbereiches im Institut traten zunehmend fachbezogene und andere wissenschaftsorganisatorische Aufgaben: Herausgeberschaften (Zeitschrift für Soziologie 1983-1987, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996-2004, Gründungsherausgeber des European Sociological Review 19851990); Fachgesellschaften (Vorstand der Deutsche Gesellschaft für Soziologie; Berufungsgremien (so u.a für die Max-Planck-Institute für internationales Privatrecht, ethnographische Forschung, Gesellschaftsforschung und Wirtschaftsforschung) Beiräte und Begutachtungen (u.a. SOEP, DIW, EUI Florenz). Mein wohl wichtigster Erfolg war mein Vorschlag für ein neues Max-Planck-Institut für demographische Forschung, für das ich als Vorsitzender der Gründungskommission als Geburtshelfer diente, und das in Rostock in ganz kurzer Zeit unter der Leitung von Jim Vaupel und Jan Hoem zu dem führenden demographischen Forschungsinstitut weltweit wurde. 1993 wurde ich in den Wissenschaftsrat berufen und war von 1996 bis 1999 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission, von 2000 bis 2002 stellvertretender Vorsitzender der Sächsischen Hochschulkommission, von 1999-2001 war ich Mitglied der Kommission zur Verbesserung der Dateninfrastruktur und von 2001 bis 2003 Vorsitzender des neugegründeten Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten. Ich habe in der Arbeit im Wissenschaftsrat dankbar erfahren, dass Soziologen unter den anderen Fachkollegen nicht nur mit offenen Armen aufgenommen wurden, sondern auch zu solchen komplexen wissenschaftspolitischen Planungsprozessen eine Menge beizutragen hatten. Ich habe dabei u.a. vieles über Berufsakademien und Fachhochschulen gelernt, und bei einer Vielzahl von Empfehlungen mitgewirkt (so u.a. zur Integration der Verwaltungshochschulen ins allgemeine Hochschulwesen, die Abschaffung der Habilitation, die Einführung von Kurzstudiengängen und zur Arbeitsmarktsituation von Hochschulabsolventen). Wissenschaftlich verarbeitet habe ich diese wissenschaftspolitischen Erfahrungen in einer Reihe von Aufsätzen (u.a. Mayer 1992, 2002, 2005, 2008a, 2008b).
2.5 Yale University und CIQLE – 2003 bis heute 1999 erhielt ich einen Ruf an die Yale University, den ich ablehnte, da das empirische Forschungsprogramm der Lebensverlaufsstudie, vor allem Datenaufbereitungs- und Datendokumentationsarbeiten, noch nicht abgeschlossen war. Andererseits zeichnete sich ab, dass die retrospektive Erhebung weiterer Kohorten durch das Fortschreiten und die Stichprobenerhöhungen des Sozio-Ökonomi-
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schen Panels, das SHARE-Projekt und die Planungen für ein Bildungspanel (ALWA, und jetzt NEPS) nicht mehr finanzierbar und sinnvoll war und dass ich mehr Zeit für die Auswertung unserer Datenstände anstelle von weiteren Investitionen in die Entwicklung der Datenbasis haben wollte. Schließlich musste ich mich auch entscheiden, ob ich in meinen letzten aktiven Berufsjahren überwiegend Wissenschaftsmanagement und -politik betreiben sollte. Ich entschied mich, den zweiten Ruf nach Yale anzunehmen und trat meine Professur dort im Januar 2003 an. Neben der Aussicht auf mehr Forschungszeit und weniger Management reizten mich an diesem Wechsel die Einsicht als Gerontologe einer aktiven Gestaltung der letzten Lebensphase (die U.S.A. kennt keine Verrentung mit 65), die alte Mahnung, dass man Gesellschaften nur als Fremder und nicht als Etablierter soziologisch verstehen kann, sowie die intellektuelle Debatte über die relativen Vor- und Nachteile von Marktgesellschaften vs. Wohlfahrtsstaaten. Ich hatte dazu eine Diskussion angestoßen und unter dem Titel „Die Beste aller Welten? Marktliberalismus vs. Wohlfahrtsstaat“ ein Buch dazu herausgegeben (Mayer 2001b). Mich interessierte auch, ob man mit graduate students oder mit wissenschaftlichen Mitarbeitern die interessantere Forschung machen kann. In Yale konnte ich ein ganz kleines Forschungszentrum aufbauen (Center for Research on Inequalities and the Life Course – CIQLE), als Chair des Department gleichgesinnte Kollegen berufen (Hannah Brückner und Richard Breen) sowie nach fast einem Vierteljahrhundert interdisziplinärer und sehr produktiver Verortung in den Kern der Soziologie zurückkehren (u.a. mit Jeffrey Alexander, Scott Boorman, Phil Gorski, Phil Smith und Ivan Szelenyi als Kollegen). Ich halte Vorlesungen und Seminare über die amerikanische Gesellschaft, forsche aber weiterhin über die deutsche Gesellschaft. Bei der internationalen Ausrichtung von Yale (und manch anderer amerikanischer Universitäten) ist das aber gar nicht problematisch. Thematisch bestimmen immer noch vier Fragen mein Erkenntnisinteresse: 1) Wie werden Lebensläufe durch ihre Eigendynamik und historische Bedingungen bestimmt? 2) Wie werden soziale Ungleichheiten im Lebensverlauf generiert? 3) Wie beeinflussen liberale Marktgesellschaften und Wohlfahrtstaaten die Lebenschancen ihrer Gesellschaftsmitglieder? Ich sitze an zwei großen Projekten, zum einen an einem Buch über den Geburtsjahrgang 1971 in Ost- und Westdeutschland, zum anderen an einem Projekt über den sozialen Wandel in Nachkriegsdeutschland dargestellt über Vergleiche zwischen 1919-1971 geborenen Kohorten. Dies wird mich noch einige Jahre beschäftigen. Damit will ich aber jedenfalls mein persönliches Forschungsprogramm auf der Grundlage empirischer Lebensverlaufsdaten abschließen und mit größerer akademischer Freiheit den Wind dahin wehen zu lassen, wohin er will.
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Theorien des Lebensverlaufs und wissenschaftlicher Werdegang
Ich hatte eingangs versprochen, dass ich meine autobiographischen Notizen in Hinblick auf drei Frage interpretieren würde: 1) Inwieweit war dieser wissenschaftliche Werdegang durch die historischen Zeitumstände „geprägt“? 2) Inwieweit muss er entwicklungsgenetisch als endogener Kausal- und Handlungszusammenhang verstanden werden im Gegensatz zu zufälligen oder situativen Einflüssen? (Entwicklung) 3) Wie fügt er sich ein in die Gesamtentwicklung der Soziologie als Fach und Forschungsfeld? (Wissenschaft als individuelles vs. kollektives Unterfangen).
3.1 Historische Prägungen und kollektives Kohortenschicksal Mein Lebensverlauf und mein wissenschaftlicher Werdegangs wurden auf vielfältige und offensichtliche Weise durch die historischen Umstände geprägt. Ich bin ein Kriegsurlaubskind, sonst wäre ich wahrscheinlich als 5. Kind gar nicht auf die Welt gekommen. Mein Vater blieb in den letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs vermisst, bevor er mich je gesehen hatte. Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren, wo wir nach der Bombardierung von Ulm evakuiert wurden, und während meiner Geburt im Keller tobte über uns ein Gefecht zwischen SS und den Amerikanern. Ich wurde mit Limonade notgetauft. In einer Familie mit 5 Kindern war die Nachkriegsarmut auch deutlich und länger zu spüren als in den Familien meiner Spielkameraden. Man könnte annehmen, das mit dieser Jahrgangszugehörigkeit die „Gnade der späten Geburt“ im Hinblick auf die deutsche Kollektivschuld verbunden war. Wenn man allerdings weiß, dass Bevölkerungen und Kriegsgefangene im Osten systematisch unterernährt wurden, um die reichsdeutsche Bevölkerung gut mit Lebensmitteln zu versorgen, war ich selbst als Fötus noch in die deutsche Kollektivschuld verstrickt. Mein Geburtsjahrgang, 1945, war mit ca. 450.000 Lebendgeborenen die kleinste Kohorte des Jahrhunderts überhaupt. Aber einfache sozialdemographische Ableitungen über die besonderen Chancen kleiner Jahrgänge treffen dennoch kaum zu, weil die Nachkriegszeiten für überfüllte Klassen und Unterricht im Schichtbetrieb sorgten. Ich war ein Kind der re-education. Meine ersten Lektüren waren Propagandazettel über den Marshallplan und comic strips über Heroen der amerikanischen Geschichte. Meine ersten Konflikte als Journalist hatte ich aufgrund von Artikeln über die Nazi-Vergangenheit. Vom Wirtschaftswunder habe ich bis in das Ende der 60er Jahre wenig persönlich erfahren, aber der Optimismus dieser Jahre zeigte sich nicht nur darin, dass ich im Alter von 22 geheiratet habe und mit 25 die erste Tochter bekam, sondern auch darin, dass meine gesamte Kohorte
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eines der niedrigsten Heiratsalter überhaupt aufweist. Auf ein klassisches Gymnasium kam ich lange vor der Bildungsexpansion, aber die Expansion der Hochschulen hat mir zweifellos Chancen eröffnet, die z.B. einer meiner älteren Brüder nicht hatte (und der daher Germanistikprofessor in Kanada wurde). Allerdings verdanke ich meine Karrierechancen auch größtenteils der Interaktion zwischen Alters- und Periodeneffekten. Vermutlich vor allem der Tatsache, dass ich sehr jung war (beim M.A. 22, bei der Promotion 28 und bei der Habilitation 32), verdanke ich, dass mir die Chancen der Hochschulexpansion Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre zugute kamen. Viele meiner Kohortengenossen, die später promovierten und sich später habilitierten, bekamen einen Lehrstuhl erst im Osten nach der Wiedervereinigung.
