Torsten Rossmann Cameron Tropea Bionik
Torsten Rossmann · Cameron Tropea
Bionik Aktuelle Forschungsergebnisse in Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaft
Mit 312 Abbildungen
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Dr. Torsten Rossmann e-mail:
[email protected] Professor Dr.-Ing. Cameron Tropea e-mail:
[email protected] Biotechnik-Zentrum Darmstadt Technische Universität Darmstadt Petersenstr. 30 64287 Darmstadt
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ISBN 3-540-21890-4 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuziehen. Satz: Reproduktionsfertige Vorlage vom Autor Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier 7/3141YL - 5 4 3 2 1 0
Für die beiden „Lokomotiven“ der Bionik Werner Nachtigall Ingo Rechenberg und Werner Himstedt Wegbereiter des Biotechnik-Zentrums (BitZ)
Vorwort der Herausgeber Dieses Buch ist das Resultat dreier Staffeln einer Ringvorlesung mit dem Titel Bionik – Biologisch-Technische Systeme aus den Jahren 2002 bis 2004 an der Technischen Universität Darmstadt. Neununddreißig Kollegen hatten sich finden lassen, ihre ureigensten Forschungsergebnisse aus den Feldern Bionik, Biomedizintechnik und Biomechanik für ein studentisches und öffentliches Publikum vorzutragen. Die meisten dieser Dozenten sind von der TU Darmstadt, was uns als Verantwortliche im Rückblick zeigt, wie qualitativ und quantitativ reich dieser Standort an biotechnischer Forschung und Lehre ist. Die Vorlesungsreihe war bewusst weiter gefasst, so dass Philosophen und Naturwissenschaftler, Mediziner und Ingenieure deren Ergebnisse vortragen konnten. Der Schrei nach Interdisziplinarität bekam so seinen Ausdruck, wenngleich das Aufeinanderzugehen, das Verstehenwollen und die gegenseitige Akzeptanz sowohl auf Dozenten- als auch von Publikumsseite ein Reifeprozess war und ist. Die Breite der vorgetragenen Themen spiegelt sich in diesem Buch wider. Uns ist bewusst, dass dies auch Widerspruch erzeugen wird. Interdisziplinäre Forschung war immer schon dem Vorwurf ausgesetzt „weder Fisch noch Fleisch“ zu sein. Und selbst unter den Interdisziplinären par excellance – den Bionikern – gibt es stramme Engdenker, die bedenkenlos biomedizinische und biomechanische Forschungen von einem bionischen Kernfeld wegstreichen würden. Doch wollen wir hierzu ein Gegengewicht setzen. Wir vereinigen die Wissenschaften Bionik, Biomedizintechnik und Biomechanik zu einem überlappenden Dreiklang. Dieser ist unserer Erfahrung nach harmonisch und wird überschreiben mit dem Begriff Biotechnik. Warum Biotechnik? Das Wort ist zurückzuführen auf den Botaniker Raoul Francé, der mit diesem Begriff das beschrieb, was wir heute als Bionik bezeichnen. So war es gerade dieser Francé, der auf Grundlage seiner Untersuchungen an den Kapseln der Mohnblume das erste bionische Patent für seinen „Gewürzstreuer“ erhielt. Werner Nachtigall hat den Begriff Biotechnik in den 1970er Jahren aufgegriffen um der technischen Betrachtung der Biologie einen Namen zu geben. Letztlich hat eine andere große Richtung der Biowissenschaften, nämlich die molekularbiologisch orientierte Biotechnologie diesen Begriff quasi okkupiert, unserer Ansicht nach zu Unrecht. Biotechnik ist und bleibt eine Symbiose von Natur, Mensch und Technik. Wir definieren die Bestandteile wie folgt: − Bionik = von der Natur lernen um die Technik zu verbessern − Biomechanik = die Natur erklären mit Hilfe der Technik
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Vorwort der Herausgeber
− Biomedizintechnik = der Natur/ den Menschen mit Hilfe der Technik auf die Sprünge zu helfen. Wir wünschen uns, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Diskussion um die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit zu verstärken. Insbesondere ermuntern wir Unternehmer und Industrievertreter, Entwickler und Manager sowie Politiker genauer hinzuschauen, was es mit diesem Dreiklang auf sich hat. Das Potential zukünftiger Entwicklungen ist riesig; wir dürfen uns nicht scheuen unkonventionelle Wege zu gehen und diese „Ideen-Schätze“ zu bergen. Die Früchte dieses Vorgehens sieht man in Darmstadt in den Aktivitäten des Biotechnik-Zentrums (BitZ, www.tudarmstadt.de/bitz) genauso wie in dem nationalen Verbund BioKon (www.bionik.tu-berlin.de/kompetenznetz/). Der Erfolg, belegbar durch die große Anzahl laufender Forschungsprojekte, bestätigt unsere Vision von der Zukunftsfähigkeit dieser Verbindung zwischen den Wissenschaften und damit von Natur und Technik. Eine Vielzahl von Personen hat am Gelingen dieses Buches beigetragen. Zuoberst natürlich alle Autoren, die in so mancher Nachtstunde sicherlich leise Flüche ausgestoßen haben obgleich des sanften Drucks den wir ausgeübt haben. Martin Zeuch (BitZ) hat sich aufgeopfert beim Redigieren. Das Präsidium der TU Darmstadt um Prof. Dr. Johann-Dietrich Wörner, Prof. Dr. Johannes Buchmann und Prof. Dr. Hanns Seidler sowie der Senat der TU Darmstadt haben durch deren „Ja“ zum Forschungsschwerpunkt Biotechnik das Ganze zum Laufen gebracht. Das Zentrum für Interdisziplinäre Technikforschung (ZIT) der TU Darmstadt ermöglichte durch dessen Unterstützung die Ringvorlesungsreihe und den „großen“ interdisziplinären Dialog. Wir möchten an dieser Stelle auch den TU-Bediensteten im Bereich der Verwaltung und des Hausmeisterdienstes danken, die für das Gelingen der Ringvorlesungsreihe und deren reibungslosen Ablauf über die drei Semester hinweg gesorgt haben. Prof. Werner Himstedt hat lange Jahre das Werden und Gedeihen des BitZ mitgestaltet. Wir danken dem Springer-Verlag, insbesondere Frau HestermannBeyerle, Frau Lempe und Frau Maas, durch deren Mithilfe das Werk in „trockene Buchdeckel“ gelegt werden konnte. Den Kollegen von BioKon sowie dem BMBF (Dr. Heidborn, K. Wollin) und dessen Projektträger DLR (Dr. J. Hansen, O. Krause, M. Schulte) sei für deren Unterstützung herzlich gedankt. Zuguterletzt ein tiefer Knicks vor unseren Ehefrauen, die uns in den letzten Jahren seltener gesehen haben als so mancher Kollege. Ohne deren Verständnis und liebevolles Tragen wären wir heute noch nicht so weit, wie wir sind. Herbst 2004
T. Rossmann, C. Tropea
Vorwort von Prof. Werner Nachtigall BIONIK – der Begriff, zusammengesetzt aus BIOlogie und TechNIK, bedeutet, etwas salopp ausgedrückt, Lernen von der Natur für die Technik. Ich bin der Meinung, dass dies nur eine Seite der Medaille ist. Bevor man Daten aus der Natur in die Technik übertragen kann, muss man die Natur erst einmal erforscht haben. Diese Arbeitsrichtung nenne ich Technische Biologie. Die beiden Begriffe, man kann auch sagen Unterdisziplinen, bilden eine Einheit. Schon Max Planck hat gesagt: „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“. Der Wirtschaftler, Politiker, Industrielle schätzt insbesondere diese Facette der Bionik. Sie führt über Auftragsforschung direkt in die Anwendung. Der Grundlagenforscher weist mehr auf die Basiswissenschaft der Technischen Biologie hin: Natur erkennen, gesehen aus dem Blickwinkel der Physikalischen- und Ingenieurwissenschaften. Auffüllen eines Datenreservoirs, aus dem sich die bionische Übertragung bedienen kann. Das Geheimnis des Erfolgs liegt in einem sensiblen Abgleich beider Aspekte. Vor dem Krieg waren beispielsweise Francé und Gießler Vertreter dieses gekoppelten Denk- und Forschungsansatzes, nach dem Krieg Hertel und Helmcke. Als Vertreter der jüngeren Generation beispielsweise Rechenberg in Berlin und wir in Saarbrücken. Erst 1993 gab es einen Anschub von außen, als der VDI Bionik als Zukunftstechnologie einstufte und auf einer Düsseldorfer Tagung die folgende Definition erarbeitete: „Bionik als Wissenschaftsdisziplin befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme“. Später haben wir die Definition erweitert: „Bionik betreiben bedeutet Lernen von den Konstruktions-, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien der Natur für eine positivere Vernetzung von Mensch, Umwelt und Technik“. In dem Begriff „Lernen“ ist dann auch die Technische Biologie wohl verankert. Als Hansen, ausgehend von der Gliederung und Darstellung in der 1. Auflage meines Bionik-Lehrbuchs, die entscheidenden Weichen für das Bionik-Kompetenznetz BioKon stellte, war die Startgruppe mit den Vertretern von 6 Universitäten noch relativ klein. Nun, zu Beginn des 2. Bewilligungszeitraums für das BioKon, umfasst sie bereits nicht weniger als 18 Arbeitsgruppen an 15 Standorten in der Bundesrepublik Deutschland. Einer der neuen Standorte ist Darmstadt, ein anderer Aachen. Bionik bedeutet ja immer Zusammenarbeit zwischen Biologie und Technik. Die Initiativen können durchaus von der einen oder von der ande-
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Vorwort von Prof. Werner Nachtigall
ren Seite ausgehen. Während in Aachen insbesondere Biologen die Sache ins Laufen gebracht haben, kam der Anstoß in Darmstadt insbesondere mit Herrn Tropea aus der Strömungsmechanik, also aus einem Bereich der Technischen Physik. In erstaunlich kurzer Zeit hat sich eine beachtliche interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein durchgehend positiv vernetztes Lehrkonzept herausgebildet. Man kann zwar hier nicht Bionik als Fach studieren – das gibt es bisher nur an der Fachhochschule Bremen -, aber doch „Bionik mit seinem Fach“. Insbesondere aus der Kooperation im Lehrbetrieb hat sich das vorliegende Buch entwickelt. Das Buch fasst, natürlich fach- und ortsbezogen, wesentliche Neuentwicklungen zusammen, enthält eine ausgewogene Mischung von mehr technisch und mehr bionisch orientierten Ansätzen, von Beiträgen, die eher zusammenfassend und solchen, die eher speziell sind. Auf jeden Fall wird dem Leser damit ein einigermaßen typischer Blick in eine momentane, technisch biologisch/bionisch orientierte Arbeits- und Ausbildungsrichtung gegeben. Das Buch ist mit viel Enthusiasmus geschrieben und gestaltet worden. Ich wünsche ihm, dass ein wenig von der Begeisterung, die zwischen den Zeilen aufschimmert, auch auf den Leser ausstrahlt. Saarbrücken im Sommer 2004 Prof. em. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall
Inhalt
1.
Bionik ..............................................................................................1
1.1. Bionik im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich ................1 Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme (J. ADAMY, R. KEMPF)......................................................................3 Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben (T. BEIN, H. HANSELKA, J. NUFFER)................................................17 Microelectronics meets Bionics (M. GLESNER, H. WANG, T. HOLLSTEIN).........................................31 Wirbelbildung hinter schlagenden Tragflächen (T. HUBEL, C. TROPEA)...................................................................51 Infobionik – Entwurf einer menschzentrierten Benutzerschnittstelle (T. LIMBERGER, M. MÜHLHÄUSER).................................................63 Neurobionik – Prothetik, Biohybride und intelligente Algorithmen (H. LUKSCH) ...................................................................................81 Animal attachments: Minute, manifold devices. Biological variety – Basic physical mechanisms – A challenge for biomimicking technical stickers (W. NACHTIGALL) ..........................................................................93 Bionik im Bauwesen (S. SCHÄFER, B. BRIEGERT, S. MENZEL) ....................................... 123 Laufbewegungen bei Roboter, Tier und Mensch: Analyse, Modellierung, Simulation und Optimierung (M. STELZER, O. VON STRYK) ....................................................... 145 Ein bionisches neuronales Netz zur Periodizitätsanalyse (K. VOUTSAS, G. LANGNER, J. ADAMY, M. OCHSE)....................... 159
xii
Inhalt
1.2. Bionik im gesellschafts- und marktwissenschaftlichen Bereich...... 189 Zirkulierende Körperstücke, zirkulierende Körperdaten: Hängen Biopolitik und Bionik zusammen? (P. GEHRING) ................................................................................ 191 Was ist TechnoWissenschaft? – Zum Wandel der Wissenschaftskultur am Beispiel von Nanoforschung und Bionik (A. NORDMANN) ........................................................................... 209 Bionik und Interdisziplinarität: Wege zu einer bionischen Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität (J.C. SCHMIDT) ............................................................................. 219 Technologie- und marktorientierte Entwicklung von BionikProdukten (G. SPECHT).................................................................................. 247 Industriedesign für nachhaltige Produkte, was bringt Bionik? (U. WOHLGEMUTH)....................................................................... 267 1.3. Didaktik und Methodik der Bionik ................................................ 283 Lectus CV – „Bionik trifft Adaptive Ergonomie“ (M. BREITENFELD, A. ULRICH) ..................................................... 285 Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre (P. EULER) .................................................................................... 291 Naturorientierte Innovationsstrategie – Entwickeln und Konstruieren nach biologischen Vorbildern (B. HILL)....................................................................................... 313 Die Untersuchung des Lokomotionsapparates von Fischen mit der ‚Transduktions-Methode’: Konstruktions-Biologie und Biomechanische Konstruktion technischer Apparate (B. KÖHLER) ................................................................................. 323
Inhalt
xiii
"Biomechanical Animal Design" – ein neues Praktikums-Modell (B. KÖHLER, D. SCHMIDT, W. KILKOWSKI, M. ZEUCH, T. ROSSMANN) .............................................................................. 337 2.
Biomedizintechnik....................................................................... 349 Titan in der Gelenk- und Zahnprothetik: Verschleiß und Ermüdung als lebensdauerbegrenzende Faktoren (E. EXNER, C. MÜLLER, H. SCHMIDT) ........................................... 351 Tieftemperaturkonservierung lebender Bioproben Kryotechnologieplattform für die Biotechnologie und Medizin (G.R. FUHR).................................................................................. 373 Mikro-Elektromechanische-Systeme in der Medizintechnik – Projektkanon am Institut für Elektromechanische Konstruktionen (EMK) (T. KERN, R. WERTHSCHÜTZKY, H.F. SCHLAAK) .......................... 393 Tumortherapie mit Ionenstrahlen (G. KRAFT) ................................................................................... 409 Analyse und Repräsentation akustischer Signale im Hörsystem (G. LANGNER)............................................................................... 423 Mit Stammzellen und Tissue Engineering zu Netzhautimplantaten (P. LAYER).................................................................................... 439 Funktionelle Behandlung von Kreuzbandverletzungen als Beispiel für angewandte bionische Medizin (K.-A. RIEL).................................................................................. 451 Ion channels as functional components in sensors of biomedical information (G. THIEL, A. MORONI) ................................................................. 463 Neuronale Mechanismen der Entstehung von Tinnitus (E. WALLHÄUSSER-FRANKE, G. LANGNER)................................... 479
xiv
3.
Inhalt
Biomechanik................................................................................ 499 Magnetrezeption bei Brieftauben (G. FLEISSNER, B. STAHL)............................................................. 501 Mechanical stress as the main factor in skull design of the fossil reptile Proterosuchus (Archosauria) (T. ROSSMANN, U. WITZEL, H. PREUSCHOFT) ............................... 517 Biodynamische Modellierung des Menschen – Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden auf das biologische System Mensch (S. RÜTZEL, H.P. WÖLFEL)............................................................ 529 Neue Prüfkonzepte für Primärstabilität und Dauerfestigkeit mandibulärer Osteosynthesesysteme sowie für mathematische Modelle des Kausystems (H. SCHIEFERSTEIN, S. EICHHORN, E. STEINHAUSER, R. SADER, H.-F. ZEILHOFER).......................................................................... 543 Prinzipien und Merkmale gelungener Bewegungen (J. WIEMEYER).............................................................................. 561 Langfristige Verankerung künstlicher Gelenke - kann das gut gehen? (U. WITZEL).................................................................................. 575
Autorenverzeichnis............................................................................. 593
1. Bionik
1.1. Bionik im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme (J. ADAMY, R. KEMPF).................................................................3 Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben (T. BEIN, H. HANSELKA, J. NUFFER) ..........................................17 Microelectronics meets Bionics (M. GLESNER, H. WANG, T. HOLLSTEIN) ...................................31 Wirbelbildung hinter schlagenden Tragflächen (T. HUBEL, C. TROPEA) .............................................................51 Infobionik – Entwurf einer menschzentrierten Benutzerschnittstelle (T. LIMBERGER, M. MÜHLHÄUSER) ...........................................63 Neurobionik – Prothetik, Biohybride und intelligente Algorithmen (H. LUKSCH)..............................................................................81 Animal attachments: Minute, manifold devices. Biological variety – Basic physical mechanisms – A challenge for biomimicking technical stickers (W. NACHTIGALL) .....................................................................93 Bionik im Bauwesen (S. SCHÄFER, B. BRIEGERT, S. MENZEL) .................................. 123 Laufbewegungen bei Roboter, Tier und Mensch: Analyse, Modellierung, Simulation und Optimierung (M. STELZER, O. VON STRYK).................................................. 145 Ein bionisches neuronales Netz zur Periodizitätsanalyse (K. VOUTSAS, G. LANGNER, J. ADAMY, M. OCHSE) ................. 159
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme Jürgen Adamy, Roland Kempf Institut für Automatisierungstechnik, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Über die Jahrtausende hat sich die Sprache als effizienter Informationsträger herausgebildet. Neben der Mathematik eignet auch sie sich oft zur Beschreibung dynamischer Systeme und Prozesse in der Biologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und der Technik. Die verbale Beschreibung ist einfacher zugänglich und verständlich. Die mathematische ist quantitativ und präzise. Durch eine neue Klasse dynamischer Systeme, den rekurrenten Fuzzy-Systemen, kann man beide Modellformen, die verbale wie die mathematische, gemeinsam gewinnen. In diesem Beitrag wird dies beispielhaft anhand eines ökologischen und eines technischen Prozesses illustriert.
Abstract Over the last millennia, the spoken word emerged as an efficient carrier for information. Along with mathematics, a verbal description of dynamical systems and processes in biology, finance, sociology and engineering is often useful. It is easier to obtain and comprehend, whereas a mathematical description provides quantitative and detailed information. With recurrent fuzzy systems, a new class of dynamical systems, both the mathematical and the verbal model can be obtained simultaneously. In this paper, the use of recurrent fuzzy systems is demonstrated by means of an ecological and an industrial process.
1. Motivation Zur Beschreibung von Zusammenhängen und Vorgängen, die seine Lebensumstände betreffen, hat der Mensch ein mächtiges Werkzeug geschaffen: die Sprache. Mit ihr kann er nicht nur Erlebtes beschreiben, sondern es auch abstrahieren und das gewonnene Wissen an Mitmenschen weitergeben. Das Wissen liefert ein Modell des beschriebenen Sachverhaltes und kann in ähnlichen Situationen genutzt werden.
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
Mit Hilfe der Alltagssprache ist es möglich, statische Zusammenhänge auszudrücken, z.B.: "Wenn der Strauch einen starken Befall von Blattläusen hat, wird er wenige reife Beeren tragen." Des Weiteren können auch dynamische Vorgänge, also zeitliche Veränderungen, beschrieben werden, z.B.: "Wenn die Blattlauspopulation klein ist und das Nahrungsangebot groß ist, so wird die neue Blattlauspopulation mittelgroß werden." Wendet man sich den Naturwissenschaften bzw. ihrer Nutzung in den Ingenieurwissenschaften zu, so wird schnell deutlich, dass in diesen Bereichen die Alltagssprache nicht ausreicht. Sie ist zu unpräzise, zu schwammig. Deshalb hat sich zur Beschreibung eine andere Art der Sprache herausgebildet und bewährt: Die Formelsprache der Mathematik. Mit ihr beschreibt man ebenfalls sowohl statische Zusammenhänge, wie zum Beispiel „Druck = Kraft / Fläche", als auch dynamische Vorgänge, wie zum Beispiel die zeitliche Änderung x& des Weges x für einen Gegenstand im freien Fall durch die Gleichung „ x& = 2 ⋅ g ⋅ x ". Es treten allerdings auch Fälle auf, in denen man gerne die beiden Spracharten kombinieren oder die eine in die andere umformen möchte. Angenommen man hat durch den alltäglichen Umgang gelernt, wie man eine Maschine bedienen muss, damit sie optimal funktioniert. Zwar kann man seine Bedienungsstrategie in Alltagssprache formulieren, allerdings benötigt man für die technische Anwendung dieses Wissens eine mathematische Beschreibung, um es auf einem Rechner implementieren zu können und den Bediener durch eine geeignete Steuerung der Maschine zu entlasten. Oder es treten Zusammenhänge in Wissenschaftszweigen wie den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie oder Biologie auf, für die verbal formuliertes Erfahrungswissen vorhanden ist. Auch hier macht es Sinn, dieses Wissen zu mathematisieren, um es zum Beispiel anhand vorliegender Daten zu objektivieren. In diesen Übergangsbereichen kann man mit Hilfe der Fuzzy-Logik [6, 11, 31, 32] die „unscharfe" (engl.: fuzzy) Alltagssprache mathematisch beschreiben und somit Simulationen, Berechnungen und einer technischen Verwertung zugänglich machen.
2. Logik und Fuzzy-Logik Fuzzy-Logik kann als Erweiterung der klassischen Logik, wie sie von Aristoteles formuliert wurde, aufgefasst werden. In der klassischen Logik ist eine Aussage wahr oder falsch. Zwischenstufen gibt es nicht. Dieser Ansatz wurde von Boole mathematisiert: Einer wahren Aussage wird der Wahrheitswert 1 zugeordnet und einer falschen der Wert 0. Im täglichen
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
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Leben gibt es aber viele Aussagen, bei denen eine scharfe Bewertung mittels „wahr" oder „falsch" den Sachverhalt nicht richtig wiedergibt. Dafür ist der Aussagegehalt zu verschwommen, zu unscharf. Das motiviert dazu, logische Werte zwischen 0 und 1 einzuführen. Erste Ideen hierzu stammen um 1932 von J. Lukasiewicz und führten zu einer mehrwertigen Logik. Eine vollständig unscharfe Logik-Theorie, die Fuzzy-Logik, mit unendlich vielen Wahrheitswerten zwischen 0 und 1 entwickelte 1965 L. Zadeh [32]. Die aus dieser Theorie entwickelten und heute schon als klassisch zu bezeichnenden Fuzzy-Systeme besitzen ein statisches Eingangs-/ Ausgangsverhalten. Dagegen sind Fuzzy-Systeme, die das Zeitverhalten interner Größen explizit beschreiben, ein neues Forschungsgebiet [4]. Die Beschreibung der Dynamik erfolgt entweder direkt durch Fuzzy-Logik wie in [17, 18, 20, 21, 23, 28] oder durch sprachliche Regeln, die durch FuzzyLogik ausgewertet werden, wie in [2, 3, 9, 26, 27, 29, 30]. In der zweiten Klasse finden sich rekurrente Fuzzy-Systeme, deren grundlegende Konzepte zeitgleich und unabhängig voneinander in [9], [1, 2] und [29] entwickelt wurden. In [1, 2] sind sie durch ihre Nähe zu Automaten motiviert und in [9] durch ihre Verwandtschaft zu neuronalen Netzen. Im Folgenden wird der Aufbau eines rekurrenten Fuzzy-Systems anhand eines Beispiels erläutert und es werden einige Eigenschaften rekurrenter Fuzzy-Systeme beleuchtet.
3. Sprachliche Modellierung intraspezifischer Konkurrenz Betrachtet wird die Veränderung der Populationsgröße einer Insektenpopulation. Die zukünftige Populationsgröße einer Spezies hängt sicherlich von der aktuellen Populationsgröße und der zur Verfügung stehenden Nahrungsmenge ab. Effekte, die durch Migration oder Räuber auftreten, werden hier nicht modelliert. Die Populationsgröße wird durch Adjektive wie „klein", „mittel" oder „groß" beschrieben. Die Nahrungsmenge wird durch „gering", „normal" oder „üppig" charakterisiert, wobei auch andere Adjektive denkbar wären. Die Zusammenhänge der Größen werden in Form von Regeln aufgestellt: Wenn das Nahrungsangebot gering ist, wird die Populationsgröße unabhängig von ihrem aktuellen Wert auf eine kleine Population schrumpfen. Bei einer kleinen oder mittleren Population führt dagegen ein normales oder üppiges Nahrungsangebot zu mittelgroßen bzw. großen Populationen. Große Populationen behindern sich manchmal in ihrer Fortpflanzung.
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
So verbraucht eine große Population in so kurzer Zeit die zur Verfügung stehende Nahrung, dass nur wenige Tiere das fortpflanzungsfähige Alter erreichen. Diese gegenseitige Behinderung wird auch „intraspezifische Konkurrenz" [7] genannt und äußert sich in folgender Regel: Eine große Population wird bei einem geringen oder normalen Nahrungsangebot auf ein kleines Niveau fallen und bei einem üppigen Nahrungsangebot auf ein mittleres Niveau. Alle diese Regeln sind der Übersicht halber in einer Tabelle in Abb. 1 zusammengefasst. Die Tabellenachsen sind Nahrungsangebot und aktuelle Populationsgröße. Die Tabellenwerte bilden die neuen Populationswerte, die sich aus aktueller Populationsgröße und Nahrungsmenge ergeben. aktuelle Populationsgröße
Verbaler Modellteil
Nahrungsangebot
klein
mittel
groß
gering
klein
klein
klein
normal
mittel
mittel
klein
üppig
mittel
groß
mittel
Abb. 1. Regelbasis zur Modellierung einer Insektenpopulation
4. Mathematische Modellierung intraspezifischer Konkurrenz Um von den sprachlichen Regeln zu einem mathematischen Modell zu gelangen, wird jeder sprachlichen Beschreibung der Größen ein Zahlenwert zugewiesen: in diesem Fall 105 für eine kleine, 106 für eine mittlere und 107 für eine große Population. Liegt die aktuelle Populationsgröße unterhalb von 105 bzw. oberhalb von 107, so gelten nur die Regeln für „kleine" bzw. „große" Populationen. Für Populationen, die zwischen zwei dieser Werte, z.B. zwischen 106 und 107 liegen, wird mit Hilfe einer sogenannten Zugehörigkeitsfunktion festgelegt, wie stark dieser Wert den jeweiligen Grenzen ähnelt, z.B. ergeben sich für den Wert 2500000 ≈ 106.4 bei einer logarithmischen Auftragung der Populationsgröße nach Abb. 2 die Werte 60% für „mittel" und 40% für „groß".
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
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Zugehörigkeitsfunktion 100% klein 0%
mittel
10 5
10 6
groß
10 7
Insektenpopulation x
Abb. 2. Modellierung sprachlicher Werte durch Zugehörigkeitsfunktionen
Bei der Auswertung der Regeln an solchen Zwischenwerten werden die Folgerungen der Regeln je nach ihrer Relevanz gewichtet. Wenn man den Adjektiven des neuen Zustandes wieder den gleichen Zahlenwert wie oben zuordnet, erhält man erneut eine Zahl, die die neue Populationsgröße beschreibt. So ergibt sich bei einer Population von ca. 106.4 ≈ 2500000 Individuen und einem üppigen Nahrungsangebot nach Auswertung der Regeln des Modells eine Verteilung von 40% "mittel" und 60% "groß" für die neue Population. Die Gewichtung der entsprechenden logarithmierten Werte 6 bzw. 7 für mittlere bzw. große Populationen ergibt 6.6, was dann einer Populationsgröße von 106.6 ≈ 4000000 entspricht. Durch die obige Prozedur erhält man einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Population und der neuen Population in Abhängigkeit der Nahrungsmenge, der maßgeblich durch die sprachlich formulierten Regeln bestimmt wird. Die betrachteten Größen haben noch eine weitere Beziehung zueinander, die durch die Regeln beschrieben wird: Die neue Populationsgröße wird in der Zukunft die aktuelle Populationsgröße sein. Wenn eine Prognose für die Nahrungsmengen für die nächsten Zeitschritte zur Verfügung steht, kann man so eine Prognose für die Populationsgröße geben. Da sich nur die Ausgangssituation, nicht aber die Regeln selbst ändern, kann man das Verhalten durch ein System beschreiben, das den aktuellen Zustand der Population speichert und für den nächsten Rechenschritt zur Verfügung stellt. Dies ist in Abbildung 3 zu sehen. Die Regeln beschreiben somit einen dynamischen Vorgang. Durch diese Erweiterung wird aus dem klassischen Fuzzy-System ein Fuzzy-System mit Rückkopplung, ein sogenanntes rekurrentes Fuzzy-System [1, 2, 3, 9, 13, 14].
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
Zustand x (k)
u (k)
Zwischenspeicher x (k+1) FuzzySystem
Abb. 3. Blockschaltbild eines einfachen rekurrenten Fuzzy-Systems
5. Fuzzy-Systeme, rekurrente Fuzzy-Systeme und Automaten Für die mathematische Analyse kann man rekurrente Fuzzy-Systeme als eine Untergruppe der allgemeinen nichtlinearen zeitdiskreten Systeme auffassen. Diese werden durch die folgenden zwei Gleichungen beschrieben: x(k+1) = f(x(k),u(k))
und
y(k) = g(x(k),u(k)).
In Abhängigkeit der Eingangsgröße u(k) wird aus dem momentanen Wert der internen Größe x(k) der zukünftige Wert x(k+1) berechnet. Außerdem gibt das System einen Ausgangswert y(k) je nach Belegung von x(k) und u(k) aus. Oft ist der Ausgangswert identisch mit dem Zustandswert. Dann ist die Funktion g nicht nötig. Die Größen u, x und y sind Zahlen oder im allgemeinen Fall Vektoren. Würde man für die Komponenten der Vektoren u, x und y nur die Werte 0 oder 1 zulassen und für die Funktionen f und g boolesche Logikfunktionen einsetzen, so hätte man einen booleschen Automaten vorliegen. Bei Verwendung von wenigen diskreten Werten für die Komponenten der Vektoren u, x und y und mehrwertigen Logikfunktionen ergibt sich ein mehrwertiger Automat. Lässt man kontinuierliche Werte für die Komponenten der Vektoren u, x und y zu und nutzt Fuzzy-Funktionen für f und g, so erhält man ein rekurrentes Fuzzy-System. So wie man die Fuzzy-Logik als Erweiterung der klassischen Logik betrachten kann, lassen sich rekurrente Fuzzy-Systeme als Erweiterung von booleschen Automaten ansehen. Es stellt sich damit die Frage, inwieweit rekurrente Fuzzy-Systeme Automateneigenschaften besitzen. Als „automatenähnlich" kann man ein rekurrentes Fuzzy-System bezeichnen, dessen Dynamik des Zustandsvektors x maßgeblich durch die Transitionsregeln, bzw. durch einen daraus ableitbaren Zustandsgraphen beschrieben wird [3]. Das rekurrente Fuzzy-
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
9
baren Zustandsgraphen beschrieben wird [3]. Das rekurrente FuzzySystem verhält sich dann wie ein mehrwertiger Automat mit dem Unterschied, dass die Zustandsgrößen und Transitionsfunktionen stetig sind, d.h. dass ein Zustand - anstelle von zwei oder endlich vielen - unendlich viele Zustandswerte annehmen kann. Aber nicht alle Auslegungen eines rekurrenten Fuzzy-Systems führen auch zu einem solchen automatenähnlichen Verhalten. Damit „Automatenähnlichkeit" gegeben ist, wählt man als Zugehörigkeitsfunktionen in der Fuzzifizierung Dreiecke oder Trapeze, die sich zu Eins summieren und in der Defuzzifizierung Singletons. Als Inferenzoperatoren sind sum-prod und min-max möglich [3]. Um dann garantieren zu können, dass sich ein solches rekurrente Fuzzy-System mit einer Zustandsgröße „automatenähnlich" verhält, reicht die folgende mit „Regelstetigkeit" [3] bezeichnete Eigenschaft der Regelbasis aus: Regelstetigkeit: Bei benachbarten Fuzzy-Eingaben muss jeder FuzzyZustand auf den gleichen oder auf benachbarte Fuzzy-Zustände abgebildet werden. Und bei gleicher Fuzzy-Eingabe sind benachbarte Fuzzy-Zustände nach der Abbildung auch weiterhin benachbart oder gleich. Anhand der Regeln für das Modell der intraspezifischen Konkurrenz in Abb. 1 lässt sich leicht überprüfen, dass das rekurrente Fuzzy-System regelstetig und damit automatenähnlich ist. Führt man die Berechnungen für den Fall eines gleichbleibend üppigen Nahrungsangebotes durch, so schwingt die Populationsgröße über mehrere Zeitschritte, wie in Abb. 4 auf der nächsten Seite zu sehen ist. Die Schwingungen treten zwischen „mittleren" und „großen" Populationsgrößen auf. Dies steht im Einklang mit den Regeln in der Regelbasis von Abb. 1. Auch im sprachlichen Modell ist eine Oszillation zwischen diesen sprachlichen Werten für große Nahrungsmengen zu sehen, wie durch die Pfeile in Abb. 1 angedeutet ist. Populationsentwicklung 10
7
10
6
x
10 5 0
10
20
30
Generation k Abb. 4. Populationsentwicklung x(k) über der Zeit
40
10
Jürgen Adamy, Roland Kempf
Aber was passiert, wenn eine Regelbasis nicht regelstetig, bzw. das rekurrente Fuzzy-System nicht automatenähnlich ist? Dann erhält man unter Umständen:
6. Chaos bei der intraspezifischen Konkurrenz Man stelle sich vor, dass der Effekt der intraspezifischen Konkurrenz so groß ist, dass auch bei üppigem Nahrungsmittelvorrat eine große Population wieder auf eine kleine Population im nächsten Zeitschritt schrumpft. Folgt man den neuen Regeln, so ergibt sich für ein üppiges Nahrungsangebot eine Oszillation der Populationsgröße von „klein" zu „mittel" zu „groß" und wieder zu „klein", wie in Abb. 5 angedeutet ist. aktuelle Populationsgröße
Verbaler Modellteil
Nahrungsangebot
klein
mittel
groß
gering
klein
klein
klein
normal
mittel
mittel
klein
üppig
mittel
groß
klein
Abb. 5. Regelbasis zur Modellierung einer Insektenpopulation mit chaotischer Dynamik
Betrachtet man nur diese Regeln bei üppigem Nahrungsangebot, so kann man auch eine zyklische Oszillation der Populationsgröße über drei Zeitschritte im mathematischen Modell erwarten. Tatsächlich enthält es diese Oszillationen. Sie sind allerdings instabil. Während das sprachlichen Modell nur für sehr unterschiedliche Startwerte, nämlich nur „kleine", „mittlere" und „große" Populationen, untersucht werden kann, sind beim mathematischen Modell Simulationen für alle Zwischenwerte möglich. Abb. 6 zeigt die Simulation des Systems für zwei ähnliche Startwerte.
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
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Populationsentwicklung
x
10
7
10
6
10
5
10
7
10
6
10
5
0
10
20 30 40 50 60 Generation k Abb. 6. Chaotische Populationsentwicklung x(k) über der Zeit
Die Populationsgröße mündet in keinen Grenzzyklus und strebt auch keinem festen Endwert zu. Das Verhalten ist irregulär und nicht vorhersagbar, da ähnliche Startwerte zu ganz verschiedenen Zeitreihen führen. Chaos tritt auf [3]. Zum Thema Chaos siehe z.B. auch [10, 19]. Interessanterweise kann durch eine Reihe von Kriterien auf chaotisches Verhalten in solchen rekurrenten Fuzzy-Systemen geschlossen werden, welche sich alleine anhand der sprachlichen Regeln auswerten lassen. So lässt sich zeigen, dass man immer ein chaotisches Verhalten für spezielle Startwerte erhält, wenn die Regeln einen Zyklus aufweisen, dessen Länge keine Potenz von 2, also nicht 1,2,4,8,..., ist [3]. Im ersten Modell taucht der Zweierzyklus „mittel" → „groß" → „mittel" auf, aber kein Chaos. Das zweite Modell hat dagegen den Dreierzyklus „klein" → „mittel" → „groß" → „klein" und ist damit chaotisch. Neben diesem Kriterium lassen sich eine Reihe von weiteren Kriterien für das Auftreten von Chaos formulieren [3], die sich auf ähnliche Weise anhand der Regelbasis auswerten lassen. Daneben gibt es auch Kriterien, die chaotisches Verhalten ausschließen [3, 12].
7. Anwendungen rekurrenter Fuzzy-Systeme Für die Anwendung spielen nicht nur Automatenähnlichkeit und Chaoskriterien eine wichtige Rolle. Es lassen sich noch weitere Eigenschaften rekurrenter Fuzzy-Systeme direkt aus den Regeln ablesen. So kann man abschätzen, welche Zustände x erreichbar sind und von welchen Anfangszuständen aus sie ansteuerbar sind [13]. Des Weiteren lassen sich
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
auf einfache Weise Ruhelagen finden und deren Stabilitätsverhalten unter Umständen alleine anhand der Regeln bestimmen [14]. Eine aufwendigere mathematische Untersuchung bleibt dem Anwender dabei erspart. Darüber hinaus kann man rekurrente Fuzzy-Systeme als rekurrente Neuro-Fuzzy-Systeme auslegen, die dann eine Identifikation und Adaption anhand von Daten erlauben [9, 16, 30]. Es lassen sich auch die elementaren dynamischen Einheiten wie Integrierer und Differenzierer mit rekurrenten Fuzzy-Systemen bilden [5]. Damit ist es möglich, PID-Regler durch rekurrente Fuzzy-Systeme zu verwirklichen, um dann gezielt über die Regeln Nichtlinearitäten wie Anti-Wind-up-Reset, nichtlineare Kennlinien o.ä. einzubringen. Das Anwendungsspektrum rekurrenter Fuzzy-Systeme beschränkt sich also nicht nur auf die Modellierung zum Beispiel von ökologischen Vorgängen [3,8] oder von Verkehrsteilnehmern [13]. Vielmehr lassen sich solche Systeme prinzipiell in allen Bereichen einsetzen, in denen unscharfe Regeln das Verhalten bestimmen. Mögliche Einsatzfelder sind beispielsweise die Entscheidungsfindung in der künstlichen Intelligenz, Expertensysteme, Steuerungen im Bereich der Robotik [29] oder die Mustererkennung zum automatischen Entdecken von Fehlern in technischen Anlagen [1, 2, 15], wie nachfolgend demonstriert wird.
8. Sequentielle Mustererkennung in Stranggießanlagen Rekurrente Fuzzy-Systeme werden industriell zur sequentiellen Mustererkennung in Stranggießanlagen eingesetzt [1, 2], um Fehler im Fertigungsprozess rechtzeitig aufzudecken. Siehe dazu auch [15, 25]. Beim Stranggießverfahren, wie in Abb. 7 dargestellt, wird flüssiger Stahl aus einem Transportbehälter, der Gießpfanne, in einen Verteiler gegossen. Der Verteiler versorgt im Allgemeinen mehrere parallele Anlagen, wobei der flüssige Stahl jeweils über ein Tauchrohr in den strangformenden Anlagenteil, die Kokille, gelangt. Die Innenwände der Kokille sind wassergekühlt, so dass die Schmelze an den Wänden so weit abkühlt, dass sie aushärtet. Es entsteht eine feste Strangschale, die den noch flüssigen Stahl umschließt. Der Strang kann aus der Kokille herausgezogen werden. Damit der Strang dabei nicht an der Kokille haftet, wird zum einen ein Gleitmittel, das Gießpulver, zwischen Kokillenwand und Strangschale eingebracht, und zum anderen wird die Kokille oszillatorisch auf und ab bewegt. Über die Leitrollen geführt, kühlt der Strang weiter ab und wird schließlich durch eine Schneidevorrichtung in einzelne Brammen zerteilt. Der reibungsfreie Betrieb der Anlage ist durch das Auftreten von Durchbrüchen gefährdet. Durchbrüche entstehen aufgrund von Schwachstellen
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
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Pfanne flüssiger Stahl
Gießform
Tundish Gießform (Kokille)
Thermoelemente
Leitrollen
Schneidbrenner Strang Bramme
Abb. 7. Schematischer Aufbau einer Stranggießanlage
der Strangschale, die aus einem fehlerhaften Schalenwachstum in der Kokille resultieren und nach dem Herausziehen aus der Kokille aufbrechen. Flüssiger Stahl tritt aus. Beschädigungen und Anlagenstillstand sind die Folge. Für Schwachstellen der Strangschale gibt es verschiedene Ursachen [22]. Die mit ca. 80% Anteil häufigste Ursache ist ein sogenannter Kleber. Er entsteht durch einen lokalen Mangel an Gießpulver zwischen Kokillenwand und Strangschale. Das fehlende Gleitmittel führt dazu, dass der Strang an der Wandung einer höheren Reibung unterliegt - er klebt. Die sich ausbildende Strangschale reißt daher an dieser Stelle immer wieder auf. Aus diesem Grund ist sie beim Verlassen der Kokille nur schwach ausgeprägt und bricht auf. Mit ca. 15% Anteil sind Luftpolster zwischen Strang und Kokillenwand, Cracks genannt, die zweithäufigste Durchbruchursache. Sie bilden sich z.B. aufgrund des Schrumpfprozesses während der Stahlaushärtung in der Strangschale und vermindern die Wärmeabfuhr vom Strang in die gekühlte Kokillenwand wesentlich. Entsprechend schwach bildet sich die Strangschale an dieser Stelle aus. Um Durchbrüche zu vermeiden, muss man Schwachstellen frühzeitig in der Kokille erkennen und dann die Gießgeschwindigkeit reduzieren [24]. So erhöht sich die Verweil- und damit die Kühldauer des Stranges in der Kokille und die Schwachstellen heilen aus. Erkannt werden Schwachstellen anhand charakteristischer Temperaturverläufe, die rund um die Kokille gemessen werden. Ein Kleber verursacht z.B. durch die aufgerissene Strangschale
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
und den an die Kokillenwand gelangenden flüssigen Stahl eine typische Temperaturerhöhung, wie sie Abb. 8 zeigt. Ein Crack dagegen bewirkt aufgrund der verminderten Wärmeabfuhr durch das Luftpolster einen kurzzeitigen Temperaturabfall. 230 M Abb. 8. Temperaturverlauf T eines Klebers und Zeitverlauf des Erkennungszustandes x
S
T
T
B
H
Z
200
1 x 0.5 0
0
10
20
30
40
50
H B M S T Z
t (sec)
Für die Erkennung von Schwachstellen existieren verschiedene Verfahren. Hier wird die Verwendung eines rekurrenten Fuzzy-Systems für diese Aufgabe dargestellt. Das eingesetzte System besitzt die gleiche Struktur wie sie in Abb. 3 gezeigt wurde. Im vorliegenden Fall bilden die Temperatur T(k) und ihre zeitliche Änderung ∆T(k)=T(k)-T(k-1) die Elemente des Eingangsvektors u, wobei ∆T und T die linguistischen Werte NB (negative big), NS (negative small), Z (zero), PS (positive small) und PB (positive big) und T noch zusätzlich den Wert PH (positive huge) besitzt. Des Weiteren existieren nur ein Zustands- und ein Ausgabewert y(k)=x(k+1), d.h. die Funktionen f und g des allgemeinen Ansatzes sind identisch. Der Zustandswert x(k) schätzt dabei die Durchbruchwahrscheinlichkeit anhand der linguistischen Werte Z (zero), T (tiny), S (small), M (middle), B (big) und H (huge) ab. Die linguistischen Werte entsprechen Stücken der typischerweise bei einem Kleber auftretenden Meßkurve und sind in Abb. 8 angedeutet. Anschaulich betrachtet läuft die Erkennung eines Klebers wie folgt ab: Ist die Temperatur konstant und im normalen Bereich, so ist die geschätzte Durchbruchwahrscheinlichkeit x gleich Z (zero). Zu Beginn einer Kleberentwicklung steigt die Temperatur an, d.h. der Eingabevektor u=(T,∆T)=(PS, PS). Als Folge steigt x auf den Wert T (tiny). Nach dem Kleberbeginn erhöht sich T und ∆T, d.h. es ist (T, ∆T)=(PB, PB). Weist dann der Wert x(k) den Wert T (tiny) auf, was gleichbedeutend damit ist, dass der Kleberanstieg gerade durchlaufen wurde, so geht der FuzzyAutomat in den nächsthöheren Erkennungszustand S (small) über. Im weiteren Verlauf des Klebers wird so zu immer höheren Erkennungszuständen fortgeschritten. Erreicht x schließlich den Wert H (huge), so wird der Kleber erkannt. In Abb. 9 ist dies anhand des Fuzzy-Zustandsgraphen illustriert. Die Knoten geben die Erkennungszustände an und die Pfeile die Übergänge zwischen ihnen. Große Abweichungen vom Muster aktivieren Regeln bzw. Übergänge, die auf den Ausgangszustand Z (zero) verweisen.
Sprachlich beschriebene Dynamik und rekurrente Fuzzy-Systeme
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Somit ist auch eine Vermeidung von Fehlalarmen möglich. Kleinere Abweichungen leiten in den vorhergehenden Zustand. Im Gegensatz zu einem klassischen Automaten sind die Übergänge im Erkennungsgrad x durch den Einsatz von Fuzzy-Logik weich. Dies führt zu einem quasikontinuierlichen Zeitverlauf der Größe, wie Abb. 8 zeigt. Das System wird unter anderem bei Saldanha Steel Ltd. in Südafrika und bei Thyssen-Krupp in Deutschland eingesetzt.
Z
T
S
M
B
H
Abb. 9. Zustandsgraph eines sequentiellen Mustererkenners
9. Fazit Ein rekurrentes Fuzzy-System ergibt sich als mathematisches Modell eines dynamischen Vorgangs, welcher sich durch eine Anzahl sprachlicher „Wenn..., dann..."-Regeln beschreiben lässt. Solche Systeme können als eine Erweiterung von Automaten aufgefasst werden. Neben automatenähnlichem Verhalten kann auch Chaos auftreten. Für diese und weitere Eigenschaften rekurrenter Fuzzy-Systeme wurde eine Reihe von Kriterien gefunden, die sich anhand der sprachlichen Regeln auswerten lassen. So ist es nicht nur möglich rekurrente Fuzzy-Systeme schnell und einfach zur Modellierung oder zur Konstruktion von dynamischen Systemen einzusetzen, sondern sie lassen sich auch auf Basis der sprachlichen Regeln untersuchen und bewerten. Literatur [1] Adamy J (1995) Device for early detection of runout in continuous casting, EP Priority Date 03.04.1995, Europ. Patent EP 0 819 033 B1 (1998), US Patent 5.904.202 (1999) [2] Adamy J (1995) Breakout Prediction for Continuous Casting by Fuzzy Mealy Automata. Proc European Congress on Intelligent Techniques & Soft Computing (EUFIT), Aachen, pp 754-759 [3] Adamy J, Kempf R (2003) Regularity and chaos in recurrent fuzzy systems. Fuzzy Sets and Systems 140 (2): 259-284 [4] Adamy J, Kempf R (im Druck) Fuzzy Systeme mit inhärenter Dynamik: ein Überblick. Automatisierungstechnik 52 (10)
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Jürgen Adamy, Roland Kempf
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Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer Fachgebiet Systemzuverlässigkeit im Maschinenbau, TU Darmstadt
Zusammenfassung Adaptronische Systeme bieten dem Maschinenbau völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten für Maschinen und Konstruktionselemente. Wesentlich und grundlegend neu ist hierbei, dass die bisher passive Struktur sich mit Hilfe geeigneter Aktor-, Sensor- und Regelelemente aktiv an die jeweilige Betriebsbedingung anpasst. Eine solche „intelligente“ Struktur arbeitet effizienter, ökonomischer und mit erhöhter Lebensdauer. Die Natur lebt uns solche adaptiven Systeme vor, z.B. passt ein Vogel seine Flügel ständig den Strömungsverhältnissen an. Die Bionik beschäftigt sich mit der Aufgabe, von der Natur zu lernen und diese Erkenntnisse in neue Konstruktionsprinzipien umzusetzen. Der vorliegende Artikel verdeutlicht das enorme Potential der Adaptronik zur Lösung dieser Aufgabe.
Abstract In mechanical engineering, adaptronic systems offer new conceptual designing possibilities for machines and construction elements. Essential and basically new is the fact that the passive structure actively adapts to the actual operating condition by means of sensing, actuating and controlling elements. Such an “intelligent” structure works more efficient, more economical and at higher life cycles. Nature demonstrates such adaptive systems; a bird, for instance, adapts the shape of its wings to the actual flow. In Bionics, the attempt is made to learn from nature and to put these experiences into new principles of construction. The present article elucidates the enormous potential of adaptronic to solve these problems.
1. Bionik und Adaptronik als wissenschaftliche Disziplinen Im Jahre 1993 hat der VDI einer noch sehr jungen Wissenschaftsdisziplin eine Definition gegeben: „Bionik als Wissenschaftsdisziplin befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Kon-
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
struktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme“ [1]. Werner Nachtigall, einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, fügte erläuternd hinzu, dass Bionik nicht etwa ein „Nachahmen“ der Natur bedeutet, sondern ein Abstrahieren biologischer Funktionen auf neuartige technologische Konstruktionsprinzipien [2]. Das detaillierte Studium biologischer Prinzipien hat seine Motivation in einem übergeordneten Ziel: Dem Prinzip der Optimierung. Dabei hängt es vom konkreten Anwendungsfall ab, was optimiert werden soll. Oftmals lautet die Maßgabe, dass eine tragende Struktur maximale Stabilität gegenüber äußerer Belastung haben und dabei aber möglichst wenig Material verwenden soll. Beispiel ist die Konstruktion eines Fernsehturmes auf Grundlage des Studiums des Aufbaus eines Grashalmes (Abb. 1) [3]. Es wird dabei zugrunde gelegt, dass die Natur im Laufe der Evolution bereits zu in dieser Hinsicht optimierten Strukturen gefunden hat, und dass nun ein langwieriger technischer Entwicklungs- und Optimierungsprozess durch direktes Studium des optimalen Ergebnisses in der Natur umgangen werden kann. Abb. 1. Lernen von der Natur, nach [3]
Dieses Prinzip der Optimierung findet sich auch in einer ebenfalls noch sehr jungen Disziplin des Allgemeinen Maschinenbaus wieder: der Adaptronik [4]. Adaptronische Systeme sind solche Systeme, die sich veränderten äußeren Bedingungen selbsttätig anpassen. Wesentlich ist hierbei, dass die Struktur nicht wie bisher im Maschinenbau üblich passiv ist, sondern aktiv in ihre Funktionalität eingreift und diese ständig nachreguliert
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und optimiert. Optimiert wird hierbei die Funktion der Struktur hinsichtlich Effizienz, Langzeitstabilität und Systemzuverlässigkeit bei möglicht geringem Energieverbrauch und möglicht wenig einzusetzendem Material. In Abb. 2 sind die Funktionsweisen passiv und aktiv wirkender Maßnahmen zur Beeinflussung eines passiven Systems (z.B. eine elastische Struktur) dargestellt. Unter passiven Maßnahmen werden hierbei solche verstanden, bei denen das System modifiziert oder durch passiv wirkende Bauelemente so erweitert wird, dass sich das Systemverhalten bzw. die Systemantwort in gewünschter Weise verändert. Diese Erweiterungen können z.B. in Form von Dämpfungselementen (Dämpfern) oder FederMasse-Systemen (Tilgern) erfolgen, die exakt auf das dynamische System abgestimmt werden müssen, um ein optimales Systemverhalten zu erzielen. Passive Elemente wirken, und das ist ihr Nachteil, in der Regel nur in ihrem Auslegungspunkt optimal.
Abb. 2. Vergleich passiver und aktiver Strukturen
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
Die aktiven Maßnahmen lassen sich hingegen für einen Arbeitsbereich des Systems auslegen. Sie bestehen im Allgemeinen, wie in Abb. 2 für die Mechatronik dargestellt ist, aus einer Sensorik, einer Aktorik und einem Regler. Ziel ist es hier, über eine Regelung die Systemantwort mit einer Sollgröße in Einklang zu bringen. Hierzu wird die Systemantwort in Form einer Mess- bzw. Istgröße sensorisch erfasst und mit dem Sollwert verglichen. Über einen Regler werden dann externe Aktoren so angesteuert, dass ihr Eingriff in das dynamische System die Differenz zwischen Soll- und Istgröße vermindert. Der Weg hin zu adaptiven Strukturen ist nun dadurch charakterisiert, dass die Struktur selbst mit Aktoren und Sensoren ausgerüstet ist, d.h. Sensoren und Aktoren sind Bestandteil der Struktur. Dies bewirkt, dass auch schon während des Auslegungsprozesses Kräfte und Momente über die zusätzlichen Aktoren und Sensoren geleitet werden können und Rückwirkungen aus der Aktorik/ Sensorik auf das Strukturverhalten mit erfasst werden. Solche Strukturen, verknüpft mit einem adaptiven Regler, stellen im Idealfall ein System dar, welches auf Grund äußerer Störkräfte keine Reaktionen ausführt. Zukünftig wäre es anzustreben, dass auch die Regelungstechnik Bestandteil des Struktursystems wird. Solche Struktursysteme, die aus der eigentlichen lasttragenden Tragstruktur, integrierten oder applizierten Aktor- und Sensorsystemen sowie einer adaptiven Regelung bestehen, werden adaptive Struktursysteme genannt. Sie sind multifunktional und zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie sich selbständig und autonom veränderten Randbedingungen anpassen können. Die Technologie der adaptiven Struktursysteme wird Adaptronik genannt. Multifunktionale Werkstoffe Grundlage adaptiver Struktursysteme sind Wandlermaterialien, die als Aktor und / oder Sensor eingesetzt werden können. Es sind verschiedene Wandlermaterialien bekannt, die beispielsweise durch Stimulation mit elektrischen oder magnetischen Feldern, Wärme oder Licht mechanische Arbeit verrichten. Andererseits reagieren diese Werkstoffe bei einwirkenden mechanischen Kräften oder Deformationen mit elektrischen Ladungsverschiebungen und Ausbildung elektrischer Spannungen, mit Widerstandsänderungen, mit Veränderungen der Lichtstärke oder des Brechungsindex. Im ersten Fall wird von aktorisch wirksamen Materialien, im zweiten Fall von sensorisch wirksamen Materialien gesprochen. Technisch relevante Beispiele für solche Materialien sind piezoelektrische Keramiken und Folien, elektrostriktive Keramiken, magnetostriktive Legierungen und Formgedächtnislegierungen, Polymergele, optische Fasern und magneto-
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oder elektrorheologische Fluide. All diesen Wandlermaterialien ist gemein, dass sie zwar aktorisch und / oder sensorisch wirksame Eigenschaften aufweisen, im Sinne der klassischen Strukturmechanik jedoch keine lasttragende Aufgaben übernehmen können. So sind beispielsweise piezoelektrische und elektrostriktive Keramiken spröde und versagen schnell bei mechanischer Zug-, Biege- und Torsionsbelastung. Aus diesem Grund ist es zwingend erforderlich, Wandlermaterialien mit herkömmlichen Leichtbauwerkstoffen wie CFK und GFK zu multifunktionalen Materialsystemen zu kombinieren. Diese Materialsysteme können dann als Konstruktionswerkstoff in technischen Strukturen verwendet bzw. integriert werden, um neben aktorischen und sensorischen auch lasttragende Eigenschaften übernehmen zu können.
Abb. 3. Wandlerwerkstoffe für adaptive Struktursysteme
2. Schnittstellen von Bionik und Adaptronik: Beispiele 2.1. Aktive Schwingungsisolation Bei der Schwingungsisolation geht es im Allgemeinen darum, äußeren Anregungen ausgesetzte maschinenbauliche Strukturen zu „beruhigen“. Prominentes Beispiel hierzu ist die Lärm- und Vibrationsbekämpfung in Au-
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
tomobilen [5]. Beides beeinträchtigt den Fahrkomfort und damit letztendlich im weitesten Sinne auch die Gesundheit der Insassen. Einen Ausweg bieten hier die aktiven Systeme, deren Wirkungsweise eine interessante Parallele zum bionischen System aufzeigt: In Abb. 4a ist ein Auto gezeigt, das während der Fahrt über unebenen Boden eine Störkraft FS erfährt. Diese wirkt sich in verschiedener Weise negativ aus, z.B. sinkt offensichtlich der Fahrkomfort, und die ungedämpften Fahrzeugteile werden zu Vibrationen angeregt. Diese Negativwirkung wird hier exemplarisch durch eine Flüssigkeit in einem Glas dargestellt,
Abb. 4. Aktive Schwingungsisolation
die im Falle nicht vorhandener Gegenmaßnahmen aufgrund der Störkraft aus dem Glas befördert wird. Der Mensch als bionisches System schafft hier Abhilfe, indem er das Glas in die Hand nimmt (Abb. 4b). Die Nerven realisieren die Größe der Störkraft, was im Gehirn zu Signalen verarbeitet wird. Diese werden dann als entsprechende Befehle an die Armmuskulatur weitergegeben, die das Glas ruhig halten. Dabei erfüllt er – und das ist das Interessante - auch alle Anforderungen eines adaptiven Systems: Den Nerven im bionischen System entsprechen die Sensoren im adaptiven System, dem Gehirn entspricht der Regler, den Muskeln entsprechen Aktoren. Überführt man diese Parallelen in ein maschinenbauliches System, so gelangt man zum Konzept der aktiven Schwingungsisolation. In Abb. 4c steht das Glas wieder auf der Ablage, die aber nun durch ein dem bionischen System Mensch nachempfundenen adaptronisches System erweitert wurde: Sensoren nehmen die Störkraft auf und wandeln diese in elektrische Signale, die dann vom Regler weiterverarbeitet und als Signale an die Aktoren weitergegeben werden. Diese leiten eine entsprechende Gegen-
Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben
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kraft in die Ablage ein und beruhigen diese. Entscheidend ist nun, dass dieser Gedankengang keine Fiktion mehr ist. Vielmehr wurde bereits in verschiedenen Versuchen die Umsetzbarkeit dieser Konzepte verifiziert. Abb. 5a zeigt einen aktuellen Demonstrationsaufbau, an dem die aktive Schwingungsisolierung direkt experimentell nachgewiesen wurde. Der Aufbau besteht im wesentlichen aus einer schwingungsfähig eingespannten Grundplatte, in die mittels eines elektrodynamischen Shakers die mechanische Störgröße FS eingeleitet wird. Auf dieser Platte befindet sich eine weitere kleine Platte, die mit Hilfe der vier Piezoaktoren von der
Abb. 5. Adaptive Entkopplung zweier schwingungsfähiger Systeme
Grundplatte entkoppelt werden soll. Nicht mit eingezeichnet ist der Übersichtlichkeit wegen die externe Regelung und die Sensorik. Wird nun der Shaker eingeschaltet, so schwingt die Grundplatte in ihrer 2. Eigenform mit Amplituden von ca. 10 µm. Solch kleine Auslenkungen können mit einem Einpunkt – Vibrometer visualisiert werden. Abb. 5b zeigt einen solchen Vibrometer – scan in der Draufsicht bei nicht eingeschalteter adaptiver Entkopplung: Die zu entkoppelnde kleinere Platte schwingt ungehindert mit der Grundplatte mit. Sobald die Entkopplung zugeschaltet wird (Abb. 5c), schwingt die Grundplatte weiter, während die Auslenkung der kleinen Platte nahezu auf Null gebracht werden kann. Stellt man sich vor, man wollte eine Schwingungsisolation mit vergleichbarer Effizienz aus passiven Maßnahmen herbeiführen (z. B. mit einer Grundplatte, die so dick ist, dass sie nicht mehr schwingen kann), so liegt der Schluss nahe: Die vorgestellte aktive Schwingungsisolation ist die weitaus elegantere und in allen Belangen ökonomischere Variante.
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
2.2. Aktive Schallreduktion Die miteinander gekoppelten Phänomene Schwingung und Lärm (Vibroakustik) begrenzen dabei die Entwicklung und Umsetzung innovativer und effizienter Leichtbaustrukturen. Unter Berücksichtigung, dass Lärm zu den wesentlichen Umweltverschmutzungen gezählt wird, wird die Lärmabstrahlung von technischen Strukturen in den nächsten Jahren ein bedeutendes Auslegungskriterium sein. Um die zu erwartenden Grenzwerte erreichen zu können, müssen Lösungen erarbeitet werden, die passive Ansätze mit Lösungen auf Basis aktiver Systeme kombinieren. In Abb. 6 sind die gängigen vibroakustischen Phänomene mit Lösungen zur aktiven Schallreduktion gegenübergestellt [6].
.
-.
a
a
a
a
.
(
)
a
a
a
a
. Körperschall
Durchgang
100%
vorher
Abb. 6. Beeinflussung vibroakustischer Effekte [6]
Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben
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Abb. 7. Semi-aktive Dämpfung und Tilgung
Mit Hilfe aktiver Verbindungselemente, z.B. einer aktiven Lagerung, soll nach A die Körperschallübertragung gezielt unterbrochen und damit die Sekundärerregung verhindert werden. Der optimale Einsatzort dieser Maßnahme, die auch additiv zu passiven Maßnamen eingesetzt werden kann, bestimmt sich dabei aus dem Aufbau des vorliegenden Systems. Die in Abb. 6B und C dargestellten vibroakustischen Effekte unterscheiden sich lediglich in ihrer Ursache. Während in B Luftschall aufgrund primär- oder sekundärerregtem Körperschall abgestrahlt wird, ist in C eine einseitige Luftschallerregung Ursache für den luftschallabstrahlenden Körperschall der Struktur. Die Maßnahmen zur Beeinflussung dieser Effekte zielen in beiden Fällen auf eine Minderung des Körperschalls ab. So lassen sich zur Minderung der abgestrahlten Schalleistung schwingender Strukturen, z.B. mittels speziell verschalteter piezokeramischer Elemente, die schallerzeugenden Verformungen bedämpfen, schmalbandig tilgen oder aktiv wegregeln. Der optimale Einsatzort dieser Maßnahme bestimmt sich aus den Schwingungsformen des vorliegenden Systems. Bei einer Bedämpfung wird das in eine Struktur integrierte oder aufgeklebte piezokeramische Element (Abb. 7) über einen elektrischen Widerstand kurzgeschlossen. Durch diese „passive“ Maßnahme lässt sich die Dämpfung der Struktur künstlich erhöhen, da durch den Piezoeffekt mechanische Energie in elektrische umgewandelt und über den elektrischen Widerstand dissipiert wird. Der zur Tilgung einzelner Frequenzen im Körperschallspektrum erforderliche, in der Regel nur sehr schmalbandig wirkende Tilger, wird über einen „elektrischen Schwingkreis“ realisiert, wo-
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
bei das piezokeramische Element die Kapazität ist. Gemäß Abb. 7 werden zur Vervollständigung des Tilgers ein elektrischer Widerstand und eine geeignete Induktivität ergänzt. Das integrierte oder aufgeklebte piezokeramische Element verkoppelt über den Piezoeffekt das mechanische mit dem elektrischen Schwingungssystem. Es bildet so ein „elektromechanisches“ Gesamtsystem aus, dessen Eigenschaften wesentlich durch die Qualität und Einbaubedingungen der piezokeramischen Elemente bestimmt wird. Neben diesen „passiv“ wirkenden Maßnahmen mit multifunktionalen Materialien besteht als aktive Maßnahme die Möglichkeit über eine Regelung den unerwünschten Körperschall zu beeinflussen. Hierbei können piezokeramische Elemente als Sensoren und/oder Aktoren eingesetzt werden. Grundsätzlich lassen sich diese Maßnahmen überall dort einsetzen, wo schwachgedämpfte Strukturen zu Schwingungen angeregt werden und Schall abstrahlen. 2.3. Medizintechnik In allen Aspekten der Medizintechnik lassen sich mögliche Anwendungen der Adaptronik finden, wobei jedoch nur wenige Gegenstand laufender Untersuchungen sind. Eine der ersten Anwendungen ist die Schwingungsisolation des Inkubators eines Baby-Notarztwagens [7]. Die Problematik besteht darin, dass Fahrbahnunebenheiten Beschleunigungen über 1 g am Kopf des Neugeborenen hervorrufen, die ernste Schädigungen zu Folge haben können. Ein zentrales Problem stellen auch Magnetresonanztomographen (MR), deren Geräuschentwicklung während der Betriebsphase 120 dB übersteigen kann. Auslöser der Geräuschentwicklung sind die in den Leitern der Gradientenspule durch das Magnetfeld entstehenden Lorentzkräfte, die auf die mechanische Reststruktur übertragen werden und diese zu resonanten Schwingungen anregen. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die Kopplungsmechanismen der einzelnen Anlagenkomponenten sehr komplex sind. Auf Basis strukturintegrierter piezokeramischer Fasern oder Folien wurde in [8] eine aktive Verkleidung und / oder aktive Spulenstruktur prototypisch umgesetzt. Geräusch- und Schwingungsprobleme treten auch in anderen Bereichen der medizinischen Gerätetechnik auf, z.B. Unwuchterregungen bei Zentrifugen, die mit innovativen, adaptiven Systemen gelöste werden können. Bei Zentrifugen z.B. wäre eine adaptive Lagerung des Motors ein geeigneter Ansatz zur Schwingungsreduzierung. Ein weiterer Bereich von Interesse ist die minimal-invasive Chirurgie auf Basis der Endoskopie. Durch Einbetten aktiver Materialien wie Piezo-
Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben
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keramiken oder Formgedächtnislegierungen können die Endoskope gezielt gesteuert werden und erlauben so ein präziseres Operieren. Darüber hinaus bietet sich mit adaptiven Systemen die Entwicklung neuer operativer Werkzeuge an. In Kombination mit der Mikrosystemtechnik werden u.a. Piezowanderwellenmotoren als Antrieb hierfür entwickelt. Das Potential dieser Motoren soll im späteren Verlauf dieses Beitrages diskutiert werden. Letztendlich sind Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Orthopädietechnik zu erwähnen. In der Orthopädietechnik werden Hilfsmittel für die Integration und Rehabilitation körperlich behinderter bzw. unfallgeschädigter Menschen entwickelt. Bei Rollstühlen können Sensoren und Aktoren in die Sitzfläche integriert werden, um den Patienten eine optimale Sitzposition zu ermöglichen. Die vom Körper ausgeübte Druckverteilung wird von den Sensoren gemessen und mit den Aktoren optimale Druckverteilung eingestellt. Ähnliches kann auch bei Krankenbetten eingeführt werden. Bettlägerigen Patienten droht das „Wundliegen“ (Decubitus), wenn sie nicht regelmäßig bewegt werden. Gegenwärtige Wechseldruckmatrazen zur Verhinderung des Decubitus arbeiten mit Druckluft und sind häufig zu laut. Hier können alternative Aktor- und Sensorkonzepte eingeführt werden, die nicht nur den Decubitus verhindern, sondern auch eine optimale Liegeposition gewährleisten. Der Einsatz von Piezowanderwellenmotoren bietet sich bei der Orthopädietechnik vornehmlich für Handprothesen und angetriebenen Orthesen an. Für Patienten mit neuromuskulären Schäden werden extern angetriebene Orthesen zur Erweiterung der Bewegungsfähigkeit vorgeschlagen [9]. Herkömmliche Antriebe sind jedoch zu schwer und unhandlich, so dass derartige Orthesen über das Stadium des Prototypen wahrscheinlich nicht hinausgehen. Innovative Antriebe wie Piezowanderwellenmotoren könnten hier jedoch Abhilfe schaffen. Bei angetriebenen Handprothesen bestehen bereits hochwertige elektrische Antriebssysteme. Deren Aufbau ist jedoch sehr komplex und sie sind an ihre Leistungsgrenze geraten. Um Handprothesen weiter zu verbessern, sind neue Antriebskonzepte notwendig wie sie z.B. bei der „Karlsruher Hand“ [10] umgesetzt wurden. 2.4. Adaptiver Flügel Auch in den lokomotiven Anwendungen des Maschinenbaus finden sich viele Parallelen von Bionik und Adaptronik. Der adaptive Flügel für die Luftfahrt z.B. zeigt zum einen das enorme Potential der Adaptronik bei der Umsetzung bionischer Konzepte, aber auch die bei der Abstrahierung entstehenden Probleme auf.
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
Abb. 8. Der adaptive Flügel
In Hinblick auf das große aerodynamische Verbesserungspotential wird zurzeit überall auf der Welt intensiv an der Weiterentwicklung der Tragflügeltechnologie gearbeitet. Nachteilig an den bisher verwendeten starren Flügeln mit fester Geometrie ist, dass sie nur für einen Betriebspunkt optimal ausgelegt sind. Dieser Flugzustand wird beschrieben durch die Parameter Flughöhe, Machzahl und Flugzeuggesamtgewicht. Da diese Parameter während der gesamten Missionsdauer ständigen Veränderungen unterworfen sind, fliegt ein Flugzeug nur selten genau im Bereich des Auslegungspunktes, weshalb eine starre Geometrie immer nur eine Kompromisslösung darstellt [11, 12]. Moderne Verkehrsflugzeuge fliegen mit hohen Reisemachzahlen, so dass auf der Flügeloberseite ein stark ausgeprägtes Überschallgebiet entsteht. Abgeschlossen wird das Überschallgebiet mit einem Verdichtungsstoß, welcher zu einem erheblichen Wellenwiderstand und damit großen Energieverlusten führt. Dieser Wellenwiderstand kann mittels einer lokalen Profilaufdickung im Bereich des Stoßes verringert werden. Die Profilaufdickung muss mit der Stoßlage mitgeführt werden und in der Höhe verstellbar sein (Abb. 8). In einer Studie des Vogelfluges wurde ein ähnliches Phänomen gefunden [13]: In Abb. 8 ist ein Vogel im Gleitflug zu sehen. Das Flügelprofil ist hier an der mit einem Pfeil markierten Stelle ebenfalls lokal aufgeweitet. Hier ist eine deutliche Ähnlichkeit mit dem adaptiven Flügel zu erkennen. Man fand heraus, dass diese „Taschen“ als Rückstrombremse wirken und damit das Abreißen der Strömung verhindern. Letztlich spart der Vogel somit Energie, jedoch ist das physikalische Prinzip hier grundlegend anders als beim adaptiven Flügel. Das rührt hauptsächlich daher, dass der Vogel mit deutlich niedrigeren Geschwindigkeiten als ein Flugzeug fliegt, und damit unterschiedliche aerodynamische Gesetze eine Rolle spielen. Das Interessante ist, dass sowohl beim Vogel als auch beim adaptiven Flügel eine lokale Profilveränderung zur Optimierung derselben physikalischen Größe führt, nämlich dem Energieverbrauch während des Fliegens.
Adaptronik – ein technischer Ansatz zur Lösung bionischer Aufgaben
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Abb. 9. Vergleich Adaptronik - Bionik
Somit ist hier eindeutig ein Ähnlichkeitsprinzip anwendbar. Es zeigt sich aber auch, dass das Prinzip der lokalen Profilaufdickung, wie sie beim Vogel zu beobachten ist, nicht ohne genaue Reflektierung auf ein maschinenbauliches System übertragbar ist.
3. Zusammenfassung Es wurde gezeigt, dass Adaptronik und Bionik viele konzeptionelle Gemeinsamkeiten haben (Abb. 9). Das „Lernen von der Natur“ hat zum Ziel, in jeder Hinsicht optimierte biologische Systeme auf maschinenbauliche Systeme zu abstrahieren. Als langfristiges Ergebnis werden somit Produkte angestrebt, die gegenüber den heutigen wesentlich effizienter und damit energiesparender arbeiten. Diese Idee wird sich allerdings nur dann umsetzen lassen, wenn die dazu nötige Technologie in der Lage ist, dies auch konstruktiv umzusetzen. Die Adaptronik liefert hier einen immensen Beitrag in Form aktiver und adaptiver Systeme auf Grundlage multifunktionaler Werkstoffe. In Hinblick auf die Entwicklung bionischer Systeme zeigen die hier diskutierten Beispiele, dass die Adaptronik ein vielversprechendes Hilfsmittel bei der Umsetzung von an biologischen Systemen gewonnenen Erkenntnissen sein kann. Insbesondere die hohe Integrationsdichte durch material- und/oder strukturintegrierte Multifunktionswerkstoffe, eröffnet dem Ingenieur mittels der Adaptronik Konstruktionsmöglichkeiten, die ganz andere Dimensionen von der virtuell „unendlichen“ Steifigkeit bis hin zur nahezu beliebig variierbaren Impe-
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Thilo Bein, Holger Hanselka, Jürgen Nuffer
danz umfasst. Vorsicht ist jedoch geboten bei der direktem Übertragung der Beobachtungen auf das maschinenbauliche System: oft ist es nur eine äußere Ähnlichkeit, die beide Bereiche verbindet, während die physikalischen Grundlagen in beiden Fällen verschieden sind. Es kommt somit darauf an, den Grad der Abstraktion und der Übertragbarkeit abzuschätzen. In jedem Fall bietet die Bionik eine Fundgrube neuer Ideen, bei deren Umsetzung die Adaptronik einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Literatur [1] Neumann D (ed) (1993) Technologieanalyse Bionik. Analysen + Bewertungen zukünftiger Technologien. VDI Technologiezentrum, Düsseldorf [2] Nachtigall W (1998) Bionik: Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler. Springer, Berlin Heidelberg New York [3] Nachtigall W, Wisser A, Wisser CM (1986) Pflanzenbiomechanik (Schwerpunkt Gräser). Konzepte SFB 230, Heft 24, 12-22 [4] Breitbach E. (1995) Adaptronische Strukturkonzepte. 1. Adaptronik – Workshop, 8.-9. 11. 1995, Saarbrücken - Dudweiler [5] Bein T, Hanselka H, Melz T (2002) Konzepte für adaptive Systeme im Fahrwerksbereich und deren Zuverlässigkeit. 29. Tagung DVM Arbeitskreis Betriebsfestigkeit, Fahrwerke und Betriebsfestigkeit, 9. – 10. Oktober, Osnabrück [6] Büter A, Melz T (2002) Die Bedeutung der Systemzuverlässigkeit und Betriebsfestigkeit für aktive Lärmminderungssysteme in der Wehrtechnik. Anwendung der Akustik in der Wehrtechnik, 13. Arbeitstagung, 24. - 6.09. Meppen [7] Wimmel R (1997) Durch Aktive Schwingungsabwehr Einsatzgrenzen überwinden. Adaptronic Congress Berlin, 1. - 2. Oktober 1997 [8] Breitbach E, Hanselka H (1998) BMBF-Antrag zum Leitprojekt ADAPTRONIK, Förderkennzeichen 03 N 8516 1, DLR Braunschweig [9] Edwards J (1996) Powered Hip Orthosis, Neuroprosthetics - from Basic Research to Clinical Applications. In: Pedotti A (Hrsg), Springer, Berlin [10] Pylatiuk C (2000) Entwicklung flexibler Fluidaktoren und deren Anwendung in der Medizintechnik. Med Orth Tech 120: 186-189 [11] Hanselka H, Büter A, Bein T, Monner HP, Breitbach E (1997) Adaptive Struktursysteme für Luftfahrtanwendungen am Beispiel des Adaptiven Flügels und des adaptiven Rotors. DGLR Jahrestagung [12] Breitbach E, Bein T, Monner H, Hanselka H (2000) Design aspects of the adaptive wing - the elastic trailing edge and the local spoiler bump. Aeronautical J, Paper-No. 2454 [13] Patone G, Müller W (1996) Aeroflexible Oberflächenklappen als "Rückstrombremsen" nach dem Vorbild der Deckfedern des Vogelflügels. Teilprojekt: Biomechanik der Vogelfedern und deren bionische Umsetzung. Technical Report TR-96-05 http://www.bionik.tu-berlin.de/user/giani/klappen/evo.html
Microelectronics meets Bionics Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein Institut für Datentechnik, Technische Universität Darmstadt
Abstract Bioelectronics has been developing as a special subject since the middle of last century. Nowadays, more and more electrical theories and technologies are used for biology and medicine, which leads to the close cooperation between electrical engineers, biologists, medical scientists and physicists. The following text will give an introduction to the status of microelectronics nowadays, and how microelectronics technologies can be used for bionics.
1. The status of Microelectronics After Jack Kilby, from Texas instrument, designed the first IC (Integrated circuit) in 1958, the semiconductor technologies have been developing dramatically. 1.1. The current semiconductor Market Fig. 1 and 2 gives a direct view of the semiconductor and electronic equipment sales trends, and the components of the semiconductor market nowadays. There is a well-known rule in the semiconductor industry which is named after Gordon E. Moore in 1965, “the doubling of the number of components per chip every 18 months”. Till now, it works well. Since the requirements for PCs and some other aspects seem to be somehow saturate, the semiconductor industry has to find new spur. A lot of scientists predict that the cooperation between biology, electronics and computer science will lead a new science and industry revolution. Fig. 3 shows the trace of the technology developments at past, today, and in the future. Depending on the dramatically increasing demands, there are some new technologies and methods used for the semiconductor industry.
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
Fig. 1. Semiconductor and Electronic Equipment Sales Trends (1992-2003) (From Integrated Circuit Engineering Corporation)
Communications(12% ) Consumer(16% ) Industrial(13% ) Automotive(4% ) Government(1% ) Computing(54% )
Fig. 2. The components of the semiconductor Market (Dataquest, 2001)
Fig. 3. Future relevance of bio- and Nano-technologies (Siemens web page)
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1.2. SOC (System-on-chip) SOC is referring to the system which integrates heterogeneous components on one piece of silicon. There is a trend that more and more projects prefer to construct System-on-a-chip to System-of-chips, because there are a lot advantages, such as increased functionality, smaller packaging, lower manufacturing costs, improved reliability, and low power consumption. 1.3. Nanoelectronics Since the beginning of the seventies last century, the microelectronics industry has followed Moore’s law. This performance increase has been obtained mainly by decreasing the size of circuit features with optimization and improvement of existing technology. The minimum feature size is fast approaching 100 nm in this decade with switching charges containing 1000 or less electrons. Physical limits (quantum effects and nondeterministic behaviour of small currents) and technological limits (such as power dissipation, design complexity and tunneling currents) may hinder the further progress of microelectronics on the basis of conventional circuit scaling. Table 1 shows the trend of some important parameters in semiconductor industry. The Moore’s law decrease in size and increase in density may slow as 2012 is approached. Perhaps the most important driver for new technologies is the ability to reduce the cost per function on a chip. In the past 15 years, nanoelectronics has developed as a versatile and fruitful playground for many innovative device concepts. Even if downscaling would eventually slow down over the next decade, generations of performance improvement are still to be obtained from utilizing more advanced architectures. However, there are also limits to MOSFET technology, especially considering issues such as power consumption, economics and system complexity. For these reasons, some novel devices receive strong attention from the research community. [1] RTDs (Resonant tunneling diodes) have demonstrated numerous applications and potential markets including digital to analogue converters (DACs), clock quantizers, shift registers and ultra-low power SRAM. The RTDs may be designed for much higher speeds than CMOS for DACs, etc. typically in the speed range 10 to 100 GHz or for much lower power than CMOS such as the SRAM technology. SET (Single electron tunneling) derived devices in the form of nanoflash devices seem a most logical successor to several RAM technologies. RSFQ (Rapid Single Flux Quantum) is a digital circuit technology, which offers high speed in the GHz regime, while producing low dissipation.
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein Table 1. The developing trend in semiconductor industry [1]
Year of first DRAM shipment
1999
2001
2003
2006
2009
2012
Bits/chip-DRAM
1G
-
4G
16G
64G
256G
Transistors/chip-MPU
21M
40M
76M
200M
520M
1.4G
Minimum feature size DRAM(nm)
180
150
130
100
70
50
Minimum feature size MPU(nm)
140
120
100
70
50
35
Local clock(GHz)
1.25
1.5
2.1
3.5
6.0
10.0
Across chip clock(GHz)
1.2
1.4
1.6
2.0
2.5
3.0
Wafer size(nm)
300
300
300
300
450
450
No. levels of interconnect
6-7
7
7
7-8
8-9
9
2
Chip size-DRAM(mm )
400
445
560
790
1120
1580
Chip size-MPU(mm2)
340
385
430
520
620
750
Power dissipation(W)
90
110
130
160
170
175
Power dissipationhandheld/portable(W)
1.4
1.7
2
2.4
2.8
3.2
Cost/bit packaged DRAM(µcent)
60
30
15
5.3
1.9
0.66
MPU-packaged(µcent)
1735
1000
580
255
110
50
Cost of fabrication
1.5B$
“Afforable” cost/transistor >5B$
As the super conducting effects that the principle is based upon works already with feature sizes in the micrometer regime, RSFQ has the potentiality to enter the market of applications, where Si-CMOS cannot achieve the same frequencies. One major application is in high-speed analogue to digital and digital to analogue conversion. Unfortunately, RSFQ as systems based on super conducting materials needs cooling, augmenting the overall costs of the whole system. Molecular electronics is at present taking off as a branch of transport physics. Its potential is large but there are formidable obstacles, which must be overcome. Here it seems of the utmost importance that chemists, biologists, physicists and engineers develop an interdisciplinary platform
Microelectronics meets Bionics
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for communicating the needs of the electronics industry in one direction and the possibilities of chemical synthesis and self-assembly concepts in the other. Spin devices in the form of tunnel junction MRAMs (Magnetic RAMs) will be on the market in the near future. Recording heads based on the tunnel junction exchange biasing mechanism are already existing applications. A problem for widespread use in the semiconductor industry is that the metals used in the devices fabricated to date are not compatible with CMOS lines. Spin injection in semiconductors has considerable potential, for example, in quantum computing, although formidable obstacles in manufacture still have to be overcome. The fabrication technologies developed for producing nano-devices of course provide a much more direct spin-off to the electronics industry, since they can be equally well applied to MOSFET fabrication. In fabrication it is remarkable that the optical lithography has shown a much longer life than predicted even by its greatest advocates five years ago. Bottom-up approaches, closely linked as they are to the field of molecular electronics, are elegant, cheap and possibly enormously powerful techniques for future mass replication, but their applicability remains limited until total control over the emerging structures in terms of wiring and interconnections can be obtained. It is clear that new architectures are required for such bottomup fabrication approaches. Similar to fabrication, architecture development has also direct bearings for the Si electronics industry and is a field where much ground remains to be gained. At the same time, the specific quantum mechanical properties of some of the novel nano-devices require radically novel architecture approaches, and it is gratifying to see that such approaches are now starting to be developed by the architecture experts. Issues like fault tolerant architecture, parallel processing, local architectures and neural nets are directly translatable into Si hardware, whereas more advanced concepts like nondissipative and quantum computing will almost certainly require the implementation of novel quantum mechanical nano-devices.
2. Bionic-electronics As shown in Figure 3, the 6th Kondratieff is mainly about Biotechnology and ecology. Because humans care more about their own health and living conditions with the science development. In this situation, bioelectronics and biochips will act as important roles. The influence between biology and electronics is bi-directional. On one hand, electronics helps to improve
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
the research of biology and medicine to the qualitative analysis. On the other hand, some rules discovered in biology and medicine give important inspiration to electronics, which will spur the development of electronics as well as revolution of information science. As an interdisciplinary subject, the current bioelectronics research focuses on the following parts: Biomedical signal detection and processing, Biological system modeling and simulation, Interaction between Physical fields and biological material, Molecular electronics, Bioinformatics, and Biomedical instruments. 2.1. The silicon cochlea, a good bionics example [2,3]
2.1.1. Introduction There is a famous project, which combine the microelectronics and biology technologies closely. The aim of this project is to construct a cochlearimplant processor for the deaf that has the potential to reduce the current power consumption of such processors by more than an order of magnitude via low power analog VLSI processing. Table 2. Parameters of the human ear Dynamic Range
120 dB at input
Power Dissipation
~14mW (Estimated)
Power Voltage supply Volume Det. Thr. at 3 kHz
~150 mV ~35mm x 1cm x 1 cm 0.05 Angstroms at eardrum
Frequency Range Outlet Taps Filter Bandwidths Phase locking threshold
20Hz--20kHz ~35,000 ~1/3 Octave ~5kHz
Fig. 4. Overview of a bionic ear system [2]
From the list of human ear’ parameters in Table 2, we can see that it’s just like a design sheet of the requirements for an electronic system. Several building block circuits for such a processor, including a
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100uW analog front end, a programmable bandpass filter, and a logarithmic map circuit were designed. Fig. 4 shows the overall system architecture of a current bionic ear system (cochlear implant system).
2.1.2. The Device The devices can be divided into two parts: the part which is implanted, and the part worn outside the body. The external part of the device contains: microphone, speech Processing, filters, and transmitter. The internal part of the device contains: receiver and the electrode array. For us, the most interesting thing is the signal processing part.
2.1.3. The processing The sound wave received by the microphone must be processed to determine which electrodes should be stimulated. The simplest way of processing would be to divide the sound into however many electrodes there are, and apply the resulting voltage to the appropriate electrode. More sophisticated processing algorithms are used in practice because applying voltage to each of the electrodes at the same time would cause currents to flow between the electrodes, which would stimulate the nerves in undesirable ways. Waveform processing strategies use bandpass filters to divide the signal into different frequency bands. The algorithm chooses a number of the strongest outputs from the filters. The number depends on the algorithm, and can also depend on whether the sound is determined to be a consonant or a vowel sound. Fig. 5. Signal processing diagram [2]
Feature extraction strategies use features which are common to all vowels. Each vowel has a fundamental frequency (the lowest frequency peak) and formants (peaks with higher frequencies). The pattern of the fundamental and formant frequencies is specific for different vowel sounds. These algorithms try to recognized the vowel and then emphasize its features. Fig. 5 shows a commonly used signal-processing strategy in implants.
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
Gain
(A)
Gain
(B)
Normalized Frequency wτ0 Fig. 6. (A) Individual Cochlear Filter Transfer Functions; (B) Cochlear Tap Gain Transfer.
The filter is a very important element of the whole implanted system. A Second-Order-Filter Transfer function can be expressed as: Hn(s) = 1/1 + tns/Q + tn2s2; tn = t0 exp(-n/Nnat); and the Cochlear-Tap Transfer Function is: n =?
Hn(s) =
∏ h ( s) n
n =0
Fig. 7. Layout of bandpass filter [2]
Fig. 6 shows the Cochlear transfer function, and Fig. 7 shows a chip photograph of a DAC programmable fourth-order programmable bandpass filter that operates on 6uW of power consumption with over 60dB of dynamic range on a 2.8V supply.
Microelectronics meets Bionics
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2.2. Biochips
2.2.1. Introduction A biochip is a collection of miniaturized test sites (microarrays) arranged on a solid substrate that permits many tests to be performed at the same time in order to achieve higher throughput and speed. Like a computer chip that can perform millions of mathematical operations in one second, a biochip can perform thousands of biological reactions, such as decoding genes in a few seconds. Biochips are similar to semiconductors, except that instead of having electronic circuits, they have biological material (DNA, RNA, or protein) attached to the surface of a chip, which can be glass, plastic or silicon. Cells are equipped with a host of receptors that can transduce chemical signals into electrical ones. If efficiently coupled to an electronic readout device, cells could thus function as versatile biosensors in a variety of applications. Furthermore, intelligent prosthetic devices could be designed that allow two-way communication between their control circuits and the nervous system [4].
Fig. 8. Molecular biology meets microelectronics [4].
The idea for achieving the “ion-electronic“ coupling is: As shown in Figure 8, grow the cells of interest on a silicon chip, which is made up of an array of field-effect transistors (FETs), and find a way to couple the bioelectric signals into the circuit. “Open gates” of FETs can be made to sense the electrical potential of an electrolyte covering the chip. If cells attach to such gate regions and develop bioelectric signals, these should be measurable in the chip as changes in source drain currents.
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
The technologies used for biochips include: conventional biotechnology with semiconductor processing, optoelectronics, and digital signal and image acquisition and processing, and bioMEMS (Micro-electro-mechanical System for life science applications including medicine) which includes bioanalytical microsystems, surgical Microsystems, and therapeutic Microsystems.
2.2.2. The types of biochips Nucleic acid biochips DNA (Deoxyribonucleic acid), contains all the necessary instructions for all living organisms, except a few viruses, which are RNA (Ribonucleic Acid) based. DNA is double-stranded, and contains a nucleoside base (adenine, cytosine, guanine or thymine), a ribose sugar and a phosphate group. James Watson and Francis Crick, in 1953, discovered that the DNA was arranged in tightly twisted into double helix. DNA is grouped together as genes, although the grouping may not be directly adjacent. DNA (genes) are differentially expressed, meaning that most of the time the majority of the DNA is silent, or unexpressed, by being tightly twisted together. But when a particular section of DNA is needed, it is expressed, or unwound so that the DNA can be read and the appropriate proteins made. This is done by copying the DNA’s instructions to RNA, specifically messenger RNA (mRNA). This process is called transcription. The mRNA then translates the DNA "message" into protein. This process is summarized below: DNA transcription \ mRNA translation \ proteins Biochips are used to identify unknown DNA or RNA (nucleic acid strand) via the process of hybridization, or bonding, between an unknown nucleic acid strand and a known nucleic acid strand. This is done by first denaturing the unknown DNA with heat, which melts the bonds between the two strands of DNA, producing singlestranded DNA. Then the unknown DNA or RNA is washed over a biochip, which has single-stranded DNA or RNA affixed to its surface. If one of the pieces of DNA, or RNA on the biochip is complementary (matches) to the unknown DNA / RNA, then hybridization will occur and a fluorescence is given off that lets a researcher know the DNA or RNA matched the unknown DNA. Figure 9 simply shows the principle of a Genechip. A Genechip probe array refers to a two-dimensional array of small reaction cells fabricated on a solid substrate. In each reaction cell, trillions of polymeric molecules from a specific sequence of single-strand DNA fragment are immobilized.
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The known sequences of single-strand DNA fragments immobilized on the substrate are often called the probes. When unknown fragments of singlestrand DNA samples, called the target, react (or hybridize) with the probes on the chip, double-strand DNA Fragments are formed where the target and the probe are complementary according to the base-pairing rule (A paired with T, and G paired with C). To facilitate the diagnosis or analysis of the hybridized chip, the target samples are often labelled with tags, such as fluorescent, dyes, or radio-isotope molecules [5].
Fig. 9. A schematic Illustration of a GeneChip® probe array [5].
Protein biochips Similar to DNA chips, by attaching biological molecular on the substrate, protein biochips record and analyze the interaction of the target protein. Proteomics technologies with protein biochips have dramatically accelerated the study of proteins, resulting in the discovery of thousands of potential biomarkers and drug targets. Further advances, primarily in mass spectrometry, are expected to increase the rate of discovery. Lab-on-a-chip The idea comes from the SOC design in microelectronics. It’s somehow a main trend of the biochips’ development. Lab-on-a-chip for integrated chemical and biochemical analysis has grown considerably in scope since its introduction by Manz et al. at Transducers ’89. Originally conceived as the miniaturization of chemical analysis systems to act as sensors for automated sample measurement in the laboratory, factory or field [6]. Lab-on-a-chip is usually a planar device on which or in which a number of chemical processes are being performed in order to go from reactants to products or from sample to analysis. Fig. 10 shows the basic concept of it. Generally speaking, the applications will include microsynthesis and mi-
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
croanalysis. The areas include Proteomics, Drug development, and Chemical development. The Benefits of using Lab-on-a-chip is obvious. We can get much smaller size compared to traditional biological and chemical analysis, decreased time needed for the process, increased level of automation, better safety with less special materials involved, and portability due to the smaller dimensions.
Fig. 10. Lab-on-a-chip concept [6].
There are still some drawbacks. Because of handling of biomaterials the use of bio-compatible materials is necessary. We need to avoid contamination, which would cause alteration of the sample composition by adsorption of the analyte at the walls or the desorption of either analyte or interfering substances from the walls and therefore closed structures are preferable. Fouling by particulates and/or gas bubbles can destroy a device as a result of blockages. Because of using smaller devices, we need less sample, but the detection of minute amount of samples is not as easy (less signal for detection). Mixing of fluids, essential for synthesis, is diffusion limited and as such can be difficult to achieve. Too small devices can be difficult to handle. Aspiration is still difficult, but not essential for all the applications. In applications where living cells are used, the buffer has to be delivered to the cells and also other special restriction has to be taken into account. There are two different approaches for Lab-on-a-Chip according to the principle: Lab-on-Chips based on microfluidics and Lab-onChips based on microarrays. The processes inside of the Lab-on-a-Chip include: Injection, Transport, Separation techniques, Reactions, and Detection. So the construction should serve for these processes. The parts of a
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Lab-on-a-Chip device might be considered as directly analogous to electronic systems and therefore can be divided into several parts as shown in Fig. 11.
Fig. 11. Scheme of Lab-on-Chip [6].
2.3. MEMS (Micro-Electro-Mechanical Systems) MEMS is an important element in most bioelectronics system. So we should focus a little more on this field.
2.3.1. Definition [7] MEMS (Micro-Electro-Mechanical Systems), are integrated microdevices or systems combining electrical and mechanical components. They are fabricated using IC batch processing techniques and can range in size from micrometers to millimeters. These systems can sense, control and actuate on the micro scale, and function individually or in arrays to generate effects on the macro scale. Sensor, is a device that perceives useful information from a surrounding environment and provides one or more output variables to a measuring instrument. Especially, Smart Sensor is a sensor with built-in intelligence that may or may not be apparent to the user. Integrated systems have control and processing electronics fabricated on-chip or packaged with the mechanical devices. Actuator, is a device that creates a force to manipulate itself, other mechanical devices, or the surrounding environment to perform some useful function. Structural layer, is a layer of material that comprises a mechanical device. A layer is releasable when a sacrificial
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Manfred Glesner, Hao Wang, Thomas Hollstein
layer separates it from the substrate. Sacrificial layer, is a layer of material that is deposited between structural layers for mechanical separation and isolation. This layer is removed during the release etch to free the structural layers and allow mechanical devices to move relative to the substrate. Vertical aspect ratio, is the ratio of the height of a mechanical structure perpendicular to the substrate to the width of the minimum feature of the device.
2.3.2. The problems to be concerned We know that Miniaturization brings always more problems. For the electrostatic force reason, Small dimensions and odd shapes produce non-ideal fields. Comb drive fingers actuated by electric field fringing. So parallel plate electrostatics may require advanced models. And close proximity of adjacent devices produces interference. For the mechanical theory reason, the conventional theory may not apply when dimensions have 3rd order effects on beam deformation. And thin films demonstrate wildly varied material properties. For the inertia reason, Surface-micro-machined devices have ultra-low mass. Seemingly “flimsy” devices can survive 1000s of gforces. Rotating components seem to start and stop instantaneously. For the fluidic Properties, flow spaces are significantly constricted. For the Optical Properties, we must consider the deflections on the order of wavelengths. Optical devices manipulate light with nanometer precision. Gaps in reflective surfaces are invisible to long wavelengths. For the stiction reason, atomic attractive forces become significant. Parallel crystal planes can permanently stick together.
2.3.3. Micro-fabrication Process Actually, it’s using the same process as the microelectronics industry, as shown in Fig. 12.
2.3.4. BioMEMS application and Reliability Interest in using MEMS and microfabrication technologies for in vivo applications is growing. The manufacturing techniques used in the microelectronics industry may lead to greater uniformity and reproducibility of implantable devices than is currently available to the biomedical and pharmaceutical industries. MEMS offer great potential advantages over other types of implantable systems for certain applications due to their small size scale, electrical nature, and ability to operate on short time scale.
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Fig. 12. Micro-fabrication Process
The development of retinal implants to treat blindness, neural implants for stimulation and recording from the central nervous system, and recording from the central nervous system, and micro-needles for painless vaccination are examples of applications in which features unique to MEMS, such as optical and electrical sensitivity or feature size comparable to relevant biological structures, are being leveraged for maximum impact. A variety of implantable electronic devices are based upon or use MEMS technology, including sensors, immunoisolation capsules, and drug delivery microchips. [8] Another area of burgeoning interest in the field of MEMS is to use microfabrication technology and chemical modification to investigate and direct cell growth. In contrast to the use of chemical modification to prevent biofouling, chemical functionalization can also be combined with microfabricated and microtextured surfaces to provide a new method by which to control cell attachment and differentiation in vitro, as well as device integration with living tissue in vivo. These techniques may ultimately lead the way toward functional MEMS that operate in conjunction with living tissue. Much of the current MEMS research focuses on addressing a particular detail or aspect unique to specific problems or applications, such as the fabrication of a certain feature or the interaction of silicon with a certain type of cell. In contrast to MEMS for sensor or drug delivery applications, MEMS for actuation would not only allow information flow in two directions, but would function in a synergistic manner with the body’s won systems through the application of a potent stimulus at the critical time. A prime example of this type of system is the pacemaker, which provides a small stimulus at a critical time in order to actuate the cardiac system.
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For any technology or product to be commercially successful, it must repeatedly perform as expected for its entire promised lifetime. The emerging field of BioMEMS has been no different in that reliability has not been a focus for researchers. Unlike for many other technologies, however, the consequences of a product failure can be catastrophic given the life-anddeath role that many BioMEMS applications possess. For this reason, the successful BioMEMS designers will likely be those that give reliability the critical attention it deserves early in their design process. [9] A common approach for tackling the BioMEMS reliability question is to takes clues from the MEMS field. After all, many of the same materials are utilized in both fields, the dimensions are similar, and they share a common heritage. Furthermore, the MEMS field has matured enough to see the publication of reliability studies and even the creation of research laboratories dedicated to MEMS reliability. But this approach is imperfect, because of three reasons. First, whereas classical mechanical reliability topics such as fatigue and wear are often applicable to MEMS because of their mechanical nature, many BioMEMS designers have purposely eliminated moving elements from their devices, thereby making mechanical reliability a secondary issue. Second, the BioMEMS field covers such an enormous, diverse array of applications, that reliability can only be studied on specific designs or classes of devices. Third, the concepts of lifetime and wear, which may be appropriate in MEMS, are less relevant for a significant number of BioMEMS which are single-use products where the actual use conditions can vary significantly from situation to situation, like many medical devices. A better way to frame the reliability question comes from the definition “…Reliability is the probability that a component, device, or system will perform its prescribed duty without failure for a given time when operated correctly in a specified environment.” The three key elements are the application, which encompasses the prescribed duty and the specified environment, the failure mode, and correct operation. Depending on whether the eventual system is to be used in a research laboratory in pursuit of scientific knowledge, or used in a hospital laboratory to make measurements to aid in the diagnosis of patients, or implanted in a patient to treat an illness, the reliability hurdles are different and they vary in importance. In the latter two examples, the reliability and quality of the system are likely to be regulated by a governmental agency to ensure the safety of the patients. In summary, the reliability challenges facing the BioMEMS designer are numerous, complex, and application specific but critical to the success of a device. For the research laboratory, performance and efficiency metrics are the most critical. For the clinical diagnostic marketplace, predictability and
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reproducibility in both the device and its manufacturing process are the most important. For BioMEMS that are implanted, material biocompatibility and robustness to encapsulation processes determine the success or failure of a design. 2.4. The market for biochips There are mainly six potential markets for biochips: pharmaceutical research (the biggest market now), medical diagnostics, forensics, transplantation, identity testing, and water & environmental testing. Table 3 is the recent research report by Bioinsights, quoted in Electronic Business April 2000, gives the following market for biochips, in millions of US dollar: Table 3. The market report and trend of Biochips Year 1999 2001 2005
DNA chip $158 $249 $745
Lab chip $14 $35 $157
Protein chip $4 $8 $68
Total $176 $292 $950
3. Artificial Neural Network 3.1. Definition One type of network sees the nodes as ‘artificial neurons’. These are called artificial neural networks (ANNs). It’s an efficient way of solving complex problems. An artificial neuron is a computational model inspired in the natural neurons. Natural neurons receive signals through synapses located on the dendrites or membrane of the neuron, as shown in Figure 13. When the signals received are strong enough (surpass a certain threshold), the neuron is activated and emits a signal though the axon. This signal might be sent to another synapse, and might activate other neurons. [10]. The complexity of real neurons is highly abstracted when modeling artificial neurons. These basically consist of inputs (like synapses), which are multiplied by weights (strength of the respective signals), and then computed by a mathematical function which determines the activation of the neuron.
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Fig. 13. Natural neurons [10]
Another function (which may be the identity) computes the output of the artificial neuron (sometimes in dependence of a certain threshold), as shown in Figure 14. ANNs combine artificial neurons in order to process information. Step function
Inputs
Σ Weighted sum Fig. 14. An artificial neuron (perception).
Depending on the weights, the computation of the neuron will be different. By adjusting the weights of an artificial neuron we can obtain the output we want for specific inputs. But when we have an ANN of hundreds or thousands of neurons, it would be quite complicated to find by hand all the necessary weights. But we can find algorithms which can adjust the weights of the ANN in order to obtain the desired output from the network. This process of adjusting the weights is called learning or training.
Microelectronics meets Bionics
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3.2. Application The number of types of ANNs and their uses is very high. Since the function of ANNs is to process information, they are used mainly in fields related with it. There are a wide variety of ANNs that are used to model real neural networks, and study behavior and control in animals and machines, but also there are ANNs which are used for engineering purposes, such as pattern recognition, forecasting, and data compression. 3.3. Relationship with microelectronics and challenges Silicon implementation of ANNs as an IC aims at providing a final product with desirable low-area, low-power and low-cost properties. Several purely analog ICs have been developed in order to meet the criteria of minimal area and fast throughput. Yet the main drawbacks of analog systems include sensitivity to ambient noise and to temperature, as well as the lack in efficient automated synthesis methods and tools. On the other hand, purely digital realizations have the advantage of a limited but well defined precision that is given by the quantification of all neuron parameters. One main characteristic of purely digital realizations is their straightforward design-flow; some realizations start from a high-level hardware language description such as VHDL, to be synthesized into a standard-cells based architecture or a FPGA. The extensive reuse of pre-characterized modules, which may be VHDL based descriptions or mask layouts, is yet another possible solution to speed up the IC development process. Combining the advantages of both analog and digital realizations into a novel mixed-mode architecture is now an important topic for ANN research. [11]
4. Future contribution of Microelectronics in Bionics Figure 15 shows the construction of the biological part, bioelectronics interface, and the electrical part. As a recently developed subject, there are a lot challenges: For example, sensor and actuator design, advanced analog systems and analog artificial neural networks; system integration with top level digital processing units, and the communications between systems. But we can surely see the brilliant future of this interdisciplinary science that may change our living world revolutionarily.
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Fig. 15. Layout of bionics Soc design.
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Wirbelbildung hinter schlagenden Tragflächen Tatjana Hubel, Cameron Tropea Fachgebiet Strömungslehre und Aerodynamik, TU Darmstadt
Zusammenfassung Das Projekt beschäftigt sich mit der experimentellen Analyse des Schlagflugs. Auftriebs- und Schuberzeugung durch den Flügelschlag sollen hierbei näher untersucht werden. Ziel ist die Gewinnung grundlegender Erkenntnisse auf dem Gebiet der instationären Aerodynamik sowie die Weiterentwicklung vorhandener Messtechnik für instationäre Untersuchungen. Zu diesem Zweck werden an einem vogelähnlichen flügelschlagenden Modell Kraftmessungen und Strömungsvisualisierungen im Windkanal vorgenommen.
Abstract In this study the aerodynamics of flapping flight is experimentally investigated using a mechanical bird model. Overall lift and drag throughout the flapping cycle are measured directly using a three-component balance, and local values of lift and drag across the wingspan are deduced from the wake vortex structure, captured using particle image velocimetry. Various hypotheses concerning the expected vortex structure and preliminary wind tunnel measurements are presented.
1. Einleitung Seit jeher ist der Schlagflug Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen. Doch besonders in den letzten Jahren erhielt die Forschung auf diesem Gebiet neuen Auftrieb. Der Fortschritt im Bereich der Messtechnik ermöglicht neue aufschlussreiche Untersuchungen durchzuführen, um bislang erstellte Theorien zu festigen und neue Erkenntnisse zu erhalten. Desweiteren haben sich neue Anwendungsmöglichkeiten in technischen Bereichen herauskristallisiert [1]. Nachdem sich der Schlagflug als Antrieb in der bemannten Luftfahrt als ungeeignet herausgestellt hat, werden nun seine Einsatzmöglichkeiten im Bereich so genannter Micro Air Vehicles (MAV) geprüft. Dabei handelt es sich um kleine, max. 30 cm große, semiautonome Flugobjekte, die
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zu Beobachtungs- und Aufklärungszwecken verwendet werden sollen. Zum Einsatz sollen sie in Bereichen der Verkehrsüberwachung, Telekommunikation, Datenübertragung, Luftverschmutzungsuntersuchung sowie bei Such- und Rettungseinsätzen kommen. Im Gegensatz zu bemannten Flugzeugen, deren Reynoldszahlen sich grundlegend von denen im Tierflug unterscheiden, liegen MAVs mit einer Reynoldszahl kleiner als 200.000 in einem mit dem Vogelflug vergleichbaren Bereich (Abb. 1).
Abb. 1. Darstellung der Reynoldszahlbereiche unterschiedlicher Tiergruppen und Flugobjekte.
Bei der Reynoldszahl handelt sich um eine dimensionslose Kenngröße, die das Verhältnis von Trägheits- zu Zähigkeitskräften wiedergibt. Je größer ein Körper, desto größer auch der Einfluss der Trägheitskräfte, während bei kleinen Körpern der Einfluss der Reibungskräfte dominiert. Aufgrund der niedrigen Reynoldszahlen von MAVs, ist das Verhalten der Strömung mit dem im Tierflug vergleichbar. Damit gewinnt die Erforschung des Tierfluges an grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von MAVs. Allerdings basiert die Übertragbarkeit nicht nur auf den entsprechenden aerodynamischen Kenntnissen sondern setzt auch eine hohe Entwicklung im Bereich der Sensorik, Steuerung und Energieumwandlung voraus. Der Antriebsmechanismus im Tierflug unterscheidet sich grundlegend von dem der Flugzeuge. Diese erzeugen den nötigen Hub und Schub durch zwei voneinander unabhängige Komponenten. Den Hub durch die starren
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Tragflächen und den Schub durch die Triebwerke. Vögel, Fledermäuse und Insekten erzeugen dagegen sowohl Hub als auch Schub mit Hilfe des Flügelschlags, wobei es sich im Wesentlichen um eine kombinierte Hubund Drehbewegung handelt. Die Drehung folgt der Hubbewegung dabei mit einer Phasenverschiebung von etwa 90 °. Die tatsächliche Kinematik ist jedoch komplexer und weist unterschiedlichste Variationen auf. Innerhalb des Tierfluges treten wesentliche Unterschiede in der Nutzungs- und Wirkungsweise des Schlagfluges auf. Vögel und Insekten unterscheiden sich nicht nur in der Reynoldszahl sondern auch ganz wesentlich im Flügelbau. Zusätzlich spielt neben der Reynoldszahl in der Analyse des Schlagflugs auch die reduzierte Frequenz k eine entscheidende Rolle. Gleiche Werte für die reduzierte Frequenz sind, wie gleiche Re-Zahlen, eine Vorrausetzung dafür, dass sich Strömungen ähnlich verhalten. Die reduzierte Frequenz kann als Maß für die Instationarität der Strömung aufgefasst werden. Je größer k, desto größer ist auch der Einfluss der Schlagbewegung auf die Aerodynamik (Abb. 2). 6
10
Re =
Re Storch Flügelschlagmodell „Igor“
Gans 5
10
Falke
10
4
Star
k=
Fledermaus
“Konrad”
Libelle
Biene Tabakschwärmer
3
10
Schmeißfliege
2
Fruchtfliege
10
Stechmücke
10 0.01
0.1
1 Reduzierte Frequenz
v ⋅l ⋅δ
η π ⋅f ⋅l v
Re = Reynoldszahl l = mittlere Flügeltiefe v = Fluggeschwindigkeit δ = Dichte η = dynamiche Zähigkeit k = reduzierte Frequenz f = Frequenz
10
Abb. 2. Auftragung der Reynoldszahl gegenüber der reduzierten Frequenz k.
Insekten befinden sich mit ihren hohen Schlagfrequenzen und der geringen Fluggeschwindigkeit in einem Bereich, in dem die Gesetze der stationären Aerodynamik nur begrenzt gültig sind. Währenddessen wird davon ausgegangen, dass der Vogelflug mit seinen geringen reduzierten Frequenzen größtenteils noch als quasistationär betrachtet werden kann. Neben der Flügelbewegung selbst besitzen auch Morphologie und Sensorik eine Bedeutung für die sich am und hinter dem Flügel abspielenden Vorgänge. Eine nähere Untersuchung des Nachlaufs bietet die Möglichkeit, Rückschlüsse auf die am Flügel stattfindenden Ereignisse zu ziehen.
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Die sich hinter einem angeströmten Körper ausbildende Wirbelstruktur steht in direktem Zusammenhang mit den am Objekt angreifenden Kräften [2]. Neben dem Anfahrwirbel zu Beginn der Bewegung und dem Stoppwirbel am Ende, bilden sich an den beiden Rändern einer Tragfläche so genannte Randwirbel aus (Abb. 3). Dies ist auf die Endlichkeit der Tragflügel und den an den Flügelspitzen auftretenden Druckausgleich zwischen dem Unterdruck auf der Oberseite und dem Überdruck an der Unterseite des Flügels zurückzuführen. Zusätzlich lösen sich weitere querverlaufende Wirbel von der Hinterkante ab, sobald sich der Auftrieb am Tragflügel und damit die Zirkulation ändert. Bewegungsrichtung
Abb. 3. Wirbelsystem um eine Tragfläche
Sowohl Auftrieb als auch Zirkulation werden vom Anstellwinkel und der Strömungsgeschwindigkeit beeinflusst. Beide sind am schlagenden Flügel starken Änderungen unterworfen. Besonders an den Umkehrpunkten kommt es zu extremen Änderungen in der Zirkulation und damit zur Querwirbelablösung. Stärke und Richtung des sich ablösenden Wirbels zeigen die Größe der Änderung an, sowie den Umstand, ob es sich um eine Auftriebszunahme bzw. -abnahme handelt. Numerische [3] und experimentelle Untersuchungen zeigen in der Tat, dass sich hinter einem auf und abschlagenden Flügel mit phasenverschobener Drehung eine leiterartige Struktur ausbildet (Abb. 4). Seit längerem ist jedoch ebenfalls bekannt, dass es im Vogel- und Fledermausflug mindestens zwei Gangarten gibt [4]. Abhängig von der Größe des Vogels und der Fluggeschwindigkeit bilden sich unterschiedlich strukturierte Nachläufe aus.
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Abb. 4. (rechts) Leiterartige Nachlaufstruktur hinter einem auf – und abschlagenden Flügel, dem eine Drehbewegung überlagert ist.
Abb. 5. Unterschiedliche Nachlaufstrukturen im Vogelflug. a) Ringwirbelbildung im langsamen Flug, b) Kontinuierliche Wirbelbildung im schnelleren Horizontalflug, c) Leiterstruktur im schnellen Flug und bei Beschleunigung [5].
Im langsamen Flug und bei kleinen Vögeln erscheinen separate Ringwirbel (Abb. 5a). Die Trennung der Wirbelringe ist dabei auf den aerodynamisch passiven Aufschlag zurückzuführen. Dieser entsteht, weil die Flügel im Aufschlag derart bewegt werden, dass keine Luftkräfte entstehen. Im langsamen Flug werden die Luftkräfte also nahezu ausschließlich während des Abschlages erzeugt, und zwar hauptsächlich vom distalen (äußeren) Flügelbereich während die Zirkulation am proximalen (inneren) Bereich sehr gering ist. Mit steigender Geschwindigkeit entwickelt sich während des Aufschlages eine Zirkulation um den proximalen Flügelbereich. Dabei dominiert im Abschlag weiterhin die Zirkulation der distalen Region, während im Aufschlag nun eine äquivalente Zirkulation um den proximalen Bereich hinzukommt. Insgesamt bleibt die Gesamtzirkulation somit aber über den Flügelschlag hinweg konstant. Dadurch wird die Entstehung von Querwirbeln vermieden und es erscheinen lediglich die durch die Endlichkeit des Flügels verursachten Randwirbel (Abb. 5b). Besonders während der Migration (Vogelzug) ist dies von entscheidender Bedeutung, da so der Energieaufwand vermindert werden kann. Sowohl die Ringwirbelbildung als auch die kontinuierliche Wirbelbildung wurden bereits 1989 von Spedding und Rayner experimentell nachgewiesen [6, 7]. Hierzu ließen sie Vögel durch Heliumbläschen fliegen (Abb. 6). Dreidimensionale kinematische Analysen und quasistationäre Zirkulationsberechnungen legen jedoch den Schluss nahe, dass auch die bereits angesprochenen leiter-
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artigen Strukturen im Vogelflug auftreten können (Abb. 5c) [8]. Es ist anzunehmen, dass diese Struktur im schnellen Flug und bei Beschleunigung erscheint, wenn die Schuberzeugung in den Vordergrund tritt. Der Hauptanteil des Schubs wird hierbei während des Abschlags vom distalen Flügelbereich erzeugt. Die hierzu benötigte Zirkulation ist jedoch so groß, dass während des Aufschlags keine äquivalente Zirkulation erzeugt werden kann. Somit ändert sich die Zirkulation über den Flügelschlag hinweg und es kommt zwangsläufig zu einer Querwirbelbildung.
Abb. 6. Visualisierung von Strömungsnachläufen mittels Heliumbläschen. a) Ringwirbelbildung bei einer Taube [6], kontinuierliche Wirbelbildung bei einem Falken da [7].
2. Material und Methode Bereits seit den 70er Jahren werden Untersuchungen an lebenden Vögeln im Windkanal durchgeführt. Hierzu werden einzelne Exemplare unterschiedlicher Spezies auf den Flug im Windkanal trainiert. Auf diese Weise ist es möglich, die Kinematik mittels stereoskopischer Aufnahmen genauer zu analysieren. Hauptsächlich werden auf diesem Weg jedoch Energetik und Thermoregulation des Vogelfluges untersucht. Das Training der Tiere ist jedoch sehr aufwendig und ihr Flug im Windkanal ist mit ständigen Positionsänderungen und den damit einhergehenden Änderungen in der Kinematik verbunden. Zur näheren Untersuchung der Bedeutung verschiedener Flugparameter ist daher der Einsatz eines Modells mit konstant einstellbaren Bewegungsabläufen notwendig. Zu diesem Zweck wurde ein
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vogelähnliches flügelschlagendes Modell gefertigt (Abb. 7). Die Konstruktion orientiert sich an einer Ringelgans. Gänse sind aufgrund ihrer ausgeprägten Migration in optimaler Weise an den horizontalen Streckenflug angepasst. In diesem Flugzustand lösen sich die bereits besprochenen kontinuierlichen Wirbel ab und die Ausbildung von Querwirbeln wird größtenteils verhindert. Mit einer Spannweite von 1,10 m – 1,20 m ermöglicht die Gans die Herstellung eines 1:1 Modells wobei der große Rumpf ausreichend Platz für die notwendige Mechanik bietet. Auch die relativ geringe Schlagfrequenz und die Reynoldszahl von 110.000 kommen dem Bau entgegen. Der Frequenzbereich des Modells umfasst 0-2Hz wobei Geschwindigkeitsänderungen innerhalb eines Flügelschlages einstellbar sind. Es ist also möglich die Geschwindigkeit in der Nähe der Umkehrpunkte zu erhöhen oder zu erniedrigen. Im Schulterbereich lässt sich der Anstellwinkel im Bereich von –4° bis + 4° variieren. Die Torsion des Flügels stellt sich aufgrund der angreifenden Luftkräfte passiv ein. Für die Untersuchungen stehen drei Flügelpaare mit unterschiedlicher Steifigkeit zur Verfügung. Zusätzlich lässt sich der Anstellwinkel des gesamten Modells mittels eines Gelenks zwischen Stiel und Modell im Bereich von –10° bis +10° variieren.
Abb. 7. Mechanisches Flügelschlagmodell in Anlehnung an eine Ringelgans.
Zur genauen Analyse der während des Flügelschlags angreifenden Kräfte am Flügel werden sowohl direkte Kraftmessungen als auch strömungsvisualisierende Maßnahmen durchgeführt. Die Kraftmessungen erfolgen mittels einer eigens hierfür angefertigten 3-Komponenten-Waage. Mit ihrer Hilfe lassen sich Auftrieb, Widerstand und Nickmoment zeitaufgelöst erfassen. Die maximale Abtastrate liegt hierbei bei 150 Messungen pro Sekunde. Zur Ermittlung der am Modell angreifenden Luftkräfte müssen die von der Flügelmechanik produzierten dynamischen Kräfte erfasst und von den gemessenen Kräften subtrahiert werden. Die Widerstandsmessun-
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gen dienen gleichzeitig zur Festlegung der einzustellenden Windgeschwindigkeit. Liegt der über den Flügelschlag gemittelte Widerstand bei Null, produziert das Modell genauso viel Schub wie Widerstand. Desweiteren muss zur Simulation des horizontalen Streckenflugs ca. 13 N Auftrieb erzeugt werden. Dies ist genau der Auftrieb, der benötigt wird, um das Gewicht einer Ringelgans von etwa 1,3 kg zu kompensieren. Die Strömungsvisualisierung erfolgt mittels eines PIV-Systems [9]. Das Verfahren der Particle Image Velocimetry (Abb. 8) beruht auf der Zugabe kleiner Partikel in die Strömung. Aufgrund ihrer geringen Größe wird angenommen, dass die Partikel der Strömung optimal folgen. Mit Hilfe eines Laserlichtschnittes werden die Partikel in dem zu untersuchenden Gebiet beleuchtet und kurz hintereinander mit der Kamera zwei Aufnahmen gemacht. Mittels einer statistischen Methode, der Kreuzkorrelation, wird der Partikelversatz zwischen diesen beiden Bildern ermittelt und damit Richtung und Geschwindigkeit der Strömung bestimmt. Die Anordnung der PIV-Messtechnik und des Vogelmodells im Windkanal ist in Abb. 9 schematisch dargestellt. Der Laserlichtschnitt zeigt parallel zur Strömungsrichtung. In Abhängigkeit von der Zeit und der Position über der Spannweite können so die von der Hinterkante abgelösten freien Querwirbel erfasst werden. Mit dieser Anordnung können die Zirkulationsänderungen und damit die Änderungen im Auftrieb ermittelt werden.
Abb. 8. Aufbau eine PIV-Systems. Strömungsvisualisierung an einem Tragflügel und ein daraus resultierendes Vektorfeld.
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–Traverse –Flügelschlagmodell –2,90
–Spiegel
Düse Partikelgeneration in der Vorkammer
–Laserlichtschnitt
–Doppelpuls–laser
–CCD-Kameras – 1280x1024 Pixel
–Laserarm
–Traverse –Laseroptik
Abb. 9. Darstellung des Versuchsaufbaus im Windkanal. Parallel zur Strömung verlaufender Lichtschnitt durch die Umlenkung des Laserstrahls.
3. Erste Ergebnisse und Ausblick Versuche mit einem provisorischen Modell zeigen, dass die Querwirbel deutlich sichtbar im Vektorfeld erscheinen (Abb. 10). Bei diesem Modell handelt es sich um einen Spielzeugvogel. Dieser ist, angetrieben von einem Gummimotor, in der Lage, flügelschlagend etwa 50 m weit zu fliegen. Flugversuche haben eine Schlagfrequenz von ca. 7 Hz, eine Fluggeschwindigkeit von etwa 4-5 m/s und damit eine reduzierte Frequenz von 0,3 - 0,38 ergeben. Für die Messungen im Windkanal wurde das Modell mit einem Elektromotor ausgestattet, der eine maximale Schlagfrequenz von 5 Hz erlaubt. Die Strömungsvisualisierung bei unterschiedlichen Frequenzen und Anströmgeschwindigkeiten zeigt, dass diese von entscheidender Bedeutung für die Entstehung der Wirbel sind. Die deutlichste Wirbelbildung erfolgt bei einer Geschwindigkeit von 3 m/s und einer Frequenz von 5 Hz, also bei einer reduzierten Frequenz von 0,36, die mit der des frei fliegenden Modells weitgehend übereinstimmt. Trotz des sehr einfachen Modells ist der Verlauf der Wirbelbildung über mehrere Flügelschläge hinweg erstaunlich konstant. Allerdings beschränkt sich die Bildung der Wirbel nicht auf die Umkehrpunkte.
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Tatjana Hubel, Cameron Tropea
Win Aufschlag
Abschlag
Abb. 10. Querwirbelbildung im Aufschlag und Abschlag. Das Untersuchungsgebiet liegt parallel zur Strömungsrichtung (nahe Flügelspitze). Das Bild zeigt das provisorische Flügelschlagmodell „Konrad“, die Schlagfrequenz liegt bei 5 Hz, die Anströmgeschwindigkeit beträgt 3 m/s.
Eine Erklärung hierfür bietet das Material der Flügel, die aus einer einfachen Plastikfolie bestehen. Die große Flexibilität dieser Folie führt zeitweise zu einer abrupten Änderung der Flügelwölbung aufgrund der angreifenden Luftkräfte. An diesen Punkten treten ebenfalls starke Zirkulationsänderungen auf. Desweiteren ist die Wirbelablösung einer zeitlichen und örtlichen Phasenverschiebung unterworfen. Anhand der Vektorfelder werden Wirbelstärke und Zirkulation der Wirbel berechnet. Die hierbei ermittelten Werte liegen in dem erwarteten Größenbereich. Die quantitative Aussagekraft dieser Berechnungen lässt sich jedoch aufgrund der bei diesen Experimenten noch nicht durchgeführten Kraftmessungen nur schwer beurteilen. Bei den folgenden Versuchen mit dem inzwischen fertiggestellten gänseähnlichen Modell werden jedoch beide Messmethoden gleichzeitig zum Einsatz kommen. Ein Vergleich der Ergebnisse wird dann zeigen, ob die Auflösung des Nachlaufs ausreicht, um neben einer qualitativen auch eine quantitative Aussage treffen zu können. Ferner wird sich zeigen, inwieweit durch Parametervariation flugtaugliche vogelähnliche Zustände erreicht werden können.
Wirbelbildung hinter schlagenden Tragflächen
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Infobionik – Entwurf einer menschzentrierten Benutzerschnittstelle Tobias Limberger, Max Mühlhäuser Fachbereich Informatik, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung In vielen Wissenschafts- und Technikzweigen ist der praktische Nutzen der Bionik anerkannt. Die Lösung technischer Probleme mit Hilfe biologisch motivierter Prinzipien wird erfolgreich praktiziert. Maschinenbau, Architektur, Materialwissenschaft und andere profitieren vom sprichwörtlichen Blick über den Tellerrand. Die Vorteile einer Kooperation von Informatik und Bionik dagegen sind bislang nicht Gegenstand eines gesteigerten Interesses gewesen. Tatsächlich existiert ein großes Potential für Innovationen auf dem Gebiet der Datenverarbeitung. Im Rahmen diese Beitrags soll exemplarisch die Gestaltung einer biologisch motivierten Benutzerschnittstelle diskutiert werden.
Abstract In many fields of science and engineering, the practical value of bionics is well accepted. The solution of technical problems by means of biologically motivated principles is often used with great success. Engineering, architecture, materials science and others benefit from thinking outside of the box. The benefits of a cooperation of informatics and bionics in contrast were not a focus of great interest in the past. Actually there is a great potential for innovations in the area of data processing. Within the scope of this article, the design of a biologically motivated user interface will be discussed exemplary.
1. Einführung Bionik – nahezu jeder Mensch verbindet mit diesem Wort bestimmte Vorstellungen: Schiffsrümpfe, deren Formen nach dem Vorbild von Pinguinoder Delphinkörpern gestaltet sind, Fußball spielende Roboter, architektonische Großprojekte mit einer an natürliche Vorbilder angelehnten Statik oder neuartige Oberflächenbeschichtungen und Klebstoffe. Es ist den meisten Außenstehenden eingängig, dass in der Natur für eine Reihe von Aufgaben Vorbilder effektiver Lösungen zu finden sind. Oft sind die Probleme, vor denen die Technik steht, eng verwandt mit jenen, die Tiere
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Tobias Limberger, Max Mühlhäuser
leme, vor denen die Technik steht, eng verwandt mit jenen, die Tiere und Pflanzen bewältigen müssen, seien es nun das Fliegen, besonders energiesparende Fortbewegung, die Eindämmung von Wärmeverlusten oder eine dauerhafte Verbindung von verschiedenen Materialien. Werkstoffkunde, Architektur, Maschinenbau, Chemie: viele Wissenschaftszweige profitieren vom Blick über den „technischen Tellerrand“. Fantastische Literatur und Filmindustrie zeichnen das Bild einer denkbar positiven Weiterentwicklung dieses Trends: Menschen und Maschinen kommunizieren über perfekte Schnittstellen und verschmelzen zu Mischwesen, die vorteilhafte Eigenschaften beider Domänen in sich vereinigen. Für nahezu alle Bereiche des Lebens existieren Vorstellungen biologischtechnischer Konstruktionen, die ihre Aufgaben besser und schneller erledigen als jeder rein technische oder biologische Vorgänger. Man kann von einer gewissen Bionik-Euphorie sprechen. Doch diese hat sich nicht so umfassend in den Köpfen festgesetzt, wie es scheint. Die tatsächliche Universalität des Prinzips technische Aufgabe – biologische Lösung wird meist nicht erkannt, Fragen vieler Wissensgebiete bei der Suche nach bionischen Antworten ausgeklammert. So wird wohl niemand auf die Idee kommen, eine Verbindung zwischen der Bionik und der Informatik zu sehen. Bionik, das ist Bio und Technik, das sind Lösungen für praktische, greifbare Probleme! Informatik? Das ist jene nur vage definierbare Wissenschaft, die sich mit der Verwaltung und Nutzung von Informationen beschäftigt, die „Computerwissenschaft“ eben. Es ist nicht so leicht zu sehen, wo die Informatik mit Problemen konfrontiert ist, deren Lösungen bei biologischen Vorbildern zu suchen sind. Schließlich betreibt kein noch so komplexer Insektenstaat eine Datenbank, und Computer sind eine Erfindung des Menschen, die kein Äquivalent in der Natur besitzt. Weit gefehlt: tatsächlich ist die „Antwort der Natur“ auf die Frage nach der Informationsverarbeitung schon seit langem von Informationswissenschaftlern als ein fernes, doch höchst erstrebenswertes Ziel identifiziert: das Gehirn. Während jedoch die Erfolge der Bionik in anderen Fachgebieten weitere Anstrengungen sinnvoll erscheinen lassen, ist es in der Informationsverarbeitung relativ still geworden um die Orientierung am natürlichen Vorbild. Die Welle der Begeisterung für Künstliche Intelligenz, Neuronale Netze und Co. ist einer Ernüchterung ob der schieren Komplexität der Aufgabe gewichen. Viele hochgesteckte Ziele sind nach mehreren Jahrzehnten der Forschung noch immer nicht in Sicht, das Geheimnis der Intelligenz ist nicht entschlüsselt, das Gehirn nicht im Elektronikbaukasten konstruierbar. Trotzdem gibt es in der jüngsten Zeit wieder verschiedene Projekte, die spezielle Probleme der Informatik durch die Umsetzung natürlicher Vor-
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bilder zu lösen versuchen. Dabei gehen sie eher von einem minimalistischen Ansatz aus und suchen das Verhalten natürlicher Entitäten nachzubilden, ohne die exakten Mechanismen der Originale zu kennen. Beispiele hierfür sind z.B. Routing-Verfahren, die auf sog. Ameisenalgorithmen zurückgreifen, und Optimierungsstrategien, die sich genetischer Algorithmen bedienen. Das neue Credo der Informatik bezüglich bionischer Lösungen ist also eher die Nutzung vorteilhafter Strategien auf einer makroskopischen als die exakte Nachbildung von Mechanismen auf einer mikroskopischen Betrachtungsebene.
2. Motivation und Einordnung Betrachtet man die möglichen Berührungspunkte im Grenzbereich zwischen Bionik und Informatik (den man mit dem Kunstwort „Infobionik“ bezeichnen könnte) etwas näher, so sind prinzipiell zwei erkennbar: zum einen der Bereich physischer Entitäten, zum anderen der virtueller Entitäten. Im Bereich physischer Entitäten sind Beziehungen relativ leicht zu sehen: im Wesentlichen erstreckt er sich auf die Probleme der Robotik, Sensorik und Steuerungstechnik. Gegenstand ist die Konstruktion von Maschinen, die von biologischen Vorbildern abgeleitet sind. Beispiele sind lauffähige humanoide Roboter oder Positionierungssysteme, die nach Art unserer optischen Orientierung mittels Zweifachkameras arbeiten. Eng verwandt ist allerdings die Programmierung von Agenten, die z.B. für Benutzer Informationen aus dem Internet sammeln und aus dem verhaltensbiologischem Wissen schöpfen, obwohl diese Agenten sich in einem virtuellen Umfeld bewegen. Zum Themenkreis Robotik existieren vielfältige und umfangreiche Arbeiten (eine erste Orientierung bieten z.B. [5] und [7]). Im zweiten Bereich ist weiter zu unterscheiden. Eine Gruppe von Anwendungen kann unter dem Begriff der Algorithmik zusammengefasst werden. Sie bedienen sich bionischer Ideen, um Programmabläufe robuster, flexibler oder überhaupt praktikabel zu gestalten. In diese Gruppe fallen die diversen heuristischen Ansätze zur Lösung komplexer Probleme wie etwa Fuzzy-Logik, neuronale Netze, Ameisenalgorithmen oder genetische Algorithmen (häufig wird hier auch von „Soft Computing“ gesprochen, siehe z.B. [1] oder [2]). Hindernisse bei der Entwicklung anpassungsfähiger Software etwa können möglicherweise nach dem Vorbild menschlichen oder tierischen Lernverhaltens umgangen werden. Hier ist insbesondere eine engere Zusammenarbeit zwischen Informatik, Neurobiologie und Neuropsychologie notwendig. Die Anwendungsgebiete robuster
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und lernfähiger Software sind fast unbegrenzt: so erfordert jede Bearbeitung vertraulicher Daten wie Finanz- oder Personendaten den Einsatz eines fehlerresistenten Systems, das zudem nach Möglichkeit auf schnell anwachsende Datenbestände mit geringer Halbwertszeit angemessen reagieren kann. Beinhaltet eine Aufgabe gar potentiell lebenswichtige oder auf andere Weise kritische Daten (wie etwa medizinische oder juristisch zu verwertende), so muss häufig das korrekte Verhalten einer Software unter jeglichen Bedingungen garantiert werden. Schließlich sind auch all jene Optimierungsprobleme zu nennen, die sich nicht durch simples „Ausprobieren“ lösen lassen und oft mit Hilfe biologisch inspirierter Programme wie genetischen Algorithmen oder Ameisenalgorithmen bearbeitet werden. Mit dem Oberbegriff Systemorganisation ist eine weitere Gruppe abzugrenzen. Diese beinhaltet vor allem die Ansätze, die sich mit Architektur bzw. Topologie von arbeitenden Systemen auseinandersetzen. Exemplarisch kann hier das Schlagwort „Peer-to-peer“ genannt werden. Die Entwicklung von der klassischen Client-Server-Architektur zum Verbund „gleichberechtigter“ Datenknoten oder Peers wird aus vielen Gründen propagiert. So erwartet man eine höhere Resistenz eines Netzwerks von Rechnereinheiten gegenüber Ausfällen einzelner Knoten, wenn benachbarte Knoten die unerledigten Aufgaben derselben übernehmen können. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass sich durch die Vermeidung einer hierarchischen Kommunikationsstruktur die Bildung von Engpässen vermeiden oder zumindest deutlich verringern lässt. Nicht zuletzt erhofft man sich eine Beschleunigung von Prozessen durch eine starke Parallelisierung. So aktuell allerdings diese Ansätze auch sind, lassen sie sich doch alle auf ein schon lange existierendes und effizient arbeitendes Netzwerk natürlicher Kleinstrechner zurückführen: das Gehirn. Die zunehmende Konvergenz der Organisation künstlicher und natürlicher „Rechner“ wird etwa in [9] erwähnt. Die dritte Gruppe von Anwendungen ist grob als die der Datenorganisation zu bezeichnen. Sie umfasst die Probleme der Mensch-MaschineInteraktion (siehe hierzu beispielsweise [3]) und zugehörige Thematiken wie etwa Softwareergonomie (siehe [13] für eine Einführung) und Datenzugriff im Allgemeinen. Ein Feld, auf dem sich die Verfolgung bionischer Ansätze insbesondere anbietet, ist die (Software-)Ergonomie. Die noch immer zunehmende Verbreitung von Rechnern und ihr Einsatz in immer mehr Bereichen des alltäglichen Lebens erfordert Konzepte zur Vereinfachung der Bedienung. Systeme sollen mit Benutzern interagieren und ihnen Hilfestellung bei der Lösung ihrer Probleme bieten. Dabei wird erwartet, dass sie Anfragen und Kommandos verstehen und auch die Ergebnisse ihrer Arbeit in einer allgemein verständlichen Form präsentieren. Hierzu
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ist es dringend erforderlich, ihnen eine Möglichkeit zur Ableitung impliziter Absichten aus expliziten Formulierungen eines Benutzers zu geben. Die Verbalisierung allen impliziten Wissens, dessen sich ein Mensch zum Verstehen von Aussagen bedient (sein „gesunder Menschenverstand“ oder das, was eben „jedes Kind weiß“), stellt jedoch eine bisher unlösbare Aufgabe dar. Da auch Menschen derartiges Wissen nicht explizit beigebracht bekommen, sondern durch Erfahrung erwerben, ist es sinnvoll, Rechnern die Möglichkeit zu einem ähnlichen Lernprozess zu geben, um so eine natürlichere und menschennähere Kommunikation zu ermöglichen. Vorlage für derart lernende Software können möglicherweise Theorien aus der Lern- und Gedächtnispsychologie oder Erkenntnisse aus der Hirnforschung allgemein sein. In die letzte Gruppe der Anwendungen fällt auch der hier beschriebene Ansatz. Seine Einordnung in die Hierarchie der Ansätze ist in Abb. 1 verdeutlicht. In ihr entspricht jeder der Ringe einer möglichen Unterteilung aller Ansätze, wobei weiter außen stehende Ringe feinere Unterteilungen darstellen. Eine weitere Unterteilung der Kategorien nach der dritten Ebene ist, wie in Abb. 1 angedeutet, nicht nötig, da alle weiteren Subkategorien lediglich konkurrierende Ansätze auf dem jeweils übergeordneten Gebiet bezeichnen würden. Wie leicht zu erkennen ist, zieht sich die Menge der potentiellen Bionikanwendungen quer durch die Interessengebiete der Informatik. Noch zu oft wird dem wenig Beachtung geschenkt, doch Tatsache ist, dass zwar die Technik der heutigen Computerhardware immer komplexer und leistungsfähiger wird, jedoch die Möglichkeiten einer Leistungssteigerung der Software durch Nachahmung „natürlicher DVProzesse“ bei weitem nicht ausgeschöpft sind.
Abb. 1. Ansätze in der „Infobionik“
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3. Vision Ein Feld, auf dem bisher recht wenige bionische Ansätze existieren, ist die Datenverwaltung. Sie fällt laut unserer Kategorisierung in den Bereich „Datenorganisation“. Tatsächlich fällt es im Gegensatz zum Ergonomiebereich auf den ersten Blick schwer, einen potentiellen Nutzen zu erkennen. Klassische Probleme der DB-Anwendungen sind Konsistenz des Datenbestands, Gewährleistung der Vollständigkeit aller Datensätze oder die Integration multimedialer Daten. Prinzipiell sollen alle gespeicherten Daten jederzeit korrekt, vollständig und mit möglichst geringem Aufwand (z.B. an Zeit) für den Benutzer abgerufen werden können. Das Gedächtnis als biologisches Analogon scheint hier ein wenig geeignetes Vorbild für leistungsfähigere Datenbanken zu sein. Schließlich hat jeder schon oft die Tücken des eigenen Gedächtnisses erlebt: wichtige Fakten sind – oft in Stress-Situationen – eben nicht abrufbar, sind vergessen und tauchen, falls überhaupt, erst viel zu spät wieder im Bewusstsein auf. Noch schlimmer, manche Erinnerungen sind schlichtweg falsch, z.B. aufgrund einer Verwechslung, oder nur noch sehr ungenau, insbesondere wenn sie lange zurückliegende Ereignisse betreffen. Nicht umsonst gibt es die bekannte Redewendung vom Gedächtnis, das uns „Streiche spielt“. Auch die Kapazität des Gedächtnisses scheint verglichen mit der moderner Datenträger eher mager: wer kann sich auch nur einen Bruchteil der Daten behalten, die in einer Datenbank abgelegt sind? Warum also sollte ein derart fehleranfälliges System konzeptionelle Vorteile vor den bewährten Speicherlösungen bieten? Hierzu muss beachtet werden, wo die nicht ganz so offensichtlichen Schwächen der technologischen Datenspeicher liegen. Letztendlich ist ihr Nutzen durch die Menge der Informationen begrenzt, die sie menschlichen Benutzern vermitteln können. Das Problem setzt sich also aus den Teilproblemen Datenspeicherung, -präsentation und -organisation zusammen. Gerade das letzte Feld ist jedoch bisher nicht Gegenstand eines gesteigerten Interesses gewesen. Alle bestehenden Lösungen orientieren sich an der Zielsetzung, Daten jederzeit vollständig und konsistent zur Verfügung zu stellen. Viele tragen auch der Erkenntnis Rechnung, dass eine Präsentation in einer leicht verständlichen (z.B. graphischen) Form Vorteile bietet. Die tatsächliche Strukturierung der gespeicherten Daten dagegen ist selten für den menschlichen Benutzer optimiert. Zwei Fragen müssen sich DB-Entwickler neuerdings stellen: erstens orientiert sich die klassische Einteilung von Daten in Verzeichnisbäume, Archive u.ä. Konstrukte an der Arbeitsweise des Rechners und hat wenig mit der meist semantisch (auf den Inhalt bezogen) ausgerichteten Strukturierung von Daten im menschlichen Gedächtnis zu tun. Zweitens muss ernsthaft gefragt
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werden, ob eine vollständige Speicherung aller jemals eingespeisten Daten tatsächlich wünschenswert ist. Die Ausrichtung der Datenstrukturierung und damit auch der Präsentation nach hauptsächlich syntaktischen (auf die Form bezogenen) Merkmalen – ein Anordnen von Dateien nach dem Alphabet, nach dem Datum der Erstellung oder der Dateigröße – erlaubt einen schnellen Zugriff durch den Rechner selbst, wenn der Benutzer derartige Merkmale angeben kann, die seinen Informationsbedarf umschreiben. So ist es beispielsweise leicht möglich, eine Datei zu finden, wenn deren Name bekannt ist. Häufig aber kann ein Benutzer zwar inhaltlich sehr genau definieren, welche Daten benötigt werden, etwa „die Gehaltsabrechnungen des letzten Monats“, hat jedoch nicht das Wissen um den entsprechenden Suchschlüssel wie Dateioder Verzeichnisname. Damit werden gespeicherte Informationen zu nutzlosen Daten, weil semantisch orientierte Zugriffsmechanismen fehlen. Wie Abb. 2 zeigt, können sowohl bei der „Übersetzung“ einer ursprünglich semantisch orientierten Anfrage in eine rechnerspezifische Form durch den Benutzer als auch bei der Bearbeitung derselben und bei der Interpretation der Antwort „Reibungsverluste“ entstehen, so dass die Kommunikation Mensch-Rechner stark beeinträchtigt ist.
Abb. 2. „Reibungsverluste“ bei der Mensch-Maschine-Kommunikation
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Eng mit dieser Frage zusammenhängend ist die nach dem Umfang von Datenbanken. In Anbetracht der stetig wachsenden Datenproduktion durch Wissenschaft, Wirtschaft, sonstige Institutionen und zunehmend auch Einzelpersonen ist die klassische Vorgehensweise des „alles speichern“ nicht mehr sinnvoll. Auch wenn die Haltung derart großer Datenmengen technisch machbar ist, so wird mit wachsender Größe einer Wissensbasis die Suche nach bestimmten Daten immer komplexer. Hinzu kommt, dass Großteile der produzierten Daten nicht genutzt werden und also gar nicht gespeichert werden müssten. In diesem Licht betrachtet erscheint die biologische Einrichtung des Vergessens durchaus ihre Berechtigung zu haben. Menschliche Gehirne z.B. werden fast ununterbrochen mit einer Vielzahl von Daten überschüttet, die ihnen diverse Sinnesorgane zuführen. Für sie ist die Filterung der Datenströme, das Unterscheiden wichtiger und unwichtiger Informationen lebenswichtig, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Offensichtlich existiert hier also eine Lösung für ein Problem, das in der Informatik erst jetzt zunehmend als solches erkannt wird. Im Folgenden soll die Vision einer Benutzerschnittstelle entwickelt werden, um den möglichen Nutzen einer biologischen Orientierung bei der Softwareentwicklung zu verdeutlichen. Ziel der Benutzerschnittstelle ist es, Laien eine Möglichkeit zur Suche in einer Datenbank zu geben, ohne ihnen entsprechendes Vorwissen abzuverlangen. Üblicherweise ist zur erfolgreichen Datensuche eine grundlegende Kenntnis sowohl der betreffenden Domäne als auch der Struktur der Datenbank notwendig. Ohne ein solches Wissen wird die exakte Formulierung einer Anfrage unmöglich, die wiederum Voraussetzung für die Identifizierung und Beschaffung der gesuchten Daten ist. Das benötigte Vorwissen wird mit wachsender Komplexität der Domäne größer. Daher verfolgt die betrachtete Schnittstelle hauptsächlich zwei Ziele. Zum einen soll es Benutzern ermöglicht werden, den Datenraum zu durchsuchen, ohne eine Anfrage durch die Angabe syntaktisch orientierter Kriterien zu formulieren, d.h. gewünscht ist eine „intuitive Bedienbarkeit“. Zum anderen soll das System in der Lage sein, nicht benötigtes Wissen zu identifizieren und analog dem biologischen Gedächtnis zu „vergessen“, um so die verwaltete Datenmenge zu verringern, ohne auf relevante Daten zu verzichten. Die Basis des Systems bildet eine graphische Schnittstelle, die eine schnell erfassbare Repräsentation des Datenraumes bietet und ein „Verfolgen“ thematischer Stränge durch die Datenmenge möglich macht. Der Vergessensmechanismus wiederum kann auf einer statistischen Auswertung des Benutzerverhaltens aufbauen: Themenstränge, die häufig auf der Suche nach relevanten Daten verfolgt wurden, bieten offenbar gute Anhaltspunkte für eine Suche und sollten dementsprechend beibehalten wer-
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den, während selten oder nie besuchte Stränge im Laufe der Zeit aus der Datenbasis gelöscht werden können.
4. Grundlagen Die oben genannte Benutzerschnittstelle verwendet zwei grundlegende Konzepte für die Organisation des Datenraumes: Entitäten und Lifestreams oder Lebensläufe. • Eine Entität ist definiert als „etwas, womit man Dokumente und Dateien assoziieren kann“. Dies können reale Entitäten wie z.B. Personen, Geräte oder Räume oder auch abstrakte Entitäten wie Ereignisse oder Prozesse sein. So kann man beispielsweise einer Person sicherlich all jene Textdokumente zuordnen, deren Autor sie ist. Genauso ist eine Assoziation der Person mit all jenen Bilddateien möglich, die Aufnahmen derselben zeigen. Die entsprechenden Bilder können jedoch auch z.B. mit dem Raum assoziiert werden, in dem sie aufgenommen wurden. • Ein Lifestream oder Lebenslauf einer Entität setzt sich aus der Menge aller Dokumente zusammen, die mit der entsprechenden Entität auf irgendeine Weise assoziiert sind. Die Beziehung zwischen Entitäten und Lebensläufen ist eine 1:1-Beziehung, d.h. jeder Entität ist genau ein Lebenslauf zugeordnet und umgekehrt. Das Lebenslaufkonzept hat dem Projekt zur Implementierung der beschriebenen Schnittstelle seinen Namen, LifeStreams, gegeben. Zur Realisierung der Schnittstelle ist neben der eigentlichen Visualisierung eine Akquisition geeigneter Daten notwendig. Diese umfasst die Erfassung nicht nur der zu verwaltenden Dokumente selbst, sondern auch zugehöriger Metadaten. Metadaten sind Informationen über Daten. Das heißt im Falle einer Datei sind das Erstellungsdatum, die Dateigröße, das Format, der Autor usw. als Metadaten anzusehen. Da die Schnittstelle semantische Zusammenhänge zwischen Dokumenten darstellen soll, müssen diese für den Rechner in irgendeiner Weise erkennbar sein. Semantische Beziehungen zwischen Objekten (wie z.B. „Datei A ergänzt Datei B“) sind jedoch sehr viel schwerer konkret zu beschreiben als syntaktische (wie z.B. „Datei A hat denselben Namen wie Datei B.“). Um trotzdem mit semantischen Beziehungen arbeiten zu können, müssen diese aus Metadaten abgeleitet werden. Einer solchen Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass semantisch zusammenhängende Entitäten bzw. die ihnen zugeordneten Dateien auch Übereinstimmungen bezüglich der Metadaten aufweisen. Der Umkehrschluss dieser Annahme (Ähnlichkeit der Metadaten weist auf se-
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mantische Verwandtschaft hin) ist nicht in allen Fällen, aber sehr oft korrekt. So kann man z.B. mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass zwei Personen (Entitäten) sich kennen (eine semantische Beziehung), wenn Bilder dieser beiden (zugeordnete Dateien) häufig bei denselben Gelegenheiten aufgenommen wurden (Übereinstimmung der Metadaten Zeit und Ort der Aufnahmen). Im Allgemeinen ist es sogar zulässig, einen höheren Grad an Übereinstimmung bei den Metadaten anzunehmen, wenn eine engere Verwandtschaft der Entitäten besteht. Diese Tatsache nutzt die Schnittstelle aus, um eine Menge von Dokumenten graphisch darzustellen. Die Abbildung der Dokumente erfolgt aus der Dokumentmenge heraus in den dreidimensionalen Raum. Auf diese Weise können ganze Datenbanken in einer Übersicht zusammengefasst werden. Das Prinzip ist äußerst einfach: aus der Menge der zu den Dateien verfügbaren Metadaten werden drei ausgewählt. Jedes Metadatum kann nun auf eine der drei Raumachsen abgebildet werden. Der Vorgang kann anhand eines Beispiels (Abb. 3) verdeutlicht werden.
Abb. 3. Schema der Abbildung von Dokumenten
Um eine Menge X von Dokumenten im Raum darzustellen, sind zunächst die erwähnten drei Metadatentypen auszuwählen. Im Beispiel sind dies das Erstellungsdatum und das Format der Dateien als zwei allgemein-
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gültige sowie ein Vertraulichkeitsmaß als anwendungsspezifisches Beispieldatum. Jedes Dokument wird im dreidimensionalen Raum als Punkt oder Kugel dargestellt. Seine Position hängt von den Werten der zugehörigen Metadaten ab. Eine der drei Raumachsen bildet eine Skala für das Datum. Die Abbildung ist einfach, das älteste Dokument wird auf den Nullpunkt dieser Skala abgebildet, alle anderen Dokumente erhalten Positionen entsprechend ihres Alters. Im Falle des Formats als zweiter Dimension muss anders vorgegangen werden. Es existiert nur eine gewisse Anzahl von verschiedenen Formaten, und zwei Formate lassen sich bezüglich ihrer Ähnlichkeit nicht so leicht vergleichen wie zwei Zeitpunkte (bei denen die Abweichung als die Differenz der Zeitwerte ausgedrückt werden kann). Daher ist für ein Metadatum wie das Dateiformat eine Nominalskala zu verwenden, die im Allgemeinen wegen der fehlenden Ordnung innerhalb der Menge der Formate dem System vorgegeben werden muss. Abb. 3 zeigt eine beispielhafte Formatskala. Im Falle des Vertraulichkeitsmaßes sind zwei Möglichkeiten denkbar: ist das Vertraulichkeitsmaß als ein reeller Wert definiert und berechenbar, kann eine kontinuierliche Skala ähnlich der Zeitskala verwendet werden. Sind mehrere nominale Vertraulichkeitswerte wie z.B. „unbedenklich“, „kritisch“, „geheim” u.ä. definiert, ist analog der Formatdimension zu verfahren. Über alle drei Dimensionen gesehen werden Dokumente in der Darstellung nahe beieinander liegen, wenn sie in allen drei Metadatentypen geringe Unterschiede aufweisen, also z.B. in ähnlichen Formaten, in kurzen Zeitabständen und mit ähnlich hoher Vertraulichkeit gespeichert wurden. Dokumente mit größeren Unterschieden in einer oder mehreren der Metadatenkategorien dagegen finden sich in weit voneinander entfernten Regionen des dargestellten Dokumentenraumes. Der schon erwähnten Annahme folgend kann nun geschlossen werden, dass in der graphischen Darstellung nahe beisammen liegende Dokumente mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit „etwas miteinander zu tun haben“. Durch die Auswahl der drei Metadatentypen ist ein Benutzer in der Lage, Einfluss auf die „Sortierungskriterien“ der Darstellung zu nehmen. Er kann sich zeitliche, räumliche, formatbezogene, sicherheitsrelevante oder grundsätzlich andere Zusammenhänge aus der jeweiligen Darstellung erschließen. Hat er dies getan, erlaubt ihm die Schnittstelle, von einem beliebigen Dokument ausgehend die Datenbank zu „durchstöbern“, ohne im vorhinein sein Ziel genau zu formulieren oder auch nur kennen zu müssen. Dabei kann er aufgrund der räumlichen Anordnung der Dokumente jeweils das aktuelle mit benachbarten assoziieren, diese betrachten und sich auf diese Weise schrittweise an gesuchte Dokumente herantasten. Es ist außerdem sinnvoll, die während des Suchvorgangs genutzten Pfade durch den Dokumentenraum statistisch auszuwerten und für einen gedächtnis-
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psychologisch inspirierten Speicherbereinigungsmechanismus zu verwenden. Dokumente, die häufig als nützliche Assoziation zu gesuchten Daten verwendet werden, tragen viel zu der dem Dokumentenraum überlagerten semantischen Strukturierung bei. Sie sind demnach relevante Daten und sollten im Speicher verbleiben. Dokumente, die selten von einem Nutzer bei einer Suche genutzt werden, also wenige nützliche Assoziationen anstoßen, können im Laufe der Zeit aus dem Speicher verschwinden, da ihr Nutzen begrenzt ist. Dieser Mechanismus ähnelt dem beobachteten Verhalten natürlichen Gedächtnisses: Daten, die lange Zeit nicht abgerufen oder durch Abrufen verwandter Daten „aktiviert“ werden, verblassen mit der Zeit. Es bietet sich ein Alterungsverfahren an, bei dem grundsätzlich alle Daten einer Alterung unterliegen und im Falle eines Abrufes durch einen Benutzer wieder „verjüngt“ bzw. konsolidiert werden. Ein mögliches Verfahrensschema zeigt Abb. 4.
Abb. 4. Biologisch inspirierter Speicherbereinigungsmechanismus
5. Probleme Ein System wie das beschriebene birgt trotz seiner Möglichkeiten auch neue Probleme in mehreren Bereichen, so z.B. solche technischer Natur,
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etwa bei der Frage nach der graphischen Präsentation des Dokumentenraums. Zwar ist das Prinzip der ähnlichkeitserhaltenden Abbildung – ähnliche Dokumente werden eng beisammen liegend dargestellt, unähnliche weit voneinander getrennt – auch schon bei anderen Systemen recht erfolgreich eingesetzt worden (etwa im Falle von SOMLib [10], oder allgemein beim sogenannten Clustering, z.B. [8]), doch ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten bei den Details der Realisierung, insbesondere beim Problem der Skalierung. Wie sind die Maßstäbe der einzelnen Raumachsen im Verhältnis zueinander zu wählen? Soll auf einer Achse für die Zeit eine Längeneinheit einer Minute entsprechen oder einem Tag? Stellt eine Längeneinheit der Raumachse einen Meter oder einen Kilometer dar, wenn die Achse nicht gar nominal ist (also z.B. nur zwischen einzelnen Räumen unterscheidet)? Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass eine starke Verzerrung des dargestellten Dokumentenraums die optisch erfassbare „Nachbarschaftsbeziehung“ zwischen verwandten Dokumenten aufheben kann. Eine zweite offene technische Frage ist die Anzahl der darstellbaren Informationen. Wie schon erwähnt ist die gleichzeitige Darstellung von drei Metadatentypen räumlich möglich. Doch kann es vorkommen, dass eine vierte Information in derselben graphischen Repräsentation deren Aussagekraft erhöhen würde oder dass ein Metadatentyp auf zwei Dimensionen abgebildet wird. Letzterer Fall ist insbesondere denkbar, wenn man auch Stichworte als Metadaten ansieht, die den Inhalt eines Dokumentes beschreiben. Die üblichen Ansätze zur graphischen Darstellung einer nach Stichworten geordneten Dokumentenmenge verwenden zwei Dimensionen, um etwa Dokumentenmengen korrekt abbilden zu können, deren Elemente paarweise miteinander verwandt sind, so dass sich ringförmige Strukturen ergeben. Die Situation ist in Abb. 5 dargestellt. Eine mögliche Lösung stellt die Einführung eines zusätzlichen graphischen Hilfsmittels wie z.B. Farbe, Sättigung o.ä. dar. Hierbei muss jedoch die eingeschränkte Verwendbarkeit mancher Präsentationsmittel einkalkuliert werden, da die Schnittstelle nach Möglichkeit universell zur Darstellung von Ähnlichkeiten aller möglichen Metadatentypen nutzbar sein soll. So ist etwa die Transparenz von dargestellten Dokumenten gut geeignet, um das Alter von Dateien zu repräsentieren (ältere Dokumente erscheinen z.B. durchsichtig), jedoch völlig unbrauchbar für die Darstellung des Formats einer Datei. Farbe als Hilfsmittel kann dagegen sehr schnell unübersichtliche Visualisierungen schaffen, die nur schwer interpretierbar sind, und zieht nebenbei die Notwendigkeit für Sonderlösungen im Falle von farbenblinden Benutzern nach sich. Ähnlich eingeschränkt ist die Eignung von Form, Sättigung oder Größe der Dokumenticons.
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Abb. 5. Darstellung ringförmiger Strukturen
Außerdem ist zu beachten, dass eine Notwendigkeit zur Betrachtung komplexer Strukturen in zwei Dimensionen nicht in jedem Falle gegeben ist. Bei bestimmten Anwendungen ist es vorstellbar, dass lediglich einfache Zyklen gegen die Verwendung nur einer Dimension zur Darstellung eines Metadatentyps sprechen. Im Fall einer zyklischen Struktur kann jedoch auf eine zweite Dimension zur korrekten Darstellung verzichtet werden. Die virtuelle Verbindung der beiden Endpunkte einer Achse erzeugt das Äquivalent eines Rings. Das Prinzip verdeutlicht Abb. 6.
Abb. 6. Verwendung einer virtuellen Zusatzdimension
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Der Benutzer sieht jeweils einen Ausschnitt des Dokumentenraums. Bewegt er sich auf der virtuell zum Ring geschlossenen Achse lange genug in eine Richtung, so ist er wieder am Ausgangspunkt seiner Suche. Damit ist eine ringförmige Struktur unter Verwendung einer einzigen Dimension korrekt abgebildet. Schließlich gibt es weitere Möglichkeiten, Dimensionen „einzusparen“: so ist z.B. die gleichzeitige Darstellung desselben Dokumentenraums in mehreren parallel zu betrachtenden Fenstern denkbar, wobei in jedem Fenster andere Metadatentypen die Ordnung der Dokumente bestimmen. Genauso könnte argumentiert werden, dass in bestimmten Situationen ein schneller Überblick des Dokumentenraums weitaus wichtiger ist als die Detailstufe der Darstellung, so dass eventuell sogar komplexe Strukturen (unter Verlust von Information) in einer Dimension dargestellt werden dürften. Ein weiteres Problem stellt momentan die mangelnde Eignung der Schnittstelle für Spezialisten dar. Sicherlich bietet sie in der beschriebenen Form ein geeignetes Suchwerkzeug für Benutzer, die nicht in der Lage sind, ihren Informationsbedarf in der herkömmlichen Art exakt zu formulieren. Doch muss man bei einer Analyse der Brauchbarkeit auch beachten, dass in vielen Fällen Anfragen an Datenbanken von Spezialisten formuliert werden, die durchaus Großteile ihres Spezialgebietes überblicken. Für diese bedeutet ein langsames, da stark dialogbasiertes Herantasten an Informationen eher eine Einschränkung, die den Suchvorgang verlangsamt. Um eine Verwendbarkeit für alle Benutzergruppen zu erreichen, sind entsprechende Modifikationen notwendig. Denkbar sind z.B. optionale Suchoptionen für geschulte Benutzer, deren Bedienung komplexer ist, jedoch mächtigere Werkzeuge bietet. Die Automatisierung der Entscheidung zwischen Speichern und Löschen von Daten schließlich erfordert – insofern sie sich überhaupt vollständig realisieren lässt – sowohl umfangreiche Tests auf technischer Ebene als auch Überzeugungsarbeit in Bezug auf die Benutzer. Sicherlich wird man auch einer sehr zuverlässig arbeitenden Software im Vorfeld mit großer Skepsis begegnen. Schließlich müssen zahlreiche rechtliche Fragen geklärt werden: wer trägt die Verantwortung, wenn versehentlich wichtige Daten „vergessen“ werden, etwa Kontostände, medizinische Untersuchungsergebnisse oder Konstruktionsunterlagen? Und wen trifft im Gegenzug die Schuld, wenn datenschutzrechtlich kritische Informationen nicht gelöscht wurden? Es ist fraglich, ob eine vollkommen autarke Software (unabhängig von der Machbarkeitsfrage) überhaupt gewünscht ist. Vielmehr könnte eine halbautomatische Lösung günstiger sein, bei der dem Benutzer Vorschläge zur Löschung von Datensätzen gemacht werden, denn es wird bei einem völlig unüberwachten System immer die bange Frage bleiben, ob nicht vielleicht doch ein Fehler unbemerkt aufgetreten ist. Auch für ein an das menschliche Gedächtnis
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angelehntes Werkzeug muss letztendlich der alte Merksatz beachtet werden, dass Irren menschlich ist.
6. Verwandte Ansätze Es muss erwähnt werden, dass die Idee einer „menschennahen“ Kommunikation zwischen einem Information suchenden Benutzer und einer Wissensbasis bereits Gegenstand vielfältiger Bemühungen gewesen ist, die teilweise sehr brauchbare Ergebnisse produziert haben. Genannt seien beispielhaft einige Ansätze auf dem Gebiet der explorativen Datenanalyse oder interaktiven Datenexploration: LifeStreams sehr ähnlich ist das SOMLib-System [10]. Es verwendet sogenannte selbst organisierende Karten (SOMs), ein neuronales Netzwerkmodell, um Dokumente einer Dokumentensammlung räumlich in einer Ebene anzuordnen. Die Ordnung beruht dabei auf einer statistischen Analyse der in den Dokumenten vorkommenden Stichwörter. Ziel ist die automatische Erstellung einer Struktur, die der einer Bibliothek ähnelt. Hauptunterschied zur LifeStreams-Idee ist die Beschränkung auf zwei Dimensionen bei der Darstellung sowie auf Stichworte bezüglich der verwendeten Metadaten. Eine Weiterentwicklung der SOMs stellt das Generative Topographic Mapping [4] dar. Eng mit dem beschriebenen Ansatz verwandt ist das Information Visualization Project [11], das Informationen ebenfalls dreidimensional darstellt und sich vor allem darauf konzentriert, wie viele Daten zu einem Zeitpunkt sichtbar gemacht werden können. Auf sogenannte Clustering-Algorithmen basiert das Projekt BiblioMapper [12], während BEADS [6] dem Multidimensional-Scaling-Ansatz folgt. Obwohl sie sich in der Methodik also von den oben genannten unterscheiden, haben beide auch die Strukturierung von Dokumentmengen zum Ziel. Viele andere Ansätze hat die Entwicklung im HCI-Umfeld erbracht (HCI: Human-Computer-Interaction, d.h. Mensch-Computer-Interaktion). Sie alle haben – wie auch der LifeStreams-Ansatz – die Erleichterung der Kommunikation und die Vermeidung von Fehlerquellen auf den Kommunikationskanälen zum Ziel und suchen dieses dadurch zu erreichen, dass sie einen Rechner in die Lage versetzen, Informationen in einer möglichst intuitiv verständlichen Form zu präsentieren und Anfragen in einer umgangssprachlich orientierten Form zu „verstehen“. Dazu verwenden sie zwangsläufig Organisationsmethoden für ihre Daten, die zu entschlüsseln einem Menschen leicht fällt, die also wahrscheinlich seiner „internen“ Datenstrukturierung nahe kommen. Damit folgen all diese
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Systeme, ohne gedanklich von der bionischen Idee auszugehen, letztendlich bionischen Ansätzen.
7. Ausblick Fasst man die Einsichten aus den eingangs gemachten Überlegungen zu möglichen Einsatzgebieten „bionischer Informatik“ und diejenigen aus der Betrachtung der zahlreichen als bionisch zu bezeichnenden Aktivitäten in der Informatik selbst zusammen, so ergibt sich ein durchaus positives Bild. Zwar ist (von beiden Seiten) häufig ein „Neuerfinden des Rades“ zu beobachten, das sich durch einen gelegentlichen Blick über den fachspezifischen Tellerrand vermeiden ließe. Doch die zunehmende Realisierung der Tatsache, dass Verbindungen zwischen den Wissenschaften bestehen, lässt darauf hoffen, dass sich Vertreter beider in Zukunft stärker aufeinander zu orientieren werden. Aus einer engeren Zusammenarbeit zwischen Spezialisten beider Seiten könnte eine ähnlich erfolgreiche und fruchtbare neue Sparte der Wissenschaft entstehen, wie dies auf anderen Gebieten bereits der Fall war. Die Möglichkeiten einer solchen Infobionik sind zum momentanen Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen. Literatur [1] Aliev R, Walter K, Bonfig KW, Aliew F (2000) Soft Computing. Eine grundlegende Einführung. Verlag Technik [2] Azvine B, Azarmi N, Nauck DD (Hrsg) (2000) Intelligent Systems and Soft Computing: Prospects, Tools and Applications. Springer, Berlin Heidelberg [3] Badre A, Schneiderman B (1984) Directions in Human Computer Interaction. Ablex Publishing Corporation [4] Bishop C, Svensen M, Williams CKI (1998) GTM: The Generative Topographic Mapping. Neural Computation 10 (1): 215–234 [5] Brooks R (2002) Menschmaschinen: Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen. Campus Verlag [6] Chalmers M, Chitson P (1992) Bead: Exploration in information visualization. In: Proc. of the 15th Annual Int’l. ACM SIGIR Conf., Copenhagen, Denmark, pp 330–337 [7] Craig JJ (2002) Introduction to Robotics. Addison Wesley, 3. Auflage 2001/2 [8] Handl J, Meyer B (2002) Improved Ant-Based Clustering and Sorting in a Document Retrieval Interface. In: Merelo Guervós JJ et al. (eds) PPSN VII, LNCS 2439. Springer, Berlin Heidelberg, pp 913–923 [9] Kelly K (1994) Out of Control. Perseus Books, Reading [10] Rauber A, Merkl D (1999) SOMLib Digital Library System. In: ECDL 1999, Proceedings of the Third European Conference on Research and Advanced Technology for Digital Libraries, Paris, pp 323–342 [11] Robertson G, Card S, Mackinlay J (1993) Information visualization using 3d interactive animation. Communications of the ACM 36: 57
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[12] Song M (1998) BiblioMapper: A cluster-based information visualization technique. In: IEEE Symposium on Information Visualization (INFOVIS ’98), North Carolina [13] Stary C (1996) Interaktive Systeme. Software-Entwicklung und Software-Ergonomie. Vieweg Verlagsgesellschaft
Neurobionik – Prothetik, Biohybride und intelligente Algorithmen Harald Luksch Zentrum Bionik, Institut für Biologie II, RWTH Aachen
Zusammenfassung Der Bereich der Neurobionik kann eingeteilt werden in die Neuroprothetik, die Biohybridelemente und den Rechenvorschriften, mit denen die Natur Informationsverarbeitung betreibt. In allen diesen Bereichen hat es in den letzten Jahren einen enormer Fortschritt gegeben, der hier anhand von verschiedenen Beispielen skizziert wird. Durch das zunehmende Verständnis der biologischen Elemente sowie den technische Fortschritt im Bereich Miniaturisierung und Materialien ist zu erwarten, dass die Neurobionik in den kommenden Jahren eine Führungsrolle in der bionischen Forschung beanspruchen wird.
Abstract The field of neurobionics can be subdivided into neural prosthetics, biohybrid elements and the algorithms derived from natural information processing systems. Throughout these fields, tremendous progress has been achieved over the last years, the extent of which is sketched here along several examples. In the future, the increase in the understanding of biological mechanisms as well as the progress in technical areas such as miniaturization and materials science suggests a leading role of neurobionics among bionic research in general.
1. Einleitung Die Bionik hat in den letzten Jahren in immer stärkerem Maße sowohl in der Forschungslandschaft als auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit Präsenz gewonnen. Während jedoch die öffentliche Diskussion und die Medien den klassischen Beispielen der Bionik (z.B. dem Lotuseffekt) sehr aufgeschlossen gegenüber sind, wird der Bereich der Neurobionik durchaus kontrovers diskutiert. Die Gründe dafür sind vielfältig, lassen sich aber zusammenfassen in dem Unbehagen des Menschen, technische Eingriffe in das menschliche Gehirn zuzulassen. Spontane Assoziationen mit der Neurobionik beinhalten unsterbliche Gehirne, Gedankenkontrolle, Mensch-
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Maschine-Zwitterwesen und die Manipulation von geistigen Fähigkeiten. Aber sind diese (Schreckens-)Visionen wirklich Ziel neurobionischer Forschung? In dem vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, die verschiedenen Bereiche der Neurobionik darzustellen und die Entwicklungspotenziale aufzuzeigen. Eine klare Definition der Neurobionik ist bislang nicht gegeben. Ausgehend von der Grundidee der Bionik als „Lernen von der Natur für eigenständiges technisches Handeln“ (W. Nachtigall) sollte neurobionische Forschung die Grundlagen und Prinzipien neuronaler Informationsverarbeitung untersuchen und daraus Anregungen für die Implementierung technischer Systeme in Robotik und Automatisierung ableiten. Allerdings wird in der öffentlichen Wahrnehmung Neurobionik primär mit Neuroprothetik assoziiert; unter anderem durch Publikationen, die diesen Blickwinkel einnehmen [1]. Ich werde hier einen etwas breiteren Ansatz vertreten und die neurobionische Forschung untergliedern in 1. Neuroprothetik, 2. Hybridtechnologie sowie 3. Neurobionik (i.e.S.). 2. Neuroprothetik Bereits im Mittelalter ist versucht worden, verloren gegangene Körperfunktionen und –teile beispielsweise mit den eisernen Armprothesen zu ersetzen. Erst das zunehmende Verständnis des Nervensystems im 20. Jahrhundert erlaubte es allerdings, einen direkten Zugriff auf die peripheren und zentralnervösen Bestandteile des Nervensystems vorzunehmen und dadurch einerseits zerstörte Sinnesepithelien zu ersetzen und andererseits eine unmittelbare Ansteuerung mechanischer Prothesen zu erzielen. Eine vollständige Beschreibung der Neuroprothetik kann hier nicht geleistet werden; dazu sei auf die oben aufgeführten Publikationen hingewiesen. Ich möchte hier lediglich exemplarisch einige Beispiele aufführen, die bereits verbreitet sind oder in näherer Zukunft zum Einsatz kommen könnten.
2.1. Cochlea-Implantate und Hirnstammprothesen In Deutschland leiden etwa drei Millionen Menschen an einer InnenohrSchwerhörigkeit, die mit herkömmlichen Hörgeräten nicht behoben werden kann. Meist liegt der Grund dafür in einer irreversiblen Schädigung der Haarsinneszellen im Hörorgan, der Cochlea oder auch Schnecke. Da die zum Zentralnervensystem führenden Nerven in diesen Fällen noch intakt sind, kann durch eine direkte Elektrostimulation der Nervenendigungen die fehlende Sinnesübertragung ersetzt werden. Schallsignale werden durch ein Mikrophon aufgefangen, in ihre Frequenzanteile zerlegt und die-
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ses Signal durch Bündel von Elektroden frequenzspezifisch an die Nervenendigungen übertragen. Trotz der vergleichsweise groben Aufspaltung in maximal 22 Frequenzkanäle vermitteln diese Implantate ihren Trägern einen relativ guten Höreindruck und ermöglichen ihnen nach einer mehrmonatigen Trainingsphase, sich im Alltag zu orientieren. Die aktuelle Forschung in diesem Bereich konzentriert sich vor allem darauf, die technische Vorverarbeitung des Signals, also die Aufbereitung des vom Mikrophon aufgefangenen Signals, zu optimieren. Dabei werden zunehmend auch Algorithmen aus der neurobiologischen Forschung eingesetzt. Der große Erfolg der Cochlea-Implantate ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass im Innenohr eine vergleichsweise einfache Abbildung der akustischen Signale in Frequenzen erfolgt, die Prothese also an diesem Übertragungsprinzip unmittelbar ankoppeln kann. Schwieriger wird es bei pathologischen Veränderungen des Hörnerven, die beispielsweise durch Tumore hervorgerufen werden können. In diesen Fällen muss das akustische Signal direkt auf das erste zentralnervöse Zentrum, den Nukleus cochlearis, übertragen werden. Da auch in diesen Arealen eine frequenzspezifische Abbildung der Signale erfolgt, kann die gleiche technische Vorverarbeitung wie zuvor eingesetzt werden [7]. Allerdings ist die neuronale Verarbeitung im Nukleus cochlearis noch nicht präzise geklärt; hier ist noch massiver Forschungsbedarf in der Grundlagenforschung nötig, um eine adäquate Stimulation zu generieren und den Patienten einen normalen Höreindruck zu vermitteln.
2.2. Retina-Implantate Während Cochlea-Implantate bereits häufig eingesetzt werden, sind Prothesen für einen Ausfall des Sehsystems noch nicht marktreif. Problematisch ist vor allem die noch weitgehend unverstandene Vorverarbeitung optischer Signale in der Netzhaut des Auges. Nicht nur die Anzahl der Sinneszellen ist mit über 120 Millionen sehr hoch, auch die Vorverarbeitung des Signals in der Retina bis zu den ins Gehirn projizierenden Ganglienzellen ist hochkomplex. Allerdings ist diese Vorverarbeitung nicht bei allen Erkrankungen des Auges zerstört. Wenn lediglich die Lichtrezeptoren des Auges funktionsunfähig sind, kann ein relativ einfacher Mikrophotodioden-Chip unter die Retina eingepflanzt werden und die Transduktion der Lichtsignale in elektrische Signale übernehmen. Dieser Ansatz (das SubRet Projekt) koppelt also an die noch funktionsfähigen Elemente der Retina an und nutzt die noch bestehende Verarbeitung der anderen Elemente der Retina aus; problematisch ist allerdings die Energieversorgung und die mechanische Stabilisierung im Auge. Ist auch die Vorverarbeitung der Netzhaut zerstört, muss das elektrische Signal direkt auf die Ganglien-
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zellen übertragen werden (das Epiret-Projekt). Dazu wird das optische Signal durch einen photosensitiven Halbleiterchip aufgefangen, der beispielsweise in einer Brille sitzen kann. Die Signale werden aufbereitet und drahtlos auf ein Elektrodensystem im Auge übertragen, das dann die Stimulation der retinalen Ganglienzellen übernimmt; auch die Energieversorgung erfolgt drahtlos. Auch bei diesem Projekt sind unter anderem noch Stabilitätsprobleme zu lösen. Zusammenfassend hat allerdings sowohl im Subret- als auch im Epiret-Projekt die Forschung einen Stand erreicht, der einen klinischen Einsatz ermöglicht [14]. Neben den Ansätzen, das optische Signal auf der Ebene der Retina in das visuelle System einzukoppeln, gibt es auch Bestrebungen, den optischen Nerven oder die visuellen Zentren der Großhirnrinde direkt zu stimulieren. Während die Einkoppelung in den optischen Nerven vor allem mit technischen Problemen verbunden ist, ist die Stimulation des visuellen Cortex problematisch durch das immer noch unvollständige Wissen um dessen Verarbeitungsprinzipien. Trotz dieser prinzipiellen Probleme wurden die ersten cortikal ankoppelnde Prothesen erstaunlicherweise bereits vor über zwanzig Jahren in einzelne Patienten implantiert. Wenn auch bisher noch keine durchschlagenden Erfolge erzielt wurden, wird in diesem Bereich weiterhin intensiv geforscht [10].
2.3. Elektrostimulation von Zentren im ZNS Das Zentralnervensystem der Wirbeltiere ist eines der kompliziertesten Systeme, das es auf der Erde gibt. Eine direkte elektrische Stimulation zentralnervöser Zentren ist daher mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Deutlich problemloser sind Stimulationen peripherer Nerven, die bei verschiedensten pathologischen Veränderungen eingesetzt werden (z.B. Spinalnervenstimulation zur Blasen- und Schliessmuskelkontrolle bei Querschnittslähmungen, Stimulation des Nervus phrenicus bei Schädigung des Atemzentrums etc.). Es gibt allerdings einige erfolgreiche Anwendungen der direkten Elektrostimulation im Zentralnervensystem, so zum Beispiel die Linderung motorischer Blockaden bei Parkinson-Patienten. Während Parkinson-Patienten in frühen Stadien der Erkrankung sehr gut pharmakologisch therapiert werden können, lässt die Wirkung nach mehrjähriger Behandlung und in späteren Stadien nach. Eine nicht-pharmakologische Möglichkeit zur Kontrolle der typischen Bewegungsstörungen bei Parkinson wurde schon Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt: die chirurgische Zerstörung umgrenzter Areale im Gehirn minderte Zittern und Bewegungsarmut. Nach Aufklärung der zugrunde liegenden Mechanismen und Areale ist es heute möglich, diese Gehirnbereiche (im Globus pallidus oder im Nukleus subthalamicus) mit chronisch implantierten Mikroelektroden
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zu stimulieren und damit die Blockaden aufzuheben, wobei der Effekt dosierbar und reversibel ist. Das dazu notwendige System wird chirurgisch eingesetzt und hat ein Steuergerät, das wie ein Herzschrittmacher im Bereich des Schlüsselbeins unter die Haut gepflanzt wird. Über ein Magnetsystem kann die Funktion des Schrittmachers vom Patienten selber kontrolliert und auf die jeweilige Situation eingestellt werden. Während die ursprünglich im Globus pallidus eingesetzten Elektroden zum Teil kognitive Beeinträchtigungen mit sich brachten, ist nach neueren Untersuchungen die Stimulation des Nukleus subthalamicus ohne Nebenwirkungen.
2.4. Direkte Ansteuerung von Prothesen Für die Behandlung von querschnittsgelähmten Patienten gibt es eine Vielzahl von Ansätzen, die darauf abzielen, entweder die noch vorhandene Muskulatur zu stimulieren oder Prothesen zu bewegen. Eine Hauptschwierigkeit dabei ist es, den Willen des Patienten zu einer Bewegung überhaupt zu registrieren, also eine bewusste Entscheidung des Patienten umzusetzen. Der radikalste Ansatz ist, die motorischen (Bewegungs-)Muster in der Großhirnrinde zu registrieren, den Willen des Patienten also direkt aus dem Gehirn „auszulesen“. Im Tierexperiment ist es bereits gelungen, mit Multielektrodenableitungen aus dem motorischen Cortex von Affen Computermodelle zu trainieren und mit diesen einen Roboterarm in Echtzeit zu steuern [11]. Die Autoren berichteten, dass die Ableitung weniger hundert Neuronen ausreichen, um eine 90prozentige Vorhersagegenauigkeit der realen Armbewegung des Versuchstieres zu erzielen. Interessanterweise lernten die Versuchstiere nach einer Weile, ihren eigenen Arm gar nicht mehr zu bewegen, sondern den Roboterarm (der ihnen eine Belohnung in den Mund steckte) ausschließlich durch ihre „Gedanken“ zu steuern. Langfristig könnte es mit diesem Verfahren möglich sein, vollständig querschnittsgelähmten Patienten die Kontrolle ihrer Muskulatur oder von mechanischen Prothesen zu erlauben. 3. Hybridtechnologie Unter dem Begriff Hybridtechnologie versteht man die direkte Koppelung von biologischen informationsverarbeitenden Elementen (Neuronen) mit technisch hergestellten Elementen (Halbleiter-Bauteile). Bereits zu Beginn der Forschung stellten sich zwei grosse Problembereiche heraus, ein technisches und ein informationstheoretisches. Im technischen Bereich ist inzwischen viel Grundlagenforschung geleistet worden, und es ist heute möglich, verschiedenste Nervenzellen auf Silizium-Chips wachsen zu las-
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sen und eine Interaktion zwischen den Komponenten stattfinden zu lassen. Dabei waren so unterschiedliche Probleme wie die Korrosion des Halbleiters und die Schädigung der Nervenzelle zu überwinden [2]. Inzwischen ist es jedoch möglich, sogar gezielt kleine Nervennetze aus kultivierten Neuronen auf Chips wachsen zu lassen [9]. In den letzten Jahren haben sich bereits verschiedene Anwendungen dieser Technik herauskristallisiert. Biohybrid-Systeme mit unterschiedlichsten Zellen werden in der Biosensorik und dem Biomonitoring eingesetzt; die Zellen stellen dabei gewissermassen die Sensoren dar, mit dem beispielsweise Schadstoffkonzentrationen gemessen werden [8]. Darüberhinaus sind jedoch viele weitere Anwendungen absehbar, so in der Grundlagenforschung zur Erarbeitung von Entwicklungsprozessen [6]. Ist dies also die Forschung, die hinführen wird zu einem Mensch-Maschine-Zwitterwesen? Auch wenn Hollywood solche Cyborgs bereits in nächster Zukunft vermutet, ist die Realität doch eine andere. Jenseits aller technischen Probleme ist es nämlich noch völlig unklar, ob die Komponenten solcher Hybrid-Schaltkreise in der Lage sein werden, die „Semantik“ der Sprache des jeweiligen Gegenparts zu verstehen. Auch wenn beide Systeme mittels elektrischer Signale arbeiten, ist die Art der Informationsverarbeitung in einem Neuron (im Gegensatz zum Halbleiterchip) noch weitgehend unverstanden. Nach Ansicht von Fromherz, dem Pionier dieser Forschungsrichtung in Deutschland, sind die praktischen und theoretischen Schwierigkeiten der Hybridtechnologie noch so gravierend, dass ein ernsthaftes Nachdenken über „Chips im Gehirn“ oder „Gehirne im Computer“ derzeit nicht angebracht ist. 4. Intelligente Algorithmen aus der Natur Im Folgenden möchte ich den Aspekt der Neurobionik darstellen, der der ursprünglichen Definition der Bionik am weitesten entspricht: die biologische Informationsverarbeitung und daraus abgeleitete Algorithmen für die Technik. Natürlich kann dies nicht den Anspruch erheben, einen Überblick über den Stand der Forschung zu geben, ja auch nur ein einzelnes Thema in der nötigen Detailgenauigkeit wiederzugeben. Vielmehr werde ich versuchen, allgemeine Prinzipien dazu herauszuarbeiten, wie in Organismen Informationen verarbeitet werden und welche Schlussfolgerungen daraus für die technische Implementierung abzuleiten sind.
4.1. Unterschiede zu technischer Informationsverarbeitung Ein wichtiger Unterschied zwischen technischer und biologischer Informationsverarbeitung ist das Ziel der beiden. In der Technik muss es das Ziel
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sein, vorhandene Information präzise auszuwerten und nach vorgegebenen Algorithmen zu verarbeiten. Wichtig ist dabei die korrekte Zuordnung zwischen Input und Output; dies ist genau das, was die Anwender von Taschenrechnern, Kreditkarten–Lesegeräten und Computern erwarten. Das primäre Ziel von biologischen informationsverarbeitenden Systemen ist dagegen das Überleben seines Trägers und damit die Möglichkeit zur Weitergabe seiner Gene. Im Einzelfall können diese Ziele durchaus deckungsgleich sein; so ist beispielsweise eine Schleiereule zum Überleben darauf angewiesen, akustische Information hochpräzise auszuwerten. Für die Maus, die einer jagenden Schleiereule entkommen will, ist es dagegen völlig unwichtig, ihren visuellen Eindruck der anfliegenden Eule präzise zu analysieren; entscheidend für ihr Überleben ist die schnelle Reaktion auf die Gefahr. Präzision, das Kennzeichen technischer Informationsverarbeitung, ist also für biologische Systeme nur ein Aspekt von vielen. Die Vorstellung, eine biologische „Rechenvorschrift“ direkt für technische Anwendungen übertragen zu können, führt also in die Irre. Dennoch lassen sich von biologischen Systemen zahlreiche Dinge lernen; vor allem, wie mit Beschränkungen des Systems umgegangen werden kann. Beispielsweise würden Techniker zur Lokalisation einer Schallquelle eine Vielzahl von Mikrofonen mit starker Richtcharakteristik einsetzen und damit eine gute Lokalisation erreichen. Wie aber, wenn sie (wie die meisten Organismen) auf nur zwei schallaufnehmende Organe angewiesen wären und dennoch für ihr Überleben eine exzellente Orientierung auf Schallquellen benötigten?, Forschungsprojekt an der RWTH Aachen).
Abb. 1. Nervensysteme können nicht mit einer beliebig hohen „Taktrate“ arbeiten. Organismen sind daher vor die Wahl gestellt, entweder schnell oder präzise zu reagieren. Beides kann Nachteile haben: Eine schnelle Reaktion kann leicht von irrelevanten Stimuli ausgelöst werden, eine langsame Reaktion kann im Extremfall fatal sein.
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Hier haben Tiere während der Evolution eine ausgezeichnete Nachverarbeitung entwickelt, die inzwischen weitgehend verstanden ist [5] und auch bereits für Robotikanwendungen getestet wird (Calmes, Lakemeyer und Wagner, Forschungsprojekt an der RWTH Aachen). Ein weiteres Problem, für das Organismen verschiedenste Lösungen entwickelt haben, ist das Problem der Zeit. Die Daten, die durch Sinnesorgane oder Sensoren aufgenommen werden, müssen verarbeitet werden. Dies ist keine leichte Aufgabe; im visuellen System beispielsweise senden etwa 1,5 Millionen Ganglienzellen pro Auge einen kontinuierlichen Datenstrom in das Gehirn. Technische Systeme gehen dazu in vielen Fällen „offline“, können die Daten also losgelöst vom zeitlichen Fluss präzise verarbeiten und dabei zeitaufwendige Algorithmen anwenden. Bei Anwendungen, wo dies nicht möglich ist, kann alternativ dazu die Taktrate des Zentralprozessors verändert werden. Biologische Systeme haben dagegen nicht die Möglichkeit, sich aus der „Echtzeit“ auszukoppeln, da dies in den meisten Verhaltenssituationen fatal wäre. Ebenso wenig steht ihnen der Weg offen, die Geschwindigkeit ihrer Verarbeitung beliebig zu erhöhen, da die zugrunde liegenden Prozesse in neuronalen Systemen gewisse Zeitkonstanten nicht unterschreiten können. Biologische Systeme stehen daher vor dem Problem, entweder präzise oder schnell reagieren zu können (Abb. 1). Wie also lösen Organismen dieses Problem? Und was kann daraus für die Implementierung technischer Informationsverarbeitung gelernt werden? Auf den folgenden Seiten werde ich verschiedene Strategien vorstellen, mit denen Organismen mit dem Echtzeitproblem umgehen. Diese lassen sich grundlegend in Mechanismen zur Datenreduktion oder zur Verarbeitungsbeschleunigung einteilen. 4.2. Mechanismen zur Datenreduktion Eine einfache Datenreduktion beispielsweise im visuellen System ist prinzipiell durch eine Reduktion der sensorischen Elemente zu erzielen. Allerdings geht dabei natürlich auch das Auflösungsvermögen und damit die Qualität der visuellen Orientierung verloren. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, die Auflösung nur in den Bereichen hoch zu halten, in denen die wichtigen Informationen für den Organismus zu erwarten sind. Eindrucksvoll kann dieses Prinzip am Beispiel von Winkerkrabben demonstriert werden. Diese Krabben leben im Strandbereich und haben eine einfach strukturierte Umgebung, innerhalb derer sie sich visuell orientieren müssen. Relevante Informationen sind daher ausschließlich entlang des Horizonts zu erwarten; entsprechend ist die Auflösung des Komplexauges
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entlang der Horizontallinie hoch und sinkt mit zunehmendem Abstand von dieser [13]. Diese Strategie der peripheren Datenreduktion erscheint im ersten Moment sehr grob zu sein. Allerdings setzen selbst wir Menschen auf die exakt gleiche Form der Auflösungsvariation im Auge. Unser subjektiver SehEindruck ist, dass unser gesamtes Gesichtsfeld scharf und deutlich wahrgenommen wird (Abb. 2 A). Allerdings ist die Auflösung unserer Retina lediglich im Bereich der Stelle des schärfsten Sehens, der Fovea, hoch; in den peripheren Bereichen dagegen fällt sie rapide ab (Abb. 2 B). Zur Illustration: Der Bereich, in dem wir scharf und farbig sehen, ist nur etwa so groß wie eine auf Armlänge gehaltene Euro-Münze. Im restlichen Bereich der Retina ist die Auflösung geringer und auch weniger farbtüchtig. Wie aber vermeidet der Organismus, dass der eingeschränkte Bereich mit hoher Auflösung zum Überlebensnachteil wird? Schließlich werden bedrohliche Objekte meist außerhalb der Fovea im Sehfeld auftauchen. Um die Vorteile einer Fovea nicht mit einer geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit zu erkaufen, existieren daher Hilfssysteme, die die Ausrichtung der Fovea gewährleisten. Die Steuerung dieser Augenbewegungen (Abb. 2 C) erfolgt im Wesentlichen über das visuelle Mittelhirn; dort spielen sowohl kognitive als auch präkognitive Faktoren eine Rolle. Kognitive Faktoren sind beispielsweise Vorinformationen, die eine gezielte Suche bei den Suchbewegungen der Augen erlauben und im Wesentlichen vom Vorderhirn her kontrolliert werden.
Abb. 2. Illustration der Auflösung des menschlichen Auges und der ScanBewegungen des Auges. A: Subjektive Vorstellung zum Sehfeld. B: Illustration der tatsächlichen Auflösung auf der Netzhaut. C: Illustration der Abtastbewegungen (Sakkaden) des Auges, dargestellt als Linien zwischen den Positionen, an denen die Fovea kurz zur Ruhe kommt. Das hier gezeigte Muster ist nicht gemessen worden, sondern nach vergleichbaren Experimenten abgeschätzt.
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Unter präkognitiven Faktoren fallen Bewegungen, Kontraste und Farbkontraste, die zum Teil im visuellen Mittelhirn direkt in Augenbewegungen umgesetzt werden und somit unmittelbar aus der visuellen Information heraus bestimmen, wohin der Blick „fällt“.
Abb. 3. Das Gehirn verarbeitet visuelle Informationen interpretativ, also auf dem Hintergrund einer Hypothese, die durch den Kontext (hier die räumliche Konstellation) vorgegeben ist. Erst bei der Herauslösung aus dem Kontext (rechts) wird die Stärke dieser Interpretation deutlich (Abb. aus Kandel et al., Principles of Neural Science, 4. Auflage, McGraw-Hill)
Eine komplexe Form der Datenreduktion ist die Interpretation des visuellen Bildes auf der Basis von Vorinformationen. Die menschliche Wahrnehmung bezieht permanent das gesamte Wissen über die Welt ein, das in der Individualentwicklung erworben wurde, und bildet Hypothesen über die Einordnung der aktuellen Information. Am deutlichsten wird dies bei visuellen Illusionen, beispielsweise der automatischen Korrektur von Größenverhältnissen anhand der räumlichen Anordnung einer visuellen Szene. Erst wenn die wahrgenommenen Objekte aus dem jeweiligen räumlichen Kontext herausgelöst werden, wird die Stärke dieser automatischen Korrektur offensichtlich (Abb. 3). 4.3. Mechanismen zur Beschleunigung der Verarbeitung Wie oben bereits ausgeführt, haben Organismen das Problem, entweder schnell oder präzise auf sensorische Reize reagieren zu können. Die „Entscheidung“ darüber, wie das neuronale System arbeitet, sollte dabei idealerweise nicht starr sein, da je nach Verhaltenskontext sowohl eine zu lang-
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same als auch eine unpräzise Verarbeitung nachteilig sein kann. Alle höher entwickelten Organismen sind daher in der Lage, auf der Grundlage der momentanen Verhaltenssituation und ihrer Individualerfahrung Hypothesen über den zu erwartenden Verhaltenskontext zu bilden und je nach dessen Anforderungen entweder schnell oder präzise zu reagieren. Ein Beispiel für eine solche kontextabhängige Variation der Verarbeitung ist die Wahrnehmung einer Gefahr, beispielsweise einer Giftschlange auf dem Weg. In einem normalen Verhaltenskontext wird ein Europäer relativ lange benötigen, um diese Gefahrzuerkennen; ist ihm allerdings das Vorwissen gegeben worden, dass Schlangen vorhanden sein können, wird er deutlich schneller reagieren –allerdings auch auf Objekte, die einer Schlange lediglich ähnlich sehen. Vergleichbare Prozesse sind bei allen Situationen zu beobachten, in denen es auf schnelle Reaktionen ankommt. Möglich wird dies im Nervensystem durch multiple Möglichkeiten der Ankopplung von sensorischem Eingang an die Motorik (sensorischmotorisches Interface). Die schnellsten Ankoppelungsmöglichkeiten sind durch Reflexe gegeben. Nur unwesentlich langsamer sind Verschaltungen, die aus den frühen sensorischen Arealen auf die Motorik schalten. Gut untersucht ist in diesem Zusammenhang die Schreckreaktion (startleresponse) von Nagetieren auf starke akustische Stimulation. Dabei wird der Körpertonus massiv erhöht und die Muskulatur auf schnelle Reaktionen vorbereitet. Die sensorisch-motorische Schleife für diese Reaktion ist ausschließlich im Hirnstamm lokalisiert, steht aber unter Kontrolle höherer Zentren und kann in Abhängigkeit von dem Verhaltenskontext (Furcht, Entspannung) schwerer oder leichter aktiviert werden [4]. Anders formuliert: Aus der aktuellen Verhaltenssituation heraus generiert das Nervensystem eine Hypothese über die zu erwartende Situation und lässt „Abkürzungen“ unterhalb der präzisesten Analyseebene für die sensorischmotorische Interaktion zu. Für extreme Stimuli, zum Beispiel sehr laute Geräusche, sind diese Abkürzungen jedoch immer gangbar. Eine weitere Möglichkeit zur kontextabhängigen Beschleunigung der neuronalen Informationsverarbeitung bietet die Aufmerksamkeit. Einen Überblick des aktuellen Forschungsstandes zu geben, ist in diesem Rahmen nicht möglich; dazu sei auf einschlägige Literatur verwiesen (z.B. [3]). In unserem Zusammenhang ist vor allem relevant, dass Aufmerksamkeit die räumliche Auflösung für den betreffenden Bereich des Sehfeldes selektiv erhöht [12] und die Antworteigenschaften von Neuronen verändert. Dabei kann die Steuerung der Aufmerksamkeit sowohl durch kognitive Prozesse erfolgen, aber auch präkognitiv hervorgerufen werden. Es erstaunt nicht, dass diese Systeme beim Menschen eng verknüpft sind mit der Steuerung der Augenbewegungen; schließlich ist das visuelle System der wichtigste und zum Überleben notwendigste Fernsinn des Menschen.