3.2 Lebenslauf als endogener Kausal- und Handlungszusammenhang. Was waren wichtige Weichenstellungen für meinen wissenschaftlichen Werdegang? Was war die Folge von Lebensentwürfen und zielgerichtetem Handeln? Wichtig waren die drei Erstsemester in Tübingen und die intellektuellen Einflüsse von Ralf Dahrendorf und Wolfgang Zapf, aber auch die von Friedrich Kambartel in Konstanz vertretene „Erlanger Schule“ der analytischen Philosophie. Offensichtlich folgenreich war auch die Studienzeit in den USA, und der Beginn der Forschungstätigkeit zusammen mit Walter Müller in Konstanz. Eine weitere Weichenstellung war das Angebot von Wolfgang Zapf, mit ihm als Mitarbeiter nach Frankfurt zu kommen, sowie die Chance, in den von Hans-Jürgen Krupp und Wolfgang Zapf initiierten DFG-SPES Forschergruppe und dem SFB 3 Projekte durchführen zu können. Damit erhielten meine eigenen Arbeiten einen spezifischen Kontext, der einerseits durch eine empirisch verfahrende Makrosoziologie (Zapf), andererseits durch eine empirische Einkommensverteilungsforschung in sozialpolitischer Absicht (Krupp) bestimmt war. Richtungweisend war auch die enge internationale Zusammenarbeit im Research Committee on Social Stratification and Mobility des Internationalen Soziologenverbandes (RC 28), sowie die wissenschaftliche Konstellation in den 80er und 90er Jahren am Max Planck Institut für Bildungsforschung und die damit gegebene spezifische Konstellation der von mir vertretenen Sozialstrukturforschung, der life span psychology von Paul Baltes, der Reformpädagogik und Sozialisationsforschung von Wolfgang Edelstein sowie der historischen Bildungsforschung von Peter Martin Roeder. Die empirische Umfrageforschung, wie ich sie insbesondere bei ZUMA kennen lernte, war eine gute Lehre für ein 25-jähriges Forschungsprogramm mit der Erhebung eigener retrospektiver Repräsentativstudien.
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3.3 Der Wissenschaftler als Produzent oder Agent der Wissenschaftsentwicklung? Ich habe mich in der Vergangenheit selbst wissenschaftlich mit dem Zusammenhang von Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftlerentwicklung befasst (Mayer 1992, 2002). Die Vorstellung, die Wissenschaftsentwicklung würde vornehmlich im Sinne von Erfindungen, Durchbrüchen und Innovationen von individuellen Wissenschaftlern vorangetrieben, ist wahrscheinlich selbst eine wissenssoziologisch fragwürdige Fiktion. Realitätsgerechter ist vermutlich – zumal für vorwiegend empirisch arbeitende SozialwissenschaftlerInnen – , dass wir einen jeweils relativ bescheidenen Beitrag zu kognitiven Entwicklungen beisteuern, die zum einen einer bestimmten Eigenlogik unterliegen (wie z.B. der Wechsel von Übergangsmatrizen zu dynamischen Mikromodellen in der Mobilitätsforschung oder von der Sozialisationstheorie zu alternativen Lern- und Entscheidungstheorien), zum andern durch die Rahmenbedingungen etwa der staatlichen Forschungsförderung (z.B. der Konzentration von Forschungsinvestitionen auf bestimmten Arbeitsgebieten in Max-Planck-Instituten) bestimmt sein dürften. Die Bewertung des eigenen Anteils sollte man auch besser dem außenstehenden Betrachter überlassen als der eigenen Selbstüberschätzung. Ich würde mir und meiner Arbeitsgruppe zurückhaltend nur ein paar Wirkungen auf die Sozialstrukturanalyse sowie Lebensverlaufstheorie und -forschung zurechnen. Wir haben – zumindest in Deutschland – wesentlich dazu beigetragen, dass statische Querschnittsbetrachtungen durch Längsschnittbetrachtungen im Sinne einer Makro-Mikro-Makromodellierung ergänzt wurden. Wir haben Methoden der Erhebung und Analyse von Längsschnittdaten entwickelt, die vielfach national und international repliziert wurden. Wir haben international eine Variante der Lebensverlaufstheorie und -forschung durchgesetzt, die theoretisch stärker makrosoziologisch und institutionell orientiert, aber auch enger mit der Ungleichheitsforschung verknüpft ist (Mayer 2009). Die wohl wichtigste Wirkung ist die fortdauernde wissenschaftliche Arbeit einer Vielzahl von MitarbeiterInnen und Doktoranden auf verwandten Forschungsgebieten mit ähnlichen Methoden, so z.B. unter den Protagonisten des Nationalen Bildungspanels (Blossfeld, Allmendinger, Solga, Matthes, Gundert) oder des neuen Familienpanels (Huinink). Ohne Zweifel ist aber die umgekehrte Kausalrichtung von der Wissenschaft auf das Leben sehr viel handgreiflicher. Die soziologische Forschungsarbeit und deren organisatorische und inhaltliche Dynamik bestimmten die Stationen meines Arbeitslebens, die Wohnorte, Orte von Gastaufenthalten und Gastprofessuren (Oxford, Zürich, Harvard, Stanford, und Florenz), die Orte von Vorträgen und Lehrtätigkeiten (u.a. Wien, New Delhi, Barcelona, Taipeh, Padua), und nicht zuletzt viele persönliche Freundschaften. Die Soziologie bestimmt meinen Habi-
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tus als leidenschaftlicher, aber distanzierter Beobachter, aber zum Glück nur einen Teil meines Lesestoffs. Die Soziologie und die soziologische Forschung sind mein Beruf, und mehr als das. Insgesamt sehe ich mich auch in diesem Fallbeispiel in meinen soziologischen Prämissen durchaus bestätigt: die Spielräume der Lebensführung werden einerseits durch die Gesellschaftsstruktur und andererseits durch historisch spezifische Chancen ermöglicht und begrenzt.
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Wie kam ich zur Soziologie?