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4.3. Lernen von der biologischen Informationsverarbeitung? Was also kann von der biologischen Informationsverarbeitung für die technische Anwendung gelernt werden? Vor allem, dass sich der Konstrukteur einer technischen Lösung darüber klar sein muss, was er von seinem System erwartet. Muss es hundertprozentig vorhersagbar reagieren, oder reicht eine statistische Vorhersagbarkeit? Muss es schnell sein? Was sind die Konsequenzen einer Fehlfunktion? Wie variabel ist die Umgebung, in der das System funktionieren muss? Wie sauber oder unsauber sind die Informationen, die das System verarbeiten soll? Nicht zuletzt: Welcher Aufwand kann bei dem System getrieben werden? Biologische Informationsverarbeitung und deren Verbesserung ist definitiv eine Erfolgsgeschichte in der Evolution und kann viele Anregungen für technisches Gestalten liefern. Eine einfache Kopie der Systeme ist jedoch, wie überall in der bionischen Forschung, kein Erfolg versprechender Ansatz. Literatur [1] Bothe HW, Engel M (1998) Neurobionik. Zukunftsmedizin mit mikroelektronischen Implantaten. Umschau Buchverlag, Breidenstein [2] Fromherz P (2001) Interfacing von Nervenzellen u Halbleiterchips. Phys Bl 57: 43-48 [3] Gazzaniga MS (1996) The cognitive neurosciences. 1. Auflage, Bradford [4] Koch M (1999) The neurobiology of startle. Progress in Neurobiology 59: 107-128 [5] Köppl C, Manley GA, Konishi M (2000) Auditory processing in birds. Current Opinion in Neurobiology 10: 474-481 [6] Offenhäusser A, Knoll W (2001) Cell-transistor hybrid systems and their potential applications. Trends in Biotechnology 19: 62-66 [7] Rauschecker JP, Shannon, RV (2002) Sending sound to the brain. Science 295: 10251029 [8] Rudolph AS, Reasor J (2001) Cell and tissue based technologies for environmental detection and medical diagnostics. Biosensors and Bioelectronics 16: 429-431 [9] Scholl M, Sprössler C, Denyer M, Krause M, Nakajima K, Maelicke A, Knoll W, Offenhäusser A (2000) Ordered networks of rat hippocampal neurons attached to silicon oxide surfaces. Journal of Neuroscience Methods 104: 65-69 [10] Uhlig CE, Taneri S, Benner FP, Gerding H (2001) Elektrostimulation des visuellen Systems. Ophthalmologe 98: 1089-1096 [11] Wessberg J, Stambaugh CR, Kralik JD, Beck PD, Laubach M, Chapin JK, Kim J, Biggs SJ, Srinivasan MA, Nicolelis MA (2000) Real-time prediction of hand trajectory by ensembles of cortical neurons in primates. Nature 408: 361-365 [12] Yeshurun Y, Carrasco M (1998) Attention improves or impairs visual performance by enhancing spatial resolution. Nature 396: 72-75 [13] Zeil J, Al Mutairi M (1996) The variation of resolution and of ommatidial dimensions in the compound eyes of the fiddler crab Uca lactea annulipes (Ocypodidae, Brachyura, Decapoda). Journal of Experimental Biology 199: 1569-1577 [14] Zrenner E (2002) Will retinal implants restore vision? Science 295: 1022-1025
Animal attachments: Minute, manifold devices. Biological variety – Basic physical mechanisms – A challenge for biomimicking technical stickers Werner Nachtigall Biowissenschaften (Zoologie), Universität des Saarlandes
Zusammenfassung Haftung wird in der Natur nach etwa einem halben Dutzend unterschiedlicher Methoden erreicht, die auf verschiedenartige physikalische Mechanismen zurückgehen. Besonders interessant sind Einrichtungen für temporäres Haften, die auf seriell – flächigen Anordnungen von Miniatur – Haftelementen beruhen. Als Beispiel werden insbesondere die kombinierten Saug-, Adhäsions- und Klebeelemente von Wasserkäfern und anderen aquatischen Lebewesen genannt. Biologische Haftungseinrichtungen wurden als bionische Vorbilder für technische Umsetzungen untersucht. Aus der neueren Literatur wird je ein Beispiel über Haftmechanismen bei Geckos, Insekten und Spinnen gegeben. Es wird versucht, die relativen Anteile der physikalischen Mechanismen bei Hafteinrichtungen im Tierreich abzuschätzen. Einige Überlegungen zu Aufbau und Fertigung analoger technischer Haftbänder und -pads werden gegeben.
1. Introduction Bionics or biomimetics signifies using nature as a basis for technical innovations. Hence, studying the manifold adhesion devices which have evolved in insects, spiders, and reptiles is of great interest for the development of novel technical adhesion strips, pads and tapes. The animal groups mentioned above have tarsal adhesion devices, consisting of numerous fine protrusions, such as minute spatulae, that come into close contact with the surface on which the animal is moving. If the contact distance is very small – measuring only tens of nanometers – intermolecular effects (van-der-Waals forces) can play a noticeable role. The action of these forces is independent of the dryness of the two surfaces. Thus a technical adhesive strip based on van-der-Waals principles could function similarly in air or underwater – truly a bionic challenge.
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The organs of attachment of animals and plants generally involve gluing, suction, micro- and sub-micro-hooking, „wet” adhesion, molecular or van-der-Waals adhesion and combinations of these mechanisms [1]. Further possibilities are discussed, for example, electrostatic attraction. With the suckers of cephalopods and blepharocerid larvae glue contributes certainly less than 10 % to the forces resisting separation, whereas it is closer to 50 % in certain starfish. These are, however, „giant” devices, compared to the minute, generally abundant elements discussed here. Nevertheless, several mechanisms of attachment may interact even in these extremely small elements. To study them may be a prerequisite for developing biomimetic attachment devices. The morphology of tarsal adhesion elements in insects has been analysed and described for more than a hundred years. Morphology is always the basis for functional interpretations, so that these classical investigations are by no means obsolete, even in the light of modern testing methods and interpretation possibilities, and even then, when it is not always clear whether molecular adhesion really prevails. In the following, the first section is a comparison of classical descriptions, the second section presents some typical examples of modern measurements in geckos, insects and spiders, and the final section deals with some aspects of technical developments. Geckos certainly use the micro-hook principle – in addition to van-der-Waals forces, the prevailing mechanism, – to anchor themselves to minute roughnesses on surfaces. Flies secrete a glue, so that a combination of gluing, intermolecular adhesion (and perhaps suction) is achieved. Some spiders seem to use only intermolecular forces.
2. Classical descriptions, mainly in insects 2.1. Adhesion tubules Within the chitinous sole of the tarsus of locusts and grasshoppers (Locusta, Stenobothrus) many densely packed canals branch out in a brushlike manner and finally open at the surface, where protruding pegs of three to five chitinous tubules are formed (Fig. 1; 1,3). Taken together they constitute an adhesive organ. Fine chitinous tubules which secrete a fluid during walking are also found in beetles, particularly in Chrysomelidae (leaf beetles), Curculionidae (weevils), and Cerambycidae (long-horn beetles). Chrysomela, for example, has these adhesive tubules only on the distal, heart-shaped tarsal segment (2), while in the genus Cassida they occur on the three proximal segments. The tubules are either markedly (Chry-
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somela; 5) or only slightly (Timarcha; 4) enlarged at the tip, creating the impression that they have been. Single-celled, pear-shaped glands, which in Telephorus may be up to 27 µ m long, discharge their secretion into these tubules. Hence there is good „wet” adhesion between substrate and the highly pliant, broadened terminal lobes of the tubules. The somewhat similarly constructed tubules in Cerambycidae and Staphylinidae (6–8), numbering approximately 200,000 on the three pairs of tarsi, are said to lack an adhesive secretion, but, there has as yet been no experimental clarification of the adhesive mechanism of these tubules. Moreover, the function and biological significance of the fields of tubules found only on the expanded anterior tarsi of Staphylinidae (rove beetles) has not yet been explained.
Fig. 1. Tarsal appendages in insects, drawn by Simmermacher [2]. 1 Tarsus of the grasshopper Tettigonia viridissima, 2 Tarsus of the beetle Chrysomela tremulae, 3 Tarsus of the grasshopper Stenobothrus flavicosta. 4 Chitinous tubule on the tarsus of Timarcha chloridia, 5 Chitinous tubule on the tarsus of Chrysomela tremulae, 6 Single adhesive tubule on the tarsus of Ocypus sp., 7 Section through the tarsus of Hylobius abietis, showing adhesive tubules, 8 Anterior tarsus of Ocypus sp.
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Fig. 2. Tarsal appendages in insects (9–16), a daddy longleg (17) and a mite (18), drawn by Weber [20], Simmermacher [2], Kückenthal [21] and Brown [22]. 9 Diagram of the adhesive organs on the tarsus of Diptera; e: empodium. Comp. the text. 10 Last tarsal segment of a fly living on the surface of shore deposits, 11 Last tarsal segment of a fly living within shore deposits, 12 End of the tarsus of Ornithomyia sp., 13 End of the tarsus of Apis mellifica, 14 End of the tarsus of Vespa vulgaris, 15 End of the tarsus of Vespa crabro, 16 Arolium of a thysanopteran, withdrawn and everted, 17 Arolium of a daddy Ionglegs, Scotolemon lesneri, 18 Tarsus of the mite Ixodes reduvius, from below and from the side
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2.2. Adhesion lobes The characteristic lobate adhesive organs (Fig. 2; 9) on the legs of the Diptera (flies) are called pulvilli p; they arise from two separate chitinous platelets at the base of the claw or pretarsus n at the end of the tarsus t. In some families, for example Stratiomyidae (soldier flies) and Tabanidae (horseflies), there is an additional hollow lobe, the arolium a, in the centre of the base of the pretarsus. These adhesive lobes have the form of hairy cushions covered with a secretion. The size and significance of the various pulvilli and claws are closely related to the way of life of each kind of fly. Among flies living on the seashore, for example, those species inhabiting the smooth and often dry surface of deposits left by the water are equipped with prominent pulvilli, whereas the claws are less developed (10). Other species, which live deep in these deposits, where it is damp and slippery, have moderately developed pulvilli complemented by long, strong claws (11); the latter are probably more useful there than adhesive or cementing organs. A very similar reduction of the lobes – and corresponding enlargement of the claws – is found in flies which live in feathers and fur. Examples include louse flies of birds (Ornithomyia: 12) and of deer (Lipoptena cervi). Large adhesive pads like those of the Asilidae (robber flies) are reinforced by one or two stiffening lobes of brown-pigmented chitin. On the underside, the pad is covered with small chitinous hairs which often extend beyond its edge. When the insect climbs on smooth surfaces only the lobes touch the substrate; the claws are not used. Often, though not at every step, small drops of a secretion as clear as water emerge from the adhesive pads. The hair-covered underside conforms closely to any smooth surface, and the secretion improves the adhesion. Comparable adhesive pads are found in some Hemiptera, Neuroptera (Phryganidae), and Lepidoptera. Among the Hymenoptera, the honeybee (13), the common wasp (14), and the hornet (15) run as nimbly as flies on smooth, vertical surfaces. Their adhesive pads are particularly well developed. The garden bumblebee, on the other hand, has no adhesive pads and is correspondingly less acrobatic. Honeybees and wasps have only one large pad which evidently represents the fusion of paired primordia. This pad is especially prominent on the tarsus of Vespa (14). The edges are hairy, and adhesive secretions are produced in small quantities. These adhesive pads have a distinct central concavity. Hence accessory sucker action could be involved if the foot when first pressed down hard and then relaxed slightly, so that a reduced pressure resulted beneath the pad due to its own elastic deformation. The Thysanoptera (thrips) can evert a large pretarsal arolium by means of blood pressure (16); this serves as an adhesive „blister” in place of the
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two adhesive pads. Adhesive organs comparable to those of the insects also occur in other arthropods. Besides the insects an example of other orders: the young of „daddy longlegs“ (Phalangida, Arachnida) have an arolium in addition to the principle and accessory claws. This is a soft adhesive vesicle (17), probably distensible by blood pressure, with a flattened ventral surface and curved walls at the sides. Fine parallel ridges run from the base of this organ to its attachment surface. The adhesive vesicle on the tarsus of the pedipalp in the Solifugae (sun spiders) is built similarly. Extensively expanded pads are found in most of the parasitic mites. Drawing 18 shows two views of the tarsal pad of Ixodes reduvius. But back to the insects. Among the water beetles, the males of a few dytiscid genera lack the suckers typical of this family. In their place one finds lamellae which, to judge by their shape and construction, probably have little to do with suction; they are surely organs of adhesion. The genera with these lamellar organs are llybius, Laccophilus, Colymbetes and Cybister. The lamellae of the beetle Ilybius fuliginosus, in the shape of a truncated ellipsoid (Fig. 3; 19), represent a transition between the round sucker and the extended adhesive lobes. Those of Laccophilus (20) have the typical extended form. A few of these are located on little club-like stalks at the tips of the slightly expanded tarsal segments. Colymbetes pulverosus has at its disposal a total oft 112 such adhesive lobes (21, 22), each with a length of about 100 µm - large in comparison to those of the other beetles. The species Feronia nigra has diverging longitudinal rows of much longer adhesive hairs, with elliptically shaped ends. The similar adhesive tubules of Nebia are located at the margin of the tarsus and those of Badister, in the centre. By contrast, Ophonus rufipes (23) has spatulate adhesive appendages. The lamellae of Cybister lateralimarginalis have been most thoroughly investigated. On the much expanded pretarsi of the male, 130 to 170 of them are arranged in four rows (24). They are relatively large, very fragile, practically without pigment, and bear parallel striations (25). At one end they are rounded; the other end is square but with fine serrations between the ends of the striate. The remarkable flexibility of these adhesive lamellae is illustrated in drawings 26 and 27, which were drawn from rolled lamellae. The longitudinal striation lends the appearance of a corrugated-iron sheet, and evidently provides reinforcement. In terrestrial beetles, too, there are comparable adhesive appendages in the form of leaflets and hairs, particularly among the Carabidae (ground beetles), which are closely related to the aquatic Dytiscidae.
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Fig. 3. Tarsal appendages in insects (19–27 and a spider (28, 29), drawn by Simmermacher [2] and Barth [23]. 19 Adhesive lamella of Ilybius fuliginosus, 20 Adhesive lamella of Laccophilus sp., 21 Tarsus of Colymbetes pulverosus, 22 Adhesive lamella on the tarsus of Colymbetes pulverosus, from below and from the side, 23 Adhesive lamellae of Ophonus rufipes, 24 Part of the tarsus of Cybister lateralimarginalis, showing adhesive lamellae, 25–27 Single adhesive lamella in the natural form and rolled in various ways, 28 Tarsal hairs of Cupiennius saliei, reproduced from electronmicrographs (TEM), 29 Tarsal hair of Cupiennius saliei, cross section showing fringed border, reproduced from an electronmicrograph (TEM)
The tarsi of the earwig Forficula, which can walk up glass walls like a fly, are covered with extremely fine chitinous hairs. The undersides of the tarsi of the spider Cupiennius saliei – to mention a spider at the end of this section – are built in a similar manner. They also have a fine, furry coating. The individual hairs are only 2–3 µ m thick; they are hollow, round at the base and flattened toward the end, with a feathery appearance (28) under
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an optical microscope. According to electron-microscopic investigations, the feather-like projections along the hairs form characteristic saw-tooth borders or fringes, but are not barbed. Taken together, the hairs form a pelt-like meshwork (29) which is evidently an adhesion organ. lt is not yet known whether there are fluid-secreting glands in the foot. The relative roles of claws, suction, gluing and elementary adhesion in these tarsal systems have been the subject of intriguing debate for a century. Especially recommended is the lively polemic by Simmermacher [2] and by Dewitz [3], typical of the period, published in the Zoologischer Anzeiger of 1884. 2.3. Suction devices Among true waterbeetles there are highly specialised suction devices, mostly composed of many tiny stalked suction cups or discs. The suction discs of Dytiscus are finely differentiated (Fig. 4; 34). The outer discs of the smaller suckers sit at an angle on their stalks. The arrangement seems to be adapted to the slant of the thoracic shield in the female. Twelve other European genera of the water-beetle family Dytiscidae also have such organs. The suction devices of the males of Hyphydrus are round (30); on the two anterior pairs of legs there are no less than 3700 of these minute suckers. The diameter of the disks varies between 5 and 27 µm and the length of the stalks amounts to 40-67 µ m. A similar apparatus is found on the tarsi of Hydroporus. By contrast, Noterus bears only one relatively large cup on each of the first three segments of the first pair of legs (13), and on the first and second segments of the second pair. Agabus represents an intermediate form, with 15 medium-sized suckers (32) per leg, making a total of 60. Eunectes with 250 small and 2 large suckers per leg, is rather reminiscent of Dytiscus, as is the medium-sized swimming-beetle genus Acilius, with many small suckers (20 µm diameter), two medium-sized suckers (300 µ m), and one large sucker (500 µ m) on the much broadened anterior tarsus (35). Hydaticus, on the other hand, bears 20 smallish suckers on each foreleg and 15 on each middle leg (33). One can see that, within a single family (Dytiscidae), there is great variety in the form and arrangement of such attachment devices. lt is assumed that they operate like the suckers of Dytiscus, and are therefore classified as suction mechanisms. Other than a few preliminary experiments [4], none, to my knowledge, have yet been carried out to prove this.
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Fig. 4. Tarsal suction appendages in water beetles, drawn by Bischoff [24] and Blunck [25], 30 Suction apparatus on the first tarsus of Hyphydrus ovatus, 31 Suction apparatus of Noterus semipunctatus,32 Suction apparatus of Agabus agilis,33 Suckers of Hydactius hübneri,34 Suckers of Dytiscus marginalis,35 Suckers of Acilius sulcatus
A close relative of Dytiscus is the swimming beetle Cybister. Its anterior tarsus, however, bears no suckers but rather longish leaflets which are extremely pliant and flat. These certainly would be of no use in the production of a partial vacuum. Very probably, they cling by simple „wet” adhesion, just as do the comparable structures of the water beetles llybius, Laccophilus, and Colymbetes (Dytiscidae) and some other genera. If these leaflets are really true adhesion organs – again, only preliminary measurements are available – it is interesting that closely related genera of the same family have developed such different methods of attachment. In this family, twelve genera, with 98 European species, bear attachment organs of one type or another. Only two genera lack them, Pelobius (1 species) and Cnemidotus (1 species). The tarsal segments of the genus Carabus carry marginal adhesive hairs, which appear funnel-shaped at the end and have an internal supporting helix. Carabus cancellatus has altogether 200
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000 such tubules, each with a sturdy internal helix. During copulation, the male is said to place his tarsi on the female in such a way as to compress the tubules; when the force is lessened the elastic extension of the helical „springs” is supposed to create an internal pressure reduction which causes the tubule to attach by suction. lt is not clear whether the process really occurs in this way.
3. Examples of recent investigations From the many papers written on reptiles, insects and, though less frequently, spiders, one typical example of each is presented here.
Fig. 5. Tarsal appendages in geckos and measurements on a single seta, executed by Batal [5] and Autumn, Peattie [7]. Compare the text.
3.1. Geckos Macroscopical to submacroscopical morphology of the attachment apparatus of gecko fingers and toes are summarised in Fig. 5. Batal [5] has looked at the attachment setae on the ventral side of gecko toes with a view to biomimicry. The end of a seta is split into many extremely fine adhesion protrusions, called spatulae (Fig. 5; 36). This can be analogised by a five-step dichotomy ramification (37) for which – using the E-modulus of keratin – a spring constant can be calculated. In any case,
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many more units of a rough or micro-rough surface will come into contact with a system of setae branching into spatulae, than with a stiff, level area (38). Using a laser interference system the surfaces of polyphenylsiloxan probes were structured with fine, adjacent knobs analogous to setae. Covering these knobs with cellulose fibres, they would be analogous, to spatulae. This could be done by coupling the cellulose strings to free OH-groups of the Polyphenylsiloxan (38). The author expects, that such a system would also be of practical use. „The possibile uses for a dry adhesive, that sticks to a surface via van-der-Waals forces are literally endless. Should it be possible to approximate the sticking force of the natural prototype many other fields would be opened, not only that of paper stickers”. A 50ggecko hanging from a ceiling, has been estimated to possess a sticking force of 4 mN mm-2 relative to its sticking area. The aim of these investigations was the development of a self-adhesive and reusable adhesion tape. Autumn et al. [6] as well as Autumn & Peattie [7] were able to measure the adhesion force of a single seta of Gekko gekko. Such a seta is 130 µ m long; its thickness is 1/10 that of a human hair, and bears several hundred spatulae only 0.2–0.5 µm long at its tip. The final sticking force F attained is a function of the preload, and thus of the distance d between the two surfaces (Fvan-der Waals ~ d-3(!)). After a preload of 2–10 µN per seta the final sticking force attains 15–35 µN. Drawing 40 shows the relations for a maximum possible preload of 15 µN. Under these conditions the sticking force development in the process of attaching and releasing a seta could be analysed, related to „typical slow walking” (40). When pressing down on a surface, the adhesion force is, per definition, negative. During the following 2 seconds the seta slides approximately 5 µ m along the surface, steadily developing its maximum adhesion force of 200 µN. This is followed by a period of pulling the seta backwards, so that gliding friction develops, and a constant friction force results. When contact between the seta and the measuring device ceases, this force diminishes to zero. The nearly linear increase of the force-time-curve during phase (2) up to the beginning of phase (3) is explained by the fact that more and more spatulae find contact to the surface (effect of „making straight”). The maximum force actually attained was 10 times greater than that calculated from the total contact area and the animal’s weight. These measurements support the assumption that the main attachment is due to van-der-Waals forces. The sticking force is dramatically enhanced by the strange geometry of the spatulae and by the preload, automatically attained during active touching down of the sticking apparatus. Furthermore, the geometrical arrangement of the spatulae is responsiblefor an automatic „rolling off” of the sticking toe since the individual setae lose contact above a critical tilting angle.
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Fig. 6. Force measurements on tarsal appendages in an insect, Tettigonia viridissima, executed by Gorb, Scherge [8]. 41 Micro-tester set up for friction measurements. The oscillatory motion is provided by means of a piezo-electric stack (xpiezo). The lower sample holder (equipped with a living insect) is attached to the x-piezo. A silicon plate, attached to a glass spring, served as an upper sample. A laser beam reflected by a mirror (attached to the spring) is used to detect deflection of the spring by interferometry. In the z-direction an additional piezo (zpiezo) is attached to adjust the normal force. 42 Frictional behaviour of the pad in different directions. Fd, friction force measured during pad movement to distal direction; Fp, frictional force measured during pad movement to proximal direction. 43 Friction force versus normal force at a frequency of 0.5 Hz. Lower part of the curve was obtained with an increasing normal force, whereas the upper part was recorded with a decreasing normal force after full contact between the pad and silicon surface was reached. 44 Friction force versus frequency at normal force of 87 µN.
3.2. Insects Gorb & Scherge [8] presented frictional force measurements of orthopteran adhesion pads using a newly developed micro friction tester.
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As a result of walking on a variety of plant surfaces, insects have solved the problem of attaching to smooth and sculptured surfaces. Their attachment systems allow them to adhere to the surface and to detach from it easily. In this study, the frictional force was measured on the euplantulae of the preterminal tarsomere of Tettigonia viridissima (Orthoptera, Tettigoniidae) in two series of experiments: 1) at different normal forces ranging from 50 µN to 650 µN at constant frequency (0.5 Hz); 2) at different frequencies ranging from 0.05 Hz to 2 Hz at constant normal force (87 µN). By oscillating the sample over a distance of 10 µm along the x-axis (distal-proximal), friction of the pad surface in both directions was measured. It is concluded that the key issues of the mechanical functionality of biological frictional devices is the combination of surface structuring and particular material properties. In order to gain detailed microtribological information, the friction force of the attachment pads was measured under different loads in living and dead insects using a micro-tester (Fig. 6; 41). Profile changes of the surface and the orientation of cuticle micro fibrils were tested by means of scanning electron microscopy followed by freezing-substitution experiments. The experiments and ultra structural studies show that the cuticle of orthopteran pads are natural friction-active materials with a particular inner and outer structure. Each tarsus of T. viridissima contains 3-4 euplantulae. The preterminal tarsomere has the largest euplantula (1.7-2.5 mm wide). Under the light microscope, its surface appears smooth. In reality, it is composed of hexagonal structures (comp. 42) (area 14.7 µm2) with underlying tiny rods of 0.08 µm in diameter. These rods are branches of thicker rods of 1.12 µ m diameter located deeper in the cuticle. In sections and fractures, the uppermost layer resembles a thin film (180 nm thick). Thickness and non-fibrous structure correspond to the epicuticle, the outermost layer of insect integument. By oscillating the sample over a distance of 10 µm along the x-axis (distal-proximal), the authors were able to measure the frictional properties of the pad surface under low normal forces. The dependence of the frictional force on load is given in drawing 43. The frictional behaviour of the pad changes with the velocity (or frequency). Minimum friction force occurred at 0.5 Hz (10 µm/s) and is higher at slower and faster velocities (44). The experiments revealed that the static friction during proximal movement was larger and more stable compared with distal movement (42). During distal movement, friction slowly increases. This effect is reflected in the rising part of the curve. The anisotropy slightly increases with increasing load. The friction force remains low as long as a critical load of about 600 µN is not exceeded. Under loads over 600 µN, pad and substrate remain in contact. Insect footprints and cuticle surface are mainly composed of longchained hydro-carbons with hydrophobic properties [8]. The authors sug-
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gest that an attractive force between a water covered surface (silicon for example) and hydrocarbons can be induced by dispersion forces. Dispersion forces represent the most effective type of van-der-Waals interaction arising from quantum mechanical effects [9]. Hydrocarbon liquids are held together by dispersion forces only and it is assumed that the latter are sufficiently strong to attract the water covered silicon sample. The more atoms involved in the interaction the stronger the force. This implies that the friction force is proportional to the real contact area. The ultra structural study shows that the inner and outer architecture of orthopteran pads provide stability and simultaneously extreme flexibility. This allows the pad material to adapt to different substrate roughness, which are unpredictable for mobile insects such as grasshoppers and cockroaches. Through particular orientation of stiff components in the composite material, the material is optimised for maximum friction in one particular direction. Another interesting feature of the system is that the differently sized rods seem to be adapted to different scales of roughness (micro and meso scale roughness). 3.3. Spiders Compared to insects there are not as many papers available on spider sticking (for example Hill [10], Roscoe & Walker [11]). Kesel et al. [12] presented measurements on the adhesive leg-elements of the jumping spider Evarcha arcuata. Although the spider exoskeleton, like those of all other arthropods (spiders, insects and crustaceans), consists of an extremely non-adhesive material known as cuticle, some spider species produce astonishingly high adhesive forces using cuticular appendages. Unlike other arthropods, they do not rely on sticky fluids but use a different strategy: die miniaturization and multiplication of contact elements. In this study die number of contact elements (setules) in die species Evarcha arcuata was determined at 624000 with an average contact area of 1.7 x 105 nm2. The total area of contact in this species measured 1.06 x 1011 nm2. Atomic force microscopy was applied, using two cantilevers (C1: probe tip area A1, average terminal surface area of the setulae A2; A1 > A2 for calculations A2 was used. C2: A2 < A1 for calculations A1 was used). Force-distance-curves are plotted in Plate 7, drawing 45, measuring data in drawing 46. The curve (45) shows all die typical features. A: The probe in approaching the sample but not yet in contact. B: Due to long range attractive forces a transient instability occurs and die probe and sample are brought into contact by „snap-in”. C: The probe is pressed into the sample with ascending force. D: The force reaches its maximum; retraction starts.
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Fig. 7. Measurements on tarsal appendages in a spider, Evarcha arcuata, executed by Kesel et al. [12]. 45 The force-distance-curve of an atomic force microscope, cantilever (C 2). Comp. the text. 46 Average forces of adhesion on several materials using cantilevers C1 and C2. a: The average value (41 nN) of the two separate measurements was used for further calculations.
E: The force between the probe and sample decreases until the probe sticks to the sample by adhesion (E). G: The force of the cantilever equals the force of adhesion; the probe and sample are separated abruptly („pulloff”). It was shown that a single setule can produce an adhesive force of 41 nN perpendicular to a surface. Thus with a total adhesive force Fa = 2.56 x 10-2 N and an average body mass of 15.1 mg, this species possesses a safety factor (adhesive force Fa/force for weight Fm) of 173. The tenacity σ (ultimate tensile strength) amounts to 0.24 MPa. Due to the extreme miniaturization of the contact elements it is assumed by the authors that van-derWaals forces are the underlying adhesive forces, although evidence for this
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has yet to be provided. Of course the great safety factor of over 170 represents an ideal value, for which the full contact of all 624 000 contact points is required. The hunting way of life and its associated dynamics, substrate contamination, wear of the cuticular attachment apparatus and numerous other influences should contribute to a considerable decrease of adhesive capacities in these jumping spiders. In this context the question of detachment also arises. The total adhesive force could easily be overcome by subsequently detaching single setules and not the whole foot at once. Adequate materials as well as production techniques have yet to be developed, if the astounding attachment system of spiders is to be realized as a technical product. The authors are convinced that „adhesives fabricated according to the constructive guidelines of the spider foot could be of major significance. Due to the underlying physical principle of van-der-Waals interaction, adhesion becomes independent not only of material characteristics but also of conditions of the surroundings and could even occur in outer space vacuum”. The study was performed in order to clarify the fundamental basics of a biological attachment system and to supply potential input for the development of novel technical devices.
4. General biological aspects and technical use 4.1. The different mechanisms of attachment in animals and their possible interaction The main mechanisms of attachment addressed in the introduction can be characterised as follows.
4.1.1. Gluing A gluing material must hold to a surface by adhesion, i.e. the interaction of intermolecular forces between two dissimilar materials to prevent the contact areas from breaking apart. The cohesion of the gluing material, i.e. the intermolecular forces or constraints among the identical molecules of the glue, must be of the same order of magnitude to prevent the gluing material from disintegrating internally. A wet surface presents additional problems which can, however, be solved by special, water insensitive glues or by glues whose hardening is started and/or accelerated by water molecules. When a glue hardens, adhesion and cohesion should not be diminished and should adapt accordingly. This is valid for permanent gluing. In releasable gluing as it is realized for example in the glue of paper sticks („post-it”), adhesion should be smaller than cohesion, so that the
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Fig. 8. Biological examples for the possibilities of attachment by fine elements, as discussed in chapter 3.1. Comp. the text. Drawn by Cochran [26], Grassé [27], Herter [28]), Kaestner [29], Kückenthal [21], Romanes, Eward [30] and Schicha [31].
gluing material’s „half droplets” (Fig. 10; 83) are not torn but can reorganize their geometric shape after the paper stick is released by pull (84). In nature small scale releasable gluing is obtained for example by the males
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of some bird mites, that glue themselves to their female partners during copulation, and by Gastrotricha. These animals are only fractions of a millimetre long; they are living in wet, sandy ground in the fine water sheet between sand grains. Usually they bear series of gluing tubules (Fig. 8; 48) in lateral rows (47) or around the whole body. When they apply their anterior and posterior gluing tubules alternatively and periodically like a leech, they can creep forward or backward.
4.1.2. Suction Structures designed for suction attachment are usually plates or hemispheres with elastic edges which can conform closely to a smooth surface. The attachment depends upon the creation of a reduced pressure in the space between suction cup and substrate. That is, some force must be exerted which tends to increase the volume of this cavity or film of fluid. The edges of the cup must not collapse during this process; usually they have stiff margins or reinforcing rings. Besides muscular pull the suction-creating force may depend on elastic deformation of the cup itself. If a suitably compliant cup is pressed firmly for an instant onto a smooth substrate, the cup then tends to resume its concave form and in so doing generates the required partial vacuum. The suction devices designed to hold hand towels and soap on tiled walls, the suction feet on certain kitchen appliances used on smooth counters, and the cup-tipped darts fired by toy pistols all work by this principle. Biological counterparts include the prehensile apparatus of some terrestrial planarians, leeches, dipteral larvae, octopuses, see stars, see urchins (Fig. 8; 48) and some protozoa and, probably, the tiny attachment devices on the anterior tarsi of male water beetles. In both of the above mechanisms, work is done to reduce the pressure beneath the cup. In the case of muscular pull, the work is done directly during the reduction. In the case of elastic deformation, the external work is done in flattening the cup; the energy is then stored in this elastic deformation. When the applied force flattening the cup is removed, these elastic forces tend to return the cup to its original shape. Altogether, they act so as to oppose the external atmospheric pressure, so that if the seal at the rim is good, there results a reduced pressure (and a corresponding increase of the volume) in the material (fluid and/or air) remaining between cup and substrate. That is, an equilibrium occurs when this reduced internal pressure, plus some remaining deformation of the cup, just balance the atmospheric pressure. With a well-designed cup, the resultant distribution of forces can aid the sealing action at the rim, and the connection can be quite stable. The cup as a whole is held to the substrate by the pressure difference. At-
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tempts to pull the cup off the substrate (as long as the seal at the rim holds) produce both a further reduction of the cavity pressure and further corresponding distortions of the cup. The connection usually breaks, however, before the pull reaches the value calculated from the atmospheric pressure and the area of the cup.
4.1.3. Micro- and sub micro-hooking This category can also be described as „random hooking“ or, named after the main subgroup, as having „burr type“ devices on a microscopical scale. Any one hook requires only a certain probability of attachment. The presence of a large quantity of such elements, is sufficient to guarantee a good connection. The best-known kind of burr is the large fruit of Arctium lappa. The spines on the fruit are bent at the end to form a strong pointed barb. The shorter barbs of the spine ring in Agrimonia eupatoria (Fig. 8; 50) are also well known. But, they are macroscopical. Fabric fasteners, known commonly as „Velcro“ fasteners, have been devised according to this principle. One piece of fabric bears a „hook tape“ with strong broken loops of perlon and the other, a „nap tape“ of perlon threads which are only half as thick and are matted together like cotton wool. When the two tapes are pressed together they become securely attached; a strong jerk pulls them apart again. In a similar way, the leaves of the sticky weed Galium aparine are provided with thousands of extremely fine barbs, and can adhere closely to the contours of pelt-like or porous surfaces. These are semimicroscopical. The principle of probabilistic fastening is not at all uncommon in the animal kingdom even on a microscopical scale. The eggs of the European fish Bdellostoma stouti exhibit at each end a bundle of horn-like threads, each terminating in four , well-developed barbs (51, 52). These so-called „anchor filaments“ extend and catch in the hooks of nearby eggs so that the whole egg-mass is held more or less together. The monogenean fluke Acanthocotyle pacifica lives on rays. To anchor itself to the smooth skin of the fish it uses a round opisthaptor which is covered with a remarkably regular array of radial rows of strong barbs (53). An equally regular arrangement is found in the longitudinal rows or rings of massive barbs on the proboscis of acanthocephalan worms. The larvae of the horsehair worms (Nematomorpha) have proboscises with stylets and with rings of curved bristles at the base. They use these to burrow into the thin-skinned larvae of fresh-water insects. A particularly finely developed kind of probabilistic fastening of the semi-micro type is found in the feathers of birds. The vane of a typical
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contour feather has of a number of side branches called barbs which are aligned in parallel and at an angle to the shaft, or rachis. The barbs carry on either side a similar array of second-order side branches called barbules. As a result of the favourable orientation of barbules the barbs attach almost automatically. To provide just one example, the feathers of pheasants are discussed. The barbs are 0.08 mm wide; the bow barbules project from them at an angle of +26° with a separation of 0.032 mm and the hook barbules, at -32° with a separation of 0.024 mm. The ratio of the spacing of the two kinds of barbules is thus 4:3. Each hook barbule terminates in an extension (ca. 0.12 mm long) equipped with 10 or more very fine hooklets (length ca. 0.02 mm, diameter ca. 0.0015 mm). The bow barbules also have free extensions in the form of transverse rods (length ca. 0.12 mm, diameter ca. 0.003 to 0.005 mm), with which the hooklets engage. Fasteners of the miniature hook type, working on a submicroscopical ascale are also well studied. Among reptiles, most of the Geckonidae and some Iguanidae (Anolis) can walk on smooth vertical surfaces, even on plate glass. This is accomplished by means of attachment devices - leaflike broadening of the fingers and toes - called digital pads (55) or discs. They were already examined a long time ago (for example [13]). Occasionally such structures are located even on the underside of the tip of a tail . For example, the genus Lygodactylus possess dense rows or „brushes” of tiny bristles (setae:84–118 µm long) on transverse lamellae of skin. The pads contain a system of blood lacunae. When these are filled, the brushes are pressed firmly against the substrate („preload”). On a single lamella in one species of gecko 30000 setae have been counted; according to that count, the whole animal has at its disposal more than two millions of these very fine attachment elements. Seen under a light microscope the ends of the bristles appear to thicken to a button-likeform An electron microscope, however, reveals that each of these ‘buttons’ consists of a tuft of hundreds of minute (diameter 0.05 µm!) processes bent like hooks, called spatulae. These could very well catch in submicroscopic irregularities which exist in even the smoothest surfaces, such as plates of mirror glass. This was assumed up into the 90’ies. Modern analyses, as discussed in chapter 2.1, have, however, revealed that van-der-Waals adhesion prevails, and does not support the sub-micro-hooking hypothesis – which does not mean, that micro-hooking does not exist at all.
4.1.4. „Wet adhesion“ The term „wet adhesion” is used here to differentiate between this adhesion modulus and van-der-Waals adhesion. It is sometimes referred to as
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„capillary adhesion” and cannot be strictly separated from „gluing”, since the glandular fluids used may also have „gluing” characteristics. One criterion commonly applied in biological literature is the use of the term „gluing” if the secretions of attachment organs are sticky or mucous, and „adhesion” if they are watery or of low cohesiveness. This terminological problem is compounded if one recalls that most such attachments depend critically upon factors other than adhesion alone. Firstly, glued junctions, no matter how cohesive the glue, are vastly strengthened if the surfaces to be joined are rough. In an extreme case, the hardened glue may be so well anchored in irregularities that the actual forces of adhesion are of secondary importance. Secondly, even „pure” adhesion attachments – those which are instantly fully functional since the sealant need not harden at all – are physically quite complex. For example, because of the atmospheric pressure and the viscosity of the sealant in such junctions, they may withstand appreciable transient tensions which, if maintained or built up very slowly, would easily pull them apart. That is, even if a junction is not designed so as to seal tightly at the rim and thus act as a proper suction cup, a pull does result in a pressure reduction within the sealing substances. The typical „cavity” of a real suction cup, of course, may not be visually obvious, since the sealant changes volume less than does air when pressure is reduced. The pressure differential acts for the moment, along with the adhesive forces, to counter the applied pull just as in a suction cup. The low internal pressure can be relieved, of course, by the flow of air or water into the joint along its border but this can be a slow process, resisted by the viscosity and other properties of the sealing material. If the pull is brief, the attachment holds fast. This transient effect can be demonstrated by laying a ruler so that half of it projects beyond the edge of a table; then either wet the ruler-to-table junction or place a piece of wet newspaper over the half on the table. Now strike the projecting end sharply. The ruler breaks because air cannot flow into the junction quickly enough to relieve the induced pressure differential between junction and atmosphere. On the other hand, somewhat smaller tensions can be tolerated by such junctions even though the pull is maintained; that is, the effects both of capillarity (forces due to differences between the strengths of cohesion in the sealant and adhesion at the interfaces) and of the adhesive forces themselves may suffice to maintain a small pressure differential or even by themselves to counter moderate stresses on the junction. For example, a wet piece of paper or a bit of foil sticks quite well to a smooth plate of glass. There are many examples of „wet adhesion” in the animal kingdom especially in insects (for example [14-17]). A review was given by Walker [18]. But let us take, pars pro toto, a look at tree frogs [19].
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Fig. 9. Examples for low weight animals using tiny, multifold attachment devices and possible percentages (estimated values, based on comparing the available literature and physical aspects) of their sticking forces generated by different mechanisms.
In some tropical tree frogs the entire skin of the belly has been modified into a large, flat adhesive disc which assists the action of the attachment organs on the fingers and toes. The adhesive disc is particularly effective when the frog lands after a jump. The belly skin of the tree frogs (Hyla) is
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not smooth, like that of aquatic and grass frogs (Rana), but rather consists of many close-set, rounded papillae (Fig. 8; 56). On each of these, the openings of several glands release a watery secretion. When the frog sticks to glass, one can observe that the interpapillary grooves are flattened against the glass and filled with watery fluid, obviously coming from these glands. This watery secretion – like any very thin fluid layer between two closely contiguous solid bodies – increases adhesion. Experiments have shown that with distilled water as a fluid layer between two glass plates, a force of about 7 kPa of adhesive surface is necessary to separate them. When olive oil was used the corresponding value was 9,4 kPa, for glycerin, 12 kPa, and for gum-arabic solution, 16 kPa. With its 18 toe pads, the tree frog has available a total adhesive surface of at most 16 mm2. Since the frog weighs at most 4.5 g, even distilled water as an intermediate layer would in theory be more than adequate to ensure adhesion. The secretion of the sweat glands may well be more viscous. Some mites living on mirror-smooth diplopods or on other animals fasten themselves by direct adhesion with long (moistened?) trailing hairs. Trailing hairs (57) are also found in mites which dig and live in burrows. A curious feeding mechanism is found in Malachiidae. These beetles eat pollen. The smooth pollen of graminaceous plants can be picked up efficiently by specialised „trumpet bristles” (58). The contact fluid which promotes adhesion may be a gluing substance on the surface of the pollen, or saliva or water.
4.1.5. Van-der-Waals adhesion Weak intermolecular attraction forces, named after J.D. van der Waals (1837-1923), are due to electrical dipole moments in molecules which influence counter dipole moments in nearby molecules. If two bodies come in very close contact (perhaps lower than ten nanometers), van-der-Waals forces, although weak, may play the major role in sticking these bodies together. The sticking force is relatively independent of the partner materials and of the medium between the two bodies (gaseous, liquid or no medium at all). It is assumed in newer investigations, due to the miniscule gap between a surface and the spatulae or setulae, that lizards (3.1.) or spiders (3.3.) may be making use mainly of those forces when walking along the ceiling or on vertical walls. But, since any surface, even cast glass or highly polished metal, provides submicroscopical roughness, submicroscopical micro-hooking cannot be excluded provided, arrays of very tiny hooks are present, which is often the case. But once again, it is nearly impossible not to have a very fine layer of water molecules on any surface,
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other than, possibly, highly hydrophobic ones. Thus a certain percentage of „wet adhesion“ can nearly always be expected except in the case indicated. 4.2. To the relative importance of the different mechanisms of attachment via a multitude of minute devices In many cases one of the live mechanisms indicated obviously prevails in such a way, that the influence of the other ones are negligible. An example is the gluing of a larva with a gluing area and the permanent anchoring of the common mussel Mytilus edulis with its byssus threads. In other cases – especially those of detachable sticking via minute, manifold devices, as found in many low weight, moving animals – the situation is more complex than already indicated in chapter 4.1. In Fig. 9 several typical examples are plotted. The percentages indicated, although based on experimental data available, are estimates. 4.3. Biomimicking adhesion tabs – some considerations and proposals Comparing the different ways in which nature makes use of single or combined physical possibilities for detachable sticking, one may say the following: Gluing: Widespread use is made of a surface consisting of very fine droplets of a permanent gluing substance (Fig. 10; 70, 72). This functions well in paper stickers, but it neither permits frequent attaching and detaching, nor does it work on wet surfaces. This method could certainly only be used as an accessory sticking mode when developing tabs. Suction (and additional modes): Suction does not work well in a dry ambient. It requires a sealing fluid. Large suction cups are „dangerous” because contact is suddenly and largely lost after pressure equalisation. This disadvantage could be overcome by using numerous, minute, stalked, suction cups, as found in many waterbeetles. The fine slots between them could be filled with a – if necessary antibacterial – viscous sealing fluid. This must not smear and must not leave residues after detachment. But, it could also have gluing characteristics, possibly forming gluing contact (as with gluing droplets) between the suction stalks. „Wet adhesion“ could be an intrinsic partner at least at the start of the sticking process. Thus 3 of the 5 physical mechanisms could be combined. Such a system appears to be a good candidate for the development of a tab.
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Fig. 10. Figures from different authors: Autumn, Peattie [7], Blunck [25], Cochran [26], Grassé [27], Kaestner [29], Kesel et al. [12], Kückenthal [21], Romanes, Eward [30] and Simmermacher [2].
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Fig. 11. Electromicrographs (SEM) showing several typical examples. 73, 74 Evarcha arcuata, setae with setulae (from Kesel et al. [12]), 75, 76 Dytiscus marginalis, rows of small suckers (Phot.: Wisser), 77, 78 Gekko gekko, rows of setae, spatulae of a single seta (from Autumn, Peattie [7]), 79, 80 Cybister lateralimarginalis (Phot.: Nachtigall; Micrographs), 81, 82 Calliphora erythrocephala, claw with arolium, detail of arolium (Phot.: Wisser), 83, 84 „Post-it”, compressed and not used (Phot.: Wisser)
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(Sub-)micro hooking: This works very well, but requires a rough, woollike counter-surface for secure attachment, as demonstrated by the diverse systems of Velcro-like tapes. It does not work however with smooth systems, neither dry nor wet, but could eventually work on average textiles if the hooks could be made small enough. It is certainly not suitable for common use. „Wet adhesion“: The sticking process may be easily induced when a fluid is availably – if only a very fine coating of water molecules – and if the surfaces are suitable for inducing capillary forces and permit the atmospheric pressure to work. Both surfaces should be very flat or very finely structured to form many local „micro adhesion” areas. This is often „automatically” the case and thus „wet adhesion” is almost unavoidable. But, if not properly sealed sticking forces are weak and not permanent, interslot fluids may dry off quickly. Therefore, „wet adhesion” could be used as an auxiliary means, especially for a quick start to sticking. Van-der-Waals adhesion: Nature has, in some cases (sections 3.1, 3.3), developed „appendages on appendages” fine enough to come into very close contact even with a microscopically structured surface, so that molecular attraction forces can build up to sufficiently high values. At the moment there is no technical procedure known to generate submicroscopically fine „wool” at the ends of microscopically fine arrays of plastic rods. The ultra-fine ends of the „wool” should contact the surface as tightly as possible, since the force per contact area, due to van-der-Waals interactions, scales inversely with the third power of the distance. A Swiss patent for fabricating wool-array plastic tooth stick uses high voltage discharge impulses to momentarily transform plastic surface into a fine wool. I tried such a prototype years ago – it works. But it is a question whether a „wool” fine enough for van-der-Waals sticking can be generated this way, and whether it is possible to make it as straight and parallel as in the setulae of geckos or spiders in order to generate a ”traction” effect on fine surface grooves and to allow „rolling off” in the process of detaching. Finally it remains to be shown whether the wear off of such ultra-small structures can be reduced to allow manifold application. Even then: both partners should be polarisable, which certainly can be achieved by using suitable material for the sticking (Hamacker constant), but not every surface on which such a pad should adhere is polarisable. Even in van-der-Waals pads „wet adhesion” could play a role. For a discussion see Autumn and Peattie [7]. From my point of view, only two ways seem to be effective: the „combined suction pad” (suction, with additional „wet adhesion” and gluing components) and, perhaps, at sometime in the future, the „van-derWaals pad”. The „Combined suction pad” could be designed as follows (Fig. 11; 72 a-f*). On one side of a plastic tape (a) semi-globular grooves are imprinted forming small suction caps (b). With two perpendicular cuts
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(c, d) long suction blocks are formed, the gap between them is filled by a viscous sealing fluid (e), so that a suction-glue-“wet-adhesion”-system is built up (f). The blocks can be made more flexible, adapting themselves better to local unevenness, by using cutting tools, that create gaps which are broader at their bases (f*). One possible way of forming a „van-der-Waals pad” may be the following (Fig. 11; 7b-d). In a plastic tape, long, fine conical rods that taper off to fine tips (a). are formed by an imprinting tool. High voltage discharge then dismember the tips into bushels of micro-fine hairs (b) that are lacerated then into ultra-fine endings (c) by a second adapted high voltage application. A directing process then straightens the hairy system into working condition (d). The tape should be pressed on in the direction imprinted (e) and disengaged by lifting and rolling it in the counter direction (f). If sufficient protrusions come into contact, however, directional sensitivity should not play a substantial role.
Fig. 12. Suggestions for the formation of „combined suction pad” (85) and a „vander-Waals pad” (86). Compare the text. Legal protection for registered design applied.
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Acknowledgements The author wishes to thank Dr. A. Wisser for Scanning-Electron-Microscopy documentations and helping with the layout of the figures and Dr. M. Baer, Zoologische Staatssammlung München, for entomological material.
References In this paper only literature is cited, from which data and/or figures are taken. A general comparative review is not given. Detailed lists containing more recent data are given for example in Autumn & Peattie (2002) and in Kesel et al. (2004). [1] Nachtigall W (1974) Biological mechanisms of attachment. The comparative morphology and bioengineering of organs for linkage, suction and adhesion. Springer, Berlin Heidelberg New York [2] Simmermacher G (1884): Haftapparate der Insekten. Z Wiss Zool 40: 481–556 [3] Dewitz H (1884) Über die Fortbewegung der Thiere an senkrechten glatten Flächen vermittels eines Secretes. Zool Anz 7: 400–405 [4] Nachtigall W (2004) Haftung mit flächigen Anordnungen miniaturisierter Saug- und Adhäsionseinrichtungen bei Wasserkäfern – Bionische Vorbilder für Haftpads? BIONA-report 17 [5] Batal J (2001) Möglichkeiten zur Messung der Adhäsionskräfte einer strukturierten Oberfläche. Unpublizierte Studienarbeit, Technische Biologie und Bionik, Universität des Saarlandes (besprochen in Nachtigall 2002) [6] Autumn K et al. (2000) Adhesive force of a single gecko foot-hair. Nature 405: 681– 685 [7] Autumn K, Peattie AM (2002) Mechanisms of adhesion in geckos. Integrative and Comparative Biology 42 (6): 1081–1090 [8] Gorb SN, Scherge M (2000): Frictional forces of orthopteran attachment pads measured by a novel microfriction tester. In: Wisser A, Nachtigall W (eds): BIONA-report 14. Akad Wiss Lit, Mainz, pp 28–30 [9] Israelachvili J (1992) Intermolecular and Surface Forces. Academic Press, London [10] Hill DE (1977) The pretarsus of salticid spiders. Zool J Linn Soc 60: 319–338 [11] Roscoe DT, Walker G (1991) The adhesion of spiders to smooth surfaces. Bull Br Arachnol Soc 8: 224–226 [12] Kesel A et al. (2004): Getting a grip on spider attachment: an AFM approach to microstructure adhesion in arthropods. Smart Mater Struct 13 (3): 512–518 [13] Hiller U (1968) Untersuchungen zum Feinbau und zur Funktion der Haftborsten von Reptilien. Z Morph Tiere 62: 307–362 [14] Hasenfuss I (1977) Die Adhäsionsflüssigkeit bei Insekten. Zoomorph 87: 51–64 [15] Gorb SN (1998) The design of the fly adhesive pad: distal tenant setae are adapted to the delivery of an adhesive secretion. Proc R Soc B 265: 747–752 [16] Gorb SN (2001): Attachment devices of insect cuticle. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht Boston London [17] Jiao Y, Gorb SN, Scherge M (2000): Adhesion measured on the attachment pads of Tettigonia viridissima (Orthoptera, Insecta). J Exp Biol 203: 1887–1895 [18] Walker G (1993) Adhesion to smooth surfaces by insects – a review. Int J Adhesion Adhesives 13: 3–7 [19] Green DM (1981) Adhesion and the toe-pads of treefrogs. Copeia (4): 790–796 [20] Weber H (1954): Grundriss der Insektenkunde. 3. Aufl., Stuttgart
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Bionik im Bauwesen Stefan Schäfer, Björn Briegert, Stefan Menzel Institut für Massivbau, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Die Anwendung von Grundsätzen der Bionik im Bauwesen ist keineswegs eine zeitgeistige Tendenz. Beobachtungen in der Natur und Überlegungen zu ihrer technischen Verwertbarkeit werden seit hunderten von Jahren angestellt, bis sie Anfang der 60er Jahren von einem amerikanischen Luftwaffenmajor eher zufällig den Namen „Bionik“ erhielten. Der nachfolgende Bericht dokumentiert ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit zahlreiche Beispiele und wirft die Frage auf: Hat die Natur auf alle unsere technischen Problemstellungen ein „Patent“ parat? Anhand eines im Anschluss näher erläuterten Beispiels aus dem Bereich der Evolutionären Algorithmen soll aufgezeigt werden, wie leistungsfähig manche Phänomene der Natur sind und wie diese bei einer Optimierung von strömungsmechanischen Systemen innerhalb von Gebäudefassaden genutzt werden können.
Abstract At construction engineering the use of principles of bionics is not at all a contemporary tendency. Observations of nature and thoughts about their technical ability to use are investigated since hundreds of years. In 1960 the principle of using natural effects in technical solutions were called „bionics“ by a major of the American Air Force. The following report shows numerous examples without any pretension to completeness and raises the question: Does nature have „patents“ for all existing technical problems? To illustrate the possible efficiency of such natural phenomenons in technical applications Evolutionary Algorithms were implemented in a computer software intending to improve the air flow within the glass facades of buildings.
1. Einleitung Die Natur kennt keine Vorbilder – sie verfährt jedoch äußerst konsequent nach strengen Auslesekriterien – und nimmt sich vor allem Zeit. Die Suche nach verwertbaren Vorbildern für eigenes technisches Handeln in der Natur ist den Menschen nicht neu. Die Herkunft des hierfür verwendeten Be-
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Begriffes „Bionik“ ist nicht eindeutig geklärt. Erstmals eingesetzt wurde er 1960 von dem Luftwaffenmajor J.E. Steele auf einem Kongress mit dem Leittitel „Bionics-Symposium: Living prototypes – the key to new technology“. Der Begriff entstand wohl in einer Diskussion, die im Vorfeld des Kongresses geführt wurde und diente als Schlagwort für Methoden, die sich mit belebten Systemen beschäftigen, d.h. eine Verbindung zwischen der Biologie und der Technik herstellen. Durch eine konsequente Anwendung von in der Natur erfolgreich arbeitenden Systemen oder Strukturen, lassen sich die in der Natur gewonnenen Optimierungen auf von Menschen geschaffene Werke übertragen. Dieser Ansatz funktioniert leider nicht immer im Maßstab eins zu eins. Manchmal sind es nur Einzelaspekte, die eine Anwendung finden – häufig sind die natürlichen Gegebenheiten sogar so individuell, dass sie nicht übertragen werden können. Die Bionik kennt keine Grenzen, Möglichkeiten zur Optimierung von natürlichem Handeln gibt es überall. Sei es Nahrungssuche, Energiehaushalt, optimierte Strukturen oder Fortbewegung – durch evolutionäre Fortschreibung hat sich in allen Bereichen der Natur, in denen es Vererbung von Eigenschaften gibt, eine individuelle und optimierte Anpassung entwickelt. Anfangs glaubte man, Bionik wäre das bloße Kopieren solcher Optimierungsstrategien, um in den Bereichen der Technik eine ähnliche Optimierung zu erwirken. Heute verlagern sich die Untersuchungen in Richtung der natürlichen Strategien und solche Maßnahmen, die zur Optimierung geführt haben. Ein wesentlicher Vorteil der Bionik liegt in dem Einsparen von Zeit. Durch Ausnutzung der „natürlichen“ Erfahrung ist es möglich, innerhalb kürzester Zeit eine Verbesserungsstrategie zu erzielen. Nicht selten kommt es dabei darauf an, eine Vielzahl von Winzigkeiten und Details zu erfassen und gegebenenfalls miteinander zu kombinieren, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Häufig liegen die Erfolgschancen im Verborgenen. Zahlreiche technische Bereiche haben mittlerweile ausgiebig von der Bionik profitiert. Überwiegend sind es Disziplinen, wie z.B. Maschinenbau, Architektur, Fahrzeugbau usw., die bionische Prinzipien anwenden können. Dass jedoch das bloße Kopieren von natürlichen Prinzipien nicht ausreicht, um in die technischen Disziplinen übertragen zu werden, ist mittlerweile bekannt. Unmittelbar verwendbare „Blaupausen“ gibt es in der Natur nicht. Wo aber ist der Erfolg verborgen, wo lassen sich die notwendigen Erfahrungen sammeln, die in den technischen Disziplinen Anwendung finden können? Auf den nachfolgenden Seiten wollen wir uns mit dieser Frage näher beschäftigen und uns innerhalb des Bauwesens mit dem Phänomen der Bionik befassen.
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2. Arten der Bionik
2.1. Visuelle Bionik Nicht überall, wo Bionik draufsteht, ist auch Bionik drin. Architekten und Ingenieure neigen nur allzu gerne dazu, gestalterische und formale Ideen auf Grund visueller Ähnlichkeiten mit dem natürlichen Phänomen bionischer Prinzipien zu vergleichen. Dabei herrscht manchmal auch der Irrglaube vor, dass damit viele technische Fragen gelöst seien. So wenig wie ein Flugzeug, das aussieht wie ein Vogel, fliegen kann, genauso wenig ist ein Hochhaus strukturell optimiert, das aussieht wie ein Grashalm. Die technologischen Ansätze und strukturellen Maßstäbe sind zu verschieden. Ein Wohnhaus ist nicht deshalb räumlich optimiert, weil es wie eine Bienenwabe aufgebaut ist und genauso wenig verkörpert ein Gebäude bionische Prinzipien, weil seine Fassadenflächen fließende, mit der Natur assoziierende Formen beinhaltet. Die visuelle Bionik bleibt an der Oberfläche, der erste optische Eindruck ist ausschlaggebend, aber für den wesentlichen Optimierungsprozess kaum dienlich.
2.2. Funktionale Bionik Genaues Beobachten und Analysieren vorhandener Funktionsweisen bilden die Grundlage beim Entwickeln von neuen Methoden, Wirkungsweisen oder Mechanismen im Bauwesen. Im Bereich der Funktionalen Bionik werden diese natürlichen, meist in Vollendung funktionierenden Vorgaben, nicht 1:1 in die Technik umgesetzt. Solche Versuche würden kläglich scheitern. Ein gutes Beispiel hierfür ist das menschliche Bestreben, den Vogelflug nachzuahmen. Zahlreiche Versuche mit flügelschlagenden Flugmaschinen sind gescheitert. Einer der bekanntesten Bioniker in diesem Bereich war wohl Leonardo da Vinci. Seine nach dem Vorbild eines Vogels entwickelte Flugmaschine blieb erfolglos. Erst das Verständnis, wie ein Vogel im Gleitflug fliegen kann, brachte viele Jahrzehnte später Erfolg. Man muss die Funktionsweise des natürlichen Vorbildes untersuchen und analysieren. Mit der anschließenden Umsetzung in den Bereich der Technik beginnt die Bionik. Unmittelbare Zusammenhänge zwischen den natürlichen Vorgaben bzw. Vorbildern und den in der Technik umgesetzten Ergebnissen sind dabei oft nicht sofort erkennbar. Ein Beispiel hierfür ist auch die Entwicklung transparenter Isoliermaterialien. Zwar ist nicht eindeutig geklärt, ob das Fell eines Eisbären das Vorbild für die Entwicklung dieser Materialien war, die Funktionsweisen beider Systeme sprechen aber dafür.
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2.3. Strukturbionik Die Konzeption von effektiven und kostengünstigen Primärtragwerken ist eine essentielle Aufgabe von Architekten und Ingenieuren. Diese Aufgabe wird umso wichtiger, wenn die Primärstruktur die Hauptaufgabe als solche darstellt, wie z.B. bei Brückenbauwerken oder sonstigen weittragenden Konstruktionen. Ansätze zur Optimierung von Strukturen sind in der Natur zahlreich vertreten. Neben der Einsparung von Gewicht als eine der hauptsächlichen Lösungsmöglichkeiten bietet sich auch die Erhöhung von Steifigkeiten (Faltungen), Materialverbesserungen, Interaktionen von Tragwerken und Belastungen (adaptive Tragwerke) o.ä. an. Lösungen aus der Strukturbionik sind häufig auch optisch besonders augenfällig. Sie können die Architektur wesentlich mitgestalten, mitprägen und beeinflussen zahlreiche Detailausbildungen. Die Entwicklung struktureller bionischer Konzepte steht noch am Anfang. Während die prinzipielle Geisteshaltung bei der Entwicklung und Berechnung von Tragwerken eher von statischen Gesetzmäßigkeiten ausgeht, sind die Wirkungsweisen von Tragwerken meistens dynamisch. Berücksichtigt man den Faktor Zeit, so stellt man fest, dass es die so genannte ruhende Belastung eigentlich gar nicht gibt. Ein Tragwerk, das diesem Umstand Rechnung trägt, könnte mit geringstem energetischem Aufwand die geforderten Belastungen abtragen, selbst wenn diese zeitlich unterschiedlich auftreten. Dies setzt allerdings voraus, dass der materielle Einsatz und die Wirkungsweise ebenfalls dynamisch wird. Ein wesentlicher Vorteil bestünde vor allem in der Ausnutzung der Kurzzeitfestigkeiten von Materialien, die deutlich höher liegen als die mittelfristigen und langfristigen Materialkennwerte, die den üblichen Berechnungen normalerweise zugrunde gelegt werden müssen. 3. Konstruktive Lösungen
3.1. Versteifung / Faltung
Abb. 1. Untersicht der Victoria amazonica
Abb. 2. Kristallpalast in London 1851
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Die Geschichte des Baus des Kristallpalastes 1851 zählt unbedingt zu den Highlights der Bionik-Geschichte. War es doch ein Gärtner namens Joseph Paxton, der mit seinem Konzept eines Stahl- / Glasgebäudes nach dem Prinzip des damals bereits bewährten Gewächshausbaus alle Kritiker zu überzeugen wusste. Vor allem weil seine Konstruktion in rekordverdächtigen elf Monaten realisiert werden konnte, wurden die Termine für die viel beachtete Weltausstellung im Jahre 1851 gerade noch eingehalten. Die gefaltete Oberfläche der für damalige Verhältnisse extrem großen Konstruktion verlieh ihr die notwendige Aussteifung. Die hierfür notwendige konstruktive Erkenntnis schreibt man den botanischen Kenntnissen Paxtons um die Stabilitätszusammenhänge der Riesenseerose Victoria amazonica zu. Das fleischige Rippengeflecht der Blattunterseite ermöglicht sogar Personen das Stehen auf den großen Blattdurchmessern. Das Bauwerk des Kristallpalastes setzte nicht nur mit seiner Dimension neue Maßstäbe. Erst mit diesem Bauwerk, das lediglich aus Stahl und Glas bestand, wurden beide Materialien für repräsentative Bauaufgaben der folgenden Epoche „salonfähig“.
Abb. 3. Deckenuntersicht des Fabrikgebäudes Gatti, Rom [1]
Abb. 4. Isostatische Rippen des Femur
3.2. Querkraftstrukturen Pier Luigi Nervi (1891-1979) war ein genialer Konstrukteur. Seine bis heute viel beachteten Konstruktionen und Bauwerke sind Zeuge seines intensiven und logisch denkenden Geistes. Mit vorfabrizierten Fertigteilen, der Sichtbarmachung von Kraftverläufen, der Selbstverständlichkeit der verwendeten architektonischen Formen hat er bis heute nachhaltige Maßstäbe gesetzt. Das Prinzip der isostatischen Rippen innerhalb von Skelettknochen, das der Ingenieur K. Cullmann 1870 entdeckte, war Nervi ebenfalls bekannt. Entsprechend dem Belastungsschema baut sich die Kochengewebestruktur
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masseoptimiert dergestalt auf, dass Hohlräume dort entstehen, wo Gewebematerial überflüssig ist. Dies führt zu einem extremen Leichtbau. Die von Nervi gebauten Deckenuntersichten des Fabrikgebäudes Gatti in Rom zeigen einen analogen Verlauf der lastabtragenden Linien. Die zum Auflager hin verdichteten ´Materialbalken´ aus Beton sind ein ideales Abbild für die Zunahme der Querkraftverläufe. Durch seine gute Modellierbarkeit war Beton der ideale Werkstoff für viele Konstruktionen Nervis. Daher resultieren auch zahlreiche Lösungen für innovative Betonschalungen und Fertigteilen aus seinem Wirken.
3.3. Zugbeanspruchte Konstruktionen
Abb. 5. Spinnennetz [1]
Abb. 6. Deutscher Pavillon auf der Expo 1967 in Montreal [1]
Frei Otto aus Stuttgart zählt sicherlich zu den wichtigsten Pionieren der von der Natur inspirierten Architekten. Sein ganzes Schaffen wird auch von den Beobachtungen der Natur und der Zusammenarbeit mit Medizinern und Biologen geprägt. Die von ihm vielfach untersuchten und beschriebenen Spinnweben werden von hauchdünnen Spinnfäden mit extrem hoher Zugfähigkeit getragen. Selbst auf künstlichem Wege sind heutzutage vergleichbare Fäden kaum herstellbar. Die „Intelligenz“ solcher von zugfesten Fäden getragenen natürlichen Konstruktionen hat sich Otto unter anderem bei seinen Zeltkonstruktionen wie z. B. dem deutschen Pavillon auf der EXPO 1967 in Montreal zu Nutze gemacht. Dieses Bauwerk war beispielgebend für viele Folgebauwerke dieser Art. Die Stabilität seiner Zeltkonstruktionen erzielt Otto mit einem Mix aus Vorspanneffekt und mehrdimensional verformten Oberflächen, die zu dem typischen Erscheinungsbild dieser Konstruktionen führen. Hier waren zahlreiche Entwicklungs- und Modellstudien notwendig, die in Stuttgart u.a. anhand spezieller, ästhetisch sehr anmutender Seifenhautmodelle durchgeführt wurden. Heute existiert sowohl die notwendige Soft- als auch potentielle Hardware, um die entsprechenden ma-
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thematischen Gleichungen algorithmisch auf präzisem, aber leider weniger anschaulichem Wege zu lösen.
3.4. Selbstreinigung – Lotus-Effekt
Abb. 7. Lotus-Pflanze
Abb. 8. Oberfläche mit Fassadenfarbe Lotusan [15]
Wilhelm Barthlott und Christoph Neinhuis entdeckten bei verschiedenen Pflanzenoberflächen einen Selbstreinigungseffekt. Am eindrucksvollsten ließ sich dies bei der Lotus-Pflanze (Nelumbo nucifera) beobachten. Der nach dieser Pflanze benannte Effekt findet im Bauwesen mittlerweile vielfach Anwendung. Aufgrund großflächig verteilter, mikrofeiner Strukturen auf der Blattoberfläche der Pflanze ist der Abrolleffekt von Wassertropfen dahingehend effektiver, dass oberflächenseitige Schmutzpartikel von Regentropfen mitgerissen werden. Durch dieses Wirkungsprinzip entsteht eine eminent effektive Oberflächenreinigung, die auch in der Industrie angewendet wird. Oberflächen von Gebäudefassaden, Glasflächen von Duschkabinen bis zum Fensterflügel, Dachflächen, leichte Zeltkonstruktionen u.a. können auf diese Weise bei geringstem Pflegeaufwand langfristig sauber gehalten werden. Vor der Nutzung dieses Verfahrens war die Reinigung aufwändig und man hat nicht selten aus Kostengründen darauf verzichtet. Die Umweltbelastung durch Reinigungsmittel wird nunmehr zusätzlich reduziert. Vor allem vor dem Hintergrund der deutlichen Zunahme der eingesetzten Glasmengen im Bauwesen ist diese Vereinfachung des Bauunterhalts sehr bedeutsam.
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3.5. Lichtlenkung und Illumination
Abb. 9. Lichtstreuendes Fassadenelement [7]
Abb. 10. Sweeney Chapel, Indianapolis, USA [8]
Das Medium Licht ist mehr als eine bloße physikalische Größe. Licht gestaltet Innenräume, schafft eine räumliche, stimmungsbedingte Atmosphäre, verbessert die Arbeitsplatzbedingungen und inszeniert letztendlich die verwendeten Materialien. Der Amerikaner James Carpenter betreibt seit Jahren in New York ein Büro für die Planung von anspruchsvollen Glasund Lichtskulpturen. Bei der Realisierung seiner Lichtinstallation der Sweeny Chapel in Indianapolis verwendet er gezielt die prismatisch gesteuerten Lichtbrechungseffekte, die auf natürlichen Gesetzen beruht. Zur Erzeugung seiner bunten Lichtstrahlen benötigt er lediglich eine weiße Wandoberfläche, natürliches Sonnenlicht sowie geeignet beschaffene Gläser. Der Lichtdesigner Christian Bartenbach aus Innsbruck gestaltet individuelle Lichtkonzepte u.a. zur Arbeitsplatzbeleuchtung unter Nutzung von Tageslicht und Lichtlenkeffekten. Für spezielle Bauaufgaben hat er zahlreiche individuelle Leuchten entwickelt, die das Medium Licht in seiner natürlichen Weise entfalten.
Abb. 11. Termitenhügel [2] Abb. 12. Aufwindkraftwerk in Manzanares, Spanien
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3.6. Natürliche Ventilation Bionische Konzepte sind nicht immer der Vater des Gedankens. Nicht selten werden Analogien zu Naturphänomenen posthum aufgezeigt - und manchmal auch zu Überzeugungszwecken missbraucht. Nicht jede Architektur, die formal natürlich anmutet, ist deswegen zusätzlich bionisch und schon gar nicht eine Garantie für jedwedes Optimum. In den letzten 10-15 Jahren gab es bei der Entwicklung von Klimakonzepten für Gebäude einen gewissen Umdenkprozess zu verzeichnen. Neue Ingenieurzweige, die des Klimamanagements, sind entstanden. In der Natur und auch bei nicht industriell geprägten Völkern existieren unabhängig davon bereits Lösungen zur Nutzung und Verbesserung klimatischer Effekte, z.B. Durchlüftung eines Termitenhügels oder von Wohnräumen. Das Konzept des thermisch angetriebenen, ressourcenschonenden Aufwindkraftwerks des Stuttgarters Jörg Schlaich ist bereits mehrfach erprobt und vor allem in energiebedürftigen Zonen – z. B. den heißen Ländern der 3. Welt – angeblich sinnvoll anwendbar. Der Aufwindschacht zur Kanalisierung der thermisch bedingten Auftriebsströme ist eine einfache metallische Röhrenkonstruktion mit möglichen Längen weit über 100 m. Großflächig thermisch erwärmte Luft strömt aus einem transparenten Sockel in die zentrale Röhre, die eine Windturbine enthält. Ihre Rotationsachse treibt einen Generator an.
3.7. Gebäudehüllen – Adaptive Fassaden
Abb. 13. Querschnitt durch Abb. 14. Entwicklungszentrum der Audi AG in Inein Laubblatt [2] golstadt [3]
Der Begriff der Adaption in der Anwendung von Gebäudehüllen ist nicht neu. Natürliche Anpassungsprozesse an sich ständig ändernde Umgebungsbedingungen durch geometrische, chemische oder physikalische Reaktionen sind im Bauwesen vielfach vorzufinden. Das Prinzip eines Baumblattes, das durch mikrofeine Spaltöffnungen den sonnenstandsbedingten Prozess der Photosynthese unter Einsatz von Chlorophyll steuert, könnte neue Impulse für reaktive Gebäudefassaden geben. Dieser Punkt ist deshalb so wichtig, weil über die Gebäudefassade nahezu der komplette
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natürliche Energiehaushalt sowie der Lichtin- und Output eines Bauwerks fließt. Mit dem Gebäude für die Audi AG in Ingolstadt hat sich das Architektenteam Fink + Jocher gemeinsam mit den Klimaingenieuren von Transsolar das Prinzip der adaptiven Fassade durch den intelligent gewählten Einsatz von automatischen Verschattungsfunktionen zu Nutze gemacht. Das Innenraumklima wird durch autoregulative Effekte auf natürlichem Wege optimiert. In Abhängigkeit der umgebenden Witterungsbedingungen öffnen oder verschließen die Elemente den Weg für die Sonnenstrahlen ins Gebäudeinnere. Durch Rückkoppeleffekte kann damit das Bauwerk selbst auf sein Innenraumklima „Einfluss ausüben“.
3.8. Studentische Entwürfe – Bionische Analogien
Abb. 15. Studentischer Entwurf eines eines Fahrbahnleitungsmastes
Abb. 16. Studentischer Entwurf einer Bahnsteigbrücke
Ob bionisches Entwerfen als ganzheitlicher Prozess überhaupt möglich und sinnvoll ist, bleibt schwer zu beantworten. Die kausalen Zusammenhänge bleiben immer lösungsorientiert, ihre Antwort bezieht sich meistens auf eine vorangestellte Detailfrage. Ein Entwurfsvorgang ist sehr viel komplexer, die in der Natur vorkommenden Lösungsansätze sehr individuell. So zeigt beispielsweise der an anderer Stelle beschriebene „LotusEffekt“ Möglichkeiten zur Selbstreinigung von Materialoberflächen auf, nicht aber entwurfsrelevante Komplettlösungen. Es sind meistens Einzelstrategien, die uns die Natur aufzeigt – Antworten auf eine einzige Frage für eine begrenzte Gruppe von Individuen. Unsere Arbeit mit Studierenden ist immer einer gezielten Aufgabenstellung unterworfen mit einem hohen funktionalen und konstruktiven Bezug. Nicht selten zeigen die erzielten Ergebnisse, dass auch dadurch, quasi als Umkehreffekt, Analogien zur Natur entstehen bzw. vorzufinden sind. Innovativ und intelligent sind diese Lösungen allemal.
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3.9. Naturphänomene
Abb. 17. Natürlich geformte Eisstruktur
Abb. 18. Brücke von Avignon
Die Natur ist ein umfangreicher Ideenlieferant – diese „ur-bionische“ These beschäftigt nicht nur Bauschaffende. Im Kern ist die Aussage unanfechtbar, die nutzbaren natürlichen Phänomene sicherlich zahlreich. Aufgrund evolutionärer Entwicklungen, die z.B. durch genetische und biologische Umstände immer den Zustand des Optimums anstreben, bieten nahezu alle Elemente in verschiedenen Aggregatzuständen Beispiele für individuelle Optimalzustände. Diese Zustände sind über sehr lange Optimierungszeiträume gewachsen und daher kaum noch verbesserungsfähig. Hierzu ein Vergleich aus dem Computerzeitalter: Die Berechnung einer einfachen geometrischen Strömungsfläche mittels genetischer Algorithmen dauert, bei Betrachtung von lediglich 30 Generationen mit je 10 Nachkommen, selbst mit einem Hochleistungs-PC mehrere Tage. Hier erkennt man das in der Natur tatsächlich verborgene enorme Potential an „Wissen“. Allerdings Beobachten alleine reicht nicht, die Natur ist kein unmittelbarer Blaupausenlieferant. Viele Effekte müssen geduldig erforscht, ihre Anwendbarkeit geprüft und sinnvoll in die Technik übertragen werden. Vermutlich liegen noch zahlreiche Ideen der Natur brach und müssen erst noch entdeckt werden. Bleibt die erfolgreiche Suche dem Zufall überlassen? Kann man systematisch suchen und fündig werden? Es bleibt abzuwarten, ob gesellschaftliche und kulturell bedingte technische Entwicklungen nicht nur zeitlich periodisch mit wechselnder Intensität auf natürliche Ideen zurückgreifen.
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3.10. Verwandte Disziplinen: Flugzeugbau
Abb. 19. Raubmöwe
Abb. 20. Flugzeugflügel mit lokaler Profilaufdickung [6]
Auch Leonardo da Vinci (1452-1519) war schon ein die Prinzipien der Bionik anwendender „Allround-Ingenieur“, der bestimmte verwertbare Phänomene in der Natur genau beobachtet hat. So waren ihm bei seinen Überlegungen zu seinen konzipierten Flugmaschinen die Flügelbewegungen von Vögeln bereits sehr gut bekannt. Der Flugpionier Otto Lilienthal (1848-1896) hat Bewegung, Führungswinkel und Federposition von Tauben genau beobachtet und sich richtigerweise auf den Segelflug konzentriert, der im bionischen Sinne für den technischen Einsatz sehr gut verwertbar war. Ein Trugschluss zahlreicher Flugpioniere war die Überschätzung der menschlichen Muskelkraft bei der Erzeugung des Auftriebs. Genauere Beobachtungen der hierzu notwendigen Muskelgruppen bei Vögeln hätte das Fehlen derselben beim Menschen frühzeitig offenbart. Auch moderne Flugzeuge besitzen im Detail gewisse Anleihen aus der Natur. Sei es der Anstellwinkel von Tragflügelenden, der durch seine Stellung die Bildung von ungünstigen Turbulenzen verhindert oder sei es der Einsatz elastischer Flügeloberflächen, die in gewissen Flugsituationen durch adaptive Formänderungen die Flugeigenschaften verbessern. Es gibt viele Anwendungsmöglichkeiten.
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4. Ein Beispiel für die Anwendung von Evolutionären Algorithmen anhand der Optimierung von Fassadensystemen – ein bionischer Ansatz –
4.1. Einleitung Glas-Doppelfassaden spielen bei der Planung von hohen Bürogebäuden in der modernen Architektur eine wesentliche funktionale Rolle. Neben den oft zitierten Vorteilen einer möglichen Heizenergieeinsparung im Winter durch die Ausnutzung des Wintergarteneffekts, des verstärkten Schallschutzes gegen Außenlärm sowie der Möglichkeit der individuell steuerbaren Raumlüftung sind bei der Anwendung allerdings auch einige Nachteile zu bedenken. So kann z.B. bei hohen internen Wärmelasten dennoch eine HLK-Anlage erforderlich werden, um ein angenehmes Raumklima zu gewährleisten. Hohe Übertemperaturen im Fassadenspalt können diesen Effekt noch verstärken und die Energieeinsparungen im Winter durch einen überproportionalen Kühlbedarf im Sommer wieder zunichte machen. Des Weiteren ist einer möglichen nachteiligen Schallübertragung aus benachbarten Büros durch den Luftspalt Beachtung zu schenken. Aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten stehen den erzielbaren Betriebskosteneinsparungen aufgrund geringerer Energiekosten die höheren Investitions- und Unterhaltskosten für Reinigung gegenüber.
Abb. 21. links: Victoria Ensemble Köln [9], rechts: Düsseldorfer Stadttor [10]
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Da alle Bauwerke vor allem Unikate sind, die an den unterschiedlichsten Standorten unter unterschiedlichsten geometrischen und physikalischen Randbedingungen geplant und realisiert werden, ergeben sich auch zahlreiche individuelle Varianten bei der Bauausführung. Die Vielfalt der individuellen Lösungsmöglichkeiten bieten daher gute Chancen für den Aufbau einer Optimierungsstrategie, die jeweils einen maßgeschneiderten Lösungsansatz findet, der sich den lokalen Rahmenbedingungen anpassen kann. Dieser Prozess kann mit einem Individuum verglichen werden, das sich in seiner Umwelt optimal auf die ökologischen Gegebenheiten einstellt. Aus diesem Grund bietet sich eine Übertragung biologischer Prinzipien auf eine technische Anwendung in diesem Bereich an. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf einer Optimierung der Fassadensysteme aus strömungsmechanischer Sicht liegen, da eine Verbesserung der Durchlüftung einen Abbau der Übertemperaturen im Fassadenzwischenraum und ein allgemein verbessertes strömungsmechanisches Verhalten mit sich bringt. Für diesen Optimierungsprozess des Strömungsverhaltens kommen dabei die sogenannten Evolutionsstrategien als Teilgebiet der Evolutionären Algorithmen zur Anwendung. Wir verfolgen damit auch das Ziel, durch reduzierte Fassadenquerschnitte und damit einhergehenden höheren Flächengewinnen einen höheren Wirtschaftlichkeitsgrad zu erzielen. 4.2. Evolutionsstrategie – Genetische Algorithmen Die Teildisziplin der Evolutionären Algorithmen ist Bestandteil des Wissenschaftszweiges Bionik, der sich der Umsetzung biologischer Prinzipien in der Technik widmet. Der umfassende Bereich der Evolutionsstrategien, die in einem an unserem Fachgebiet entwickelten Programmpaket GeDeNA – Genetic Designing with NAGARE – ihre Anwendung finden, bildet ebenso wie die Genetischen Algorithmen einen Teilbereich der Evolutionären Algorithmen und sind der Schwerpunkt dieses Beitrages [11]. Evolutionäre Algorithmen
Evolutionsstrategien
Genetische Algorithmen
Abb. 22. Einordnung der Evolutionsstrategien [11]
Die wesentlichen Grundbestandteile einer genetischen Optimierung entstammen der natürlichen Evolution und beinhalten im Einzelnen [11, 12]:
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− Reproduktion Die aktuelle Generation ist in der Lage, sich zu vermehren, ihre Populationsstärke bleibt mindestens konstant. Die Nachkommen, die aus den Eltern der aktuellen Generation i hervorgehen, werden Individuen genannt. − Mutation Nach erfolgter Reproduktion werden kleine zufällige Veränderungen in Höhe der dem Individuum zugewiesenen Mutationsschrittweite am Erbgut vorgenommen, die das Verhalten des Individuums in seiner Umgebung maßgebend beeinflussen. Bei technischen Systemen beziehen sich diese Veränderungen auf die Parameter, die das zu optimierende Modell definieren. Das können im Einzelfall die geometrische Struktur des Systems, aber auch die Mutationsschrittweite an sich sein. − Selektion Nach Konfrontation der Individuen mit ihrer Umwelt wird der Gütewert bzw. die Fitness f, die ein Qualitätsmaß für das zugrundeliegende System ist, jedes einzelnen Individuums ermittelt und nach bestimmten Kriterien die neuen Eltern für die nächste Generation ausgewählt. Meist wird eine vorher definierte Anzahl der Individuen mit den minimalsten Gütewerten ausgesucht. Je nach konkreten Rand- und Nebenbedingungen kann diese Wahl auch aufwändiger sein. − Rekombination Optional können bei der Reproduktion vor dem Schritt der Mutation einzelne Bestandteile des Erbgutes zweier oder mehrerer Individuen nach bestimmten Verfahren ausgetauscht werden. Die Rekombination spielt bei den genetischen Algorithmen die weitaus größere Rolle, bei den Evolutionsstrategien ist es die Mutation. 4.3. Zur Realisierung und Implementierung einer Evolutionsstrategie Auf Grundlage einer Versuchsreihe an einem Fassadenmodell wurden zunächst die kommerzielle Computational Fluid Dynamics (CFD)-Software NAGARE, die von Prof. Kunio Kuwahara am Institute of Computational Fluid Dynamics, Tokyo entwickelt wurde, validiert und ihre Tauglichkeit für die Berechnung auftriebsinduzierter Strömungen geprüft und bestätigt. NAGARE bildet die Grundlage für die numerischen Strömungsberechnungen, die bei der Optimierung notwendig werden. Als Aufsatz wurde ein Programm GeDeNA implementiert, das die komplexen Routinen für eine erfolgreiche Anwendung der Evolutionären Algorithmen enthält. GeDeNA automatisiert zusätzlich den gesamten Berechnungsablauf der Strömungs-
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simulationen und ermöglicht außerdem das verteilte Rechnen in einem Computernetzwerk. Die in diesem Programm verwendete Evolutionsstrategie läuft nach dem folgenden, hier nur grob geschilderten Muster ab. Die grundlegende Definition eines Systems erfolgt durch seine Modellstruktur und seine Mutationsschrittweite und kann in GeDeNA über eine grafische Benutzeroberfläche eingegeben werden. Zunächst wird von einem Ausgangssystem eine Kopie erzeugt (Reproduktion) und anhand der Mutationsschrittweite die Anzahl der Veränderungen, die an dem Modell vorgenommen werden sollen, festgelegt. In dem Schritt Mutation erfolgen nach definierten Regeln kleine zufällige Veränderungen an der Modellstruktur. Zusätzlich wird aber auch die Mutationsschrittweite an sich mutiert. Damit können die Schrittweiten ebenfalls von Generation zu Generation weitergegeben werden, so dass große Schrittweiten andeuten, dass sich das System noch in einer groben Optimierungsphase befindet und kleine Mutationsschrittweiten eher auf eine Feinabstimmung hinweisen. Ist der Mutationsprozess abgeschlossen, kann optional noch eine automatische Strukturoptimierung und eine automatische Strukturglättung hinzugeschaltet werden, die eigens für GeDeNA entwickelt wurden und absehbare Fehlentwicklungen einschränken. Diese beiden Algorithmen übernehmen hauptsächlich eine automatische Aus- bzw. Abrundung von Ecken und Kanten, kritische Ausgangspunkte für Turbulenzen und Wirbelbildungen, die sich störend auf den Strömungsverlauf auswirken können. Die Systeme werden daraufhin über das aufgebaute Computernetzwerk verteilt und von den einzelnen Clients mit NAGARE numerisch ausgewertet. Die Bestimmung der Effizienz der generierten Systeme geschieht über eine Auswertung der Geschwindigkeits- und Temperaturfelder. Es wird der Volumenstrom infolge des definierten Wärmeeintrags bestimmt und auf den Temperaturgradienten mit der folgenden Formel, deren Gültigkeit in zahlreichen Simulationen und Versuchen bestätigt werden konnte, umgerechnet [13],[14]: & =f ⋅ V
∆T ,
& – Volumenstrom, f – Fitness, ∆T – Temperaturgradient mit: V
Somit erhält man für sämtliche Systeme einen Fitnesswert f, der als Qualitätsmaß für jedes einzelne Individuum dient. Sind alle Fitnesswerte f einer Generation bestimmt, erfolgt eine Bewertung dieser Gütewerte und die Wahl der neuen Eltern für die folgende Generation. Bei der hier verwendeten Evolutionsstrategie findet kein Aussterben der Eltern statt, d.h. der Gütewert kann sich im Laufe der Evolution nicht verschlechtern (Plusselektion) [13]. Anhand zweier Beispiele soll dieser Prozess verdeutlicht werden.
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Beispiel 1: Vorteile der automatischen Strukturoptimierung und Strukturglättung Im Folgenden soll eine genetische Entwicklung eines strömungsmechanischen Systems beleuchtet und dabei besonders die Auswirkung einer automatischen Strukturoptimierung und Strukturglättung beobachtet werden. Das betrachtete Ausgangssystem sowie ein typischer Screenshot während der Berechnung mit GeDeNA sind in Abb. 23 dargestellt.
1
Abb. 23. Screenshot von GeDeNA
Struktur des Ausgangssystems
Die Abbildung zeigt einen charakteristischen Ausschnitt während einer genetischen Optimierung mit GeDeNA. Es werden drei Arten von Statusfenstern angelegt, in denen der gesamte Rechnungsablauf protokolliert wird und somit kontrolliert werden kann. So können sämtliche Informationen über den momentanen Stand der Entwicklung mit zugehörigen Zwischenergebnissen abgelesen und die aktuellen Systemvarianten grafisch visualisiert werden. Auf der rechten Seite ist das in diesem Beispiel zu optimierende System dargestellt. Das System soll so verbessert werden, dass ein möglichst maximaler Luftvolumenstrom bei geringstem Temperaturgradienten durch den eingezeichneten Schnitt am Auslass strömt. Im Ausgangszustand besitzt die Luft im gesamten System eine definierte Temperatur T0. Durch die Anregung einer Konvektionsströmung aufgrund einer Erwärmung der Heizmatte mit einer Temperatur TH > T0 am Boden des Modells wird ein Aufsteigen der wärmeren Luft innerhalb des Modells verursacht und ein Luftaustausch mit der Luft im äußeren Bereich in Gang gesetzt. Der Bereich, in dem die genetische Optimierung stattfinden kann, ist ebenfalls markiert. Die Berechnung wurde einmal ohne die automatische Strukturoptimierung und Strukturglättung durchgeführt und einmal mit. Zusätzlich wurde die Optimierung mit unterschiedlichen Konvergenzparametern, die im Rahmen dieses Beitrages nicht näher erläutert werden können, durchgeführt, um auch deren Auswirkungen zu beobachten.
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Dargestellt sind in Abb. 24 der Verlauf der Fitnesswerte fk,i des jeweils bei der Selektion einer Generation i gewählten Individuums ck,i, das die Grundlage für die folgende Generation (i+1), also den neuen Elter ek,i+1 bildet. Ebenfalls ist an einigen Punkten des Diagramms die veränderte Struktur des Modells eingetragen, um einen Überblick über den Zustand des Systems zu geben.
Abb. 24. Vergleich der genetischen Entwicklung eines strömungsmechanischen Systems mit und ohne automatischer Strukturoptimierung und Strukturglättung
Es ist deutlich erkennbar, dass bei beiden Variationen des Konvergenzparameters durch das optionale Einführen der automatischen Strukturoptimierungs- und Strukturglättungsalgorithmen deutliche Vorteile im Hinblick auf eine höhere Fortschrittsgeschwindigkeit auftreten. Die Fitness der Modelle, die diese Algorithmen berücksichtigen, erreicht nach wesentlich weniger Generationen einen erheblich höheren Gütewert. Fehlentwicklungen können somit deutlich reduziert und kostbare Rechenzeit eingespart werden. Beispiel 2: Ansatz einer genetischen Optimierung eines Auslasses
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Das zweite Beispiel beschreibt die genetische Optimierung einer Konstruktion, die angelehnt an einen strömungsmechanischen Versuch modelliert wurde, der am Fachgebiet Konstruktives Gestalten und Baukonstruktion durchgeführt wurde. Abb. 25 zeigt einen Schnitt des Modells und das Ergebnis der genetischen Optimierung. Die Optimierung fand mit acht Nachkommen je Generation und zwei Eltern statt. Für eine ausführliche Analyse eines solchen Problems sollte im Idealfall die Anzahl der Nachkommen je Generation rund zwanzig betragen. Dadurch können die durch die Fitnesswerte einer Generation gemachten Erfahrungen besser für eine Optimierung genutzt werden.
Abb. 25. Ausgangssystem und genetisch optimiertes System
Der Temperaturgradient wird hier wie in Beispiel 1 durch eine Erwärmung an der Heizmatte am Boden des Modells erzeugt. Dadurch kommt es zu einem Aufsteigen der wärmeren Luft innerhalb des Spaltes und zu einem Luftaustausch mit der Umgebungsluft. Der Gütewert des Ausgangssystems beträgt 0,027 m 3 / m ⋅ K , zum Vergleich der des Endsystems 0,035 m 3 / m ⋅ K . Dies entspricht einer Steigerung des Volumenstroms um knapp 30%. Für eine weitere Analyse wäre eine feinere Auflösung des Auslasses und eine Ausweitung des Bereiches, der für eine genetische Optimierung genutzt werden könnte, erforderlich. In der folgenden Abb. 26 sind die Gütewerte der einzelnen Individuen über die berechneten Generationen abgebildet. Man kann gut die Zunahme des besten Gütewertes erkennen, aber auch die Verbesserung der Streuung der einzelnen Fitnesswerte innerhalb einer Generation.
(
)
(
)
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0,036 0,034 0,032
Fitness
0,03 0,028 0,026 0,024 0,022 0,02 0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
20
Generation
Abb. 26. Gütewerte einer genetischen Optimierung
4.4. Zusammenfassung Die genetische Optimierung von strömungsmechanischen Systemen birgt ein hohes Potential an Entwicklungsmöglichkeiten und dies nicht nur im Bauwesen. Die Optimierungsmöglichkeit von Fassaden, besonders im Bereich der Luftein- und -auslässe bei Doppelfassaden, kann durch diese Verfahrensweise um ein breites und interessantes Spektrum erweitert werden. Die hohe Rechenleistung, die zurzeit noch erforderlich ist, wird sich in den kommenden Jahren relativieren. Voraussetzung sind vor allem effiziente Algorithmen und die optimale Ausnutzung der sich ständig verbessernden Netzwerke und Rechner. Literatur [1] Nachtigall W (2003) Bau-Bionik – Natur – Analogie – Technik. Springer, Berlin [2] WWF Deutschland (1991) Bionik – Patente der Natur. Umweltstiftung WWF Deutschland, PRO FUTURA Verlag, München
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[3] Institut für internationale Architektur-Dokumentation GmbH (1999) Entwicklungszentrum in Ingolstadt. 1999 (3), München [4] Landesmuseum für Technik und Arbeit Mannheim (1999) Bionik Zukunfts-Technik lernt von der Natur. Siemens Forum München/Berlin [5] Rice P, Dutton H (1995) Transparente Architektur: Glasfassaden mit Structural Glazing. Birkhäuser, Basel Stuttgart [6] Technische Universität Darmstadt (2002) Bionik – Biologisch – technische Systeme. Thema Forschung (2) [7] Compagno A (1999) Intelligente Glasfassaden: Material, Anwendung, Gestaltung. 4. Aufl., Birkhäuser, Basel Stuttgart [8] Balkow D, Schittich C, Schuler M, Sobek W, Staib G (1998) Glasbau Atlas Edition Detail. Institut für internationale Architektur - Dokumentation GmbH, München [9] Oesterle, Lieb, Lutz, Heusler (1999) Doppelschalige Fassaden, Ganzheitliche Planung. Verlag Georg D.W. Callwey, München [10] Internetquelle: www.stadttor.de [11] Adamy J (2002) Fuzzy Logik, Neuronale Netze und Evolutionäre Algorithmen. In: TU Darmstadt (Hrsg) Bionik. Thema Forschung 2/2002, Darmstadt [12] Schwefel H-P (1977) Numerische Optimierung von Computer-Modellen mittels der Evolutionsstrategie. Birkhäuser, Basel Stuttgart [13] Menzel S (2004) Ein Ansatz zur Optimierung des Luftströmungsverhaltens von GlasDoppelfassaden unter Verwendung bionischer Prinzipien. Dissertation, TU Darmstadt [14] Ziller C (1999) Modellversuche und Berechnungen zur Optimierung der natürlichen Lüftung durch Doppelfassaden. Schriftenreihe Stahlbau, RWTH Aachen Heft 44, Shaker Verlag, Aachen [15] Internetquelle: www.lotusan.de
Laufbewegungen bei Roboter, Tier und Mensch: Analyse, Modellierung, Simulation und Optimierung Maximilian Stelzer, Oskar von Stryk Fachgebiet Simulation und Systemoptimierung, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Die Wurzeln der Forschung zum Verständnis der komplizierten Laufprozesse bei Robotern, Tieren und Menschen liegen in der Biologie, der Medizin und den Ingenieurwissenschaften. In der Biologie und Medizin ist das Interesse u.a. durch die Diagnose und bessere Heilung von Laufproblemen und die Entwicklung intelligenter, aktiver Beinprothesen begründet. Die Ingenieurwissenschaften sind z.B. an Bau und Betrieb von Laufmaschinen zur Fortbewegung in unebenem Gelände und der Integration von interner und externer Sensorik und Motorik in die zielorientierte Planung und Steuerung der Laufbewegung autonomer Roboter interessiert. Für alle diese Untersuchungen sind Modellierung und Simulation der Dynamik des Laufens von zentraler Bedeutung.
Abstract The roots of the scientific research interest in understanding the complicated dynamic walking processes of robots, animals and humans are in biology, medicine and engineering sciences. Biological and medical research is interested in improved diagnosis and healing of walking problems and in the development of an intelligent, active leg prosthesis. In engineering sciences research is performed in design and operation of walking machines for locomotion in rough terrain as well as in the integration of internal and external sensors and actuators in the goal oriented planning and control of legged locomotion for autonomous robots. Modelling and simulation of the dynamics of legged locomotion is of central importance for all of these fundamental research themes.
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Maximilian Stelzer, Oskar von Stryk
1. Einführung In den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begann weltweit das wissenschaftliche und kommerzielle Interesse an Laufmaschinen und laufenden Robotern (z.B. Honda ASIMO, Sony AIBO) stark anzuwachsen. Konstruktion, Steuerung und Regelung laufender Roboter sind um ein Vielfaches aufwendiger zu realisieren als beispielsweise die Fortbewegung auf Rädern. Die Fortbewegung auf Beinen ermöglicht jedoch das Schreiten über Hindernisse und Gräben, das Treppen steigen und allgemein eine gleichmäßige Fortbewegung über unebenem Untergrund durch Kompensation von Unebenheiten durch Anpassung von Schrittlänge und -höhe. Auch besteht auf weichem Grund ein geringeres Risiko des Einsinkens gegenüber Rädern. Computerbasierte Modellierung und Simulation bietet neben Theorie und Experiment einen neuen Zugang zum Verständnis und zur Lösung vieler noch offener, grundlegender Fragen im Verständnis der Dynamik des Laufens bei Mensch, Tier und Roboter.