Was tut man als Soziologe? Man versucht die Gesellschaft zu verstehen, was um uns herum vor sich geht, warum es geschieht und wohin es führen mag. Was den Soziologen bzw. die Soziologin ausmacht, ist der soziologische Blick auf die Dinge, der etwas sieht, was andere nicht sehen. So betrieben, ist die Soziologie eine Reflexionswissenschaft par excellence. Wie bin ich selbst zu dieser Disziplin gekommen? In meinen Jugendjahren hat zunächst noch nichts darauf hingedeutet. Ich bin in Niefern bei Pforzheim in einem mittelständischen Geschäftshaushalt mit Betrieb und Wohnung unter einem Dach mitten im Ort mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen. Im Betrieb wurden Herrenhemden hergestellt. Mein Vater war einige Zeit Spielausschussvorsitzender im Fußballverein. Mit Interesse, Nachfragen und Kommentaren verfolgte ich, wie er einerseits sein Geschäft betrieb, andererseits regelmäßig mit dem Bürgermeister über die Nutzung des Sportgeländes stritt, vom Platz gestellte Fußballspieler vor dem Verbandsgericht in Karlsruhe vertrat und jeden Donnerstag die Mannschaftsaufstellung in den Ortsschaukasten hängte. Nach der Grundschule in Niefern besuchte ich den neusprachlichen Zweig des Kepler-Gymnasiums in Pforzheim, der sich im gleichen Gebäude verbleibend zum Hebel-Gymnasium verselbständigte, als ich etwa die Mittelstufe erreicht hatte. Die Schule hat von sich aus keine intellektuellen Interessen in mir geweckt. Von einem kurzen Intermezzo als Trompeter in der Jugendkapelle des Musikvereins abgesehen, standen der sportliche Wettkampf und die Sportkameradschaft im Sportverein im Vordergrund, zunächst im Fußballverein, dann in der Leichtathletikabteilung des Turnvereins, dann im Skiklub. Ich habe dabei wohl all diejenigen Tugenden internalisiert, die man in einer Wettbewerbsgesellschaft braucht, auch das außerhalb der Schule. Unser Geschäftshaushalt und das vielfältige Vereinsleben im Ort bildeten einen Mikrokosmos, in dem man alles lernen konnte, was man im Leben braucht. Das Gymnasium war etwas, das man bewältigt hat, um sich die besten Chancen für die berufliche Zukunft zu verschaffen. Man tat dies aber leidenschaftslos als eine notwendige Pflichtübung. Die Kür war immer außerhalb der
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Schule. Das galt auch für die intellektuellen Interessen, die im Winter 1962 erwachten. Genauer gesagt, wurden sie von meinem fünf Jahre älteren Cousin geweckt, der nach dem Abitur Architektur studierte und später Landschaftsarchitekt wurde. Er besuchte mich wie üblich in den Weihnachtsferien und brachte einen Stapel Taschenbücher mit Romanen und Erzählungen, u.a. von Heinrich Böll, Alfred Andersch, Albert Camus und Jean Paul Sartre, mit. Er meinte, das sei doch etwas, das mich auch interessieren müsste, wenn ich ein Mensch werden wollte, der über die Welt Bescheid weiß, in der wir leben. Mein Cousin war mir sehr wichtig, seinen Rat habe ich wohl sehr ernst genommen. Er brachte mich nämlich auf eine Fährte, die am Ende zur Soziologie, aber nicht zur Literaturwissenschaft führte. Das erwachte Interesse an der Literatur teilte ich mit ein paar Klassenkameraden. Wir bildeten einen kleinen Zirkel von „Jungphilosophen“. Unser Held war Jean Paul Sartre. Zwangsläufig folgte dem Aufbruch in die intellektuelle Welt nach dem Abitur kein „Brotstudium“, sondern das Studium der Soziologie, und das im Frühjahr 1965, als die Studenten in Berkeley schon aufbegehrten, in Deutschland Günter Grass für Willy Brandt trommelte, Georg Picht vor der Bildungskatastrophe warnte und Ralf Dahrendorf für Bildung als Bürgerrecht warb. Warum die Wahl auf die Soziologie fiel, lag wiederum an einem anderen, drei Jahre älteren Cousin von mir. Er studierte schon Soziologie in Heidelberg. Nachdem der Eintritt in die Welt der Literatur und Philosophie und die Warnung meines Architektur studierenden Cousins vor einer in die sichere Arbeitslosigkeit führenden Architektenschwemme den in der Obersekunda noch kurz gehegten Wunsch nach einem Studium der Architektur zur Seite geschoben hatten, lag eigentlich ein Studium der Germanistik nahe. Was macht man aber damit? Lehrer zu werden, das kam nicht in Frage, weil die Realität des Schulbetriebs zu weit entfernt von den intellektuellen Höhenflügen von uns Jungphilosophen schien. Wie konnte man aber mit Schreiben sein Brot verdienen? Zwangsläufig ergab sich der Journalismus als Berufsziel. Und da überzeugte mich mein zweiter Cousin, dass dafür die Soziologie die weit bessere Vorbereitung war als die Germanistik. Will man über das gesellschaftliche Geschehen schreiben, dann muss man darüber auch Bescheid wissen. Auch heute noch möchte ich sagen, dass mein Cousin völlig Recht hatte. Warum aber Heidelberg und nicht Frankfurt am Main, das Mekka der Kritischen Theorie? Das war eine merkwürdige Entscheidung. Mein Cousin verstand sich als Kommunist, war aber in Heidelberg begeistert von Ernst Topitsch und seiner Ideologiekritik. Das schien ihm von einem scharfsinnigeren Geist geprägt zu sein als Adornos „unverständliches“ Kreisen um kaum fassbare Gedanken. Obwohl ich mich schon zur Kritischen Theorie hingezogen fühlte und mich innerlich schon auf dem Weg zum Studium in Frankfurt befand, nahm ich dann doch das Soziologiestudium in Heidelberg auf. So landete ich
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zunächst einmal in den Armen des Kritischen Rationalismus und lernte formale Logik, Poppers Wissenschaftstheorie und Hans Kelsens Rechtslehre statt Dialektik und Kritische Theorie. Der Weg zur Soziologie führte in diesem Milieu zu Homans’ Verhaltenstheorie und zu Rational Choice. Die großen gesellschaftstheoretischen Fragen, die in der Studentenbewegung aufgeworfen wurden, konnte man damit aber nicht beantworten. Die Suche nach solchen Antworten hat mich deshalb von Homans & Co. nachhaltig abgeführt. Fündig geworden bin ich bei den Klassikern, bei Marx, Weber und Durkheim, erst später bei Simmel. Auf gesellschaftstheoretischem Pfad musste man im weiteren Gang auf Talcott Parsons, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas stoßen, und eben nicht auf Herbert Blumer, Erving Goffman oder Harold Garfinkel. Damit war mir die Kritische Theorie näher als der Positivismus einer von Rational Choice dominierten Soziologie. Ich begann also im Sommersemester 1965 mit dem Studium der Soziologie bei Ernst Topitsch in Heidelberg, das in Wirklichkeit ein Studium der Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik war. Daneben studierte ich Philosophie bei Ernst Tugendhat und Psychologie bei Carl F. Graumann. Außerdem besuchte ich Vorlesungen und Seminare bei Franz Weinert in Psychologie, bei Carl Joachim Friedrich, Dolf Sternberger und Klaus von Beyme in Politikwissenschaft, Hans Georg Gadamer in Philosophie und Werner Conze in Neuerer Geschichte. Ich fuhr auch nach Mannheim, um dort Vorlesungen bei Hans Albert in Wissenschaftstheorie, Rainer Lepsius in Sozialstrukturanalyse und Martin Irle in Sozialpsychologie zu hören. In Hans G. Oel, Assistent von Ernst Topitsch, hatte ich einen Mentor, der eigenständiges Denken gefördert hat, zugleich aber analytische Strenge verlangte. Unsere Seminare in Heidelberg waren Stätten des intellektuellen Suchens und Messens, des Ausreizens von Argumenten und der Selbstdarstellung als junge Intellektuelle, weit entfernt von jeglicher Art der Unterwerfung unter das Regime einer Prüfungsmaschinerie, die nicht nur den Studierenden, sondern auch den Professoren das eigenständige Denken austreibt. Mannheim war dagegen schon weit mehr verschult und deshalb für mich letztlich nicht attraktiv. Zu dem Leseprogramm gehörte auch die Lektüre eines amerikanischen Lehrbuchs der Soziologie bei Horst Reimann (Lundberg et al. 1963) Satz für Satz, wobei man vom ersten Semester an nebenbei die englische Wissenschaftssprache gelernt hat. Klausuren habe ich erst ganz zum Abschluss meines Studiums in Soziologie, Philosophie und Psychologie geschrieben. Dazu kam jeweils eine mündliche Prüfung. Der Gegenstand der Prüfungen wurde individuell mit den Prüfern vereinbart und verlangte eine intensive eigenständige Auseinandersetzung mit der zugrunde gelegten Literatur. Während des Studiums hat man in erster Linie gelernt, wie man eine Seminararbeit schreibt, präsentiert und vertei-
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digt. Bei Hans G. Oel wurde sie vervielfältigt und komplett eine Woche vor dem Referatstermin im Seminar verteilt. Man hat gelernt, wie man ein Referat hält, wie man ein Argument entfaltet und schärft, wie man sich gegen Kritik verteidigt und wie man selbst punktgenau Kritik übt. Man wuchs ganz schnell in ein Milieu des akademischen Diskurses hinein. Im dritten Semester habe ich mein erstes Hauptseminarreferat gehalten. Der große Freiraum in Heidelberg wurde mit Lesen, Diskutieren und gelegentlich mit Demonstrieren ausgefüllt. Wir gingen aus den Seminaren heraus und in die nächste Kneipe hinein, um weiterzudiskutieren. Ich hatte ein riesiges Leseprogramm. In kürzester Zeit verschlang ich alles, was Ernst Topitsch geschrieben hatte und vieles von der Literatur, auf die er sich selbst bezog. Bei Ernst Tugendhat habe ich mich zwei Semester lang mit Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft auseinandergesetzt. So öffnete sich ganz ohne Zwang ein Tor zu einer intellektuellen Welt, die mich nicht mehr losgelassen hat.
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Das erste Erkenntnisinteresse: Wissenschaftstheorie
In meine Studienzeit fiel der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, an dem meine akademischen Lehrer Ernst Topitsch und Hans Albert auf der Seite des von Karl R. Popper geprägten Kritischen Rationalismus unmittelbar beteiligt waren. Auf der anderen Seite der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule standen Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Die Kontroverse zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie übte einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung meines Denkens aus. Als Student von Ernst Topitsch und Hans Albert war für mich die Position des Kritischen Rationalismus einleuchtender und bestimmender. Die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie hat jedoch langfristig erhebliche Spuren hinterlassen. So habe ich auch von Adorno und Horkheimer sowie insbesondere von Habermas vieles gelernt, was ohne Fokussierung des Studiums auf den Positivismusstreit nicht möglich gewesen wäre. Natürlich war da die Studentenbewegung, die auch in Heidelberg zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat, allerdings kaum zu wirklichen Konfrontationen zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Bewegung äußerte sich mehr in Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetze als in der Störung des Vorlesungs- und Seminarbetriebs. Zeitweise wurde neben dem offiziellen Lehrbetrieb eine „Kritische Universität“ als Alternative eingerichtet. Hier wurden vor allem die Schriften der Frankfurter Schule gelesen, was am Heidelberger Institut für Soziologie und Ethnologie nichts Ungewöhnliches war, weil diese Schriften auch auf dem Programm des offiziellen Lehrbetriebs
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standen. Ich selbst habe ab 1967 als Tutor studentische Arbeitsgruppen zur Kritischen Theorie und zum Kritischen Rationalismus geleitet. In meiner Magisterarbeit beschäftigte ich mich mit den bis 1969 ganz überwiegend in der amerikanischen Forschungsliteratur vorgelegten Erklärungsversuchen der studentischen Protestbewegung. Im Sinne des Kritischen Rationalismus suchte ich nach einer allgemeinen Theorie, die sich auf verschiedene Formen des Protestverhaltens erklärend anwenden ließ. Die Suche nach einer solchen Theorie führte mich noch weiter hinein in Fragen einer allgemeinen Theorie des menschlichen Verhaltens. Dabei ging ich davon aus, dass diese allgemeine Theorie in der Entscheidungstheorie und der psychologischen Verhaltenstheorie zu suchen sei. Dementsprechend legte ich zwischen 1969 und 1971 das Schwergewicht auf die Psychologie. Nach Auseinandersetzung mit Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz und anderen Theorien der kognitiven Inkonsistenz entwickelte ich in meiner Dissertation Mentales System und Verhalten eine Theorie der kognitiven Inkongruenz. Es handelte sich dabei um eine Theorie des Entscheidungsverhaltens, die darauf hinauslief, individuelles Verhalten als fortlaufende Inkongruenzreduktion zu erklären (Münch 1972b). Neben der Arbeit an der Dissertation habe ich einige Aufsätze zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Sozialwissenschaften publiziert, so z.B. einen Aufsatz „Zur Kritik der empiristischen Forschungspraxis“ (Münch 1972a), u.a. im Rahmen einer Kontroverse mit Klaus Holzkamp und seiner Kritischen Psychologie. Dabei habe ich zusammen mit Hans Albert, Herbert Keuth und Michael Schmid die Position des Kritischen Rationalismus vertreten (Münch und Schmid 1970; Albert und Keuth 1973). Damit war die wissenschaftstheoretische Debatte wieder in das Zentrum meines Interesses gerückt. So unternahm ich in meiner Habilitationsschrift Gesellschaftstheorie und Ideologiekritik eine Bestandsaufnahme dieser Debatte (Münch 1973). Es ging um die Klärung der Positionen des Marxismus, der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus. Die Schrift wurde im Dezember 1972 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Gutachter waren Hans Albert, Horst Reimann und Peter Atteslander. An die neu gegründete Augsburger Universität war ich 1970 zusammen mit Klaus Kiefer, Peter Meyer, Dieter Götze, Claus Mühlfeld, Michael Schmid und Bernd Giesen als Assistent von Horst Reimann gekommen. Horst Reimann ließ uns große Freiräume. Während er sich mehr um die Universitätspolitik kümmerte, hatten wir Assistenten das Heft bei der Gestaltung des Lehrangebots in der Hand. Wir betrieben im Grundstudium einen gemeinsam mit der Betriebswirtschaftslehre, der Volkswirtschaftslehre und der Psychologie gestalteten Studiengang, der sich dann im Hauptstudium in die einzelnen Disziplinen verzweigte. In
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der Forschungsarbeit hatte jeder von uns auf der Basis intensiver gemeinsamer Diskussionen ein eigenes Programm. In Augsburg ergab sich aus den Lehraufgaben ein verstärktes Interesse an der Makrosoziologie. So studierte ich ausgiebig die Schriften von Karl Marx, Max Weber, Emile Durkheim, Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Jetzt ging es mir um die Systematisierung dieser Theorien zu einer allgemeinen makrosoziologischen Theorie. Das Interesse an Systematisierung führte mich zwangsläufig zu der in dieser Hinsicht am weitesten entwickelten soziologischen Theorie von Talcott Parsons und zu deren Fortführung im Werk von Niklas Luhmann (Münch 1976a, 1976b).
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Das zweite Erkenntnisinteresse: Gesellschaftstheorie
Unmittelbar nach meiner Habilitation ging ich 1973 auf Reisen zum Vorsingen an vielen Orten. Geklappt hat es bei René König und Erwin K. Scheuch in Köln. Im Jahr 1973 übernahm ich eine Lehrstuhlvertretung an der Universität zu Köln, die mir erlaubte, meine Forschungsinteressen auch in der Lehre weiterzuverfolgen. Einem zwischenzeitlichen Lehrauftrag an der Ludwig-MaximiliansUniversität München und einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Heidelberg folgte 1974 die Berufung auf eine C3-Professur an der Universität zu Köln. Im Jahr 1976 wechselte ich auf einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaft an die Universität Düsseldorf, die damals noch nicht – wie einige Jahre und einige Auseinandersetzungen später – den Namen Heinrich Heines trug. Bei der Einrichtung des Lehrstuhls wurde aus zwei Gründen die Bezeichnung „Sozialwissenschaft“ gewählt: Es war der einzige Lehrstuhl im Bereich der Sozialwissenschaften, und man glaubte mit dieser Bezeichnung im Senat der Universität weniger Widerstand der dort dominanten Mediziner als mit der Bezeichnung „Soziologie“ zu provozieren. Bis zur Integration der Pädagogischen Hochschule Neuß habe ich dort das Sozialwissenschaftliche Institut allein geleitet und das Fach Soziologie mit meinen Mitarbeitern vertreten. In Werner Gephart, Jürgen Eiben, Bernhard Miebach und Karl-Heinz Saurwein hatte ich selbständig denkende Mitarbeiter, die für ein diskussionsfreudiges Klima am Lehrstuhl sorgten. Später wurde das Institut auf drei Professuren für Soziologie und drei Professuren für Politikwissenschaft ausgebaut. Im Zuge des Ausbaus ergab sich eine beflügelnde Zusammenarbeit zunächst mit Leonhard Lowinski, dann mit Heiner Meulemann und Günter Lüschen in der Soziologie und mit Hans Boldt und Heiner Flohr in der Politikwissenschaft. Mit dem Wechsel nach Düsseldorf war ich zunächst durch eine möglichst breit angelegte Lehre im Fach gefordert. Wie schon an meinen vorherigen Lehrstätten habe ich diese Anforderung nicht als Einschränkung meiner Forschungs-
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möglichkeiten empfunden. Vielmehr habe ich die Lehre immer auch als ein eigenes Lernen begriffen. Was immer ich mir in Vorbereitung auf die Lehre aneignete, erweiterte meinen Horizont, der mir in meiner Forschungsarbeit zugute kam und mich vor allzu enger Spezialisierung bewahrte. Außerdem forderte die Lehre stets dazu heraus, schwierige Argumentationen verständlich zu machen. Deshalb kann ich sagen, dass viele Studierende an meiner wissenschaftlichen Arbeit mitgewirkt haben, besonders diejenigen, mit denen ich in meinem Kolloquium einen intensiven Diskurs pflegen konnte. Mit dem Antritt des Düsseldorfer Lehrstuhls habe ich meine Forschungsarbeit auf drei Schwerpunkte ausgerichtet: auf die soziologische Theorie, die historisch vergleichende Soziologie und die politische Soziologie. Im Rahmen dieser Schwerpunkte sind aber auch Arbeiten entstanden, die ebenso der Hochschulsoziologie und der Kommunikationssoziologie zugerechnet werden könnten. Besondere Bedeutung hat zunächst die Rekonstruktion und die Weiterentwicklung der Handlungs- und Systemtheorie von Talcott Parsons gewonnen. Parsons hat in den 1950er und 1960er Jahren eine dominierende Stellung in der amerikanischen Soziologie eingenommen. Seit Ende der 1960er Jahre ist seine Dominanz jedoch vom Aufleben einer größeren Pluralität soziologischer Theorien gebrochen worden. Dagegen ist das Interesse an Parsons in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren besonders gewachsen. In die große Debatte zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann war gerade auch das Werk Talcott Parsons’ eingespannt. Ich selbst habe Talcott Parsons erst im September 1977 bei einer denkwürdigen Max-Weber-Konferenz im schweizerischen Gottlieben am Bodensee persönlich kennen gelernt. Am 9. Mai 1979 sollte er im Anschluss an die Feiern zum 50. Jahrestag seiner Promotion an der Universität Heidelberg zu uns nach Düsseldorf zu einem Vortrag kommen. Zwei Tage zuvor ist er in München durch Herzversagen plötzlich verstorben. Jetzt kamen Anfragen nach einer Würdigung seines Werkes. Ich verfasste einen zweiteiligen Aufsatz zur Rekonstruktion seines Gesamtwerkes für die Soziale Welt (Münch 1979a, 1979b) und einen Aufsatz über Talcott Parsons und Max Weber für die Zeitschrift für Soziologie (Münch 1980). Dabei legte ich Kants Kritische Philosophie als eine neue Interpretationsfolie zugrunde und wies dem Konzept der Interpenetration von Ideen und Interessen eine zentrale Stellung zu. Der zweiteilige Rekonstruktionsaufsatz wurde auch im American Journal of Sociology veröffentlicht (Münch 1981, 1982b). Aus den Aufsätzen ist eine Monographie zur Theorie des Handelns hervorgegangen, die das Werk von Talcott Parsons in den Kontext der Klassiker stellte (Münch 1982c). Weitere Anregungen ergaben sich aus der Mitwirkung in der Herausgeberschaft des American Journal of Sociology von 1982 bis 1985 und der Current Perspectives in Social Theory von 1985 bis 1989. Einladungen zu