2. Grundlagen der vier- und zweibeinigen Fortbewegung 2.1. Statisch und dynamisch stabile Gangarten Das statisch stabile Laufen bei vier-, sechs- oder mehrbeiniger Fortbewegung ist dadurch gekennzeichnet, dass mindestens drei Füße fest mit dem Boden verbunden sind und sich die Projektion des Körperschwerpunkts entlang der Richtung des Gravitationsvektors auf den Boden innerhalb der durch drei oder mehr Ecken gebildeten konvexen Hülle der Bodenkontaktpunkte befindet. Solange diese Bedingung erfüllt ist, sind Gleichgewichtsverlust und Umkippen unmöglich. Stabile Laufbewegungen mit weniger als drei Füßen in Kontakt mit dem Boden, bei denen sich das Kontaktpolygon während des Bewegungsablaufs ein- oder mehrmals zu einer Linie, einem Punkt oder gar nichts reduziert, werden als dynamisch stabil bezeichnet. Bei zweibeiniger Fortbewegung wird zur Definition des statisch stabilen Laufens das Polygon der Bodenkontaktpunkte ersetzt durch die konvexe Hülle der Bodenkontaktflächen der beiden Füße. In der Natur werden mehrheitlich reguläre Gangarten mit periodischem Bewegungsmuster beobachtet, die nach Anzahl der Füße mit gleichzeitigem Bodenkontakt, Reihenfolge der Beinbewegungen, Dauer des Bodenkontakts eines einzelnen Fußes etc. unterschieden werden. Bei sechs- und mehrbeinigen Tieren findet man ausschließlich statisch stabile Gangarten. Bei Vierbeinern gibt es in der Natur dagegen nur eine einzige und sehr
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147
langsame, statisch stabile Gangart, so dass hier mehrheitlich dynamisch stabile Gangarten verwendet Beispiele sind Schritt, Trab und Galopp. Die Klassifikation einer Gangart allein legt jedoch noch nicht die zeitlichen Trajektorien der einzelnen Beingelenksbewegungen während der Ausführung einer Laufbewegung eindeutig fest, da die Bewegungsapparate bei Mensch und Tier (und meist auch bei mehrbeinigen Robotern) hochredundant sind. Die Realisierung dynamisch stabil laufender, zwei- und vierbeiniger Roboter stellt wegen der hohen Dynamik der Bewegung und der permanenten Umkippgefahr eine große, bisher nur in Spezialfällen gelöste, ingenieurwissenschaftliche Problemstellung dar. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich der laufende Roboter zielorientiert und autonom bezüglich der Verarbeitung von Sensorinformationen sowie der Planung und Steuerung von Bewegungen einerseits und des Energie- und Rechenzeitbedarfs andererseits fortbewegen soll. 2.2. Exkurs: Sechsbeiniges Laufen
Abb. 1. Sechsbeiniges Laufen, links; Vorbild Stabheuschrecke [2], Mitte; Laufmaschine der TU München [3], rechts: Laufroboter RHex [4]
Allgemeine Untersuchungen des Nervensystems mehrbeiniger Tierarten haben gezeigt, dass die Beinbewegungen im Wesentlichen lokal gesteuert werden und nicht zentral durch das Gehirn. Die Stabheuschrecke (Abb. 1, links) ist eines der biologischen Vorbilder zur Realisierung sechsbeiniger Laufmaschinen [2]. Zur Fortbewegung werden drei Teilaufgaben unterschieden: die räumlich-zeitliche Koordination der Beinbewegungen, die Bewegungssteuerung eines einzelnen Beines und die Steuerung der Körperhöhe über Grund. Zur Simulation der dezentralen Bewegungsregelung der Stabheuschrecke wurden weitgehend autonome Beinbewegungsregelungen mit künstlichen neuronalen Netzen jeweils für die Schwing- und Bodenkontaktphasen einer Fußbewegung entwickelt [2]. Auf Grund dieser Erkenntnisse wurde zuerst an der TU München [3] (Abb. 1, Mitte) eine sechsbeinige Laufmaschine entwickelt. Mit je drei durch Elektromotoren steuerbaren Bewegungsfreiheitsgraden pro Bein müssen zur Fortbewegung
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mindestens 18 Motoren koordiniert werden, was mit Hilfe der Übertragung der von der Stabheuschrecke abgeleiteten dezentralen Regelungsmechanismen jedoch möglich ist. Am häufigsten wird die statisch stabile Dreifußgangart (tripod) verwendet, bei der jeweils die beiden äußeren Beine der einen und das innere Bein der anderen Seite gemeinsam geschwungen bzw. aufgesetzt werden. Kollisionen werden durch Anstoßen der Beine an Hindernisse erkannt (trotz hohen Motorstroms keine Änderung der Gelenkwinkel), so dass die Anforderungen an externe Sensorsysteme wie Kamera oder Ultraschall zur Realisierung eines autonomen, sechsbeinigen Laufroboters gering sind. Die bisher erreichten Laufgeschwindigkeiten sind jedoch im Vergleich zur Natur niedrig. Doch es gibt Alternativen zur Realisierung schneller und robuster sechsbeiniger Laufmaschinen bei sehr viel einfacherem Design von Mechanik und Steuerung: 1999 wurde an der Montrealer McGill Universität der Laufroboter RHex (Abb. 1, rechts) vorgestellt, dessen sechs Beine je nur einen, dafür beliebig rotierbaren Bewegungsfreiheitsgrad an der Hüfte besitzen [4]. Die Beine sind darüber hinaus elastisch, so dass während der Bodenkontakte bei schneller Beinrotation in Dreifußgangart Dämpfungseffekte beim Auftreffen und Federeffekte beim Abfedern auftreten. Die resultierenden Laufbewegungen haben sich selbst bei unwegsamstem Gelände als extrem robust erwiesen. Die erreichbare Höchstgeschwindigkeit von mehr als 5 km/h ist weltrekordverdächtig. Die nach ingenieurwissenschaftlichen Kriterien entworfene Laufmaschine hat nur einen entfernten Verwandten in der Natur mit ähnlichem Gewichtsverhältnis zwischen leichten Beinen und schwerem Körper, niedrigem Schwerpunkt und robuster, schneller Laufbewegung: die Kakerlake. Die Übertragung der Erkenntnisse des statisch stabilen, sechsbeinigen auf das dynamisch stabile, vierbeinige Laufen ist beschränkt, denn eine stärkere Koordination der Beinbewegungen durch Zwangskopplung kinematischer (z.B. Abmessungen) und dynamischer (z.B. Kräfte) Größen sowie höhere Anforderungen an die externe Sensorik zur rechtzeitigen Hinderniserkennung und Anpassung des Bewegungsverhaltens noch vor dem ersten Hinderniskontakt sind weitere, notwendige Voraussetzungen.
Laufbewegungen bei Roboter, Tier und Mensch
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3. Dynamik des Laufens bei Robotern 3.1. Modellierung und Simulation
Abb. 2. Idealisierte kinematische Strukturen vier- und zweibeiniger Roboter
Die Mehrkörpersystemdynamik bildet die Grundlage der Modellierung der Dynamik des Laufens. Das kinematische Robotermodell beruht auf der Modellierung des Roboters als geometrische Verkettung elementarer Gelenkstrukturen (z.B. von Dreh- oder Schubgelenken) mittels starrer Roboterglieder (Abb. 2). Mit Hilfe des Vorwärtskinematikmodells wird die aus einer vorgegebenen Kombination von Hüft-, Knie- und Fußgelenkswinkeln resultierende Position und Orientierung des Fußes beschrieben. Das numerisch schwieriger zu lösende inverse Kinematikmodell liefert die für eine Position und Orientierung des Fußes notwendigen Gelenkswinkel. Zur Modellierung der Dynamik des Laufens müssen darüber hinaus die bei einer Bewegung auftretenden bzw. die dafür notwendigen Kräfte und Drehmomente berücksichtigt werden. Unter zusätzlicher Verwendung der Massen, Schwerpunktslagen und Trägheitstensoren aller Roboterglieder und gelenke kann das Dynamikmodell z.B. auf der Grundlage von Impuls- und Drallsatz ermittelt werden. Mehrere, alternative mathematische Darstellungen des resultierenden Systems von Differentialgleichungen zweiter Ordnung sind möglich [21], z.B. als
M (q )q&& + C (q, q& ) + G (q) = u + J c (q) T f c
(1)
Dabei bezeichnen q den zeitabhängigen Vektor der n Gelenkvariablen, q& den Vektor der Gelenkgeschwindigkeiten, u den Vektor der von den Gelenkantrieben aufgebrachten Drehmomente oder Kräfte, M(q) die Massenmatrix, C (q, q& ) den Vektor der Coriolis- und Zentrifugalkräfte,
G (q) den Vektor der Gravitationskräfte und J c (q )T f die Kontaktkräfte. Die Vorwärtsdynamiksimulation bezeichnet die numerische Integration
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des Dynamikmodells für gegebene Anfangswerte q (0), q& (0) und gegebenen Momenten- bzw. Kraftsteuerungsverlauf u(t), 0 < t < tf zwischen Anfangs- (t = 0) und Endzeitpunkt (t = tf). Besondere Schwierigkeiten liegen im Auftreten von kinematischen Schleifen mit wechselnder Struktur. Diese können je nach Modellierung zu gekoppelten Systemen von Differentialgleichungen und algebraischen Gleichungen führen, die besonderen numerischen Aufwand bedingen. Weitere Schwierigkeiten bestehen in der effizienten Formulierung von M -1(q) mit O(n) arithmetischen Operationen und nicht zuletzt in der Modellierung unterschiedlicher Kontaktsituationen. 3.2. Steuerung Ein erstes, grundlegendes Modell dynamischer Stabilität wurde von Raibert entwickelt [6]. Für einen einbeinigen Hüpfroboter (Abb. 3, links) wird das Steuerungsproblem in drei unabhängige, zeitabhängige Teilprobleme zerlegt: Hüpfhöhe, Vorwärtsgeschwindigkeit und Haltung, die jeweils durch eine Differentialgleichung modelliert werden. Die Synchronisierung der Steuerungen während eines in fünf unterschiedliche Bewegungszustände zerlegten Hüpfzyklusses erfolgt durch einen diskreten Zustandsautomaten. Dieses Prinzip ließ sich erfolgreich auf zwei- und vierbeinige Hüpfroboter übertragen (Abb. 3, rechts), wobei bei Vierbeinern Beinpaare als ein virtuelles Bein betrachtet werden. Auf diese Weise können zwar schnelle, dynamisch stabile Gangarten realisiert werden, für die Entwicklung vielseitig einsetzbarer, autonomer laufender Roboter sind diese Antriebe und Bewegungssteuerungen jedoch nur beschränkt verwendbar. Übertragbar auf allgemeine, vier- und zweibeinige Laufmaschinen ist jedoch das Prinzip der Zerlegung eines Bewegungszyklusses – und damit des Problems der Modellierung bzw. Realisierung dynamischer Stabilität – in einzelne Phasen. Das Systemverhalten wird in jeder Phase durch ein System nichtlinearer Differentialgleichungen beschrieben. Mit Hilfe eines diskreten Zustandsautomaten und Übergangsbedingungen werden die Wechsel zwischen einzelnen Phasen beschrieben. Im Unterschied zu Hüpfrobotern ist jedoch die Komplexität der Dynamik in den einzelnen Phasen der Bewegung, die Komplexität des Zustandsautomaten und die zur Realisierung erforderliche, integrierte Betrachtung von Antrieben, Sensoren und Steuerungsentwurf erheblich aufwendiger. Darüber hinaus enthält die Entwicklung autonomer zwei- und vierbeiniger Roboter, die selbsttätig
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Abb. 3. Ein- und vierbeinige Hüpfroboter [6]
sich ändernde Erfordernisse der Umwelt erkennen und dynamisches Bewegungsverhalten selbsttätig und robust anpassen, noch viele, weltweit ungelöste Teilprobleme. In einer Studie für ein aus neun Starrkörpern bestehendes, vollständig dynamisches Basismodell eines vierbeinigen Roboters wurde die Möglichkeit der Ausnutzung der Redundanz des Bewegungsapparates durch numerische Berechnung der Steuerungen für die acht Gelenkmotoren demonstriert, derart dass bei vorgegebener Gangart in der Vertikalebene ein Gütekriterium wie der Energieaufwand pro Schrittlänge p1 (2)
t
⎛ f 8 ⎞ J [u ] = ⎜ ∫ ∑ u i2 (t )dt ⎟ / ⎜ t =0 ⎟ ⎝0 ⎠
p1
minimiert wird [7, 19, 21]. Zur numerischen Lösung von Optimalsteuerungsproblemen wie der Minimierung eines Gütekriteriums J [u] unter den Nebenbedingungen der vollen Systemdynamik sowie weiteren Beschränkungen an die Gelenkvariablen oder Motormomente wurden in der letzten Dekade leistungsfähige neue Verfahren entwickelt [8]. Die solchermaßen berechneten Referenztrajektorien eignen sich für grundlegende Designstudien [9] sowie als Sollwerttrajektorien für eine Gelenkregelung zur Realisierung einer festen Laufbewegung bei geringen Unsicherheiten in System- und Umweltmodellen [18, 20] für zweibeinige Roboter. Zur Modellierung und Implementierung dynamischer Stabilität zweibeiniger Roboter werden derzeit meist Heuristiken in Kombination mit dem
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Konzept des Zero-Moment-Points [10] oder der Steuerung eines umgekehrten Pendels verwendet. Diese sind jedoch allesamt im Falle schnellen Gehens, Laufens und gar Rennens nicht anwendbar, so dass hier noch erheblicher Bedarf an Grundlagenforschung besteht.
4. Dynamik des Laufens bei Tier und Mensch 4.1. Modellierung und Simulation Die bei Robotern verwendete Modellierung des Bewegungsapparates lässt sich zunächst auf die Modellierung des Skelettes übertragen. Die Antriebe der Natur sind jedoch Muskeln und Sehnen und keine Gelenkmotoren. Geeignete Modelle für die muskeldynamischen Beziehungen zwischen KraftGeschwindigkeit (z.B. nach Hill) und Kraft-Ausdehnung (z.B. nach Huxley) wurden in der Literatur bereits vorgestellt und erweitert [11]. Darüber hinaus müssen die Auswirkungen passiver Schwabbelmassen bei dynamischen Bewegungen berücksichtigt werden. Die Steuerung und Regelung der Muskeln selbst erfolgt durch das zentrale Nervensystem. Dessen Modellierung ist im Vergleich zur Modellierung von Skelettaufbau und Muskel-Sehnen-Gruppen bisher am wenigsten erforscht. Der menschliche wie der tierische Bewegungsapparat sind hoch redundant. Durch ganz unterschiedlichen Einsatz der beteiligten Muskelgruppen können dieselben Bewegungsfreiheitsgrade realisiert werden (Abb. 4). Eine gängige Arbeitshypothese in der Biomechanik ist, dass bei regulären Muskelsteuerungen der Energie- oder Belastungsaufwand minimiert wird [11]. Eine spezielle Wahl dieses Gütekriteriums (die Minimierung der Aktivität der maximal aktiven Muskeln) ermöglicht eine besonders effiziente numerische Lösung, so dass die Simulation von Bewegungsabläufen auch für eine sehr hohe Anzahl von Muskeln schnell durchführbar ist [12]. Allerdings gilt dies nur bei Verwendung kinematischer Punktmassenmodelle, die zur Modellierung langsamer Bewegungen ausreichen, wobei die Trägheiten von Skelett und Schwabbelmassen ebensowenig wie muskeldynamische Eigenschaften und Beschränkungen betrachtet werden. Werden diese dagegen in einer Vorwärtsdynamiksimulation mitberücksichtigt, so sind bei Minimierung eines Gütekriteriums für die Muskelsteuerungen die resultierenden optimalen Steuerungsaufgaben noch sehr viel höher dimensional als bei laufenden Robotern, so dass der Rechenaufwand bei Verwendung von Standardverfahren zur Simulation und Optimierung auf einer Workstation z.B. für eine vertikale Sprungbewegung bei einem zweidimensionalen Beinmodell mit 9 Muskelgruppen im Bereich von Tagen [13]
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und für ein dreidimensionales Gesamtkörpermodell mit 54 beteiligten Muskelgruppen im Bereich von Monaten [14] liegt. Daher wird die volle Modellierung und Simulation menschlicher Bewegungen als neue Methodik in Sport, Biomechanik und Medizin nur durch Verwendung möglichst effizienter Verfahren zur Modellierung und Simulation [5] sowie zur Optimierung [8] und durch Hochleistungsrechner ermöglicht werden können.
Abb. 4. Ausgewählte Muskelgruppen am Ellbogengelenk [12] (links) und am Ober- und Unterschenkel [13] (rechts).
4.2. Besonderheiten der Bewegungsapparate von Tier und Mensch Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu Robotern liegt im energieeffizienten Design natürlicher Beingliedmaße. Negative Arbeitsmodi der Beinantriebe, bei denen zur Stabilisierung der Vorwärtsbewegung Bremskraft erzeugt werden muss, möchte man bei der Konstruktion von Laufmaschinen vermeiden, um stattdessen möglichst Energie zurückzugewinnen und Stöße zu dämpfen. In der Natur wird dies durch Speicherung elastischer Energie in einem Teil der Muskeln beim Einstauchen und durch Zurückgabe der Energie beim Abfußen erreicht. Eine weitere Möglichkeit zur konstruktionsbedingten Vermeidung negativer Arbeitsmodi ist die Entkopplung von Antriebs- und Tragemechanismus. Beides lässt sich durch ein Pantographenbein realisieren wie es z.B. beim Pfeifhasen der Fall ist [15] (Abb. 5).
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Abb. 5. Pantographenbeine des Pfeifhasen [15].
Bei vierbeinigen Tieren spielt darüber hinaus die Rolle der Biegeschwingungen der Wirbelsäule und deren Abstimmung mit der Anordnung der Beine und den Beinschwingungen eine Rolle, die bei vierbeinigen Robotern bisher noch wenig berücksichtigt wurde. Die zweibeinige Fortbewegung des Menschen ist durch die kontralateralen Pendelschwingungen von Armen und Beinen besonders gekennzeichnet, die zur wechselseitigen Kompensation der am Rumpf angreifenden Kräfte und Momente dienen. Bei der dabei auftretenden Torsion hat die Wirbelsäule in Verbindung mit den diagonal verlaufenden schrägen Muskelschichten der Brust- und Bauchwand die Wirkung einer Torsionsfeder mit elastischer Energiespeicherung [16]. Im Gegensatz zu den eher punktförmigen Bodenkontakten bei Vierbeinern ermöglicht die Unterstützungsfläche des menschlichen Fußes über die Kopplung mit den Muskelsystemen der großen Gelenke die Erzeugung von Drehmomenten und je nach Gangart ganz unterschiedliche Kontaktund Abrollphasen.
5. Integration von Sensorik und Motorik Zur Entwicklung eines schnell beweglichen, autonomen humanoiden Roboters muss man einen circulus vitiosus durchbrechen: je schneller die gewünschten Bewegungen, umso leistungsfähiger müssen die Gelenkantriebe sein, doch umso höheres Eigengewicht haben die Antriebe und umso höher ist das Gewicht der benötigten Energieversorgung und damit das Gesamtgewicht und schließlich umso langsamer die möglichen Bewegungen. D.h. ein guter Prototyp eines autonomen, laufenden Roboters muss hinsichtlich kinetischer Daten aller Komponenten, angestrebter dynamischer Laufbewegung, daraus resultierender Anforderung an Verfügbarkeit von Sensordaten und Taktraten von Regelkreisen, Energieversorgung etc. bei wider-
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strebenden Anforderungen möglichst optimal ausgelegt werden. Modellierung und Simulation kann hierbei helfen. Ein erster Schritt ist der gemeinsam mit dem Fachgebiet Regelungssysteme der TU Berlin entworfene Prototyp [9] (Abb. 6). Doch es sind nicht allein die motorischen Fähigkeiten, die die Dynamik des Laufens bestimmen, vielmehr spielt die Integration mehrerer, unterschiedlicher Sensorsysteme und deren wechselseitige Beeinflussung, z.B. bei visuell stimulierten Bewegungsreflexen (visual servoing), eine wichtige Rolle für das Verständnis menschlicher Bewegungen in Biomedizin und Sport und ebenso für die Entwicklung autonomer, humanoider Roboter in den Ingenieurwissenschaften. Auch hier ist der Stand der Forschung mehr durch offene als beantwortete Fragen gekennzeichnet. Im Projekt der ,,Darmstadt Dribbling Dackels" [17] (Abb. 7) schließlich geht es bei der Entwicklung und Implementierung von Algorithmen für ein Team autonomer, kooperierender, vierbeiniger Roboter in dynamischer Umgebung am Beispiel des Fußballspiels um alle diese Fragen.
Abb. 6. Kinematische Struktur eines humanoiden Roboters (rechts) und Prototyp des Laufapparates (links) [9]
6. Zusammenfassung und Ausblick Die Modellierung und Simulation der Dynamik des menschlichen Laufens kann die Grundlage für künftige Methoden und Erkenntnisse im Sport, in der Rehabilitation und in der Entwicklung intelligenter Beinprothesen bil-
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den. Im Bereich der Robotik sind Modellierung und Simulation der Dynamik Voraussetzungen, um vielseitig einsetzbare, dynamisch stabil laufende vier- und zweibeinige Roboter zu entwickeln. Doch warum sollte man dies überhaupt tun? Aus ähnlichen Gründen wie beim Apollo-Flug zum Mond: Weil bei der Entwicklung eines so extrem komplexen wie neuartigen Systems eines dynamisch stabil laufenden, autonomen Roboters viele innovative neue Teillösungen in allen beteiligten Wissenschaftsgebieten notwendig sind, so dass ein kleiner Schritt für einen Roboter einen großen Schritt für die Wissenschaft bedeutet. Und weil die Untersuchung der sensomotorischen Fähigkeiten des zweibeinigen Laufens uns nicht zuletzt auch neue Einsichten über den Menschen selbst liefert. Joseph Engelberger, in den sechziger Jahren einer der ,,Väter" der Industrierobotik, hat dies 1985 so ausgedrückt: ,,You end up with a tremendous respect for a human being, if you're a roboticist".
Abb. 7. Fußballspielende, autonome vierbeinige Roboter [17]
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Ein bionisches neuronales Netz zur Periodizitätsanalyse Kyriakos Voutsas, Gerald Langner, Jürgen Adamy, Michael Ochse (KV, JA) Fachgebiet Regelungstheorie und Robotik, TU Darmstadt (GL, MO) Fachgebiet Neuroakustik, TU Darmstadt
Zusammenfassung In diesem Kapitel wird ein neuronales Modell zur Verarbeitung von Schallsignalen eingeführt. Das Periodizitäts-Analyse-Netzwerk (PAN) ist ein bioinspiriertes neuronales Netzwerk spikender Neurone. Das PAN besteht aus komplexen neuronalen Modellen, die für die Untersuchung der Dynamik von einzelnen Neuronen und neuronalen Netzen benutzt werden können. Das Netzwerk kann Eigenschaften der Grundfrequenz von harmonischen Schallsignalen verarbeiten. Daher kann das PAN-Modell in klassischen schallverarbeitenden Anwendungen eingesetzt werden, wie z.B. zur Trennung von Schallquellen, zur Periodizitätsanalyse und zur Lösung des Cocktail-Party-Problems.
Abstract In this chapter a neuronal model for sound processing is introduced. The Periodicity Analysing Network (PAN) is a biologically inspired network of spiking neurons. The PAN consists of complex neural models, which can be used for the investigation of the dynamics of single neuron cells and of neural networks. The network can process fundamental frequency characteristics of harmonic signals. Therefore, the PAN can be used in classic sound processing applications, such as the sound source separation, the periodicity analysis and the cocktail party problem.
1. Motivation Computational Neuroscience beschäftigt sich mit der technischen Modellierung von biologischen neuronalen Systemen und mit der Frage, wie die Neurone im Gehirn ihre Funktionen wahrnehmen. Neural Computing fokussiert auf die Entwicklung von einfachen Neuronenmodellen, die ausreichende logische Leistung besitzen um diskrete Berechnungen durchzufüh-
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ren. Die Mehrheit der Systeme zur Verarbeitung von Schallsignalen, wie z.B. Systeme zur Lokalisierung von Schallquellen, zur Periodizitätsanalyse und Tonhöhewahrnehmung, befolgen die Methoden der Neural Computing, um technische Systeme zu entwickeln, die solche Aufgaben bewältigen [1-6]. Andererseits konzentrieren sich die meisten Simulationswerkzeuge auf die präzise Modellierung von Neuronen und von kleinen neuronalen Netzen mit dem Hauptziel die Untersuchung der Dynamik dieser Netze [7-10]. In diesem Beitrag wird ein neuronales Netzwerk eingeführt, das mit Methoden der Computational Neuroscience implementiert wurde, allerdings auch für praktische Anwendungen – solche wie die der Neural Computing – benutzt werden kann. Das Periodizitäts-Analyse-Netzwerk (PAN) ist ein „spikendes“ neuronales Netz, basierend auf neuronaler Mechanik, das komplexe Modelle von Neuronen einsetzt und das spezifische Nuclei des auditorischen Systems simuliert. Es kann sowohl für das Verstehen der Mechanik von strukturierten neuronalen Netzen des auditorischen Systems als auch für technische Anwendungen benutzt werden, wie z.B. für Periodizitätsanalyse von amplitudenmodulierten (AM) Signalen.
2. Das auditorische System Unsere Ohrmuschel bündelt den eintreffenden Schall. Er wird über den Gehörgang auf das Trommelfell und mit Hilfe der Gehörknöchelchen, dem Hammer, dem Amboss und dem Steigbügel zum Innenohr weitergeleitet (Abb. 1). Im Innenohr (Cochlea) löst er Wanderwellen aus. Diese breiten sich über die in der Cochlea befindliche Basilarmembran aus, auf der die Rezeptorzellen (Haarzellen) sitzen. Die Basilarmembran besitzt ortsabhängige mechanische Eigenschaften und bremst daher die Wanderwellen, vergleichbar mit Brandungswellen, ab. Töne hoher Frequenz werden am Anfang der Cochlea, Töne niedriger Frequenz entsprechend später abgebremst. Diese ortsabhängige Reaktion der Basilarmembran befähigt das Ohr zur Frequenzanalyse. Während hohe Frequenzen nur die Haarzellen an der Basis erreichen, laufen tiefe Frequenzen weit in die Cochlea. Demnach arbeitet das Innenohr wie eine Filterbank. Nachdem das Schallsignal in elektrische Nervenimpulse gewandelt wird, schließt sich die neuronale Verarbeitung an. Die topographische, auch tonotop genannte, Abbildung der Frequenzen in der Cochlea wird über den Hörnerv auf die nächste Hörbahnstation den Nucleus Cochlearis (CN) und sukzessiv auf alle weiteren Hörbahnstationen bis zum Hörkortex übertragen (Abb. 2).
Ein bionisches neuronales Netz zur Periodizitätsanalyse
äußeres Ohr Hammer
Mittelohr
161
Innenohr
Amboß
Basilarmembran Hörnerv
Ohrmuschel
äußerer Gehörgang
Cochlea
Trommelfell
Steigbügel
ovales Fenster
Abb. 1. Das menschliche Ohr
Der auditorische Nerv (AN), überträgt das spikekodierte Schallsignal zu den drei Nuclei des CN, dem dorsalen (DCN), dem anteroventralen (AVCN) und dem posteroventralen (PVCN). Die Periodizitätsanalyse beginnt mit der zeitlichen Kodierung akustischer Signale im CN [11]. Der AVCN projiziert zu den oberen Olivenkernen, LSO, MSO und MNTB, wo die Verarbeitung für die Lokalisierung von Schallquellen anfängt [12, 13]. Die DCN und PVCN Zentren leiten das kodierte Signal zum Nucleus des Lemniscus lateralis (NLL) und zum Colliculus inferior (IC) weiter. Dort befinden sich die letzten Stufen der zeitlichen Periodizitätsanalyse [11]. Die resultierende Information wird über den Thalamus (MGB) zum auditorischen Kortex übertragen. Im folgenden Abschnitt wird ein spikendes neuronales Netz beschrieben, das einige der oben beschriebenen Verbindungen in der Hörbahn simuliert und fähig ist, eine zeitliche Periodizitätsanalyse von AM-Signalen durchzuführen. Im Weiteren werden biologische Daten von elektrophysiologischen Experimenten, die dieses Modell unterstützen.
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Abb. 2. Die aufsteigende Hörbahn
3. Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse 3.1. Strukturelle und funktionelle Beschreibung Das in diesem Abschnitt beschriebene neuronale Netz basiert auf einem Korrelationsnetzwerk spikender Neuronen. Das Netzwerk (Abb. 3) besteht aus einem Triggerneuron, einem Oszillatorkomplex, einem Integratorkomplex und einem Koinzidenzneuron. Exemplarische neuronale Potentiale dieser vier Module des Netzes sind in Abb. 3 dargestellt. Die Funktion des Netzwerkes basiert auf der Korrelation von zeitlich verzögerten und unverzögerten neuronalen Antworten. Diese Signale laufen zu Neuronen, die als Koinzidenzdetektoren reagieren [11]. Jede Modulationsperiode eines AM-Signals aktiviert das Triggerneuron (Abb. 3), das dann eine rasche Oszillation (Oszillator-Potential in Abb. 3) mit einer vordefinierten Frequenz generiert. Parallel zu diesem Prozess reagiert das Integratorneuron im gleichen zeitlichen Zyklus – allerdings zeitverzögert (Integrationszeit des Integratorpotentials in Abb. 3). Das Koinzidenzneuron wird nur dann aktiv, wenn die Integrationszeit gleich der Periode des Signals ist.
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In diesem Fall können Modulationsperioden, mτm, mit m = 1,2,..., welche die Oszillationen aktivieren und den Koinzidenzmechanismus führen, aus der folgenden Gleichung ermittelt werden: mτm = n τc – kτk
(1)
wo m, n und k ganze Zahlen sind, mit k = 0,1,...,kmax. nτc ist die Integrationszeit, d.h. die Zeit die das Membranpotential des Integratorneurons braucht, um den Schwellwert zu erreichen. 1/τc ist die Trägerfrequenz des AM-Signals, 1/τk die Frequenz der Oszillationen und kmax die Anzahl der von der Modulationsfrequenz des AM-Signals generierten Oszillationen, die zur Synchronisierung der zwei Eingänge des Koinzidenzneurons gebraucht werden. Die Gleichung (1) wird im Weiteren als Koinzidenzgleichung bezeichnet. Der Parameter m beschreibt die Tatsache, dass die Koinzidenzneurone auch auf Obertönen (m>1) der Modulationsfrequenz eines AM-Signals reagieren. Dies impliziert eine nicht eindeutige Reaktion der IC-Neurone, z.B. bei harmonischen Signalen. Eine Lösung für dieses Problem, die auf elektrophysiologischen Resultaten [14,15] basiert, wird im Abschnitt „Inhibition als Low-Pass Filterung“ eingeführt. Wegen der Frequenzanalyse in der Cochlea, reagiert ein Neuron am stärksten bei einer bestimmten Frequenz, der charakteristischen Frequenz (CF). Zusätzlich zur CF ist ein Koinzidenzneuron auf eine bestimmte Periodizität abgestimmt, z.B. auf eine bestimmte Modulationsfrequenz eines AM-Signals, die sogenannte beste Modulationsfrequenz (BMF). Daher werden unterschiedliche Trigger-, Oszillator-, Integrator- und Koinzidenzneurone gebraucht, die auf unterschiedliche Periodizitäten reagieren, um das ganze Spektrum von Tonhöhen abdecken zu können. Die funktionellen Einzelheiten eines Modells, das ein solches Periodizitätsanalysemodul simuliert, zusammen mit der Beschreibung der Komponente werden im Abschnitt „Die PAN Simulation“ präsentiert. Im Folgenden werden die biologischen Daten präsentiert, die die Existenz eines solchen Periodizitätsanalyse-Modells im auditorischen System unterstützen.
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Abb. 3. Das neuronale Modell zur Periodizitätsanalyse und einige exemplarische neuronale Potentiale des Modells.
3.2. Biologische Daten Das beschriebene Periodizitätsanalyse-Netzwerk wurde in [16] eingeführt als ein Modell, das elektrophysiologische Daten erklärt. Eine detaillierte Beschreibung kann in [17] nachgelesen werden. Das Modell wird von elektrophysiologischen Daten [11, 14, 18, 19] sowie von metabolischen Mapping-Studien mit unterschiedlichen Versuchstieren [14] unterstützt. Diese Experimente zeigen, dass die IC-Neurone, die auf einer bestimmten CF abgestimmt sind, unterschiedliche zeitliche Modulation von Einhüllenden bevorzugen, d.h. diese Neurone können unterschiedliche BMF’s haben. Neben einer tonotopen Organisation im IC, d.h. einer räumlichen Abbildung der Neurone basierend auf der CF, existiert auch eine periodotope Organisation dieser Neurone, d.h. eine räumliche Abbildung der Neurone der BMF entsprechend. Die zwei räumlichen Distributionen sind fast orthogonal zueinander und formen eine gemeinsame Struktur für eine Periodizitätsanalyse die sich an die Frequenzanalyse in der Cochlea anschließt (Abb. 4).
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Abb. 4. Vereinfachte Darstellung der Entstehung von Tonotopie und Periodotopie im auditorischen Stammhirn. Nach der Filterung durch die Cochlea, reagieren die weiteren Module auf die kodierten Träger- und Modulationsfrequenzinformation eines AM-Signales entsprechend ihrer CF und BMF. Daraus resultiert eine räumliche Struktur, in der die tonotope und die periodotope Repräsentation im auditorischen Stammhirn orthogonal zueinander stehen.
Mit Hilfe der oben genannten Studien wurden Neurone aufgespürt, die die Funktion des beschriebenen Modells realisieren. Die Eigenschaften der Triggerneurone sind sehr ähnlich zu denen von Zellen im CN; z.B. entsprechen die Oszillatorneurone den Chopper-Zellen im VCN. Die Integratorneurone haben ähnliche Eigenschaften wie die sogenannten PauserZellen im DCN [17]. Aufsteigende inhibitorische Verbindungen von Zellen des ventralen NLL (VNLL) projizieren in den IC [21] (ausführliche Beschreibung im Abschnitt „Inhibition als Low-Pass Filterung“). Das Periodizitätsanalyse-Modell erklärt die Selektivität von Neuronen im IC für eine bestimmte BMF. Ein Modell für die Frequenzfilterung in der Cochlea, ein Mechanismus für die Kodierung von Träger- und Modulationsfrequenz eines AM-Signales und zahlreiche neuronale Netzwerke, abgestimmt auf unterschiedlichen CF’s und BMF’s, werden benutzt um die Antwort der
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IC-Neurone auf AM-Signalen zu simulieren. Ein solches System kann zur Periodizitätsanalyse benutzt werden. Die Implementierung der Module bis zum neuronalen Periodizitäts-Analyse-Netzwerk wird im folgenden Abschnitt und die Simulation des PAN-Modells im Abschnitt „Die PANSimulation“ beschrieben.
3.3. Modellierung des auditorischen Systems bis zum PAN-Modell Ein Bandpassfilter wurde benutzt, um die tonotope Frequenzzerlegung eines Signals in der Cochlea zu simulieren. Eine Filterbank wurde erstellt, die aus einer Reihe von Bandpassfiltern besteht – die sogenannten ERBFilter [22]. Der Implementierung von [23,24] zufolge besteht die Filterbank aus einer Reihe von diskreten Gammaton-Filtern zweiter Ordnung. Ein solches Filter hat die folgende Form in der z-Ebene: ⎛
(
3
)
(
⎞
)⎟
− Tz 2 + Te − bi T ⎜ cos ωc i T + 3 + 2 2 sin ω ci T ⎟z Fi (z) =
⎜ ⎝
(
⎠
)
− z 2 + 2e −bi T cos ωc i T z − e − 2bi T ⎛
(
3
)
(
⎞
)⎟
− Tz 2 + Te −bi T ⎜ cos ωc i T − 3 + 2 2 sin ωc i T ⎟z ⎜ ⎝
(
⎠
)
− z + 2e −bi T cos ω ci T z − e − 2bi T 2
⎛
(
3
)
(
⎞
)⎟
− Tz 2 + Te − bi T ⎜ cos ωc i T + 3 − 2 2 sin ωc i T ⎟z ⎜ ⎝
(
⎠
)
− z 2 + 2e − biT cos ωc i T z − e −2 bi T ⎛
(
3
)
(
(2)
⎞
)⎟
− Tz 2 + Te − bi T ⎜ cos ωc i T − 3 − 2 2 sin ωc i T ⎟z ⎜ ⎝
(
)
− z 2 + 2e − biT cos ωc i T z − e −2 biT
⎠
.
Dabei ist i die Nummer des Filterkanals, ω die charakteristische Frequenz und bi die feste Bandbreite einer bestimmten charakteristischen Frequenz. Die Frequenzantwort einer solchen Filterbank mit 16 Filtern ist in Abb. 5 zu sehen.
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Abb. 5. Frequenzantwort einer Filterbank mit 16 diskreten Gammaton-Filtern.
Eine exemplarische Antwort einer Filterbank mit einer Bandbreite von 5013500 Hz und 64 diskreten Gammaton-Filtern wird in Abb. 6 dargestellt. Das AM-Signal, das gefiltert wurde, hatte eine Trägerfrequenz von 300Hz und eine Modulationsfrequenz von 50Hz. Die höchste Kanalnummer (64) entspricht dem Filter mit der niedrigsten charakteristischen Frequenz (50Hz). Nach der Zerlegung des AM-Signals wird eine Simulation der inneren Haarzellen angesetzt, die die mechanische Antwort jedes Filters der Cochlea-Filterbank in elektrische Impulse umwandeln. Für jedes gefilterte Signal wird ein Spike mit einer Amplitude von 1 bei jedem positiven Nulldurchgang ausgelöst. Dadurch entsteht für jeden Filter der CochleaFilterbank eine Spikesequenz. Diese kodierte Information wird im Weiteren anstelle der Träger- und Modulationsfrequenz des AM-Signals im neuronalen Netz benutzt. Die Antwort der Simulation der inneren Haarzellen für das in Abb. 6 gefilterte AM-Signal ist in Abb. 7 dargestellt.
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Abb. 6. Antwort einer Cochlea-Filterbank mit 64 diskreten Gammaton-Filtern für ein AM-Signal mit einer Trägerfrequenz von 300Hz und einer Modulationsfrequenz von 50Hz.
Abb. 7. Antwort des Modells der inneren Haarzellen für ein AM-Signal mit einer Trägerfrequenz von 300Hz und einer Modulationsfrequenz von 50Hz. Ein Spike, abgebildet mit einem weißen Punkt, wird ausgelöst bei jedem positiven Nulldurchgang für jedes Signal aus der Antwort der Cochlea-Filterbank (Abb. 6). Zu schwache Antworten der Cochlea-Filterbank sind nicht in der Lage Spikes auszulösen. Deswegen werden sie mit einem automatischen Gain-Control-Mechanismus ausgefiltert.
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3.4. Die PAN-Simulation Ziel des PAN-Modells ist nicht nur die Untersuchung von eventuellen Anwendungen der Verarbeitung von Schallsignalen anhand eines bioinspirierten neuronalen Netzwerkes, sondern auch die Analyse der Dynamik von bionischen Neuronen und das Verhalten solcher Neurone in bionischen neuronalen Netzwerken. Deswegen besteht die Simulation des PAN-Modells nicht aus einfachen Neuronen, die nur in der Lage sind diskrete Verarbeitungsaufgaben durchzuführen, sondern aus komplexen Modellen von spikenden Neuronen, die im Folgenden näher beschrieben werden. 3.4.1. Das Neuronenmodell Ein biologisches Neuron besteht aus mehreren Synapsen und einem Soma. Darauf basiert auch die modulare Modellierung von Neuronen im PANModell. Die Simulation von Synapse und Soma sollen im Weiteren detailliert beschrieben werden.
Das Synapsenmodell Die funktionelle Struktur des chemischen Modells der Synapse ist in Abb. 8 dargestellt. Ein einkommender Spike aus dem präsynaptischen Neuron löst in der Synapse synaptische Vesikel aus, die Neurotransmitter beinhalten. Die zeitliche Änderung der Transmitterausschüttung wird anhand einer Look-up-Table-Funktion simuliert, die immer dann eine vordefinierte Menge von Transmittern freilässt, wenn das Subsystem durch ein Spike aktiviert wird. Die Transmittermoleküle diffundieren durch den synaptischen Spalt zum postsynaptischen Neuron. Die Anzahl der Transmittermoleküle im postsynaptischen Neuron ändert die Durchlässigkeit des postsynaptischen Neurons für einige Ionensorten. Ionische Kanäle öffnen sich schrittweise und lassen mehr Ionen durch. Es bildet sich ein ionischer Strom, der einen schrittweise ansteigenden post-synaptischen Strom (PSC: post-synaptic current) im Soma des Neurons erzeugt. PSC’s können entweder exzitatorisch oder inhibitorisch sein (EPSC oder IPSC), abhängig von der Ionenladung und der Flussrichtung (in/aus) durch die postsynaptische Membran. Dieser Mechanismus wird mit der Gewichtungsfunktion des Synapsenmodells simuliert. Die gesamte Zeitdauer für die Diffusion der Transmittermoleküle und für die Weiterleitung des PSC zum Soma wird mit einer vordefinierten Zeitverzögerung modelliert.
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Abb. 8. Block-Diagramm des chemischen Synapsenmodells implementiert in MATLAB-SIMULINK.
Es können vier Parameter des Synapsenmodells eingestellt werden, mit denen unterschiedliche synaptische Antworten generiert werden. Die ersten zwei Parameter, die Zeitkonstanten des Mechanismus, der die Vesikel mit den Transmittermolekülen auslöst, können unterschiedliche Werte annehmen. Dadurch wird eine langzeitige (starke) oder kurze (schwache) synaptische Verbindung mit einem Neuron simuliert. Der Widerstand der post-synaptischen Membran wird mit einer nichtlinearen sigmoidalen Funktion implementiert. Sie ermöglicht die Generierung eines Stromes, nachdem sich eine bestimmte Anzahl an Ionen im Neuron akkumuliert hat. Der dritte einstellbare Parameter ist die synaptische Zeitverzögerung und der vierte die synaptische Gewichtung. Die Variation der gesamten Zeitverzögerung einer synaptischen Verbindung spielt eine große Rolle für die Synchronisation verschiedener Antworten, während die Gewichtung die Stärke und den Typ (exzitatorisch oder inhibitorisch) dieser Verbindung bestimmt.
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Das Soma-Modell Ein Soma-Modell basierend auf ein Integrate-and-Fire-Modell [25, 26] wurde für die PAN-Simulation entwickelt. Ein Leaky-Integrate-And-FireNeuron besteht aus einem Leckwiderstand, R, parallel geschaltet mit einem Kapazität, C, geführt von einem externen Strom, I. Das Potential u des Kondensators kann als das Membranpotential eines Neurons betrachtet werden. Das Potential u des Neurons – im Ruhezustand bei Null – steigt an oder nimmt ab in Abhängigkeit vom synaptischen Eingang. Wenn das Potential eine Schwelle überschreitet, löst das Neuron ein Spike aus und das Membranpotential kehrt zum Anfangswert, u= 0V zurück. Nach der absoluten Refraktärzeit, während der das Neuron nicht mehr feuern kann, weil das Membran hyperpolarisiert ist, und nach der relativen Refraktärzeit, während der das Neuron nur mit einem sehr starken exzitatorischen Eingang aktiv werden kann, ist das Neuron wieder bereit das nächste Spike auszulösen. Die zeitliche Entwicklung des Potentials u ist:
τM du/dt = –u + RI(t)
(3)
Dabei ist τM = RC die Zeitkonstante der Membran des Neurons. Ein Block-Diagramm des Soma-Modells eines Neurons und die unterschiedlichen funktionellen Module dieses Modells, implementiert in SIMULINK und MATLAB, werden in Abb. 9 dargestellt. Die summierten PSC’s aus den synaptischen Eingängen werden integriert und der Ausgang wird mit einer vordefinierten Schwelle normiert, während ein Leckstrom zurückgeführt wird. Durch gaußverteiltes Rauschen ist die spontane Aktivität modellierbar. Wenn das Resultat gleich 1 ist, dann wird ein Spike ausgelöst. Die Generierung eines Spikes aktiviert den Refraktärzeitmechanismus, der eine exponentiell abnehmende Komponente zum Schwellwert des Neurons addiert. Dadurch wird die Schwelle des Neurons signifikant erhöht, so dass die Aktivität des Neurons für die vordefinierte Refraktärzeit unterdrückt wird.
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Abb. 9. Block-Diagramm des Soma-Modells implementiert in MATLABSIMULINK.
Eine Anzahl von Parametern des Soma-Modells kann eingestellt werden, damit die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Antworten, der in einem folgenden Abschnitt („Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse“) beschriebenen Neurone, implementiert werden können. Der Schwellwert ist für alle Neurone gleichgesetzt, da Veränderungen auch über die Gewichte der zugehörigen Synapsen beeinflusst werden können. Die Zeitkonstante des Leckstroms, der die Abfallszeit des Membranpotentials beschreibt, wird durch eine konstante negative Verstärkung (siehe Abb. 9) simuliert. Diese Verstärkung kann Werte zwischen 1000 und 20 erhalten, d.h. es können Zeitkonstanten zwischen 1–50msec realisiert werden. Die spontane Aktivität besteht aus einer Gaußschen Rauschfunktion, die eine Standardabweichung, σ2 = 10-7, und einen Mittelwert gleich Null hat. Aufgrund des sehr niedrigen Wertes seiner Standardabweichung spielt das Membranrauschen eine begrenzte Rolle beim Verhalten eines Standardneurons. Andererseits haben die Flip-Flop-Neurone (näher beschrieben im Abschnitt „Der PAN-Modul“) ein Membranrauschen mit einer Standardabweichung, σ2 = 10-5, und einem Mittelwert, µ = 0.99, so dass eine konstante Spontanaktivität vorhanden ist. Der Refraktärzeitmechanismus besteht aus zwei Zeitkonstanten, der absoluten und der relativen Refraktärzeit. Während der absoluten Refraktärzeit wird jede Aktivität des Neurons unterdrückt. Während der relativen Refraktärzeit wird eine stärkere Aktivität als normalerweise gebraucht, damit das Neuron aktiv wird.
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Abb. 10. MATLAB-SIMULINK Neuronenmodell mit zwei synaptischen Eingängen.
Ein komplettes Neuronenmodell mit zwei synaptischen Eingängen implementiert in MATLAB-SIMULINK ist in Abb. 10 dargestellt. Die zwei Synapsen sind chemische Synapsen wie in Abb. 8, das Soma ist wie in Abb. 9 implementiert. Eine detaillierte Beschreibung der Funktion der Soma- und Synapsenmodelle wird in Abb. 11 präsentiert. Für das Beispiel des Koinzidenzneurons werden die PSC’s des Integrator- und Oszillatorneurons, das resultierende Membranpotential des Koinzidenzneurons und dessen generierten AP’s dargestellt. 3.4.2. Das PAN-Modul Basierend auf dem in Abb. 3 dargestellten biologischen Modell, wurde in einer Simulationsumgebung das PAN-Modell implementiert (Abb. 12). Dieses Modell ist dem biologischen Analogon sehr ähnlich und besitzt ebenfalls einen dritten Eingang zum Koinzidenzneuron, der detaillierter im Abschnitt „Inhibition als Low-Pass Filterung“ beschrieben wird. Das Triggerneuron des PAN-Moduls bekommt einen aufsteigenden Eingang aus der Simulation der Cochlea-Filterbank und des AN. Dieser Eingang beinhaltet die kodierte Information über die Einhüllende, d.h. die Modulationsfrequenz, fm = 1/τm, des AM-Signals. Diese wird als Summe der aktiven (spikenden) Kanäle des auditorischen Eingangs für jeden Zeitpunkt angenommen. Die kodierte Modulationsfrequenz ist also die summierte Aktivität aller Kanäle der Filterbank (Abb. 7) für jeden Zeitschritt. Ein solcher Eingang ist in Abb. 13a dargestellt.
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Abb. 11. Typische PSC’s und AP’s des Koinzidenzneurons für ein AM-Signal mit 100Hz Modulations- und 600Hz Trägerfrequenz. (a) Der durch die Aktivität des Integratorneurons im Koinzidenzneuron generierte PSC, gemessen beim Messpunkt m1 (Abb. 10), (b) der durch die Aktivität des Oszillatorneurons im Koinzidenzneuron generierte PSC, gemessen beim Messpunkt m2 (Abb. 10), (c) das Membranpotential des Koinzidenzneurons, gemessen beim Messpunkt m3 (Abb. 9). Die Wirkung durch die Aktivität des Oszillatorneurons ist klar am Anfang der Simulation zu sehen, während keine Aktivität vom Integratorneuron vorhanden ist. Die Spitze während der zweiten Reaktion vom Oszillatorneuron entsteht durch die zeitliche Koinzidenz der vom Oszillator- und Integratorneuron generierten PSC’s. Die Simulation der absoluten und relativen Refraktärzeit ist auch klar zu sehen, gleich nachdem das Membranpotential den Schwellwert erreicht hat. Während dieser Zeit wird die weitere Wirkung des Oszillatorneurons unterdrückt. Eine kleine Menge von Ionen, die nach der Refraktärzeit im Neuron noch vorhanden sind, formt einen kleinen PSC, der allerdings nicht in der Lage ist, die Schwelle zu erreichen. Zwischen zwei Aktivitätsperioden des Oszillatorneurons kehrt das Membranpotential zum Ruhepotential von 0mV zurück. (d) AP’s des Koinzidenzneurons, gemessen beim Messpunkt m4 (Abb. 10). Nur die zeitliche Koinzidenz der Aktivitäten des Oszillator- und des Integratorneurons kann ein Membranpotential generieren, das den Schwellwert erreichen und damit AP’s auslösen kann.
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Abb. 12. Block-Diagramm des PAN-Moduls implementiert in SIMULINK.
Das Triggerneuron reagiert auf die Schwankungen der kodierten Modulationsinformation und generiert Spikes, die aus diesem Grund an die Einhüllende des AM-Signals gekoppelt sind (Abb. 13b). Der Oszillatorkomplex besteht in der Simulation aus einem Neuron, das eine Reihe von Spikes für jedes einkommende Signal vom Triggerneuron generiert. Die Anzahl der ausgelösten Spikes und die Dauer der oszillatorischen Antwort sind vordefiniert. Die Periodizität dieser Oszillationen ist unabhängig von der Einhüllenden des AM-Signals. Der zeitliche Abstand zwischen zwei Spikes einer Oszillation des Oszillatorneurons ist τk. Der zweite aufsteigende Eingang des PAN-Moduls ist die kodierte Trägerfrequenz des AM-Signals. Als Trägerfrequenz wird die Zeitantwort des Cochlea-Filters mit einer CF ausgewählt, die möglichst nah an der Trägerfrequenz des AM-Signals liegt (Abb. 13d). Der Integratorkomplex besteht aus einem Integratorneuron und zwei Flip-Flop-Neuronen. Die Flip-FlopNeurone weisen ein sehr hohes additives Membranrauschen mit einer Standardabweichung σ2 = 10-5 und einem Mittelwert gleich unter dem Schwellwert des Neurons, µ = 0.99 auf. Daher sind beide Neurone ohne
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weitere Einflüsse spontan aktiv. Jedes Flip-Flop-Neuron hemmt das andere, daher ist zu jedem Zeitpunkt nur ein Flip-Flop-Neuron aktiv. Neuron 2 (Abb. 12) ist immer am Anfang einer Simulation aktiv und hemmt deswegen sowohl das Integratorneuron als auch das Neuron 1 in Abb. 12. Neuron 1 wird mit einem Ausgangspike aus dem Triggerneuron aktiv. Gleichzeitig hemmt es Neuron 2 und startet das Integratorneuron, das anfängt die kodierte Trägerfrequenzinformation zu verarbeiten. Das Integratorneuron integriert n Spikes der Trägerfrequenz auf bis sein Schwellwert erreicht wird und löst dann einen Ausgangspike aus. Die Dauer der Integration ist deswegen gleich nτc, wobei 1/τc die Trägerfrequenz des AM-Signals ist. Der Ausgangspike des Integratorneurons schaltet wieder die zwei FlipFlop-Neurone um, Neuron 2 wird aktiv, Neuron 1 inaktiv. Das Integratorneuron und Neuron 1 bleiben inaktiv solange kein Ausgangspike vom Triggerneuron ausgelöst wird. Die Flip-Flop-Struktur synchronisiert den Anfang der Integration des Integratorneurons mit der Aktivität des Triggerneurons. Die Spikezüge des Integratorneurons werden in Abb. 13e dargestellt. Die Funktion des Integratorkomplexes für eine Simulation mit einem AM-Signal mit 100Hz Modulations- und 600Hz Trägerfrequenz wird in Abb. 14 näher erläutert. Die Ausgangspikes des Integrator- und des Oszillatorneurons werden zum Koinzidenzneuron weitergeleitet. Das Koinzidenzneuron kann nur dann einen Spike auslösen, wenn beide Eingangspikes vom Integrator- und vom Oszillatorneuron gleichzeitig einen PSC im Koinzidenzneuron generieren. Die Koinzidenz dieser beiden Ereignisse ist mehr als nur ein Zeitpunkt, es ist eigentlich ein Zeitfenster, das durch die Oszillationen des Oszillatorneurons generiert wird. Eine exemplarische Antwort des Koinzidenzneurons ist in Abb. 13f dargestellt. 3.4.3. Inhibition als Low-Pass-Filterung Zur Unterdrückung von Modulationsfrequenzen höher als die BMF dient ein inhibitorischer Eingang auf das Koinzidenzneuron. Die Koinzidenz der Oszillator- und Integratorspikes kann nicht nur in einem Zeitpunkt, sondern in einem Zeitfenster geschehen, das durch das oszillatorische Verhalten des Oszillatorneurons und die inhibitorische Wirkung zu dem Koinzidenzneuron zustande kommt. Diese inhibitorische Wirkung definiert einen Zeitraum in dem eine Koinzidenz vom Oszillator- und Integratorspikes geschehen kann und funktioniert, wie im folgenden beschrieben, wie eine Tiefpassfilterung. Anhand eines Beispiels wird in diesem Abschnitt die Notwendigkeit und die Funktion dieser Inhibition für das Koinzidenzneuron beschrieben
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werden. Die Inhibition unterdrückt unerwünschte Reaktionen, wie im Abschnitt „Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse“ beschrieben. In Abb. 15a-c werden drei simulierte PSC’s des Koinzidenzneurons dargestellt. Die zwei ersten exzitatorischen PSC’s (EPSC’s) sind vom Integrator- und vom Oszillatorneuron generiert, der dritte PSC stellt die
Abb. 13. Spikefolgen des PAN-Moduls für ein AM-Signal mit 100Hz Modulations- und 600Hz Trägerfrequenz. (a) die summierte Aktivität der Kanäle des auditorischen Eingangs, die die kodierte Modulationsfrequenz des AM-Signals darstellt, (b) die modulationsgekoppelte Antwort des Triggerneurons auf das Eingangsignal von (a), (c) die Spikes des Oszillatorneurons, die für jeden Ausgangspike des Triggerneurons ausgelöst werden, (d) der Kanal der CochleaFilterbank mit der CF, die am besten der Trägerfrequenz des AM-Signals entspricht, (e) die Antwort des Integratorneurons auf den Eingang von (d), (f) die Antwort des Koinzidenzneurons auf die Eingänge von (c) und (e). Zwar können die Spikes von (c) und (e) zeitlich nicht koinzidieren, aber der aus den (c) und (e) Antworten resultierende PSC, generiert Spikes im Koinzidenzneuron. Wegen der unterschiedlichen Latenzzeiten der Oszillator- und Integratorsynapse, koinzidieren die generierten PSC’s im Koinzidenzneuron und formen ein PSP, das stark genug ist um einen Spike auszulösen.
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Abb. 14. Spikezüge und Membranpotentiale der Neurone des IntegratorKomplexes. Ein AM-Signal mit einer Modulationsfrequenz von 100Hz und einer Trägerfrequenz von 600Hz wurde für die Simulation benutzt. (a) AP’s generiert vom Triggerneuron, das das Flip-Flop-Neuron1 aktiviert, (b) Membranpotential des Flip-Flop-Neuron1, das – aktiviert durch ein AP vom Triggerneuron – das Flip-Flop-Neuron2 inhibiert, (c) AP’s generiert vom Flip-Flop-Neuron1, (d) Membranpotential des Integratorneurons, das die einkommenden AP’s der kodierten Trägerfrequenz (Abb. 13d) integriert, nachdem das Flip-Flop-Neuron1 aktiviert wird. Das Integratorneuron beendet die Integration der einkommenden AP’s und aktiviert wieder das Flip-Flop-Neuron2, (e) AP’s des Integratorneurons, das das Flip-Flop-Neuron2 aktiviert, (f) Membranpotential des Flip-Flop-Neuron2, das das Flip-Flop-Neuron1 und das Integratorneuron inhibiert, nach Empfang eines AP’s vom Integratorneuron, (g) AP’s generiert vom Flip-Flop-Neuron2. Jedes Flip-Flop-Neuron bleibt spontan aktiv solange es keinen inhibitorischen Eingang vom anderen Flip-Flop-Neuron bekommt. Wegen des hohen Mittelwerts der Spontanaktivität ist das Membranpotential für jedes Flip-Flop-Neuron knapp unterhalb der Schwelle (hier gleich 1), was ihre spontane Aktivität garantiert.
inhibitorische Wirkung (IPSC) im Koinzidenzneuron dar. Die Trägerfrequenz des AM-Signals beträgt 600Hz und seine Modulationsfrequenz 100Hz. Das PAN-Modul wurde auf eine BMF von 100Hz optimiert und
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hat eine CF von 600Hz. Jeder Ausgangsspike des Triggerneurons aktiviert die inhibitorische Verbindung zum Koinzidenzneuron, deren Wirkung eine vordefinierte Dauer hat, die bei diesem Beispiel 7,5msec dauert. Wie in Abb. 15d dargestellt, reagiert das Koinzidenzneuron trotzdem auf die kodierte Information des einkommenden AM-Signals, weil die inhibitorische Wirkung zum Koinzidenzneuron nach 15msec nicht vorhanden ist. Wenn allerdings das gleiche PAN-Modul – optimiert für eine 100Hz BMF – ein AM-Signal mit einer 200Hz Modulationsfrequenz empfängt (eine Harmonische der BMF), reagiert das Triggerneuron doppelt so oft. Dadurch werden doppelt so viele Oszillationen generiert (Abb. 15e) und die inhibitorische Wirkung wird doppelt so oft aktiv. Aufgrund der vordefinierten Dauer der inhibitorischen Wirkung (7,5msec) bleibt diese ständig aktiv, weil eine neue inhibitorische Wirkung aktiviert wird bevor die letzte beendet werden konnte (Abb. 15f). Deswegen unterdrücken die IPSC’s die Koinzidenz der anderen zwei EPSC’s vom Integrator- und Oszillatorneuron und das Koinzidenzneuron reagiert nicht auf das 200Hz/600Hz (Modulations-/Trägerfrequenz) AM-Signal (Abb. 15g). Die inhibitorische Wirkung kann also angesetzt werden um erfolgreich AM-Signale mit höheren Modulationsfrequenzen als der BMF auszufiltern. Nachdem die Dauer und Funktion aller Prozesse des Trigger-, des Oszillator- und des Integratorneurons definiert wurden, kann die Bedingung erstellt werden, die für die maximale Koinzidenz sorgt: n τc = τm + kτk
(4)
Dabei ist k = 0,1,...,kmax, n die Anzahl der Trägerfrequenzperioden, die integriert werden, 1/τc und 1/τm die Träger- und Modulationsfrequenz und kτk definiert das Zeitfenster, während dessen eine Koinzidenz der Oszillator- und Integratorspikes möglich ist. Gleichung (2) ist identisch mit der Koinzidenzgleichung, die die Antworte der im Abschnitt „Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse“ präsentierten Daten beschreibt, allerdings nur für die BMF eines Koinzidenzneurons (m = 1) und nicht für deren Obertöne (m > 1). Anhand des inhibitorischen Mechanismus reagiert jedes PAN-Modul nur auf AM-Signale, deren Modulationsfrequenz der BMF des PAN-Moduls entspricht (m = 1). Antworten des PAN-Moduls auf AM-Signale mit Modulationsfrequenzen, die ein Vielfaches der BMF sind (m > 1), werden damit unterdrückt und eine robuste Periodizitätsanalyse ermöglicht.
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Abb. 15. PSC- und AP-Plots eines PAN-Moduls für zwei AM-Signale mit je 600Hz Trägerfrequenz und 100Hz, bzw. 200Hz, Modulationsfrequenz. Die Signale werden zu einem PAN-Modul geschickt, das optimal auf ein 100Hz/600Hz (Modulations-/Trägerfrequenz) AM-Signal reagieren soll. (a) die exzitatorischen PSC’s im Koinzidenzneuron generiert durch die Antwort des Integratorneurons auf ein AM-Signal mit einer 600Hz Trägerfrequenz (Abb. 13g), (b) die exzitatorischen PSC’s im Koinzidenzneuron generiert durch die Antwort des Oszillatorneurons auf ein AM-Signal mit einer 100Hz Modulationsfrequenz (Abb. 13c), (c) die inhibitorischen PSC’s im Koinzidenzneuron generiert durch die inhibitorische Verbindung zum Koinzidenzneuron für ein AM-Signal mit einer 100Hz Modulationsfrequenz, (d) die Antwort des Koinzidenzneurons auf das 100Hz/600Hz (Modulations-/Trägerfrequenz) AM-Signal, (e) die exzitatorischen PSC’s im Koinzidenzneuron generiert durch die Antwort des Oszillatorneurons auf ein AMSignal mit einer 200Hz Modulationsfrequenz, (f) die inhibitorischen PSC’s im Koinzidenzneuron generiert durch die inhibitorische Verbindung zum Koinzidenzneuron auf ein AM-Signal mit einer 200Hz Modulationsfrequenz, (g) die Antwort des Koinzidenzneurons für das 200Hz/600Hz (Modulations/Trägerfrequenz) AM-Signal. Wie erwartet ist die inhibitorische Wirkung auf das Koinzidenzneuron ständig negativ. Deswegen wird die Koinzidenzantwort für das 200Hz/600Hz AM-Signal unterdrückt.
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4. Simulation mit dem PAN-Modul Das Trigger- und das Integratorneuron bekommen als Eingang die zwei im Abschnitt „Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse“ beschriebenen Signale. Das Triggerneuron reagiert phasengekoppelt auf das einkommende Signal und aktiviert das Oszillatorneuron. Ein Spike des Triggerneurons genügt, damit das Oszillatorneuron eine Reihe von Spikes mit einer vordefinierten Frequenz generiert und dadurch ein zeitliches Koinzidenzfenster für die Periodizitätsanalyse erzeugt. Die Flip-FlopNeurone und das Integratorneuron funktionieren wie im Abschnitt „Ein neuronales Netz zur zeitlichen Periodizitätsanalyse“ beschrieben und generieren die Spikes für die Koinzidenz. Das Koinzidenzneuron hat einen dritten Eingang, der die inhibitorische Wirkung vom VNLL simulieren soll. Das implementierte PAN-Modul in Abb. 12 ist damit funktionell dem Modell in Abb. 3 sehr ähnlich. Jeder Block eines PAN-Moduls besteht aus einem Neuron, wie das im Abschnitt „Das Neuronmodell“ beschrieben wurde. Das Trigger- und das Oszillatorneuron haben je einen synaptischen Eingang, das Integratorneuron und die Flip-Flop-Neurone haben 2 und das Koinzidenzneuron hat 3 synaptische Eingängen. Eine bestimmte Anzahl an Parametern jedes Neurons können abhängig von der CF und der BMF eingestellt werden, auf die das PAN-Modul optimal reagieren soll. Zu diesen Parametern gehört der Zeitverlauf der Transmitterausschüttung, die Zeitverzögerung und die synaptische Gewichtung jeder Synapse. Der Leckstrom, die Refraktärzeit und das Rauschen jedes Soma-Modells können für jedes PAN-Modul entsprechend eingestellt werden. Damit komplette Simulationsreihen über eine breite Auswahl an Modulations- und Trägerfrequenzen durchgeführt werden können, werden 16 PAN-Module – jeweils optimiert für eine bestimmte CF und BMF – parallel geschaltet, die zusammen eine räumliche tonotope Stuktur bilden. 16x16 Kombinationen von Träger- und Modulationsfrequenzen werden getestet, wobei jedes PAN-Modul darauf eingestellt ist, optimal auf eine bestimmte Kombination von Träger- und Modulationsfrequenz zu reagieren. Anhand der inhibitorischen Wirkung und mit passender Einstellung der Parameter jedes PAN-Moduls werden im folgenden Abschnitt die Ergebnisse der Simulationen präsentiert.
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5. Ergebnisse Die Simulationsergebnisse mit PAN-Modulen ohne den inhibitorischen Eingang im Koinzidenzneuron werden in Abb. 16 dargestellt. Die Simulation wird mit 16 PAN-Modulen durchgeführt. Jedes Modul wird auf eine BMF und eine CF eingestellt, die ein Verhältnis von 1/6 zueinander haben. Jedes PAN-Modul wird mit 16 AM-Signalen getestet, die eine Trägerfrequenz gleich der CF des PAN-Moduls und 16 unterschiedliche Modulationsfrequenzen haben. Auf der Diagonalen der Graphikdarstellung befinden sich die CF und BMF Kombinationen, die ein Verhältnis von 1/6 haben. Deshalb sollte die Antwort der PAN-Module auf der Diagonalen liegen. Die Antwort wird normiert, d.h. die Anzahl der Ausgangsspikes des Koinzidenzneurons wird mit der erwarteten Anzahl von Spikes in einem bestimmten Zeitabschnitt für jede Modulationsfrequenz verglichen. Ein oder zwei Spikes einer Simulation – je nach Kombination an Trägerund Modulationsfrequenz des AM-Signals – gehen aufgrund von Synchronisationsproblemen der Flip-Flop-Neurone und des Integratorneurons am Anfang verloren. Das Resultat der Simulation ist die normierte Antwort des Koinzidenzneurons, die leicht mit erhöhter CF ansteigt. Die stärkste Antwort der PAN-Module in Abb. 16 liegt auf der Diagonalen der Graphikdarstellung. Es ist allerdings offensichtlich, dass es einen zweiten Koinzidenzbereich gibt, nämlich bei einem Frequenzverhältnis von 1/3 (BMF/CF). Abb. 17 präsentiert die Antwort eines PAN-Moduls der oben beschriebenen Simulation, der auf eine 420Hz CF und eine 70Hz BMF optimiert wurde. Der PAN-Modul wurde mit AM-Signalen getestet, die eine 420Hz Trägerfrequenz und 16 unterschiedliche Modulationsfrequenzen zwischen 50Hz und 200Hz haben. Die Antwort stellt die Modulationsübertragungsfunktion (MTF: modulation transfer function) des Koinzidenzneurons des PAN-Moduls dar (Abb. 16). Die Mehrdeutigkeit der Antwort der simulierten IC-Koinzidenzneurone auf eine BMF und harmonische Frequenzen dieser BMF ist erkennbar. Das PAN-Modul reagiert nicht nur auf das AM-Signal mit der 70Hz Modulationsfrequenz, sondern ebenso stark auf das AM-Signal mit der doppelten Modulationsfrequenz von 140Hz.
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Abb. 16. Simulationsergebnisse ohne den inhibitorischen Eingang im Koinzidenzneuron. Die Simulation wurde mit 16 PAN-Modulen durchgeführt, von denen jedes für eine BMF und eine CF mit einem Verhältnis von 1/6 zueinander optimiert wurde. Jedes PAN-Modul wird mit 16 AM-Signalen getestet, die eine Trägerfrequenz gleich der CF des PAN-Moduls und 16 unterschiedliche Modulationsfrequenzen haben. Ergebnisse aus 256 getesteten AM-Signalen mit unterschiedlichen Kombinationen an Träger- und Modulationsfrequenzen werden dargestellt.
Es gibt also eine unklare Antwort der Koinzidenzneurone auf harmonische Signale. Eine robuste Periodizitätsanalyse für eine praktische Anwendung wird daher erst möglich, wenn der inhibitorische Eingang des Koinzidenzneurons genutzt wird. In Abb. 18 wird die Antwort der 16 PAN-Module dargestellt, wobei die Inihbition einen großen Einfluss auf das Resultat hat. Der Aktivitätsbereich mit dem Verhältnis 1/3 (BMF/CF) wird erfolgreich unterdrückt. Die Synchronisation mit der inhibitorischen Wirkung erlaubt einem PAN-Modul nur auf das AM-Signal zu reagieren, das eine Trägerfrequenz gleich der CF und eine Modulationsfrequenz gleich der BMF des PANModuls hat.
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Abb. 17. MTF-Plot des Koinzidenzneurons eines PAN-Moduls mit einer CF von 480Hz. Das PAN-Modul hat eine BMF von 80Hz (1/6 Verhältnis von BMF/CF). Der inhibitorische Eingang des Koinzidenzneurons wurde nicht benutzt. Das Koinzidenzneuron reagiert ebenso stark auf die BMF und das Doppelte der BMF.
Alle Module reagieren auf das Frequenzverhältnis 1/6 und weisen eine sehr geringe Abweichung davon auf. Abb. 19 präsentiert das MTF-Plot für das gleiche Koinzidenzneuron wie in Abb. 17. Die Antwort des PANModuls auf ganzzählige Vielfache der BMF wird erfolgreich unterdrückt. Nach entsprechender Optimierung der Parameter wurden ähnlich gute Ergebnisse auch für andere Frequenzverhältnisse erzielt.
6. Ausblick – Bionische Neuronale Netze Die Simulation der räumlichen tonotopen und periodotopen Struktur des IC mit den PAN-Modulen beweist, dass Verarbeitungsaufgaben von Schallsignalen mit einer Kombination von detaillierten Modellen von spikenden Neuronen und von bionisch-inspirierten neuronalen Netzen mög-
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lich ist. Daraus ergeben sich sowohl technische Modelle, die ähnlich funktionieren wie das auditorische System als auch Hypothesen über die Struktur und die Funktionalität unterschiedlicher Gehirnzentren. Darüber hinaus kann sowohl das dynamische Verhalten von spikenden Neuronen als auch die Interaktion von solchen Neuronen in Neuronalen Netzen modelliert und untersucht werden. Als Resultat der Simulation eines neuronalen Netzwerkes mit spikenden Neuronen wurde festgestellt, dass es auf diese Weise möglich ist, die Periodizität akustischer Signale zu analysieren. Die Lösung des Mehrdeutigkeitproblems durch Einführung eines inhibitorischen Eingangs im Koinzidenzneuron verbessert die Leistung des Systems, so dass zur Tonhöhenextraktion und zur Detektion von verrauschten Signalen (Cocktail-Party-Problem) benutzt werden kann.
Abb. 18. Simulationsergebnisse mit dem inhibitorischen Eingang im Koinzidenzneuron. Die Simulation wurde wie in Abb. 16 beschrieben durchgeführt. Die Aktivitätszonen für Modulationsfrequenzen, die größer sind als die BMF auf die jedes PAN-Modul optimiert ist, werden erfolgreich unterdrückt.
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Abb. 19. MTF-Plot des Koinzidenzneurons eines PAN-Moduls mit einer CF von 480Hz. Das PAN-Modul hat eine BMF von 80Hz (1/6 Verhältnis von BMF/CF). Der inhibitorische Eingang im Koinzidenzneuron wurde benutzt. Die Reaktion des Koinzidenzneurons auf Modulationsfrequenzen des AM-Signals, die Mehrfache der BMF sind, wird erfolgreich unterdrückt.
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1. Bionik
1.2. Bionik im gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Bereich Zirkulierende Körperstücke, zirkulierende Körperdaten: Hängen Biopolitik und Bionik zusammen? (P. GEHRING)........................................................................... 191 Was ist TechnoWissenschaft? – Zum Wandel der Wissenschaftskultur am Beispiel von Nanoforschung und Bionik (A. NORDMANN)...................................................................... 209 Bionik und Interdisziplinarität: Wege zu einer bionischen Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität (J.C. SCHMIDT)........................................................................ 219 Technologie- und marktorientierte Entwicklung von BionikProdukten (G. SPECHT) ............................................................................ 247 Industriedesign für nachhaltige Produkte, was bringt Bionik? (U. WOHLGEMUTH) ................................................................. 267
Zirkulierende Körperstücke, zirkulierende Körperdaten: Hängen Biopolitik und Bionik zusammen? Petra Gehring Institut für Philosophie, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Der Beitrag wirft eine Frage auf und verfolgt sie mit Hilfe einer Geschichte von Beispielen. Es handelt sich um eine philosophisch-politische Frage: Hängen das, was den Namen Bionik trägt, und das, was wir allgemein Biopolitik nennen, zusammen? Meine Überlegungen dienen ganz allgemein einer Ortsbestimmung der Bionik. Sie versuchen auch zu klären, was überhaupt man unter „Biopolitik“ verstehen kann. In beiden Fällen verstehen sie sich als ein Beitrag der Philosophie zu einem interdisziplinären Zusammenhang.
Abstract The article asks a question and follows it with by means of examples. It is a philosophic-political question: Are the subject we call Bionics and the subject we call biopolitics linked together? My considerations serve as a lokalization of bionics. They also try to clarify what we mean by the word “biopolitics”. All in all they are meant as a contribution of philosophy to a interdisciplinary context.
1. Bionik und – „Biopolitik“? Die kleine Vorsilbe „Bio“ findet sich heute überall – vom Bioghurt bis zur Biotonne, vom Bio-Diesel bis zu Bio-Ethik. Man kann diesen Bio-Trend als ein harmloses Oberflächenphänomen betrachten. Und oft ist es dann auch nicht mehr als das. Zum Beispiel wird „Bio“ so ähnlich verwendet wie „Öko“ – und gemeint ist dann: Hier hat sich jemand Mühe gegeben, das komplexe Erfordernis von Umwelt-Bilanzen mitzudenken. Gemeint ist dann mit „Bio“ eine Ressourcen schonende Haltung. Gemeint ist die ökologische Rücksichtnahme auf in einer Technik oder in einem Produkt indirekt mitbetroffene Systeme. Gemeint ist Sorge für „die Umwelt“. Spezifi-
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Petra Gehring
scher gefasst ist „Bio“ aber auch eine Epochen-Signatur. Bios heißt (griechisch) Leben. Die Bio-Epoche ist eine Epoche des „Lebens“ – aber in einem sehr spezifischen und modernen Sinn. Nämlich nicht als lebensgeschichtliches Leben oder allgemein mein oder dein oder unser aller Leben. Sondern als biologisches Leben, biochemisches Leben. Wenn wir heute in diesem präziseren Sinne auf die Vorsilbe Bio- stoßen, so bezeichnet sie das im naturwissenschaftlichen und im ingenieurshaften Sinne materielle Leben, das Leben als im Labor hantierbare Substanz. Dieses biologische und biotechnische Leben ist modern. Es ist – betrachtet man die Geschichte des Begriffs Leben und der Lebenswissenschaft – eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Zweifellos hat die Vorsilbe Bio- in dem Namen „Bionik“ und in dem Wort „Biopolitik“ diesen zweiten, präziseren Sinn. Es geht nicht allgemein um Umwelt, sondern um ein Hantieren am biologischen Material. Sagen wir vorläufig: Das „Bio-„ deutet in Bionik und Biopolitik darauf hin: Das lebendige biologische Material und seine Funktionen werden in Wert gesetzt. Sie erhalten einen Eigenwert. Einmal in der Werkstatt und im Labor und einmal in der Gesellschaft ganz allgemein – in der Politik.
2. Ambivalenz der Bionik Vergleichen wir aber die Sachen, nicht nur die Wörter. Was genau „Bionik“ ist, lässt sich nicht wirklich so leicht herausfinden. Ich denke, es gibt mindestens zwei Gesichter der Bionik: Einerseits ist Bionik eine programmatische Idee und andererseits bezeichnet Bionik eine eher pragmatische Grenze, ein Dazuzählen oder Sich-Dazuzählen zu einem „bionischen“ Zusammenhang. Die zweite, pragmatische Form ist eine, die auf ein weites und eher etwas beliebiges Verständnis von „Bionik“ hinausläuft. Bionik als Programm entstand mit der Formel ‚Lernen von der Natur‘ gerade dort, wo es um „klassische“ Technik ging. Man betrieb nicht Biotechnologie o.ä., sondern führte die klassische Technik nur nah an biologische Vorbilder heran, man wollte so ähnlich arbeiten wie die lebendige Natur. Man entnahm ihr Verfahren, Ideen, Lösungen. Eine klassische Definition von Nachtigall lautet: „Lernen von der Natur als Anregung für eigenständiges technologisches Gestalten“[1]. Ähnlich kann man dieses Nachahmungs-Programm auch bezeichnen als eine Arbeit mit dem „Vorbild Natur“ oder als Nutzung der „Patente der Natur“[2]. Bionik mit diesem Programm zielt also zunächst auf bio-analoge Konstruktionen (nicht auf direkte Interventionen ins Biologische oder auf Bio-Komponenten von oder für Technik).
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Mit Hilfe von Bionik einmal ins Bio-Feld hinein geraten, scheint freilich die klassische und nur eben bio-orientierte Ingenieurskunst „Bionik“ rasch und gern mit Biotechniken und Biotechnologien zu fusionieren, die nicht nach dem Vorbild der Natur arbeiten – sondern mit Verfahren der Direktintervention in die biologische Substanz und der Verkopplung von biologischen und mechanisch/technischen Systemen. Biotechnik diesen Typs arbeitet nicht nach dem Vorbild der Natur, sondern nutzt die Natur, das biologische Material, direkt als Rohstoff, als technische Komponente, als Apparatur. Und dort ist nicht bio-analoge Technik das Ziel, sondern der lebendige Prozess ist Teil des technischen Artefakts. Überspitzt gesagt: Ist für die Bionik Nachtigallschen Typs die Natur das Vorbild der Technik, so ist für die Biotechnik des zweiten Typs eher die Technik das Vorbild für eine der Technik entsprechend hantierbar zu machende Natur. Mit anderen Worten: Vielleicht gibt es tatsächlich zwei Bioniken. Sie können das am Namenswandel der Darmstädter Bionik beobachten, die von der Bionik zur Biotechnik und zu den biologisch-technischen Systemen sich erweitert hat – und heute auch Biomedizin und Biomechanik zur Bionik hinzuzählt. Diese Erweiterungstendenz ist freilich ein bundesweiter Trend. In Saarbrücken spricht man von „Technische Biologie und Bionik“ [3], in Aachen zählt man „auch die Interaktion zwischen Technik und Biologie“ im weiteren Sinne zur Bionik und definiert Bionik weich als „Ausnutzung biologischer Prinzipien in der Technik“ [4]. Philosophisch gesprochen könnte man sagen: Genau diese Erweiterungstendenz, die Wahrnehmung und die Nutzung von Prozessen im Zeichen des „Lebens“ ineinander übergehen zu lassen, kennzeichnet das BioZeitalter, das Zeitalter des biologischen Lebens. Als technisch und ökonomisch interessant gewordenes Objekt ist das Biologische kaum mehr nur Beobachtungsobjekt. Besondere Wertschätzung des Lebens – besonders drastischer Zugriff: Vorbildfunktion ist auch radikales Handhabbarmachen, radikale Manipulation. Genau diese Ambivalenz prägt Biopolitik, aber sie ist auch die Ambivalenz der Bionik. Hier hätten wir eine erste allgemeine Vorantwort auf unsere Eingangsfrage. Hängen Biopolitik und Bionik zusammen? Ja. Sie schätzen in besonderem Maße und sie manipulieren in besonderem Maße die lebendige Natur. Die zwei Gesichter der Bionik sind kein Zufall. Schenken Sie also in Zukunft der erstaunlich widersprüchlichen Doppelprogrammatik ihres Faches Aufmerksamkeit: 1. Die eine Seite heißt programmatisch: Lernen von der Natur (ihr etwas ablauschen, sie ernst nehmen). Also Pathos des besonderen NaturRespekts.
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2. Die zweite (entgegengesetzte) Seite beinhaltet ein aggressiveres Programm: Die Natur nicht durch Technik, sondern als Technik selbst nutzbar machen. Die Natur wird tatsächlich in der Bionik viel unmittelbarer durchdrungen und verwendbar gemacht. Sie erscheint ohne Rest auch noch als logistische Ressource – und wo dies geschieht ist der Übergang von der gleichsam ‚imitierenden‘ Bionik zu einer ins Biologische eingreifenden Bionik, einer Bionik der biotechnologischen Kopplungsvorhaben fließend. Sagen wir also: Bionik ist eine ambivalente Sache. Und in dieser Ambivalenz zwischen einerseits Wertschätzung, Inwertsetzung von Leben und andererseits der Bereitschaft zur Nutzbarmachung von Leben sind Bionik und Biopolitik verwandt.
3. Was ist unter Biopolitik zu verstehen? Nach dieser Anfangsdiagnose muss nun erst einmal geklärt werden, was ich eigentlich meine, wenn ich „Biopolitik“ sage. Biopolitik ist eine Gummivokabel. Es gibt da die unterschiedlichsten Konzepte. Man kann Biopolitik als gezielte Bevölkerungspolitik verstehen. Man kann damit die biomedizinische Steuerung und Verbesserung des Erbgutes meinen. Man kann auch Biopolitik als eine Politik ganz allgemein der möglichst effizienten Nutzung von biologischen Ressourcen verstehen. Dann würden sogar Landwirtschaft oder biotechnische Lebensmittelgewinnung zur Biopolitik gehören. Mein eigenes Verständnis von Biopolitik ist enger auf diejenige Politik begrenzt, die das Soziale und den Menschen als biologische Substanz und als biologische Ressource betrachtet. Wo Macht das Soziale als Substanz auffasst – und zwar als biologische Substanz – und wo sie es als biologische Substanz (technisch!) reguliert und behandelt, da ist Bio-Politik am Werk. Man könnte mit einem Begriff des französischen Philosophen Michel Foucault auch „Biomacht“ sagen [5]. Ich selbst bestimme Biopolitik oder Biomacht einmal als die Aufwertung und Inwertsetzung des Begriffes „Leben“. Diese begriffliche Seite ist ein Philosophenthema. Darauf gehe ich heute nicht näher ein. Zum anderen ist Biomacht aber auch etwas Empirisch-technisches sowie ein ökonomisches Phänomen. Und zwar handelt es sich, was diese praktisch-technische Seite von Biopolitik angeht, um ein Zirkulationsphänomen. Das erkläre ich nun näher.
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3.1. Zirkulation von Körperstoffen Man hat (und ich habe das auch) von der Biopolitik als einer Verstofflichung, von einer „Verrohstofflichung“ des Menschenkörpers gesprochen [6]. Was ist gemeint? Schon seit der Anatomie der Neuzeit (im 17. Jahrhundert) setzt sich die Medizin über die Hautgrenze hinweg. Sie schneidet, zerteilt und dringt ein ins Innere des Individuums. Seitdem ist die Erschließung des Körpers dennoch ungeheuer vorangeschritten. Nicht nur chirurgisch, sondern auch mittels Mess- und Darstellungsverfahren oder pharmakologisch sind wir heute gleichsam „durch und durch“ zugänglich – und zwar in vivo, als lebendige Materie. Früher war das Innere des Kranken der Medizin in vielem ein Rätsel, heute sind die Details des kranken Körpers bekanntes Terrain. Neu ist aber – und hier greift das Stichwort „Verrohstofflichung“ – dass die Medizin auch zwischen den Körpern Verbindungen stiftet. Dass sie also nicht nur eindringt, sondern Körpergrenzen bewusst überbrückt, mit dem Effekt, dass lebende Menschen-Körper bzw. Menschen-Stoffe gleichsam füreinander zur Ressource werden. Hier beginnt, was ich als Zirkulation von Körperstoffen bezeichne. Den Begriff des biochemisch-organischen Lebens und die Idee eines stofflichen Kontinuums über Körpergrenzen hinweg gab es bereits in der Physiologie des 19. Jahrhunderts. Praktisch aber blieb die Übertragung von lebenden Körperstoffen fast unmöglich, denn das Problem der körpereigenen Abwehr stand im Weg. Zum ersten Mal gelöst wurde das Problem im Fall des Blutes. Nach der ersten modernen (einer direkten)1 Bluttransfusion im Jahre 1908 wird mit der (a) Entdeckung der Blutgruppen sowie (b) der Entwicklung der nötigen Haltbarmachungsverfahren die Übertragung von Blut zwischen Mensch und Mensch rasch zu einer medizinischen Elementartechnik. Angesichts einer Fülle von Blut-Bestandteilen – interessant für Pharma-Produktion und Forschung – entstand außerdem schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein regelrechter Blut-Markt. Der Rohstoff zählt heute, wie es in einer Untersuchung heißt, „mit Sicherheit zu den wertvollsten Flüssigkeiten der Welt“ [7]; er ist knapp, aber im Prinzip überall vorhanden, und erbringt im legalen Bereich2 wie auch im illegalen Bluthandel erhebliche Gewinne. – Menschliches Blut zirkuliert, mit anderen Worten, auf einem Markt, als Rohstoff und Ware. Zugleich zirkuliert es aber auch zwischen den Individuen. Der individuelle „Lebenssaft“ (wie es hieß) ist übertragbar geworden. In puncto Blutnachschub ist die Menschheit sozusagen stets liquide. 1
Aderlass und Infusionen der verschiedensten Art hat es selbstverständlich schon vorher gegeben. 2 Wo das Modell der „Spende“ die Kosten für die Blutgewinnung niedrig hält.
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Ein weiteres Zirkulationsfeld entsteht, als die Chirurgie etwa seit dem Zweiten Weltkrieg beginnt, von Mensch zu Mensch komplexere lebende Organe zu übertragen, also Nieren, Herzen, Lebern etc. Zur Technik der Transfusion (dem Hinüber-Fließen-Lassen eines biologischen Stoffs), kommt die Technik der Transplantation (das Hinüber-Pflanzen von Körperstücken). Ich kann nicht auf die lange und übrigens extrem verlustreiche Geschichte der Transplantationsmedizin eingehen; sie hat sich sozusagen Organ für Organ von jeweils spektakulären „ersten Versuchen“ zu einer akzeptierten Normalität voran-experimentiert. Unter dem Gesichtspunkt der durchlässiger werdenden Körpergrenze ist entscheidend, dass parallel zur Technik der Transplantation ein neues Körpermodell entsteht. Ich meine das Konzept des Immunsystems als Antwort auf die Erfahrung der Abstoßung fremder Organe: Dieses Modell enthält und realisiert die Hypothese der Regulierbarkeit der körpereigenen Widerstände gegen den aus dem fremden Körper herübergeholten Stoff. Die sogenannte „Immunsuppression“ gehört ja untrennbar zur Organtransplantation hinzu: Man muss den Körper durch fortdauernde Medikamentengabe dazu bringen, dass er die neu eingepflanzte Substanz nicht zerstört und als seine „eigene“ betrachtet. Anders gesagt: Damit der Stoff von Individuum zu Individuum übertragen werden kann, führt die Medizin ein ganz bestimmtes Körperschema ein: das der zwar vorhandenen, aber unterdrückbaren Grenze. Nicht die stofflich-sichtbare, substantielle, sondern die Immungrenze definiert, was zu welchem Körper gehört. Und im Kontinuum der Körperstoffe lässt sich die Immungrenze – im Prinzip jedenfalls – willkürlich ziehen. Die Idee der Regulation lässt die Substanzgrenze in den Hintergrund treten, um sie durch eine Funktionsgrenze zu ersetzen. Alles, was ein Körper nicht abstößt bzw. alles, zu dessen Integration man ihn durch Immun-Lenkung bringen kann, kann folglich substantiell Teil dieses Körpers werden und sein. Der immunologischen Abstraktion, die nötig ist für das Einpflanzen von lebendigen Organen, entspricht im übrigen eine Abstraktion, die auf der Seite der Entnahme von lebendigen Organen nötig ist – nämlich das Konzept des „Hirntodes“. Ihm zufolge kann das Fehlen einer messbaren Hirnaktivität als vorgezogener Todeszeitpunkt gelten. Noch weiter geht das Kriterium der „Irreversibilität“ eines Dämmerzustandes wie Wachkoma, bei dem man inzwischen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr einstellt. Beide Male kommt durch Definition zustande, was für den stofflichen Transfer nötig ist: ein für „tot“ erklärter Körper mit gleichwohl „lebenden“ Organen als Ressource für die Transplantation. Man sieht, wie auf den technischen Imperativ zugeschnittene abstrakte Modelle das formulieren, was die Organtransplantation stofflich-konkret
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umsetzt: Die lebendige Materialität der Individuen wird im Zeichen einer neuen Nutzung kurzgeschlossen, transferierbar, zirkulierbar gemacht. Neben Blut und Organen werden schließlich ganz speziellen Zellen universal transferierbar: die Körperstoffe für das (und aus dem) Fortpflanzungs-Geschehen. Kulturtechniken der Einflussnahme auf die Fruchtbarkeit von Frauen wie auch Männern sind zwar so alt wie die humane Welt. Die Laborbefruchtung aber unter Verwendung lebender menschlicher Zellen gibt der Sache in puncto technische Spielräume eine neue Qualität. Nicht zuletzt als historisch beispiellose Zumutung für die Frau: Der Reagenzglasbefruchtung gehen massive Hormongaben sowie eine chirurgische Explantation von Eiern voraus. Die sogenannte „künstliche“ Befruchtung in vitro verdient das Attribut „künstlich“ dennoch nicht deshalb, weil sie die erste „manipulierte“ Befruchtung wäre – wie gesagt: manipuliert wurde an der Fruchtbarkeit schon immer. Sondern sie ist „künstlich“, weil sie in vitro stattfindet, also nicht Eltern, sondern Dritte das Zellmaterial als Rohstoff hantieren und weil nun gemäß der Logik der Produktherstellung der Nachwuchs hergestellt werden kann. In der Reproduktions-Ethik spricht man oft etwas vage von Embryonen-„Gewinnung“. Rein sachlich aber werden im Reagenzglas „Embryonen“ produziert, und zwar so, dass deren weitere „Verwendung“ – rein technisch gesehen – frei steht. Die Reagenzglas-Befruchtung öffnet so nicht nur einer Optimierungslogik das Tor, der Logik des genetisch perfekten Produkts. Mit dem einfachen Modell einer im Prinzip freien Kombinatorik von Kern plus Kern plus Hülle lädt die Laborbefruchtung auch zum Basteln ein.3 Wie man weiß, hat sich auf dieser Basis in wenigen Jahren eine ganze Palette von „neuen Möglichkeiten“ entwickelt. IVF ist Basistechnologie für die Injektionsbefruchtung ICSI, für die Leihmutterschaft, für Befruchtungen außerhalb des normalen Alters und für die sogenannte PID, einen Gencheck zur Qualitätskontrolle der künstlich hergestellten Embryonen vor dem Einpflanzen in die Frau. Man kann mit den Fortpflanzungssubstanzen im Labor aber auch Eier durch Eier wie wahrscheinlich auch Samen durch Samen sowie (im Prinzip) über Artgrenzen hinweg mit Tierzellkernen befruchten – und man kann auf verschiedenen Wegen Keimzellen identisch vervielfachen, also Klonen. Klontechniken können sowohl bloß Rohstoff orientiert als auch zwecks Geburt, also zur Zwillingsherstellung eingesetzt werden, und sind zum Zweck der Rohstoffgewinnung mancherorts bereits erlaubt.
3
Die erste Verschmelzung von Ei- und Samenzelle im Reagenzglas fand 1978 statt; schon 1973 war erstmals die Rekombination von Genen, also Trennung und Umbau von DNA-Abschnitten gelungen.
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Und wieder zirkulieren – von den aus dem Boden sprießenden Befruchtungspraxen über den Ei-, Samen- und Leihmüttermarkt bis zur Senkung öffentlicher Gesundheitskosten durch PID – nicht nur Gelder, sondern die humanen Substanzen selbst, man möchte fast sagen: das Reproduktionsvermögen als solches. Der Stoff der einen kann der flexibel einsetzbare Rohstoff der Schwangerschaft der anderen werden, und das mit der Kernschmelze juristisch gesehen entstandene „werdende Leben“ eröffnet der laborgestützten Optimierung eine neue Dimension. Genetische Verbesserungen lassen sich als „Nutzen“ für die gesamte Menschheit hochrechnen. Es ist, als würde die biologische Gattung beginnen, sich im Medium ihrer eigenen Generativität zu steigern. Als Äquivalent für Nachwuchs, genetische Reserven, Erb-Gesundheit werden humane Fortpflanzungsstoffe gleichsam unmittelbar kapitalisiert. Die Verrohstofflichung erfolgt so im Grunde doppelt – eben indem der Menschenkörper nicht nur für Geld, sondern regelrecht als Geld fungiert, nicht nur als Ressource für eine Ökonomie, sondern als deren Medium [8]. Ich nenne ein letztes beispielhaftes Feld. Hier treffen auf gewisse Weise die Paradigmen Transplantation und Fortpflanzung zusammen. Sie kennen das Stichwort: „nachwachsende Organe“. Gemeint ist die Herstellung von wachsendem menschlichem Gewebe, das, an Ort und Stelle eingesetzt, genau die Aufgaben eines dort benötigten spezifischen Zelltyps übernehmen kann. Man transplantiert also nicht ein fremdes Organ, sondern implantiert gleichsam eine differenzierungsfähige eigene Anfangsform für die dann selbständig heranwachsende – sagen wir: Milz oder Leber. Technologische Voraussetzung für diese Idee ist die sogenannte Stammzell-Linie, eine sich identisch teilende und gleichsam alterslos weiterwachsende Zell-Kultur noch differenzierbarer Art. Diejenigen Zellen, denen man nachsagt, extrem wachstumsfreudig zu sein und zugleich für Ausdifferenzierung offen, sind die von Embryonen.4 Und so kommt die Metaphysik des „werdenden Lebens“ mit der Idee der Lebensverlängerung mittels lebendigem Organersatzstoff zusammen: Die embryonale Stammzelle scheint der universale Rohstoff zu sein für beliebige Gewebezüchtung – immer vorausgesetzt es gelänge, die unfestgelegten Zellen optimal zu „programmieren“, so dass sie nach dem Einwachsen ihrer Funktion entsprechen. Als Alternative zur Embryonalzelle wird inzwischen die Nutzung „adulter“ Zellen empfohlen. Sofern solche Zellen ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die embryonalen, kann man vielleicht sie verwenden – was möglicherweise „ethisch“ eine beruhigendere Vorstellung ist. Biopolitik im Sinne eines Zirkulationsfähig-Machens von Menschenstoffen sind beide Verfahren gleichermaßen.
4
Menschliche embryonale Stammzell-Linien wurden 1998 erstmals kultiviert.
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Mit der quasi ewig jungen (embryonalen5) Zelle oder mit der zur Undifferenziertheit quasi verjüngten (adulten6) Zelle haben wir nahezu in Reinkultur vor uns, was dem Ideal einer universal zirkulationsfähigen menschlichen Rohsubstanz entsprechen würde: Einen ent-individualisierten Lebens-Rohstoff, der den Einzelnen mehr wie einen Strom durchläuft, als dass er dessen Körper ausmachen würde oder substantiell mit ihm oder auch nur mit seinem Alter identisch wäre. Wie ein Brennglas bringt gerade die phantastische Stofflichkeit der Stammzelle alle Aspekte zusammen, auf denen das körperpolitisch Neue der biomedizinischen und biotechnischen Epoche beruht. Das Stichwort „Verrohstofflichung“ ist ein Behelfswort7, es zeigt das Phänomen nur an: Im Grunde wandelt sich die Evidenz dessen, was wir als die leibliche Einheit des Individuums begreifen – und zwar im Alltag, im sozialen Raum, auch weit weg von Wissenschaft, denn die fragliche Veränderung wird primär durch Techniken, durch Praktiken vermittelt. Ein technogenes Kontinuum von „Leben“ scheint die sinnfällige Körpergrenze zwischen mir und meinem anderen, aber auch zwischen mir und der biologischen Gattung verblassen zu lassen. Die alten Bezugsgrößen sind nicht verschwunden, aber sie haben an Wirklichkeitswert verloren. Sie sind praktisch entintensiviert, sie sind disponibel geworden. Damit zur zweiten Seite dessen, was ich als Biopolitik betrachte.
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Kurze Begriffsklärung: Embryonale Stammzellen sind „totipotent“, so lange volle Differenzierungsfähigkeit gegeben ist; einer/mehrere Embryonen können aus ihnen entstehen. Aus Stammzellen, die „pluripotent“, also eingeschränkt differenzierungsfähig sind, ist kein neuer Embryo zu gewinnen, sondern allenfalls Stammzellen embryonaler Organe. Mögliche Quellen beider Embryonalzelltypen sind: 1. Eigens erzeugte Embryonen, 2. sogenannte „überzählige“ Embryonen aus IVF (beides gilt als „Verbrauch“ „lebender“ Embryonen), 3. Embryonale Stammzellen aus Nabelschnurblut oder abgetriebene Föten (dies gilt als unter Embryonenschutzaspekten unbedenklich). 6 Adulte Stammzellen sind „erwachsene“ Zellen. – Gewönne man aus „eigenen“ Zellen nachwachsendes Zellmaterial, hätte das einen behandlungspraktischen Vorteil: Der/die Patient/in erhält individualisiertes, nämlich im Prinzip ‚eigenes‘ Gewebe. 7 Es mag nahe liegen, die eigentümliche biotechnologische Mobilmachung der Körper als Verstofflichung und gleichsam Verdinglichung zu begreifen. Ich fürchte jedoch, diese Sicht greift zu kurz. Sie verfehlt das Neue des Zugriffs: Nicht wird der Leib zu Sache gemacht, sondern man macht das Leibliche als solches bio-technisch produktiv.