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Gastaufenthalten an die University of California in Los Angeles haben mir die Gelegenheit geboten, meine Arbeit an Theoriefragen im Austausch mit Jeffrey Alexander weiter voranzubringen. Dabei gab es auch Dissens, so insbesondere über die hegemoniale Stellung der amerikanischen Soziologie in der Welt. In den USA waren, neben Jeffrey Alexander, Edward Tiryakian, Donald Levine und Neil Smelser wichtige Diskussionspartner. Im weiteren Verlauf habe ich versucht, das Parsons’sche Theorieprogramm durch die Inkorporation von Elementen konkurrierender Theorien zu erweitern, um zu einer umfassenden soziologischen Theorie zu gelangen. Vorläufiges Zwischenstadium bildete ein Netzwerk aller geläufigen Theorieansätze. Diese Arbeit mündete schließlich in ein Lehrbuch zur soziologischen Theorie, das 1994 in den USA erschienen ist (Münch 1994). Es war das Ergebnis der wiederholten Bearbeitung meiner Vorlesungen zur soziologischen Theorie. In den Jahren 2002 bis 2004 ist eine neu bearbeitete und erweiterte deutsche Fassung davon publiziert worden (Münch 2002-2004). Heute sehe ich die Nutzung von soziologischen Theorien pragmatisch. Je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand ist ein bestimmter Theorieansatz besonders geeignet. Eine große Bedeutung für meine Beschäftigung mit Theoriefragen hatte die Sektion für Soziologische Theorien der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Die Sektion wurde 1976 zunächst als Arbeitsgruppe „Theorienvergleich“ aus der Taufe gehoben. Die Initialzündung dafür gab die von Karl Otto Hondrich 1974 beim Kasseler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie organisierte, 1976 beim Bielefelder Kongress fortgesetzte große Veranstaltung zum Theorienvergleich in der Soziologie. Die Zusammenarbeit in der Theoriesektion hatte eine außerordentlich stimulierende Wirkung. Die Tagungen der Sektion waren große intellektuelle Ereignisse. Bei den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kamen in den 1980er Jahren bis zu 1000 Zuhörer zu den Sitzungen der Sektion. Als Mitglied des Vorstandes und zeitweiliger Vorsitzender der Theoriesektion konnte ich an der Durchführung von vier deutsch-amerikanischen Konferenzen und einer europäischen Konferenz mitwirken. Aus den Tagungen sind vier gemeinsame Publikationen hervorgegangen (Alexander et al. 1987; Haferkamp 1989; Haferkamp und Smelser 1992; Münch und Smelser 1992). Diese Konferenzen entfalteten eine außerordentliche intellektuelle Kraft. Der aus der ersten Tagung hervorgegangene Band über den Macro-Micro-Link hat die Debatte zu diesem Thema nachhaltig geprägt.
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Das dritte Erkenntnisinteresse: Komparative Makrosoziologie
Zeitgleich mit den Arbeiten an der Erneuerung des Parsons’schen Theorieprogramms habe ich an einer historisch vergleichenden Soziologie der modernen Institutionen von Wirtschaft, Politik, Gemeinschaftsleben und Kultur und der Entwicklung der modernen Kultur gearbeitet (Münch 1982a, [1984]1992, [1986]1993a). Ich habe in diesen Studien versucht, die Entwicklung der modernen Institutionen in ihrer besonderen Eigenart zu erfassen sowie die Entwicklung der modernen Kultur extern im Vergleich der Weltkulturen und intern im Vergleich ihrer besonderen Varianten in England, in den USA, in Frankreich und Deutschland begreifbar zu machen. Anfang der neunziger Jahre habe ich mich dem Wandel der europäischen Gesellschaften im Prozess der europäischen Integration und der Globalisierung zugewandt, wobei wieder der Vergleich der Kerngesellschaften Großbritannien, Frankreich und Deutschland mit den Vereinigten Staaten im Mittelpunkt stand. Dabei sind insbesondere Fragen der sozialen Integration unter den Bedingungen der Pluralisierung von Lebensformen, der Heterogenisierung durch Migration, des Multikulturalismus, der Globalisierung von Märkten und Kommunikationsnetzen relevant geworden (Münch 1991, 1993b, 1995, 1998). Anlass für das Interesse an der europäischen Integration waren die vorbereitenden Beratungen zum 1992 in Düsseldorf durchgeführten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie über Lebensverhältnisse und Konflikte im neuen Europa. Gleichzeitig habe ich die kulturvergleichende Forschung an einem spezifischen Gegenstand konkretisiert: an der politischen Regulierung von gesellschaftlich produzierten Umweltrisiken (Münch 1996). Weiter vertieft wurde dieser Forschungsansatz durch eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 1994 bis 1997 finanzierte vergleichende Untersuchung der Regulierungskulturen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und der USA in der Luftreinhaltung von 1970 bis 1996 (Münch und Lahusen 2000; Münch et al. 2001; Stark, 1998; Jauß 1999; Lahusen 2003). Hans-Jürgen Aretz hat maßgeblich an der erfolgreichen Beantragung der Studie mitgewirkt. Bei der Durchführung haben Christian Lahusen, Cornelia Borgards, Markus Kurth, Claudia Jauß, Christoph Peters, Silke Rotzoll und Carsten Stark ein außerordentlich produktives Team gebildet. Dokumente wurden ausgewertet, Printmedien analysiert, und in jedem Land wurden etwa 40 Interviews mit Akteuren des Regulierungsprozesses geführt. Es wurde herausgearbeitet, wie sich die Regulierungskulturen in der Struktur der Akteursnetzwerke, den institutionellen Verfahrensregeln, den Weltsichten und den Strukturen der beteiligten Professionen (Ingenieure, Naturwissenschaftler, Mediziner, Juristen, Sozialwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler) sowie den zugrunde liegenden Legitimationsideen der politischen Philosophie
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unterscheiden und welche Konsequenzen sich daraus für ihre Fähigkeiten zur Innovation, Integration, Problemlösung und Legitimation von Entscheidungen ergeben. Es wurden die spezifischen Spannungsverhältnisse aufgezeigt, die sich aus der tendenziellen Heterogenisierung und Pluralisierung der Akteursnetzwerke für die Integrationskraft der Verfahrensregeln, der Problemlösungsfähigkeit der Experten und die Legitimation durch die politische Philosophie ergeben. Es entsteht ein Druck der Annäherung an die amerikanische Regulierungskultur, der jedoch zunächst zu erheblichen Spannungen, Konflikten und Fehlleistungen führt und auch die Schattenseiten des amerikanischen Modells wirksam werden lässt: Politik als endloser Kampf um kleinste Vorteile in allen Phasen und auf allen Ebenen. Ein weiteres, von der DFG von 1997 bis 1999 finanziertes Projekt hat diese Fragestellung am Beispiel der Interessenvertretung im politischen Prozess der EU untersucht (Lahusen und Jauß 2001). Ende der 1990er Jahre habe ich mich damit beschäftigt, die vergleichende Studie zur Genese und Differenzierung der Kultur der Moderne von 1986 für eine englische Publikation grundlegend zu überarbeiten (Münch 2001a). Es ging dabei im inter- und intrakulturellen Vergleich um die ethischen Grundlagen moderner Vergesellschaftung von den Anfängen im antiken Judentum bis zur aktuellen globalen Vergesellschaftung. Es handelt sich dabei nicht einfach um einen Prozess der Entlassung und Ausdifferenzierung säkularer Funktionssysteme aus ihrer religiös-ethischen Umklammerung, sondern um einen fortlaufenden Prozess der ethischen Transformation, in dem der Gegensatz zwischen Brüderlichkeitsethik im Binnenverhältnis und Unbrüderlichkeit im Außenverhältnis in ein sowohl nach innen (eigene Gruppe, Nation) als auch nach außen (Fremde) gleich strukturiertes Verhältnis der Fairness und formalen Rechtlichkeit umgestaltet wird. Der Globalisierungsprozess ist eine neue Stufe dieser permanenten ethischen Transformation der Moderne. Damit sind wir bei einer zentralen Frage der Globalisierung: Wie ist soziale Integration in offenen Räumen möglich? Große Bedeutung hat bei der Beantwortung dieser Frage die Aktualisierung der Klassiker, insbesondere von Marx, Weber, Durkheim und Simmel. Es zeigt sich, dass eine gegenwartsbezogene Interpretation der Klassiker zu höchst interessanten Deutungen und Erklärungen der mit dem Globalisierungsprozess einhergehenden Veränderungen von Kultur und Vergesellschaftung führt (Münch 2001b, 2001c).