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3.2. Die Zirkulation von Körper-Daten Das systematische Messen und Erfassen „des Menschen“ in dem Sinne, dass man ihn als ein empirisches Datenphänomen auffasst, beginnt wie die Biologie ebenfalls im 19. Jahrhundert – aber mit den Sozialwissenschaften, die einen „wirklichkeitswissenschaftlichen“ Anspruch stellen. Die Sozialwissenschaften bringen eine neue Sorte von Mathematik in Anschlag, um die physische Natur des Sozialen zu packen: Sie verwenden Statistik, die Sozialstatistik. Auch der Gegenstand der Sozialwissenschaften ist neu. Es ist die Population im Ganzen, aufgefasst als ein Kontinuum, in dem sich messbare Eigenschaften gemäß einer objektivierbaren „Normalität“ verteilen. Seitdem „ist“ der Mensch (individuell und als Kollektiv, als „Population“) wie jedes andere Naturobjekt und wie jedes andere technische Objekt ein DatenKörper. Sowohl das Individuum als auch die „Bevölkerung“ werden seither im Sinne von Datengrößen erfasst, typisiert, gruppiert, zugeordnet. Eine wichtige Leistung der Statistik ist die auf die Zukunft anwendbare Wahrscheinlichkeitsaussage: die Realität der statistischen Prognose, ein Objektivitätstyp, den es vorher nicht gab – und der im Übrigen zeitgleich auch die „exakten“ Naturwissenschaften, namentlich die Biologie zu erobern beginnt. Soviel zum Hintergrund gewissermaßen des „DatenPhänomens“. Ich fasse mich erneut extrem kurz, wenn ich sage, dass inzwischen jedenfalls längst der substantiellen, sozusagen „fleischlichen“ Seite des Körpers eine informationelle Seite, ein Daten-Körper entspricht. Haben wir eben betrachtet, wie konkret auf Flaschen gezogene Körperflüssigkeiten, in Kühlboxen gepackte Organe, herauspräparierte Zellgewebe sich in Bewegung versetzen und zwischen den individuellen Körpern zu kreisen beginnen, so geht es jetzt um ein analoges Phänomen im Reich der Information. Ich denke, auch in der Art und Weise wie man Sozialdaten, klinische Daten – aber auch ganz allgemein digitalisierbare Daten, also Daten die per se mit beliebigem anderem digitalem Material verrechenbar sind – einsetzt, zeichnen sich neue, und ebenfalls „leibhaftige“, biopolitische Zirkulationen ab. Biopolitisch deshalb, weil auch hier der Körper selbst der Einsatz ist – nur eben als biologischer Datenkörper und nicht als Stoffkörper allein. Ein erstes Beispiel könnte man „Gesundheitspässe“ nennen. Es ist schwer zu sagen, ob medizinische Daten über den Körper eines Individuums eher biologische oder eher Sozialdaten sind, denn wirklichkeitsmächtig sind sie als beides. Jedenfalls aber ist es der Gesundheitspolitik des 20. Jahrhunderts gelungen, ganze Bündel individueller medizinischer Daten wirklich bevölkerungsweit zu erheben und in standardisierter Form
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permanent präsent zu halten. Auch dies lässt technische Machbarkeiten entstehen. In jedem Einzelfall wird einerseits eine Normalität zum fraglosen Orientierungsmaß und andererseits ein individualisierter Datensatz fest mit dem Sosein des jeweiligen Individuums verklammert. Greifbares Indiz für das Vorhandensein solcher bevölkerungsweiter8 und gleichsam fest mit dem Körper verschweißter biomedizinischer Informationspakete ist die Existenz von Ausweisen, Pässen oder Chipkarten, die man ja auch tatsächlich physisch bei sich trägt, damit sie das Überprüfen und Messen – also das vergleichende Wahrnehmen jeweils eigens – ergänzen oder ersetzen. Einen unrühmlichen Prototyp aller flächendeckender Dokumente dieser Art bildet der Erbgesundheitspass als Teil der eugenischen Biopolitik des Dritten Reichs. In negativer Hinsicht ist er ein Instrument biologischer Selektion, in „positiver“ Hinsicht dient er als ein Instrument für das biopolitische Projekt einer Erbgutverbesserung: Der Datenkörper, der die Erbanlagen mitteilt, fungiert als Grundlage für beides. Für die Bundesrepublik setzt in Sachen Körper-Daten die Erschließung der Schwangerschaft Maßstäbe. Mit der Karriere des „Mutterpasses“, den spätestens seit den 1960er Jahren jede schwangere Frau bekommt, bei sich zu führen hat (!), und dessen Datenvolumen sich mehrfach vergrößert, beginnt die Ära der verpflichtenden Gesundheits-Checks und der Patientenkarten. Heute enthalten Mutterpässe ausdifferenzierte Messwerte und Verlaufsprotokolle, psychologische Angaben und Sozialdaten einschließlich. Eine wachsende Zahl von Pflichtstationen, Messungen, Ultraschall„Checks“ etc. gilt es abzuarbeiten, und die fehlende Kooperationsbereitschaft wird indirekt sanktioniert (nämlich über die Drohung, Kostenrisiken selbst zu tragen). Namentlich die Daten des neugeborenen Kindes werden zusätzlich in verschiedenen bundesweiten Registern zentral erfasst. Man könnte einwenden, dergleichen seien doch nur abstrakte „Informationen“ und nicht Teil eines Körpers. Ich denke aber, so einfach ist es nicht. Für eine Phänomenologie des Menschen-Leibes in einer modernen Gesellschaft wie der unseren ist dieser Daten-Körper von Gewicht: Er durchdringt die soziale Erfahrung, die den Körper für uns evident macht und seine „Natur“ konstituiert. Und er kann auch Teile dieser Natur stiften. Um bei der Konstitution des Mutter-Körpers zu bleiben ist beispielsweise die Blutgruppe einschließlich des Rhesus-Faktors ein solcher wirklichkeitsdefinierender Punkt: Unverträglichkeit mit den Werten eines möglichen Vaters bedeuten die konkrete Gefahr einer Fehlgeburt. Ähnlich konstitutiv: Das regulär zugemutete Wissen um Anzeichen für Besonderheiten 8
Die Erfassung in Form von Karteien geht dem systematisch voran, bleibt aber eben relativ auf eine begrenzte Population.
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eines erwarteten Kindes (Daten, die auf das sogenannte Down-Syndrom hinweisen zum Beispiel). Oder überhaupt das Daten-Wissen, das jemanden gleichsam im Medium seines Körpers zum Angehörigen einer bestimmten Patienten-Gruppe oder Risiko-Gruppe macht: Der konstitutive Bluthochdruck, der Diabetes, die Allergie, der positive HIV-Testwert oder auch die mitgeteilte Erbkrankheit trägt man im Kontext der modernen Medizin quasi bei sich. Und wenn es einem oder einer selbst auch egal wäre, so weiß man sich doch – eben weil die Daten zirkulieren – entsprechend differenziert erfasst und wahrgenommen. Man wird sich zu der darin gelegenen Realität als etwas, das „objektiv“ Teil des eigenen Körpers ist, verhalten. Zirkulieren in Form von „Pässen“ noch heterogene Stücke von Wissen, dann stellt die logistische Zusammenführung solcher Bio-Daten eine qualitative Verschärfung dar. Eine integrierende Funktion, die über herkömmliche Datensammlungen weit hinausgeht und diese übergreift, ist in den letzten Jahren der Humangenetik zugefallen – und zwar im Zuge der Verwandlung der Genetik in die Genomforschung bei gleichzeitiger Gesamterfassung des Human-Genoms. Mit dem Schritt von der Genetik zur Genomforschung tritt zum Paradigma des biologischen Lebens das Paradigma der Schrift, und zwar einer biochemischen Schrift von der Art einer Komplett-Beschreibung. Nicht einzelne Informationen über den Körper werden damit gleichsam „eingekörpert“, sondern der gesamte Genotyp erscheint wie ein riesiger Datensatz – der seinerseits wiederum als Teil eines noch viel komplexeren „Pools“ von Daten fungiert, nämlich gewissermaßen des Daten-Körpers der Gattung. Seit das Erbgut als entzifferbarer Code gilt – nicht metaphorisch, sondern tatsächlich: als handlungsleitendes Schema für das Labor [9] – interpretiert man den Kern des Lebens als Information. Die DNA, die informationstragende Eiweißkette der Zelle, wäre, folgt man diesem Paradigma, eine paradoxe Substanz: Einerseits ist sie nur ein „Stoff“. Andererseits aber auch gleichsam ein latentes Programm, eine Art Bauplan, auf dem die individuellen und die kollektiven Eigenschaften wie „Anlagen“ sowohl funktional wie auch räumlich lokalisierbar sein sollen, als auch lesbar. Im Zuge der inzwischen vollbrachten „Entzifferung“ des Genoms zeigt sich diese Mehrdeutigkeit (die eine Mehrdeutigkeit des Modells ist) zwar erneut, denn zum Erstaunen mancher ist das Resultat der Entzifferungsarbeit wiederum keineswegs eindeutig lesbar. Auch das Genom muss mittels „Interpretationen“ „verstanden“ werden. Philosophisch gesprochen: Der Code entpuppt sich als „Text“. Das Genom bedarf der Deutung. Trotzdem: Die Sogwirkung der Annahme, das Genom könne die Universalschrift sein, die letztlich alle anderen Körperdaten in sich aufnimmt, ist groß. Im Zeichen des Genoms rücken Biochemie, Biologie und Medizin unter dem neuen Dach einer „Lebenswissenschaft“ zusammen.
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Alltagswirksam ist eine explosionsartige Vermehrung von möglicherweise relevanten und von tatsächlich erfassten Daten aller Art. Die Zeiten unverbindlicher Fragen nach Sachverhalten wie „Erkrankungen der Eltern?“ sind vorbei. Faktorenspezifische Gen-Tests und Gen-Checks beherrschen das Bild. Jeweils geht es um Normalverteilungen bzw. Abweichung, die maßgebliche Relation ist also stets das Ganze einer Population. Am konsequentesten realisiert sich diese Logik im „Gen-Screening“, also bei flächendeckenden Gentests: Hier ist der Wert der Einzelinformation maximal, weil zugleich die Totalität der Fälle bekannt ist. Aber auch theoretisch ist der Universalismus des neuen Modells entscheidend – der Rekurs auf die Totalität der Daten, die Totalität des Genoms. Jede genetische Einzelaussage mobilisiert so im Grunde ein ganzes Daten-System, das die Sicht auf den Körper bestimmt und eine Fülle von biotechnischen und biotechnologischen Optionen zu eröffnen scheint. Die Gentechnologie insgesamt ist, soweit sie den Menschen betrifft, eine Art ökonomisierte Humangenetik, die sich von der Maxime der Heilung auf die allgemeinere Maxime der Entwicklung von allen möglichen Produkten verlegt hat und sich zum offenen Wirtschaftszweig entgrenzt. Produkt für Produkt wird dabei jener universale Datenkörper realisiert, auf dessen liquider Beschaffenheit – verstofflichte Information zu sein, die physisch Wirkung zeitigt – die Glaubwürdigkeit des gesamten GenomParadigmas beruht. Ein drittes und letztes Beispiel zur Biopolitik auf der Ebene von Datenkörpern heißt Biometrie. Hier wird das Thema „Zirkulation von KörperDaten“ noch einmal komplizierter. Was das genetische Paradigma auszeichnet aber auch beschränkt, ist dass es Genotyp und Phänotyp zusammenbringen muss. Der biochemische Stoff, die DNA-Sequenz, und die sichtbare Eigenschaft des Organismus sind im Prinzip nicht klar verbunden. Jedenfalls kreist die Forschung genau das nur mühsam ein: Der (innere) Daten-Körper ist mit dem (äußeren) Erscheinungsbild im Einzelfall nur viel zu komplex – und also: nur vage – verknüpfbar. Auf dieses Dunkelfeld der Verbindung zwischen genetischen Daten und sichtbaren Daten konzentriert sich inzwischen eine neue technische Disziplin: die computergestützte Biometrie, die digitale genetische Information – Gen-Daten – und konventionell Sichtbares, nämlich Bilder, korreliert. Mit biometrischen Mitteln kann man beispielsweise die Form der Hand oder Proportionen des Gesichts digital erfassen, als Bilder detailliert rastern – und dann errechnen, ob es signifikante Zusammenhänge gibt, etwa zwischen einer bestimmten Daumenfalte und einer Erbkrankheit, zwischen einer bestimmten Augenstellung und Alkoholismus etc. Neben der Hand und dem Kopf oder dem Gesicht gelten derzeit die Iris im Auge und der klassische Fingerabdruck als (beim Menschen) biometrisch interessant.
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Ob die Verknüpfung des Phänotyps mit der Genetik funktionieren wird, kann ich persönlich nicht einschätzen. Ich denke aber, in diesem Projekt zeigt sich auf nahezu perfekte Weise erneut, wie das Körper-Schema des Bio-Zeitalters funktioniert: Die definitiven, bisher als „natürlich“ hingenommenen Grenzen – zwischen den Individuen, zwischen dem Individuum und der Gattung, zwischen Innen und Außen – müssen in relative Grenzen verwandelt werden. Genauer: in „relative“ Grenzen im Sinne der Möglichkeit von operativer Manipulation. Denn letztlich ist es der technische Imperativ, dem die neue Verschiebbarkeit, die Übergängigkeit und der gleichsam verflüssigte Charakter der Körper in der „Bio-Epoche“ gehorcht. Die Übertragung der Stoffe ineinander, die Vernetzung der Daten: beides dient einem Verfügbarmachen, einer Optimierung des möglichst variablen technischen Zugriffs. Damit wird produktiv und aktiv, was bisher – wirtschaftlich – nur als „reproduktive“ und passive Seite des Menschen gegolten hat: sein „biologischer“ Körper selbst. Eben dies also ist Biopolitik: Der Körper erscheint nicht mehr im Medium einer Ökonomie und Technik, er ist für eine oder vielleicht mehrere Ökonomien zum Medium, zum technisierbaren Medium geworden.
4. Und die Bionik?
4.1. „Von der Natur lernen“ Kommen wir zurück zur Bionik. Nehmen wir ihre erste Version: „Von der Natur lernen“. Hier werden nicht Stoffe direkt manipuliert, sondern – zitieren wir noch einmal Nachtigall: „Lernen von der Natur als Anregung für eigenständiges technologisches Gestalten“ – es sollen allein vorbildliche Lösungen der Natur abgelauscht werden. Das klingt nach Respekt vor der Natur und nach Anerkennung ihres „Eigenwertes“. Aber was wird gemacht? Es werden Daten gewonnen und dieser „Datenkörper“ hilft der Technik auf die Sprünge. Bionik heißt dann: Technische Parameter können einem („biologischen“) Funktionsoptimum angenähert werden. Je mehr das Produkt des bionischen Ingenieurs sich in seiner realen Leistungsfähigkeit dem biologischen Vorbild annähert, um so mehr wird aber – theoretisch und praktisch – eine Art Natur produziert. Auch die bloß ‚nachahmende‘ Bionik ist insofern eine konstruktive Biotechnik – und sie korrespondiert mit der biopolitischen Maxime der Handhabbarmachung. Rekonstruktion und Konstruktion von Funktionalitäten verschwimmen – wenn auch die Rekonstruktion auf die funktionale Erset-
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zung des einen („Natur“) durch das andere („datenmäßiges oder stoffliches Artefakt“) hinausläuft. Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Nichtintervention und Intervention verwischt – auch wenn in der „lernenden“ Bionik der Weg zur Produktion des biologischen oder bioäquivalenten Artefakts den Weg über die Daten nimmt und nicht den Weg über die direkte experimentelle Intervention.9 4.2. Biologisch-technische Systeme und Bioingenieurskunst Was für die eine Bionik gilt, gilt für die andere umso mehr. Nehmen wir die weitere Bestimmung der Bionik – produktive Verkopplung von Technik und Natur, Konstruktion biologisch-technische Systeme – so ist die Zielrichtung klar. Hier ist die Zirkulation von Körperstoffen und Körperdaten sozusagen Bedingung des Verfahrens. Man wird also sagen müssen: Je geschickter die Verknüpfung von Artefakt und biologischem Prozess angelegt ist, je besser etwa eine biomechanische oder eine bio-informatische Komponente sich der komplexen Umgebung eines biologischen Milieus anzuverwandeln weiß – desto größer der von mir beschriebene Entgrenzungseffekt und damit die potentielle biopolitische Veränderung. Die Veränderung im Sozialen. „Leben“ wird zur zirkulationsfähigen Ressource, es wird – physisch – transferiert, distribuiert, optimiert, es erhält den damit verbundenen technischen und ökonomischen „Wert“ eines Rohstoffs und Gutes. Und damit wird es zwangsläufig einer Logik der Verteilung, der Rationierung also, zugeführt. Nun kann man einwenden, dass beileibe nicht alles in der Bionik (vielleicht sogar recht wenig) auf Geräte hinausläuft, die unmittelbar am Menschenleib zum Einsatz kommen. Ich könnte sagen: Stimmt. Ganz sicher ist dasjenige, was ich hier als Biopolitik – und sozusagen als biopolitische „Technikfolge“ geschildert habe – im Bereich der Humantechniken ganz besonders brisant. Dennoch glaube ich – die Beispiele nachwachsende Gewebe, Biometrie zeigen dies und man könnte aus der Nanotechnik und der Robotik weitere Beispiele bringen: Weder die Idee der „bloßen“ Nachahmung biologischer Prozesse noch die Idee der auf Pflanzen oder Zellen etc. beschränkten Einsatzmöglichkeiten wird der Realität gerecht. Entscheidend ist die praktische Reichweite der Verfahren. Gemessen an ihnen 9
Umso klarer, ruft man sich die Einsicht in Erinnerung, dass auch die Messung bereits (a) stofflich, (b) in der Art eines Experiments interveniert. Wenn man so will, sind Messungen standardisierte Manipulationen und nicht etwa bloße Lektüren o.ä. Der Datenkörper ist also mit dem Stoffkörper durchaus verbunden.
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sind selbst ehrenwerte Grenzziehungen wie organisch/anorganisch oder lebendig/nichtlebendig längst unpassend geworden. Die Bio-Ingenieurskunst ist den Bio-Wissenschaften an diesem Punkt – dass tendenziell alles zu allem passen kann und auch sollte – gerade in Sachen Zirkulationseffekte stets einen Schritt voraus.
5. Antwort und Schluss Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage – hängen Biopolitik und Bionik zusammen? – ist also von meiner Seite aus ein doppeltes Ja. Beides hängt zusammen. Und zwar auf relativ abstrakter Ebene, daher die vielen Beispiele. Dafür aber erstaunlich eng. Und eigentlich sogar doppelt: Die Bionik als Nachahmung mag sich mehr auf der Seite einer reinen BioDaten-Technik befinden. Die Bionik im weiteren Sinne, also als Biotechnik der direkten Manipulationen, bewegt sich mehr auf der Seite des stofflichen Zugriffs und der stofflichen Zirkulation. In beidem jedoch steckt ein praktischer Universalismus der Machbarkeiten. Und dieser hat biopolitische Effekte. Nun trage ich diese Analyse nicht vor, um einfach mit dem moralischen Zeige-Finger auf die Bionik zu zeigen. Das wird der historischen Dimension des Problems nicht gerecht, und es ist auch nicht Aufgabe der Philosophie. Ich will also nicht denjenigen, die im Projektfeld „biologischtechnische Systeme“ arbeiten, ein schlechtes Gewissen machen. Ich will auch nicht nach „ethischen“ Kriterien rufen oder nach Ethik-Experten. Ich habe (vielleicht ist Ihnen das aufgefallen) das Wort „ethisch“ nur einmal verwendet – und ich habe es auch da nur mit spitzen Fingern angefasst. Ich glaube nicht, dass die Vorstellung einer nachträglichen „ethischen“ Begrenzung von Technikfolgen wirklich hilfreich ist. Vielmehr glaube ich, dass „Ethik“ uns nicht die Aufgabe abnimmt, zunächst einmal tatsächlich in philosophisch-historischen Analysebegriffen genau zu beschreiben, was wir tun (was wir in politischer Hinsicht, im Hinblick auf Zugriffsmöglichkeiten tun), indem wir Technikentwicklung – so wie wir es tun –betreiben. Man kommt dann zum Beispiel zu der These: Wenn wir auf biologischtechnische Systeme setzen, dann muss eine solche Biopolitik der Zirkulation von Stoffen und Daten zwangsläufig eng damit zusammen hängen, dass auch eine Politik entsteht, die ökonomisch-technische Nutzungsströme quer durchs Individuum hindurch erstens zulässt und zweitens organisiert und verwaltet – das ist erst einmal eine Einsicht. Um Einsichten diesen Typs geht es mir, nicht um schlechtes Gewissen. Ob man auf solche Einsichten über das historische Veränderungsausmaß von Technologien
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dann mit „Ethik“, mit Moral10 oder aber politisch reagieren sollte, das ist ein ganz anderes Problem. Und es ist vielleicht keine wissenschaftliche Frage. Literatur [1] www.uni-saarland.de/fak8/bi13wn/wabionik.html (Mai 2003) [2] Schmidt JC (2002) Wissenschaftsphilosophische Perspektiven der Bionik. In: Thema Forschung 2/2002, S 14-19, der sich ganz auf die Bionik des ‚nachahmenden‘ Selbstverständnisses konzentriert [3] www.fsinfo.cs.uni-sb.der/~abe/Links/Bio.html (Mai 2003) [4] www.biologie.rwth-aachen.de/bionik/bionikhinter/html (Mai 2003) [5] Foucault M (1983) Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (1976). Frankfurt/M [6] Gehring P (2003) Verrohstofflichung des Menschenkörpers – divergierende Auffassungen von der Aufgabe der Praktischen Philosophie. In: Berliner Debatte, Initial 14 (4/5): 30-37 [7] Starr D (1999): Blut. Stoff für Leben und Kommerz. München, S. 10 [8] Fragt man übrigens, wofür die Ressource „Fruchtbarkeit“ letztlich als Äquivalent fungiert, so lautet meine Vermutung: Es ist in beiden Fällen Zeit, Lebenszeit, die gewonnen wird – wie schon bei der Blutübertragung und der Organtransplantation; auch sie dienen ja als rettender Aufschub und Lebensverlängerung. Zu dieser These etwas ausführlicher vgl. Petra Gehring: Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Zur Ideengeschichte des Leibes vor aktuellem biopolitischem Hintergrund. In: Schürmann V (Hrsg) Menschliche Körper in Bewegung. Frankfurt/M 2001, S 41-64 [9] Blumenberg H (1986) Die Lesbarkeit der Welt (1981). Frankfurt/M, S 376
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Philosophen unterscheiden Ethik und Moral, was in der öffentlichen Diskussion meist nicht geschieht. Im Sprachgebrauch der kontinentalen Philosophie ist „Ethik“ die (wissenschaftliche) Reflexion auf die (unwillkürlich in uns wirksame) Moral. Anders gesagt: Ethik erfordert die Belehrung durch Experten, Moral haben wir auch so.
Was ist TechnoWissenschaft? – Zum Wandel der Wissenschaftskultur am Beispiel von Nanoforschung und Bionik Alfred Nordmann Institut für Philosophie, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Bionik und Nanoforschung setzen auf synergetische Effekte aus neuen disziplinären Konstellationen. Indem ihre Problemstellungen über traditionelle Forschungszusammenhänge hinausgehen, stehen Bionik und Nanoforschung als „TechnoWissenschaften“ womöglich für einen grundsätzlichen Wandel der Wissenschaftskultur. Die Feststellung eines derartigen Wandels setzt eine historische Perspektive voraus, die angesichts einer gegenwärtig erst im Aufbruch befindlichen Forschung noch gar nicht zur Verfügung steht. Die These vom Wandel der Wissenschaftskultur kann hier also noch nicht abschließend begründet, aber wenigstens plausibel gemacht werden: Stellt das traditionelle Wissenschaftsverständnis die Formulierung und Prüfung von Theorien und Hypothesen in den Vordergrund, zeichnen sich die TechnoWissenschaften durch ihr qualitatives Vorgehen bei der Aneignung neuer Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten aus.
Abstract Bionics and nanoscale research rely on the synergy that results from novel disciplinary configurations. By moving beyond traditional research contexts, these two “technosciences” may represent a profound transformation of the culture of science. The diagnosis of such a transformation presupposes a historical perspective on currently evolving research. Since this perspective is not available yet, one can only establish for now the plausibility of such a cultural transformation: While traditional conceptions of science foreground the formulation and testing of theories and hypotheses, technoscience is characterized by a qualitative approach that aims to acquire new competencies of action and intervention.
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1. Einführung Was soll das englische Wort „technoscience“ oder die deutsche Konstruktion „TechnoWissenschaft“, wenn es doch schon längst das ordentlich eingeführte Wort „Technikwissenschaft“ gibt? Insofern, dass eine Wissenschaft der Technik gemeint ist, stehen sich Wissenschaft und Technik hier aber noch als zweierlei gegenüber – ganz so wie in der Rede von Technik als angewandter Wissenschaft. Mit dem Begriff TechnoWissenschaft soll dagegen ausgedrückt werden, dass in ihr Technik und Wissenschaft untrennbar verbunden sind und nicht einmal mehr begrifflich auseinander gehalten werden können. TechnoWissenschaft ist also weder verwissenschaftlichte Technik noch technisch angewandte Wissenschaft. Es handelt sich hier um keine Disziplin oder Gattung wissenschaftlicher Arbeit, sondern um eine hybride Form und somit Symptom für einen grundlegenden Wandel der Wissenschaftskultur. Als Kulturbegriff ist „TechnoWissenschaft“ durchaus mit „TechnoMusik“ verwandt. Auch die TechnoMusik will mehr als ein neues musikalisches Genre sein. Das Material der Musik besteht traditionell aus Tönen, wobei die Methode ihrer materiellen Erzeugung unerheblich ist. Im Prinzip kann ein guter Synthesizer oder auch ein ganz anderes Instrument für die Violine einspringen. Dagegen beharrt die TechnoMusik darauf, dass sich der Ton nicht gegenüber dem Geräusch verselbständigt und ein technomusikalisches Klangerzeugnis immer einmalig mit seinen physischen Herstellungsbedingungen verbunden bleibt. Ähnlich wie für die Musik gilt für das traditionelle Verständnis von Wissenschaft und Technik, dass sich ihre Tatsachen von den historisch zufälligen Bedingungen ihrer Erzeugung ablösen und für sich bestehen können. Eine wissenschaftliche Tatsache zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie überall und jederzeit vorgefunden oder wiederhergestellt werden kann. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend nannte dies die „separability assumption“ der Wissenschaft [2]. Mit dem Begriff „TechnoWissenschaft“ wird aber gerade diese Ablösbarkeit der Tatsachen von ihren Erzeugungsbedingungen in Frage gestellt: Wie groß oder klein der Geltungsbereich der TechnoWissenschaften sei, hinge ganz davon ab, wie weitreichend die vorgefundene Natur bereits technowissenschaftlich durchwirkt ist [3, 5].
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2. Wissenschaftskultur Ein grundlegender Wandel im kulturellen Selbstverständnis der Wissenschaften lässt sich nur vor dem Hintergrund des geläufigen und vertrauten Kulturbegriffs von Wissenschaft diagnostizieren. Nun hat sich das traditionelle Selbstverständnis der Wissenschaften über Generationen hinweg entwickelt und weist in verschiedenen nationalen und disziplinären Zusammenhängen durchaus unterschiedliche Akzente auf. Trotzdem lässt sich ohne allzu große Stereotypisierung und Vereinfachung feststellen, dass es im 20. Jahrhundert unter dem Eindruck von Faschismus und Stalinismus eine außerordentlich prägnante Ausprägung erhalten hat. Gerade im Kontrast zu dieser Ausprägung wird die Herausforderung der „TechnoWissenschaft“ besonders deutlich. Die Prägnanz des überlieferten Kulturbegriffs von Wissenschaft ergibt sich daraus, dass in ihm logische Begründung, ethische Einfärbung und Festigung durch Sozialnormen zusammenfallen. Die logische Begründung erbrachte Karl Raimund Popper. Aus ihr ergibt sich unmittelbar ein Ethos der Wissenschaften, dessen Verknüpfung mit Sozialnormen wissenschaftlichen Handelns von dem Wissenschaftssoziologen Robert Merton verdeutlicht wurde. Poppers logische Begründung der Wissenschaftskultur ist weithin bekannt und wird auch heute noch in vielen Einführungsvorlesungen zitiert. Sie sei hier darum nur kurz in Erinnerung gerufen [8]. Popper kritisiert eine wissenschaftliche Methodenlehre, nach der es in der Forschung darum geht, Hypothesen durch Beibringung der erforderlichen Evidenz zu bestätigen. Nun ist seit Jahrhunderten das Induktionsproblem bekannt, dem zu Folge die Wahrheit einer Hypothese auch durch eine beliebig große Anzahl von Bestätigungen immer noch nicht bewiesen ist. Dagegen lässt sich die Falschheit einer Hypothese schlüssig beweisen, wenn nämlich ein falsifizierendes Prüfverfahren auch nur einmal zum Erfolg führt: Eine einzige Widerlegung kann Gewissheit verschaffen, während zahllose Bestätigungen dies nicht vermögen. Nicht die Suche nach Bestätigungen zeichnet also das wissenschaftliche Arbeiten aus, sondern das rigoros kritische Prüfverfahren. Im Namen von Wahrheit und Gewissheit geht es in der Wissenschaft darum, die Wahrheit nie zu behaupten, sondern immer nur die Falschheit nachweisen zu wollen. Unsere besten Theorien sind die, die hartnäckigen und kreativen Falsifikationsversuchen beharrlich widerstanden haben. Mit dieser Charakterisierung unterscheidet Popper zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaften. Letztere erkennen wir daran, dass sie nicht falsifizierbar sind, dafür aber überall Bestätigung finden. Als Bei-
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spiele hierfür gelten – nicht ganz gerecht, natürlich – die Astrologie, die Psychoanalyse Freuds oder der Historische Materialismus von Marx und Engels. Poppers logische Abgrenzung der Wissenschaft leistet aber noch mehr. Sie grenzt auch den wesentlich demokratischen Charakter der Wissenschaft von Stalinismus und Faschismus ab [10]. Totalitäre Gesellschaftsformen zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie Konformität anstreben, also ein System der gegenseitigen Bestätigung, Stützung und Rechtfertigung. Dagegen haben Wissenschaft und die demokratisch offene Gesellschaftsform gemeinsam, dass sie von Kritik animiert und befördert werden, dass in ihnen nichts von der Kritik ausgenommen und alles verhandelbar ist. So weitet sich Poppers logisch begründeter Wissenschaftsbegriff aus und fällt nun unter einen weiter gefassten, ethisch eingefärbten Begriff politischer Kultur. Wissenschaft ist einer kritischen Rationalität verpflichtet. Sie fördert, organisiert und institutionalisiert geradezu die Haltung der Skepsis und Kritik, zum Beispiel durch das System des „peer review“. In einem Aufsatz mit dem Titel „Science and Democratic Social Structure“ erscheint darum „organized scepticism“ als eine von vier Sozialnormen der Wissenschaft. Die drei weiteren demokratischen Normen des Sozialsystems Wissenschaft nennt der Soziologe Robert Merton „universalism“ (vor der Wissenschaft sind alle gleich), „communism“ (wissenschaftliche Hypothesen gehören der Wissenschaft und sind nicht Privateigentum) und „disinterestedness“ (nur das allgemeine Interesse an Kritik und Wahrheit darf bekundet werden, nicht etwa das Interesse an Geld oder Ruhm) [6]. Popper und Merton waren sich bewusst, dass die wissenschaftliche Praxis keineswegs immer den logischen Idealen des kritischen Rationalismus oder den Sozialnormen des demokratischen Ethos entspricht. Dies haben die organisierte Skepsis, der Universalismus, Kommunismus und die Interesselosigkeit mit anderen Normen und Idealen gemeinsam: Sie wirken auch dort, wo sie mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen nicht befolgt werden. Das kulturelle Selbstverständnis der Wissenschaft können sie selbst dann noch prägen, wenn der Regelverstoß selbst zur Regel geworden ist. Dass Poppers logische Regeln und Mertons soziale Normen der wissenschaftlichen Praxis nicht gerecht werden, ist Wissenschaftshistorikern und -theoretikern seit Jahrzehnten bekannt. Aber nicht allein ihren genaueren Analysen dieser Praxis verdankt sich der alternative Kulturbegriff der TechnoWissenschaft. Er verdankt sich vor allem einem Wandel der Forschungspraxis selbst und damit einhergehend ihrem veränderten Selbstverständnis.
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3. Perspektivenwechsel Wenn Popper und Merton von Wissenschaft reden, dann meinen sie etwas, was vornehmlich aus Theorien und Hypothesen besteht. Ziel und hauptsächlicher Inhalt der Wissenschaft sei es, Theorien aufzustellen und einer öffentlichen Kritik zu unterziehen. Wissenschaft ist hiernach eine vornehmliche geistige und sprachliche Betätigung. Die Praxis des Experimentierens wird von Ihnen zwar nicht verschwiegen, aber auch die Bedeutung des Experiments besteht für sie nur darin, dass es zur kritisch prüfenden Argumentation beiträgt. Es gilt als Lieferant einer Information, die die Falsifikation oder das zeitweilige Überleben einer Hypothese anzeigt. Dagegen gehören die praktischen Schwierigkeiten und Errungenschaften des Experimentierens nicht mehr zur Wissenschaft als solche, sondern zur technischen Beherrschbarkeit der Welt. Dieses Bild der Wissenschaft und ihres Verhältnisses zur Technik orientiert sich an der klassischen Physik. Es geht einher mit einer klaren Trennung zwischen dem Inneren der Wissenschaft und allem, was ihr äußerlich ist. Streng genommen gehören hiernach nicht einmal die Persönlichkeiten der Forscher zur Wissenschaft. Auch sie tragen nur zur Abfolge der Argumente bei, die den Kern der Wissenschaft ausmacht. Popper nennt die Methode der Wissenschaft darum auch eine „subjektlose Erkenntnistheorie“ [9]. Wer Wissenschaft mit der Diskussion von Hypothesen gleichgesetzt, hebt sie somit von ihren materiellen Grundlagen und Gegebenheiten ab und unterscheidet sie grundsätzlich von der Technik. Hypothesen sollen die Natur darstellen, Technik greift in sie ein. Das Verhältnis von Wissenschaft und Technik nimmt sich nach diesem traditionellen Wissenschaftsverständnis so aus: Die wissenschaftliche Darstellung der Natur schafft theoretische Voraussetzungen für technische Eingriffe in die Natur. Erst nachdem immer schon vorhandene Kausalverhältnisse aufgespürt wurden, lässt sich dieses Wissen um Ursachen und Wirkungen für unsere kulturellen Bedürfnisse praktisch nutzbar machen. Der Begriff der TechnoWissenschaft wurde eingeführt, um einer Forschungspraxis gerecht zu werden, für die die Trennung von Darstellung und Eingriff nicht mehr gilt. Wissenschaft und Technik seien eben darum ununterscheidbar geworden, weil die Darstellung der Natur immer schon mit einer technischen Naturveränderung einhergeht – was dargestellt wird, ist nicht das Bleibende der Natur an sich, sondern bereits ein Erzeugnis technowissenschaftlicher Praxis. Auch die Ablösung des rein innerwissenschaftlichen Argumentierens von den materiellen Gegebenheiten im Labor gehört hiernach nicht mehr zum Selbstverständnis der Forscher.
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4. TechnoWissenschaftskultur Eingeführt wurde der Begriff „TechnoWissenschaft“ 1987 von dem Wissenschaftssoziologen und -philosophen Bruno Latour [5], weiterentwickelt und mit einer anderen Akzentuierung versehen wurde er von Donna Haraway [4]. Auf die feinen Unterschiede zwischen diesen Positionen und die Herleitung des Begriffes muss hier schon darum nicht eingegangen werden, weil sich an Bionik und Nanoforschung die Signatur der TechnoWissenschaft deutlich manifestiert. Als Signatur der TechnoWissenschaft präsentiert sich nämlich der Forschungsgegenstand, der sich weder der Natur noch der Technik oder Kultur zuordnen lässt, der also ein so zwitterhaftes Wesen ist wie die TechnoWissenschaft selbst. Donna Haraway hat dies an der sogenannten Krebsmaus eindringlich vorgeführt [4]. Die Krebsmaus ist genetisch so modifiziert, dass sie Brustkrebs bekommt und damit zum Gegenstand der Krebsforschung wird. Somit ist die Krebsmaus aber auch ein kommerzielles Produkt, das an Forschungslabore verkauft werden muss, für das also auch Werbung gemacht wird, die wiederum an die Hoffnungen und Gefühle appelliert, die sich an die Krebsforschung knüpfen. Die Krebsmaus ist also weder natürlich noch künstlich, sondern lebendiges Warenzeichen. Sie symbolisiert die leidende Natur auch des krebskranken Menschen und wird zum Hoffnungsträger all derjenigen, die sich technische Befreiung aus den bloßen Naturverhältnissen wünschen. Auch wer dieser Analyse auf die Schnelle nicht folgen will, wird im Zentrum, vielleicht sogar am Ursprung der Nanoforschung einen ähnlich zwitterhaften Gegenstand erkennen. Während wir uns unter einem Mikroskop gewöhnlich ein Beobachtungsinstrument vorstellen, das der Darstellung dient, unterscheidet sich das Rastersondenmikroskop (STM) radikal von dieser Vorstellung. Mit diesem Instrument wird streng genommen gar nicht gesehen, sondern eine Oberfläche abgetastet. Indem wir mit dem STM den Forschungsgegenstand berühren, wird auch nicht mehr passiv beobachtet, sondern aktiv eingegriffen. Das STM wurde zur Signatur der Nanoforschung, nicht weil wir mit seiner Hilfe Atome sehen, sondern weil es uns erlaubt, sie gezielt zu bewegen. Das STM symbolisiert somit die für die Nanoforschung grundlegend neu erworbene Fähigkeit, Atome einzeln anzusprechen und zu manipulieren. Damit wird ein Handlungsbereich erschlossen, der zuvor nur Gegenstand abstrakter Theoriebildung war. Wenn im nanoskaligen Bereich nun also gehandelt, womöglich entworfen und gebaut werden kann, dann ist es auch nur angemessen, wenn die erste mit dem STM ausgeführte Tätigkeit darin bestand, aus 35 Atomen den Firmennamen „IBM“ zu buchstabieren.
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Der hybride oder zwitterhafte Charakter ihrer Forschungsgegenstände ist für die Bionik geradezu Programm. Ehe wir nämlich die technischen Tricks der Natur erkennen können, um sie dann für uns nutzbar zu machen, müssen wir uns die Natur als einen Ingenieur denken, der technische Problemlösungen entwickelt hat. Der Fisch also, dessen Flossenantrieb in einem Schwimmroboter nutzbar gemacht wird, wird selbst schon als eine Art Maschine oder Roboter vorgestellt. Entsprechend zweideutig sind daher viele Abbildungen im Bereich der Bionik. Oft stellt sich dem Betrachter die Frage, ob hier nun die Maschinerie des Tiers oder das Tierähnliche der Maschine dargestellt wird. Lernt der Ingenieur von der Natur, was ihre Konstruktionsprinzipien sind, oder liefern die Konstruktionsprinzipien des Ingenieurs Erklärungsmuster für das Naturgeschehen? Die mit dieser Frage aufgestellte Alternative soll in der Bionik unentschieden bleiben. Der Wissenschaftsphilosoph Jan Schmidt drückt dies so aus: „Auch die Bionik hat also keinen direkten, unvermittelten, wertfreien Zugang zur Natur. Vielmehr wählt die Bionik einen technikvermittelten und technikinduzierten Zugang zur Natur, um vom technisch verstandenen Leben zur lebensoptimierten Technik überzugehen: Nicht vom Leben zur Technik, sondern von der Technik zum Leben!“ [11] Auch die Nanoforschung macht sich den biomimetischen Ansatz der Bionik zunutze. Darum finden sich dort ähnliche Argumentationsmuster. Eine programmatische Broschüre der US-amerikanischen Nanotechnologie Initiative erklärt bereits in ihrem Titel, dass es ihr nicht um Darstellung, sondern um Gestaltung und Neuschöpfung der Natur geht: „Shaping the World Atom by Atom“. Dass hier die Natur selbst zum Gegenstand der Ingenieurskunst und Wissenschaft erklärt wird, rechtfertigt sich damit, dass die Natur selbst ein Ingenieur sei. So heißt es in der Broschüre: „Selbst ein frühes Beispiel der Nanotechnik wie die chemische Katalyse ist wirklich ganz jung im Vergleich zur Nanotechnik der Natur selbst, die vor vielen Milliarden Jahren entstanden ist, als Moleküle begannen, sich in komplexen Strukturen zu organisieren, die Leben ermöglichen“ [7]. Hiermit ist eine wesentliche Differenz zwischen Wissenschaft und TechnoWissenschaft benannt. Für erstere ist wesentlich, dass zwischen Darstellung und Eingriff, zwischen theoretisch gefasster Natur und technisierter Kultur klar getrennt werden kann. Dagegen ist für Nanoforschung und Bionik die Unmöglichkeit dieser Trennung Arbeitsgrundlage und Programm. Dies ist aber nur das erste von zehn Symptomen für den Kulturwandel von der Wissenschaft hin zur TechnoWissenschaft. Weitere Symptome für die Wendung zur TechnoWissenschaft können hier aber nur genannt werden: 1. Statt darstellender Hypothesen über die Natur, eingreifende Gestaltung einer hybriden KulturNatur.
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2. Statt quantitativer Voraussagen und hochgradiger Falsifizierbarkeit, Suche nach Strukturähnlichkeiten und qualitativer Bestätigung. 3. Statt Artikulation von naturgesetzlichen Kausalbeziehungen oder Mechanismen, Erkundung interessanter, beziehungsweise nützlicher Eigenschaften. 4. Statt Orientierung auf die Lösung theoretischer Probleme, Eroberung eines neuen Terrains für technisches Handeln. 5. Statt hierarchischer Organisation von Natur und Wissenschaft, Orientierung auf transdisziplinäre Objekte und Modelle. 6. Statt Trennung von (wissenschaftlicher) Gesetzmäßigkeit und (technischer) Machbarkeit, programmatische Gleichsetzung von natürlich, bzw. physikalisch Möglichem mit technisch Realisierbarem.
Vier weitere Symptome verdeutlichen noch den Kontrast, da sie sich auf die vier von Merton aufgestellten Sozialnormen beziehen. 7. Statt organisierter Skepsis, Konvergenz eklektischer Theorien auf verbindliche Artefakte hin. 8. Statt Universalismus und einer Wissenschaftsgemeinschaft aus Gleichgestellten, in der Forschung ein Zusammenwirken vieler, ungleich situierter sozialer Akteure. 9. Statt gemeinsamem Eigentum, die Zirkulation von Produkten zwischen Instrumentenherstellern und Laboren, zwischen wissenschaftlich-technischen Einrichtungen, zwischen Labor, Industrie und Gesellschaft. 10.Statt Interesselosigkeit und Verpflichtung auf „Wahrheit“ als einzig geltendem Interesse, weder die wissenschaftliche Suche bloß nach besseren Theorien, noch die technische Entwicklung bloß von besseren Geräten.
Das Gegenbild zum Ideal der Interesselosigkeit erscheint in dieser Aufzählung besonders klärungsbedürftig, da es hier nur mit einem Weder-Noch umschrieben und noch nicht positiv charakterisiert ist.
5. Das Interesse der TechnoWissenschaft Damit der hier skizzierte Kulturwandel nicht als bloße Klage über den Verlust hoher wissenschaftlicher Ideale missverstanden wird, soll abschließend am Beispiel der Nanoforschung das Interesse der TechnoWissenschaft gewürdigt werden. Dabei wird deutlich, was an die Stelle des eng gefassten Erkenntnisinteresses der traditionellen Wissenschaftskultur tritt. Die Begeisterung der Forscher für ihren Gegenstand bietet hierfür einen ersten Anknüpfungspunkt. Auf die Frage nach dem Interesse der Nanoforschung gibt es zwei typische Antworten. Erstens heißt es, die Arbeit im Nanobereich sei darum theoretisch interessant, weil es sich hier um das Grenzgebiet von klassischer Physik und Quantenphysik handelt. Beim Aufstieg von kleinsten Teilen lässt sich die Emergenz klassischer Eigenschaften wie Leitfähigkeit
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beobachten, beim Abstieg von der klassischen Erfahrungswelt dagegen die Emergenz von Quanteneffekten wie quantisierte Leitfähigkeit. Die zweite Antwort bezieht sich auf die praktische Bedeutung dieses theoretisch bereits von verschiedenen Seiten beleuchteten Grenzgebiets. Klassische und Quantenphysik stellen das Rüstzeug, mit dem im Nanobereich alles schnell verstanden werden kann. Sie schaffen einen Freiraum für den technischhandwerklichen Zugriff und für die aufregende Erfahrung, in einer Welt endlich handeln zu können, die uns bisher nur theoretisch bekannt war. Hier handelt es sich also um theoretisch geschulte Neugier auf einen Ort, der zwar keine grundlegend neuen theoretischen Einsichten verspricht, an dem wir aber erfahren können, wovon in unseren Theorien eigentlich die Rede ist. Die Nanoforschung begibt sich somit auf eine Art Entdeckungsreise. Dabei ist sie wie seinerzeit die Mondreisenden theoretisch gut gerüstet für die besonderen Eigenschaften der Lokalität. Und wie bei der Mondreise geht es vornehmlich um die Frage, ob wir den Nanobereich besiedeln können, also sehen und handeln, Objekte manipulieren, Abläufe auslösen, eine Fahne aufstellen oder unseren Namen in ein Molekül eingravieren? Ähnlich gilt auch für die Bionik, dass an der Stelle von „Wahrheit“ als dem Erkenntnisideal der Wissenschaftskultur nunmehr das Ideal der „Aneignung“ steht – also ein praktisches Zueigenmachen. Weder auf die Theorie, noch auf das Patent bezieht sich somit das Erkenntnisinteresse der TechnoWissenschaften. Es zielt vielmehr auf Aufrüstung sowohl der individuellen Fähigkeiten der Forscher, als auch der so genannten Wissensgesellschaft, die in internationaler Wirtschaftskonkurrenz steht. (Auch um militärische Aufrüstung kann es dabei gehen in einem Rüstungswettlauf, den derzeit wohl nur die USA gegen sich selbst austrägt.) Die hier vorgenommene Differenzierung von Wissenschaft und TechnoWissenschaft blieb ganz auf die Ebene der kulturellen Werte und Ideale bezogen: TechnoWissenschaften wie Bionik und Nanoforschung vertreten eine neuartige Programmatik und beziehen die materiellen Gegebenheiten der Forschungspraxis explizit ein, statt sich idealisierend auf den Bereich des letztlich bloß geistigen und sprachlichen Weltverständnisses zurückzuziehen. Wer die Forschung allerdings nicht von ihrem kulturellen Selbstverständnis, sondern vom praktischen Vorgehen her analysiert, wird den Unterschied zwischen Wissenschaft und TechnoWissenschaft weniger einschneidend finden. Das praktische Methodenrepertoire, so der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier, bleibt sich nämlich gleich, da es so oder so immer wieder um die Analyse von Kausalbeziehungen geht. Und wenn diese Analyse in grundsätzliche Schwierigkeiten führt, dann verschieben sich die Erkenntnisideale oder epistemischen Interessen. Statt
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Aneignung und Aufrüstung wird Verstehen und Wahrheit dann doch erkenntnisleitend. Carrier schreibt: „Die Wissenschaft ist mit einer Dynamik des Fragens konfrontiert, die vom Angewandten auf Grundlegendes führt. Aus methodologischen Gründen transzendiert anwendungsdominierte Forschung ihre praktischen Fragen und wächst sich zu epistemischer Forschung aus. Praktische Herausforderungen führen oft Grundlagenprobleme mit sich. Ihnen kann ohne Behandlung dieser Probleme nicht begegnet werden. Das Verstehen gehört nicht zu den expliziten Zielsetzungen anwendungsdominierter Wissenschaft, aber dann und wann produziert sie doch epistemisch bedeutsame Einsichten. Daraus folgt, dass das Anwendungsprimat die epistemische Würde der Wissenschaft nicht bedrohen muss. Theoretische Vereinheitlichung und Kausalanalyse gehören sowohl zur reinen als auch zur anwendungsdominierten Wissenschaft, denn diese methodologischen Tugenden befördern das Verstehen und den Eingriff gleichzeitig“ [1]. Mit diesen Worten erinnert Carrier an die historische Kontinuität von Wissenschaft, Ingenieurswissen und TechnoWissenschaft. Diese Kontinuität spiegelt sich auch in Institutionen, Lehrinhalten, Publikations- und Diskussionsformen. Ihr verdankt sich, dass die Ideale der Wissenschaftskultur durchaus lebendig bleiben, auch dort wo sich das Selbstverständnis der TechnoWissenschaft immer wahrnehmbarer behauptet. Literatur [1] Carrier M (2004) Knowledge Gain and Practical Use: Models in Pure and Applied Research.. In: Gillies D (Hrsg) Laws and Models in Science. King's College Publications, London [2] Feyerabend P (1999) Conquest of Abundance. Chicage University Press, Chicago [3] Galison P (1997) Material Culture, Theoretical Culture and Delocalization. In: Krige J, Pestre D (Hrsg.) Science in the Twentieth Century. Harwood Academic Publishers, Amsterdam [4] Haraway D (1997) Modest_Witness@Second_Millenium. Routledge, New York [5] Latour B (1987) Science in Action: How to follow scientists and engineers through society. Harvard University Press, Cambridge [6] Merton R (1973) The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations. Chicago University Press, Chicago [7] Nordmann A (2003) Shaping the World Atom by Atom: Eine nanowissenschaftliche WeltBildanalyse. In: Grunwald A (Hrsg) Technikgestaltung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Springer, Berlin. [8] Popper K (1969) Logik der Forschung. Mohr, Tübingen [9] Popper K (1975) Objective Knowledge. Clarendon Press, Oxford [10] Popper K (2002/03) Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Mohr, Tübingen [11] Schmidt J (2002) Wissenschaftsphilosophische Perspektiven der Bionik. Thema Forschung, TU Darmstadt 2/2002
Bionik und Interdisziplinarität Wege zu einer bionischen Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität Jan C. Schmidt Zentrum für Interdisziplinäre Technikforschung, TU Darmstadt
Abstract Research programs such as “Bionics” are labelled “interdisciplinary” in their core methodology. But what do these terms stand for? Hitherto, the umbrella term “Bionics“ as well as the catch word “interdisciplinarity” have not been semantically specified. This challenges the philosophy of science to clarify the various heterogeneous meanings of these terms. The following case study of “Bionics” may serve as a first blueprint of “interdisciplinarity”. Further more, it may also contribute to gaining an insight into the paradigm shift in our science system from “disciplinarity” (mode-I-science) towards “interdisciplinarity” (mode-II-science). The research program of “Bionics” provides an excellent example of “interdisciplinarity”, forging connections between various natural and engineering sciences. “Bionics” thus presents a framework for an elaborate understanding of “interdisciplinarity”: a circulation theory of interdisciplinarity. This theory seems to be deeply rooted in our cultural history. Today it comes to practise what is well known by our ancestors: the technological mimicry of nature. In this paper these implicit assumptions will be discussed critically.
1. Einführung „Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt.“ [1] Immanuel Kant warnte vor über 200 Jahren vor allzu viel Grenzüberschreitung und mithin vor Interdisziplinarität. Das hat sich seither verändert. Im „Niemandsland zwischen den verschiedenen anerkannten Disziplinen“ lokalisierte vor 40 Jahren der Kybernetiker N. Wiener „die fruchtbarsten Gebiete der Wissenschaft“ [2]. Heute ist die Rede von Inter- und Transdisziplinarität en vogue. Sie wird gefordert und zunehmend auch gefördert.
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Exemplarisch gilt dies etwa für die Bionik. Sie versteht sich als originär „interdisziplinär“. Biologen kooperieren mit Ingenieurwissenschaftlern, Mediziner mit Physikern, Biochemiker mit Informatikern. Es ist ein buntes und kreatives Treiben, jenseits des etabliert Disziplinären. Von „Zirkulationen“, von „Übersetzungen“ und „Übertragungen“ in den „Netzen der Wissenschaften“ spricht der französische Philosoph M. Serres: „Methoden, Modelle, Ergebnisse zirkulieren allenthalben darin, werden unablässig von überallher nach überallhin exportiert und importiert.“ [3] Das fordere, so Serres, die Philosophie heraus, sich selbst zu transformieren, nämlich in eine „Philosophie des Transports“, „des Schnittes, der Intervention, des Anzapfens“, in eine gestaltende Philosophie der Interdisziplinarität [4]. Doch soweit ist es noch lange nicht. Die Philosophie scheint skeptisch zu bleiben, wenn das Modewort „Interdisziplinarität“ auf den Plan tritt. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen der Bionik wird im Folgenden ein spezifisches wissenschaftsphilosophisches Verständnis von Interdisziplinarität vorgestellt, eine Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität. Es wird dargelegt, dass die Bionik für eine Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität ein Paradigma sowie einen Pulsgeber und Promotor darstellt. In einem historischen Rekurs werden einige Traditionslinien der Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität offengelegt, welche sich unter der klassischen These, Technik sei eine trickreiche Nachahmung von „Natur“ („Mimesis“, Nachahmungsthese) subsumieren lassen. Zukünftige Perspektiven der Bionik liegen in der Erkenntnis der „Produktivität“ von Instabilitäten in der Natur, deren Modellübertragung in die Ingenieurwissenschaften sowie deren gestaltende Verwendung in technischen Artefakten und Verfahren: nomologisch-strukturelle Isomorphien der Instabilitätstypen von biologischer Natur und Technik gehören zum bionischen Erkenntnis- und Gestaltungsfeld. In erkenntnistheoretischer Hinsicht findet sich in der Bionik eine Spielart eines Pragmatismus, eine vermittelnde Position zwischen Konstruktivismus und Realismus, nämlich ein konstruktivistischer Realismus bzw. ein realistischer Konstruktivismus: Erkennen, Wissen, Handeln und Gestalten rücken – wenn dies nicht schon längst erfolgt ist – noch näher zusammen.
2. Interdisziplinarität und Philosophie In den frühen 1970er Jahren wurde der Begriff „Interdisziplinarität“ vom OECD-Zentrum für Bildungsforschung und Innovation geprägt und in öffentliche, politische und wissenschaftliche Debatten eingeführt [5]. Ziel war es, auf die durch sukzessive Spezialisierung und Atomisierung der
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Wissenschaften erzeugte Divergenz zwischen gesellschaftlichen Problemlagen und wissenschaftlichen Problemlösungsfähigkeiten hinzuweisen und eine Re-Integration von fragmentierten disziplinären Wissenssektoren vorzunehmen. Der programmatische Begriff der „Interdisziplinarität“ weist sowohl eine kritisch-reflexive als auch eine funktional-pragmatische Seite auf [6]. In ihm treten unterschiedliche wissenschaftlich-gesellschaftliche Motivlagen (erkenntnisorientierte, ökonomische, soziale, ethische, anthropologische, u.a.) hervor. Trotz der sich ab den frühen 1970er Jahren anschließenden öffentlichen Konjunktur des Begriffs ist bislang wenig Einheitlichkeit darüber erzielt worden, was mit „Interdisziplinarität“ bezeichnet wird oder werden soll [7]. Fragwürdig bleibt insbesondere, ob die verschiedenen Verständnisweisen von „Interdisziplinarität“ einen gemeinsamen semantischen Kern besitzen und wie sie von ähnlichen Begriffen, beispielsweise von Trans-, Kreuz-, Multi-, Pluri- und Infradisziplinarität, abzugrenzen sind. Uneinigkeit herrscht ferner darüber, ob Interdisziplinarität der Disziplinarität entgegensteht, ob Disziplinarität nicht eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Interdisziplinarität darstellt oder ob Interdisziplinarität gerade ohne jeglichen Rekurs auf Disziplinarität zu fassen wäre. Zwei Zugangsweisen und Gegenstandsbereiche können zunächst unterschieden werden, nämlich die innerwissenschaftliche und die transwissenschaftliche Interdisziplinarität. Sie finden sich auch in der Bionik. Erstens zielen extensional engere Verständnisweisen von „Interdisziplinarität“ auf die innerwissenschaftlichen Schnittstellen und Übergänge unterschiedlicher Fachdisziplinen. Als kleine innerwissenschaftliche Interdisziplinarität werden Kooperationen von Biologen mit Physikern, Juristen mit Ökonomen, Chemikern mit Informatikern, Historikern mit Politikwissenschaftlern, ... bezeichnet („Mode-I-Interdisziplinarität“). Die große innerwissenschaftliche Interdisziplinarität ist jene, die eine Brücke zwischen den „Zwei Kulturen“ [8] herstellt. Kooperationen zwischen Natur- und Ingenieurwissenschaftlern mit Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern sind Kennzeichen dieser umfassenderen innerwissenschaftlichen Interdisziplinarität. Zweitens akzentuiert die transwissenschaftliche Verständnisweise von „Interdisziplinarität“ die Schnittstelle Wissenschaft und Gesellschaft, ihre jeweiligen Differenzen und Durchdringungen, sowie den Wissenstransfer. Mitunter ist auch von „Transdisziplinarität“ [9] oder von „Mode-II-Interdisziplinarität“ [10] die Rede. Interdisziplinarität zielt in dieser Akzentuierung auf wissenschaftliche Lösungen von gesellschaftlichen, partiell technisch (mit-) induzierten Problemlagen, welche sich nicht dem etablierten wissenschaftlich-disziplinären Kanon fügen. Unter Stichworten wie „Finalisierung“ und „post-paradigmatische Wissenschaft“ [11], „Mode-II-Scien-
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ce“ und „neue Formen der Wissensproduktion“ [12], „technoscience“ [13], „problemorientierte Forschung“ [14], „post-normal science“ [15], „integrative Forschung“ [16], „Problemorientierung ohne Methodenzwang“ [17] finden sich aktuelle transdisziplinäre Verständnisweisen von Interdisziplinarität. So mischen sich deskriptive, normative und partiell präskriptive Aspekte. „Interdisziplinarität“ stellt einerseits einen Reflexions- und Analysebegriff dar, andererseits aber auch einen Gestaltungs- und Leitbildbegriff. Vermischungen der Art mögen die Philosophie verunsichert haben. Sie nahm „Interdisziplinarität“ nur zurückhaltend auf. Das hat Hintergründe. Einerseits melden sich in der wissenschaftsphilosophischen Zurückhaltung Zweifel an, ob die heutige Redeweise von „Interdisziplinarität“ gerechtfertigt ist, d.h. ob sie jenseits eines neuen Begriffs überhaupt einen spezifischen semantischen Gehalt aufweist. Andererseits mag die Philosophie angesichts der facettenreichen wissenschaftlichen Praxis interdisziplinärer Forschung ein Stück weit überfordert sein. Das Phänomen der Interdisziplinarität scheint sich gegenüber der Wissenschaftsphilosophie, insbesondere der Wissenschaftstheorie zu sperren. Wenn derzeit noch nicht einmal eine hinreichend konsistente Wissenschaftstheorie der Physik oder der Biologie möglich zu sein scheint, wie nach der Popper-Kuhn-Kontroverse der 1960er Jahre deutlich wurde, dann mögen die Aussichten für eine Wissenschaftsphilosophie oder gar eine Wissenschaftstheorie der Interdisziplinarität nicht gut stehen. Die Zurückhaltung der Philosophie ist dennoch bemerkenswert, schließlich hat das thematische Umfeld eine tiefschichtige Traditionslinie. Als Begriff mag die „Interdisziplinarität“ der Philosophie fremd sein, als Phänomen ist sie es keineswegs. Die traditionellen philosophischen Zugänge zum Phänomen „Interdisziplinarität“ finden sich unter Stichworten wie „Einheit und Vielheit“, „Monismus und Pluralismus“, „Einheit der Wissenschaft“ („unity of science“), „Rationalität“, „Reduktion“ bzw. „Reduktionismus“. In diesen Zugängen wird Interdisziplinarität i.A. als temporäres einheitskonstitutives Element auf unterschiedlichen Ebenen (Methode, Rationalität, Wissen, Wirklichkeit) verstanden. Zentrales Kennzeichen von Interdisziplinarität liegt mithin in ihrer Funktion, nämlich die Herstellung oder gar die Zurückgewinnung einer Einheit aus der Vielheit der Disziplinen. Nur das Ganze war traditionell das Wahre. Einheitsstiftende synthetische Momente von Interdisziplinarität finden sich wissenschaftsphilosophisch aus systemtheoretischer [18], aus methodologisch-konstruktivistischer bzw. rationalistischer [19], aus strukturwissenschaftlicher [20], aus methodologisch-interpretationistischer [21] sowie aus erkenntnistheoretischer [22] Perspektive. So mag es nahe liegen, universelle „Interdisziplinen“ oder „Interdisziplinwissenschaften“ [23] zu etablieren.
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Demgegenüber stehen abgeschwächte Einheitspositionen. Sie rücken die „partielle wissenschaftliche Einheit am empirischen Gegenstand“ ins Zentrum [24] und wollen den „einzelnen Gegenstand als Ganzes“ zu fassen suchen [25], zu dem unterschiedliche Disziplinen gemeinsam einen Zugang finden können. Stehen diese Zugänge in der pragmatistischen bzw. kulturalistischen Traditionslinie, so schließen hier auch die Konzepte zu einer methodologischen Fundierung einer „rationalen Technikfolgenbeurteilung“ und einer „integrativen Wissenschaft“ an [26]. Ein derart lokalpartikulärer Gegenstandsmonismus ist kompatibel mit pluralistischen, jeweils disziplinären Methoden, Propositionen, Theorien. K. Mainzer hat ferner plurale Systematisierungen von Interdisziplinarität vorgenommen und „erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen der Inter- und Transdisziplinarität“ vor dem Hintergrund der Veränderungen im naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis (Theorien komplexer Systemen, Selbstorganisationstheorien, u.a.) reflektiert [27]. Ein an die wissenschaftsphilosophische Reflexionstradition anschließender Entwurf zur Unterscheidung zwischen methodologischen, epistemologischen, gegenständlichen („ontologischen“), rationalitäts- und bildungstheoretischen sowie anthropologischen Aspekten von Interdisziplinarität vor dem Hintergrund unterschiedlicher Motive (ethisch-gesellschaftsorientiert, ökonomisch-verwertungsorientiert, innerwissenschaftlich-erkenntnisorientiert) wurde jüngst entwickelt [28]. Somit weist die Wissenschafts- und Kulturphilosophie, in Aufnahme und Ergänzung zu traditionellen Erörterungen zu „Natur- und Kulturwissenschaften“, wie etwa bei H. Rickert, W. Dilthey und W. Windelband, vielfältige Zugänge zur Interdisziplinarität auf [29]. In all diesen Klärungsanstrengungen wurde jedoch ein statisches und, mit Einschränkungen, ein einheitliches Bild von Interdisziplinarität gezeichnet. Interdisziplinarität erschien als theoriefähig im engeren Sinne, sie sollte auf statische Invarianten reduziert werden. Das trifft sich jedoch kaum mit der interdisziplinären Praxis. Die Praxis scheint hochdynamisch und plural verfasst zu sein. Sie ist gekennzeichnet von Austausch-, Übertragungs- und Übersetzungsprozessen. Nicht Invarianten, sondern Multivarianten sind ihr Charakteristikum. Wissensfragmente (Propositionen, Methoden, Rationalitätstypen, Techniken) zirkulieren im Körper der Wissenschaften zwischen den Disziplinen. Es ist ein reges, buntes, kreatives Treiben. Ein ähnliches Wissenschaftsbild zeichnete schon der dadaistische Wissenschaftsphilosoph P. Feyerabend in den 1960er Jahren. Selbst die guten klassischen Disziplinen, etwa die Physik oder Biologie, sind wissenschaftstheoretisch nicht sauber zu fassen. Sie entziehen sich einem ahistorisch invarianten und generalisierenden Zugang. „Die Wissenschaften
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haben keine ‚Struktur‘ in dem Sinn, daß es Elemente gibt, die in allen wissenschaftlichen Vorgängen [notwendig] auftreten [...] und [die] verschieden [sind ...] von anderen Bereichen, wie etwa der Kunst, der Metaphysik, der Religion. [...] Eine Wissenschaftstheorie [...] ist also nicht möglich.“ [30]. Feyerabends Plädoyer gegen den wissenschaftsphilosophisch attribuierten „Methodenzwang“ richtete sich damals noch primär auf die Wissenschaftsphilosophie der Physik. Er stieß trotz seiner Kritik an der wissenschaftsphilosophischen Mumi- und Mystifizierung der Physik (als Propositionensystem) nicht zur Interdisziplinarität vor. Das wäre indes ein kleiner Schritt gewesen: Was für die Disziplinen gilt, gilt für interdisziplinäre Forschungsprojekte allemal. „Zahlreiche Maßstäbe [...] müssen verletzt werden, wenn wir [neue wissenschaftliche] Ergebnisse erhalten wollen.“ [31] Für ein Verständnis von Interdisziplinarität ist Feyerabends dadaistische Wissenschaftsphilosophie weitgehend unentdeckt. Sie ist hilfreich in ihrer Kritik an einem allzu engen, rein wissenschaftstheoretischen und nicht an die wissenschaftlichen Handlungspraxen rückgebundenen Zugang. Hinreichend allerdings ist sie freilich nicht. Anders und weitergehend als Feyerabend startet der französische Philosoph M. Serres von einem Dazwischen, und nicht von der Disziplinarität. Serres zielt darauf ab, Interdisziplinarität jenseits der disziplinären Pole zu denken. Einen festen Ort und archimedischen Punkt auf der Landkarte der Disziplinen könne es nicht geben. Der Ort, um Interdisziplinarität greifbar zu machen, ist selbst die Ortlosigkeit eines fließenden Dazwischen. Fassbar wird Interdisziplinarität nur als Dynamik in der Zeit, als Zirkulation im Zwischen, als Medium der Mitten. „Interdisziplinarität“ würde zerrinnen, falls die disziplinären Pole dominierten. Die Unbestimmbarkeit [32] jenseits der bestimmenden Pole liegt in ihrem Charakter-Kern. Programmatisch fordert Serres einen Neustart von Wissenschaftsphilosophie als eine auf interdisziplinäre Zirkulationsprozesse ausgerichtete „Philosophie des Transports“ [33]. In ihrem Zentrum liegt die „Übersetzung“ bzw. „Traduktion“. „Diese Philosophie spricht von den Wissenschaften, aber sie verhält sich nicht stumm zu der Welt, die [...] ihre Begründung in diesen Wissenschaften findet. Die Philosophie greift selbst in die Netze und Knoten der Zirkulation ein.“ [34] Jede Analyse von Interdisziplinarität impliziert eine Aktivität, jedes Begreifen ein Greifen, jede Fassung eine Gestaltung von Interdisziplinarität: eine Begriffsklärung stellt ein normativ geleitetes und an Zwecken ausgerichtetes Instrumentarium bereit. Genau hier liegt eine philosophische Aufgabe in der Welt. Die Wissenschaftsphilosophie ist politisch, insofern sie Begriffs-, Gegenstandskonstitutions- und Übersetzungspolitik betreibt. Die philosophische Aufgabe scheint Folge einer veränderten Lage, eines epochalen Bruchs im Wissenschaftsverständnis zu sein. Deren Kennzei-
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chen ist die Entgrenzung des Disziplinären und die Ausweiterung der Interdisziplinarität [35]. „Zirkulationen“ in den „Netzen“ der Wissenschaften, „Übersetzungen, Wörterbücher, Importe und Übertragungen“, das sind die Stichworte Serres‘; ein „Kontinuum [...] von Bewegungen und Austauschprozessen [zeigt sich ...]. Methoden, Modelle, Ergebnisse zirkulieren allenthalben [im Wissenschaftskörper], werden unablässig von überallher nach überallhin exportiert und importiert.“ [36] Die aus den Wirtschaftswissenschaften bekannten Begriffe wie „Import“ und „Export“ sind nicht nur metaphorisch zu verstehen. Sie sollen andeuten, dass sich eine beschleunigte Ökonomisierung der Wissenschaften im Gewand der Interdisziplinarität vollzieht. Dass wissenschaftliches Wissen in Zeiten des Kapitalismus ein erwerbbares Mittel darstellt, ein machtförmiges Medium und eine eintauschbare Methode, scheint der Wissens- und Informationsgesellschaft zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, wenn es sie je gegeben hat, löst sich spätestens im Horizont der heutigen Interdisziplinarität auf. Interdisziplinarität ist zum Synonym für Innovation geworden. Das ist gewiss die funktionale, nicht die kritisch-reflexive Seite der Interdisziplinarität [37]. Nicht nur die Ökonomie steht Pate für die von Serres‘ akzentuierten Begriffe. „Zirkulation“, „Diffusion“, „Turbulenz“ sind der Biologie, Medizin, Physik und Strömungsmechanik entlehnt: „Interdisziplinarität“ selbst wird mit interdisziplinären Begriffen beschrieben. Nun ist aus der Physik und Strömungsmechanik bekannt, dass Zirkulations- und Turbulenzphänomene nur bedingt steuerbar sind, – das gilt wohl auch für die interdisziplinären Wissensproduktionen. Eine intentionale Kontrolle wird erschwert. Chaos, Instabilitäten und Sensitivitäten können auftreten. Wissens-, Handlungs- und Steuerungsgrenzen zeigen sich. Zirkulationen und Turbulenzen sind uns weitgehend entzogen, nur Rahmen- und Randbedingungen können gesetzt werden. Interdisziplinarität ist einer zielgerichteten globalen Gestaltung nur bedingt zugänglich: Sie mehrt mithin nicht nur unsere Wissens-Macht, sondern zugleich auch unsere Gestaltungs-Ohnmacht und unser Nichtwissen. Die Begriffe „Zirkulation“, „Diffusion“ und „Turbulenz“ sind mediale Begriffe, die jenseits dualer Pole zu denken sind. Mit der heutigen Interdisziplinarität ist die Wissenschaftslandschaft wohl medial, gegenstandsenthoben und disziplinentgrenzt geworden. Interdisziplinäre Wissenschaften sind, so Serres, nur noch durch eine „pluralistische Epistemologie“ zu beschreiben, die der materialen Unbestimmtheit und Entgrenzung Rechnung trägt. Dabei solle die Epistemologie sich nicht als solche auflösen und verschwinden, sondern „ihre Einheit [... in] einer Vielzahl von Perspektiven“ finden [38]: darin liegt gewiss eine herausfordernde wissenschaftsphilosophische Klärungsaufgabe. Die pluralistische Epistemologie
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wird zu einer „vergleichenden Epistemologie“, ganz so wie etwa die vergleichende Literaturwissenschaft, die vergleichende Anthropologie oder Ethnologie: Interdisziplinarität und Interkulturalität sind Zwillingsschwestern; Disziplinen haben ihre je eigene „Kultur“. Der Vergleich, die Perspektivität und Relationalität nehmen die (entstandene Leer-) Stelle der verankernden methodologischen Referenz klassischer Wissenschaftstheorien ein. Die vergleichende Epistemologie ist nicht hierarchisch-analytisch aufbaubar; sie ist nicht kanonisch als einheitliche Theorie zu fassen; sie muss wohl, jeweils neu, schwebend Halt gewinnen in speziellen Kontexten: nicht in universeller Geltungs-, sondern in situativ-pragmatischer Gestaltungsausweisung im Horizont der jeweiligen Praxen. So erhalten wissenschaftsphilosophische Positionen wie Pragmatismus, methodologischer Konstruktivismus bzw. Kulturalismus eine ungeahnt konkrete Argumentationshilfe. Ein möglicher Hintergrund für die Notwendigkeit einer vergleichenden Epistemologie liegt, so Serres, in der „Auflösung der Reduktionismusproblematik“: Die Physik bilde nicht mehr länger die universelle Reduktionsbasis. Die Auflösung stelle neue Aufgaben an die innere Architektur der Wissenschaftsphilosophie [39]. Mit dem Reduktionismus scheint auch die Epistemologie im Sinne der Wissenschaftstheorie als Theorieform zu verschwinden, was ja schon P. Feyerabend hervorhob. Die vergleichende Epistemologie untersuche, verfolge und moderiere den „Transport und die Zirkulation des Wissens“ jenseits der Disziplinen, jenseits der Reduktion des Wissens bzw. der Methoden auf einige wenige Disziplinen; sie analysiere vergleichend die Schnittstellen und Knotenpunkte von Wechselbeziehungen [40]. Sie moderiere das Unbestimmbare, das Dazwischen in den Netzen. Nicht eine vermeintlich zeitlose Klassifikation und starre Typisierung trifft den Kern der Interdisziplinarität. Vielmehr kann Interdisziplinarität, ganz im Sinne Feyerabends, als „dadaistisch“ bezeichnet werden: „Die Aufteilung hat weniger Bedeutung als die Zirkulation auf den Wegen oder Fasern.“ [41] Doch eine pluralistische Epistemologie ist bislang kaum ausgearbeitet. Das Potenzial der französischen kultur- und wissenschaftsphilosophischen Diskussion um Spielarten des (Neo-) Strukturalismus, wie er von Serres vertreten wird, ist für ein analytisch-kritisch und kontextspezifisch geprägtes zirkulationstheoretisches Verständnis von Interdisziplinarität noch unausgeschöpft. Die Bionik könnte als ein Prototyp, Pulsgeber und Promotor zu einer Zirkulationstheorie angesehen werden. Dazu im Folgenden einige Hinweise.
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3. Horizontale Zirkulationen in der Bionik – wissenschaftstheoretische Aspekte Zirkulationen können als ein Aneinanderfügen bipolarer Diffusionsprozesse verstanden werden, welche aus vielfältigen „Modellübertragungen“ [42] und „Übersetzungen“ [43] bestehen. Nun verliert man durch den Begriff der „Modellübertragung“ zunächst die netzartigen Rückkopplungen, symmetrischen Diffusionen und dynamisch-interdependenten Schleifen der verschlungenen Wissenschaftslandschaft aus dem Blick, mithin den medialen Charakter von Interdisziplinarität. Doch Modellübertragungen bilden einen ersten Ausgangspunkt für eine zirkulationstheoretische Fassung von Interdisziplinarität. Sie sind schwache, aber prägnante Formen von Zirkulationen. In der Bionik gehören die Modellübertragungen zum methodischen Kern. Schon der Name „Bionik“ weist auf Übertragungen hin. Als Hybridbegriff trägt „Bionik“ sowohl die Biologie als auch die Technik in sich. Allerdings ist nicht die vollständige Disziplin der Biologie in der Bionik präsent, sondern nur Teile, nämlich diejenigen, die in technische Anwendungen hinein zirkulieren können. Gleiches gilt für die Technikwissenschaften. Nur solche Technikwissenschaften sind relevant, die der Biologie die Tür zu öffnen vermögen. Somit wird auch die Bionik nicht von den dualen Polen, hier Biologie, dort Technikwissenschaften betrieben. Sie startet vielmehr von einer ortslosen Mitte aus, – auch wenn die Sozialisationen der beteiligten Wissenschaftler zunächst disziplinär bleiben mögen. So findet keine Modellübertragung im Sinne einer monokausalen Übergabe statt, sondern eine bipolare Diffusion und Zirkulation zwischen den Polen. Nicht alles vermag zu zirkulieren. Nur passend generierte und sorgsam ausgewählte Wissensfragmente (Propositionen, Modelle, Methoden, aber auch Handlungen, Normen, Metaphysiken) diffundieren zwischen den und jenseits der Disziplinen. Weder die Sprache der Biologie alleine noch die der Technikwissenschaften ist hinreichend. Eine intermediäre Sprache wird notwendig, eine Übersetzungssprache. Die Bionik muss wohl, wenn sie erfolgreich sein will, zunächst eine sprachbasierte Übersetzungsmethodologie mit bereitstellen. Dolmetscher sind darin geschult. Bionisches Dolmetschen wird derzeit in Forschung und Lehre eingeübt. Nicht alleine die Kenntnis der formalen syntaktischen Struktur der Sprachen, hier Biologie, dort Ingenieurwissenschaften, ist für das Dolmetschen hinreichend. Vielmehr sind es die semantischen, semiotischen, pragmatischen Aspekte, die für eine gelingende Übersetzung konstitutiv sind. Es ist kein einseitiger, sondern ein dualer, symmetrischer Prozess. Er lässt die zwei Spra-
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chen, die beiden disziplinären Pole von Biologie und Technikwissenschaften, nicht unberührt. Die Bionik ist folglich keine Naturwissenschaft, eher ein Hybrid aus Natur- und Ingenieurwissenschaften, ein Prototyp einer technoscience [44]. Sie verfolgt Zwecke, entwickelt Mittel, zielt auf Anwendungen: Zwecke und Mittel zirkulieren ebenso wie Erkenntnis- und Gestaltungsabsichten. Bionische Zirkulationen versprechen Interventionen und Innovationen – und sie rekurrieren metaphorisch auf eine (scheinbar unvermittelt) zugängliche und als solche gegebene „Natur“: eine neue, effizientere Technik, ein „Lernen von der Natur“ [45], ein „Erfinden mit der Natur“ [46]. Die Prophezeiungen lassen aufhorchen: „Natur als Vorbild“ [47], Technik als Abbild; Natur als „Erfinderin“ [48], „natürliche Konstruktionen“ [49], Nutzung und Verwertung der „Patente der Natur“ [50]. Die „Problemlösungsfähigkeiten der Natur“ und ihre „Optimierungstendenzen“ [51] bieten ein „einzigartiges Potenzial für technische Innovationen“, für kreative Erfindungen technischer Produkte. „In der belebten Natur“ finde eine „technische Perfektion“ statt, wie sie im kulturellen Kontext jeden Vergleichs entbehre. Bionik wurde vielfach als „eine Wissenschaft zur Planung und Konstruktion von technischen Systemen [bestimmt], deren Funktionen solche der biologischen Systeme nachahmen.“ [52] Das Motiv des Nachahmens hat seit jeher Zirkulationen gefördert. Allerdings mag „Nachahmung“ irrtümlicherweise eine einseitige Modellübertragung nahezulegen, welche sich gar ohne die Biologie zu realisieren scheine: Schaue in die „Natur“ und übertrage die Erkenntnisse in die Technik. Von dieser monokausalen Einseitigkeit kann allerdings keine Rede sein, ebenso wenig dass „Natur“ als Natur unvermittelt zugänglich ist. Was ist unter „Modellbildung“ und „Modellübertragung“ zu verstehen? Ob disziplinär oder interdisziplinär, jede Wissenschaft lebt, arbeitet, erkennt und erklärt in Modellen. Jeder Modellbildung liegt eine Ähnlichkeitsbeziehung (Relation) zugrunde. X ist Modell von Y genau dann, wenn X und Y ähnlich sind. Dabei wäre freilich zu spezifizieren, worin die Ähnlichkeit besteht, d.h. was notwendige und hinreichende Kriterien dafür sind. Die Kriterien bleiben zweckbezogen, kontextspezifisch und gegenstandsabhängig. Die Traditionslinie des Pragmatismus hat den Zweckbezug vielfach treffend herausgestellt, – und die Modellbildung als herstellende kognitive Handlung gedeutet. Irrtümlicherweise könnte die hergestellte Ähnlichkeitsbeziehung in formaler Hinsicht auch transitiv verstanden werden: Genau dann, wenn X Modell von Y ist, ist Y auch Modell von X. Das ist insofern unüblich, als i.A. zwischen Modell einerseits und Modellierungsgegenstand, Objektwelt und System andererseits zu unterscheiden ist: Ein Modell X gilt als eigenschaftsärmer als der Modellierungsgegenstand Y. X stellt jeweils nur Aspekte von Y dar, und nicht
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Y in seiner Gesamtheit. Insofern spricht man von einer „Reduktion von Komplexität“ von Y, um zu X zu gelangen, von einer Vereinfachung und Spezifikation. Im Prozess der Modellbildung (als kognitive Handlung der Modellkonstruktion) sind mithin zweckbezogene Entscheidungen darüber zu treffen, welche Eigenschaften von Y derart relevant sind, dass sie auch in X vorliegen sollen. Mit dieser pragmatistischen Verständnisweise von „Modell“ ist eine doppelte Kritik an traditionellen Modellbegriffen verbunden. Sie richtet sich gegen stark-realistische und stark-konstruktivistische Verständnisweisen. Aus stark-realistischer Perspektive stellt ein Modell eine korrespondenztheoretisch zu fassende Repräsentation bzw. ein Abbild eines Originals dar (Abbildtheorie, objektivistischer Anspruch). Diese Perspektive übersieht nicht nur die Zweck- und Kontextgebundenheit von Modellen. Vielmehr wird vorausgesetzt, das Original sei als solches ein schlicht unbezüglich Gegebenes. Davon kann jedoch, wie vielfältige Spielarten der Erkenntnistheorie zeigen, keine Rede sein. Die stark-konstruktivistische Verständnisweise zielt hingegen auf eine immanente Deutung des Modells, ohne Bezug zu nehmen auf eine äußere Umwelt oder einen gegebenen Gegenstand (Konstruktionstheorie von Erkenntnis, subjektivistischer Zugang). Übersehen wird, dass mit dem Modellverständnis ein Relationsbegriff verbunden ist, der ein Ähnlichkeitsverhältnis impliziert. Eine äußere Referenz wird notwendig: damit ist zwar nicht ein Realismus impliziert, aber doch die faktische Existenz eines Äußeren als Widerständiges, welches nicht beliebig konstruiert werden kann. Vermittelnde Weiterentwicklungen finden sich in der hier bevorzugten (neo-) pragmatischen Modelltheorie [53]. Diese verwirft zwar den objektivistischen Anspruch traditioneller Spielarten der Abbildtheorien. Jedoch werden die Modelle nicht als reine unbezügliche Geisteskonstruktionen dargestellt, sondern als Modelle von bzw. über Systeme(n). Es bleibt eine Referenz zu einem Äußeren erhalten. Das gilt auch dann, wenn die Systeme abermals als Modelle von etwas anderem interpretiert werden (können), und somit ein Zirkel entsteht, in dem Modelle und Systeme ihrerseits zu zirkulieren beginnen. Es bleibt zwar kein dogmatischer, wohl aber pragmatischer Abbruch. So reduziert sich sowohl der Repräsentationsanspruch des Realismus als auch der Konstruktionsanspruch des Konstruktivismus. Der pragmatische Modellbegriff weist folglich auf ein Defizit der traditionellen Erkenntnistheorie hin, nämlich der mangelnden Vermittlung zwischen Realismus und Konstruktivismus. H. Putnam hat dies zum Anlass genommen, eine wegweisende vermittelnde Position auszuarbeiten, die auf Spielarten des Pragmatismus aufsetzt und sich vom metaphysischen Realismus mit seinem stark-realistischen Modellverständnis abgrenzt: der „interne Realismus“ [54]. Nach dem internen Realismus ist wissenschaftliche
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Wahrheit so etwas wie rationale Akzeptierbarkeit und Kohärenz im Rahmen empirisch erfolgreicher Be-griffs-, Propositions- und Theoriensysteme. Ob diese Vermittlung gelungen ist, ist umstritten. Und ob sie die handelnde und gestaltende Seite von Erkenntnisprozessen, die methodologischen Konstitutionen und Konstruktionen sowie die kulturellen Hintergründe adäquat zu berücksichtigen vermag, wäre – auch unter Bezugnahme auf den Pragmatismus eines Ch. S. Peirce, W. James oder C.I. Lewis – zu hinterfragen. Einige Beispiele sollen den pragmatischen Zugang zum Modellbegriff verdeutlichen [55]. Zwei verkleinerte, ineinander verdrehte Leitern können als ein mögliches gegenständliches (phänomenales, ikonisches) Modell der DNA gedeutet werden. Ein Flugzeugflügel gilt als funktionales Modell eines Vogelflügels. Das Bohrsche Atommodell war um 1913 ein nomologisch-mathematisches Modell eines Atoms. Nach realistischen Positionen ist der Modellierungsgegenstand Y (DNA, Vogelflügel, Atom) hinreichend objektiv gegeben, nach dem Konstruktivismus ist dieser eine kognitive Konstruktion. Die pragmatische Modelltheorie sieht selbst in dem Modellierungsgegenstand Y ein System, das seinerseits nur als Modell zugänglich ist. Doch sie stellt heraus, dass das Modell X keineswegs mit dem (gegebenen oder konstruierten) Modellierungsgegenstand Y zu verwechseln ist: X ist eigenschaftsärmer als Y. Daraus ergeben sich auch interpretatorische Grenzen: Nur weil sich etwa Aspekte, Eigenschaften, Merkmale des Gehirns durch die mathematische Struktur von Künstlichen Neuronalen Netzen beschreiben lassen, ist das Gehirn kein Künstliches Neuronales Netz. In dieser Enthaltsamkeit liegt der pragmatistische Zug, welcher freilich nicht immer durchgehalten wird. Und das, obwohl schon I. Kant davor warnte, die Erscheinungen der Welt nicht für das metaphysisch-ontologische Substrat als solches anzusehen. Die Welt an sich ist uns entzogen. Vielmehr sind nur Phänomene zugänglich und Modelle konstruierbar. Modelle verweisen demnach auf grundlegendere Systeme, welche ihrerseits Modelle sind, und dies ad infinitum. Modell- und Systembegriff sind nicht zu trennen, sie fallen aber dennoch nicht zusammen und sind nur pragmatisch auflösbar. In den Ingenieur- und Technikwissenschaften, und auch in der Bionik, spielt eine weitere Facette des Modellbegriffs eine Rolle. Gegenstände werden nicht nur repräsentiert (Traditionslinie des Realismus), konstruiert (Traditionslinie des Konstruktivismus) oder vermittelnd als Systeme kognitiv konstituiert (Traditionslinien des Pragmatismus), sie werden auch handelnd in Raum und Zeit faktisch geschaffen. Das handelnde Herstellen führt aus der kognitiv erkenntnistheoretischen Engführung heraus. Methodologische, handlungstheoretische und kulturalistische Aspekte werden bedeutsam, wie es der methodologische Kulturalismus herausgestellt hat
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[56]. Damit wird die traditionelle Dichotomie Realismus-Konstruktivismus aufgebrochen und in eine Spielart eines (gestaltenden) Pragmatismus gewendet: Ein konstruktiver Realismus bzw. ein realistischer Konstruktivismus, wie man diese modifizierte Position vielleicht nennen könnte, liegt der Bionik wie auch den Ingenieur- und Technikwissenschaften zugrunde. Dieser umfasst nicht nur das theoretische Erkenntnishandeln, sondern auch das faktische Gestaltungshandeln, mithin die Praxen des menschlichen Handelns in der Welt. Das Modell wird zum praktisch konstruktiven Vor-Bild. So ist es gerade nicht ein Ab-Bild von gegebener Wirklichkeit oder ein rein kognitiv konstruiertes Bild ohne jede äußere Wirklichkeit, sondern Dreh- und Angelpunkt von zukünftiger, von vorweggenommener Wirklichkeit. Der (noch nicht vorliegende) Modellierungsgegenstand Y wird unter Maßgabe des Vor-Bildes, des Modells X, in einem handelnd-konstruktiven Herstellungsakt erschaffen. Beispielsweise ist ein computergestützt berechnetes und aerodynamisch erprobtes Modell X Vor-Bild für eine PKW-Karosserie. In diesem Sinne dient das Modell X als Blaupause mit dem Ziel, einen neuen realen Gegenstand Y zu konstruieren. Auch hier ist zwischen X und Y zu unterscheiden, insofern in X jeweils nur Aspekte, Eigenschaften, Merkmale des zu konstruierenden Gegenstandes Y zusammengefasst sind. In X sind beispielsweise nur aerodynamische Eigenschaften von Y präsent. Für andere Aspekte von Y werden andere Modelle Xi, i = 1, 2, .... , als Vor-Bilder benötigt. Die Funktion von Modellen liegt also in ihrem (Vor- bzw. Ab-) Bildcharakter. Sie können sowohl Vor-Bilder als auch Ab-Bilder sein. Aus pragmatistischer Perspektive des konstruktiven Realismus sind sie beides zugleich. (a) Selbst ein repräsentationsorientiertes Modellverständnis weist konstruktive Züge auf. Jedes Ab-Bild von etwas kann als Vor-Bild für etwas (anderes) verwendet werden. Dies entscheidet sich zweckbezogen im pragmatischen Kontext. (b) Andererseits ist das praktisch-konstruktionsorientierte Modellverständnis, etwa der Ingenieurwissenschaften, auf ein Maß an repräsentativem Wissen angewiesen: Jedes Vor-Bild basiert auf Ab-Bildern. Die Natur lässt sich in diesem Sinne auch technisch nicht überlisten. Ein Ingenieur muss um die Gesetze der Physik, der Chemie und Biologie wissen. – Doch bei diesen zirkulierenden Vor- und Ab-Bildern ist Vorsicht angebracht, um nicht jegliche Differenzierungen zu verlieren. Durch die intrinsische symmetrische Zirkulation von Vor- und Ab-Bildern werden nicht selten metaphysische Desiderate und Interpretationsmuster mitübertragen. Auch und gerade die Metaphysik zirkuliert, wie etwa in der Übertragung von Spielarten biologischer Evolutionstheorien auf soziale Prozesse (bspw. Soziobio-
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logie). Einen Metaphysikfilter und Metaphysikschutz scheint es nicht geben zu können, wohl aber eine Explikation des Impliziten: Was sind die Zwecke, Ziele, Motive der Übertragungen? Was an X ist Ab-Bild und was an X ist Vor-Bild? Weshalb dient etwas als Vor-Bild, etwas anderes als Ab-Bild? Nach welchen Kriterien können die Übertragungen als „gerechtfertigt“ ausgewiesen werden? Wie weit lässt die Bildhaftigkeit rationale Bestimmungen zu? Es ist die Polarität und Symmetrie von Ab- und Vor-Bildern, die auch im Modellübertragungsbegriff auftritt. Eine Modellübertragung ist eine besondere Art und Weise der Modellbildung, nämlich im Sinne eines Modells eines Modells. Das mag zunächst paradox klingen, doch weist es treffend die Modellübertragung als eine Modellbildung zweiter Stufe aus. Eine bionische Modellübertragung überführt zweckbezogen spezielle Merkmale von Modell X1 zu Modell X2, allerdings unter Zielmaßgabe des zu konstruierenden Artefakts oder Verfahrens Y2: X2 ist ein Modell durch (!) und von Modell X1 (und Ab-Bild) und X2 ist gleichzeitig Vor-Bild (und damit auch Ab-Bild) von Y2. Damit ergeben sich an X2 doppelte Anforderungen seitens X1 und Y2, wobei Y2 zunächst nicht real, sondern nur potenziell, als mögliches Konstrukt vorliegt. In dieser Modellbildung zweiter Stufe gehören Erkenntnis- und Gestaltungsprozesse zusammen, mit Einwirkungen auf jene der ersten Stufe: Natur wird unter Aspekten von „Optimierung“ und „Selbstoptimierung“, d.h. aus technischer Perspektive wahrgenommen; technische Artefakte und Verfahren entstehen reflexiv und zirkulär über eine bereits technisch gedeutete „Natur“. Insofern ist die Modellübertragung keine Einbahnstraße, in welcher Wissen linear-kausal von der Biologie auf die Technik übertragen wird. Der Begriff der „Zirkulation“ nimmt genau dies auf und stellt die Symmetrie heraus: Eine Modellübertragung belässt die beiden Pole nicht dort, wo sie sind, sondern wirkt symmetrisch zurück. In der Bionik wird die Biologie technischer und die Technik wird biologischer. Grenzen lösen sich auf. Die Bionik ist ein symmetrischer Zirkulationskatalysator des Dazwischen, jenseits der Disziplinen. Damit erscheint die Bionik als Prototyp einer technoscience, die in ihrer interdisziplinären Hybridisierung Erkenntnis- und Gestaltungsaspekte verschwimmen lässt. In ihrem (pragmatistisch ausgerichteten) konstruktiven Realismus bzw. realistischen Konstruktivismus hat die Bionik also keinen direkten, unvermittelten, wertfreien Zugang zur Natur. Vielmehr wählt die Bionik einen technikvermittelten und technikinduzierten Zugang zur Natur, um vom technisch verstandenen Leben zur lebensoptimierten Technik überzugehen: Nicht vom Leben zur Technik, sondern von der Technik zum Leben, um dann vom segmentierten und reduzierten „Leben“ zurück zu gehen zur Technik. Keineswegs ist die Bionik also eine Transferwissenschaft, die die
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Natur in technischen Artefakten nachahmt, ohne selbst Natur aus bestimmter, eben aus technisch-konstruktiver Perspektive zu erkennen. In der Modellbildung erster und zweiter Stufe zirkulieren Informationen durch den bionischen Wissenschaftskörper. Nun kann zwischen Typen der horizontalen Zirkulation unterschieden werden. Sie nehmen Bezug auf ein statisches, ein kinematisches sowie ein dynamisch-evolutionäres Naturverständnis [57]: die Konstruktionszirkulation der Konstruktionsbionik, die Funktionszirkulation der Verfahrensund Funktionsbionik sowie die nomologische Zirkulation der Prozess-, Informations- und Chaosbionik (s.u.). Zwar beschleunigen und vervielfachen sich heutzutage zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Konstruktions-, Funktions- und nomologischen Zirkulationen. Die Zirkulationsthese indes hat jedoch eine lange Traditionslinie. Sie begann wohl im Horizont der Spielarten der traditionsreichen Nachahmungsthese: Technik sei Nachahmung von Natur. Traditionell meint auch „Nachahmung“ keine monokausale Einbahnstraße, sondern ist facettenreicher. Schon in der Nachahmungsthese treffen sich Vor- und Ab-Bilder, Repräsentation und Konstruktion, Erkennen und Eingreifen, Wissen und Handeln.
4. Traditionslinien der Zirkulationstheorie – das Beispiel der Nachahmungsthese Eine erste Skizze zu einer Zirkulationstheorie vermittelt Aristoteles in seiner wirkungsgeschichtlich prägenden Fassung der Nachahmungsthese. „Technik vollendet teils das, was die Natur nicht erreicht, teils ahmt sie sie nach.“ [58] Nachahmung meint bei Aristoteles jedoch nicht ein Nachmachen, eine Reproduktion von Natur. Technik gilt für Aristoteles als Nachahmung, insofern Handwerker und Techniker so verfahren wie Natur, nämlich zweckmäßig. Die Mimesis, die Nachahmung, setzt ein Verständnis von Natur voraus, in dem Zwecke und Ziele eine zentrale Rolle spielen. Natur und technisches Handeln ähneln einander, weil beide zweckorientiert handeln. Insofern liegt eine Analogie vor auf der Ebene der Handlungen (Handlungsnachahmungsthese). Jedoch, auch wenn Technik so zweckmäßig verfährt wie Natur, sind Natur und Technik bei Aristoteles doch grundverschieden. Natur ist durch sich selbst bestimmt; Technik hat das Prinzip der Bewegung vom Menschen her. Technik opponiert gegen Natur, trickst sie aus, überlistet sie. Im Übergang zur Moderne hat Leonardo da Vinci einen anderen Nachahmungstyp von Natur durch Technik herausgehoben, auf den Bioniker vielfach Bezug nehmen. Technik ahmt Natur nach, insofern Technik die
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Konstruktionen der Natur nachbildet, nachmacht, kopiert. Leonardos Flugmaschine wurde am Vorbild der Vögel phänotypisch konstruiert; seine bionische Methode war eine detaillierte, in diesem Fall jedoch erfolglose Nachbildung. Die heutige bionische Konstruktionsnachahmung (und Konstruktionszirkulation) nimmt nicht allein Bezug auf äußere Konstruktionen, Strukturen, Formen, Gestalten der Natur, sondern auch auf Materialen und Werkstoffe. Während in der klassischen bionischen Konstruktionsnachahmung beispielsweise natürliche Grashalme und Wabenkammern von Bienen als Hinweis für Bauteiloptimierungen in technischen Konstruktionen herangezogen wurden, verwendet die aktuelle Konstruktionsbionik zudem Natur als Vorbild für Materialien und Werkstoffe, wie beispielsweise Spinnenfäden als Vorbild für stabile, elastische, reißfeste Leinen und Taue (Materialbionik). Ferner waren die Physikotheologen im 18. Jahrhundert von der Zweckmäßigkeit, der Ordnung und der Vernunft „der“ Natur überzeugt. Aus der Natur heraus versuchten sie auf einen Schöpfer, einen vernünftigen göttlichen Ingenieur als Urheber der Kosmos zu schließen, – in Anlehnung an platonistische Traditionslinien. Auch Technik, Handwerk, Kunst habe sich an dessen Naturkonstruktionen zu orientieren. „Die Natur ist die ursprüngliche Werkstätte aller Künste; eine unendliche Rüstkammer der künstlichen Maschinen, die alles, was die Menschen erfunden haben, weit übertreffen“, so J.G. Sulzer [59]. Versteht man Technik in diesem Sinne, wird Technik nicht alleine durch Handlungs- und Konstruktionsnachahmung bestimmbar, sondern auch als Darstellung und Nachahmung der Vernunft via Natur, als Vernunftnachahmung. Je vollkommener die technische Nachbildung von Natur gelingt, desto mehr göttliche Vernunft wird in der Technik offenbar. Natur wurde dabei i.A. mechanistisch gedacht; so sollte sich in den raffinierten Automaten des 18. Jahrhunderts als Nachbildung von Natur, von Tieren, vom menschlichen Körper, vom Kosmos die Vernunft des Ganzen zeigen. Die Maschine diente schließlich auch als Modell zur Beschreibung und schließlich zur Deutung alles Lebendigen. Einer der ersten Technikphilosophen, E. Kapp, hat im 19. Jahrhundert einen weiteren Typ der Nachahmungsthese vertreten, der von Bionikern implizit aufgegriffen wird. Technik ist eine Form der Organprojektion und damit Teil der Natur des Menschen [60]. Der Mensch projiziert das, was er in sich vorfindet bzw. vorzufinden glaubt, nach außen. Er wendet sein Inneres in Äußeres, in Technik. Die Axt ist eine Erweiterung des natürlichen Arms, die Konstruktion von Brückenträgern ähnelt der Lamellenführung im natürlichen Oberschenkelknochen. Technik in Kapps Verständnis basiert auf Organnachahmung und Organzirkulationen, wie sie die heutige Bionik betreibt. Kapp naturalisiert alle Technik unter Rekurs auf die menschliche Natur, die ihrerseits gerade durch ihr Natursein bestimmt ist.
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In der Anthropologie von A. Gehlen findet sich eine ähnliche, jedoch radikalisierte Auffassung. Dieser versteht unter Technik nicht Organnachahmung, sondern „Organersatz, Organentlastung [... und] Organüberbietung“ [61]. Technikentwicklung bleibt zwar fortgesetzte Organentwicklung, jedoch mit anderen, mit nichtorganischen Mitteln. So könne gute Technik wesentliche Teile der (Multi-) Funktionalität des Organischen übernehmen, das Organ in seiner Funktionsweise ersetzen, wie ein Herzschrittmacher die Impulsgebung des natürlichen AV-Knotens im Herzen ersetzen kann. Diese Funktionsnachahmung (und Funktionszirkulation) mit ihrem weiten Technikverständnis eröffnet Spielräume für biomedizinische Eingriffe in das „Mängelwesen Mensch“ und auch über den Menschen hinaus in die äußere Natur. Natur wird unter dem Aspekt von Funktionen gesehen, gedeutet und manipuliert. Eng verwandt mit der Funktionsnachahmung ist die Verfahrensnachahmung und die Verfahrenszirkulation, welche ihrerseits Prinzipien, Verfahren, Methoden und Realisierungen von Natur als Vorbild für technische Entwicklungen heranzieht. Ein Erfolg der Verfahrensnachahmung (Verfahrensbionik) liegt beispielsweise in der Reduzierung von Turbulenz- und Reibungseffekten an flugtechnischen Systemen durch eine am Vorbild der Haie entwickelte Riefenhaut. Der raue Belag der Blätter der Lotuspflanze zeigt ein funktionelles Verfahren auf, das für die Herstellung von sich selbst reinigenden Oberflächen Verwendung findet (Lotuseffekt). In Anlehnung an die rechnertechnischen Entwicklungen haben sich neuerdings weitere (vertikale) Nachahmungstypen ausdifferenziert, die nomologisch-mathematischen Prozess-, Chaos- und Informationsnachahmungen und -zirkulationen (siehe unten). Implizit anknüpfend an die Maschinenmodelle des Menschen, insbesondere an das Maschinenverständnis des menschlichen Gehirns des 19. Jahrhunderts, werden heutzutage numerische Prozeduren mit biologischen Vokabeln belegt; auf biologische Prozesse wird direkt Bezug genommen: Zelluläre Automaten, Genetische Algorithmen, Neuronale Netze, u.a.. Anleihen an den Neurowissenschaften und der Evolutionstheorie waren für die Entwicklung von Parallelrechnerarchitekturen ebenso fruchtbar wie dies für die Entwicklung numerischer Algorithmen zur (Selbst-) Optimierung von Rechenprozessen der Fall war. Die facettenreiche Nachahmungsthese zeigt an, dass interdisziplinäre Zirkulationen eine lange Geschichte und eine tiefe Verwurzelung haben. Nachahmung ist eine erste, schwache Form von Zirkulation, insofern sie noch von festen Polen ausgeht. Trennungen werden noch vorausgesetzt, eine gewisse Monokausalität der Übertragung wird unterstellt. Dass davon heute keine Rede mehr sein kann, schmälert kaum ihre Bedeutung, als Pate einer zirkulationstheoretischen Verständnisweise von Interdisziplinarität dazustehen. Die Nachahmungsthese hat die Bionik stets bewegt und ge-
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prägt. So wird es möglich, in der aktuellen Bionik in Anlehnung an die Nachahmungsthese zwischen den drei Typen der Zirkulationen zu unterscheiden: der Konstruktions-, der Funktions- und der nomologisch-mathematischen Zirkulation, – mit jeweils zu differenzierenden Deutungen von „Natur“ und „Technik“. Handlungs- und Vernunftnachahmungen scheinen heute kaum eine Rolle mehr zu spielen; ihr Beitrag zu einer Zirkulationstheorie der Interdisziplinarität ist eher gering.
5. Vertikale Zirkulationen in der Bionik – am Beispiel der Chaosbionik Neben der horizontalen Zirkulation hat sich eine vertikale Zirkulation ausgebildet: nicht nur die horizontalen Übertragungen zwischen den Disziplinen auf einer Augenhöhe, zwischen Biologie und Ingenieurwissenschaften, sind für Zirkulationen charakteristisch, sondern auch der vertikale Transfer zwischen Disziplinen und Meta- (bzw. Struktur-) Disziplinen, zwischen „unten“ und „oben“. Vertikale Zirkulationen basieren auf Abstraktionen und Konkretisierungen, auf Formalisierungen und Anwendungen. Die Bionik fördert vertikale Zirkulationen, gerade als Prozess-, Informations- und Chaosbionik. Das deutete sich schon in obiger Nachahmungsthese an: Nomologische Strukturen zirkulieren und diffundieren hier. Sie werden in der Natur (als „Natur“) erkannt bzw. dieser vorgeschrieben, sie werden abstrahiert von ihrem jeweiligen materiell-natürlichen Erkenntnisgegenstand, formalisiert, „übersetzt“ und sodann konkretisiert für spezielle technische Anwendungen. Die Bionik ist folglich auch eine „Strukturwissenschaft“. Sie verbindet Strukturerkenntnis mit Strukturübertragung und Strukturgestaltung. Unter dem Stichwort „Strukturwissenschaften“ werden seit über 40 Jahren interdisziplinäre Wissenschaftsformen thematisiert. Auf die wachsende Relevanz der „Strukturwissenschaften“ innerhalb der Wissenschaftslandschaft hatte C.F. v. Weizsäcker bereits in den 1960er Jahren hingewiesen und damit einen Begriff geprägt, dessen Bedeutung und Umfang bis heute nicht vollständig geklärt ist [62]. Als „Strukturwissenschaften“ bezeichnete v. Weizsäcker jene Wissenschaftsformen, die „Strukturen in abstracto [studieren, ... d.h.] unabhängig davon, welche Dinge diese Strukturen haben, ja ob es überhaupt solche Dinge gibt.“ [63] Strukturwissenschaften weisen einen hohen Mathematisierungsgrad auf. Sie sind gegenstandsenthoben und verwenden allgemeine Begriffe, die jeweils in konkreten Gegenstandskontexten und disziplinären Feldern inhaltliche Schärfe erlangen (können). Strukturwissenschaften sind Metadisziplinen. Weizsäcker er-
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gänzte seine Definition durch eine Aufzählung von „Gebieten der Wissenschaften, die man mit Namen wie Systemanalyse, Informationstheorie, Kybernetik, Spieltheorie bezeichnet.“ [64]1 Heute sind ferner die Chaos-, Komplexitäts- und Selbstorganisationstheorien zu nennen. Mit den Strukturwissenschaften ist eine vertikale Zirkulation verbunden: Modelle werden von „oben“ nach „unten“, von den interdisziplinären Strukturwissenschaften zu den disziplinären Gegenstandskontexten, vom Abstrakten zum Konkreten, und zurück, übertragen. Die Informationstheorie und die Kybernetik können sowohl in konkreten natürlichen wie in konkreten technischen Systemen Ver- und Anwendung finden, so war es intendiert [66]. Und in symmetrischer Umkehrung: Strukturwissenschaften selbst wurden gewonnen im Horizont technischer Fragestellungen, etwa der Nachrichten-, der Signalübertragungs- und der Regelungstechnik. Später trat auch die Molekular- sowie die Entwicklungsbiologie hinzu, in welche informationstheoretische Konzepte Eingang fanden und sich weiterentwickelten. Ein illustratives aktuelles Beispiel ist die Chaosbionik. Die Chaosbionik basiert auf der Chaostheorie, der Nichtlinearen Dynamik und den Selbstorganisationstheorien, die heute als beispielhafte Strukturwissenschaften gelten. Vor diesem Hintergrund wird ein „Lernen von der Natur“ verstehbar als eine vertikal-zirkulierende Übertragung der „Produktivität“ von Instabilitäten der biologischen Natur auf technische Systeme, als „Quelle zur Selbstorganisation“. Spezielle Typen von Instabilitäten können in biologischen Systemen als „evolutiver Vorteil“ gedeutet werden, insofern sie eine „hohe Adaptivität“ und „Flexibilität“ sowie „Variabilität“ und „Selbstorganisation“ ermöglichen. In den Ingenieurwissenschaften wurden und werden Instabilitäten meist als störend und eliminierenswert angesehen: Klassisches Totdämpfen statt des flexiblen und ressourcenschonenden Tanzes auf des Messers Schneide [67], – das war lange Zeit eine unhinterfragte Hintergrundüberzeugung in unterschiedlichen Feldern der Ingenieurwissenschaften [68]. Mit der Chaosbionik scheint sich das zu verändern. Kern der Chaosbionik bildet die Chaostheorie. Deren Ursprung selbst ist interdisziplinär und lässt sich nicht einer Disziplin zuordnen: er liegt sowohl in der Biologie [69] als auch in der Physik [70], sowohl in der Mathematik [71] als auch in der Informatik bzw. in symbolverarbeitenden Maschinen [72]. Die Chaostheorie ist eine „interdisziplinäre Struktur- und Methodenwissenschaft“ [73]. 1 Ein wenig zu weit scheint H. Lenk in seinem Ansatz eines pragmatischen methodologischen (Schema-)Interpretationismus zu gehen, wenn er sagt: „Alle exakte und theoretische Wissenschaft ist also Strukturwissenschaft.“ [65]
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Erstens: Interdisziplinär ist die Chaostheorie, insofern sie strukturisomorphe Phänomene in der Medizin, Biologie und Neurobiologie, der Ökologie, Chemie, Physik bis in die Ingenieur- sowie die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinein betrachtet. Sie liegt jenseits der bzw. über den Disziplinen. Zweitens: Als eine „Strukturwissenschaft“ kann die Chaostheorie bezeichnet werden, insofern sie isomorphe Phänomengruppen auf verschiedenen Größenskalen und in verschiedenen Disziplinen untersucht. Als Beispiele können Musterbildungsprozesse genannt werden, im Stau auf der Autobahn ebenso wie auf dem Zebrafell und in viskosen Flüssigkeiten. Universelle Konstanten nichtlinearer Systeme, wie die FeigenbaumKonstante, weisen den strukturwissenschaftlichen Charakter aus. Möglicherweise könnte gar von einer neuen strukturwissenschaftlichen Synthese gesprochen werden. Doch hier wäre zunächst Zurückhaltung angebracht. Drittens: Eine „Methodenwissenschaft“ ist die Chaostheorie und Nichtlineare Dynamik, weil sie u.a. auf spezifischen mathematischen Untersuchungsmethoden basiert, beispielsweise auf der topologischen Rekonstruktion von experimentellen Daten („Zeitreihen“) im mathematischen Zustandsraum [74]. Eine Verwissenschaftlichung hat der Chaos-Begriff in den 1970er Jahren erhalten und damit zur Etablierung der Chaostheorie und der Instabilitätsthematik beigetragen. Von D. Ruelle und F. Takens metaphorisch für Differenzialgleichungssystemen vorbereitet, avancierte das regelbehaftete, d.h. das deterministische Chaos durch T. Li und J. Yorke zu einem anerkannten wissenschaftlichen Terminus [75], zunächst für Differenzengleichungssysteme, später auch für Differenzialgleichungssysteme. Kern des Begriffs „deterministisches Chaos“ ist die dynamische Instabilität der kontinuierlichen sensitiven Abhängigkeit von den Startbedingungen auf dem so genannten „chaotischen Attraktor“. Von statischer Instabilität spricht man, wenn ähnliche Startbedingungen auseinanderlaufen und sich niemals mehr annähern, wie dies für dynamische Instabilität der Fall ist. Bei der dynamischen Instabilität steht die Dynamik zeitkontinuierlich auf des Messers Schneide; bei der statischen Instabilität sind es lediglich die Startpunkte. Startbedingungen gelten jedoch vielfach als kontingent, als nicht zum Kern von Modellen bzw. Theorien gehörend. Statische und dynamische Instabilitäten beziehen sich auf Startbedingungen, auf Lösungen und Trajektorien. Doch neben diesen gibt es einen weiteren Typ von Instabilität, welcher in seiner Relevanz bislang kaum eine grundlegende Reflexion gefunden hat und auf das Modellverständnis aller empirischen Wissenschaften zielt, insofern sie den Gesetzeskorpus thematisiert: die strukturelle Instabilität. – Zwar waren diese drei Instabilitätstypen auch schon vor 100 Jahren bekannt. Dass sie allerdings grundlegend in Natur und Technik
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sind, darin liegt die von den mathematischen Naturwissenschaften während der letzten 30 Jahre induzierte strukturwissenschaftliche Revolution. Von der Biologie „lernen“ heißt für die (gestaltungsorientierte) Chaosbionik, die „Produktivität“ der Instabilitäten zu erkennen und technisch nutzbar zu machen. Der Tanz auf des Messers Schneide der Instabilitäten in der Natur ermöglicht eine flexible Steuerung, eine hohe Adaptivität an sich verändernde Umwelten. Die Instabilität und die einhergehende Sensitivität ist in vielen evolutionären Kontexten ein entscheidender Vorteil. Beispiele liefern hier die Dynamiken von Herz und Hirn im EKG bzw. EEG [76]. Das gesunde Herz und das gesunde Gehirn sind chaotisch („schwache Kausalität“). Im Krankheitsfall, beispielsweise vor Herzinfarkten, hört die Dynamik des Herzens auf, chaotisch und damit lokal dynamisch instabil zu sein. Sie wird streng periodisch, wie eine mechanische Uhr („starke Kausalität“). Die Herzschlagfrequenz ist als stark-kausale konstant, starr und global berechenbar. Ähnlich wie Holz aufgrund seiner Flexibilität und seiner dynamischen Materialeigenschaften stärker belastbar ist als die gleiche Masse an Stahlbeton, ist das gesunde schwachkausale Herz belastbarer und adaptiver in der Natur als ein starres, exakt periodisches, stark-kausales Herz. Schwach-kausale, d.h. chaotische Systeme sind in dynamisch-evolutiven interagierenden, nicht-isolierten, offenen Umwelten privilegiert.2 Regelbehaftetes Chaos meint aber nicht Zufälligkeit, wie dies im Herzen beim Kammerflimmern auftritt. Der gesunde Herzschlag liegt zwischen der starren, starken Kausalität und dem regellosen Zufall. Gerade dies sind die Charaktere des gesetzmäßigen Chaos. Somit wäre eine stabile Natur eine starre, eine tote Natur. Nur eine Natur, die von Instabilitätstypen durchdrungen ist und von diesen „getragen“ wird, ermöglicht Leben, d.h. Wachstum, Selbstorganisation und Evolution. – So ist es naheliegend zu fragen: Könnten nicht in der Aufnahme der Instabilitätsthematik für die Ingenieur- und Technikwissenschaften weitreichende Potenziale und Perspektiven liegen? Bislang scheinen die produktiven Instabilitäten erst partiell zu einem heuristischen „Vor-Bild“ in der Technikentwicklung geworden zu sein. Insofern kann hier nicht alleine die Chaosbionik reflektiert, sondern es soll gar für sie plädiert werden: Dass sich diese Wissenschaftsphilosophie mit ihrer Zirkulationstheorie „nicht stumm zur Welt“ verhält, sondern „selbst in die Netze und Knoten der Zirkulation eingreift“, hatte M. Serres ja treffend vorweg genommen [77].
2 Ein weiteres Beispiel aus dem menschlichen Körper ist die Osteoporose, die Knochen spontan brechen lässt. Das Hormon „Parathormon“ steuert den komplizierten Auf- und Abbau des Knochengewebes. Bei Osteoporose-Kranken fehlt die chaotische Dynamik von Parathormon fast vollständig. Nur periodische Oszillationen sind zu beobachten.
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Zwei Beispiele dienen zur weiteren Illustration der Ansätze der Chaosbionik. Erstens methodologisch-analytische Aspekte: Im Unterschied zu den gängigen klassisch-statistischen Methoden der gegenwärtigen Ingenieurund Wirtschaftswissenschaften macht sich die Methode der Nichtlinearen Datenanalyse den dynamischen Aspekt zu nutze: die Instabilitäten, Sensitivitäten und Exzeptionalitäten [78].3 Bei regelbehaftetem Chaos kann eine abstrakte, aber sehr präzise Rekonstruktion der realen Dynamik in einem hochdimensionalen Zustandsraum vorgenommen werden. Darin wird die dynamische Vernetzung ähnlicher Strukturen („chaotischer Attraktor“, „Selbstähnlichkeiten“) darstellbar und mathematisch zugänglich. Diese mathematische Darstellung ermöglicht die Gewinnung von charakteristischen Kenngrößen und die Bestimmung von Korrelationen. Beispielsweise konnten Korrelationen zwischen dem Schweißzangenwechsel des Roboters (in der PKW-Produktion), störenden Schwankungen und exzeptionellen, scheinbar irregulären Ereignissen entdeckt werden [80]. Mit den klassisch-statistischen Methoden wären diese Ereignisse nicht detektierbar gewesen, sondern im statistischen „Rauschen“ und in den Mittelwertbildungen untergegangen [81]. Die Nichtlineare Dynamik macht sich hier diejenigen komplexen instabilen Strukturen der gesetzmäßigen Dynamik zu nutze, die kein weißes Rauschen zufallsbedingter Ereignisse darstellen. Die gefundenen Korrelationen werden diagnostisch und prognostisch zur Fehlerfrüherkennung, und somit zur Optimierung von Produktionsanlagen, herangezogen. Instabilitäten werden nicht eliminiert, sondern methodologisch „produktiv“ verwendet, um unerwünschte Zustände zu verhindern. Zweitens regelungs- und steuerungstechnische Aspekte: Zur Verbesserung von Rundlaufeigenschaften im Maschinenbau liefert die Chaosbionik neue Ansätze und veränderte Zugänge [82]. Im Maschinenbau spielt die Rotordynamik eine wesentliche Rolle: eine Welle mit (technisch nichteliminierbarer) kleinster Unwucht rotiert in einem Lager mit Spiel. Quelle des Chaos sind sprunghafte Veränderungen der elastischen Eigenschaften des Lagermaterials, insbesondere wenn die rotierende Welle in Lagerkontakt gelangt („Impact“-Phänomene). Ziel einer nichtlinear-dynamischen Analyse der Rotordynamik ist eine Erhöhung der Bearbeitungsqualität in Maschinen und eine frühzeitige Diagnose von möglichen Störursachen. In den letzten Jahren konnte ein nichtlineares Gesamtmodell der Rotordynamik konstruiert werden [83]. Dieses „Jeffcott-Rotor“-Modell basiert auf gewöhnlichen Differenzialgleichungen und liefert diagnostische und klas3 Insbesondere mit den Methoden der Nichtlinearen Datenanalyse, des Surrogat-Tests, der Methode der Falschen-Nächsten-Nachbarn, der Bestimmung der Korrelationsdimension und der Nichtlinearen Prädiktion [79].
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sifikatorische Hinweise auf die möglichen dynamischen Eigenschaften des Realsystems. Es zeigt, dass je nach Drehzahl und Startbedingung ganz verschiedene, auch chaotische Bewegungsformen auftreten können. Mit Methoden der Nichtlinearen Datenanalyse, durch welche die Messdaten von Weg- und Kraftsensoren untersucht werden konnten, wurden signifikante Kenngrößen der Chaos- und Komplexitätstheorien extrahiert. Diese Kenngrößen ermöglichen eine verbesserte Systemüberwachung („Monitoring“). Auf dieser Basis konnten Verfahren der flexiblen und schlanken nichtlinear-chaotischen Regelung implementiert werden: der hier verwendete, recht trickreiche Controlling-Algorithmus wurde von E. Ott, C. Grebogi und J.A. Yorke Ende der 1980er Jahre entwickelt [84]. Diese Methode des „Controlling-Chaos“ zeigt die „Produktivität“ der dynamischen Instabilitäten der Natur, um eine hochadaptive Regelung vornehmen zu können. Der Tanz auf des Messers Schneide wird nutzbar für technische Verfahren und Produkte. In dieser Erkenntnis liegen Ansätze zu einem „Paradigmenwechsel der Ingenieurwissenschaften“. Zu vermuten ist, dass die Chaosbionik eine für die Bionik und für eine Exemplifikation der vertikalen Zirkulation wegweisende Zukunft vor sich hat. Klärungsbedürftig sind indes Fragen nach dem Gehalt, dem epistemologischen Status nomologischer Isomorphien, nach den vertikalen Abstraktions- und Konkretisierungsprozessen sowie dem methodologischen Kern der (in der Chaosbionik verwendeten) numerischen Methoden: Das wissenschaftsphilosophische Reflexionsfeld über die Strukturwissenschaften, über ihre Zirkulations- und Übersetzungsprozeduren, so der Wissenschaftsphilosoph und Physiker B.-O. Küppers, „ist bisher noch weitgehend unbearbeitet.“ [85]
6. Perspektiven Das „Niemandsland zwischen den verschiedenen anerkannten Disziplinen“ [86] wird zunehmend bevölkert und kolonisiert. Aber es ist nicht nur ein Landgewinn, eine Eliminierung oder Färbung weißer Flecken auf der Wissenschaftslandkarte. Der feste Boden und das eingezäunte Land, die klare Bestimmung der jeweiligen Disziplinarität, all das scheint verloren zu gehen. Vielfältig sind die Zirkulationen, die Übersetzungen und Tra-Duktionen, die zum kennzeichnenden Medium der aktuellen Wissenschaften avancieren. Es deutet sich ein entgrenzender Wandel im Wissenschaftsverständnis an, der sich im Terminus „Interdisziplinarität“ artikuliert. Für eine Wissenschaftsphilosophie der Interdisziplinarität, für eine „Philosophie des Transports und der Zirkulation“, des „Schnittes“, der
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„Intervention“ und des „Anzapfens“ [87], zeigen sich in der Bionik einige Ansatzpunkte. Allerdings, als mediales Zirkular entzieht sich die Interdisziplinarität einer allzu genauen Bestimmtheit [88]. Für zukünftige interdisziplinäre Forschungsprogramme und Entwicklungskorridore scheint es lohnenswert, die Pluralität zu reflektieren, um Fallstricke und Fehlstellen zu identifizieren und zu eliminieren. Doch vor allzu großer metatheoretischer Hoffnung warnte P. Feyerabend schon vor Jahrzehnten: „Will man die Wissenschaften selbst fördern, dann hört das abstrakte Gerede auf: Man muß sich in die Praxis des Bereichs versenken, zu dem man einen Beitrag leisten will.“ [89] Das gilt gerade für eine Wissenschaftsphilosophie der Interdisziplinarität, die wohl nur eine konkrete, etwa an den bionischen Praxen und Propositionen orientierte Philosophie sein kann. Die Bionik trägt ihrerseits dazu bei, im Diskurs um Interdisziplinarität neue und erweiterte Perspektiven aufzuzeigen: die der Zirkulationen und Diffusionen jenseits der Disziplinen. Literatur [1] Kant I (1787f/1877/1966) Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Vorrede B VIII - IX [2] Wiener N (1968) Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. Reinbek: 21 [3] Serres M (1992) Hermes II., Interferenz. Berlin: 8 [4] Serres M (1992) a.a.O.: 8; vgl. Gehring P (2001) Kann es ein Eigentum am menschlichen Körper geben? Zur Ideengeschichte des Leibes vor aktuellem biopolitischem Hintergrund. In: Schürmann V (Hrsg) Menschliche Körper in Bewegung. Frankfurt: 41–64 u. Gehring P (2004), in diesem Buch. [5] Jantsch E (1972) Towards Interdisciplinarity and Transdisciplinarity in Education and Innovation. In: Apostel L et al. (ed): Interdisciplinarity – Problems of Teaching and Research in Universities. CERI/OECD, Paris: 97–121 [6] Euler P (1994) Lebenswelt, Interdisziplinarität und Bildung. Bildungstheoretisch-pädagogische Reflexionen über Interdisziplinarität. Wechselwirkung 69: 24ff [7] Klein JT (1990) Interdisciplinarity. History, Theory and Practice. Detroit; Kocka J (Hrsg) (1987) Interdisziplinarität. Praxis, Herausforderung, Ideologie. Frankfurt; Weingart P (1997) Interdisziplinarität – der paradoxe Diskurs. Ethik und Sozialwissenschaften 8(4): 521–529 [8] Snow CP (1967) Die zwei Kulturen. Stuttgart [9] Mittelstraß J (1998) Die Häuser des Wissens. Frankfurt: 29f [10] Gibbons M et al. (1994) The new Production of Knowledge. London [11] Böhme G, van den Daele W, Hohlfeld R (1978) Finalisierung revisited. In: Böhme G et al. (Hrsg) Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts. Frankfurt: 69–130 [12] Gibbons M et al. (1994) a.a.O. [13] Latour B (1987) Science in Action. Cambridge/Mass.: 174f; Haraway D (1995) Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt: 33f [14] Bechmann G, Frederichs G (1996) Problemorientierte Forschung. Zwischen Politik und Wissenschaft. In: Bechmann G (Hrsg) Praxisfelder der Technikfolgenforschung.
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Jan C. Schmidt
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Bionik und Interdisziplinarität
245
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Technologie- und marktorientierte Entwicklung von Bionik-Produkten Günter Specht Institut für Betriebswirtschaftslehre, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Lernen von den biologischen Systemen der Natur im Bereich der Technik wird durch Wissen aus der Betriebswirtschaftslehre gefördert. Durch Markt- und Kompetenzorientierung steigen die Erfolgschancen. Dabei kommt der Kompetenz im Kooperationsmanagement in den interdisziplinären Projekten der BionikForschung große Bedeutung zu. Eine geeignete Methode zur Auswahl von Innovationsfeldern ist der Darmstädter Ansatz eines Innovationsfeld-Portfolios. Bei der Entwicklung von Bionik-Produkten sind Anforderungen aus allen Lebensphasen eines Produkts zu berücksichtigen. Für die Steuerung des Ablaufs der Innovationsprojekte stehen Stufenmodelle der Produkt- und Prozessentwicklung zur Verfügung.
Abstract Business Administration and Management knowledge supports learning from natural, biological systems in the technological domain. Market- and competenceorientation increases the prospects of success. Cooperation management competence in interdisciplinary projects in bionics is of utmost importance. A suitable method for the selection of fields of innovation is the approach of portfolios of fields of innovation developed in Darmstadt, Germany. The development of bionics-products has to take into account all phases of the life cycle of a product. There are component models of product and process development available to control the flow of the innovation projects.
1. Problemstellung Bionik wird in diesem Beitrag als Forschung und Lehre zu biologischtechnischen Systemen verstanden. „Von der Natur lernen“ ist das Motto für Forscher, die von der Leistungsfähigkeit von Lebewesen fasziniert sind. Bionik ist nichts Neues. Schon immer haben Menschen versucht, die
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Natur zu imitieren, um mangelhafte persönliche Fähigkeiten durch Technik kompensieren zu können. Unser aktueller Stand des Wissens über Natur und Technik und unsere wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden versetzen uns in die Lage, in systematischer Weise das Lernen von der Natur zu beschleunigen. Wenn sich z.B. Adamy/Himstedt/Rossmann mit „Blindwühlen“ beschäftigen, also schlangenförmigen, unterirdisch grabenden Amphibien in tropischen Regionen, so interessieren sie sich für die Frage, wie der Schädel gebaut ist, weil die unterschiedlichen Schädelformen dieser Amphibien „als unterschiedliche Anpassungen an die grabende Lebensweise interpretiert werden“ [1, 2]. Biomechanische Untersuchungen und mathematische Modelle des Schädels von Blindwühlen sollen helfen, Bohrkörper zu optimieren. In anderen Arbeitsgruppen zur Neuroakustik und zur Robotik geht es um die „Entwicklung eines pulsenden neuronalen Netzwerkes, das Schallsignale analog den Verarbeitungsstufen des Hörsystems verarbeitet und Merkmale im Frequenz- und im Zeitbereich extrahiert“ [1, 3]. Mit neuronalen Modellen werden durch die Forschergruppe Modellvorhersagen im neurophysiologischen Experiment überprüft. Die Resultate werden genutzt, „um ein Modell der Sprecherlokalisation und der räumlichen Signaltrennung (Cocktail-Party Effekt) basierend auf pulsenden neuronalen Netzwerken zu entwickeln“. Die Reihe der Beispiele aus der Forschung im Bereich der Bionik ließe sich erheblich verlängern. Die Beispiele haben lediglich die Aufgabe, Anliegen der Bionik zu verdeutlichen, damit eine Beziehung zur Betriebswirtschaftslehre hergestellt werden kann. Zentrale Frage dieses Beitrags ist: Was kann die Betriebswirtschaftslehre und speziell ein Fachgebiet, das sich mit Technologiemanagement, Innovationsmanagement und Marketing beschäftigt, zur Beschleunigung des Lernens von der Natur beitragen? Wenn Bionik eine Leitidee für Forschung und Entwicklung an der Nahtstelle zwischen Biologie und Technik ist, so können wir davon ausgehen, dass Forschungsaktivitäten in diesem Bereich zu neuem technischen Wissen und schließlich zu neuen Produkten und Prozessen führen, die den Menschen das Leben ermöglichen und erleichtern. Der Betriebswirt interessiert sich im Blick auf die Bionik vor allem für Fragen der Effektivität und Effizienz im Technologie- und Innovationsmanagement. Bei der Effektivität geht es um den Grad der Eignung eines Mittels zur Erreichung der obersten Sachziele eines Unternehmens. Sie ist eine Maßgröße für das Ergebnis des Wirtschaftens im Blick auf übergeordnete zentrale Ziele eines Unternehmens. Es geht schließlich darum, „die richtigen Dinge“ zu tun. Der Begriff Effizienz betrifft ein Unterziel der Effektivität, nämlich die Ressourcenwirtschaftlichkeit. Das Streben nach Effizienz sorgt für die
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Verbesserung der Relation von Input und Output in Wertschöpfungsprozessen. Die „Dinge, die getan werden, sollen richtig getan werden“. Mit minimalem Einsatz sollen definierte Ziele, oder mit gegebenen Ressourcen soll ein Maximum an Ergebnis erreicht werden. Anders als den Ingenieur interessieren den Betriebswirt weniger die Gütereinsatz- und Güterausbringungsmengen, sondern den Wert des Gütereinsatzes und der Güterausbringung in Wertschöpfungsprozessen. Die Aspekte, mit denen der Betriebswirt an Fragestellungen zur Bionik herangehen kann, sind vielfältiger Art. Im Vordergrund des vorliegenden Beitrags stehen grundlegende Fragen eines Technologie- und Innovationsmanagements in einer Forschungsdisziplin, die auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen ist, wenn Erkenntnisfortschritte erzielt werden sollen, die letztlich zu einem Nutzen für die Menschheit führen. Dazu gehören zwei Fragen: 1. Wie können die technologischen Kompetenzen bestimmt werden, die für wirtschaftlich erfolgversprechende Bionik-Produkte benötigt werden? 2. Wie kann eine Integration von Markt- und Technologieorientierung in der Produkt- und Prozessentwicklung in der Bionik erreicht werden?
2. Technologie- und Marktorientierung als Leitidee des Innovationsmanagements Innovationen in Unternehmen, die wirtschaftlich erfolgreich sein sollen, erfordern zwei Orientierungen, nämlich erstens „Kundenorientierung“ (Demand Pull) und zweitens Kompetenzorientierung zur Lösung von Kundenproblemen (Competence Push bzw. Technology Push). Wenn es in der Bionik-Forschung nicht nur um Erkenntnis geht, sondern letztlich auch um wirtschaftlichen Nutzen, so gilt diese doppelte Ausrichtung der Forschung und Entwicklung auch in diesem Bereich. Unter „Technology Push“ wird die Strategie verstanden, ein latent vorhandenes Bedürfnis potenzieller Kunden mit der Entwicklung neuer Technologien zu wecken und damit möglicherweise einen neuen Markt zu schaffen. Die „Demand Pull“-Strategie geht davon aus, dass die Entwicklungsaktivitäten durch die Nachfrage der Kunden induziert werden und an deren Anforderungen auszurichten sind. Das Risiko der F&E ist zumindest vordergründig in diesem Fall erheblich geringer, da jene Unsicherheiten ausgeschlossen sind, die sich bei der „Technology Push“Strategie aufgrund des nur antizipierten Kundenbedürfnisses ergeben.
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Betrachtet man das Ergebnis empirischer Erfolgsfaktorenstudien zu Innovationsprojekten, so wird in vielen Fällen eine hauptsächlich marktorientierte Ausrichtung des strategischen Managements als geeigneter angesehen als ein technologieorientierter Ansatz [4]. Diese Schlussfolgerung muss jedoch vor dem Hintergrund der in den Studien bewerteten Innovationsprojekte kritisch gesehen werden. In den meisten empirischen Studien zum Erfolg oder Misserfolg technischer Produktinnovationen dominieren in den Stichproben Projekte mit inkrementalem Neuheitsgrad; radikale Neuerungen kommen in den Stichproben äußerst selten vor, und sie werden zudem nicht über eine angemessen lange Zeitspanne beobachtet. Wirklich zuverlässige Aussagen über Erfolgsfaktoren bei radikalen Produktinnovationen auf empirisch-statistischer Basis sind kaum zu finden. Schlussfolgerungen aus bisher vorliegenden Studien sind äußerst fragwürdig. Im Blick auf die Forschungsfelder in der Bionik ist davon auszugehen, dass ein Technology-Push-Ansatz und damit der Aufbau neuartiger technologischer Kompetenzen deutlich wichtiger als ein Demand-Pull-Ansatz mit einer Orientierung an Kundenanforderungen sind. Dennoch gilt, dass ohne Kundenorientierung kein Erfolg zu erwarten ist. Wenn ein Bionik-Forschungsprojekt nicht erkennen lässt, welches Problem von Menschen gelöst werden soll, und zwar besser als heute gelöst werden soll, dann ist zumindest bei den Kapitalgebern Vorsicht angeraten. Erfolgreich kann eine Forschungsorganisation nur dann sein, wenn sowohl aktuelle und potenzielle Bedürfnisse der Kunden erkannt und befriedigt werden sollen, als auch technologische Trends frühzeitig identifiziert und vorangetrieben werden.
3. Einordnung der Bionik in das Technologie- und Innovationsmanagement Mit dem Begriff Innovationsmanagement (im weiten Sinne) ist das Management der Grundlagenforschung, der Technologieentwicklung, der Vor- bzw. Vorausentwicklung, der Produkt- und Prozessentwicklung, das Anfahren der Produktion und die Einführung neuer Produkte und Prozesse in den Markt gemeint (vgl. Abbildung 1). Das Forschungs- und Entwicklungsmanagement (F&E-Management) ist Teil des Innovationsmanagements, nämlich die Grundlagenforschung, die Technologieentwicklung, die Vorentwicklung und die Produkt- und Prozessentwicklung. Die Grundlagenforschung ist auf reine Erkenntnis ausgerichtet; sie ist in Unternehmen kaum anzutreffen; sie kommt aber auch an Technischen Universitäten nicht sehr häufig vor, weil es in einer Technischen
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Universität nicht nur um Technologie bzw. Wissen über Technik geht, sondern auch um die Anwendung von Wissen bei der Entwicklung innovativer Lösungen für generell vorhandene Probleme. Das Technologiemanagement steuert die technologische Kompetenz eines Unternehmens oder eines Forschungsinstituts. Die Vorentwicklung zielt auf neuartige Lösungsnachweise und auf die Entwicklung funktionsfähiger Prototypen ab. Die Produkt- und Prozessentwicklung (PPE) entwickelt schließlich unmittelbar verkaufsfähige Produkte und/oder realisierbare Prozesse.
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Produktund Prozeßentwicklung
Produktionsund Markteinführung
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Vorentwicklung
Technologieentwicklung
Grundlagenforschung
Technologiemanagement F&E-Management Innovationsmanagement
Abb. 1. Komponenten des Innovationsmanagements
Je nach Stand von Wissenschaft und Technik und in Abhängigkeit von der Zielsetzung eines F&E-Projekts können Bionik-Projekte Grundlagenforschung, Technologieentwicklung, Vorentwicklung oder Produktund Prozessentwicklung sein. Haben „Bionik-Produkte“ einen hohen Reifegrad, so kann auch das Anfahren der Produktion oder die Einführung in den Markt Gegenstand der Planungs- und Realisierungsaktivitäten eines Betriebes sein. Die meisten Bionik-Themen an universitären Forschungsinstituten sind der Grundlagenforschung sowie der Technologie- und Vorentwicklung zuzuordnen. Seltener zielen Bionik-Projekte auf unmittelbar produzierbare, verkaufbare Produkte ab, obwohl Initiativen zur Förderung von Unternehmensgründungen an Universitäten die Grenzen zur Praxis etwas verwischt haben.
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Günter Specht
4. Kompetenz im Management von Bionik-F&E-Netzwerken Das Innovationsmanagement und auch seine Komponenten können unter unterschiedlichen Gesichtspunkten wissenschaftlich behandelt werden. In diesem Beitrag soll die Frage gestellt werden, welche Kompetenzen von Instituten zu fordern sind, die sich mit Bionik-Innovationen beschäftigen. Der Begriff Kompetenz wird dabei als Beherrschung eines Prozesses verstanden. Im Blick auf Innovationen interessiert demzufolge die Innovationsprozesskompetenz bzw. die Frage nach dem Grad der Beherrschung von Innovationsprozessen. Bei der Beantwortung dieser Frage stößt man auf das Phänomen, dass in Innovationsprozessen mehrere Kompetenzfelder bzw. Kompetenzaspekte für den Erfolg wichtig sind. Ein Modell der Kompetenzfelder bei Innovationsprozessen ist in Abb. 2 wiedergegeben.
Kooperationskompetenz
Politik- und Strategiekompetenz
Führungsund Organisationskompetenz
Innovationsprozesskompetenz
Technologiekompetenz
Operative Kompetenz
Mitarbeiterkompetenz
Abb. 2. Kompetenzfelder im Innovationsmanagement
Die einzelnen Felder stellen verschiedene Sichten auf das Thema Kompetenz dar, die sich überschneiden. Kompetenz im Innovationsprozess ist nach diesem Modell nur dann zu erwarten, wenn folgende Kompetenzen vorhanden sind: die Kooperationskompetenz, die Politik- und Strategiekompetenz, die Führungs- und Organisationskompetenz, die Technologiekompetenz, operative Kompetenzen im Bereich der betrieblichen
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Hauptfunktionen (z.B. in Forschung und Entwicklung, Produktion oder Marketing/Vertrieb) und die fachlich-sozialen Mitarbeiterkompetenzen. Fehlt ein Teil dieser Kompetenzen, dann kann nicht mit einem Erfolg von Innovationen gerechnet werden. In Verbindung mit Bionik-Projekten an Universitäten soll an dieser Stelle speziell die Kompetenz im Management komplexer Innovationsnetzwerke hervorgehoben werden. Aufgrund der Leitidee der Bionik und aufgrund des voraussichtlichen Nutzens des Zusammenführens von Technologien aus verschiedenen Forschungsdisziplinen (Technologiefusion) bei gleichzeitig steigendem Leistungs- und Kostendruck ist die Zusammenarbeit mit Partnerinstituten zwingend erforderlich. Dabei teilen sich die Partner das Entwicklungsrisiko und die Entwicklungskosten. Noch wichtiger ist, dass sich die Partner einer solchen Kooperation verstärkt auf die eigenen Kernkompetenzen konzentrieren und das spezifische Know-how von Kooperationspartnern nutzen [5]. Bei einer Kooperation handelt es sich um die Zusammenarbeit zwischen Partnern mit bewusster gegenseitiger Abhängigkeit und weitgehendem Erhalt der Autonomie. Das Management komplexer F&E-Netzwerke erfordert spezifische Kompetenzen. Anhaltspunkte im Blick auf den Inhalt erforderlicher Kompetenzen bietet Abb. 3 zu Phasen im Management von Kooperationen. Beendigung der F&E-Kooperation Durchführung der F&E-Kooperation
Konfiguration der F&E-Kooperation
Auswahl und Gewinnung von Kooperationspartnern
Initialentscheidung für eine F&E-Kooperation
Abb. 3. Fünf typische Phasen einer F&E-Kooperation
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Günter Specht
Den Ausgangspunkt des Kooperationsprozesses im weiteren Sinne bildet eine Initialentscheidung, die sich aus der Erkenntnis ergibt, dass bei autonomem Vorgehen kein Erfolg zu erwarten ist. An diese Initialphase schließt sich die Phase der Suche, Auswahl und Gewinnung eines geeigneten Kooperationspartners bzw. geeigneter Kooperationspartner an. Sind geeignete Partner gefunden, kann in der dritten Phase die F&E-Kooperation gemeinsam organisatorisch und rechtlich konfiguriert werden. Erst in der vierten Phase wird mit der gemeinsamen F&E-Arbeit, also der F&E-Kooperation im engeren Sinne, begonnen. Für das F&EManagement stellt schließlich auch die Beendigung der F&EKooperation eine wichtige Entscheidung dar. Diese fünf Phasen einer F&E-Kooperation werden in der Regel nicht sequentiell, sondern iterativ durchlaufen; die einzelnen Phasen überlappen sich und müssen teilweise mehrfach wiederholt werden. Ursache hierfür ist, dass Aufbau und Ablauf einer Kooperation gerade in F&E ex ante unsicher und unklar sind und daher nur selten in einem Zug geplant und der Planung entsprechend realisiert werden können. Eine eigene noch unveröffentlichte empirische Untersuchung zeigte, dass intensive strategische Planungen mit Vorgaben für Kooperationsprojekte den Erfolg eher behindern als fördern. F&E-Kooperationen sind in der Praxis ein oft labiler, evolutorischer Prozess, der durch sich im Prozessverlauf ändernde KonsensKonflikt-Konstellationen zwischen Kooperationspartnern gekennzeichnet ist. Die Beziehungen zwischen den Partnern unterliegen Störungen und müssen im Blick auf zukünftige Anforderungen immer wieder neu gestaltet und weiterentwickelt werden. Gefahren für das ausbalancierte Zusammenwirken liegen sowohl im Umfeld der Kooperation als auch innerhalb der an der Kooperation beteiligten Partner. So kann z.B. die Entwicklung der Märkte oder der Technologien die Prämissen einer Kooperation und das Interesse der Kooperationspartner an der Zusammenarbeit maßgeblich verändern [6, 7]. Bei interdisziplinären Kooperationen zwischen Naturwissenschaftlern und Ingenieuren im Rahmen der Bionik-Forschung dürften die unterschiedlichen Kulturen und Erfahrungswelten Störfaktoren sein. Eine spezifische Kompetenz im Kooperationsmanagement ist die Kompetenz zur Integration interner und externer Ressourcen in gemeinsame F&E-Projekte [8, 9, 10, 11]. Das systematische Management der Schnittstellen zu externen Partnern wird zu einem kritischen Erfolgsfaktor des Innovationsprozesses (vgl. Abbildung 4). Das Schnittstellenmanagement hat die Aufgabe, den Fluss der F&ERessourcen in den eingerichteten Schnittstellen unter Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkten zu analysieren, zu planen, zu gestalten und zu kontrollieren. Dies hat wesentlichen Einfluss auf die Sicherheit, mit der F&ERessourcen zwischen Kooperationspartnern ausgetauscht bzw. zusammen-
Technologie- und marktorientierte Entwicklung von Bionik-Produkten
255
geführt werden [12]. Bei der Integration externer F&E-Träger ist eine Abstimmung mit den Kooperationspartnern bereits in der Projektprogrammplanung erforderlich. Daher sind Schnittstellen nicht nur im F&E-Prozess selbst, sondern auch in der Planung von erheblicher Bedeutung. Schnittstellenprobleme resultieren aus hierarchischer, räumlicher und kultureller Distanz zwischen den Kooperationspartnern [12]. Diese Barrieren können durch möglichst direkte Kommunikationswege zwischen entscheidungsbefugten Mitarbeitern der Kooperationspartner verringert werden. Empirische Ergebnisse belegen, dass F&E-Projekte in Kooperationen umso erfolgreicher sind, je höher die Entscheidungsbefugnis der Projektmanager in der Hierarchie der Organisation ist [13]. Dies ist plausibel, denn mit hoher Autorität versehene Personen können in der Regel schneller entscheiden und haben mehr Erfahrung im Umgang mit unternehmensexternen Personen. Externe F&E-Ressourcen Interne F&E-Ressourcen
Ressourcenstrom
Interaktives Schnittstellenmanagement
Gemeinsames F&E-Projekt
Kunden und Lieferanten
Universitäten, Forschungsinstitute
Wettbewerber
Ressourcenstrom
Abb. 4. Zusammenbringen von F&E-Ressourcen
5. Technologiemanagement im Innovationsfeld Bionik Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung von Bionik-Produkten ist die Beherrschung relevanter Technologien. Wer nicht rechtzeitig Technologiekompetenz aufbaut, der kann die hohen Anforderungen an die F&EGeschwindigkeit, an die Qualität und an die Kosten in der Produkt- und Prozessentwicklung i.d.R. nicht erfüllen. Zu fragen ist, welche Technologien in einem spezifischen Anwendungsfeld relevant sind, wie die grundsätzlichen Wege bzw. Strategien zur Realisierung von Technologiekompetenz aussehen sollen (Technologie-Roadmaps) und in welchem Maße die einzelnen Technologien beherrscht werden müssen.
256
Günter Specht
Eine geeignete Methode zur Sicherstellung einer Markt- und Technologieorientierung bei Entscheidungen zur Auswahl von Innovationsfeldern im Rahmen des Technologiemanagements ist der „Darmstädter Ansatz“ von Michel, Ewald, Specht und Schlegelmilch, der seit Anfang der achtziger Jahre kontinuierlich weiterentwickelt und in Praxisprojekten erprobt wurde [14, 15, 16, 17]. In dieser Methode eines integrierten Technologiemanagements, für die auch ein Software-Werkzeug zur Verfügung steht („Port Support“), werden technologie- und marktbezogene Kriterien der Attraktivität eines Innovationsfelds und der relativen Wettbewerbsstärke einer F&E-Organisation (z.B. eines Unternehmens, einer Forschungsabteilung oder einer Projektgruppe) für die Bewertung und Auswahl technischer Innovationsfelder herangezogen. Die Methode ist speziell für die Anwendung in Unternehmen konzipiert. Deshalb wird an dieser Stelle auf die Darstellung des gesamten Konzepts eines Innovationsfeld-PortfolioAnsatzes in diesem Artikel verzichtet. Behandelt wird ausschließlich eine Komponente dieses Ansatzes, nämlich die TechnologiefeldPortfolioanalyse. Das Technologiefeld-Portfolio ist für Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen gedacht, die primär unter Technologieaspekten Vorüberlegungen für ein integriertes, technik- und marktbezogenes Innovationsfeld-Portfolio anstellen. Ein Technologiefeld-Portfolio erlaubt zwar keine Technologieentscheidungen eines Unternehmens, weil die Marktperspektive nicht ausreichend berücksichtigt wird; das Technologiefeld-Portfolio bietet allerdings wichtige Hinweise auf die Attraktivität einer Technologie für Forschungsinstitutionen einer Universität. Dies gilt in besonderem Maße für den Fall, dass es sich bei den Technologiefeldern um Felder handelt, die der Grundlagenforschung nahe stehen. Im Rahmen einer Technologiefeld-Analyse werden strategische Technologiefelder identifiziert und voneinander abgegrenzt, die jeweils einen Ausschnitt aus dem aktuellen und potenziellen technologischen Betätigungsfeld eine Forschergruppe darstellen. So ist z.B. vorstellbar, dass ein Forschungsinstitut einer Universität auf dem Gebiet der Bionik verschiedene Forschungsthemen identifizieren kann. Dabei ist es für den Aussagewert der Ergebnisse des Einsatzes der Methode von großer Bedeutung, dass die Technologiefelder möglichst überschneidungsfrei definiert werden. Dies ist nicht ganz einfach, weil es sich bei Technologiefeldern nicht um elementare Technologien, sondern um anwendungsorientierte Bündel von Technologien handelt. So gehören z.B. zum Technologiefeld Laserschweißen zahlreiche elementare Technologien.
Technologie- und marktorientierte Entwicklung von Bionik-Produkten Weiterentwicklungspotential
Zeitlicher Aufwand und Entwicklungsrisiko
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hoch
Technologieattraktivität
mittel
gering
Technologiefolgen
gering
mittel
hoch
Relative Technologieentwicklungsstärke
humanes Leistungspotential
Know-how Stand
Know-how Stabilität
technisches Leistungspotential
Flexibilität
Modernität
Abb. 5. Technologiefeld-Portfolio.
Auf der Basis einer Chancen-Risiken- und einer Stärken-SchwächenAnalyse werden die Technologiefelder (hier z.B. Bionik-Forschungsthemen) in einem Technologiefeld-Portfolio mit den Dimensionen Technologiefeld-Attraktivität und relative Technologieentwicklungsstärke (bzw. Stärke der Forschungsorganisation) positioniert (vgl. Abb. 5). Da dem Technologiefeld-Portfolio im Rahmen des Portfoliosystems des Unternehmens bzw. der Forschungsorganisation die Funktion zukommt, Technologien aus naturwissenschaftlich-technischer Sicht zu analysieren, werden als Subkriterien dieser beiden Hauptachsen ausschließlich technologiebezogene Merkmale verwendet. So ergibt sich die relative Technologieentwicklungsstärke aus der relativen Fähigkeit einer Organisation zur Lösung technologischer Probleme, die sich durch die Abschätzung der Kompetenz des humanen und technischen Leistungspotenzials bestimmen lässt. Als Beurteilungsmerkmale werden bei den technischen Leistungspotenzialen die Modernität und Flexibilität der Laboranlagen und bei den humanen Leistungspotenzialen der Stand und die Stabilität des Knowhows herangezogen. Von “relativer“ Stärke wird gesprochen, weil die eigene organisatorische Einheit (z.B. das eigene Forschungsinstitut) im Vergleich mit konkurrierenden F&E-Institutionen bewertet werden muss. Durch die Positionierung bisher bearbeiteter und neuer Technologiefelder im Portfolio wird ein direkter Vergleich der Forschungsthemen ermöglicht [18]. Zur Positionierung von Technologiefeldern im Technologiefeldportfolio müssen für die beschriebenen Attraktivitäts- und Stärken-Schwächen-Determinanten situationsangemessene Detailbewertungskriterien ausgewählt
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Günter Specht
und deren Gewichte im Rahmen einer Gesamtbewertung einzelner Technologiefelder festgelegt werden. Jedes Technologiefeld wird anhand der so gewonnenen Kriterien durch Experten mittels Punktbewertungsverfahren bewertet. Anschließend werden die einzelnen Technologiefelder im Portfolio ihren Punktwerten gemäß positioniert. Die Positionierung der Technologiefelder im Portfolio lässt erkennen, ob es aus naturwissenschaftlichtechnischer Sicht angebracht ist, in diesen Technologiefeldern zu investieren, oder ob es besser ist, sich aus diesem Technologiefeld zurückzuziehen. In Unternehmen reicht ein Technologiefeld-Portfolio nicht aus, wenn es darum geht, Innovationsfelder auszuwählen. Die Ergebnisse von Technologiefeld-Portfolioanalysen müssen ebenso wie die strategischen Vorüberlegungen aus der Marketing- und Vertriebsabteilung in ein integriertes Innovationsfeld-Portfolio eingebracht werden, das im Detail an dieser Stelle nicht beschrieben wird (vgl. Abb. 6).
Abb. 6. Innovationsfeldportfolio (Quelle: ähnlich [15])
Technologie- und marktorientierte Entwicklung von Bionik-Produkten
259
6. Produkt- und Prozessentwicklung in der Bionik 6.1. Produktlebensphasen-Konzept Im Folgenden wird angenommen, dass das Bionik-Projekt bereits sehr weit fortgeschritten ist und es darum geht, im Rahmen der Produkt- und Prozessentwicklung ein unmittelbar produzierbares und vermarktungsreifes Produkt und die dazugehörigen Prozesse zu entwickeln. Zugleich wird davon ausgegangen, dass diese Produkt- und Prozessentwicklung in einem Unternehmen oder einer selbstständigen Venture-Einheit eines Unternehmens stattfindet. Dies erfordert die umfassende Berücksichtigung aller Anforderungen aus den Lebensphasen des Produkts im Markt. Diese Forderung an das Innovationsmanagement wird durch eine Orientierung der Produkt- und Prozessentwicklung am ProduktlebensphasenAnsatz ermöglicht. In diesem Konzept richtet sich die Aufmerksamkeit des Produktlebensphasen-Ansatzes auf das einzelne Produkt in den verschiedenen Phasen seines „Lebens“, also von seiner Entstehung bis zur Entsorgung oder seinem Recycling. Umwelt Produktleben
Planung
Demand Pull - Zweckorientierung - Anforderungen an das Produkt-Prozeß-System aus den Lebensphasen des Produktes
Fertigung
Realisierung
Produkt- und Prozeßentwicklung
Beschaffung
Montage
Produktion
Verkauf & Distribution
Nutzung
Reduktion
Kollektion Wartung & Reparatur
Entsorgung
Integrationsrahmen: Produktleben
Technology Push - Mittelorientierung - Technische Lösungen für Nutzungsprozesse des Kunden und Wertschöpfungsprozesse des Unternehmens
Abb. 7. Integrierter Produktlebensphasen-Ansatz
Der integrierte Produktlebensphasen-Ansatz, wie er in Abb. 7 dargestellt ist, berücksichtigt neben den unmittelbar das Unternehmen betreffenden Lebensphasen auch die „externen Lebensphasen“, zu denen vor allem die Distribution und die Nutzung des Produkts zu zählen sind. Auch aus
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Günter Specht
diesen Phasen ergeben sich spezifische Anforderungen an die F&E-Aktivitäten, die teils aus Kundenbedürfnissen, teils aus Umfeldgesichtspunkten resultieren. Anhand des integrierten Produktlebensphasen-Ansatzes kann auch das Zusammenspiel zwischen Demand Pull und Technology Push verdeutlicht werden. Ein nachfragesoginduzierter Anstoß der Entwicklung stammt aus den Phasen des Produktlebens, während ein mittelorientierter oder technologieinduzierter Anstoß auf sie gerichtet ist. Die hier verwendete weite Auslegung der Begriffe „Nachfragesog“ (Demand Pull) und „Technologieschub“ (Technology Push) entsteht durch den Bezug auf den Kundenbegriff moderner Qualitätsmanagementphilosophien, in denen jeder Abnehmer innerhalb der Prozesskette von der Entstehung bis zur Entsorgung des Produkts als Kunde angesehen wird. Die zyklische Verknüpfung von Demand Pull und Technology Push bildet somit gleichsam den Motor der Innovationsdynamik. 6.2. Stufenmodell der Produkt- und Prozessentwicklung Systematisches Vorgehen, Parallelisierung und interdisziplinäre Zusammenarbeit sind wichtige Schritte auf dem Weg zur integrierten Produktund Prozessentwicklung. Den hohen Anforderungen eines integrierten Innovationsmanagements an den Entwicklungsprozess entspricht das in Abbildung 8 dargestellte Stufenmodell der Produkt- und Prozessentwicklung. Ein methodisch-systematisches Vorgehen wird durch die Gliederung in eine Planungs- und eine Realisierungsphase unterstützt. Die beiden Hauptphasen sind jeweils in konkrete Aktivitäten bzw. Komponenten mit operational definierten Zielen unterteilt. Die überlappende Anordnung der Komponenten in Form einer Treppe verdeutlicht den teils aufeinanderfolgenden, teils parallelisierten Prozessablauf. Sowohl die einzelnen Komponenten als auch die Planungs- und Realisierungsphase werden in iterativen Problem-LösungsZyklen durchlaufen, um die Produkt- und Prozessgestaltung von der Ideengenerierung bis zur Systemeinführung Schritt für Schritt zu optimieren. Die prozessübergreifende Integration ist durch definierte Schnittstellen zur Projektprogrammplanung berücksichtigt. Die im Stufenmodell nicht explizit dargestellte Integration verschiedener betrieblicher Funktionen (z.B. F&E, Produktion, Vertrieb/Marketing) wird durch zwei interdependente Aspekte unterstützt: Erstens ist der Entwicklungsprozess nicht auf die Erarbeitung der technisch-konstruktiven Problemlösung beschränkt, sondern er umfasst die Planung aller zur Einführung des neuen Produkts in die Produktion und in den Markt erforderlichen Maßnahmen. Beispielsweise ist die Ausarbeitung eines geeigneten Vertriebs- und Servicekonzeptes für das neue Produkt
Technologie- und marktorientierte Entwicklung von Bionik-Produkten
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integraler Bestandteil des Entwicklungsprozesses. Zweitens setzt dies voraus, dass sowohl die Prozesssteuerung als auch ein Teil der Komponentenentwicklung von interdisziplinären Teams durchgeführt wird. Der gewählte Begriff „Stufenmodell“ verdeutlicht zudem, dass die zur Verkürzung der Entwicklungszeiten angestrebte Parallelisierung der Aktivitäten durch inhaltliche Abhängigkeiten begrenzt ist. Besonders bedeutend für die Produkt- und Prozessentwicklung ist die vorausgehende strategische Planung von Innovationsfeldern mit der integrierten Technologie- und Geschäftsfeldplanung (z.B. mit Hilfe des Darmstädter Portfolioansatzes) sowie eine aggregierte Projektprogrammplanung, die in einem interaktiven Prozess mit der Technologie-, Vor- und Produkt- und Prozessentwicklung die Auswahl und Ressourcenausstattung von Projekten steuert. Auf Basis erster Ideen und Projektentwürfe, also im Anschluss an die Ideengenerierung, gibt eine grobe Projektprogrammplanung die erfolgversprechendsten Technologie-, Vor- und Produkt- und Prozessentwicklungsprojekte zur detaillierten Ausarbeitung frei. Nach Abschluss der Planungsphase, also bei vorliegendem Pflichtenheft, kann dann mit einer detaillierten Projektprogrammplanung die optimale Ressourcenallokation für die F&E-Projekte festgelegt werden, bevor die besonders aufwendige Realisierungsphase entsprechender Projekte beginnt. In den einzelnen Komponenten des Stufenmodells der Produkt- und Prozessentwicklung spielen Demand-Pull- und Technology-Push-ÜberlegRealisierung Systemeinführung
P PP
Systemintegration und Test Komponentenentw. und Test
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Konzeptplanung
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Profilplanung
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Planung
Systementwurf
he en
Setzung operationaler Ziele
P PP
Strategieplanung Setzung visionärer Ziele
Ideengenerierung und -auswahl
Produkt- und Prozeßentwicklung PPP = Schnittstelle zur Projektprogrammplanung
Abb. 8. Stufenmodell der Produkt- und Prozessentwicklung
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ungen mit unterschiedlicher Gewichtung je nach Aufgabenstellung eine zentrale Rolle. Im Einzelnen sind zu den Komponenten des Stufenmodells der Produkt- und Prozessentwicklung folgende Erläuterungen angebracht:
Ideengenerierung und -auswahl: In der Ideengenerierung und -auswahl geht es um Initialideen, die den Anstoß eines Entwicklungsprojekts bewirken. Ausgangspunkt ist die Abgrenzung eines Suchfelds, durch das die Generierung von Produkt- und Prozessideen auf attraktive Markt-, Technologie- oder Geschäftsfelder ausgerichtet wird. Generell können innovative Ideen sowohl durch den eher zweckorientierten Nachfragesog des Kunden (Demand-Pull) als auch durch den eher mittelorientierten Technologieschub der unternehmensinternen Leistungspotenziale (Technology-Push) induziert werden. Die Frage nach einer eindeutigen Präferenz gleicht den Lösungsversuchen der Henne-Ei-Problematik. Denn letztlich entscheidet nicht der Einstieg in den kausalen Zyklus, sondern der Fit von Unternehmensstärken und Marktchancen über den Erfolg der Innovation.
Setzung visionärer Ziele: Die Basis erfolgreicher Innovationsprojekte ist eine überzeugende Vision, die zur Richtschnur des Handelns in den folgenden Schritten der Produktplanung und -realisierung wird. Das Setzen visionärer Ziele dient letztlich der Identifikation des Innovationsteams mit der ihm anvertrauten Aufgabe und bündelt den Grad der Herausforderung in einem Slogan, der als ständige Quelle von Zielorientierung und Motivation das Projekt begleitet.
Strategieplanung: Ziel der Strategieplanung ist es, ein konsistentes Bündel von Produkt- und Prozessstrategien zur Erreichung der visionären Ziele zu entwickeln. Dabei müssen die zentralen strategischen Anforderungen aus den Komponenten des Produktlebens und die strategischen Zielvorstellungen des Unternehmens berücksichtigt werden. Dazu gehören z.B. die Positionierung im Markt, die Marktsegmentierung, die Wettbewerbsstrategien, die Marketing-Mix-Strategien (speziell die Marken-, Preis-, Distributions- und Kommunikationsstrategien), die F&E-Strategie, die Produktions- und Beschaffungsstrategien, die Servicestrategien und die Recyclingstrategien.
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Profilplanung: In der Profilplanung werden die Anforderungen aus dem Produktleben identifiziert und gewichtet. In einem Stärken-Schwächen-Vergleich wird die von externen und internen Kunden empfundene derzeitige Erfüllung der Anforderungen festgestellt. Schließlich werden die Anforderungen in einem Anforderungsprofil, dem sogenannten Lastenheft, zusammengefasst. Der Versuch, alle Kundenanforderungen gleichzeitig zu erfüllen, führt zu enormer Komplexität des Entwicklungsvorhabens mit den entsprechenden negativen Folgen für Kosten und Dauer der Entwicklung. Erfolgversprechender ist die Konzentration auf wenige innovative Elemente in der Lösung ausgewählter, wichtiger Kundenanforderungen. Einfachheit in jeder Beziehung ist ein wichtiger Erfolgsfaktor.
Konzeptplanung: Ausgangspunkt der Konzeptplanung ist das Ergebnis der Profilplanung, das Lastenheft. Dieses enthält eine zumeist noch inkonsistente und oft qualitativ formulierte Sammlung von Anforderungen an Produkt- und Prozesseigenschaften. Das eigene Produkt- und Prozesskonzept ist unvermeidbar durch Kompromisse zwischen den identifizierten Anforderungen, den eigenen Wünschen und dem Wissen über rationalen Technologieeinsatz geprägt. Ziel ist ein konsistentes Produkt- und Prozesskonzept. Durch das begleitende Testen der konzeptionellen Zwischenergebnisse und erster Prototypen im Markt und im Unternehmen wird versucht, den Marktchancen-Unternehmensstärken-Fit zu erreichen, der für Erfolg wichtig ist.
Setzung operationaler Ziele: Nach Verabschiedung des Produkt- und Prozesskonzepts können im Pflichtenheft operationale Ziele für die Realisierung formuliert werden. Im Gegensatz zum Lastenheft handelt es sich beim Pflichtenheft um ein widerspruchsfreies, möglichst quantitativ formuliertes Zielsystem. Gegenstand sind die wesentlichen Eigenschaften des geplanten Produkts und der dazugehörigen Prozesse (z.B. Produktions-, Service- und Recyclingprozesse), sowie die Zielvorgaben für das gesamte Zielsystem der Produkt- und Prozessentwicklung. Nach einer erneuten Einschätzung der Projektattraktivität auf Basis des Pflichtenhefts und des Prototypentests wird im Rahmen der aggregierten Projektprogrammplanung über die Realisierungsfreigabe entschieden und bei positiver Freigabeentscheidung eine detaillierte Leistungs-, Zeitraum- und Kostenplanung für die Realisierung vorgegeben.
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Realisierung: Die folgende Realisierungsphase enthält Aktivitäten der Produkt- und Prozessentwicklung im engeren Sinne, nämlich die Konstruktion des Produkts, die Arbeitsplanung, die Beschaffungsplanung sowie die Markteinführungsplanung, die nicht sequenziell, sondern in iterativen DesignBuild-Test-Zyklen überlappend miteinander verknüpft werden sollten. Dabei werden prinzipiell die Verfahrenschritte Entwurf des Produkt- und Prozesssystems, Komponentenentwicklung und -test, Systemintegration und -test sowie Einführung des Systems in das Unternehmen und in den Markt durchlaufen.
7. Fazit Das Fazit all dieser Überlegungen kann nur lauten: Demand-Pull und Technology-Push gehören zusammen und müssen situationsgerecht zum Einsatz kommen. Dies gilt auch für Bionik-Projekte, die das Ziel verfolgen, neue Lösungsansätze für bisher nicht oder schlecht gelöste Probleme zu finden. Bionik-Forschung wird dann erfolgreich sein, wenn sie erkennen lässt, dass mit den Forschungsresultaten wirtschaftlich erfolgreiche Produkte geschaffen und auf Märkten verkauft werden können. Vor allem jene Forschung, die der Grundlagenforschung und der Technologieentwicklung zuzurechnen ist, braucht einen erheblichen zeitlichen Vorlauf vor der Entwicklung produktions- und vermarktungsreifer Produkte. Typische Fehler in F&E sind der zu späte Einstieg in neue Technologien, die unzureichende Investition in entstehende Technologien, aber auch das zu späte Zurückfahren von F&E-Investitionen bei reifen Technologien. Ohne Systematik mit entsprechendem Methodeneinsatz können derartige Fehler kaum in tolerierbaren Grenzen gehalten werden. Der Einsatz von Planungsmethoden im Innovationsmanagement führt i.d.R. nicht zu den gewünschten außerordentlichen, spektakulären Erfolgen; er trägt allerdings dazu bei, im globalen Innovationswettbewerb überdurchschnittlich erfolgreich abzuschneiden. Zweckmäßig ist es, die Planung und Realisierung von technischen Innovationen als ein Wechselspiel zwischen der Entwicklung relevanter Technologien und der Markt- und Marktumfeldentwicklung aufzufassen. Erfolgreich kann ein Innovationsprojekt nur dann sein, wenn sowohl die bestehenden und potenziellen Bedürfnisse der Kunden erkannt und befriedigt, als auch technologische Trends frühzeitig identifiziert und vorangetrieben werden. Notwendig ist also eine optimale Synchronisation von „Technology-Push“ und „DemandPull“. Beide Orientierungen greifen zu kurz, wenn die Einbettung in die
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Umwelt übersehen wird. Die Orientierung an der Natur in Innovationsprozessen kann uns dabei helfen, Innovationen im Einklang mit der Natur zu schaffen. Letztlich sind es die Menschen in den Unternehmen und in unserer Gesellschaft, die für Richtung und Geschwindigkeit der Entwicklung des Innovationspotenzials und für die Verbreitung von Innovationen in unserer Gesellschaft maßgebend sind. Literatur [1] [2] [3] [4]
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Industriedesign für nachhaltige Produkte, was bringt Bionik? Ulrich Wohlgemuth Fachbereich Gestaltung/Industriedesign, Hochschule Magdeburg-Stendal (FH)
Zusammenfassung Mit der Industrialisierung und der fortschreitenden Arbeitsteilung im 19. Jahrhundert begann die Trennung von Entwurf und Realisierung. Industriedesign befasst sich mit der ganzheitlichen Planung und Gestaltung von Produktqualitäten im Prozess der Entwicklung hinsichtlich der Mensch-Produkt-Beziehungen. Die Anmutung des Produktes ist dabei nur ein Gestaltungsaspekt. Sie soll sinnlich wahrnehmbar Qualitäten und wesentliche Merkmale des Produktes widerspiegeln. Beim Industriedesign erlangt die Optimierung der Mensch-Produkt-Interaktion und der Produkt-Umwelt-Integration zunehmend Bedeutung. Knapper werdende Ressourcen lassen es sinnvoll erscheinen, zunehmend intelligente Produkte und Technologien zu konzipieren, deren Material- und Energiebilanz komplex betrachtet und auf minimalen Verbrauch hin optimiert wird. Ähnlich wie in der Natur sind auf diese Weise technische und biologische Kreisläufen ohne schädliche Nebenwirkungen zu organisieren. Bionik ist ein probates Werkzeug, mit dem Prozesse und Lösungen der Natur in technische Anwendungen transformiert werden können. Bionik-Design ist damit mehr als der Transfer von Anmutungen und die Anwendung von Lösungen aus der bionischen Forschung. Es geht um komplexe Prozess- und Produktplanung für nachhaltiges Wirtschaften.
1. Gestaltung/Industriedesign Der Fachbereich Gestaltung/Industriedesign wurde 1996 an der Fachhochschule gegründet. Die innovativen Grundideen der renommierten Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in Magdeburg, die 170 Jahre existierte und 1963 zwangsweise geschlossen wurde, ließen sich so auf neue Weise aufnehmen und weiterentwickeln. Entsprechend der Maschinenbautradition am Standort Magdeburg gibt es eine besondere Orientierung hin zu den ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen.
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Generell hat Design die Aufgabe zu Problemlösungen beizutragen. Die Lösungen können in der Physis des Produktes, der Interaktionsstruktur oder im Service liegen. Beginnend mit dem Wintersemester 2004/05 findet die Umstellung der Lehre vom bisherigen Diplomstudiengang „Industriedesign” auf Bachelorund Masterstudium statt. Nach sechs Semestern kann der B.A. „Industrial Design” und nach 4 Semestern der M.A. „Interaction Design” erworben werden. Ab Wintersemester 2005/06 gibt es ein weiteres Masterangebot, den M.A. „Sustainable Design”. Insbesondere das letztgenannte Masterangebot beinhaltet die Aspekte des Industriedesigns im Hinblick auf nachhaltiges Wirtschaften. Dabei spielen Besonderheiten langlebiger Produkte wie zum Beispiel Investitionsgüter genauso eine Rolle wie Bionik als Werkzeug für die Entwicklung nachhaltig besserer Produkte. Ungefähr 210 Studienplätze stehen insgesamt zur Verfügung. Ende des Jahres 2005 ist eine Umstrukturierung der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) abgeschlossen, bei der sich die Fachbereiche Maschinenbau/Technische Betriebswirtschaft, Elektrotechnik und Gestaltung/Industriedesign zu einem Großfachbereich „Ingenieurwesen und Industriedesign” zusammenschließen. Die synergetische Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen, die dann als Institute weiter bestehen, lässt sich damit deutlich verbessern. Arbeitsfelder bleiben die Bereiche InterfaceDesign, Investitionsgüter-Design und Gebrauchsgüter-Design. Der Campus der Hochschule liegt nördlich des Geländes der Bundesgartenschau von 1999. Im Zuge der Renaturierung wurde hier das ehemalige
Abb. 1. Impressionen, Hochschule Magdeburg-Stendal
Militärgelände in einen Elbauenpark verwandelt und die Hausmülldeponie des Großen Cracauer Anger versiegelt und begrünt. In dieser Deponie lagern ca. 10 Millionen Kubikmeter Müll, die sich in 50 Jahren angesammelt
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haben, ein künstlicher Berg von 44 ha Fläche und 50 m Höhe. Im Bau befindlich ist ein Müllheizkraftwerk, dessen jährliche Verbrennungskapazität bis 2006 auf 600.000 Tonnen Müll gesteigert werden soll. Hintergrund für die Planungen sind gesetzliche Vorschriften, nach denen ab Mitte 2005 der Abfall nicht mehr auf Deponien „entsorgt” werden soll. Die unmittelbare Nachbarschaft zu solchen Relikten unserer Zivilisation ist auch eine Aufforderung an Industriedesigner, über intelligente Alternativen des Wirtschaftens nachzudenken. Gestaltung/Industriedesign an der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) konzentriert sich auf folgende Schwerpunkte, die: Gestaltung von − öko-effektiven Wirtschaftsprozessen − Nutzungsszenarien Mensch-Produkt-Umfeld − physischen und virtuellen Produkten und sieht Industriedesign − als ganzheitlich nachhaltige Optimierungsaufgabe − für komplexe intelligente Industrieprodukte − in simultaner Entwicklung von Hard- und Software Die Einbeziehung von Bionik in die Lehre erfolgt im Grundstudium durch die allgemeine Gestaltungslehre mit Strukturübungen, morphologischen Übungen, Farb- und Formenlehre, Semantik, Material- und Technologielehre, Lösungs- und Anmutungstransfer. Im Hauptstudium spielen die transdisziplinäre Projektarbeit mit Partnern aus der Industrie und anderen Lehr- und Forschungseinrichtungen, evolutionäre Entwurfsprozesse sowie die Optimierung für nachhaltige Produkte eine wesentliche Rolle. Durch Kooperationen mit Lehr- und Forschungseinrichtungen in Magdeburg wie Otto-von-Guericke-Universität (Experimentelle Fabrik), Fraunhofer Institut Fabrikbetrieb und –automatisierung (IFF), MaxPlanck-Institut für komplexe technische Systeme, ÖHMI Aktiengesellschaft lassen sich vielfältige transdisziplinäre Vernetzungen entsprechend den jeweiligen Problemstellungen herstellen und optimale Lösungen durch die Bündelung von Kompetenzen entwickeln. Studierende können Methoden solcher Teamarbeit und Problemlösungsstrategien kennen lernen. Ergebnisse kooperativen Wirkens liegen vor und können illustrieren, was gemeint ist. So gibt es verschiedene Designstudien zu Reinigungsrobotern, die mit IFF Fraunhofer Institut Fabrikbetrieb und -automatisierung, Abteilung Robotersysteme zusammen entwickelt wurden.
Beispiel 1: AG-Bank Berlin, Architekt Frank O. Gehry
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Problem: Automatische Innenreinigung der sphärisch gewölbten Glaskuppel, ohne Eingriffe in den Baukörper und ohne Aufstellmöglichkeiten am Boden. Designstudie: „Reinigungsroboter”, Diplom 2000, Holger Siegfried Betreuung: Prof. U. Wohlgemuth (FH) und Dr. tech. Norbert Elkmann (IFF).
Abb. 2. „Reinigunsgroboter“, Studie H. Siegfried
Die Lösung für die Problemstellung ist ein Luftschiff mit Reinigungsroboter. Es agiert in Kombination mit Führungsseil und Versorgungsschlitten im Innenraum des Gebäudes. Der Reinigungsroboter am „Kopf des Trägerfisches” hat einen Haupt- und zwei Schreitfüße sowie den frei beweglichen Reinigungskopf. Die Füße sind mit Saugnäpfen zur Arretierung und Feinpositionierung ausgestattet. Der Architekt Frank O. Gehry hat besondere Affinitäten zu Fischen. In Reminiszenz zum Architekten des Gebäudes und mit dem Ziel der technischen Konzeptlösung eine interessante, positive Anmutung zu verleihen, ist das Luftschiff als Fisch gestaltet worden, Vorbild war der Anemonenfisch. In der Farbigkeit weiß-orange passt er zum Corporate Design der DG-Bank. Das Wesen der technischen Lösung besteht im Konzept des „Flugroboters”, das Wesen der gestalterischen Lösung im intelligenten Anmutungstransfer ohne platte Naturkopie. Die kooperative, simultane Entwicklung von technischen und gestalterischen Konzepten mit verschiedenen intelligenten Anleihen bei der Natur haben eine überzeugende Gesamtlösung geschaffen, deren Realisierung noch aussteht.
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Beispiel 2: Automatische Außenreinigung vertikaler Glasflächen an Hochhäusern Designstudie: „Reinigungsroboter SIRIUS”, Diplom 2002, Dipl.Des.(FH) Susanne Scharf Betreuung: Prof. U. Wohlgemuth (FH) und Dr. tech. Norbert Elkmann (IFF).
Abb. 3. „Reinigungsroboter Sirius“, Studie S. Scharf
Der Roboter wird mittels Tragseilen gehalten. Das Robotermodul mit Reinigungskopf kann sich unter einem Kuppelsegment mit 3 Saugnäpfen drehen. Dadurch ist der Reinigungsvorgang in allen Richtungen möglich. Sich bei Sonne ausfächernde Solarpaneele gewinnen Zusatzenergie und bieten eine interessante, blütengleiche Anmutung an der Fassade.
2. Nachhaltiges Wirtschaften Wirtschaftlich führende Industrienationen haben einen hohen Pro-KopfVerbrauch an Energie und Rohstoffen. Die Kosten für menschliche Arbeitskraft sind in Relation zu den Kosten natürlicher Ressourcen gegenwärtig vergleichsweise hoch. Alle Handlungsstrategien sind auf Wachstum angelegt. Diese Strategien in Verbindung mit Raubbau und beschleunigter Wegwerfmentalität ohne ausreichend intelligente Kreislaufszenarien für technische und biologische Stoffe, können die menschlichen Lebensgrundlagen auf Dauer gefährden. Design ist als komplexe Optimierungsaufgabe in diese Entwicklungen einbezogen. Ökonomische Kriterien spielen für
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Hersteller die dominierende Rolle, weil das wirtschaftliche Überleben des Unternehmens davon abhängt. Industriedesign bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den wirtschaftlichen Interessen von Produzenten, den Nutzererwartungen und der gesellschaftlichen Verantwortung für nachhaltig schadensfreie Entwicklungen. Menschen haben vielfältige, sich ständig ändernde Bedürfnisse; diese können mitunter sehr widersprüchlich sein. Dazu gehört die Lust auf Abenteuer wie der Drang nach Sicherheit, der Wunsch nach Veränderung wie der nach Beständigkeit, der Anspruch auf Individualität wie der auf Gruppenzugehörigkeit bzw. -identität usw. Dabei ist unumstritten, dass erfüllte Bedürfnisse wieder neue schaffen. Ständige Bewegung, Veränderung, Entwicklung sind natürliche Lebensmerkmale. In einer demokratischen Wissensgesellschaft sollte es möglich sein, für die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse auch individuelle angepasste Angebote machen zu können, die ohne schädliche Nebenwirkungen für das Gemeinwesen sind. Dabei geht es nicht um die Beeinflussung menschlicher Verhaltensweisen sondern um das Respektieren vorhandener Bedürfnisse und um die Gestaltung intelligent produzierter und perfekt funktionierender Produkte. Das Verhältnis der Bereiche Mensch, Natur, Technik und Ökonomie ist in Reflexion der Ist-Situation und hinsichtlich der gewünschten Zieldefinition in den folgenden Grafiken stark abstrahiert dargestellt. Die Grafiken sind nach Dr. Rudolf Bannasch (Berlin) frei adaptiert und modifiziert. Abb. 4. Isolierte Betrachtung von Aktionsfeldern ist die Situation vieler Fachleute heute. Arbeitsteilung macht grenzüberschreitendes Denken und Handeln schwierig. Die Wechselwirkungen der Bereiche sind bekannt aber schwer zu berücksichtigen. „Sachzwänge” verhindern Optimierungsstrategien im größeren Zusammenhang. „Alles muss billig sein”. Abb. 5. Kooperative Betrachtung von Aktionsfeldern ist die Aufgabe von Designern und Bionikern heute. Stark gegliederte Arbeitsteilungen in Planungs- und Realisierungsprozessen brauchen Generalisten, die komplexe Optima der Mensch-ProduktUmwelt-Beziehung ermitteln. Wo nicht alle Kriterien objektiv ökonomisch wertbar sind, muss Intuition und Verantwortung an die Stelle treten. Anschaulich überzeugende Produktpräsentation kann helfen, solche Lösungen zu präferieren.
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Abb. 6. Integrative Betrachtung von Aktionsfeldern: 1. Verständnis vom Menschen als einem Wesen der Natur und in die Wirkung von Naturgesetzen zwingend eingebunden. „Beherrschung der Natur ist Illusion”. 2. Technik und Ökonomie als willkürlich gesetzte Aktionsfelder des Menschen. Diese können auch gezielt verändert werden, um ökonomische Kriterien für die Ermittlung komplexere Optima wirksam zu machen. Abb. 7. Ganzheitliche Betrachtung von Aktionsfeldern, bei der die Natur als umfassendes Vorbild für nachhaltig, schadensfreie Entwicklungen dient. Handlungsstrategien, die eine langfristige Existenzsicherung der Spezies Mensch über viele Generationen hinweg gewährleisten. Erkenntnis und Übertragung von „Patentlösungen” der Natur in technische, ökologische, und wechselseitig symbiotische Prozesse. Geschlossene Kreislaufszenarien für technische und biologische Stoffe und die vorrangige Nutzung erneuerbarer Energien. So kann auch Überfluss und Verschwendung produktiv werden
3. Industriedesign ist komplexe Optimierung Das Ziel heutiger Designtätigkeit besteht in der Mensch-TechnikOptimierung bei Beachtung des Aufwand-Nutzen-Verhältnisses innerhalb eines gegebenen Umfeldes. Dieser Prozess besteht aus einer Fülle von Kriterien, die sich vielfach objektiven Bewertungen entziehen. Bei komplexen Industrieprodukten ist erfolgreiches Wirken Teamarbeit. Solche Produkte werden zunehmend auch mit „technischer Intelligenz” ausgestattet. Designer sind als Generalisten mit Katalysatorfunktion tätig. Ihre Aufgabe besteht darin, Nutzungsszenarien zu untersuchen, offensiv Visionen für verbesserte Szenarien zu entwickeln und daraus geeignete Produktentwicklungen abzuleiten. Sie sind häufig im Auftrag des Herstellers als Anwälte künftiger Nutzer tätig. Ihr Job ist eher Fremd- als Selbstverwirklichung. Nutzer erwarten in erster Linie Problemlösungen, mitunter für Probleme, die ihnen noch nicht bewusst sind. Lösungsfelder können dabei in Hardware, Software oder im Service liegen. Dennoch ist das Produkt der Star, der sinnlich erfahrbare Kompetenzausweis eines Herstellers bzw. das imageträchtige Objekt des Benutzers.
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Die Aufgabe von Designern besteht darin, Produktentwicklungen zu initiieren bzw. zu beeinflussen, damit möglichst ganzheitlich optimale Industrieprodukte entstehen. Hier ist die Natur Vorbild, die über langwierige evolutionäre Entwicklungen eine Vielfalt komplex optimierter Lebensformen hervorgebracht hat. Bio-Diversität und Symbiosen können auch für das agieren im Wirtschaftsleben Beispiel geben. Im Industriedesign sind zwei Betrachtungsrichtungen zunehmend von Bedeutung: 1. Mensch-Produkt-Interaktion 2. Produkt-Umwelt-Integration
Mensch-Produkt-Interaktion: Hier geht es um die Optimierung der Benutzungsprozesse von Mensch und Produkt, damit die komplexen technischen Möglichkeiten sicher und möglichst intuitiv nutzbar sind. Dazu werden bekannte Nutzungsszenarien analysiert, neue bessere entwickelt und praktisch überprüft. Eine integrierte Entwicklung des physischen Produktes und des logischen, einfachen Interface ist der geeignete Weg diese Interaktion zu optimieren. Es findet ein permanenter iterativer Prozess statt, weil sich auf der einen Seite die technischen Möglichkeiten rasant entwickeln und auf der anderen Seite die Bedürfnisse der Menschen sich ständig verändern.
Produkt-Umwelt-Integration: Lineares Wirtschaften, das sich über einen Prozess von der Gewinnung über den Einsatz zur Entsorgung von Ressourcen definiert, ist nicht zukunftstauglich. Entsorgung bei dem der Schwerpunkt auf Mülldeponierung bzw. -verbrennung liegt kann zwar privaten Gewinn schaffen, erhöht jedoch das gesellschaftliche Risiko. Die vorhandenen nicht nachwachsenden Ressourcen nehmen beständig ab und viele daraus gewonnene Wertstoffe werden in folgenden Prozessstufen entweder stark in ihrer Qualität abgemindert (downgecycelt) oder aus dem Prozess genommen, auf Deponien verbracht oder in Verbrennungsanlagen vernichtet. Die Weltbevölkerung, die 1960 bei ca. 3 Mrd. lag ist bis 1999 auf ca. 6 Mrd. gewachsen und wird vermutlich 2025 bei 8 Mrd. liegen. Das durchschnittliche Abfallaufkommen in Deutschland beträgt ca. 4t pro Person und Jahr. Wenn ein akzeptabler Lebensstandard für breite Bevölkerungsschichten erreicht bzw. erhalten werden soll, ist es dringend erforderlich, die „Entsorgung” von Ressourcen durch ein konsequentes Recycling zu er-
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setzen und Stoffe, die bisher als Abfall definiert waren, als Rohstoffe zu begreifen. Mit einer solchen Philosophie ist es konsequent und sinnvoll, Prozessrohstoffe zu entwickeln bzw. einzusetzen, die so hochwertig wie möglich sind, damit die Rückführung in den Wirtschaftskreislauf ohne Qualitätseinbußen möglich ist. Wenn man so will, ist Gold das Beispiel für ein Material, mit dem das schon seit Jahrtausenden auf ähnliche Weise funktioniert. Kombiniert man diese Überlegung mit einer Vermarktungsstrategie, die den Verkauf des Produktnutzens vor den Verkauf des Produktes selbst stellt, besteht auch beim Hersteller größeres wirtschaftliches Interesse, möglichst hochwertige Prozessrohstoffe einzusetzen und deren Widerverwertbarkeit zu konzipieren. Damit bleibt der Hersteller in der Verantwortung für den Produktnutzen und im ständigen Kontakt mit dem Kunden. Auf Basis solcher Dienstleistungs- bzw. Leasingmodelle mit Rückgabegarantie kann privater und gesellschaftlicher Gewinn synchronisiert werden und eine neue Art von Wirtschaftsdynamik mit intelligenter Wachstumsstrategie ist möglich. „Design basiert auf dem Versuch, menschliche Bedürfnisse in einem sich entwickelnden technischen und kulturellen Kontext zu erfüllen. Wir beginnen damit, indem wir die Positivliste aktiv auf bestehende Dinge anwenden, dann auf Dinge, die sich nur allmählich abzeichnen oder noch nie gedacht worden sind. Wenn wir das Beste zu erreichen suchen, öffnen wir unsere Fantasie radikal neuen Möglichkeiten. Wir fragen: Wie sehen die Bedürfnisse des Kunden aus, wie entwickelt sich die Kultur und wie können diese Ziele durch ansprechende und neue Arten von Produkten oder Dienstleistungen erreicht werden?“ Michael Braungart
Eine moderne auf Nachhaltigkeit bedachte Industriegesellschaft hat die Existenzsicherung über Generationen zum Ziel. Der Weg dazu könnte wie folgt aussehen: − Nachwachsende Rohstoffe in geringerem Umfang nutzen als deren Regeneration. − Sich erschöpfende Rohstoffe in Wirtschaftskreisläufen halten oder zurückführen. − Schadstoff-Emissionen kleiner halten als Schadstoff-Absorption. − Exponentielles Wachstum stoppen, qualitatives fördern.
4. Designqualität, was ist das? Gestaltung im Mensch-Produkt-Kontext ist vorrangig Problemlösung und dann Formfindung. „Form follows function” ist somit nach wie vor ein tauglicher Slogan, sofern mit „function” alle Aspekte einer komplexen Op-
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timierung gemeint sind und „Form follows” nicht als Abfolge oder Hierarchie in einem arbeitsteiligen Prozess missverstanden wird. Zu designrelevanten Funktionen gehören zum Beispiel: technische F. Mechanik (Dynamik, Kinematik) Sicherheit (Funktions-, Arbeits-, Prozesssicherheit) Realisierbar in Material, Technik und Technologie ergonomische F. Handhabung (Herstellung, Nutzung, Wartung) Wahrnehmung (Sinnfälligkeit, Wahrhaftigkeit) Stimulanz (Identifikation, keine Ermüdung oder Irritation) kommunikative F. Informationsaustausch Mensch-Produkt-Umwelt Gliederung, Ordnung (Über-, Unter-, Anordnung) Anmutung (Gestaltungsqualität, Zeichenhaftigkeit) ökonomische F. Nützlichkeit (für Individuum und Gesellschaft) Preis-Leistungsverhältnis, Gewinnerwirtschaftung optimale Lebensdauer (ästhetisch wie physisch) ökologische F. ressourcenschonend (Rohstoffe und Energie) schadstofffrei bei entstehen, bestehen und vergehen nachhaltig einbezogen in Stoffkreisläufe. Die Gestalterscheinung eines Produktes (ob gut oder schlecht) ist immer der wahrnehmbare Ausdruck seiner Entstehung unter bestimmten Umständen. Ob das Wahrgenommene positiv oder negativ bewertet wird, ist subjektiv und abhängig von Kenntnissen, Erfahrungen, der Erziehung, dem kulturellen Umfeld usw. Was man als ästhetisches bzw. schönes Produkt empfindet, ist zu einem gewissen Teil an objektive Kriterien, wie die Zweckmäßigkeit gebunden. Es bleibt jedoch ein subjektiver Faktor, wie die Anmutung übrig. Im Industriedesign lässt sich mit dem Begriff „Schönheit” wenig anfangen. Die mehr oder minder gute Gestaltung ist als Bewertung tauglicher. In Flora und Fauna hat man es im Ergebnis der Evolution mit gelungenen Gestaltungslösungen zu tun. Design soll Zweckmäßigkeit und geeignete Anmutung im Sinne menschlicher Bedürfnisse zusammenführen.
These: Ein Produkt ist perfekt gestaltet, wenn die Optimierung auf minimalen Material- und Energieeinsatz bei Funktionserfüllung in einem bestimmten Umfeld zielte. Somit kann die gestalterische Qualität als Kontrollinstrument für gelungene Optimierung gelten.
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Abb. 8. Die Spinne ist Ergebnis eines gelungenen natürlichen Gestaltungsprozesses, mithin „perfekt gestaltet”, wird jedoch von Vielen nicht als „schön” wahrgenommen. Abb. 9. Die im Bild gezeigte AudioAnlage kann durchaus als „schön” gelten, ist jedoch schlecht gestaltet, weil für bestimmte Nutzergruppen, hier ältere Menschen, die kommunikative Funktion einer problemlosen, intuitiven Mensch-Produkt-Interaktion nicht erfüllt ist. Durch Improvisation mittels aufgeklebter Etiketten, konnte die Bedienung ermöglicht werden. Das Produkt ist schlechtes Industriedesign.
Natur ist Ergebnis langwieriger, gelungener Optimierungen: Evolution ist Quelle technischer, gestalterischer, methodischer Ideen: Bionik ist Beweis für Koexistenz und Synergie vieler Optima: Artenvielfalt Ästhetik Lebensfunktion ist Ergebnis perfekter Funktionserfüllung: ist Ausdruck eines Spannungszustandes: Festigkeit ist subjektabhängig, also nicht objektiv: Wahrnehmung Die Gesamtabflugmasse von Ultraleichtflugzeugen ist begrenzt. Da ein hohes Interesse an maximaler Zuladung, großer Reichweite, an ausreichendem Komfort und hoher Sicherheit besteht, ergibt sich eine interessante Gestaltungsaufgabe, die den Optimierungsprinzipien in der Natur ähnelt. In Zusammenarbeit mit der TU Berlin, Bionik und Evolutionstechnik und der EvoLogics GmbH Berlin wurden Designstudien zu Ultraleichtflugzeugen mit Split-Wing-Loops und Loop-Propellern entwickelt. Eine erste Designstudie dazu war das Ultraleichtflugzeug „Delta Loop” von Mike Höllerich und Frauke Kielblock aus dem Jahr 2000, gestalterisch betreut von Ulrich Wohlgemuth und Willo Stoll. Neben dem Transfer der „Patentlösungen” aus der Natur ist durch die Gestaltung auch ein Anmu-
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Abb. 10. Ultraleichtflugzeug „Delta-Loop“
tungstransfer gelungen, der die Eleganz des Vogelfluges in dieses technische Fluggerät überträgt. Vergleicht man die Produktentwicklung der klassischen Konstruktionsmethodik mit den Entwicklungsprinzipien in der Natur ist ein wichtiger Unterschied sichtbar, der sich vereinfacht wie folgt darstellt: Der konstruktive Ansatz besteht in technischer Addition von Strukturele-menten mit Optimierung der Haupt- und Anpassung der Nebenfunktionen. Hauptziel ist: Optimales Preis-Leistungs-Verhältnis Der bionische Ansatz besteht in der Integration von Strukturelementen mit ganzheitlicher Optimierung (Material und Energie) des Systems sowie der Möglichkeit von Wachstum und Anpassung. Hauptziel ist: Optimales Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Die Aufgabe von Industriedesignern ist es, ähnlich wie im dem bionischen Ansatz formuliert, möglichst ganzheitliche Optimierungen zu erreichen. Zehn Kriterien für gut gestaltete Industrieprodukte könnte man hierarchisch geordnet für die Bewertung der Designqualität zugrunde legen: 1. Nützlichkeit hohe Gebrauchstauglichkeit, einwandfreie Funktion 2. Sicherheit keine Verletzungsgefahren, Gebrauchsvisualisierung 3. Erschwernisfreiheit ergonomisch optimiert, ermüdungsfrei, stimulierend 4. Optimale Lebensdauer die gleiche moralische wie
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physische Haltbarkeit ressourcenschonend und schadstofffrei, recycelbar 6. Eigenständigkeit Innovation, kein technisch und gestalterisches Plagiat 7. Koexistenzfähigkeit angemessene Gestaltung in Bezug zum Einsatzbereich 8. Zeichenhaftigkeit sinnvolle Ordnung und ausreichender Informationsgehalt 9. Gestaltqualität Formwahrheit, -schlichtheit, Formprägnanz, -konsequenz 10. Sympathiewert Identifikationsmöglichkeit des Nutzers mit dem Produkt Klassischer Weise kann man zwischen individuell gefertigten, an einen speziellen Nutzer angepassten Produkten und industriell gefertigten Produkten für breite Käuferschichten unterscheiden. Die Grenzen zwischen den Bereichen sind fließend Industriedesign hat die Gestaltung industriell gefertigter Produkte zum Ziel. Diese können angepasste Speziallösungen, Klein- und Mittel- und Großserien sein. Die Welt der Produkte kann im Bezug des Verhältnisses von Produzent und Nutzer wie folgt stark vereinfacht dargestellt werden: − Handwerk: speziell angepasste Produkte (individuelle Nutzer) − Manufaktur: effektiv gefertigte Produkte (anonyme Nutzer) − Industrie: hocheffektive, automatisierte Fertigung (anonyme Nutzer), flexibel automatisierte Fertigung (individuelle Nutzer) Tendenz: Hocheffektive, automatisierte Fertigung für sich differenzierende Nutzerbedürfnisse. Verkauf des Produktnutzens und weniger des Erzeugnisses selbst. Dennoch bleibt das Produkt der „Star”. Über das gut gestaltete Produkt können sinnlich wahrnehmbar Produktqualitäten vermittelt werden. 5. Umweltverträglichkeit
5. Produktbeispiele mit bionischem Aspekt
Designstudie Ackerschlepper Designstudie 2002 von Martin Liedecke und Matthias Bertram, betreut durch Prof. Carola Zwick (Interface) und Prof. U. Wohlgemuth (Physis).
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Abb. 11. Ackerschlepper
Der wendige autonome Ackerschlepper mit Feldspritze macht Präzisionslandwirtschaft möglich. Während des Arbeitsprozesses wird der Nährstoffbedarf der Pflanzen punktgenau ermittelt und durch präzis dosierte Düngemittelausbringung ausgeglichen. Ein intuitiv benutzbares Interface ermöglicht die Kontrolle des Prozesses durch den Landwirt. Es besteht die Möglichkeit einer virtuellen Flurbereinigung zum effektiven und ökologischen Bewirtschaften mehrerer kleiner Flurstücke durch unterschiedliche Feldeigentümer.
Designstudie „TEMEDA” Telemedizinisches Gerät Diplom 2002, Dipl.-Des. (FH) Georg Frenzel „TEMEDA” ist ein Gerät für den telemedizinischen Einsatz unter den beengten Platzverhältnissen eines Passagierflugzeugs. Es übernimmt Aufgaben der Notfallversorgung und des Monitoring. Die Bedienphilosophie ist auf einen geschulten Laien zugeschnitten. Abb. 12. Designstudie „TEMEDA“
Industriedesign für nachhaltige Produkte, was bringt Bionik?
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Der Einsatz ermöglicht es dem Helfer an Bord, unter Anleitung eines Arztes am Boden zu arbeiten. Haupteingabemedium ist ein Touchscreen mit intuitivem grafischen Interface. Das Gerät bietet einem direkt vor Ort anwesenden Arzt die Option, in einen „Professional Mode“ zu schalten und so das Anwendungsspektrum zu erweitern. Die Handhabung einzelner Module ist vereinheitlicht, jedes Modul kann an beliebiger Stelle in das Gerät eingesetzt werden; das Interface passt sich an. Die Hard- und Softwareentwicklung des Gerätes erfolgte parallel. Zwei adaptiv wirkende Halteelemente nach dem FinRay-Prinzip (bionisches Prinzip der Fischflosse) ermöglichen die Befestigung an der Rückenlehne des Vordersitzes.
Designstudie „CNC-Bearbeitungszentrum” Diplom 2002: Dipl.-Des. (FH) René Schwarze. Das CNC-Fräsbearbei-tungszentrum ist für die Vor- und Fertigbearbeitung von Aluminium-Gussteilen konzipiert.
Abb. 13. CNC-Bearbeitungzentrum
Ziel der Gestaltungsarbeit war es, das Ursprungskonzept effektiver, Platz sparender und kostengünstiger zu gestalten. Durch ganzheitliche Betrachtung der Fertigungsprozesskette und die Variantenbewertung verschiedener technisch/technologischer Möglichkeiten konnte eine optimale
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Ulrich Wohlgemuth
Lösung gefunden werden, bei der der Platzbedarf nur noch ein Drittel des Ursprungskonzeptes beträgt. Gleichzeitig ist Bedienung, Sicht und Zugänglichkeit für den Bediener erheblich verbessert. Die Maschine ist als Leasingprodukt gedacht. Wenn die Arbeitsaufgabe beim Kunden erledigt ist, nimmt der Hersteller sie wieder zurück und kann die einzelnen Maschinenkomponenten für neue Bearbeitungsaufgaben und neue Kunden konfigurieren. Recycling der Bauelemente ist problemlos möglich. Die erhebliche Reduzierung des Materialeinsatzes, die Langlebigkeit und problemlose Rückführung der Materialien in den Wirtschaftskreislauf machen das Bearbeitungszentrum zu einem nachhaltigen Industrieprodukt.