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Institutioneller Wandel in der globalen Mehrebenengesellschaft
Zum Wintersemester 1995/96 bin ich nach Bamberg gegangen. Nach neunzehn Jahren in Düsseldorf wollte ich an einem anderen Standort nochmals neu anfan-
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gen. Die von Laszlo Vaskovics mit feinem universitäts- und professionspolitischem Gespür aufgebaute Bamberger Soziologie bot dafür die bestmöglichen Voraussetzungen. Der auf einem sehr soliden Grundstudium mit hervorragender methodischer Ausbildung durch Gerhard Schulze aufbauende Diplomstudiengang ermöglichte im Hauptstudium in Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Disziplinen eine Ausdifferenzierung in nicht weniger als sechs berufsfelderschließende Studienschwerpunkte. Nur Teile davon konnten in das Bachelor/Master-System hinübergerettet werden. In Düsseldorf war die Soziologie Teil der Philosophischen Fakultät. Das hat mein Interesse an kultursoziologischen Fragen geweckt. Die neue Tätigkeit in Bamberg bedeutete zugleich einen Wechsel an eine Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, mit der Besonderheit, dass nicht weniger als fünf Juristen an dieser Fakultät tätig waren. Daraus ergaben sich neue Anregungen für die weitere Forschungsarbeit. Sie sollte sich in diesem Kontext vertieft mit dem gesellschaftlichen Wandel in unserer Gegenwart beschäftigen. Wichtige Anregungen habe ich auch in Bamberg von Mitarbeitern mit eigenem Kopf erhalten, so von Hans Jürgen Aretz, Christian Lahusen, Carsten Stark, Matthias Koenig und Thomas Heinze. In die Bamberger Zeit ist außerdem die Mitwirkung an der Herausgeberschaft von zwei Fachzeitschriften gefallen, die reichhaltige Erfahrung in der Praxis der Rezension und in der Begutachtung von Manuskripten erbracht haben. Von 1997 bis 2005 habe ich an der Herausgabe der Soziologischen Revue mitgearbeitet, von 1997 bis 2001 als geschäftsführender Herausgeber. Bei dieser Tätigkeit hat sich Carsten Stark als Redakteur sehr verdient gemacht. Gert Schmidt, Hans Georg Soeffner, Birgitta Nedelmann, Gertrud Nunner-Winkler und Werner Rammert waren wunderbare Partnerinnen bzw. Partner bei diesem Geschäft. Von 2000 bis 2005 kam die Mitarbeit in der Herausgeberschaft der Zeitschrift für Soziologie dazu. Unter der stets um Ausgleich besorgten und mit Liebe zum Text ausgeübten Moderation unseres Geschäftsführers Hartmann Tyrell waren das zusammen mit den Mitstreitern Jörg Bergmann, Ilona Ostner, Andreas Diekmann, Bettina Heintz, Peter Preisendörfer und Martin Kohli lehrreiche Jahre der Sammlung von Erfahrung in der Praxis des Peer review. Die Fleißarbeit der Begutachtung und der Diskussion der Manuskripte in der Herausgebersitzung wurde durch ein feines Abendessen und durch interessante Exkursionen in die Stadtgeschichte der diversen Sitzungsorte belohnt. Hartmann Tyrell hatte dafür ein besonders gutes Gespür. Später konnte ich noch weiter dazulernen, welche Schwierigkeiten beim Peer review im Spannungsfeld zwischen dem Erkennen von Genialität und dem Pochen auf Qualität zu bewältigen sind. Unter der immer auf ausgewogene und gut abgesicherte Urteile zielenden Leitung von Friedhelm Neidhardt habe ich in
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Zusammenarbeit mit weiteren 14 Kolleginnen und Kollegen an der Pilotstudie des Wissenschaftsrates (2008) zum Forschungsrating Soziologie teilgenommen, auch das eine unersetzliche Erfahrung in der Praxis der Disziplin. Das aufwändige Verfahren hat zwei Jahre gedauert und rund drei Monate Arbeitszeit jedes einzelnen der insgesamt 16 Mitglieder in Anspruch genommen (Münch 2009d; Münch und Baier 2009). In inhaltlicher Hinsicht sind die Bamberger Jahre bis heute vom Interesse an der Erforschung des sich in unserer Gegenwart vollziehenden tief greifenden gesellschaftlichen Wandels geprägt. Zwei Beiratstätigkeiten haben dieses Forschungsinteresse unterstützt und als wichtige Quellen der Anregung gedient: die Mitgliedschaft im Direktorium des Instituts für europäische Politik in Berlin und die Mitwirkung im Fachbeirat des Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Die Welt erlebt in der Gegenwart einen ebenso fundamentalen Wandel, wie im 19. Jahrhundert die moderne Industrie- und Klassengesellschaft die traditionale Agrar- und Ständegesellschaft abgelöst hat. Deren Entwicklung war unmittelbar mit der Herausbildung des modernen Nationalstaats verknüpft, der sich zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat entwickelt hat. Innerhalb dieses Arrangements hat der moderne Kapitalismus jene „Zähmung“ erfahren, die ihn zur Quelle des allgemein geteilten Wohlstands gemacht hat. In den Begriffen von Karl Polanyi (1957) ist der Entbettung der Ökonomie aus den traditionalen und ständischen Fesseln ihre Wiedereinbettung in das neu gebildete Institutionengefüge des modernen Wohlfahrtsstaates gefolgt. Die klassische Gründung der Soziologie als eigenständige Disziplin hat diese Entwicklung in ihren Pionierwerken von Marx bis Weber, Durkheim und Simmel ursächlich erklärt und sinnhaft verständlich gemacht. Marx’ ([1867]1962) Analyse der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, Durkheims (1977) Studie zur Arbeitsteilung, Simmels ([1900]1992) Philosophie des Geldes und Max Webers ([1920]1971, 1972) kulturvergleichende Studien zur Herausbildung des modernen Kapitalismus haben unser Verständnis des von ihnen beobachteten epochalen Wandels nachhaltig geprägt. Ich versuche in systematischer Anknüpfung an die klassische Tradition und im Kontext interdisziplinärer Zusammenarbeit ein sowohl theoretisch fundiertes als auch empirisch gesättigtes Verständnis, eine ursächliche Erklärung und eine Abschätzung der Wirkungen des gesellschaftlichen Umbruchs in unserer Gegenwart zu erreichen. Voraussetzung dafür ist auf der einen Seite die Verankerung der Untersuchung in der klassischen Tradition der Soziologie, auf der anderen Seite die Rezeption der politikwissenschaftlichen, juristischen, ökonomischen und historischen Forschung zum Gegenstand. Zum gewählten Forschungsansatz gehört auch, das Schisma zu überwinden, das zwischen den von Max Weber ([1922]1973) und Emile Durkheim (1961)
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begründeten Forschungstraditionen besteht. Methodologischer Individualismus (soziales Handeln) und kultursoziologischer Schwerpunkt auf der einen Seite und methodologischer Kollektivismus (sozialer Tatbestand) und funktionalinstitutionalistischer Schwerpunkt auf der anderen Seite werden nicht als einander ausschließende, sondern als einander ergänzende Vorgehenswesen betrachtet. Max Weber (1968) selbst hat mit Blick auf Marx betont, dass die kultursoziologische Seite seiner Untersuchung zum Zusammenhang zwischen der Ethik des asketischen Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus durch eine materialistische Seite zu ergänzen ist. Dieser Seite wird durch die Integration von ökonomisch-funktionalistischen Vorgehensweisen Rechnung getragen: Funktionalismus, Neofunktionalismus und neofunktionalistischer Institutionalismus mit Betonung von Spillover-Effekten der Marktdynamik auf die politische, rechtliche und kulturelle Ebene des Wandels (Haas 1958). Emile Durkheim (1961) hat jedoch klar und unmissverständlich erklärt, dass jedes funktionalistische Argument durch eine historisch-genetische, kausale Betrachtung zu ergänzen ist, bei der zwangsläufig das Handeln von Akteuren in historischen Situationen ins Spiel kommt, die in einem mehr oder weniger vermachteten diskursiven Feld um die Legitimation von Institutionen und institutionellem Wandel vor dem Hintergrund einer historisch gewachsenen Kultur ringen. Diese Perspektive findet sich in dem praxeologischen Forschungsansatz von Bourdieu (1993) ausgearbeitet. Bei der Durchführung dieses Forschungsprogramms habe ich nachhaltig von der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Kollegen der Politikwissenschaft, der Ökonomie und der Rechtswissenschaft im Rahmen des im Oktober 2002 an der Universität Bamberg eingerichteten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“ profitiert. Thomas Gehring hat mir Zugänge zum Feld der internationalen Politik verschafft, Hans Micklitz zum Feld des europäischen Rechts. Als Sprecher des Kollegs bin ich einerseits durch Koordinationsaufgaben beansprucht, andererseits ergeben sich aber auch besonders intensive Anregungen für die eigene Forschungsarbeit. Ein großer Vorteil des Graduiertenkollegs ist die Zusammenarbeit mit einer größeren Zahl von Doktorandinnen und Doktoranden, aus deren Dissertationsprojekten sich immer wieder neue intellektuelle Herausforderungen ergeben. Ihre Neugier steckt an und hilft enorm, sich neuen Fragen mit dem Willen zuzuwenden, zu neuen Ufern vorzustoßen. So haben mich u.a. Sebastian Bechmann, Sabine Frerichs, Tina Guenther, Stefanie Hiß, Stefan Bernhard, Tomas Marttila und Christian Schmidt-Wellenburg maßgeblich zu neuem Denken stimuliert. Das Graduiertenkolleg ist aus dem vorausgehenden vergeblichen Versuch der Einrichtung eines DFG-Sonderforschungsbereichs hervorgegangen. Bis zu seiner Einrichtung im Oktober 2002 hatte es dementsprechend einen Vorlauf von fünf Jahren. Die Beantragung und zweimalige