6. Gibt es Bionik-Design-Produkte? Nein, gibt es nicht! Bionik ist ein sehr taugliches Werkzeug, um Produkte für nachhaltiges Wirtschaften zu entwickeln. Ein Versuch, klar zu definieren, was Bionik-Design-Produkte sind, ist zum Scheitern verurteilt. Ein Erzeugnis mit Lotus-Oberfläche wird dadurch nicht zum „bionisches Produkt”, genauso wenig wie eines, bei dem der Festigkeitsnachweise nach Berechungsmethoden von Claus Mattheck geführt wurde. Dennoch soll der Versuch unternommen werden Kriterien aufzustellen. Sie können eventuell als Orientierungshilfe dienen. Und doch: Sieben Kriterien für BIONIK-Design: 1. Optimierung für min. Material- + Energieeinsatz 2. Optimierung für ganzheitlich bessere Produkte 3. Nachhaltig schadstofffreies Produktleben 4. Transfer von Lösungen aus der belebten Materie 5. Transfer von Anmutungen aus der Natur 6. Wahrhaftigkeit in Form und Funktion 7. Materialien/Strukturen für Reinkarnation Literatur [1] Braungart M, McDonought W (2003) Einfach intelligent produzieren. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin [2] Lampugnani VM (2000) Die Modernität des Dauerhaften. Fischer Taschenbuch Verlag [3] Steinmeier I (1998) Industriedesign als Innovationsfaktor für Investitionsgüter. Verlag form GmbH [4] Nachtigall W (1997) Vorbild Natur Bionik-Design für funktionelles Gestalten. Springer, Heidelberg [5] Nachtigall W, Blüchel KG (2001) Das große Buch der Bionik. DVA, Stuttgart
1. Bionik
1.3. Didaktik und Methodik der Bionik Lectus CV – „Bionik trifft Adaptive Ergonomie“ (M. BREITENFELD, A. ULRICH) ................................................ 285 Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre (P. EULER)............................................................................... 291 Naturorientierte Innovationsstrategie – Entwickeln und Konstruieren nach biologischen Vorbildern (B. HILL) ................................................................................. 313 Die Untersuchung des Lokomotionsapparates von Fischen mit der ‚Transduktions-Methode’: Konstruktions-Biologie und Biomechanische Konstruktion technischer Apparate (B. KÖHLER)............................................................................ 323 "Biomechanical Animal Design" – ein neues PraktikumsModell (B. KÖHLER, D. SCHMIDT, W. KILKOWSKI, M. ZEUCH, T. ROSSMANN)......................................................................... 337
Lectus CV – „Bionik trifft Adaptive Ergonomie“ Matthias Breitenfeld, Aike Ulrich Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Maschinenbaustudenten entwickelten in einem Studentenprojekt den Liegestuhl „Lectus CV“ nach folgenden Visionen: 1. individuelle Körperformanpassung; 2. revolutionärer Liegekomfort; 3. innovatives Gestelldesign; 4. Flexibilität für gehandicapte Menschen. Das bionische Vorbild des Stuhles ist die menschliche Wirbelsäule. Wie das menschliche Gegenstück besitzt die Liege Wirbelkörper um die Rückenlehne einzustellen. Das Problem der Höhenverstellung der Sitzfläche wird durch zusammenziehbare Rippen gelöst. Ein weiterer wichtiger Teil des Stuhles ist die Matratze. Sie ist denen ähnlich konstruiert, welche im Rettungsdienst für den schonenden Transport und die Rettung von Patienten eingesetzt werden. Dabei spielt die Füllung aus Schaumstoffkügelchen die tragende Rolle.
Abstract Mechanical engineering students create a new deck chair, “Lectus CV”, within a student project. The vision was as follows: 1. individual adaptation to the human body, 2. revolutionary comfort, 3. characteristic design of the chair’s rack, 4. flexibility for handicapped people. The bionic model of the chair is the human spine. Like its human counterpart the spine uses vertebrae to fit different positions of the backrest. The problem of lifting and lowering the seat was solved with the help of contractible ribs. Another important part of the chair is the mattress. It is constructed similar to ambulance mattresses which are used to transport and rescue patients. The most important component is foam balls inside the mattress.
1. Eine Vision Unter dem Motto „Bionik trifft adaptive Ergonomie“ entstand Ende 2003 in einer Gruppe von neun Maschinenbaustudenten das Konzept für einen einzigartigen Liegestuhl, den Lectus CV. Dabei sollte der Liegestuhl folgende, von uns vorgegebene Eigenschaften besitzen: individuelle Körperformanpassung, revolutionärer Liegekomfort innovatives Gestelldesign, Flexibilität für gehandicapte Menschen.
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Matthias Breitenfeld, Aike Ulrich
2. Das Konzept
2.1. Technik des Gestells
Spangen / Rippen Wirbelsäule
Abb. 1. Gesamtansicht.
Abb. 2 Gestell
Der Name „Lectus Collumnae Vertebralis“ [dt. Liege Wirbelsäule] deutet schon darauf hin, dass der bionische Aspekt der Liege die menschliche Wirbelsäule ist. Deren Nachbau stellt den tragenden Kern der Liege dar, d.h. von ihr gehen vier Füße aus, die für einen festen Stand sorgen sowie die Rippen als Träger der Matratze. Außerdem basieren auf der Wirbelsäule mit den Rippen die gesamten Verstellmöglichkeiten des Gestells. Aufgebaut ist die „Wirbelsäule“ ähnlich der des Menschen. Sie besteht aus zahlreichen Wirbelkörpern, die zumindest im Bereich zwischen Rückenlehne und Sitzfläche sowie zwischen Sitzfläche und Fußstütze beweglich zueinander gelagert sind. Durch ein in der „Wirbelsäule“ integriertes Zugsystem wird die Neigung der Wirbel zueinander verändert und somit die Krümmung der „Wirbelsäule“, was eine stufenlose Neigung von Rückenlehne und Fußteil zwischen 0° – 75° ermöglicht. Abb. 3. Funktionsansicht Wirbelsäule
Das Zugsystem für das Verstellen der Wirbelkörper wird durch eine Hydraulik betätigt, die über die Fernbedienung des Stuhls angesteuert wird. Die Wirbelkörper im Bereich von Rückenlehne, Sitzfläche und Fußteil
Lectus CV – „Bionik trifft Adaptive Ergonomie“
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sind ebenfalls voll ausgeprägt, jedoch gegeneinander versteift, so dass der Stuhl in diesen Bereichen stabil ist. Von den Wirbeln aus gehen über die gesamte Liegefläche regelmäßig verteilt Rippen (Abb. 2 und 4) Richtung Matratze. Sie enden an Spangen, die über die Breite der Matratze gespannt sind und somit die Verbindung zwischen Gestell und Matratze bilden. Abb. 4. Funktionsweise Rippen Spange Hydraulikzylinder Rippe
Eine Ausnahme stellt dabei der Bereich unter der Sitzfläche dar. Die Spangen sind hier verschiebbar auf den Rippen gelagert. An den Spangen ist der obere Teil der in diesem Bereich horizontal geteilten „Wirbelsäule“ befestigt. Dieser bildet die Verbindung zur „Wirbelsäule“ in Rückenlehne und Fußteil. Das andere Ende der Rippen ist vertikal beweglich am unteren Teil der Wirbelkörper gelagert, an dem auch die Füße der Liege befestigt sind. Durch einen Hydraulikzylinder, der die gegenüberliegenden Rippen miteinander verbindet, können diese bis zu einem bestimmten Grad zusammengezogen werden. Die Enden der Rippen an den Spangen gleiten dabei aufeinander zu. Diese Veränderung des Winkels zwischen den gegenüberliegenden Rippen führt dazu, dass sich die Spange und somit der an ihr befestigte obere Teil der „Wirbelsäule“ samt Matratze anhebt. Diese ebenfalls über die Fernbedienung steuerbare Funktion ermöglicht es, die Höhe der Liege zu verändern und macht sie somit auch für Menschen attraktiv, die Schwierigkeiten beim Aufstehen bzw. Hinsetzen haben.
2.2. Struktur der Matratze Den zweiten überaus wichtigen Teil des Liegestuhls stellt die Matratze dar, die maßgeblich zur Erfüllung der Zielvorstellung „Adaptive Ergonomie“ beiträgt. Das Grundprinzip der Matratze baut auf der Idee der im Rettungsdienst zum Transport von Patienten allgemein etablierten Vakuummatratze auf. Die Vakuummatratze ist im Grunde eine etwas stabilere Luftmatratze, die mit vielen kleinen Schaumstoffkugeln gefüllt ist. Herrscht in der Matratze ein Überdruck, spielen diese keine Rolle und der Effekt der Vakuummatratze entspricht dem einer Luftmatratze. Ist das Ventil der Luftkammer jedoch geöffnet und die Matratze mit einer Person belastet, kann die Luft aus der Kammer entweichen. Dann liegt man im
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Matthias Breitenfeld, Aike Ulrich
Prinzip nur auf den vielen kleinen Schaumstoffkugeln, die sich dann optimal an die individuelle Körperform anpassen und somit sehr komfortables Liegen ermöglichen. Durch Evakuierung von Luft aus der Matratze werden die Schaumstoffkugeln komprimiert und ihre Bewegungsfreiheit zueinander wird eingeschränkt. Die Matratze kann nun unter geringer Kraftaufwendung in eine bestimmte Form modelliert werden, in der sie dann verbleibt. Je nach Größe des aufgebrachten Vakuums kann die Matratze sogar unter dem Gewicht eines Menschen ihre zuvor anmodellierte Form behalten. Man kann mit solchen Vakuummatratzen eine Art Gipsbett erzeugen, das den gesamten Körper eines Menschen immobilisiert. Dies ist natürlich nicht Sinn und Zweck des Lectus CV, sondern vielmehr soll die Weiterentwicklung der Vakuummatratze die drei Funktionen Luftmatratze, weiche Kugelmatratze und harte formgebende Matratze vereinen.
Abb. 5. Matratze.
Abb. 6. Matratzenquerschnitt
Die eigentliche Matratze ist aus acht einzelnen Luftkammern aufgebaut, die alle mit Schaumstoffkugeln gefüllt sind und durch weitere kleine Unterkammern gegen das allzu unkontrollierte Verrutschen der Kugeln gesichert sind. Dabei ist die Rückenlehne so gestaltet, dass sie von der Kammeraufteilung ungefähr der Anatomie des menschlichen Oberkörpers mit einem Rumpfteil in der Mitte, rechts und links jeweils einer Armkammer und einem Kopfteil entspricht. Abgesehen von den zwei Kammern zwischen Rückenlehne und Sitzfläche sowie Fußstütze und Sitzfläche ist in allen Kammern über die Fernbedienung individuell der Innendruck regelbar. Der Benutzer hat folglich die Möglichkeit, die einzelnen Zonen der Matratze nach seinen individuellen Bedürfnissen spontan anzupassen. Somit könnte man zum Beispiel auf weichen Kopf- und Rückenkammern liegen und sich mit den beiden Seitenkammern seitliche Kopfstützen modellieren. Als Oberflächenmaterial für die Matratze ist nahezu jedes Material denkbar und sollte von den äußeren Bedingungen im vorgesehenen Anwendungsbereich abhängig gemacht werden.
Lectus CV – „Bionik trifft Adaptive Ergonomie“
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2.3. Steuerung Zur Steuerung der gesamten Liegestuhlfunktionen ist eine doppelseitige Fernbedienung vorhanden. Auf der einen Seite sind die Neigung von Fußteil und Rückenlehne sowie die Höhenänderung der Liege über jeweils zwei selbsterklärende Tasten einstellbar. Auf der Rückseite ist ein Tastenfeld aufgebracht, das genau dem Aufbau der Matratze entspricht. Durch den Druck auf
Neigung Fußteil
Sitzhöhe
Neigung Rückenlehne
Abb. 7. Vorderseite Fernbedienung
Abb. 8. Rückseite Fernbedienung
die gewünschte Kammertaste kann der Luftdruck durch die Plus- und Minustasten verändert werden. Sämtliche Tasten und verbale Erklärungen sind für blinde Menschen extra mit der Blindenschrift unterlegt.
2.4. Betriebsanschlüsse Um den Stuhl zu betreiben, ist lediglich ein 220 Volt Stromanschluss nötig, der die Kompressoren für die Hydraulik und den Vakuum-/ Druckluft-
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kompressor für die Matratzenkammern antreibt. Dabei sind jegliche stromführende Bereiche im Liegestuhl so gut abgedichtet, dass die Benutzung der Liege auch in leicht feuchter Umgebung gefahrlos möglich ist. 3. Fazit Der „Lectus CV“ stellt sowohl in technischer Hinsicht als auch in seinen Anwendungsmöglichkeiten ein Novum dar. „Lectus CV“ bietet bei vielfältiger Variabilität gleichermaßen hohe Stabilität und ist für medizinische Zwecke und im privaten (Wellness-)Bereich verwendbar. Seine körpergerechten Einstellungsmöglichkeiten bieten optimale Körperanpassung und somit hervorragenden Liegekomfort; hierzu trägt zum großen Teil die verwendete Vakuummatratze bei. Darüber hinaus ist „Lectus CV“ bei technischer Komplexität überaus bedienungsfreundlich und hinsichtlich seines modernen schlichten Designs auch als Einrichtungsgegenstand attraktiv. Das Prinzip der Matratze könnte man auch für Sitz- und Liegemöbel weiterentwickeln, deren Benutzer häufig wechseln, wie zum Beispiel in Flugzeugen. Damit könnte ihnen die Möglichkeit geboten werden, ihre Sitzmöbel individuell ihrer Anatomie anzupassen. Das Prinzip der „Wirbelsäule“ könnte für mehr Variabilität und noch besseren Komfort auch dahin gehend weiter entwickelt werden, dass die Wirbel über die gesamte Länge der Liegefläche zu einander beweglich gelagert wären. Denkbar wäre auch, für die „Wirbelsäule“ eine partielle Drehbarkeit der Wirbel gegeneinander um ihre Längsachse vorzusehen, wodurch die Flexibilität des Gestells bei einem weiterhin kompakten modernen Design noch erhöht würde. Literatur [1] http://www.bionic-architecture.at/auswertung/default.html [2] Gorgaß B, Ahnefled FW (1997) Rettungsassistenten und Rettungssanitäter. 6. Auflage, Springer, Berlin [3] Lutomsky B, Flake F (2000) Leitfaden Rettungsdienst. 2. Auflage, Urban & Fischer Stuttgart
Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre Peter Euler Institut für Allgemeine Pädagogik, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Interdisziplinarität ist mehr als ein Begriff für die Zusammenarbeit von Disziplinen. Interdisziplinarität markiert nämlich die Wundstelle unserer Wissenschaftsverfassung und ist zugleich aber auch der Ansatzpunkt für die theoretische und praktische Revision in der Entwicklung unserer technologischen Zivilisation. Der Beitrag entfaltet daher Interdisziplinarität als kritisches, der Humanität verpflichtetes Bildungsprinzip von Wissenschaft und Technik in Forschung, Lehre und gesellschaftlicher Praxis. Er beschreibt damit den durch die Bionik visierten Paradigmenwechsel und fordert zugleich die volle Entfaltung des interdisziplinären Charakters der Bionik ein, was veranlasst, gerade auch die „soziobionische“ Dimension des Projekts zu beachten.
Abstract Interdisciplinarity does not only cover the cooperation between different scientific disciplines. More fundamentally, interdisciplinarity indicates deficits in our science system in general and questions in this way the development of our technological civilisation. In the framework of interdisciplinary approaches, impulses for a theoretical and practical revision of our technological civilisation are thought to come up. The article discusses interdisciplinarity as a critical education principle in research, teaching and social practice committed to humanity. Analyzing the paradigm shift induced by the new field “bionic”, the author proposes to take serious the interdisciplinary scope and thus considers the “sociobionic dimension” of bionic projects.
1. Vorbemerkung zum „Credo“ der Bionik: Natur-TechnikInterdisziplinarität Im Editorial des Themenheftes: „BIONIK – Biologisch-technische Systeme“ bezeichnen Prof. Tropea und Dr. Rossmann als das „Credo“ der Bio-
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Peter Euler
nik/ Biotechnik ein „Lernen von der Natur“, „ohne sie (die Natur P.E.) sklavisch zu kopieren“ [1]. Credo heißt lateinisch „Ich glaube“ stammt aus dem Apostolikum (dem Glaubensbekenntnis der 12 Apostel). Angewandt auf die Bionik bezeichnet es das grundsätzliche Ziel des Projekts. Das Credo leitet die Forschung, ohne selbst gesichertes Wissen zu sein bzw. sein zu können, es handelt sich vielmehr um den Glauben an diese Forschung. Das ist nicht als Einwand zu verstehen, sondern vielmehr umgekehrt als Betonung eines leider allzu oft vergessenen Charakters wissenschaftlicher Forschung, der gerade den Unterschied ausmacht zu den Resultaten der Forschung, die in systematischen Theorien festgehalten werden. Am Anfang von Forschung, die ihren Namen verdient, steht immer ein zwar hoffentlich gut begründeter, aber eben doch ein Glaube. So auch beim Forschungsprojekt „Bionik“. Der Glaube der Bionik ruht auf zugleich faszinierenden wie hoch problematischen Annahmen. Die Hoffnungen der Bionik gehen davon aus, dass man technisch von der Natur lernen könne. Die Vorstellung vom Lernen im Sinne von „Nachahmen“ ist nun keineswegs neu. Wie der sehr erhellende Vortrag von Jan Schmidt im November letzten Jahres in dieser Vorlesungsreihe mit dem Titel: „wissenschaftsphilosophische Perspektiven der Bionik“ deutlich machte (Schmidt [2] in [1], S 14 ff), gibt es sie seit Platon und Aristoteles. Aristoteles sah die Arbeit der Techniker als Nachahmer der Natur, weil auch sie zweckorientiert handeln. Das aber veranlasste ihn nicht, den grundverschiedenen Charakter beider aufzuheben. Anders dagegen, was auch viele Bioniker inspiriert: Leonardo da Vinci. Er begriff Technik als Nachahmung von Konstruktionen der Natur. Bis heute ist diese Nachahmung i.S. einer Analogisierung von Biologie und Technik längst auf Materialien (z.B. Werkstoffe), Strukturen (z.B. Baukonstruktionen, Vernetzungen) und Verfahren (z.B. Wiederverwertung) übergegangen. Daher werden auch gegenwärtig Typen der Bionik unterschieden, nämlich: Konstruktionsbionik, Funktions-, Organ- und Verfahrensbionik sowie Prozess- und Informationsbionik. Doch bei all der Vergewisserung der historischen Vorläuferschaft der Bionik ist aber an der historischen Tatsache festzuhalten, dass Technik als Praxis der Menschen durch die Mängel der Natur provoziert wurde. Und, worauf Schmidt ebenfalls aufmerksam macht, entscheidende erfolgreiche Erfindungen waren gerade deshalb welche, weil sie von der Natur abwichen, wie die Erfindung des Rades. Für die Einschätzung heutiger Bionik heißt das, dass man den darin liegenden Paradigmenwechsel nicht übersehen darf. Bionik ist nicht einfach eine Fortsetzung gängiger Technik, vielmehr stehen Zweifel und Kritik an der etablierten Form von Technik genauso Pate wie neue Hoffnungen! An Bionik ist damit aber nicht nur die Hoffnung auf neue effizientere Techniken geknüpft, sondern explizit auf eine grundsätzlich bessere, schadlose
Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre
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bzw. schadlosere, also eine sozial vorzugswürdigere Technik. Damit aber sieht sich die Bionik-Forschung einer zweifachen Problematik gegenüber: Erstens: Das Credo der Bionik ist von einer Intention getragen, nämlich die einer Technik ohne negative Technikfolgen, also einer „vernünftigen Technik“, wie Dietmar Weber [3] kritisch feststellt. So notiert auch W. Nachtigall in seinem paradigmatischen Buch: „Vorbild Natur“ [4]: Bionik verspricht eine Technik, die gibt, „was der Mensch braucht und der Umwelt dient“. Das Credo der Bionik zeigt diese als ein der Kritik entsprungenes Unternehmen, das zivilisationskritisch begründet ist. Im Kern geht es – oder sollte ich sagen, müsste es ihr gehen, wenn sie ihrem Credo verpflichtet bleiben will – um die Neuausrichtung von Technik. So gesehen nimmt sie sich als eine technikimmanente Tendenz innerhalb des großen Umlern- bzw. Erneuerungsprozesses aus, den Ropohl [5] unter den Titel stellte: „Wie die Technik zur Vernunft kommt“. Technik beschreitet damit einen neuen selbstkritischen Weg, in dem sie sich anders, auch komplexer versteht. Zweitens: Zum Credo der Bionik, also zum Konzept eines Lernens von der Natur muss allerdings auch illusionskritisch realisiert werden, dass das, was hier als Natur zum Vorbild von Technik wird, nicht die Natur ist, sondern Perspektiven auf sie, eine technisch interpretierte, genauer eine, die als Technik betrachtet, studiert und übertragen wird, um in ihr „Konstruktionen,Verfahren und Entwicklungsprinzipien“ [4] zu identifizieren. Soll dieses Projekt keiner Illusion aufsitzen, kann, wie das Eisele (Fachbereich Architektur) in der Bionik-Ringvorlesung im Wintersemester 2003/2004 formulierte, Natur zwar als „Ideenlieferant“ dienen, die grundsätzliche Differenz von Natur und Technik darf dabei nicht vergessen gemacht werden. Selbstkritisch und eben ohne Illusion gefasst, ist Bionik eine Konzeption, die nicht verwertungsideologisch Natur als Technik betrachtet, sondern eine, die einen grundsätzlich revidierten technologischen Blick generiert. Die illusionskritische Einstellung zum Credo der Bionik beachtet den für die Technik wesentlichen Umstand, dass in der Übertragung von Natur auf Technik gerade die Abweichung von der Natur konstitutiv ist: die Übertragung von Natur auf Technik ist nämlich das Nichtnatürliche. Insofern können die Übertragungen im strengen Sinne auch gar nicht, wie oben befürchtet, sklavische sein, es sei denn Technik würde Natur, dann aber wäre sie keine von Menschen gemachte Leistung für Menschen mehr. Natur und Technik bleiben unterschiedlich und unterschieden! Das Credo der Bionik ist also – ernst genommen – qualitativ mehr als nur eine neue Variante von Technik, als die sie häufig ‚verkauft’ wird. Das hat zur Konsequenz, worauf Tropea und Rossmann zu Recht verweisen, dass inhaltlich und methodisch eine disziplinäre Arbeitsweise nicht ausreicht. Zur Einlösung der Projektziele ist „ein ausgeprägtes interdiszipli-
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näres Forschen und Lehren unabdingbar“. Es müsse über den „Tellerrand“ hinausgesehen, „Berührungsängste“ untereinander abgebaut und „neue Methoden“ kennen gelernt, man muss wohl auch sagen, erst generiert werden. Sowohl der ausdrückliche Dank für die Unterstützung an das ZIT (Zentrum für interdisziplinäre Technikforschung), als auch die Etablierung als profilbildender Forschungsschwerpunkt an der Universität trägt diese Züge interdisziplinären Charakters überdeutlich. Die bionische Wissenschafts- und Technikausrichtung kann nur als interdisziplinäre betrieben werden. Daraus folgt allerdings, dass sich die Beteiligten mit dem, was damit gemeint ist, explizit und bewusst auseinanderzusetzen. Das was mit der Bionik nämlich erfolgt, ist nichts Geringeres als eine Grenzüberschreitung im zweifachen Sinn. Zum einen durchdringen sich Biologie und Technik i.w.S. und zum anderen werden revolutionierende Möglichkeitshorizonte einer veränderten Zivilisation in Angriff genommen. Das Bewusstsein von Interdisziplinarität ist daher wesentlich für das Projekt. Dem wissenschafts- und hochschulpolitisch hoch gehandelten Prädikat „interdisziplinär“ entspricht allerdings häufig nur ein schwaches Bewusstsein bei den Beteiligten über das, was Interdisziplinarität den eigentlich ist bzw. sein sollte, wenn sich nicht sogar ab und an so etwas wie eine Doppelmoral breit macht: offiziell ist Interdisziplinarität kreditwürdig, im Kreise der harten Disziplinen gilt sie aber vielen noch eher als Politmode, also eher als wissenschaftliches Leichtgewicht, gar als wissenschaftliche Nullnummer denn als notwendig fachliches Erfordernis. Auf der Forschungsebene hat man daher oft den Eindruck, es handele sich zu allererst um einen Managementbegriff, um divergierende Fachbereichsmitglieder unter einen Projekthut zu kriegen, und auf der Lehrebene dominiert die Erfahrung eines partiell und temporär zwar additiv erweiterten Angebots, das aber nur am Rande im Studium vorkommt und dem bislang der Weg ins „Allerheiligste“ der Disziplinen noch vorenthalten bleibt. Demgegenüber vertrete ich als Ingenieur und Pädagoge, aber auch als Mitglied des ZITDirektoriums die Auffassung, dass das Bewusstsein von Interdisziplinarität, also interdisziplinäre Bildung für alle derart organisierten Projekte, ja ich gehe so weit und sage für die Wissenschaft und Technologie der Zukunft insgesamt, unabdingbar ist und zwar in vierfacher Hinsicht, 1. um die genuinen wissenschaftlichen Produktivitätspotentiale stets aufs Neue ausloten und wirksam machen zu können, 2. um die Kooperations- und Verständigungsprobleme zu identifizieren und für deren Bewältigung zu sensibilisieren, 3. um im ethisch-politischen Sinn verantwortliche Ein- und Abschätzungen von Forschungsstrategien vorzunehmen und
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4. um die Wissenschafts- und Technikprojekte innerhalb und außerhalb der Hochschule in ihren ethischen und sozialen Dimensionen, eben als Politikum kommunizieren zu können. Ein Bewusstsein von Interdisziplinarität ist daher unabdingbar, dem gilt in der Hauptsache mein Beitrag, bevor ich ausleitend einige Anfragen an das Bionik-Projekt stelle.
2. Interdisziplinarität – Zur Karriere eines Begriffs Die Forderung nach „Interdisziplinarität“ ist eine historisch und politisch bedingte Reaktion. Sie reagiert auf ein Problem der disziplinären Verfassung des Wissenschaftssystems, genauer auf seine Ausdifferenzierung und seine Verselbständigung, die zum Problem für dasjenige wurde, was gerade mit der wissenschaftlichen Disziplinierung erreicht werden sollte. Die Verselbständigung disziplinärer Formen von Wissenschaft widersprach nämlich der Konzeption der modernen Universität, wie sie mit Humboldts Universitätsreform 1808 in Berlin die Welt erblickte und ohne Zweifel zu einem weltweiten Exportschlager wurde. Ihre charakteristischen Merkmale waren es allerdings, die mit der Verselbständigung von Disziplinen unverträglich wurden. Diese sind: 1. die Einheit von Forschung und Lehre 2. die Idee der Einheit der Wissenschaften Beide Bestimmungen sollten in der Praxis der Wissenschaften, den einzig sie legitimierenden Zweck sicherstellen, nämlich den Zweck eines humanen Fortschritts. Die Freiheit von Forschung und Lehre bedeutet nicht Willkürfreiheit, sondern hat der Befreiung der Menschen von Not und Zwang zu dienen und damit der Einrichtung menschlicher Verhältnisse. Diesem inhaltlichen Zweck dient die organisatorische Verbindung der Lehre mit der Forschung und der Disziplinen untereinander. Selbstredend bedeutet Einheit nicht Allheit, d.h. nicht jeder soll alles oder möglichst viel von allem wissen, wobei allerdings eine Interessens- und Kenntnisvielfalt sehr förderlich und wohl doch bis heute wünschenswert ist. Allerdings bedarf dazu jede und jeder im Wissenschaftsbetrieb eines Bewusstseins des Zusammenhangs, in der die Wissenschaften untereinander und zum Zweck im gesellschaftlichen Ganzen stehen. Genau dieser notwendigen Bedingungen ging die Wissenschaft gerade auch in ihrer universitären Form im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlustig. Die Universität wurde zunehmend zur „Polyversität“ [6]. Auf diese gravierende Degeneration durch sich selbst gab es im 20. Jahrhunderts unterschiedliche wissenschaftsinterne, aber auch wissenschaftspolitische Reak-
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tionen. So bemühte sich bspw. das in den 20er Jahren gegründete „Social Science Research Council“ um die Überwindung einer praktisch immer problematischeren Isolation der Sozialwissenschaften voneinander. Galt es am Anfang eher methodisch-instrumentelle Brücken zwischen den Disziplinen zu bauen, sog. „borrowing“, so folgte dem später, angeregt durch eine berühmt werdende philosophische Schule: dem „Wiener Kreis“ eine Tendenz, vielleicht doch eine theoretische Einheit der Disziplinen herzustellen (sog. „bridging“). Ich möchte in diesem Zusammenhang wenigstens kurz daran erinnern, dass kein Geringerer als der Nobelpreisträger der Physik Werner Heisenberg bezüglich der Naturwissenschaften und vielleicht noch darüber hinaus eine einheitliche wissenschaftliche Weltformel zu formulieren versuchte. In unterschiedlichen Bestrebungen findet man seitdem also Ansätze, Wissenschaft disziplinübersteigend weiter zu entwickeln. Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts, vor allem auch während des Zweiten Weltkriegs verstärkte sich diese Entwicklungstendenz, weil sie sich mit herrschenden gesellschaftlichen Kräften verband, wobei immer durchgreifender staatliche und wirtschaftliche Ziele die Feder disziplinübergreifender Projekte führten. Technische Großprojekte konnten gar nicht mehr anders bewerkstelligt werden, als durch interdisziplinäre Zusammenarbeit, erinnert sei in seiner unbestreitbar weltgeschichtlichen Dimension hier lediglich auf das von der US-Regierung betriebene interdisziplinäre Projekt der Entwicklung der Atombombe. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland, als Konsequenz aus dem demokratischen Versagen der Hochschulen während der Zeit des Faschismus Bestrebungen, die Universitäten im Interesse ihrer Humboldtschen Idee neu zu strukturieren bzw. zu restrukturieren. Ein durchgängiger Gedanke war dabei der des „Studium generale“. Wie hilflos auch immer war es das Eingeständnis, dass man der stark voranschreitenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Fächer ausgleichend etwas entgegenstellen musste. Die Praxis dieser Versuche war allerdings nicht sehr erfolgreich, weil es sich allzu oft um additive Angebote handelte, die in keinem inneren Bezug zum Fachstudium standen. Die historisch dann einsetzende explizit „interdisziplinäre“ Wissenschaftspraxis hat im Grundsatz immer um zwei ineinander verschränkte Funktionen: 1. die Bewältigung von fachlichen Problemen die innerhalb der Wissenschaft durch die Spezialisierung von Wissenschaft begründet sind oder zumindest disziplinär bislang keiner Bearbeitung zugänglich zu machen sind; 2. die Überwindung von Kompetenzverengungen, die durch die Spezialisierung sich in der wissenschaftlichen Ausbildung einstellen.
Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre
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In erster Näherung möchte ich die beiden Komponenten einmal als die Fach- oder Objektseite und die Personen- oder Subjektseite von Interdisziplinarität bezeichnen. In meiner Terminologie als Pädagoge und Bildungstheoretiker, die auf den Prozess von Entwicklung und Gestaltung zielt, werde ich später genauer von der objektiven und der subjektiven Seite der Bildung sprechen. Beide Funktionen erhielten zunehmende Bedeutung durch die Brisanz von weltweiten gesellschaftlichen Problemen, die unmittelbar mit Wissenschaft und Technik verknüpft waren. Gesellschaftliche Probleme erwiesen sich dadurch zunehmend als wissenschaftlich induzierte bzw. verursachte und gesellschaftliche waren immer ausschließlicher nur noch als wissenschaftliche zu begreifen und anzugehen. Drei Schlagworte sollen genügen: Friedens-, Ökologie- und Technikfolgenproblematik. Der Druck der historischen Situation veranlasste auch die OECD Ende der 60er Jahre zu ersten Aktivitäten. Belegt sind diese Bemühungen zumindest für die umfangreiche angelsächsische Diskussion durch Julie Thompson-Kleins Buch: Interdisciplinary Problems of Teaching and Research in Universities; herausgegeben vom „Centre for Educational Research and Innovation (CERI)“ der OECD [7]. „In the late 1960s, the OECD’s Centre for Educational Research and Innovation organized the first international investigation of the concept of interdisciplinarity, an effort that culminated in a 1970 seminar on the problems of interdisciplinary teaching and research in universities. The year 1972 was to become a major date in the history of interdisciplinarity.“
Klein charakterisiert die Intentionen der Veranstaltung: „The seminar capped an investigation provoked by worldwide reform in education, renewed protests against the fragmentation of Knowledge, and heightened demands for the university to fulfill its social mission.“ (Klein [7], S 36)
Diese Passage kann als Definition von Interdisziplinarität gelesen werden. Interdisziplinarität gründet in der weltweiten Reform von Erziehung und Bildung, im erneuten Protest gegen die Fragmentierung wissenschaftlichen Wissens und in der Einforderung der humanen Funktion der Universitäten, wissenschaftlichen Bildung überhaupt. Wissenschaftsentwicklung und Bildungsfunktion sind hier untrennbar verbunden. Seit den 70er Jahren gab es verstärkte interdisziplinäre Aktivitäten. Nachdem Interdisziplinarität Einzug ins Wissenschaftssystem gehalten hat, begannen auch Auseinandersetzungen um sie; es gab Problematisierungen, Differenzierungen und Infragestellungen. Letztere ergaben sich aus Legitimationsproblemen innerhalb der Wissenschaften. Das führte zu dem sachlich unglaublichen Umstand, dass nur ganz am Rande des Wissenschaftssystems Forschung über eine Theorie der Interdisziplinarität betrieben wurde, während umgekehrt Interdisziplinarität als wissenschaftspolitische Antragsformel und auch als Anspruch an die Wissenschaft bzw.
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Gütesiegel für wissenschaftliche Institutionen von interessierter Seite größte Verbreitung fand. Im Fortgang möchte ich daher mit einigen Blicken auf das umstrittene und eben auch umkämpfte Begriffsfeld „Interdisziplinarität“ bekannt machen, allerdings zu dem Zweck, den Grund in der Sache mehr und mehr frei zu legen.
3. Blicke auf das Begriffsfeld: Typen und Auffassungen von Interdisziplinarität Im Duden Band 3 erhält man zum Begriff Interdisziplinarität folgende Auskunft: „Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen“ [8, S 351.] Nimmt man die Aussage nicht trivial, hat sie den Charakter eines Überbegriffs von unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit. Diese haben mittlerweile auch Namen bekommen. Bernd Vogel [9] berichtet in seiner Studie: „Interdisziplinarität in der Ingenieurausbildung“ von folgenden Begriffen: Chimären-, Multi-, Pluri-, Intra-, Kreuz-, Infra-, Supra-, und Transdisziplinarität. Der Begriff Interdisziplinarität fungiert in dieser Verwendung lediglich als unspezifischer Überbegriff für unterschiedliche Disziplin-Beziehungen. Der Begriff Chimärendisziplinarität fällt dabei insofern heraus, als er skeptisch die Gefahr betont, die mit dem Verlassen der vermeintlich sicheren Pfade der bestehenden disziplinären Wissenschaftsverfassung in Hinsicht auf Willkür und Irrationalität gegeben sein können. Was soll das schon für eine Wissenschaft sein, die den Disziplinierungszwang hinter sich läßt. Die Warnung vor Chimären darf aber nicht den Blick auf disziplinäre Bornierungen des Normalbetriebs verstellen, den Grund für Interdisziplinarität. Demgegenüber markieren die Begriffe Trans- und Multidisziplinarität erstens deutlich die Art der Beziehung von Disziplinen zueinander und zweitens damit auch Endpunkte des Begriffsspektrums möglicher Vorstellungen von Disziplinverbindungen bzw. Disziplinbeziehungen. Allen wie auch immer gearteten Unterscheidungen gemeinsam ist allerdings der Anspruch, über die jeweilige Disziplin hinauszugehen, um den veränderten Bedingungen gemäß, die wissenschaftlichen Ziele zu erreichen und gerade dadurch auch den Disziplinen verbunden bleiben zu können. Multidisziplinarität bezeichnet in diesem interdisziplinären Beziehungsnetz die Position der Vielperspektivität, d.h., dass das wissenschaftlich visierte Problem bzw. die visierten Aufgaben, erst im Blick und im Zusammenwirken vieler Disziplinen angemessen erfasst bzw. angegangen. Ähnlich wie die Pluridisziplinarität kommt sie immer häufiger vor. Beide
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bezeichnen eine üblich werdende Form des wissenschaftlichen „runden Tisches“. Er repräsentiert und demonstriert die Notwendigkeit des Zusammenarbeitens wissenschaftlicher Disziplinen, um zu geforderten oder gewünschten wissenschaftlichen Lösungen zu kommen, ohne dass sich etwas an den einzelnen Disziplinen als solchen verändern soll. Transdisziplinarität bezieht sich im Gegensatz zu einem gleichgestellten und eher additiven Zusammenwirken auf eine Disziplin, von der aus die Grenzen der eignen Disziplin überschritten und die Beziehungen zu anderen hergestellt werden, um dadurch eine „qualitativ neue Form wissenschaftlichen Wissens“ zu schaffen. Der Begriff Interdisziplinarität bezeichnet also einen Raum innerhalb der Wissenschaften, der die Grenzen der Wissenschaften, also damit ihre bisherige Form auch für problematisch hält, verändern will und folglich überschreitet. Andere Studien zur Interdisziplinarität, wie z.B. die von Ursula Hübenthal [10] gehen von „Brückenschlägen“ aus, die allerdings in der Entwicklung von Disziplinen und deshalb innerhalb derselben stattfinden. Genannt werden als Beispiel aus der Physik sog. Binneninterdisziplinaritäten; z.B. verbindet sich Mechanik und Wärmelehre zur Thermodynamik. Hübenthal unterscheidet von binnendisziplinären Entwicklungen ausgehend „Stufen der Interdisziplinarität“: 1. „Supradisziplinäre Wissenschaften“ (Logik, Mathematik, Strukturwissenschaften) – formal-abstrakte Zusammenhänge von Disziplinen; 2. „Interdisziplinarität im engeren Sinne – Forschungsbereiche im Grenzbereich zwischen benachbarten Fachgebieten“; 3. „Transdisziplinäres Denken – Verbindungen zwischen verschiedenen Wissenschaftsbereichen“; Innerhalb von Inter- und Transdisziplinarität unterscheidet Hübner interessanter Weise Grade der Verbindung, nämlich „Ergänzungen“ (z.B. man höre (!!!) Bionik, Biotechnik, Evolutionäre Erkenntnistheorie usw.,), „Verflechtungen“ (z.B. Ökobiologie, Kriminologie und Neuroinformatik) und „problemorientierte Zusammenarbeit“ (z.B. Sozialisationsforschung, wie auch Material- und Festkörperforschung, aber auch Umwelt- und Bauforschung). Wie auch immer die Differenzierungen innerhalb von Interdisziplinarität vorgenommen werden, entscheidend ist bei all den Formen zweierlei: 1. Es muss sachliche, rational auszuweisende Gründe dafür geben, dass etwas nicht mehr in der bisherigen Form der Disziplin angemessen bearbeitbar erscheint. Das impliziert, dass rationale Argumente und Disziplinarität auseinander treten, zugespitzt formuliert: dass Vernunft und Wissenschaft nicht mehr in Einklang stehen und sogar in Widerspruch zueinander treten können.
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2. Es muss andererseits der logische Tatbestand immer vor Augen stehen, dass Interdisziplinarität Disziplinarität nicht ablöst, sondern sie erstens logisch und sachlich voraussetzt und zweitens sich in sie einmischt mit dem Ziel einer „guten“ Disziplinarität [11, S. 78] einer die sich reflektiert zu sich und ihren Zwecken verhält. Interdisziplinarität hat so gesehen die Funktion der „Restrukturierung der Wissenschaften in sich“ [5, S. 33] um Disziplinen wieder auf den Weg verantwortbarer Wissenschaft zu führen. Hat man diese allgemeinen Bestimmungen von Interdisziplinarität einmal eingesehen, ergeben sich Anschlussfragen für das interdisziplinäre Arbeiten, die u.a. Jan Schmidt [12] herausgearbeitet hat und die von systematischer Bedeutung sind. Gibt es oder soll es so etwas geben, wie genuin eigene interdisziplinäre Gegenstände oder Wissensarten oder Methoden gar interdisziplinäre Rationalitätsformen und letztlich auch interdisziplinäre Institutionen oder institutionalisierte Interdisziplin? Die Antworten darauf müssen, sollen sie nicht bloß aus den Vorlieben heraus zustande kommen, die sich aus den zufälligen Erfahrungen und deren individueller Bewertung ergeben, im vollen Bewusstsein der sachlichen Gründe für Interdisziplinarität erfolgen. In aller Klarheit ist zu konstatieren, dass die Sache und das Fach nicht identisch sind. Die Sache ist mehr und auch anderes als das entsprechende Fach. Sachlich sein und fachlich sich verhalten, ist nicht eins! Die Sache, hier z.B. eine grundlegend andere Technologie verlangt den bisherigen Stand des Fachs bzw. der Fächer zu übersteigen, ja im Falle der Bionik besteht die Sache in der Grenzüberschreitung der Welten von Biologie und Technik. Es finden Modellübertragungen statt, in der eine bewusste technisch-ökonomisch fokussierte Naturbetrachtung innerhalb der und als Naturwissenschaft betrieben und damit einer diesbezüglich quasi ‚biologisch’ belehrten Technikauffassung die Bahn geebnet wird. Für einem solchen Kontext lässt sich sagen, dass Interdisziplinarität die Stelle im Wissenschaftssystem einnimmt, in der es um nichts Geringeres als darum geht, für neue gesellschaftliche Bedürfnisse neue Formen der Wissenschaft zu generieren.
4. Zwischen Kritik und Funktion: Zur wissenschaftssystematischen Ortsbestimmung von Interdisziplinarität Der Grund dafür, Interdisziplinarität systematisch und international zu fordern, zu initiieren und zu betreiben resultiert, wie nun deutlich werden konnte, keineswegs aus rein disziplinären, rein wissenschaftlichen Grün-
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den. Sie ist, wie die Geschichte des Begriffs schon zeigte, kein Resultat der reinen Eigendynamik der Wissenschaften, sondern gesellschaftlich, ja politisch bedingt. Interdisziplinarität hat die reale Durchdringung von Gesellschaft, Wissenschaft und Technik zur Bedingung und zum Inhalt ihrer Anstrengungen. Wissenschaft, wissenschaftliche Probleme sind durch Interdisziplinarität wieder – wie schon zur Zeit ihrer Entstehung – zur Reflexion aufgefordert und sind deshalb, den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen angemessen, in ihren transdisziplinären und gesellschaftlichen Kontext gestellt geworden. Was heißt das? Zunächst ist auffällig, dass dort wo im Ernst Interdisziplinarität bewußt und dringlich thematisiert wurde (Wissenschafts- und Technikfolgenabschätzung / Ökologie (Nachhaltigkeit), Entwicklung von sog. Zukunftstechnologien usw.), wie auch in der Bionik, zwei Quellen für die Bemühung auszumachen sind: 1. Werden negative Folgen von Wissenschaft und Technik unumstößlich festgestellt, verlieren Wissenschaft und Technik die politische Naivität als segensreiche Fortschrittsmacher. Das hat zur Konsequenz, dass Wissenschaft, entgegen der herrschenden Ideologie von der Wertfreiheit derselben als etwas Gesellschaftliches und damit auch Problematisches zu begreifen ist. Im Gegensatz zur einer hieraus zu schließenden, aber eben dadurch auch irrationalen Verteufelung von Wissenschaft und Technik besteht eine vernünftige Reaktion auf diesen Tatbestand in der kritischen Beziehung auf die Wissenschaft und zwar als Aufgabe der Wissenschaft selbst, anders formuliert: Wissenschaft und Technik haben sich mit den Folgen von Wissenschaft und Technik zu beschäftigen. Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnet unsere Epoche daher als eine „reflexiver Modernisierung“, eben weil auch die Wissenschaften gezwungen sind, sich als Wissenschaft mit sich selbst zu befassen. Bezogen auf die Technikforschung hat das Aktivitäten von der Technikfolgenabschätzung über die Technikgeneseforschung bis zur partizipativen Technikentwicklung hervorgebracht. Allgemein mit De Bie und seinem Bericht von 1970 [13] an die UNESCO gesprochen, ist „Problemorientierte Forschung“ gefordert. Probleme hat Wissenschaft zweifellos immer bearbeitet, was sonst? In der von De Bie explizierten Begriffsbestimmung handelt es sich aber um ein erweitertes Problemverständnis, unter Einbezug gesellschaftlicher Kontexte, eben von Wert- und Sozialfragen. Wissenschaft geht es in diesem Problemverständnis – in den Worten von Mittelstraß – nicht mehr nur um Wahrheit und Nützlichkeit, genauer: die Vorstellung, dass Wissenschaft darin ihr Genüge finden könnten, ist unsicher geworden. Wahrheit und Nützlichkeit werden als Kriterien der Wissenschaftsentwicklung notwendig vom Kriterium der „Verantwortung“ [14, S 69] ergänzt. Disziplin ist folglich nicht mehr ausreichend als geordnetes, eben diszipliniertes Denken und Erkennen zu interpretieren, sondern auch als Problematisches, mögliches Negatives, das folglich in seiner gesellschaftlichen Dimension und Verantwortung begriffen und aufgefasst werden muss.
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2. Der Verlust der gesellschaftlich-politischen Naivität der Wissenschaft fällt in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zusammen mit einer grundsätzlichen Kritik am Zustand unserer akademisch-wissenschaftlichen Kultur. C. P. Snow brachte das 1959 markant und folgenreich auf die Formel der „two cultures“. Mit ihr beschrieb er den Verlust einer humanen Einheit der Kultur, wobei das Zerreißen der Kultur, die Preisgabe des Bewusstseins von ihrem vernünftigen Zweck zur Folge habe. Die hoch ausdifferenzierte Wissenschaft zerlegt sich in zwei große Disziplintypen, die nicht nur fremd, sondern auch wechselweise abwertend bis feindlich gegeneinander, sich wechselweise ihren Wissenschaftsstatus absprechen: Die Natur- und Ingenieurwissenschaften hier, die Geisteswissenschaften, Literatur und Philosophie da, eben sciences versus humanities. Diese Spaltung wird unterschiedlich beschrieben. Gängig ist die methodische Aufteilung in ideographische Disziplinen, die den Einzelfall bearbeitend, hermeneutisch interpretierend verfahren und nomothetische, die das allgemeine Gesetz, das für viele Fälle gilt, ermitteln. Kurz gefasst, die wissenschaftliche Kultur zerfällt in die Gegensätze: Verstehen versus Erklären! In anderen Theorien wird dieser Gegensatz auch als der von Tatsachen- vs. Wertsachen oder der von Mittel- vs. Zweckkompetenz beschrieben. Wenn wir hier in Darmstadt im ZIT, aber auch bei der Förderung neuer Lehr- und Lernformen besonders Projekte fördern, in denen, wie wir sagen, „große“ Interdisziplinarität vorliegt, weil hier komplementäre Disziplinen zusammenarbeiten, also Vertreter jeweils aus beiden Bereichen der „two cultures“, dann hat das seinen Grund darin, zur Grenzüberschreitung und Brückenbildung angesichts der Zerrissenheit der universitären Disziplinbereiche in die „two cultures“ beizutragen.
Jürgen Mittelstraß hat in einem viel zitierten, paradigmatischen Aufsatz: „Die Stunde der Interdisziplinarität?“ [15] Gründe für Interdisziplinarität wie folgt angegeben: „(1) daß die Grenzen der Disziplin zu Erkenntnisgrenzen zu werden drohen, (2) daß es - auch dafür ist die Atomisierung der Fächer ein Indiz - so etwas wie die Einheit der Wissenschaften oder die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität nicht mehr gibt.“ [16, S. 152]
Wenn Disziplingrenzen zu Grenzen der Erkenntnis zu werden drohen, dann ist Interdisziplinarität ein „Reparaturphänomen“, um die Disziplin wieder zu ihrer unbeschränkten Aufgabe zu befähigen. Wenn disziplinäre Erkenntnis sowohl bezogen auf andere Disziplinen als auch auf Gesellschaft als bewusste zusammenhangslos wird, dann ist Interdisziplinarität ein „Kompensationsphänomen“, das wieder Zusammenhänge als disziplinär relevant einführt. Jürgen Kocka stellte in seiner einschlägigen Publikation „Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie“ daher fest: „Interdisziplinarität wird sich, wenn überhaupt, nur durch den Aufweis von Defiziten rechtfertigen können, die das System disziplinär verfasster Wissenschaften kennzeichnen.“ [16, S. 7/8]
Die Veranlassung zur Interdisziplinarität, so kann man resümierend sagen, liegt in einem doppelten Durchdringungsverhältnis: nämlich dem von
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Wissenschaft mit Wissenschaften und beider mit Gesellschaft und Politik. Real erweist sich dieses Verhältnis aber als ein existentiell widersprüchliches, weil die Potenz der Wissenschaft, angetreten in der Aufklärung als Macht zur Verbesserung der menschlichen Existenz, zur Sicherstellung von Wohlfahrt aller sich geradezu ins Gegenteil verkehrt und Wissenschaft sich in diesem Prozess als wertfrei, was sie nicht war, ist und sein kann, maskiert. In der Sozialphilosophie steht dafür ein Begriff, der der Titel eines Buches ist, den Th. W. Adorno, den wir in diesem Jahr anlässlich seines 100sten Geburtstages ehren, mit Max Horkheimer schrieb: Dialektik der Aufklärung. Diese Dialektik der Aufklärung kann zur Auslöschung der menschlichen Spezies führen, zu neuen barbarischen Herrschaftsformen, wenn sich Wissenschaft und Gesellschaft nicht grundlegend umorientieren, ausgerichtet an einem bewußten und kritischen Verhältnis im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit. Der Begriff „Interdisziplinarität“ ist streng genommen insofern sogar irreführend, weil er seine politisch-gesellschaftliche Dimension auf ‚inter-disziplinäre’ Verhältnisse reduziert, also Gesellschaftsprobleme auf Disziplinrelationen reduziert. Andererseits betont er zu Recht, dass Lösungen globaler Probleme ohne veränderte Wissenschaft unmöglich sind, also die Re-Vision von Wissenschaft und Technik existentiell sind. In der Interdisziplinarität überlagern sich die wissenschaftsinternen und die gesellschaftspolitischen Problemstränge. Gibbons hat daher zwei Dimensionen unterschieden: die innerwissenschaftliche (Mode-I-Interdisziplinarität) und die zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (Mode-IIInterdisziplinarität). In einer zu stark wissenschaftsintern gedachten Interdisziplinarität wird leicht vergessen, dass Interdisziplinarität eben nicht nur eine Erweiterung von Wissenschaft durch Kooperation von Disziplinen ist, sondern diese Kooperation auch die Wissenschaft wieder auf ihre aufklärerisch-politische Dimension hinlenkt, sie re-politisiert. Wissenschaft wird auf ihre Quelle, der sie entspringt und auf ihren Grund, den sie hat, verwiesen: sie ist Aufklärung im Dienste der Menschheit. Sie wird auf ihre soziale Funktion, durch die sie einzig und allein gerechtfertigt und begründet ist, zurückgeführt. Die soziale und politische „Wertfreiheit“ erweist sich als herrschende Ideologie, hinter der nur schlecht Dienst für fremde Zwecke versteckt werden kann. Es zeigt sich angesichts der Gefahr, zu der Wissenschaft und Technik auch wurden und werden, dringend die Notwendigkeit, sie als soziale Praxis, als wertende Kultur zu begreifen und zu betreiben. Demzufolge sind die Bereiche von Wissenschaft, Gesellschaft, Technik und Natur nicht mehr problemlos und rein voneinander zu trennen, vielmehr auf neue Weisen aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden.
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In der neueren Wissenschaftstheorie gibt es Tendenzen, die Interdisziplinarität immer weniger von der Überwindung oder Überbrückung der „disziplinären Polen“ aus denken, sondern vielmehr i.S. einer „Philosophie des Transports“ (Serres [17] nach Schmidt [18] in ders., S 5) als Wissenschaftsaktivität im „Dazwischen“ begreifen. Damit soll eine Einengung durch die Disziplinen, die noch im Interdisziplinären liegen könnte, zugunsten freierer Lösungen eröffnet werden. In gewissem Sinn ist dafür gerade die Bionik ein prominentes Beispiel, da hier der „Übertragungscharakter“, die „Modellübertragung“ als besonderes Charakteristikum des Interdisziplinären betont wird. Hierdurch rückt besonders die „Problemlösefähigkeit“ und die „Optimierungstendenz“ der Natur [19] ins Zentrum technischer Aufmerksamkeit. Interdisziplinarität wird zum Medium, analog der Übersetzung von einer Sprache in die andere. Dies gilt Vielen als die Überwindung statischer und immobiler Muster in interdisziplinären Modellen und Projekten. Doch gerade angesichts dieser medialen Vorstellung von Interdisziplinarität gilt es, die soziale Dimension, den politischen Charakter als formgebendes und formbestimmendes Mediums besonders zu beachten [20]. Bezogen auf Modellübertragungen wäre zu fragen, welche sozialen oder politischen Modelle stehen in der Übertragung für diese Pate. Sind es Effizienz, Mitteloptimierung usw. und sind das die gewollten Kriterien, gewollt von wem, zu Lasten von welchen anderen usw. Interdisziplinarität markiert daher zum einen die Problemstelle unserer Wissenschaftsstruktur, sie ist aber zugleich auch Ansatzpunkt für ein strukturell neues bzw. revidiertes Verständnis von Wissenschaft, auf dem Weg hin zu einer selbstreflexiven, problemorientierten und eben deshalb gesellschaftlich verantwortlichen Wissenschaft. Interdisziplinarität sieht sich, entgegen ihren emphatischen Anfängen längst auch in den Dienst von ökonomisch angetriebener Forschung gestellt. Ihr wissenschaftlichgesellschaftlicher Doppelcharakter bedingt, dass sie auch Bedingung industriekapitalistischen Fortschritts ist. Kein neuer Markt weltweit ohne enorme Innovationen, die interdisziplinär organisiert sind. Ablesbar ist dieser politisch-funktionale Doppelcharakter von Interdisziplinarität an den unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Interessengruppen die politisch und wirtschaftlich Interdisziplinarität beanspruchen, dazu gehören Vertreter der Industrie- und Wirtschaftsvebände genauso wie der BUND, Ökoinstitute und die UNESCO. Interdisziplinarität ist wertorientiert! Zwei Idealtypen bzw. Tendenzen von Interdisziplinarität sind daher zu unterscheiden, um die real existierenden Mischformen in der Praxis bewusst einschätzen zu können. Typ 1. In gesellschaftlich entscheidenden Bereichen kann eine Vielzahl von Phänomenen beobachtet werden, die das Erfordernis fach- bzw. disziplinübergrei-
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fender Zusammenarbeit als funktional notwendig erachten, um Reibung, gar Funktionsstörung einer nur disziplinär organisierten gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion auszuschließen. Als Beispiel für den Bereich der Produktion mag die Forderung der Großindustrie nach fachübergreifender Kompetenz der Ingenieure dienen, weil diese im Team mit Experten anderer Disziplinen zusammenarbeiten können sollen. In der Reproduktionssphäre kann an das Gesundheitswesen gedacht werden, das weitgehend noch von einer sich naturwissenschaftlichtechnisch verstehenden Medizin bestimmt ist. Am wachsenden Skandalon psychosomatischer Erkrankungen wurde deutlich, dass psychosoziale Perspektiven bislang kaum Eingang gefunden haben und erst durch medizinische Unzuständigkeit, die in erfolglosen Behandlungen offenbar wird, sowie in der kostentreibenden Tendenz zu fast ausschließlich pharmakologischen und apparativen Behandlungsformen eine gewisse Akzeptanz bekommen. Neue ökonomisch vielversprechende Technologien, auch die Bionik, demonstrieren, dass Innovationen überhaupt nur noch interdisziplinär oder zumindest mit interdisziplinären Komponenten überhaupt möglich sind. Typ 2. Die Forderung nach Interdisziplinarität entsteht allerdings auch zunehmend aus prinzipiell systemkritischen Motiven. Dies erfolgt aus der Einsicht in die wachsenden negativen Folgen der sich in der gesellschaftlichen Praxis objektivierenden verselbständigten disziplinären Rationalität. Die Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie, die mit dem Industriekapitalismus anhob und in der Verwissenschaftlichung und Technologisierung tendenziell der gesamten Lebensverhältnisse im 20. Jahrhundert und eskalierend im 21. Jahrhundert ihre Fortsetzung findet, macht daraus ein doppeltes Problem. Zum einen wird die Rationalitäts- und Wissenschaftsentwicklung reflexiv unkontrolliert ökonomisch subsumiert. Zum anderen reagiert Wissenschaft auf diese Depotenzierung ihrer selbst durch Selbstreflexion, durch Vergegenwärtigung ihrer gesellschaftlichen Funktionen und ihrer Wertimplikationen. Im Lichte dieser Reflexion wird Interdisziplinarität zum Ort für Wissenschaftskritik innerhalb der Wissenschaft. Kritik ist damit - das hat historischen Charakter – eine Sache der Wissenschaft, Wissenschaft verlangt um im strengen Sinne Wissenschaft zu sein, Selbstreflexion.
Die Funktion von Interdisziplinarität besteht also darin, einen dem zivilisatorischen Stand angemessenen Typus von Wissenschaft zu entwickeln. Wie immer auch in Zukunft Interdisziplinarität im Interesse der selbstkritischen Transformation der Wissenschaften sich ausbuchstabieren wird, entscheidend kommt ihr im doppelten Sinne eine Bildungsfunktion zu.
5. Die „kritische“ Bildungsfunktion von Interdisziplinarität in Forschung (Wissenschaftsentwicklung) und Lehre (Bildung der Studierenden) Interdisziplinarität, das wird heute deutlicher als 1972, ihrem historischen Datum, ist Problemstelle und Ansatzpunkt innerhalb der Wissenschafts-
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verfassung. Dadurch hat sie einen doppelten Bildungsauftrag bzw. eine doppelte Bildungsfunktion. Sie ist nicht schon etwas Besseres gegenüber den Disziplinen, sie ist Motor, Beweger einer Entwicklung, einer Bildung, die sowohl die Subjekte als auch die Objekte von Forschung und Lehre umgreift. In der Interdisziplinarität kreuzen sich Probleme der Wissenschaften untereinander und die von Wissenschaft und Gesellschaft in der Doppelfunktion der Universität, nämlich in Lehre und Forschung. Interdisziplinär begriffene Neuordnung von Wissenschaft und Studium holt die gesellschaftliche Funktion und Aufgabe von Wissenschaft und Technik in die Forschung und Lehre von Wissenschaft und Technik zurück. Über Interdisziplinarität ist sowohl die Forschung als auch die Lehre kritisch, und d.h. nach innen und außen, problemorientiert auszurichten, um wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt in der Universität gewissermaßen von der Pike auf zur Geltung zu bringen. Forschung und Lehre erhalten dadurch die Chance, sich wieder bewusst an der Identifizierung von Problemen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft zu orientieren. Diese Orientierung ist nur befremdlich für diejenigen, die sich wie selbstverständlich an die Entfremdung der Wissenschaft gewöhnt haben. Diese befremdliche Entwicklung wird allerdings durch viele Studienstrukturen, ja durch Studienklima und Lernrituale begünstigt, wenn nicht erzeugt. Demgegenüber sollte Studium und Forschung früh und beharrlich die Sachhaltigkeit des Fachs durch seine Beziehungen zu anderen Fächern und der historisch-sozialen Realität eröffnen. Dadurch vermag wissenschaftliche Bildung der Gefahr der Reduktion durch Einschränkung auf das „reine“ Fach entgehen und zur Bildung im Medium einer Wissenschaft zu werden. An dieser Stelle muss in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass nicht erst durch Kritik eine politische Beziehung zur Wissenschaft hergestellt wird, sondern dass diese Beziehung über eine mittlerweile dominante Ökonomisierung der Wissenschaften und des Wissenschaftsbetriebs schon Eingang in die Wissenschaft gehalten hat. Disziplin ist längst auch im außerwissenschaftlichen Sinne „diszipliniert“. Interdisziplinarität stellt diese Beziehung nicht erst her, sondern macht sie allererst bewusst und damit auch zum Gegenstand kritischer Prüfung. Die „erzwungene“ gesellschaftliche Öffnung der Wissenschaften bietet über Interdisziplinarität im nicht nur wissenschaftsimmanent verstandenen Sinne auch die Chance, die gesellschaftliche Funktion und Aufgabe von Wissenschaft rationaler Beurteilung zu unterstellen. Zu Recht lautet daher die kürzlich wieder erhobene Forderung: „Interdisziplinarität fängt im Kopf an“ [21]. Die Autoren des gleichnamigen Buches nehmen damit Bezug auf eine zentrale Aussage von Mittelstraß. „Im übrigen ist es so, dass Interdisziplinarität im eigenen Kopf anfangen muss“ und zwar in Form von „Querdenken, Fra-
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gen, wohin noch niemand gefragt hat, Lernen, was die eigene Disziplin nicht weiß.“ Mittelstraß intensiviert sein Argument noch: „Wer hier alleine auf großartige wissenschaftsorganisatorische Maßnahmen setzt, hat die eigentliche wissenschaftsfördernde und wissenschaftsorientierende Idee schon verspielt. Interdisziplinarität beginnt nicht erst auf der ProfessorenEbene, unter Einschaltung von Wissenschaftsministerien und Drittmittelgebern, sondern – wenn sie denn tatsächlich ein Teil unseres wissenschaftlichen Lebens werden soll – im Studium. Wer nicht interdisziplinär gelernt hat, kann auch nicht interdisziplinär forschen.“ [16]
Die Bildung der Studierenden in diesem Prozess ist das A und O der Wissenschaft. Es kann nicht oft genug betont werden, dass interdisziplinäre Bildung nichts ist, was außerhalb der Wissenschaft liegt oder erst nach dem ‚eigentlichen’ Studium seinen Platz hat, sondern sie ist die Auseinandersetzung von Wissenschaft mit Wissenschaft und deren disziplinären und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Wissenschaft und Technik sind soziale Realitäten, sind gesellschaftlich, und zwar nicht erst nach ihrer Entstehung, sondern auch und vor allem in ihrer Entstehung. Entsprechend müssen Orte und Zeiten im Forschungs- und Lehrbetrieb zur Einsicht und Analyse dieses Faktums vorgesehen sein. Dieses Studieren muss von der Universität nahe gelegt und gefördert, aber schon gar nicht erschwert werden. Es verwässert nicht das Fachstudium, sondern verbessert es. Allerdings setzt das im Interesse einer problemorientierten Wissenschaftsentwicklung die selbstkritische Bereitschaft der Fachleute voraus. Wohlbemerkt: Es geht dabei nicht darum, das Fach zu verlassen, sondern reflexiv zu durchdringen. Vieles hat sich im Wissenschafts- und Technikstudium eingeschlichen, das jetzt, weil es ist, als unverzichtbar gilt, aber im Grunde einer problemorientierten Fachentwicklung und Bildung im Wege steht. Pädagogisch ist diesbezüglich vor allem die Rede vom „Stoff“ verräterisch, der zu pauken und irgendwie halbwegs stimmig qua Klausur abzuliefern ist [22, 23]. Sie verrät Fremdheit und Uneinsichtigkeit gegenüber der Sache, erniedrigt Studierende zu Lernsklaven, die nicht selten dann auch so unmündig und kindisch sich verhalten. Solche Studienteile vergeuden zum einen Intelligenz, Zeit, Kreativität und sie befördern zum anderen autoritäre Dispositionen bei den Studierenden, die schlicht einer vernünftigen Forschung im Wege stehen. Interdisziplinarität bietet die Chance, zum Ort kritischer Einsicht in diese Dilemmata und zugleich auch damit zum Ansatzpunkt der Generierung komplexer und sozial ausgerichteter Forschungen zu werden. Zur Implementierung interdisziplinärer Studienanteile existieren an unserer Universität Institutionen wie das ZIT, die nicht als ZIT das Interdisziplinäre erledigen, sondern denen interdisziplinäre Forschung und Lehre innerhalb der Universität zu stiften aufgegeben ist. Projekte die hieraus
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oder aus anderen Zusammenhängen erwachsen, werden dann zu Orten oder gar, wie im Falle der Bionik zu neuen Schwerpunkten. In ihnen sollte daher im besonderen Maße ein Bewusstsein von Interdisziplinarität kultiviert und wach gehalten werden, und dies sowohl für den Projektzweck, wie auch für einen veränderten Blick auf die Herkunftsdisziplin. Entscheidend für Forschung und Lehre sind daher die Einbeziehung von Wertfragen sowie die Bearbeitung ihrer sozialen und politischen Dimension. Eine Lehre aus den letzten Jahrzehnten kann dabei sein, dass dies nicht immer erst als nachträgliche Folgenabschätzung geschieht, sondern von der Ideengenerierung, über die Planung bis in die Erprobung ein relevanter Fachaspekt ist. Einen wunderbaren Bericht gibt dafür Bender am Beispiel der „Biotechnologie“. Er berichtet von seinen Erfahrungen in Kooperation mit dem Institut für Biochemie über die Generierung einer sozialverantwortlichen Sachlichkeit unter dem Titel: „Lernprozess interdisziplinärer Technikforschung“ [24, S 119–136]. Die sozialen Dimensionen, die gesellschaftlichen Gründe und Zwecke sowie das Insgesamt der Wertimplikationen gehören, nach all den Erfahrungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in die Theorie und Praxis von Wissenschaft und Technik. Ich will an dieser Stelle den Bogen zum Anfang schlagen. Das „Credo“, die Vision gehören zur Wissenschaft und schon sie sind kritisch zu reflektieren. Jan Schmidt weist jüngst in einer Studie zur Nanotechnologie auf die Notwendigkeit hin, „Vision Assessment“ also „Weltbildfolgenabschätzung“ zu betreiben [25, S.217]. Angesichts der ungeheuren Kapitalkraft, die hinter solchen ‚auserwählten’ technischen Visionen steckt, hat kritische Prüfung schon bei der Vision anzufangen. Das Credo gehört schon zur zu überprüfenden Forschung und Lehre, und diese ist nur interdisziplinär möglich. Mit dieser Aufmerksamkeit auf die konstitutive Forschungsfunktion von subjektiven Phantasien und Projektionen der ForscherInnen wird noch stärker als 1970 der notwendige Zusammenhang von subjektiver Bildung und Wissenschafts- und Technikgestaltung von „Education“ und „Innovation“ – so Jantsch [26] – offenkundig. Die interdisziplinäre Bildungsfunktion einer solchen Neuausrichtung für die Studierenden, das wird allzu oft vergessen, erfolgt aber nicht nur bezüglich ihrer Profession als zukünftige reflektierte ExpertInnen. Sie gilt auch für alle Studierenden als Laien im nichteigenen Fach und es gilt insgesamt für jede Spezialistin und jeden Spezialisten, der immer auch urteilsfähiger und engagierter, eben mündiger Bürger sein soll, gerade wenn zunehmend gesellschaftliche und politische Probleme und Entscheidungen wissenschaftlich oder technologisch durchsetzt bzw. bestimmt sind.
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6. Anfragen zur interdisziplinären Theorie und Praxis an das Bionik-Projekt Ich möchte meinen Beitrag mit Anfragen an das Bionik-Projekt beenden. Das Bionik-Projekt versteht sich als interdisziplinär, weil hier in ungewöhnlicher Weise Naturwissenschaft und Technik zusammenarbeiten. Sie tun dies allerdings unter der Beanspruchung einer Naturvorstellung, die in eine technisch-ökonomische Vision eingebunden ist. Meine Anfragen verstehen sich als kritische Hilfe den objektiv interdisziplinären Charakter des zweifellos visionären Projekts in Forschung und Lehre auch zu entbinden, Ich erinnere noch einmal an meine vier „Warum-Kriterien“ für Interdisziplinarität: − um die genuinen wissenschaftlichen Produktivitätspotentiale stets aufs Neue ausloten und wirksam machen zu können, − um die Kooperations- und Verständigungsprobleme zu identifizieren und für deren Bewältigung zu sensibilisieren, − um im ethisch-politischen Sinn verantwortliche Ein- und Abschätzungen von Forschungsstrategien vornehmen und − um diese innerhalb und außerhalb der Hochschule kommunizieren zu können. Anfragen lassen sich im Einzelnen wie folgt formulieren: − Gibt es Raum und Zeit zur Vergewisserung der grundsätzlichen Dimensionen des Projekts für die beteiligten Fächer (Auffassung vom Gegenstand, seiner wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Relevanz, seiner Methodik)? − Gibt es erkennbare und bewusste Rückwirkungen auf die Disziplinen? Sind diese Rückwirkungen Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchungen bzw. interdisziplinärer Begleitung? − Gibt es Einbindungen dieser Projektarbeit in das Studium der Einzelfächer? Wenn ja, in welchem Stadium des Studiums und mit welchem disziplinären Status? Wie wird diese Einbeziehung eingeschätzt? − Wie wird das Projekt öffentlich kommuniziert, mit wem und von wem getragen? Hat die Kommunikation des Projekts, seine Resonanz Wirkungen auf das Projektverständnis, die Projektgegenstände? − Welche Widerstände oder Vereinnahmungspraxen gibt es, welcher Art sind sie? Meinen Beitrag schließe ich bewusst mit einer zugespitzten Frage, die auf das Projekt als Ganzes zielt und insofern eine grundsätzliche ist. Ich frage an: Inwiefern ist im BIONIK-Projekt der SOZIBIONISCHE Charakter bewusster und auch wissenschaftlicher Gegenstand desselben?
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Denn ganz i.S. unserer TU-Kriterien gesprochen, ist die BIONIK formell nur eine schwache Interdisziplinarität, keine mit komplementären Partnern der two cultures. Allerdings ist ihre Vision, ihr Credo, wie die Verantwortlichen sagen, immens und viel mehr als bloß eine wissenschaftlich-technische Kooperation, was auch methodisch in der „Modellübertragung“ offenkundig wird. Schon der Titel: „Lernen von der Natur“, gar mit der Ausrichtung auf ‚naturökonomische’ „Optimierung“, offenbart ein ihr zugrunde liegendes umwälzendes gesamttechnologisches Versprechen. Aber gerade weil das so ist, wächst dem Projekt um seiner selbst willen die Aufgabe als eine notwendige zu, nach den in ihr enthaltenen sozialen und ökonomischen Dimensionen zu fragen. Dieses Fragen darf, der Güte und Dimension des Projekts wegen auch nicht beiläufig oder gar unprofessionell erfolgen, sondern sollte bewusster Teil ihrer Forschungs- und Lehranstrengungen sein, damit nicht ohne fachkritische Reflexion laienhafte und „unwissenschaftliche“ Natur- und Technikmetaphern eine strukturell verkürzte Interdisziplinarität verstecken. Gerade angesichts beschleunigter Ökonomisierung von Wissenschaft und Technik [27], der auch die Bionik unterliegt, ist besonders darauf zu achten, dass verkürzte Interdisziplinarität nicht zur Fortschrittsmaske verkommt und sei die naturwissenschaftlich-techniche Sache unstrittig noch so spannend und vielversprechend! In prinzipieller Weise ist daher zu fragen: − Inwieweit werden soziale Parameter bzw. politische Dimensionen zum Gegenstand von Projektüberlegungen und zwar bezüglich a) der Projektziele und -gründe, b) möglicher fachlicher Alternativen und c) nichtfachlicher Konsequenzen (z.B. in welchem Verhältnis stehen Aufwendungen für teure Prothetik zu vorbeugenden oder sozialmedizinischen Aufwendungen)? Interdisziplinarität kann nur dann humane Wissenschafts- und Technikentwicklung befördern und reflektierte ExpertInnen hervorbringen, wenn sie im vollen Bewusstsein ihres Doppelcharakters und ihrer Wechselwirkungen von Natur-Technik-Gesellschaft betrieben und organisiert wird. Literatur [1] TU Darmstadt (Hrsg.) (2002) Bionik. TUD Thema Forschung 2/2002 [2] Schmidt JC (2002) Wissenschaftsphilosophische Perspektiven der Bionik. In: TU Darmstadt (Hrsg.) Bionik, a.a.O., S 14–19 [3] Weber D (o.J.) Bionik oder Das Gesellenstück des Zauberlehrlings. In: BIOforum. [4] Nachtigall W (1997) Vorbild Natur. Springer, Berlin [5] Ropohl G (1998) Wie die Technik zur Vernunft kommt. Beiträge zum Paradigmenwechsel in den Technikwissenschaften. Amsterdam [6] Hentig H von (1972) Magier oder Magister? Über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozeß. Stuttgart
Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre
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Naturorientierte Innovationsstrategie – Entwickeln und Konstruieren nach biologischen Vorbildern Bernd Hill Institut für Technik und ihre Didaktik, Universität Münster
Zusammenfassung Entwicklungsteams orientieren sich noch zu wenig an den Evolutionsgesetzmäßigkeiten und Strukturprinzipien biologischer Systeme. Dabei könnte das Orientieren an den Gesetzmäßigkeiten der Evolution biologischer Systeme sowie an den effizienten Funktions-, Struktur- und Organisationsprinzipien der lebenden Natur vielfältige Anregungen für neue Produktideen liefern. Aus diesem Grund konzipierte der Autor dieses Beitrages eine Konstruktionsbionik, die dem Entwicklungsingenieur hilft, die lebende Natur systematisch und zielgerichtet als Inspirationsquelle zu nutzen.
Abstract Development teams orient themselves still too little at the evolution regularities and structure principles of biological systems. Orienting at the regularities of the evolution of biological systems as well as at the efficient principles of operation, structure and organization of living nature could supply various suggestions for new product ideas. For this reason the author of this contribution conceived a construction bionics, which helps the development engineer to use living nature systematically and purposefully as source of inspiration.
1. Einleitung Neue Erfindungen in Form von Produktideen bestimmen die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens. Sie ist ein entscheidender Wettbewerbsfaktor bei der Markterschließung und -behauptung. Eine auf Kreativität gestützte Innovationsfähigkeit ist die Voraussetzung für die Generierung neuer Produktideen. Neue Produktideen werden durch Erfindungs- bzw. Problemlösungsprozesse hervorgebracht. Die Frage besteht nun darin, wie solche Erfindungsprozesse als Problemlösungsprozesse ablaufen und wie
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sie methodisch unterstützt werden können, um Anregungen für Problemlösungen zu geben, damit in angemessener Zeit und mit vertretbarem Aufwand systematisch und zielstrebig Erfindungen generiert werden können. Anregungen für neue Produktlösungen sind in den Strukturen der biologischen Evolution vergegenständlicht. Dabei ist es eine Tatsache, dass über drei Milliarden Jahre evolutionärer Naturprozesse biologische Strukturen von überströmender Fülle und nahezu unübersehbarer Diversität hervorbringen, die sich als Gestaltungsanregungen für eine effiziente, ökologische und ökonomische Technik anbieten. Erfindungen der Natur, genutzt für die Technik des Menschen, waren schon oft Ausgangspunkt bei der erfolgreichen Lösung technischer Probleme. Der menschliche Erfindergeist hat aber auch in vielen Fällen technische Lösungen hervorgebracht, die, wie es sich herausstellte, in der Natur schon seit Jahrmillionen existieren. Entwicklungsaufwand könnte erheblich reduziert werden, würde der Konstrukteur die lebende Natur mit ihrem unermesslichen Reichtum an effizienten Strukturen systematisch als Ideenquelle nutzen. Entwicklungsteams orientieren sich noch zu wenig an den Evolutionsgesetzmäßigkeiten und Prinzipien biologischer Systeme. Gründe dafür sind, dass zum Beispiel entsprechende methodische Mittel zum Konstruieren in Form von heuristisch nutzbaren Katalogen zur Zielbestimmung und Lösungsfindung mit biologischen Strukturdarstellungen noch nicht verfügbar sind. Unbestritten ist, dass viele Problemlösungen der Natur ökologischen Anforderungen besser entsprechen als jene der heutigen Technik. Die in der Natur vorherrschende Strategie, mit einem Minimum an Material und Energie ein Maximum an Funktionalität und Zuverlässigkeit zu erreichen, ist auch richtungsweisend für Produktentwicklungen. Es muss darum gehen, den unermesslichen Artenreichtum der Natur als Lösungspotential für künftige Entwicklungsaufgaben zielgerichtet und systematisch zu nutzen. Weiterhin muss es auch darum gehen, reproduzierbare Abläufe in bionisch orientierten Erfindungs- bzw. Problemlösungsprozessen aufzudecken und als heuristische Anweisungen in Form von Orientierungsgrundlagen methodisch aufzubereiten und nutzbar zu machen. Im Mittelpunkt nachfolgender Betrachtungen stehen also Maßnahmen und Möglichkeiten des zielgerichteten Lenkens des Denkprozesses unter dem Einsatz von Kreativität und Intuition. Durch die Bereitstellung von Assoziationskatalogen zu biologischen Strukturen kann die Kreativität und die Intuition des Problemlösers herausgefordert bzw. gesteigert werden. Die technische Lösung stellt in diesem Zusammenhang eine „kreative Metamorphose“ des Naturvorbildes dar. Dadurch wird es möglich, technische Lösungen planmäßig und nicht zufällig zu generieren, sondern sie als folgerichtiges und nicht zufallsbehaftetes Ergebnis im Problemlösungsprozess zu erhalten.
Naturorientierte Innovationsstrategie
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2. Natürliche Konstruktionen als Vorbilder Von den etwa jährlich 40.000 angemeldeten Erfindungen in Deutschland befindet sich auch eine zunehmend steigende Anzahl, die auf Strukturen biologischer Systeme zurückzuführen sind. Dieses „Abgucken“ von der Natur ist seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einer Wissenschaftsdisziplin, der Bionik, geworden. Sie „befasst sich systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme“ [4]. Die Wissenschaft Bionik verhalf zu Innovationen, wie beispielsweise Klettverschluss, Wulstbug, selbstreinigende Oberflächen, Ribletfolien für Flugzeuge zur Treibstoffeinsparung und vieles mehr. Die biologische Evolution als universeller Selbstorganisationsprozess, der ständig neue Arten hervorbringt, ist eine „unerschöpfliche Innovationsquelle“ für eine energie- und materialsparende Technik. Die Bionik nutzt als grundlegende Methode die Analogiebildung. Analogie bedeutet Ähnlichkeit unterschiedlichen Grades hinsichtlich bestimmter Aspekte, Eigenschaften und Relationen zwischen verschiedenen Systemen. Sie kann im Grenzfall in Identität übergehen. Ausgehend von einer technisch zu realisierenden Funktion werden biologische Systeme mit analogen Funktionen ermittelt, Funktionsmerkmale verglichen und anschließend die Möglichkeiten einer Übertragung struktureller Merkmale des biologischen Systems auf das antizipierte technische System überprüft. Funktionelle Analogie liegt vor, wenn zwei Systeme, die sich nach der Art ihrer Elemente, aber auch nach ihrem strukturellem Aufbau voneinander unterscheiden, aber im Hinblick auf von ihnen realisierte Funktionen übereinstimmen. Unter dem Aspekt der funktionellen Analogie werden folgende Stufen der Analogie zwischen zwei Systemen unterschieden: − sie können durch verschiedene Wirkungsmechanismen gleiche Resultate hervorbringen; − sie können gleiche Resultate aufgrund gleicher Verhaltensweise hervorbringen; − sie können gleiche Resultate aufgrund gleicher Verhaltensweise bewirken; − sie können gleiche Resultate aufgrund gleicher Verhaltensweise, gleicher Struktur und einer Gleichartigkeit des Materials, aus dem diese Struktur aufgebaut ist, erzielen. Die Analogiebildung und damit das Auslösen von Assoziationen kann effektiviert werden, wenn Speichersysteme zu biologischen Strukturen verfügbar sind. Zu diesem Zweck werden Kataloge konzipiert, die die Zielbestimmung und Lösungsfindung unterstützen. In den Katalogen befinden sich biologische Strukturdarstellungen, die zur Analogieklasse der Grund-
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Bernd Hill
funktionen zusammengefasst sind. Die Verwendung der Assoziationskataloge erschließt dem Konstrukteur ein reiches Arsenal analoger Lösungsmöglichkeiten für konstruktive Probleme. BS1
BS2
BS3
...............
BSn
Prinzipdarstellung
P1
P2
P3
...............
Pn
Assoziationen zur Lösungsfindung
A1
A2
A3
...............
An
Bio-Strukturen
L
Lösungsansatz zur Ausgestaltung einer technischen Struktur
Abb. 1. Biostrukturen als Anregungspotenzial
Die Kataloge sind eine Hilfe zur Zielbestimmung und Lösungsfindung. Sie ermöglichen durch ihren Einsatz eine Verkürzung von Entwicklungszeiten. Mit Hilfe der Analogiemethode werden ähnlich funktionierende Systeme aus der Natur analysiert und deren Strukturen abstrahiert, um das zugrundeliegende Prinzip aufzudecken. Dieses so gewonnene Prinzip kann durch Variation und/oder Kombination zugrundeliegender Strukturelemente auf der Grundlage zu realisierender Anforderungen, Bedingungen und Wünsche aus mehrdimensionaler Sicht in eine geeignete technische Lösung umgesetzt werden. Diese Handlungen sind in den bionischen Denkund Handlungsprozess als allgemeines Orientierungsmodell integriert. Er ist für eine bionische Arbeitsweise charakteristisch und in seiner didaktischen Aufbereitung lehr- und lernbar. Die nachfolgende Darstellung zeigt vereinfacht diesen Prozess. Bestandteil dieses Prozesses sind folgende Methoden: − Analogiemethode − systemanalysierende Black-Box-Methode und Modellmethode − Variations- und Kombinationsmethode − Bewertungsmethoden sowie − Gestaltungsregeln und -prinzipien.
Naturorientierte Innovationsstrategie ANALYSE
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SYNTHESE
ABSTRAHIEREN
Experiment als Mittel zur Erkenntnisgewinnung (Experimentelle Methode)
Analogieobjekt: Biologisches System
KONKRETISIEREN
PRINZIP
Technische Lösung
Abb. 2. Bionischer Denk- und Handlungsprozess
Diese Methoden zur Analyse biologischer und zur Synthese technischer Systeme sind daher bewusst zu vollziehen. In der Ingenieurausbildung sollten sie als Bestandteil des bionischen Denk- und Handlungsprozesses zum Aneignungsgegenstand gehören. Dieser Prozess gibt dem praktisch tätigen Ingenieur einen Überblick, eine grobe Orientierung für sein Vorgehen. Erst durch die Nutzung der dem Prozess zugeordneten Methoden wird dieser praktisch anwendbar. Hierbei ist das Erkennen der Naturformen, das Vordringen zum Prinzip durch Analyse und Abstraktion und dessen kreative Umsetzung in eine technische Lösung die praktische Anwendung des allgemeingültigen Erkenntnisweges. Dieser Erkenntnisweg, der von der lebendigen Anschauung (biologisches System) zum abstrakten Denken (Wirkprinzip) und von diesem zur Praxis (technische Lösung) führt, ist nicht nur der Weg der Erkenntnis über das biologische System, sondern auch der zur Umgestaltung der Wirklichkeit in Gestalt der technischen Lösung. Ein in den technischen Problemlösungsprozess integriertes bionisches Denken und Handeln kann daher als systematischer Weg zur Entwicklung von naturorientierten und ökologisch wirksamen Konstruktionen beschrieben werden. Er beinhaltet in seiner Gesamtheit auf der einen Seite eine deduktive und auf der anderen Seite eine induktive Phase. Ausgangspunkt des Prozesses ist eine technische Problemsituation bzw. Problemstellung, die eine geforderte Funktion mit zu realisierenden Anforderungen beinhaltet. Hier setzt die Analogiebildung an, denn hier wird die Funktion in den Analogiebereich Natur übertragen. Anschließend werden biol. Sys-
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teme mit analogen Funktionen ermittelt, Funktionsmerkmale verglichen und die Möglichkeiten einer Übertragung struktureller Merkmale des biologischen Systems auf den technischen Sachverhalt überprüft. Analogiebildung erfordert die Fähigkeit zur Abstraktion, denn man muss im konkreten biologischen Vorbild das darin zum Ausdruck kommende Prinzip aufdecken und auf den technischen Sachverhalt übertragen. Die Prinzipaufdeckung ist ein Kreativitätsakt, denn hierbei werden Ähnlichkeiten von Systemen aus zwei unterschiedlichen Realitätsbereichen aufgedeckt, die dem Problemlöser bislang verborgen waren. Der Kreativitätsakt wird dabei durch die Intuition unterstützt. Das so gewonnene Prinzip kann durch Variation von Strukturelementen auf der Grundlage zu realisierender Anforderungen, Bedingungen und Wünsche, in eine geeignete technische Lösung umgesetzt werden. Insofern liegt dieser Vorgehensweise die notwendige Erkenntnisgewinnung für die Gestaltbarkeit von Technik zugrunde. 3. Zielbestimmung/Lösungsfindung unter bionischen Aspekten Die kreative Übertragung der Orientierungsfunktion - Technik nutzt die tendenzielle Analogie mit der Natur - auf vorhandene technische Lösungen/Stand der Technik ermöglicht es, Technik in gewissen Grenzen nach biologischen Evolutionsgesetzmäßigkeiten auszurichten. Dabei kommt es keinesfalls auf die direkte Übertragung der Gesetzmäßigkeiten auf den Stand der Technik an, sondern in erster Linie auf dessen Weiterentwicklung in Richtung höherer Effektivität und ökologischer Wirksamkeit. Produkte können so auf einer betrachteten Evolutionsstufe, beispielsweise vom Stand er Technik aus, in Richtung Effektivitätserhöhung auf die nächsthöhere Evolutionsstufe überführt werden.
Evolutionsgesetze
Stand der Technik
Evolutionsschritte
Evolutionsetappen
Evolutionstrends
Ermitteln des Ent-
Aufdecken von Ent-
Bestimmen der Ent-
wicklungsstandes
wicklungsreserven
wicklungsrichtung
Abb. 3. Bionische Zielbestimmung
Naturorientierte Innovationsstrategie
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Die heuristische Nutzung der Evolutionsgesetzmäßigkeiten kennzeichnet die nachfolgende Darstellung. Die Evolutionsgesetzmäßigkeiten dienen in erster Linie zur Findung von Effektivitätsfaktoren, zur Bestätigung der Entwicklungsziele aus evolutionärer Sicht und auch zur Aufdeckung erster, unscharfer Lösungsansätze.
Beispiel: Evolutionstrends Die Evolutionstrends werden durch Biostrukturen aufgezeigt. So wird der Evolutionstrend - Reduzierung des Stoffeinsatzes - durch das Prinzip der Profilierung ausgedrückt. Dabei ist zu fragen, ob dieses Prinzip am Stand der Technik realisiert ist. Ist dies nicht der Fall, bestehen aus dessen Übertragung erfolgversprechende Entwicklungsmöglichkeiten, die in der Zielbestimmung ihren Ausdruck finden. Durch Analogiebetrachtungen besteht die Möglichkeit, Erkenntnisse über heuristisch nutzbare Gesetzmäßigkeiten, die abstrahier- und damit vergleichbar sind, auf Produktentwicklungen zu übertragen. Technik nutzt zur Lösungsfindung die funktionelle Analogie mit der lebenden Natur. Zum Zwecke der systematischen Lösungsfindung werden Kataloge biologischer Strukturen konzipiert und eingesetzt, die die Lösungsfindung unterstützen.
Abb. 4. Ausschnitt aus dem Strukturkatalog „Biologische Systeme“
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Bernd Hill
Die biologischen Strukturen sind nach den Grundfunktionen, wie Formen, Wandeln, Übertragen, Speichern/Sperren, Trennen/Verbinden und Stützen/Tragen von Stoff, Energie und Information geordnet. Durch die Nutzung der Grundfunktionen kann das Suchfeld für originelle Lösungen zunächst erweitert werden, denn in dem höheren Grad der Abstraktion der Grundfunktionen liegt der Vorteil, nicht an eine spezielle Funktion gebunden zu sein. Im Rahmen der NOIS ist das Naturvorbild in seinem Evolutions-, Funktions- und Struktur-Zusammenhang ein gestaltbares Element im Konstruktionsprozess, von dem aus eine Weiterentwicklung unter speziellen technisch-technologischen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen erfolgen kann (Abb. 5). Evolutionsgesetzmäßigkeiten und biologische Strukturen sollen hier vielmehr durch Analogiebildung Assoziationen zur Zielorientierung und Lösungsfindung auslösen, da direkte Übertragungen nahezu unmöglich sind. Dieses strategische Vorgehen ähnelt daher der FUZZY-LOGIK, denn in einem assoziativ ermittelten Lösungsansatz liegt noch die Unschärfe, die mit der Kreativität des Konstrukteurs auszufüllen ist. Die Bestimmung der Entwicklungsrichtung des antizipierten technischen Systems besteht in der Aufdeckung relevanter Evolutionstrends und -gesetzmäßigkeiten und die Lösungsfindung in der Herauslösung des den biologischen Strukturen zugrundeliegenden Prinzipien sowie deren Übertragung auf den technischen Problemsachverhalt. Naturbezogene Zielbestimmung und Lösungsfindung sind daher Kernelemente der „Naturorientierten Innovationsstrategie“. Natur
Technik
Funktionsanalogie
Vorhandenes biologisches System als Vorbild
Relevante Struktur
Zu entwickelnde technische Lösung
Verändern von Merkmalen gemäß Anforderungen aus technisch-technologischer, ökonomischer, ökologischer und sozialer Sicht
Abb. 5. Bionische Vernetzung von Realitätsbereichen
Naturorientierte Innovationsstrategie
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Biologische Konstruktionen haben für die Technik Orientierungscharakter und sind als heuristisch nutzbare Modelle Ausgangspunkt für technische Problemlösungen. Bei der Übertragung biologischer Sachverhalte auf technische Problemlösungen kommt es weniger auf die Exaktheit der Übertragung, sondern auf die daraus entspringende Inspiration an. Ein in den Konstruktionsprozess integriertes bionisches Denken und Handeln kann als systematischer Weg zur Entwicklung von naturorientierten und ökologisch wirksamen Konstruktionen beschrieben werden. Durch die Nutzung von Katalogen zu Evolutionsgesetzmäßigkeiten zur Zielbestimmung und biologischen Funktions-, Struktur-/ Organisationsprinzipien zur Lösungsfindung können Anregungen für Ziele und Problemlösungen gewonnen werden. Die NOIS ist daher durch die Etappen Zielbestimmung und Lösungsfindung strukturiert. Im Vergleich zur VDI-Richtlinie 2221 und anderer traditioneller Vorgehensweisen werden folgende Positionen deutlich: − Die Komplexität der Betrachtung technischer Entwicklungsprozesse wird erweitert. Um diese Komplexität handhabbar zu machen, werden Orientierungsmodelle zur Überwindung von Denkbarrieren konzipiert. − Die Aufgaben- bzw. Zielbestimmung nimmt größeren Raum ein. Biostrategische Orientierungsmittel in Form von Katalogen zu Gesetzmäßigkeiten der biologischen Evolution werden zur Ableitung technischer Teilaufgaben genutzt. − Es geht nicht darum, möglichst viele Lösungsvarianten zu erzeugen, um dann nur eine bzw. nur wenige davon zu verwenden, sondern die funktionalen Anforderungen an die zu entwickelnde technische Lösung werden so weit „zugespitzt“, dass dadurch Widersprüche erkennbar werden, die bei der Lösungsfindung durch Nutzung o.g. Kataloge zu erfinderischen Strukturansätzen führen können. − Neben der funktionsorientierten, wird die widerspruchsorientierte Betrachtung in die Strategie einbezogen, die es ermöglicht, die „treffende“ Entwicklungsaufgabe bzw. Suchfrage zu formulieren und Lösungen mit hoher Effizienz anzustreben. − Für die Gewinnung von Lösungsansätzen sind verschiedene Analogieklassen als Katalogblätter zur Auslösung von Assoziationen geeignet. Die Lösungsfindung ist strukturierter.
Der Nutzer der NOIS ist durch den Einsatz der zu den Vorgehensschritten zugeordneten methodischen Mittel in der Lage: − Denkbarrieren im konstruktiven Entwicklungsprozess erfolgreicher zu überwinden, − Ziele nicht nur aus der Sicht des Marktes, sondern auch aus der Sicht der evolutionären Entwicklung zu bestimmen, − zielgerichtet vorzugehen und damit Entwicklungszeiten zu verkürzen, − die Lösungsfindung zu effektivieren, − die eigene Kreativität zu steigern, sowie
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− in der Vernetzung zwischen biologischen Vorbild und zu entwickelnder technischer Lösung zu denken, um Analogien mit geringeren kognitiven Suchaufwand zu bilden.
Damit stehen den Entwicklungsteams neuartige „Konstruktionswerkzeuge“ zur Zielbestimmung und Lösungsfindung als heuristisch nutzbare Hilfen im Konstruktionsprozess zur Verfügung. Die lebende Natur ist eine bedeutsame Innovationsquelle für den Ingenieur, eine Quelle also, die zum Weiterdenken, zu Produktentwickeln veranlasst und entsprechende Lösungsansätze für neue Produkte liefert. Tabelle 1. Strategiemodell zur Zielbestimmung und Lösungsfindung in bionisch orientierten Entwicklungsprozessen 1. Ziel Schritte / methodische Hilfen 1.1 Untersuchung der Markt- und Bedarfssituation (speziellen Betrachtungsbereich ermitteln / W-Fragen-Methode) 1.2 Durchführung eines Systemanalyse/ Funktionsanalyse / Strukturanalyse 1.3 Erfassung des Standes der Technik / Entwicklungsstandtabelle
1.4 Durchführung einer Generationsbetrachtung / Generationstabelle 1.5 Bestimmung des Evolutionsstandes / Evolutionsstandtabelle 1.6 Bestimmung von Effektivitätsfaktoren / Effektivitätsgleichung 1.7 Aufstellung der Anforderungsmatrix und Auswahl relevanter Widersprüche 1.8 Bezeichnung der paradoxen Forderung Entwicklungsaufgabe mit Erfinderischer Zielstellung
2. Lösungsfindung Schritte / methodische Hilfen 2.1 Bestimmung der den widersprechenden Forderungen zugrundeliegenden Grundfunktionen / Orientierungsmodell biologischer Grundfunktionen 2.2 Aufdeckung relevanter biol. Strukturen mit gleichen oder ähnlichen Funktionsmerkmalen / Katalogblätter 2.3 Zusammenstellung relevanter Strukturen in einer Tabelle und Ableitung erster Lösungsansätze (Prinziplösungen) Tabelle biologischer Strukturdarstellungen / Assoziationsmatrix 2.4 Übertragung der ermittelten Lösungsansätze in eine technische Lösung entsprechend den Anforderungen 2.4.1 Variieren und / oder Kombinieren relevanter Merkmale / Variations- und / oder Kombinationsmethode 2.4.2 Bewertung von Lösungselementen bzw. technischen Varianten / Bewertungsmethoden 2.5 Ausarbeitung der technischen Lösung
Technische Lösung
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Die Untersuchung des Lokomotionsapparates von Fischen mit der ‘Transduktions-Methode’
Konstruktions-Biologie und Biomechanische Konstruktion technischer Apparate Bernhard Köhler Forschungsinstitut Senckenberg, Frankfurt am Main
Zusammenfassung Es werden die einzelnen Schritte der neuen Transduktions-Methode dargestellt. Sie führen von einer biologischen Untersuchung der Morphologie eines FischKörpers und über Abbildungen der Morphologie zu abstrahierten technischen Zeichnungen. Diese werden mit CAD-Programmen weiter ausgearbeitet. Ziel ist es Konstruktionsunterlagen für bionische Konstruktionen zu erstellen.
Abstract The steps of the new ‘transduction-method’ are described. The first steps are biological examinations of the morphology of a fish body. The results are morphological drawings. These lead to abstract technical drawings. They give the basic information for the design of bionic constructions by using CAD-Programs.
1. Einführung Die innovativen strukturellen und funktionellen Entwürfe von bionischen Apparaten und die Untersuchungen der Biomechanik von Organismen erfordern interdisziplinäres Anwenden biologischer Methoden und ingenieurwissenschaftlicher Methoden. Es wird eine Arbeitsweise vorgestellt, welche biologische Untersuchungsmethoden der Morphologie biologischer Objekte mit technischen Darstellungs-Methoden verbindet. Diese Vorgehensweise wird TRANSDUKTIONS-Methode genannt [1]. Sie verbindet interdisziplinär die Methoden verschiedener Disziplinen. Mit dieser Arbeitsweise wird ein Bogen von der Biologie zu den IngenieurWissenschaften geschlagen (Abb. 1).