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Verlängerung des Kollegs verlangte ein Höchstmaß an konzentrierter interdisziplinärer Zusammenarbeit. Ein 2005 mit zweijähriger Vorbereitungszeit unternommener Versuch, das Kolleg durch einen Sonderforschungsbereich zu ergänzen, ist erneut gescheitert. Aktuell läuft der Versuch der Einrichtung einer interdisziplinären DFG-Forschergruppe zu Integration und Wettbewerb im Mehrebenensystem. Gegenstand des Forschungsprogramms ist die theoriegeleitete, interdisziplinär gestützte und empirisch gesättigte Untersuchung des Wandels von sozialer Integration und symbolischer Ordnung durch die Herausbildung einer Mehrebenengesellschaft aus dem segmentär differenzierten System der Nationalstaaten. Es werden drei Ebenen der sich herausbildenden Mehrebenengesellschaft jeweils in der Interaktion mit den beiden anderen Ebenen einer eigenen Untersuchung unterzogen. Der Wandel des Wohlfahrtsstaates wird international vergleichend mit Schwerpunkt auf den Vergleich von Deutschland mit den USA untersucht, und zwar in der Interdependenz der nationalen mit der globalen Arbeitsteilung sowie ihrer politisch-rechtlichen Einbettung und diskursiven Legitimation durch allgemein geteilte Vorstellungen von Gerechtigkeit: (1) Institutionenwandel als funktionale Anpassung an die internationalisierte Arbeitsteilung, (2) Institutionenwandel als pfadabhängige institutionelle Restrukturierung, (3) Institutionenwandel als diskursive Konstruktion von Gerechtigkeit (Münch 2009b). Die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft aus dem segmentär differenzierten System der Nationalstaaten wird anhand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und anhand nationaler intellektueller Diskurse zur Ordnung der europäischen Gesellschaft im Vergleich von Frankreich, Großbritannien und Deutschland untersucht: (1) Die Entwicklung der europäischen Arbeitsteilung im europäischen Binnenmarkt als Grundlage der Herausbildung einer europäischen, nationale Grenzen transzendierenden Solidarität, (2) die juristische Konstruktion einer europäischen Rechtsordnung und Gesellschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, (3) die symbolische Konstruktion der Ordnung einer europäischen Gesellschaft im französischen, britischen und deutschen intellektuellen Diskurs (Münch 2008a, 2008b). Die Entwicklung der internationalen, zunehmend globalen, d.h. sich aus der zwischenstaatlichen Paktierung durch Nationalstaaten herauslösenden Arbeitsteilung wird als treibende Kraft des Solidaritätswandels und der Herausbildung einer das segmentär differenzierte System der Nationalstaaten überlagernden Welthandelsordnung als Kern einer sich herauskristallisierenden Weltgesellschaft betrachtet: (1) Die Effekte der internationalen Arbeitsteilung auf Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländer (Bruttoinlandsprodukt, Armut, Staatsausgaben, Einkommensungleichheit innerhalb und zwischen Ländern), (2) die institutionelle und kulturelle Prägung der Weltmarktintegration durch Varianten des Kapitalismus (Patrimonialer Kapita-
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lismus, Eroberer-Kapitalismus, Tribaler Kapitalismus, Postsozialistischer Kapitalismus) in Bezug auf Bruttoinlandsprodukt, Armut, Staatsausgaben und Einkommensungleichheit, (3) die institutionelle Prägung des Welthandels durch WTO, Weltbank, IWF, die juristische Konstruktion der Welthandelsordnung und die intellektuelle Konstruktion globaler Gerechtigkeit. Die drei Untersuchungen zur Restrukturierung der gesellschaftlichen Ordnung im globalen Mehrebenensystem werden schließlich durch eine vierte Studie ergänzt, die sich über alle drei Ebenen erstreckt. Es geht dabei um die Restrukturierung der Zivilgesellschaft zwischen Nation, Europäischer Gemeinschaft und Weltgesellschaft. Im Zentrum dieser Studie steht die Pluralisierung von Mitgliedschaften und Loyalitäten diesseits und jenseits des Nationalstaats.
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Der Wandel von Bildung und Wissenschaft im globalen Wettbewerb
Seit 2005 hat mich zunehmend der tiefgreifende Wandel des eigenen Arbeitsumfeldes beschäftigt, der Wandel des akademischen Feldes (Münch 2006a, 2006b, 2007, 2008c). Darüber hinaus richtet sich das Forschungsinteresse auf den Wandel der Bildung insgesamt unter dem Regime von PISA und Bologna und im Spannungsverhältnis zwischen globalen Eliten und lokalen Autoritäten (Münch 2009a). Konkreter Anlass war die Auseinandersetzung mit dem Bolognaprozess, der bayerischen Exzellenzförderung und der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an den deutschen Hochschulen. Schon in meinen kulturvergleichenden Studien der 1980er Jahre habe ich mich mit unterschiedlichen Rationalitäts- und Wissenschaftsverständnissen sowie mit ihrer Einbettung in je eigene universitäre und außeruniversitäre Institutionen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA beschäftigt (Münch [1984]1992, [1986]1993a). Jetzt geht es um deren Wandel im Kontext des globalen Wettbewerbs um Sichtbarkeit und Einfluss auf die Evolution des Wissens. Um bei der Untersuchung dieses Wandels nicht einem latenten, zur Affirmation des sich faktisch vollziehenden Geschehens neigenden Funktionalismus zu verfallen, bedarf es einer reflexiven Soziologie. Sie muss hinter den Schleier der Exzellenzrhetorik schauen, die diesen Wandel begleitet und rechtfertigt (Bourdieu und Wacquant 2006). Die intensive Beschäftigung mit dem Werk von Pierre Bourdieu in Seminaren hat mir dessen feldtheoretische Perspektive näher gebracht. Es ist deshalb nahe liegend, den sich gegenwärtig im akademischen Feld vollziehenden Wandel mit den Augen des Homo academicus (Bourdieu 1992) zu betrachten. Diese Herangehensweise ergänzt drei andere Perspektiven auf die Wissenschaft und ihre institutionelle Verankerung in der Universität, die mir schon in den 1980er
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Jahren als Leitfaden dienten: Fritz Ringers (1969) The Decline of the German Mandarins, Joseph Ben-Davids (1971) The Scientist’s Role in Society sowie Talcott Parsons’ und Gerald Platts (1973) The American University. Alle vier Studien lehren im Kern, dass eine offene Evolution des Wissens, die zugleich der Gesellschaft Aufklärung und Nutzen bringt, unter jeweils veränderten historischen Bedingungen eine stets neu gestaltete Balance von innerer akademischer Freiheit und Chancengleichheit und äußerer Verflechtung mit der Gesellschaft verlangt. Dass die Gestaltung von Forschung und Lehre in den Universitäten ein Machtkampf ist, lernt man außerdem durch die Teilnahme an der akademischen Selbstverwaltung. Lange Jahre in Fachbereichsräten, Senaten, jeweils zwei Jahre als Dekan in Düsseldorf und in Bamberg sowie zwei Jahre als Prodekan in Bamberg haben mir reichhaltige Erfahrung in der universitätspolitischen Praxis beschert, wie man sie als zugleich teilnehmend beobachtender Soziologe nicht besser geboten bekommen kann. Es prägt sich so ein gut geschultes Gespür für die Macht im Spiele aus. Die Macht im Spiel äußert sich in der Wissenschaft in materiellen Kämpfen um Positionen im Feld und in symbolischen Kämpfen um die Definition der Spielregeln. Die gegenwärtig kräftig expandierenden Evaluationsverfahren sind als symbolische Kämpfe zu betrachten, in denen entschieden wird, nach welchen Spielregeln die materiellen Kämpfe ausgefochten werden. In diesen symbolischen Kämpfen zeigt sich zunehmend eine Verflechtung der internen wissenschaftlichen Kämpfe im Peer review mit externen politischen Kämpfen um die Restrukturierung der Governance von Wissenschaft. Dabei ergeben sich Interessenverflechtungen zwischen Forschung, Forschungsförderung und Forschungsevaluation, in denen sich symbolische Macht formiert, die nachhaltigen Einfluss auf das wissenschaftliche Geschehen ausübt. Der enge Nexus von Information, Evaluation und Förderung durch Finanzzuweisungen verbirgt die Politik hinter dem Schleier scheinbar neutraler Informationen für die Öffentlichkeit. Das lässt sich beispielhaft an der Wirkung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann Stiftung auf das Hochschulsystem erkennen. Das CHE steht für eine neoliberale Reform des Hochschulsystems (Müller-Böling 2000). Umso brisanter ist die Kooperation der Hochschulrektorenkonferenz mit dem CHE. Die Rektoren unterwerfen die Hochschulen einer externen Kontrolle, die schon in der Form des Rankings bzw. Ratings eine bestimmte politische Position in sich trägt, über deren Folgen für das Hochschulsystem keine öffentliche Debatte geführt wird. Politik schleicht sich durch die Hintertür der Evaluation in die Hochschulen hinein. Keine Statistik, erst recht kein Ranking und auch kein Rating, ist politisch neutral. Sie beruhen immer auf einer Selektion, die vieles ausblendet, was trotzdem bewertungsrelevant wäre. Auch das Institute for Scientific Infor-
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mation (ISI) in Philadelphia mit seinen bibliometrischen Datenbanken ist keine neutrale wissenschaftliche Instanz, sondern ein Global Player, dessen höchst selektive Daten mit massiver Begünstigung der anglo-amerikanischen Wissenschaft weltweit maßgeblich die Forschungspolitik beeinflussen. Das gilt erst recht für das Shanghai-Ranking der 500 sichtbarsten Universitäten der Welt (SJTU 2004). Die Szientometrie selbst ist nicht einfach eine neutrale Beobachtungsinstanz des wissenschaftlichen Geschehens, vielmehr birgt sie in ihrer Methodik des Vermessens schon die Begünstigung des Messbaren in der Forschung in sich. Eine Form der Interessenverflechtung, die eher der Selbsterhaltung als der kritischen Kontrolle dient, ist auch das Förder-Ranking der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (DFG 2003, 2006). Mit dem Förder-Ranking agiert die DFG nicht nur als Förderorganisation im akademischen Feld, sondern zugleich auch als Evaluator der Forschung und als Evaluator ihrer eigenen Fördertätigkeit. Schon der Begriff „Förder-Ranking“ beinhaltet eine Evaluation der Universitäten nach dem Volumen der von ihnen eingeworbenen DFGBewilligungssummen. Unterstützt wird diese Evaluationstätigkeit durch die Unterscheidung der „bewilligungsstarken“ Universitäten von der Masse der Universitäten, die nur mittlere oder geringe Bewilligungssummen einwerben. Dazu gehören auch die Unterteilung der Universitäten in eine Spitzen-, eine Mittel- und eine Schlussgruppe sowie die Rede von der Ansammlung von besonderer Kompetenz bei den bewilligungsstarken Universitäten. Laut DFGRhetorik lässt sich das insbesondere an der Zahl der von ihnen gestellten DFGGutachter ablesen. Mit der Autorität der zentralen Förderorganisation definiert die DFG maßgeblich die Situation und konstruiert damit die Forschungsrealität in Deutschland. Dabei wird immer unhinterfragt unterstellt, dass hohe DFGBewilligungssummen zugleich hohe wissenschaftliche Qualität bedeuten und umgekehrt. Es wird systematisch ausgeblendet, dass Drittmittel für einen erheblichen Teil der Forschung, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, überhaupt nicht erforderlich sind, ja sogar die Beschäftigung von Projektmitarbeitern zu einem Selbstzweck wird, aus dem sich ein wachsendes akademisches Proletariat speist. Darüber hinaus wird ohne genaue Prüfung als gegeben unterstellt, dass sich aus dem Bewilligungsprozess eine optimale Verteilung der Forschungsmittel auf Standorte ergibt, aus der die größtmögliche Steigerung des Erkenntnisfortschritts hervorgeht. Dass es sich dabei um höchst bestreitbare Annahmen handelt, kann nicht ausreichend reflektiert und offen diskutiert werden, wenn eine Förderorganisation zusätzlich zu ihrer Förderung auch noch quasi ein Monopol über die Definition von kompetenter Forschung erringt und die Universitäten einer Evaluation nach ihrer Förderlogik unterwirft. Das ist eine Interessenverflechtung, die sowohl ein offenes Verfahren der Förderung als auch
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ein offenes Verfahren der Evaluation von Forschungseinrichtungen behindert. Diesem Interessenkonflikt fügt sich noch der weitere Konflikt hinzu, dass sich die DFG mit dem Förder-Ranking implizit auch noch selbst evaluiert, indem sie mit der Dokumentation der Nachfrage nach Fördermitteln durch Forschungseinrichtungen ihre Begehrtheit und mit der Dokumentation ihrer Fördertätigkeit ihre unersetzliche Leistung für den wissenschaftlichen Fortschritt demonstriert. Zu welchen Ergebnissen eine kompetitivere Verteilung der Forschungsmittel auf der Seite der Förderorganisationen führen würde, kann bei dieser Art der Selbstevaluation gar nicht als Frage formuliert werden, weil sich die Organisation damit selbst in Frage stellen würde. In der eigenen Hand wird Evaluation unvermeidlich zu einem Teil von Public Relations. Auch die Evaluation der von der DFG durchgeführten Exzellenzinitiative durch das von ihr selbst geförderte Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (IFQ) beinhaltet einen Interessenkonflikt. Es ist keine ausreichende Unabhängigkeit des Evaluators von der evaluierten Organisation gegeben, um zu einer schonungslosen Offenlegung von Tatsachen und Problemen zu gelangen. Die Evaluation der Forschung in der Hand des Förderers muss sich an die Illusio im Feld halten, weil sie sonst dem Förderer den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Zur Illusio gehört der Glaube, dass die Forschungsmittel dort hingehen, wo damit der größte Effekt für den wissenschaftlichen Fortschritt erzielt wird. Im Feld herrscht die Sprache der Kompetenz. Dass Macht die Rückseite dieser Medaille ist, muss im Feld ausgeblendet werden, weil sonst das Spiel mangels Vertrauen nicht weiter gespielt werden könnte. Je ungleicher die Forschungsmittel auf Forschungseinrichtungen verteilt sind, umso größer ist jedoch die Abweichung von der idealen Sprechsituation und umso mehr wird dadurch der Erkenntnisfortschritt beeinträchtigt. Dieser Satz gilt unabhängig davon, ob in den Zentren der Wissenschaft nur die „Besten“ und in den Peripherien nur die „Schlechtesten“ sitzen. Für den Wettbewerb und den daraus resultierenden wissenschaftlichen Fortschritt ist eine multipolare Welt immer besser als eine unipolare. Kompetenzzentren sind immer auch Machtzentren. Das ist überhaupt nicht zu vermeiden. Macht kann aber nur durch ausreichend starke Gegenmacht kontrolliert werden.
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Schlussbemerkungen
Der prinzipiell unabschließbare Prozess der Suche nach Erkenntnis generiert immer neue Fragen, denen sich die Forschung zuwenden kann. Deshalb gibt es stets ausreichend Platz für intellektuelle Neugierde. Umso wichtiger ist es, die Universität als denjenigen Ort zu erhalten, an dem sich diese intellektuelle Neu-
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gierde besonders gut entfalten kann. Unter diesen Bedingungen kann ich mir auch heute kein schöneres Betätigungsfeld als die soziologische Beobachtung der Gesellschaft vorstellen. Dazu bedarf es einer „Realpolitik der Vernunft“ (Bourdieu und Wacquant 2006: 212-238), die sich nicht von dem jeder sprachlichen Kommunikation innewohnenden Telos der Verständigung (Habermas 1981) blenden lässt, sondern erkennt, dass jeder reale Diskurs eine Auseinandersetzung unter mehr oder weniger gegebener Waffengleichheit darstellt. Deshalb muss entschieden auf die Herstellung von Waffengleichheit innerhalb der Wissenschaft und auf die Gewährleistung von akademischer Freiheit durch Unabhängigkeit von externen instrumentellen Interessen gepocht werden.
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