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Bernhard Köhler
Abb. 1. Verbindung zwischen Biologie und Ingenieur-Wissenschaften
Dieses Verbinden von Methoden eröffnet Ingenieuren einen Zugang zum Verständnis der biomechanischen Konstruktion von Organismen, wenn sie Robotik-Maschinen konstruieren mit dem Ziel, die Bewegungsweise von Tieren nachzuahmen, z.B. die Fortbewegung eines Fisches durch das Wasser (Abb. 2). Abb. 2. Robotuna, nach [14]
In der Biologie wird die Transduktions-Methode benutzt, um die innere Konstruktion und die Funktionsweise der Bewegungsapparate von Forellen, Makrelen und anderen Fischen aufzuklären [9]. Der Begriff Funktionsweise [13], bezeichnet die biomechanischen Vorgänge im Körper, welche die von außen beobachtbaren Körperbewegungen erzeugen. Die Transduktions-Methode eröffnet neue Ansätze für Biologen, welche Fragen zur Evolution bearbeiten, indem sie tierische Organismen als biomechanische Konstruktionen untersuchen und die Evolution als einen Pro-
Transduktionsmethode
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zess verstehen, welcher eine Abfolge von biologischen Konstruktionen hervorbringt, die auseinander hervorgehen, wobei sie sich ständig verändern. Die Konstruktion eines Organismus wird als abgeleitet von einer Vorläufer-Konstruktion aufgefasst. Die Funktionsweise eines Organismus wird dabei biomechanisch begründet. Es werden Folgen von biomechanisch auseinander hervorgehenden hypothetischen Konstruktionen aufgestellt. Homologien werden als Abfolge von abgeleiteten Konstruktionen interpretiert, begründet und beschrieben (Abb. 3). Abb. 3. Hypothetische Abfolge von Chordaten-Konstruktionen, nach [4]
Der Begriff BIOMECHANISCHE KONSTRUKTION hat für die Arbeitsweise nach der Transduktions-Methode eine zentrale Bedeutung: 1. für die geometrische Beschreibung der Morphologie von Organismen, 2. für das Entwerfen und das Konstruieren von biologisch-technischen Maschinen.
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2. Bewegungen von Fischen und Fisch-Antrieben In einer Übersicht beschreibt Nachtigall [12] die Konstruktionen von Apparaten, mit denen versucht wurde, die Antriebsweise der Fische technisch nachzubauen (Abb. 4).
Abb. 4. H. Schramms ”Wellenschwingungsantrieb”, nach [12]
Einen Antrieb technisch allein durch eine pendelnd schlagende Flosse am Ende der fischähnlichen Konstruktion zu erzeugen, ist aber, wie dieses Modell von Breder [2] zeigt, für eine fischähnliche Fortbewegung der Konstruktion nicht ausreichend.
Abb. 5. Bewegungen eines ostraci-formen Modells, nach [2]
Ausführliche kinematische Untersuchungen [2, 5-8] haben ergeben, dass die Fisch-Bewegungen weitaus komplexer sind als es den Anschein hat (Abb. 6).
Transduktionsmethode
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Abb. 6. Schwimmbewegungen eines Störes, nach [5]
Ein technischer Fisch-Antrieb muss also auch die Rumpfbiegungen eines Fisches während seiner Schwimmbewegungen (Abb. 6) technisch erzeugen. Dazu ist es erforderlich, die innere biomechanische Konstruktion des biologischen Vorbildes näherungsweise mit der technischen Konstruktion nachzubilden (Abb. 7).
Abb. 7. Verlauf der Muskelfasern in einem Fisch-Körper, Köhler [10]
Das wird erreicht mit einer Analyse der sichtbaren Fortbewegungen des biologischen Vorbildes, und einer Analyse des geometrischen Aufbaues seines inneren biomechanischen Gefüges aus Muskelzellen und Kraft übertragenden Strukturen aus Bindegewebe, welches seine äußerlich sichtbaren Bewegungen erzeugt.
3. Der innere Aufbau eines Fisch-Körpers Seit etwa 100 Jahren werden Fischkörper untersucht und morphologisch beschrieben [3, 9, 11, 15, 16]. Der Bewegungsapparat der Fische wird in regelmäßigen Abständen von Trennwänden aus Bindegewebe, den Myosepten, unterteilt (Abb. 8).
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Abb. 8. Myosepten eines Lachses (King Salmon), nach [3]
Zwischen den Myosepten verlaufen Muskelfasern in unterschiedlicher Richtung. Präpariert man Muskelzellen so dass sie in einer Reihe aufeinanderfolgen, entsteht der optische Eindruck, als würden die Muskelfasern einen spiraligen Verlauf nehmen. Ein so herausisolierter spiralig verlaufender Strang aus Muskelzellen wird von Alexander [1] mit “Trajektorium” bezeichnet (Abb. 9).
Abb. 9. Von Alexander präparierte Muskelzüge (Trajektorien) [1]
Der vollständige Aufbau des komplexen Gefüges aus Muskelfasern und Myosepten und dessen biomechanische Funktion ist noch unklar [16]. Tatsächlich ist die biomechanische Funktion der präparierten und morphologisch beschriebenen Strukturen aus einzelnen Myotomen und aus Abschnitten und Ausschnitten des Fischkörpers (Abb. 10) allein nicht zu gewinnen, denn die Bewegungen, welche der Fischkörper ausführt, werden nicht von einzelnen, voneinander unabhängig arbeitenden Bauteilen erzeugt, sondern von den Wechselwirkungen aller Teile der ganzen Kontinuums-Mechanik des Bewegungsapparates. Deshalb muss die geometrische Anordnung aller Bauteile zum ganzen Gefüge vollständig ohne Lücken erfasst und beschrieben werden.
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Abb. 10. Myotome, nach [17]
Diese geometrische Beschreibung bildet die Grundlage für eine HYOTHESE für die mechanische Wechselwirkung der Bauteile (Abb. 11). Die Wechselwirkungen ergeben sich aus den mechanischen Eigenschaften der biologischen Bauteile. Die Muskelfasern kontrahieren, die Myosepten übertragen Kräfte und das Skelett nimmt Kräfte auf (Abb. 11). Aus dem Zusammenwirken von Muskelfasern, Myosepten und Skelett entsteht ein Kräftemuster. Es biegt den Rumpf und bewegt die Schwanzflosse. Es wird also von der geometrischen Anordnung der kontrahierenden Muskelfasern und ihrer Zug-Wirkung auf kraftübertragende Elemente aus Bindegewebe auf das erzeugte Kräfte-Muster geschlossen. Die dreidimensionale geometrische Anordnung der Bauteile zur Morphologie des biologischen Gefüges und die Wirkung der Kontraktionen der Muskelfasern werden gedanklich zusammengeführt. Der hypothetische Entwurf leitet die biomechanische Interpretation der untersuchten morphologischen Strukturen. Im Beispiel
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Fisch-Körper werden die Myosepten als kraftübertragende Verspannungen interpretiert (Abb. 11).Verspannungen und Aktoren werden in einem Gefüge angeordnet ähnlich wie in dem biologischen Vorbild. Damit wird erreicht, dass die Aktoren ein Kräftemuster erzeugen, welches Bewegungen hervorruft, die den Bewegungen des biologischen Vorbilds nahe kommen. Geometrische 3D-Morphologie und biomechanische Hypothese ermöglichen eine dem biologischen Vorbild angenäherte biotechnische Konstruktion mit einer ähnlichen Kinematik.
Abb. 11. Schematische Darstellung der biomechanischen Hypothese
4. Beschreibung der Transduktions-Methode 4.1. Biologische Untersuchungen der Morphologie einer Forelle Ein biologisches Objekt (hier eine Forelle) wird mit den klassischen biologischen Methoden (Anatomie, Morphologie und Histologie) präpariert (Abb. 12), um einen Eindruck seiner anatomischen Struktur zu gewinnen.
Transduktionsmethode
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Abb. 12. Myosepten einer Forelle, Köhler [9]
Die durch die Präparation sichtbar gemachten Strukturen werden skizziert (Abb. 13).
Abb. 13. Zeichnung der Myosepten einer Forelle, Köhler [9]
Es werden Serienschnitte des ganzen Objektes (Großschnitte) in den drei Ebenen des Raumes horizontal, vertikal (= sagittal) und quer (= frontal) angefertigt und histologisch mit der Trichrom-Färbung AZAN gefärbt, um die Strukturen aus Bindegewebe differenziert hervortreten zu lassen (Abb. 14).
Abb. 14. Horizontal-Schnitt durch den Körper einer Forelle, AZAN-Färbung [9]
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4.2. Technisches Zeichnen Die in den Präparaten und Schnitten sichtbar gemachten Kanten der Myosepten werden abstrahierend mit technischen Zeichnungen geometrisch dargestellt (Abb. 15).
Abb. 15. Technische Skizze des Verlaufes der Myosepten einer Forelle [9]
4.2.1. Skizzen mit dem CAD-Programm Von den technischen Skizzen ausgehend werden mit Graphik– Programmen und CAD-Programmen Skizzen erstellt (Abb. 16).
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Abb. 16. Skizze der Myosepten mit Bemaßung, erstellt mit dem CAD-Programm
4.2.2. Räumliche Abbildung mit dem CAD-Programm Nach den technischen Skizzen wird mit einem CAD-Programm eine 3DAnsicht erstellt (Abb. 17).
Abb. 17. 3D-Ansicht mit einem CAD-Programm
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4.3. Modell Anhand der bis hierhin gewonnen Unterlagen wird ein einfaches reelles starres Modell angefertigt, welches in einer ersten Näherung das Prinzip der Verspannungen wiedergibt (Abb. 18).
Abb. 18. Modell des Verspannungs-Prinzips der Myosepten im Fisch-Körper [9]
4.4. Biomechanische Hypothese Die Strukturen aus Bindegewebe sind Verspannungen. An diesen Verspannungen ziehen die Muskelfasern. Die von den Muskelfasern durch ihre Kontraktion erzeugten Kräfte werden von den Platten aus Bindegewebe (= Myosepten) auf die Wirbelsäule, die Gräten und den knöchernen Skelett-Komplex der Schwanz-Flosse (= Caudalis) übertragen. Das Ergebnis ist eine Biegung von Körper und Schwanzflosse (Abb. 12). Die schlängelnden Biegungen treiben den Fisch durch das Wasser voran.
Transduktionsmethode
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5. Zusammenfassung Die Transduktions-Methode besteht aus vier Schritten: 1. Morphologische Untersuchung und Herstellung histologischer Serienschnitte in den drei Ebenen des Raumes. 2. Eine Beschreibung der Morphologischen Strukturen. 3. Eine abstrahierende Beschreibung der morphologischen Strukturen mit technischen Zeichnungen (Grafik- und CAD-Programme). 4. Die Anfertigung eines mechanischen Modells zur experimentellen Nachprüfung der aufgestellten Hypothesen. Es werden folgende Untersuchungsmethoden mit einander verbunden: • Biologische-morphologische Untersuchungen • kinematische Beobachtungen • die Eigenschaften der krafterzeugenden Bauteile (Muskelfasern) und der kraftaufnehmenden und kraftübertragenden Bauteile (flüssigkeitsgefüllte Räume, Bindegewebe, Knorpel, Hartteile). • die Gesetzmäßigkeiten der Technischen Mechanik. Die Transduktions-Methode überbrückt den interdisziplinären Abstand zwischen der biologischen Untersuchung von Organismen und den Ingenieur-Wissenschaften.
Danksagung Der Autor dankt für die Unterstützung bei der Ausarbeitung und Anwendung der beschriebenen Methode: Dr. M. Gudo (Senckenberg-Insitut) für die Unterstützung bei der Färbungen der Schnitte im Histologischen Labor; Dipl.-Ing. D. Schmidt (TU Darmstadt) für die Anfertigung der CAD-Zeichnungen; Dr. T. Rossmann (TU Darmstadt) für die Leitung des Semester-Praktikums "Animal Design" des Biotechnik-Zentrums.
Literatur [1] Alexander R McNeil (1969) The Orientation of Muscle Fibres in the Myomeres of Fish. J mar boil Ass U.K. 49: 263-290 [2] Breder CM (1926) The locomotion of Fishes. Zoologica 4: 159 [3] Green, Green (1914) The Skeletal-Musculature of the King Salmon. Bul Fish 33: 2159 [4] Gudo M, Grasshof M (2002) The Origin and early Evolution of Chordates. Senkenbergiana Lethaea 82(1): 325-346 [5] Hertel H (1963) Form, Struktur, Bewegung. Krauskopf, Mainz [6] Jayne BC, Lauder GV (1996) New Data on Axial Locomotion in Fishes. Am Zool 36: 642-655
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Bernhard Köhler
[7] Junge M (1997) Die Kinematik kontinuierlich schwimmender Forellen (Oncorhynchus mykiss). Biona Report 11: 311-330 [8] Kesel AB (1997) Funktionelle Anatomie und Physiologie der Muskulatur der Forelle (Oncorhynchus mykiss). Biona Report 11: 285-309 [9] Köhler B (in Vorb) Die Konstruktions-Morphologie eines Fischkörpers am Beispiel der Makrele (Scober scombrus) und Forelle (Oncorhynchus mykiss) [10] Köhler B, Gudo M (2002) Bionik und Konstruktionsbiologie. Thema Forschung Bionik, (2), Technische Universität Darmstadt [11] Langelaan, JW (1904) Over den Vorm van het rompmyotoom, Verst Akad Wetensch Amsterdam, 13 [12] Nachtigall W (1998) Bionik. Springer, Heidelberg [13] Peters DS, Mollenhauer D, Gutmann WS (1971) Bau, Konstruktion und Funktion des Organismus. Natur und Museum 101 (5): 208-218 [14] Triantafyllou MS, Triantafyllou GS (1995) Effizienter Flossenantrieb für einen Schwimmroboter. Spektrum Wiss (1995): 66-73 [15] Van der Stelt T, Abraham (1968): Spiermechanika en Myotoombouw bij Vissen. Akademisch Profschrift, Amsterdam [16] Westneat et al. (1993) The horizontal septum: Mechanisms of Force Transfer in Locomotion of Scombroid Fishes (Scombridae, Perciformes), J Morph 217: 183-204. [17] Webb PW, Weihs D (eds) (1983) Fish Biomechanics. Praeger, NewYork
"Biomechanical Animal Design" – ein neues Praktikums-Modell Bernhard Köhler, Doris Schmidt, Wolfgang Kilkowski, Martin Zeuch, Torsten Rossmann Biotechnik-Zentrum, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung An der TU Darmstadt wurde im Rahmen eines Semesterpraktikums die Übertragung morphologischer Untersuchungen des Bewegungsapparates einer Forelle in ein biomechanisches Modell nach der Transduktionsmethode [3] durchgeführt. Das Praktikum gliederte sich in drei Teile. Im ersten Teil wurde die Anatomie des Bewegungsapparates einer Forelle untersucht und gezeichnet. Im zweiten Abschnitt wurden diese Handskizzen mit Hilfe eines CAD-Programms in CADSkizzen übertragen. Diese dienten im dritten Teil als Grundlage für die Konstruktion eines dreidimensionalen Modells.
Abstract At the Technical University of Darmstadt a morphologic analysis of the locomotory apparatus of the trout was transfered into a biomechanical model by the “transduction method” [3] in the context of a practical course. The practical course was structured in three parts. In the first part the anatomy of the locomotory apparatus was analyzed and drawed. In the second part the sketches were transfered by means of a CAD program into CAD sketches. In the third part these technical drawings served as templates for a three-dimensional model.
1. Einführung An der TU Darmstadt beschäftigt sich das Biotechnik-Zentrum (BitZ) mit Biologisch-Technischen-Systemen. Ausgehend von Fragestellungen und Ergebnissen der Bionik von Nachtigall et al. [1] wird mit Hilfe der Konstruktions-Morphologie die biomechanische Konstruktion von Organismen bearbeitet. Ziel ist es, Unterlagen für bionische Konstruktionen zu gewinnen. Der Begriff „KONSTRUKTION“ hat für diese Arbeitsweise eine zentrale Bedeutung: zum einen zur geometrischen Beschreibung der Mor-
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Köhler et al.
phologie von Organismen, zum anderen für den Entwurf und den Bau biologisch inspirierter technischer Maschinen. Das deutsche Wort Konstruktion lässt sich nicht mit englisch "construction" übersetzen, denn das bedeutet „Bau“. "Under construction" bedeutet „im Bau befindlich“. Das Wort, welches dem deutschen Wort „Konstruktion“ entspricht ist "Design", das aber bedeutet im Deutschen kreatives Gestalten („Designer-Möbel, Designer-Mode“). In dem Praktikum "Biomechanical Animal Design" ging es um Beides: "design" = kreatives Entwerfen und „Konstruktion“ = technisches Bauen "Biomechanical Animal Design" geschieht unter Anwendung der Transduktions-Methode [2]. Das Praktikum "Biomechanical Animal Design" wurde als Praktikum im Umfang von zwei Semesterwochenstunden angeboten und fand in dieser Form erstmalig im Sommersemester 2004 an der TU Darmstadt statt. Da es Pilotcharakter hatte, ist das Praktikum eher unter dem Begriff Workshop zu führen, denn den Studenten sollte durch dieses Lehrangebot ein Zugang zu dem Thema Bionik in seiner Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit vermittelt werden und gleichzeitig sollte auf die sich dabei ergebenden Schwierigkeiten aufmerksam gemacht werden. Darüber hinaus konnten die Studierenden die Erfahrungen mit interdisziplinärer Kooperation machen, ihre Möglichkeiten und Formen erleben und mitgestalten. Auch die Zusammensetzung des Kurses war hochgradig interdisziplinär mit Studenten der Fachbereiche Informatik, Biologie, Maschinenbau und Elektro- und Informationstechnik. Bei diesem Workshop sind technisches und biologisches Wissen und persönliche Kreativität bei der Deutung der untersuchten biologischen Strukturen und der Entwicklung einer Hypothese für die biomechanische Funktion dieser Strukturen förderlich. Das Pilotpraktikum gliederte sich in drei Teile: Im ersten Teil wurde ein Fischkörper (Forelle) mit den klassischen anatomisch-morphologischen Methoden der Zoologie präpariert. Anschließend wurde eine abstrahierte technische Zeichnung erzeugt für ein dreidimensionales Modell. Dabei waren Überlegungen notwendig, wie der biomechanische Aufbau einer Forelle in der Realität funktionieren könnte Dabei mussten Vereinfachungen getroffen werden, um im zweiten Teil des Praktikums ein dreidimensionales CAD-Modell entwerfen zu können. Mit den drei Teilen des Praktikums sollten die Studenten an die Fragen, Aufgaben und Schwierigkeiten herangeführt werden, welche mit der Konstruktion von bionischen Apparaten verbunden sind und praktische Erfahrungen mit den Arbeitsmethoden zu deren Lösung machen.
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2. Ablauf des Praktikums "Biomechanical Animal Design" 2.1. Biologischer Teil
2.1.1. Zielsetzung Ziel der biologischen Untersuchungen war, einen Eindruck von den sehr komplexen biologischen Strukturen [3, Abb. 12] zu vermitteln, welche die Bewegungen des Fisches erzeugen. Es war auch Ziel den Nicht-Biologen praktisch zu vermitteln, wie Biologen solche Strukturen untersuchen und welche Schwierigkeiten dabei auftreten.
2.1.2. Durchführung Jeder Teilnehmer erhielt eine 5 min lang gebrühte Forelle. Durch das Brühen waren die Muskel-Eiweiße geronnen und die Bindegewebe weich geworden und dadurch einer einfachen Präparation zugänglich. Mit einem Skalpell wurden Haut und Subkutis behutsam abgeschabt in dem Bemühen, die darunter liegenden Muskelfasern und Myosepten möglichst wenig zu beschädigen. Von den solchermaßen freipräparierten Strukturen wurden Skizzen angefertigt [3, Abb. 13]. Dann wurden Muskelfasern mit einer spitzen Pinzette Nr.1 abgezupft, um sichtbar zu machen, dass die Muskelfasern über das gesamte Myomer ihre Richtung geringfügig aber unaufhörlich ändern. Mit dem Entfernen der Muskelfasern wurden auch einzelne Myomere beispielhaft herauspräpariert. Dann wurden horizontale und vertikale histologisch mit AZAN gefärbte Groß-Schnitte mit einer Länge bis zu 30 cm [3, Abb. 14] an die Studenten ausgegeben. Auf diesen Schnitten konnten die Teilnehmer mit dem Binokular verfolgen, wie sich Winkel und Längen der Myosepten-Abschnitte in Richtung Körperende geringfügig, doch ständig zunehmend verändern. Auch von diesen Schnitten fertigten die Studenten Skizzen an und übten sich im biologischen Zeichnen der Morphologie der von ihnen freipräparierten Strukturen. Den Teilnehmern wurde für das Präparieren der Objekte der Umgang mit dem Binokular (= Stereo-Mikroskop) erklärt. Kurze theoretische Einheiten ergänzten die praktischen Übungen.
2.1.3. Material 1. ca. 20 Fische (Forellen, Makrelen, preisabhängig) 2. 15 Fische : pro Teilnehmer 1 gekochter Fisch 3. Fünf Fische zum Anfertigen der fixierten Schnitte
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4. Große Plastik-Kiste für Aufbewahrung der Präparate der Studenten in Formol-Wasser für die Dauer des Praktikums (3 Monate) 5. Färbeflüssigkeiten : AZAN (für Übersichts-Färbungen) Praktikums-Anleitung • 1 gekochter Fisch für die Präparation • Plastikkasten für Aufbewahrung des Präparates für 3 Monate • Einmalskalpell • Pinzette Stärke 1 • Schnitt( Formol fixert : wird ausgegeben) • Zeichen Material: Overhead –Folien und Folienstifte zum Zeichnen • Foto Ausrüstung für Makro-Fotografie für CAD (von Dozent zur Verfügung gestellt) 2.2. CAD Teil
2.2.1. Zielsetzung Ziel des zweiten Teils des Praktikums bzw. Workshops "Biomechanical Animal Design" war es, mit Hilfe eines CAD-Programms die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Präparieren der Forelle in ein dreidimensionales CAD-Modell umzusetzen. Aufbauend auf diesem Modell sollte eine technische Zeichnung erstellt werden, anhand derer dann in dem dritten Teil des Praktikums ein reales Modell gebaut werden sollte. Diese verschiedenen Ziele sind in Abb. 1 übersichtlich dargestellt und wie folgt zu verstehen. Aufbauend auf den Handskizzen der Fischschnitte, die jeder Teilnehmer zu erstellen hatte, und auf den gescannten Schnitten, die verteilt wurden, sollten in der ersten Phase des CAD-Teils des Praktikums mindestens zwei Schnitte maßstabsgetreu als dreidimensionale Gebilde modelliert werden. Hierzu wurde ein CAD-Programm ausgewählt, das im Multi-Media-Pool des Fachbereichs Maschinenbau der TU Darmstadt zur Verfügung steht und dessen Umgang die Maschinenbaustudenten während ihres Grundstudiums bereits erlernt hatten. Nach einer kurzen theoretischen Einführung in das „modellgerechte Konstruieren“, sollte es sofort an die praktische Durchführung gehen, da leider nur ein begrenztes Zeitbudget zur Verfügung stand. Da dieser Kurs eine interdisziplinäre Veranstaltung war und die Teilnehmer aus den verschiedensten Fachbereichen kamen und möglicherweise kaum bzw. keinerlei Vorwissen im Umgang mit dem CADProgramm hatten, sollten sich die „Nicht-Maschinenbaustudenten“ und die Maschinenbaustudenten gegenseitig helfen, was zum einen die Kommuni-
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kation und zum anderen die Teamfähigkeit der verschiedenen Disziplinen fördern sollte. Ferner standen den Teilnehmern auch auf der vom Teilnehmer Herrn Schwitalla eigens für diese Veranstaltung kreierten Homepage verschiedene Skripte zur Verfügung, die die Grundlagen sowie den Umgang mit dem CAD-Programm beschrieben. Nach erfolgreicher Modellierung der 3D-Fischschnitte, die im folgenden auch Bauteile genannt wurden, sollten dann technische Zeichnungen abgeleitet werden, die alle erforderlichen Ansichten und Maße enthalten.
Abb. 1. Grundschema des CAD-Teils des Praktikums
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Köhler et al.
In der zweiten Phase werden diese Bauteile zu einer Baugruppe zusammengebaut, wobei zwischen den beiden Bauteilen ein gewisser Abstand bestehen sollte, um dann in der letzten Phase des CAD-Teils des Pilotpraktikums "Biomechanical Animal Design" die Verbindungen der beiden Bauteile in der Baugruppe modellieren zu können. In diesem Teil ist dann die Kreativität jedes einzelnen gefragt, denn diese „Querverbindungen“ konnten in dem ersten Teil des Praktikums nicht ohne weiteres erkannt werden. Von dieser Baugruppe sollte dann wie bei den Bauteilen eine technische Zeichnung mit allen relevanten Ansichten und Maßen abgeleitet werden, die dann den Ausgangspunkt für die Erstellung eines realen Modells bilden sollten.
2.2.2. Durchführung Aufgrund der Tatsache, dass die überwiegende Zahl der Teilnehmer des Praktikums nicht Studenten des Fachbereichs Maschinenbau waren, somit auch keinerlei Vorkenntnisse mit dem Umgang des gewählten CADProgramms mitbrachten und aufgrund der Komplexität des Aufbaus eines Fisches, mussten die Inhalte der verschiedenen Phasen des CAD-Teils des Praktikums an die Voraussetzungen der Studenten angepasst werden. Denn ohne Vorkenntnisse wäre es wegen der begrenzten Zeit nicht möglich gewesen, mit den einfachen Modellierungswerkzeugen, die das CADProgramm zur Verfügung stellt, ein komplexes dreidimensionales Modell des Fisches zu modellieren. Somit wurden die Inhalte der vier Einheiten, wie in Abb. 2 dargestellt, umgestaltet. Ausgangspunkt blieben die Handskizzen der Praktikumsteilnehmer, wobei man sich nun in den ersten drei Einheiten auf zweidimensionale Zeichnungen beschränkte. In der letzten Einheit wurden die maßstabsgetreuen Zeichnungen fertig gestellt und mit Hilfe eines Tutorials den Partizipanten die Möglichkeit gegeben, praktische Erfahrungen mit dem verwendeten CAD-Programm zu machen. Die Inhalte der vier Einheiten werden wie folgt charakterisiert: 1. Einheit: − Theoretische Grundlagen (Modellierungsstrategien) und Vorgehensweise bei dem Konstruieren mit dem CAD-Programm − Kennen lernen des Programms, indem eine stark vereinfachte Skizze (zweidimensionale Zeichnung) des Myoseptenverlaufs des Fisches erstellt wurde (Abb. 3, Abb. 4).
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Abb. 2. modifiziertes Grundschema des CAD-Teils des Pilotpraktikums
2. Einheit: − Erstellen einer Reihe von stark vereinfachten Skizzen, die die Vorder-, Seiten- und Draufsicht der Forelle darstellten.
Abb. 3. Stark vereinfachte Skizze.
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Abb. 4. Vereinfachte, der Realität angenäherte technische Skizze
3. und 4. Einheit: − Aus ausgegebenen Scans von Fischschnitten wurden Maße (Winkel, Längen) entnommen. Hierzu wurde von den Scans der Verlauf der Myosepten auf eine Folie abgezeichnet. Nach diesen Durchzeichnungen [3, Abb. 13] wurden dann technische vereinfachte abstrahierte Zeichnungen am Computer angefertigt. − Ein Horizontal- sowie ein Vertikalschnitt wurden maßstabsgetreu gezeichnet, mit der Absicht die relevanten Maße für die Erstellung eines realen Modells zu erhalten. Zusatzaufgabe: − Vorbereitung einer 3D-Modellierung mit Hilfe von Tutorials Abb. 5. CAD-Entwurf einer dreidimensionalen Konstruktion.
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2.3. Modell-Teil
2.3.1. Zielsetzung Ziel des ganzen Praktikums war, praktisch zu üben, wie man von einem biologischen Objekt die Daten gewinnt, die es ermöglichen, eine bionische Konstruktion anzufertigen. Deshalb war der letzte Teil des Praktikums die praktische Umsetzung aller Erhebungen in ein reales Modell [3, Abb. 18] Dessen Anfertigung würde zum einen hypothetische Überlegungen und Folgerungen auslösen, deren Beantwortung zum anderen wiederum zu einer erneuten Untersuchung des biologischen Objektes führt. Diese praktisch geübte Vorgehensweise von der Biologie zum technischen Objekt zeigt, dass die Untersuchungen sich gegenseitig steuern, ganz im Sinn eines Rückkopplungs-Prozesses.
2.3.2. Durchführung
Abb. 6: Modellbau im Praktikumssaal
Abb. 7. Einbau der „Myosepten“
Das Modell wurde aus Zeichenkarton und Eisendraht angefertigt. Es wurden die oberflächlich sichtbar präparierten Kanten der Myosepten (Abb. 7) im mittleren Rumpfabschnitt als blaue Fäden über die longitudinal eingesetzten Drähte gespannt. Damit war ein Gerüst - ein Fachwerk - aufgebaut, als Basis für eine bionische Konstruktion aus Verspannungen und Aktoren, welche die Konstruktion in fischähnliche Bewegungen versetzen könnte. Längsverlaufende rote Fäden auf dem Eisendraht symbolisieren die kontraktilen Elemente des Bewegungsapparates. Die fertigen Modelle (Abb. 8) wurden zusammen mit einem von jedem Teilnehmer anzufertigenden Praktikumsprotokoll zur Bewertung der Praktikumsleistung herangezogen.
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Abb. 8. Fertiges Fischmodell eines Praktikumsteilnehmers
3. Zusammenfassung Im Praktikum "Biomechanical Animal Design" wurde die biomechanische Konstruktion eines Fisches (Forelle) untersucht. Es wurden erstmalig mit der Transduktions-Methode [2] biologische Untersuchungs-Methoden und Methoden der Maschinenbau-Technik eingesetzt und die gewonnenen Ergebnisse für eine bionische Konstruktion zusammengeführt: Biologische Morphologie metrische biologische Konstruktions-Morphologie Technische Zeichnungen mit CAD Technisches Modell.
4. Fazit Es muss hier festgestellt werden, dass das gewählte CAD-Programm für zweidimensionale Zeichnungen nicht geeignet ist und je nach Wahl der Inhalte und der Zusammensetzung der Teilnehmer der zukünftigen Praktika muss über eine Alternative zum gewählten CAD-Programm nachgedacht werden. Es bleibt festzuhalten, dass aufgrund des sehr starken Interesses dieses Praktikum auch weiterhin angeboten wird. Es ist ein Folgepraktikum in Planung als Fortsetzung dieses Pilotpraktikums mit der Zielsetzung, eine mobile Konstruktion anzufertigen. Es wird überlegt, ob es günstiger wäre, die Konstruktion eines Organismus aus einem Gerüst, welches von Skelett und Bandapparat gebildet wird, und in das Muskelfasern eingehängt sind, eher mit einem Programm, welches speziell für Fachwerke konzipiert ist, zu bearbeiten. Die Studenten haben das Praktikum mit biologischen morphologischen Skizzen, technischen Zeichnungen und einem einfachen
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Modell für das Verspannungs-Gerüst der Myosepten der biomechanischen Konstruktion des Bewegungs-Apparates eines Fisch-Körpers abgeschlossen. Leistungsnachweis-Voraussetzungen : Zeichnungen, Protokoll und Modell. Danksagung Herzlichen Dank an die AG Modernes Lehren und Lernen der TUD und Frau E. Sundermann, deren finanzielle Unterstützung das Projekt erst ermöglicht hat. Wir danken den studentischen Praktikumsteilnehmern für deren konstruktive Mitarbeit: M. Achenbach, T. Ataman, J. Baumgartner, Y. Bennani, L. Both, M. Dammé, S. Djukanovic, J. Effenberger, A. Errabih, C. Fuest, F. Geiss, N. Grossmann, A. Guaadaoui, M. Jorroch, G. Kremser, P. Lies, C. Ngo, D. Ruiken, J. Sabrowsky, B. Schmeling, B. Schröer, D. Schwitalla, F. Stumpf, L. Su, W. Thielicke, E. Uzuncimen, M. Vekic, A. Wolff.
Literatur [1] Nachtigall W (1998) Bionik. Springer, Heidelberg [2] Köhler B (in Vorb) Die Konstruktions-Morphologie eines Fischkörpers am Beispiel der Makrele (Scober scombrus) und Forelle (Oncorhynchus mykiss) [3] Köhler B (2004) Die Untersuchung des Lokomotionsapparates von Fischen mit der `Transduktions-Methode`. In (dieser Band): Rossmann T, Tropea C (Hrsg) Bionik. Springer, Heidelberg
2. Biomedizintechnik Titan in der Gelenk- und Zahnprothetik: Verschleiß und Ermüdung als lebensdauerbegrenzende Faktoren (E. EXNER, C. MÜLLER, H. SCHMIDT) .......................................... 351 Tieftemperaturkonservierung lebender Bioproben Kryotechnologieplattform für die Biotechnologie und Medizin (G.R. FUHR) ................................................................................ 373 Mikro-Elektromechanische-Systeme in der Medizintechnik – Projektkanon am Institut für Elektromechanische Konstruktionen (EMK) (T. KERN, R. WERTHSCHÜTZKY, H.F. SCHLAAK) ......................... 393 Tumortherapie mit Ionenstrahlen (G. KRAFT).................................................................................. 409 Analyse und Repräsentation akustischer Signale im Hörsystem (G. LANGNER) ............................................................................. 423 Mit Stammzellen und Tissue Engineering zu Netzhautimplantaten (P. LAYER) .................................................................................. 439 Funktionelle Behandlung von Kreuzbandverletzungen als Beispiel für angewandte bionische Medizin (K.-A. RIEL) ................................................................................ 451 Ion channels as functional components in sensors of biomedical information (G. THIEL, A. MORONI)................................................................ 463 Neuronale Mechanismen der Entstehung von Tinnitus (E. WALLHÄUSSER-FRANKE, G. LANGNER) ................................. 479
Titan in der Gelenk- und Zahnprothetik: Verschleiß und Ermüdung als lebensdauerbegrenzende Faktoren Eckart Exner, Clemens Müller, Harald Schmidt Institut für Materialwissenschaften, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Reintitan und einige Titanlegierungen werden als Ersatz für mechanisch hochbelastete Teile in den menschlichen Körper eingebaut. Die positiven Eigenschaften wie exzellente Biokompatibilität und hoher Korrosionswiderstand werden in einigen Anwendungen durch unzureichende mechanische Stabilität eingeschränkt. Diese Problematik wird an zwei Beispielen aufgezeigt: Bei Gelenkprothesen führt häufig der Verschleiß bei Reibung gegen den als Gegenkörper eingesetzten Kunststoff zum Ausfall. Durch Ionenimplantation von Stickstoff und Kohlenstoff wird der Verschleißwiderstand wesentlich erhöht. Im Zahnersatz wird ein Unterbau aus Titan aus ästhetischen Gründen und zum Verschleißschutz durch eine Keramikauflage verblendet. Kritisch für den Einsatz ist, ob diese Maßnahmen andere Eigenschaften, und zwar vor allem die Ermüdungslebensdauer und den Korrosionswiderstand, in nicht zulässigem Maß verändern. Forschungsergebnisse, die in Zusammenarbeit verschiedener Institutionen gewonnen wurden, lassen Schädigungsmechanismen besser verstehen und liefern die Grundlage zu Verbesserungen und neuen Anwendungen von Titanwerkstoffen in der Humanmedizin.
Abstract Titanium for joint and dental prosthesis: wear and fatigue as life-time limiting factors. Titanium and some of its alloys are used in replacements of highly loaded parts of the human body. Advantageous properties like excellent biocompatibility and high corrosion resistance are often impaired by insufficient mechanical stability. This problem is shown for two examples. In joint replacements, when a titanium alloy is sliding against a polymer used as partner material, excessive wear may limit the lifetime. Scratching can be significantly reduced by ion implantation, particularly with nitrogen or carbon. In tooth replacements, a titanium substrate is covered by a ceramic layer not only to improve the metal against wear but also for aesthetic appearance. In these applications such measures may alter other relevant properties like fatigue life and corrosion resistance to a nontolerable degree. Research carried out in cooperation of a number of institutions
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Eckart Exner, Clemens Müller, Harald Schmidt
helps to understand damaging mechanisms and provides the fundamental knowledge for improvements and new applications of titanium materials in medical technology.
1. Einführung Tabelle 1 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der Humanimplantation. In den letzten 25 Jahren hat die Entwicklung medizinischer Instrumente und der Ersatz von Teilen des menschlichen Körpers (Organen, Knochen und Zähnen) entscheidende Fortschritte gemacht. Abb. 1 zeigt einige typische Implantate im menschlichen Körper. Titan hat sich in vielen Fällen als erste Wahl unter möglichen Werkstoffen erwiesen [1 - 5]. Konkurrenten sind vor allem rostfreie Stähle, Kobaltlegierungen und neuerdings auch keramische Materialien. Die gegenüber Knochen sehr hohe Steifigkeit (hoher Elastizitätsmodul) dieser Materialien, die vor allem bei Patienten mit Metallallergie problematische Biokompatibilität von Stählen und Kobaltlegierungen und die hohe Sprödigkeit der Keramik sind wesentliche Gründe, dass Titan oft der Vorzug gegeben wird, beispielsweise für künstliche Herzklappen, die weltweit pro Jahr etwa 60.000 Patienten eingepflanzt werden, für Elektroden von Herzschrittmachern oder für Stabilisierungselemente der Wirbelsäule. Arthritis, meistens rheumatisch oder degenerativ bedingt, Nekrose und Krebs können Finger-, Ellbogen-, Hüft- oder Kniegelenke zerstören, und oft ist der chirurgische Weg mit dem vollständigen Ersatz der betroffenen Gelenkteile die beste oder sogar einzige Möglichkeit, die Schmerzen zu beseitigen und ein hohes Maß an Beweglichkeit zu erhalten. Auch im Kauapparat verlangt der Teil- oder Vollersatz von Zähnen oder Kieferteilen eine Kombination von speziellen Eigenschaften, die neben den Edelmetallen auch Titan aufweist. Bevorzugte Einsatzgebiete des Titans und einiger seiner Legierungen liegen deshalb im orthopädischen Bereich und im Zahnersatz. Titan und Titanlegierungen erfüllen zwei wesentliche Voraussetzungen zum Dauereinsatz im menschlichen Körper: Korrosionsbeständigkeit und Biokompatibilität. Eine nur wenige Nanometer (ein Milliardstel eines Meters) dicke Oxidschicht an der Oberfläche schützt das Metall vor dem Angriff von Körperflüssigkeiten aller Art und führt dazu, dass das Wirtsgewebe das Implantat nicht oder nur sehr langsam abstößt und nicht von ihm beschädigt wird. In vielen Fällen wird sogar eine gute Anbindung oder das Einwachsen von Knochengewebe in geeignete Oberflächenstrukturen beobachtet.
Titan in der Gelenk- und Zahnprothetik
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Tabelle 1. Einige geschichtliche Eckdaten der Implantatmedizin Jahr 1565 1775 1860 1886 1895 1895 1912 1919 1932 1938 1939 1947 1960 1970 1980 Heute 1890 1895 1946 1948 Seit 1950 1959 1960 1960 1970 Heute
Metallische Implantate Gaumenverschluss aus Gold Nähte und Fixturen aus Draht Fixturen aus Silberdraht Knochenplatten aus Stahl mit Nickelüberzug Stahlschrauben zur Fixierung gebrochener Knochen Hüftgelenkteile aus Gold Speziallegierung (Fe-C-V) Dentalimplantate aus CrNi-Stahl Kobaltgusslegierungen Erste Hüftprothese aus Stahl Implantate aus Tantal Orthopädische Titanlegierungen Memory-Legierungen (NiTi) Kobaltlegierungen (CoCrMo) Beschichtungen aus Hartstoffen Implantate aus einer Vielzahl Biokompatibler Metalle und Legierungen Keramik und Kunststoffe Kniegelenk aus Elfenbein Schädelverschluss aus Celluloid Gelenkkopf aus PMMA Plastische Chirurgie mit PE Bioaktive Keramik (Kalziumphosphat und Hydroxilapatit), Biogläser, Aluminiumoxid- und Zirkonoxid-Keramik in vielen Bereichen Harnröhre aus Silikon Herzklappe aus Silikon Fingergelenk aus PDMS Kunstherz aus Polyurethan Implantate aus einer Vielzahl von organischen und keramischen Werkstoffen in der Orthopädie, Zahnmedizin, plastischen Chirurgie und im Organersatz
Lebensdauerbegrenzend sind jedoch oft unzureichende mechanische Eigenschaften, vor allem unzulässig hoher Verschleiß und Bruchanfälligkeit bei wechselnder Beanspruchung, wie sie für Gelenke und Zähne typisch sind. Das Problem bei orthopädischen Implantaten ist, dass jeder Ausfall hohe Kosten verursacht, ganz abgesehen von den Abstrichen an Lebensqualität. Besonders bei jungen Patienten, bei denen die Erfolgschancen einer Operation besonders hoch sind, sollte die komplexe Kombination von Eigenschaften der in künstlichen Gelenken oder Zähnen eingesetzten Werkstoffe jedoch über Jahrzehnte hinweg unverändert erhalten bleiben.
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Abb. 1: Beispiele für Ersatzteile im menschlichen Körper.
Titan ist eines der häufigsten Elemente der Erdkruste. Entdeckt wurde es am Ende des 18. Jahrhunderts. Seine starke Affinität zu Sauerstoff ist die Ursache, dass es in metallischer Form erst 1910 in einer ausreichenden Menge vorlag, um den Schmelzpunkt und andere Eigenschaften zu bestimmen. Es dauerte nochmals 40 Jahre, bis die industrielle Verwendung einsetzte. Die beiden entscheidenden Eigenschaften des Titans sind die hervorragende Korrosionsbeständigkeit und das günstige Verhältnis von hoher mechanischer Festigkeit und niedriger Dichte. Diese Eigenschaften können durch Legieren (Zusatz weiterer Elemente) und durch geeignete Maßnahmen bei der Herstellung und Verarbeitung noch weiter verbessert werden. Leichtmetalle auf der Basis der hexagonalen Titanmodifikation (alpha-Titan) haben hervorragende Zähigkeit, geringe Wärmeleitfähigkeit, einen kleinen Wärmeausdehnungskoeffizienten und bis etwa 600°C die höchste gewichtsbezogene Festigkeit aller Ingenieurwerkstoffe.
Titan in der Gelenk- und Zahnprothetik
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Ist Titan also der ideale Werkstoff? Leider nein, denn es ist teuer in der Herstellung und schwierig in der Verarbeitung, z. B. durch Walzen, Schmieden, Ziehen oder spanabhebende Bearbeitung. Derzeit beschränken sich die Anwendungen deshalb auf Hochtechnologieprodukte wie Flugtriebwerke, auf chemische Apparaturen und – das ist hier unser Thema – auf die Medizintechnik. In diesem Aufsatz wird an zwei Beispielen aufgezeigt, wie wichtig es bei der Entwicklung von Verfahren zur Verbesserung einer bestimmten Eigenschaft ist, die Änderung dieser Eigenschaft durch nachfolgende Prozessschritte und auch die dabei mögliche Verschlechterung anderer Eigenschaften zu beachten und nach Möglichkeit zu vermeiden. Für den Materialwissenschaftler liegt in dieser Aufgabenstellung ein hoher Anreiz, weil sie den Einsatz wissenschaftlicher und praktischer Fähigkeiten, interdisziplinärer Denkansätze und moderner Untersuchungsverfahren erfordert.
2. Verschleiß von Gelenkprothesen Der vollständige Austausch von Hüftgelenken wurde vor über 30 Jahren in England entwickelt und wird heute weltweit als einer der erfolgreichsten chirurgischen Eingriffe an mehreren hunderttausend Patienten pro Jahr durchgeführt. Das Prinzip ist in Abb. 2 dargestellt: Der Schaft, an dessen oberen Ende die Gelenkkugel sitzt, wird im Kanal des Oberschenkelknochens mit Knochenzement (Polymethylmetacrylat, PMMA) befestigt. Im Hüftknochen wird ebenfalls mit Knochenzement die künstliche Pfanne befestigt, die mit einem speziellen Kunststoff (ultrahochmolekulares Polyäthylen, UHMWPE) ausgekleidet ist. Bei jüngeren Patienten kann häufig auf die Verankerung mit Knochenzement verzichtet werden. Die lasttragenden Komponenten (Schaft und Pfanne) bestehen aus Metall; häufig wird die erprobte Titanlegierung Ti6Al4V mit 6 Gewichtsprozent Aluminium und 4 Gewichtsprozent Vanadium eingesetzt (siehe z.B. [2 - 9]). Abb. 2. Schematische Ansicht einer Hüftgelenkprothese.: Oberschenkelknochen, 2: Hüftknochen, 3: Knochenzement, 4: Prothesenschaft, 5: Kunststoffauskleidung, 6: metallische Hüftpfanne (aus [1]).
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Abb. 3 zeigt ein bei einer Revisionsoperation geöffnetes Kniegelenk. Feine Abriebteilchen haben das Gewebe schwarz gefärbt. Im Laborversuch zeigen sich Kratzer auf der Oberfläche der Titanlegierung und Agglomerate der Abriebteilchen (Abb. 4). Wie sich leicht nachweisen lässt (siehe z.B. [10, 11]), besteht der Abrieb im Wesentlichen aus Titandioxid und den Oxiden der Legierungselemente (Abb. 5). Im Prinzip sind diese Oxide bioinert und sollten medizinisch weitgehend unbedenklich sein [3, 4]. Trotzdem kommt es durch den Verschleiß zu Entzündungen. Bisher ist allerdings noch nicht klar, was die sogenannte Osteolyse hervorruft [2]. Abb. 3. (rechts) Geöffnetes Kniegelenk mit Schwarzfärbung des Gewebes durch Abrieb der Titanprothese. Das umliegende Gewebe ist entzündet.
Abb. 4. (links) Kratzer auf der Oberfläche einer nicht implantierten Ti6Al4V – Scheibe mit einem Agglomerat aus abgeriebenen Titanoxidteilchen am Ende einer Kratzspur (aus [19]).
Eine Vermutung ist, dass vom Kunststoffgegenkörper durch zusammengelagerte Titanoxidteilchen spanartige Polymerpartikel abgerieben werden, welche die Entzündung hervorrufen. Es werden deshalb zusätzliche Maßnahmen ergriffen, um den verschleißbedingten vorzeitigen Ausfall von Gelenkprothesen aus Titan zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Eine Möglichkeit ist der Einsatz keramischer Komponenten (siehe z.B. [2, 5]). Bei allen tribologischen Vorteilen gegenüber den Metallen hat das hierfür am weitesten entwickelte Keramikmaterial, nämlich das Aluminiumoxid, jedoch eine so geringe Bruchzähigkeit, dass es in größerem Umfang nur als reibungsbeanspruchtes und nicht als tragendes Teil verwendet wird. Schäfte werden deshalb heute oft modular ausgeführt, d.h. es wird eine Aluminiumoxidkugel auf das obere halsförmige Ende des Metall-
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schafts aufgepresst. Eine andere Maßnahme ist das Aufbringen von harten Schichten, die den Titangrundkörper vor Abrieb schützen.
Abb. 5. Energiedispersives Röntgenspektrum des in der Reibpaarung Ti6Al4V UHMWPE gefundenen Abriebs (aus [9, 11]). Die Signale von Natrium und Chlor stammen aus der künstlichen Gelenkflüssigkeit, der hohe Titanpeak weist auf das Vorliegen von Titanoxid hin. Auch die anderen Legierungselemente (Aluminium und Vanadium) und das in diesem Fall implantierte Hafnium sind im Abrieb entsprechend ihrer Konzentration in der Legierung vertreten.
Für die Oberflächenbehandlung von Titanlegierungen gibt es eine Reihe von Möglichkeiten (siehe z.B. [5, 12]). Geeignet sind thermochemische Prozesse, CVD und PVD (chemisches und physikalisches Aufdampfen), Lasernitrieren und Ionenimplantation, bei der ausgewählte Elemente in die Oberfläche eingeschossen werden. Neuerdings werden neben konventionellen Hartstoffschichten (Karbide, Nitride, Boride oder Oxide) auch diamantähnliche Kohlenstoffschichten erprobt [13].
Ionenimplantiertes Ti6Al4V Ein elegantes Verfahren, das sich in den USA seit über zehn Jahren im Gelenkersatz durchgesetzt hat (siehe z.B. [14 - 18]), ist das Ionenimplantieren von Stickstoff. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt des Fachbereichs Materialwissenschaft der Technischen Universität und der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt wurden unter Mitwirkung einer medizintechnischen Firma und weiterer Forschungsinstitute (Max Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart, Forschungszentrum Rossendorf, Universität Frankfurt) die Auswirkungen der Ionenimplantation auf die für den Einsatz in Gelenkprothesen relevanten Eigenschaften von Ti6Al4V genauer untersucht [10, 11, 18 - 28]. Praxisnahes Ziel dieses
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von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts, in dessen Verlauf auch die schädigenden Mechanismen beim Verschleiß und andere Grundlagen aufgeklärt werden konnten, war es, die Implantationsbedingungen zu optimieren und darauf aufbauend Möglichkeiten zur Lebensdauerverlängerung künstlicher Gelenke vorzuschlagen. Am 300 kV-Beschleuniger der GSI wurden Elemente, die mit Titan harte Verbindungen bilden (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Bor), die Edelmetalle Gold, Platin, Palladium, Iridium und Rhodium und die Übergangsmetalle Yttrium und Hafnium unter systematisch variierten Einstellungen der Energie (40 bis 400 keV) und der Ionendosis (5 x 1019 bis 1,5 x 1022 pro m2) implantiert. Je nach Element, Energie und Dosis werden unterschiedliche Eindringtiefen beobachtet. Die Schichtdicken betragen nach Kohlenstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- oder Bor-Implantation 300 bis 600 nm und nach Implantation von metallischen Ionen 100 bis 200 nm. Durch Mehrfachimplantation mit unterschiedlichen Energien lassen sich die Tiefenverteilungen den als günstig für die Verschleißminderung erkannten Verteilungen anpassen. Ein Beispiel dafür zeigt Abb. 6. Höhere Energien ergeben zwar höhere Eindringtiefen, die Oberfläche wird bei hohen Energien und Dosen aber auch abgetragen und aufgeraut, so dass sich eine darauffolgende Implantation mit abfallender Energie am besten zur Erzeugung einer am Rand beginnenden und weit in die Tiefe reichenden Anreicherung eignet.
Abb. 6. Tiefenprofile der Stickstoffkonzentration nach Einfach-, Zweifach- und Dreifachimplantation mit den angegebenen Energien (nach [22 ,23]).
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Die nicht implantierte Legierung besteht aus den zwei Titanmodifikationen, nämlich der durch den Aluminiumzusatz stabilisierten alpha-Phase und der durch den Vanadiumzusatz stabilisierten beta-Phase. Auch nach Edelmetall-Implantation liegen bis unterhalb eines dünnen Oxidfilms nur diese beiden Phasen als übersättigte Mischkristalle vor. In mit Kohlenstoff bzw. Stickstoff implantierten Schichten bilden sich mit Aluminium angereichertes Titancarbid bzw. Titannitrid. Die Matrix besteht aus alpha-Titan, in dem Kohlenstoff bzw. Stickstoff gelöst ist. Bei Implantation von hohen Dosen von Yttrium oder Bor kommt es zur Zerstörung des Kristallgitters (Amorphisierung). Das Verschleißverhalten einiger dieser Implantationsvarianten wurde im Vergleich zur nicht implantierten Legierung in zwei Verschleißprüfgeräten (Kunststoffstift auf rotierender Titanscheibe und oszillierender Titanring auf stehender Kunststoffscheibe) eingehend untersucht [10, 11, 19 - 23]. Die Bedingungen (Belastung, Zyklenzahl) wurden dabei den in Kniegelenken typischen Verhältnissen angepasst.
Abb. 7. Oberflächenschädigung der Titanlegierung (Anzahl der Kratzer) und Verschleiß des UHMWPE (abgetragenes Volumen) von implantiertem und nicht implantiertem Ti6Al4V (nach [19, 20, 23]).
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Als Zwischenstoff wurde eine künstliche Körperflüssigkeit (RingerLösung) verwendet. Die Ergebnisse der Ring-Scheibe-Versuche zeigt Abb. 7: Die nicht implantierte Legierung weist in der Verschleißspur zahlreiche Kratzer auf, und von der Kunststoffscheibe wird ein erheblicher Teil abgetragen. Auch bei mit Edelmetallen implantierten Ringen sind Kratzer zu erkennen, während die mit Kohlenstoff oder Stickstoff implantierten Ringe einen deutlich geringeren Verschleiß zeigen und den Versuch nahezu ohne Zerkratzen überstehen. Der Verschleißverlauf lässt sich folgendermaßen darstellen: Durch die lokal sehr hohe Flächenpressung, hervorgerufen durch Oberflächenunebenheiten oder auch eingeschleppte harte Teilchen (z.B. Knochenzement), wird die Titandioxidschicht durchgebogen. Bei einer bestimmten Durchbiegung platzen Teile der Schicht ab. Die Biegespannung, die zum Abplatzen führt, ist umso höher, je nachgiebiger die Unterlage und je dicker die Schicht ist. Die abgelösten Titanoxidteilchen sammeln sich im weichen Gegenkörper und bilden Agglomerate, die am Ende von Kratzspuren tatsächlich gefunden werden (Abb. 4). Wenn der Verschleiß erst einmal einsetzt, beschleunigt er sich lawinenartig. Die zerkratzte Metalloberfläche wirkt ihrerseits stark abtragend auf den weicheren Kunststoff. Bleibt die Metalloberfläche dagegen unbeschädigt, weil die lokalen Spannungen nicht zum Abplatzen der Titanoxidschicht ausreichen, überzieht sich die Metallseite mit einer dünnen Kunststoffschicht, und es findet kein nennenswerter Abtrag statt.
Abb. 8. Härteprofile von implantierten und nicht implantierten Ti6Al4V – Proben (nach [20]).
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Ein wichtiger Effekt der Implantation ist die Härtesteigerung in der Oberflächenschicht, die durch die implantierten Elemente in unterschiedlichem Maß herbeigeführt wird. Wie Abb. 8 zeigt, erhöht Platin die Härte nur wenig, die harte Verbindungen bildenden nichtmetallischen Elemente dagegen um mehr als das Dreifache. Mit zunehmender Härte steigt die Zahl der ohne Schädigung ertragenen Zyklen im Ring - Scheibe - Versuch linear an (Abb. 9), weil der Oxidfilm durch die härtere Unterlage besser gestützt wird. Große Bedeutung für den Verschleiß hat die Implantation aber auch deshalb, weil sie sich stark auf die Dicke des Oxidfilms, der sich in sauerstoffhaltigen Medien (Luft, wässrigen Lösungen, Körperflüssigkeit) bildet, auswirkt. Der spontan gebildete Film ist etwa 4 nm dick; er wächst bei mehrtägiger Lagerung an Luft um nicht mehr als 2 bis 3 nm an [29]. Stickstoff und Kohlenstoff besetzen einen Teil der Zwischengitterplätze im Titangitter, die der Sauerstoff zum Eindiffundieren braucht. Die spontane Bildung des Oxidfilms und sein Wachsen werden dadurch verzögert. Auch die Sauerstoffkonzentration in der darunter liegenden Schicht, die bis in etwa 50 nm Tiefe reicht, ist besonders in den mit Stickstoff und Kohlenstoff implantierten Proben geringer. Die Überlagerung dieser beiden Effekte, Härtesteigerung und Abnahme der Oxidschichtdicke, macht die bereits 1985 beobachtete ([14], siehe auch [8, 15, 18]), damals noch nicht richtig erklärte starke Verschleißverbesserung nach Ionenimplantation qualitativ und quantitativ verständlich: Es lässt sich zeigen [19], dass der Widerstand gegen Zerkratzen proportional zur Härte und umgekehrt proportional zur Quadratwurzel aus der Oxidschichtdicke ist. Abbildung 10 zeigt dementsprechend, dass bei einem bestimmten Wert des Widerstandkennwerts R der aus Kratzerzahl und –tiefe gebildete Schädigungskennwert S auf nahe null abnimmt, das heißt dass ab diesem Wert der Verschleiß die Lebensdauer der Prothese nicht mehr beeinträchtigt.
Abb. 9. Exponentieller Zusammenhang zwischen der Oberflächenhärte und der bis zum Auftreten von Kratzern ertragenen Zahl von Umdrehungen im Stift – Scheibe – Versuch (nach [20]).
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Abb. 10. Abhängigkeit des aus der Kratzerzahl n und der Kratzertiefe t in der Verschleißspur gebildetes Maßes S für die Schädigung von dem aus Härte H und Oxidschichtdicke D berechneter Kennwert R für den Verschleißwiderstand (nach [19]).
Wie einleitend gesagt wurde, musste als nächstes geprüft werden, ob die Ionenimplantation andere Eigenschaften beeinträchtigt. So könnte die dünnere Oxidschicht den Korrosionswiderstand herabsetzen. Wie elektrochemische Untersuchungen [23 - 26] gezeigt haben, findet der Übergang vom passiven Zustand zur aktiven Korrosion bei implantierten Schichten tatsächlich bei wesentlich niedrigeren Durchbruchpotentialen als bei der nicht implantierten Legierung statt. Für den Einsatz ist dieser Befund aber bedeutungslos, weil die Durchbruchpotentiale immer noch weit höher als die im Körper auftretenden Lokalelementspannungen sind. Ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchungen ist die Feststellung, dass dieses Durchbruchspotential bei den verschleißfesten implantierten Oberflächen erhalten bleibt, während das hohe Durchbruchspotential der nicht implantierten Legierung zusammenbricht, wenn der schützende Oxidfilm mechanisch zerstört wird [23, 25]. Damit ist nachgewiesen, dass die Korrosion von Ti6Al4V auch nach Ionenimplantation nicht lebensdauerbegrenzend ist. Aus der Literatur (z. B. [18, 30, 31] ist bekannt, dass die Ermüdungsfestigkeit (Spannung bis zum Bruch nach einer bestimmten Zahl von Lastwechseln) bei Titan durch Kohlenstoff- oder Stickstoffimplantation gesteigert werden kann. Andererseits ist es nicht sicher, dass sich die härtere und somit auch weniger zähe Oberflächenschicht, die höhere Oberflächenrauheit oder die veränderte Gefügeausbildung nicht doch stark negativ auswirken. Deshalb wurde in einem einfachen Versuch [28] die Unschädlichkeit der Stickstoffimplantation bei den für den Verschleiß als optimal gefundenen Implantationsbedingungen nachgewiesen: Rundproben wurden aus einer Richtung senkrecht zur Achse mit Stickstoff implantiert und in einer Umlaufbiegemaschine einer Wechselbelastung ausgesetzt. Der Bruch geht bei diesem Versuchstyp immer von der Oberfläche aus (Abb. 11). Zusätzlich treten an der Oberfläche Sekundärrisse auf, die im Mikroskop sichtbar sind und deren Häufigkeit in Bezug auf die Richtung der Im-
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plantation festgestellt werden kann. Abb. 12 zeigt das Ergebnis: Die Rißhäufigkeit ist an der Vorderseite, wo der Ionenstrahl auftrifft, etwas höher als an der vom Ionenstrahl abgewandten Rückseite. Dieser Unterschied ist aber unwesentlich. Interessant ist, dass die größte Zahl von Rissen an den Seiten (bei 90 Grad) beobachtet wurde, wo der Ionenstrahl streifend einfällt. An diesen Stellen wird mehr Wasserstoff, der versprödend wirkt, aufgenommen [28]. Da auch die das Ermüdungsverhalten charakterisierenden Wöhlerkurven von nicht- und mit Stickstoff implantierten Proben nahezu deckungsgleich sind, ist die Ionenimplantation auch für das Ermüdungsverhalten von Gelenkprothesen unbedenklich. Abb. 11. Ermüdungsriss durch eine mit Stickstoff implantierte Probe. Der Rissausgang von der Oberfläche am unteren Rand der Probe ist deutlich erkennbar (aus [24]).
Damit liegen alle Voraussetzungen vor, dass die Titanlegierung Ti6Al4V auch in höher belasteten Gelenken eingesetzt werden kann. Tatsächlich eigneten sich stickstoffimplantierte Bauteile aus Ti6Al4V aufgrund der günstigen Kombination aus Verschleiß-, Ermüdungs- und Korrosionswiderstand auch als Komponenten in Kniegelenken. Dies konnte in Simulationsversuchen nachgewiesen werden. Ausfälle durch Osteolyse sind nicht oder nur in geringerem Ausmaß zu befürchten. Mit diesen Untersuchungen, die erst vor kurzem abgeschlossen worden sind, wurde eine wesentliche Grundlage für die Weiterentwicklung eines für die Medizin wichtigen Werkstoffs erarbeitet.
3. Ermüdung von Dentalimplantaten Das zweite Beispiel betrifft den Zahnersatz, der traditionell eine Domäne der Edelmetalle ist (siehe z. B.[32 - 34]). In einigen Anwendungen konnten sich auch andere korrosionsbeständige Legierungen durchsetzen, als erste seit 1920 Kobalt-Chrom und seit 1950 Nickel-Chrom für herausnehmbare Dentalprothesen, noch etwas später, nämlich seit 1970, rostfreie
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Stähle und seit kurzem auch Reintitan und speziell für den Zahnersatz entwickelte Titanlegierungen (siehe z. B. [5, 35 - 38]). Abb. 12. Häufigkeit von Ermüdungsrissen auf der Oberfläche von mit Stickstoff implantierten Proben. Der Ionenstrahl traf in einem Winkel von 0° auf die Proben auf, die Rückseite der Proben liegt bei 180°.
Wegen seiner hohen Korrosionsbeständigkeit auch gegenüber Blut und Körperflüssigkeit ist Reintitan (im Handel als Titan Grad 2) im zahnmedizinischen Bereich ein wichtiger Werkstoff geworden. So werden Serienprodukte wie Wurzelstifte und Implantate mit computergesteuerten Drehund Fräsmaschinen aus gezogenem Stangenhalbzeug bis zur Endform gefertigt. Andererseits wird häufig der für Edelmetalle übliche Weg über die Schmelzmetallurgie gewählt, weil zahntechnische Laboratorien über Gießeinrichtungen verfügen und die Form und die Größe der kompliziert gestalteten Implantate in Einzelanfertigung in weiten Grenzen und mit erträglichem Aufwand jeweils individuell angepasst werden können. Durch Kauvorgänge und Zähneknirschen treten an dentalprothetischen Versorgungen statische und dynamische Belastungen auf, die zum Versagen des Werkstoffs führen können. Titan Grad 2 ist vor allem im umgeformten Zustand in Bezug auf das Ermüdungsverhalten Edelmetalllegierungen weit überlegen. Aus ästhetischen Gründen wird Zahnersatz aus Titan in der Regel mit einer Keramikschicht verblendet. Das Aufbringen der Verblendung erfolgt bei hohen Temperaturen (bis 830°C). Diese Behandlung kann zu Gefügeveränderungen führen und sich auf die mechanischen Eigenschaften, insbesondere auf das Ermüdungsverhalten, negativ auswirken. Ziel eines in Zusammenarbeit mit einer Dentalfirma durchgeführten Projektes war es, den Einfluss der einzelnen Bearbeitungsschritte auf die Ermüdungseigenschaften sowohl für handelsübliches kaltgezogenes Titan Grad 2 (Stangenmaterial) als auch für den gegossenen Zustand zu untersuchen und die im Endzustand bei Einsatzbedingungen zu erwartenden Eigenschaften zu ermitteln.
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Abb. 13. Wöhlerdiagramme von gezogenen und gegossenen Proben aus Titan Grad 2 nach verschiedener Vorbehandlung. (SA, SB und SE: gezogenes Material im Ausgangszustand nach Wärmebehandlung und im einbaufertigen Zustand, GA, GB und GE: Gussmaterial im Ausgangszustand, nach Abdrehen der geschädigten Randschicht und im wärmebehandelten Endzustand). Bei gegebener Belastung wird die Lebensdauer des gezogenen Materials bei der Verarbeitung stark beeinträchtigt, die des gegossenen Materials dagegen eher verlängert. (nach [39]).
Die Proben wurden weitestgehend entsprechend der in der Praxis angewandten Vorgehensweise hergestellt. Lediglich das Aufbrennen einer Keramikschicht wurde durch eine Wärmebehandlung simuliert, die den Arbeitsanweisungen zur Beschichtung von Titanwerkstoffen mit einer für Zahnverblendungen üblichen Keramik entspricht. Das Ermüdungsverhalten wurde im Umlaufbiegeversuch (Zug-Druck-Wechselbeanspruchung) getestet. Die Wöhlerkurven, welche die Zahl der Belastungszyklen bis zum Bruch als Funktion der Spannungsamplitude angeben, zeigt Abb. 13. Sie liegt für den Anlieferungszustand SA bei langen Lebensdauern. Im kaltverfomten Zustand hat Titan Grad 2 demnach ein hervorragendes Ermüdungsverhalten, so wie es in den Datenblättern auch angegeben ist. Nach einem dem Keramikbrand entsprechenden Bearbeitungsschritt (Index B) verschlechtert sich das Ermüdungsverhalten jedoch sehr stark: Die Wöhlerkurve für SB liegt deutlich unter der des Anlieferungszustands. Der Grund dafür ist die Gefügevergröberung durch eine Kornneubildung (Rekristallisation) bei der Wärmebehandlung (vergleiche Abb. 14 und 15). Als
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weiterer Verarbeitungsschritt wird die Oberfläche durch Sandstrahlen aufgeraut, um die Haftung der Keramikverblendung auf dem Metallunterbau zu verbessern. Der dem einbaufähigen Implantat entsprechende Endzustand (Index E) zeigt deshalb eine noch weiter verminderte Ermüdungslebensdauer (Kurve SE in Abb. 13).
Abb. 14. (l) Gefüge von gezogenem Titan Grad 2 im Anlieferungszustand SA. Abb. 15. (r) Durch Kornneubildung verursachte starke Variation der Korngröße im Zustand SE
die gegossenen Proben (Symbol G) weisen nach dem Entfernen der Gussform (Index A) ein typisches Gussgefüge auf (Abb. 16). Unter der sehr rauen Oberfläche liegt eine Zone mit feinen Körnern. In einer Übergangszone liegen stängelige Körner mit Längen bis 0,25 mm und im Kern sehr große gleichachsige Körner mit Korngrößen bis 0,50 mm vor. Die sehr rauhe Oberflächenschicht, die bereits vor einer mechanischen Beanspruchung Risse aufweisen kann, führt dazu, dass die unbearbeiteten Proben schon bei niedrigen Belastungen nach kurzer Zeit brechen (Abb. 13, unterste Kurve GA). Das Ermüdungsverhalten verbessert sich sprunghaft, wenn die Randzone wie in der Praxis üblich entfernt wird (bearbeiteter Zustand GB). Der einbaufertige Endzustand des Gussmaterials(GE) liegt sogar noch etwas höher (mittlere Kurven in Abb. 13), weil sich nach dem Sandstrahlen und dem simulierten Keramikbrand eine etwa 0,01 mm dicke, sehr feinkörnige Randschicht (Abbildung 17) ausbildet. Insgesamt liegt die Ermüdungsfestigkeit des gegossenen Werkstoffes immer noch deutlich unterhalb derjenigen des Stangenmaterials. Eine Verbesserung auf das hohe Niveau des handelsüblichen Materials erscheint durch folgende, allerdings recht aufwendige Maßnahmen möglich: Zunächst muss die rissbehaftete Randschicht entfernt und anschließend der Oberflächenbereich (z. B. durch Kugelstrahlen) stark verformt werden. Danach ließe sich über eine Rekristallisationsglühung ein feinkörniges Gefüge einstellen, das nach einer Politur der Oberfläche gute Ermüdungseigenschaften erwarten lässt. Auch durch schnellere Abkühlung der Gusskörper könnte eine Kornfei-
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nung erzielt werden. Weil das Abgießen wegen der hohen Reaktivität von Titan mit Sauerstoff unter Vakuum durchgeführt werden muss, sind den erreichbaren Abkühlgeschwindigkeiten jedoch enge Grenzen gesetzt.
Abb. 16. (l) Gusszustand GA mit rauer Oberfläche. Abb. 17. (r) Endzustand GE nach Abdrehen der Oberflächenzone und Wärmebehandlung
Wegen der Bedeutung der Rekristallisation für die für den Einsatz beim Zahnersatz wichtigen Eigenschaften wurden an unserem Fachgebiet weitere Untersuchungen durchgeführt, die Aufschluss über die Rissform und den Rissfortschritt in Proben mit lokal systematisch variierender Korngröße (Abb. 18) geben sollten [40, 41]. Das feine homogene Ausgangsgefüge (rechts oben) wurde durch zwei unterschiedliche Rekristallisationsglühungen in Zustände mit starken Korngrößengradienten umgewandelt (Abb. 18 oben Mitte und links). Aus diesen drei Gefügezuständen wurden Ermüdungsproben herausgearbeitet, die in einer Umlaufbiegemaschine mit Maximalspannungen von 350 MPa (Zug-Druck Wechselbeanspruchung) geprüft wurden. Nach einer Lastwechselzahl in der Größenordnung von 103 treten an der Oberfläche Risse auf. Der Versuch wurde abgebrochen, wenn einer dieser Risse eine Länge von 0,50 mm erreichte. Durch sukzessives Abtragen der Oberfläche konnte die Rissform bestimmt werden. In Abb. 18 ist die Form kurzer und langer Risse schematisch in die Gefügebilder eingezeichnet. Interessant ist, dass sich die Gefügezustände auf die Rissform deutlich auswirken: Bei der Probe mit homogener Korngröße (Abb. 18 rechts) bildet sich ein elliptischer Riss, bei dem das Verhältnis von Risstiefe (a) zu Risslänge an der Oberfläche (2c) 0,36 beträgt und sich beim Anwachsen des Risses nicht ändert. Bei den beiden rekristallisierten Zuständen ist die Form der kürzeren Risse nahezu gleich wie im Ausgangszustand. Während der Ausbreitung 0,50 mm laufen diese Risse an ihrer tiefsten Stelle aber in Zonen mit kleinerer bzw. größerer Korngröße hinein. Die Korngröße beeinflusst die Geschwindigkeit des Rissfortschritts entscheidend, so dass das Verhältnis von Risstiefe zu Risslänge im einen
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Fall (Abb. 18 oben Mitte: Riss läuft in den Feinkornbereich) auf etwa 0,30 abnimmt, während sich im anderen Fall (Abb. 18 oben links: Riss läuft in die Grobkornzone) eine nahezu halbkreisförmige Rissform (a/2c etwa 0,5) herausbildet. Für die Rissgeschwindigkeit (Rissfortschritt pro Lastzyklus) ergeben sich hieraus wichtige Konsequenzen: Der Ausgangszustand zeigt bei geringer Belastung bzw. bei kurzer Risslänge das günstigste Rissfortschrittverhalten, bei großer Schwingbreite der Spannungsintensität können sich die Verhältnisse aber umkehren (Abb. 18 unten). Diese Untersuchungen zeigen, wie wichtig es ist, die Eigenschaften in dem Gefügezustand zu untersuchen, der nach der Fertigbearbeitung im Bauteil, d.h. im hier diskutierten Fall nach der für die Aufbringung einer Keramikverblendung notwendigen Wärmebehandlung, vorliegt: Wegen der erheblichen Gefügeveränderungen entsprechen die Eigenschaften im Anlieferungs- und Endzustand einander nicht. Rissbildung und Rissfortschritt können stark beschleunigt, aber auch verzögert werden. Kenntnis und Verständnis dieser Veränderungen können zur gezielten Lebensdauerverlängerung eingesetzt werden.
Abb. 18. Rissfortschrittskurven von Titan Grad 2 mit verschiedener Gefügeausbildung. Die lokale Rissform und die Rissgeschwindigkeit hängen stark von der Korngrößenverteilung ab (nach [40]).
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4. Ausblick Zur Entwicklung der Werkstoffe für die Medizin tragen die Fortschritte in der Physiologie, Immunologie und Zellbiologie sowie in der Chirurgie direkt und entscheidend bei. Medizinische Systeme sind immer schon Produkte der fächerübergreifenden Zusammenarbeit von Medizinern mit Wissenschaftlern aus den technischen und biologischen Disziplinen gewesen, und auch die Mitwirkung der Industrie ist bei der Verwirklichung von neuen Ideen unentbehrlich. Trotz der raschen Entwicklung von gewebeaktiven Werkstoffen werden in der Humanmedizin auch in naher Zukunft solche Materialien in großem Umfang eingesetzt werden, die mit der Umgebung möglichst geringe Wechselwirkungen zeigen, sich also bio-inert verhalten. Zahlreiche Metalle lösen toxische oder allergische Reaktionen aus und können deshalb nur in sehr speziellen Fällen eingesetzt werden. Andere, vor allem Edelmetalle, aber auch solche Metalle und Legierungen, die sich - wie oben an Titan diskutiert - spontan mit einer bio-inerten Schicht überziehen oder auf die eine solche Schicht aufgebracht werden kann, stehen im Bereich der Orthopädie und der Zahnmedizin im Vordergrund und werden dies auch in absehbarer Zeit tun, auch wenn Keramiken und Polymere als Gegenstand intensiver Forschung in einigen Anwendungen Vorteile bringen. Millionen von Patienten tragen Metallprothesen und Millionen weiterer werden diese in naher Zukunft brauchen. Bei den metallischen Werkstoffen gibt es sprunghafte Fortschritte, so auch im Verständnis des Versagens durch die kombinierte Wirkung von Korrosion, Verschleiß und statischen oder dynamischen Belastungen. Der Erfolg eines jeden neuen Medizinwerkstoffs und auch jeder Variante bereits erprobter Materialien wird davon abhängen, wieweit seine Eigenschaften, insbesondere die der Oberfläche, bekannt sind und optimiert werden können, aber auch davon, wieweit als optimal erkannte Zustände eines Werkstoffs im einbaufertigen und im eingebauten Endprodukt verwirklicht und erhalten werden können. Die zwei oben dargestellten Fallstudien sollten kleine Beispiele für Forschungsarbeiten sein, die zur Entwicklung der für die Medizintechnik besonders interessanten Titanlegierungen beitragen. Es gibt sicherlich dramatischere Entwicklungen als diese; es gibt sicherlich auch wichtigere Probleme als die Verlängerung der Lebensdauer von Implantaten um einige Prozentpunkte oder auch mehr. Tatsache bleibt, dass jeder Fortschritt in der gezielten Werkstoffentwicklung, und mag er auch noch so unbedeutend erscheinen, zu einer Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Patienten beitragen kann. Tatsache ist auch, dass es genügend konkrete Fragestellungen auf dem Gebiet der Materialwissenschaften gibt,
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an denen es sich zu forschen lohnt. Die Werkstoffe der Medizintechnik bieten dabei ein weites Feld.
Danksagung Die Autoren bedanken sich bei allen Mitarbeitern der im Text genannten Forschungsinstitute, bei allen Mitarbeitern der Firmen AESKULAP, Tuttlingen, DEGUSSA - HÜLST AG; Hanau, und HERAEUS - KULZER GMBH, Hanau, sowie allen Mitarbeitern unseres Fachbereichs, die zu den vorgestellten Ergebnissen beigetragen haben.
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Tieftemperaturkonservierung lebender Bioproben – Kryotechnologieplattform für die Biotechnologie und Medizin Günter R. Fuhr Fraunhofer Institut Biomedizinische Technik, St. Ingbert
Zusammenfassung Zellen spezieller Ausprägung, insbesondere Stammzellen sind die Hoffnungsträger der Biotechnologie und regenerativen Medizin. Man will sie in immer komplexer werden Prozeduren, Kultivierungs- und Behandlungsverfahren sowie in kombinatorischer Weise zusammenfügen und medizinisch wie großtechnisch nutzen. Eine derartige Biotechnologie benötigt eine umfangreiche Lager- und Verfügbarhaltung. Da sich lebende Zellen permanent verändern, muss auch dieser Prozess auf molekularer Ebene angehalten werden, will man definiertes Zellmaterial verwenden. Im Bereich höherer Zellen gelingt dies seit Jahrzehnten über die Tieftemperaturkonservierung und Lagerung von Proben in Kryotanks, die sich weltweit zu immer größer werdenden Kryobanken formieren. Die Kryotechnologie ist jedoch auf den zu erwartenden enormen Lagerbedarf kaum vorbereitet. Im nachfolgenden Artikel werden neue Ansätze und bereits fertige Lösungen, die eine effektivere, kostengünstigere und automatisierbare Lagerung großer Probenmengen sowie ihre risikofreie Teilentnahme bei gleichzeitig verwechslungssicherer Datenverwaltung ermöglichen, vorgestellt. Mit diesem Technologieportfolie wird es möglich, auch grundlegende Fragen der Kryobiophysik erneut aufzugreifen und neue Kryoprozeduren zu entwickeln. Der Miniaturisierung und elektronischen Datenspeicherung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.
1. Wunschtraum der Medizin Viele Erkrankungen haben im letzten Jahrhundert ihren Schrecken verloren, beispielsweise Tuberkulose und nahezu alle Infektionen im Kindesalter. Auch gegen Viruserkrankungen gewinnt die genetisch wie molekular ausgerichtete Pharmakologie mehr und mehr an Boden, wenngleich nach wie vor nahezu nichts gegen die im Winterhalbjahr epidemisch verbreiteten viralen Erkältungen hilft. Auch die spontane Bildung bösartiger Tumoren und Herz-Kreislauferkrankungen sowie autoimmunreaktionsähnliche
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Verläufe, wie beim Diabetes im frühen Kindesalter, müssen noch immer als unausweichlich und schicksalhaft hingenommen werden. Fast jeder von uns kennt Personen, die von einer dieser Erkrankungen betroffen oder an ihr verstorben sind. Unsere besten Mittel bei der Bekämpfung dessen, was die Bevölkerung als „Krebs“ bezeichnet, sind derzeit nach wie vor die Früherkennung, Operation und Bestrahlung bzw. Chemotherapie. Seit geraumer Zeit gibt es eine greifbare Hoffnung bezüglich der Behandlung und Heilung auch dieser letzten schweren Erkrankungen. Man setzt auf so genannte „autologe Zelltherapien“. In diesem Zusammenhang fällt häufig der Begriff der Stammzellen, der viel Verwirrung stiftet, da nicht definitionsgemäß mit ihm umgegangen wird. Wichtig ist, dass zwischen embryonalen und adulten sowie tierischen und humanen Stammzellen zu unterscheiden ist, allein, um die ethische Einordnung der Fragestellung korrekt vornehmen zu können. Unter „autologen Zelltherapien“ versteht man die Entnahme körpereigener Zellen aus Patienten, die außerhalb des Organismus sortiert, ggf. vermehrt, umprogrammiert, zur Differenzierung gebracht oder mit Medikamenten beladen werden, um danach wieder in den Spenderorganismus zurückgeführt zu werden. Dort sollen sie sehr spezifisch Tumoren angreifen, das Immunsystem unterstützen oder geschädigtes Gewebe erneuern. Der Vorteil autologer Verfahren liegt in der Vermeidung nahezu jeden Immunproblems, da es sich um körpereigene Zellen des Patienten selbst handelt, die folglich nicht als fremd angegriffen werden. Die notwendige Modifizierungspotenz der Zielzellen scheinen nur undifferenzierte Zellen, die oben genannten Stammzellen, zu besitzen. Von denen findet man zwar in fast jedem Gewebe einen gewissen sehr kleinen Prozentsatz, die so genannten „adulten Stammzellen“, doch lassen sich diese bisher noch nicht vollständig kontrolliert in der Medizin und Biotechnologie gewinnen, außerhalb des Körpers vermehren und handhaben. Ganz sicher werden dazu in den nächsten Jahren immer bessere und schonendere Verfahren entwickelt, weshalb es weltweit erhebliche Bemühungen gibt, Patientenproben zur späteren Isolation und weiteren Vermehrung von Stammzellen abzulegen. Ein aktuelles Beispiel aus diesem Feld sind Nabelschnurblutkonserven, in denen sich adulte Stammzellen befinden. Man geht wohl zu Recht davon aus, dass je früher, bezogen auf das Alter der Person, Stammzellen entnommen werden, die Wahrscheinlichkeit umso größer ist, diese im Bedarfsfall mit Erfolg zur Behandlung einsetzen zu können.
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2. Langzeitlagerung von Zellen Aus der beschriebenen Notwendigkeit der Entnahme von Zellen im Säuglings- oder Jugendalter, zumindest vor dem Auftreten einer Erkrankung, ergibt sich zwangsläufig ein Bedarf, lebende Zellen zu lagern und für den Einsatz zur Therapie zeitlich und geographisch verfügbar zu halten. Dabei geht es nicht um Tage oder Monate, sondern in der Regel um Jahre, Jahrzehnte bis zur Dauer eines Menschenlebens. Die Natur hat diese Aufgabe in einer Weise gelöst, die wir gegenwärtig noch nicht zu kopieren verstehen. Sie legt nach jeder Infektion eine kleine Population so genannter „Gedächtniszellen“ in den Lymphknoten ab, d. h. von Zellen, die erfolgreich in der Bekämpfung eines Virus oder eines anderen Erregers waren. Erstaunlicherweise leben diese Zellen um ein Vielfaches (30- bis 50-fach) länger im Vergleich zu den aktiven Immunzellen. Die molekulare Prägung verrauscht über die Jahrzehnte nur langsam, obwohl diese Zellen bei 37 °C zwar ruhen, aber einen aktiven Stoffwechsel aufweisen. Bei einer erneuten Infektion des gleichen Erregers lassen sie sich zudem sehr rasch aktivieren und vermehren, so dass wir im äußeren Erscheinungsbild keinen auffälligen Krankheitsverlauf mehr zeigen. Wir wissen heute noch sehr wenig darüber, wie man diesen langlebigen und stabilen Zellmodus ein- und ausschaltet, auch nicht, wie die molekulare Zellumgebung aussehen muss, um diese Art der Langzeitlagerung humaner und tierischer Zellen zu erreichen. Es ist eines der Forschungsthemen des Fraunhofer-IBMT, sich mit dieser Fragestellung aus biotechnologischer Sicht zu beschäftigen. Hierzu werden biohybride Mikro- und Nanosysteme entwickelt, die in dreidimensionaler Ausführung den Zellen entsprechende Randbedingungen bieten könnten. Der Weg bis zu einer praktisch nutzbaren Langzeitlagerung von Zellen bei Raumtemperatur ist allerdings noch weit und es bleibt fraglich, ob Stammzellen überhaupt auf diese Weise lebend konserviert werden können. Alternativ zur Lösung des Lagerproblems bleibt die ständige Vermehrung und Passagierung der Zellen in makroskopischen Kulturgefäßen im Labor. Diese Lösung entfällt jedoch für die genannte Fragestellung, da sich die Zellen über die Generationsfolgen verändern und altern würden, was ja gerade vermieden werden soll. Letztendlich will man im Alter junge und nicht ebenfalls gealterte Zellen therapeutisch nutzen. Hinzu kommen der immense Zeit-, Material- und Personalaufwand. Gegenwärtig steht uns damit nur ein einziger Weg offen, humane und tierische Zellen lebend über beliebige Zeiträume aufzubewahren. Das ist die Tieftemperaturlagerung bei Temperaturen des flüssigen Stickstoffs (-195,8 °C). Eine Trocknung wie bei der Hefe und Bakterien vertragen diese Zellen nicht. Diese als Kryokonservierung (vom griechischen Wort
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„Kryos“ – kalt, Eis) bezeichnete Technik wird in den Biolaboren und medizinischen Einrichtungen, seit es die Verflüssigung der Gase durch Carl von Linde gibt, erfolgreich betrieben. Inzwischen erwiesen sich mehr als 50 Jahre gelagerte Kryoproben nach dem Auftauen als vital, gesund und sogar medizinisch unbedenklich einsetzbar.
3. Kryokonservierung ist kein natürlicher Prozess Einen kleinen Schönheitsfehler hat diese für die Biotechnologie und Medizin so wichtige Lagertechnik dennoch, sie tritt in der Natur nicht auf. Das überrascht viele, kennt man doch Frösche und Fische im Eis eingefroren, die vielerorts gefunden und erfolgreich wieder belebt wurden. Wirklich durchgefroren waren diese Makroorganismen jedoch nicht. Sie nutzen drei Strategien: Einmal erniedrigen sie den Stoffwechsel extrem, zweitens reichern sie Stoffe in den Flüssigkeiten des Körpers und in den Zellen an, die zu einer drastischen Gefrierpunktserniedrigung führen, und drittens dehydrieren die Zellen, indem Wasser nach außen in die Interzellularräume gepumpt wird. Zusätzlich nehmen sie einen starren Zustand ein, der den Start des Eisnukleationsprozesses herauszögert. Abb. 1. Mikroskopisches Bild der Dauerform einer arktischen Schneealge, die Temperaturen bis zu -40 °C und mehr übersteht. Sie ist etwa 50 µm groß und durch eine dicke Wand (hell) geschützt. Im Inneren sind vor allem Lipide angereichert, in denen sich Karotinoide befinden (dunkel). Die Zelle gefriert nicht wirklich, da sie kaum mehr Wasser enthält (Bild: T. Leya)
Auf diese Weise widerstehen sie Temperaturen bis zu -30°C, selten darunter, nicht jedoch unter -70°C oder gar hinab bis zur Temperatur des flüssigen Stickstoffs. Dann bilden sich unweigerlich Eiskristalle auch im Inneren der Zellen und sie wandeln sich in einen Festkörper um. Der Stoffwechsel kommt vollständig zum Erliegen. Taut man solch einen Frosch, Fisch oder gar einen Säuger wieder auf, so sind die Zellen zerstört. Zum Leben zurück findet das Tier nicht mehr. Ähnliches beobachtet man auch bei Algen, Pilzen und Pflanzen. Lediglich deren Sporen und eine Vielzahl von Bakterien können so austrocknen, dass sie bei Temperaturen bis zu -80 °C, wie sie auf der Erde minimal auftreten, überleben. Die Gründe für die Misserfolge der Kryokonservierung größerer Organismen sind chemisch-physikalischer Natur. Das Gefrieren ist ein Phasenübergang, bei dem es zu einer Entmischung des Zytoplasmas kommt. Proteine und Ionen werden in einer Phase aufkonzentriert und delokalisiert.
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Abb. 2. Zwei eingefrorene und wieder aufgetaute Fibroblasten der Maus im Rastermikroskop. Die linke Zelle zeigt schwere Gefrierschäden, die grüne Zelle hingegen hat die Prozedur vital überlebt. Im Lichtmikroskop ist diese Entscheidung nicht so einfach zu fällen (Bild: A. Katsen, S. Pflüger)
Das Wasser formt mikroskopische Eiskristallbereiche, eine zweite Phase. Insbesondere große Eisdomänen erweisen sich als schädlich. Zu einer gelungenen Kryokonservierung gehört daher die Zugabe von Gefrierschutzmitteln. Das sind Substanzen, die in die Zellen eindringen und bei der Eiskristallbildung durch Beeinflussung der Wasserstruktur die Bildung vieler kleiner Eiskristalle bewirken. In den Laboren werden Dimethylsulfoxid und Glyzerol in erheblichen Konzentrationen verwendet, so hoch, dass nach dem Auftauen diese Komponenten rasch ausgewaschen werden müssen. Hier liegt derzeit einer der Gründe, warum man einen Hund oder gar einen Menschen nicht einfrieren und wieder beleben kann: Man bekommt das Gefrierschutzmittel nicht rasch genug in alle Zellen eines lebenden Organismus hinein und die Wärme andererseits nicht schnell und steuerbar genug heraus. In der Folge bilden sich gerade in den Zellen im Inneren wichtiger Organe, wie dem Gehirn, dem Herzen und der Leber, große Eiskristalle und Gefrierschäden, die irreversibel zur Schädigung der Zellen führen. Ungeachtet dieser eindeutigen Lage bieten US-Firmen das Einfrieren von (bereits verstorbenen) Menschen und Tieren zu erheblichen Preisen an. Man setzt auf die technisch-biologischen Entwicklungen späterer Generationen, die dann nicht nur die Gefrierschäden in wahrscheinlich mehr als 90% der Körperzellen beheben, sondern auch bereits Verstorbene wieder zum Leben erwecken müssten. Wegen dieser extrem ungünstigen Begleitumstände erscheint die Sache derzeit ihr Geld nicht wert zu sein.
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Phase 1: 37° - 20°C
Phase 4: -15° - -25°C
Phase 2: 20° - -2°C
Phase 5: -25° - -130°C
Phase3: -2° - -15°C
Phase 6: < -130°C
Abb. 3. Phasen der physikalisch-chemischen Umwandlung der Zellbestandteile und der Umgebungslösung während des Abkühlens, aus denen sich spezifische Temperaturprogramme zur Kryokonservierung von Zellen ergeben. Beim Erwärmen laufen die Prozesse nicht alle in umgekehrter Folge ab, sondern leider wachsen z. B. die größeren Eiskristalle nochmals auf Kosten der kleineren Eisbereiche im Temperaturinterval zwischen -130 °C und -10 °C.
Es sei angemerkt, dass es dennoch gelingt, vollständige Organismen reversibel einzufrieren, wenn diese nur sehr klein sind. So kann man Nematoden, die immerhin aus etwa 500 differenzierten Zellen bestehen, einfrieren und auftauen, wenn Gefrierschutzmittel zugesetzt werden. In unserem Institut ist es Dr. Fixemer gelungen, Arthropoden, die aus 15.000 Zellen bestehen und einen halben Millimeter groß sind, auf -150 °C abzukühlen, aufzutauen und zu zeigen, dass sie leben und sich bewegen. Damit bietet sich die Möglichkeit, Kryobanken auch für Mikroorganismen, wie wir sie im Wasser und Boden finden, anzulegen, d.h. zur Installation wertvoller Lebendsammlungen, gelagert in der eisigen Welt des flüssigen Stickstoffs.
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Abb. 4. Bärtierchen, wie man es an vielen Orten im Moos findet. Diese Tiere sind etwa einen halben Millimeter lang und konnten im IBMT in der nicht ausgetrockneten Form aus dem aktiven Leben eingefroren und lebend wieder aufgetaut werden. Gibt man ihnen Zeit, trocknen sie ähnlich wie die Schneealgensporen aus und sind dann bemerkenswert resistent. Die Austrocknung war in diesen Experimenten jedoch nicht benutzt worden. Somit sind auch vollständige Tiere kryokonservierbar (Bild: T. Fixemer)
4. Anforderungen der Biotechnologie und Medizin Stellt man sich einmal vor, man würde von jedem Menschen, der geboren wird und vielleicht einem Zehntel der Bevölkerung unseres Landes lebende Zellen enthaltende Proben ablegen und dies jeweils in 10 bis 100 kleinen Portionen, dann ergäbe sich in wenigen Jahren ein Lagerbedarf von einigen hundert Millionen Kryoproben. In diesem Zusammenhang sind auch die gerade in der Planung befindlichen Stammzellbanken in aller Welt zu nennen, die zur Ablage von Millionen von Proben installiert werden. Auch die Biotechnologie benötigt umfangreiches Zellmaterial in Form gelagerter Zellsuspensionen und vitaler Gewebesegmente. Täglich kommen hunderte neuer Zelllinien weltweit hinzu. Ein anderes Feld sind Tumorbanken, die einen unverzichtbaren Ausgangspunkt für die molekulare und genetische Medizin und Pharmakologie darstellen. Auch die Landwirtschaft und der Lebensmittelbereich werden mehr und mehr auf die Ablage kleinster Kryoproben zurückgreifen, da sie die effektivste Ablage vollständigen Probenmaterials darstellen. Der Vorteil einer lebend konservierten Bioprobe ist, dass sie auch in Jahrzehnten noch mit Verfahren, die uns heute noch nicht einmal bekannt sein müssen, charakterisiert und verändert werden kann. Es handelt sich um die einzige umfassende und zukunftsfähige Datenablage, die denkbar ist.
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Zum Schluss sind noch die Sammlungen zum Erhalt unserer Umwelt und der möglichst vollständigen Ablage von Biotopen zu nennen. Wir können mit derartigen Kryosammlungen unseren Kindern und Kindeskindern unersetzbares Lebendmaterial zur Forschung und Nutzung übergeben. Bedenkt man die Erkenntnisflut, die allein der Fund der noch nicht einmal lebendes Material enthaltenden Gletscherleiche im Ötztal mit sich gebracht hat, so wird deutlich, dass es sich bei Lebendproben um Ressourcen von unschätzbarem Wert, vergleichbar den Öllagerstätten und Erzvorkommen der Gegenwart, handeln wird. Von der Naturalienkammer des Mittelalters über die Sammlungen in den Naturkundemuseen zu den „Lebendsammlungen“ der zoologischen Gärten führt die logische Konsequenz zu den „Eisparks“, den Kryobanken der Zukunft. Aus all dem folgt ein zu prognostizierender immenser Bedarf an einfacher, sicherer und billiger Kryotechnologie. Naturalien-Kammer
Naturkunde-Museum
Tierpark (KRYOBANK)
Abb. 5. Von der Naturalienkammer des Mittelalters führt eine logische Kette zu den Kryobanken der Zukunft. Die Menschheit sammelt, um zu bewahren und an spätere Generationen weiterzugeben. Die Ablage von Lebendproben ist die vollständige Dokumentation der Information eines individuellen Organismus auf kleinstem Raum und auf die preisgünstigste Weise. (Museum Wormianum, Leiden 1655 ©Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloß Gottorf)
5. Notwendigkeit moderner Kryotechnologieplattformen Fragt man allerdings in den Biolabors nach, bekommt man nur selten die Auskunft, dass Änderungen der gängigen Verfahren und eingesetzten Mittel bei der Kryokonservierung notwendig erscheinen. Dies liegt an der in der Regel noch kleinen Zahl an Proben, auch wenn diese in die Zehntausende gehen, und dem scheinbar problemlosen Einfrier- und Auftauprozess
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von Zellproben. Bei genauem Hinsehen bemerkt man jedoch sehr schnell eine wachsende Problemflut, insbesondere, wenn großtechnische Nutzungen, Automatisierung und verwechslungssichere sowie GMP-konforme Ablage und Kryokonservierung für medizinische und biotechnologische Zwecke umgesetzt werden sollen. Einige der Schwierigkeiten sind im Folgenden kurz angesprochen, um ein Gefühl für das Problemfeld entwickeln zu können. So sind die Kryoprozeduren bisher sehr empirisch ermittelt und nicht probenbezogen gesteuert. Die Temperaturverläufe beim Einfrieren und Auftauen werden nur selten dokumentiert und lassen sich für Proben im Milliliterbereich nur näherungsweise angeben. Temperaturgradienten sind unvermeidlich und von großem Einfluss auf die Überlebensrate. Es hängt beispielsweise davon ab, an welchem Ort sich die Zelle in der Suspension beim Einfrieren befand. Über den Erfolg einer Kryokonservierung erhält man erst nach dem Auftauen Informationen. Eine Teilentnahme der gefrorenen Probe ist nicht ohne Verlust der Vitalität vieler, wenn nicht aller Zellen möglich. Bei jeder Öffnung der Kryobehälter fällt feuchte Luft in den Lagertank, was über die Zeit zur Vereisung der Inhalte führt. Proben werden bei der Entnahme und Rücklage an verschiedenen Positionen im Tank abgelegt oder verwechselt. Der Grad an Automatisierung ist extrem gering. Die Reihe der Probleme könnte noch weiter fortgesetzt werden, lässt jedoch bereits an dieser Stelle erkennen, dass in diesem wichtigen Feld vor allem neue Ideen, technologische Lösungen und Perfektion gefragt sind. Zu vereinigen sind einige der Hochtechnologien wie die Mikrosystemtechnik, Molekularbiologie und Genetik sowie die Nanobiotechnologie und Kryobiophysik. Wo könnten dazu bessere Voraussetzungen herrschen als in der Fraunhofer-Gesellschaft!
6. Beispiele für eine neue Kryotechnologie-plattform Eine Schlüsselstellung bei der Kryokonservierung nehmen die Substrate zur Aufnahme der Zellsuspensionen und Gewebesegmente ein. Aus zwei Gründen ist eine Miniaturisierung angeraten. Einmal wegen der immer wichtiger werdenden Platzersparnis und Kostenreduzierung, zum anderen wegen der definierteren und besseren Einfrierbarkeit miniaturisierter Proben und der zwingenden Erfordernis, aus einem Probenbestand Einzelvolumina ohne Erwärmung entnehmen zu können. Bedenkt man, dass die medizinisch-biotechnologisch interessanten Zellen etwa 10 bis 20 µ m groß sind, so wird deutlich, dass in einem Flüssigkeitswürfel von nur 1 mm Kantenlänge ca. 100.000 Zellen samt Nährmedium Platz haben. Diese Menge reicht bereits heute für nahezu alle analytischen, genetischen und
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molekularen Charakterisierungsverfahren aus und gestattet auch die in vitro Vermehrung in vollem Umfang. Ein erster innovativer Ansatz bestand daher in der Ablage der Zellsuspensionen in stark miniaturisierten Wellplattensystemen anstatt in einem großen Volumen. Auf diese Weise ließ sich zwanglos auch die Entnahme von Teilproben einer Gesamtmenge ohne Erwärmung der Restproben erreichen. Man stanzt oder bricht bei -150 °C ein oder mehrere Wells mit der darin befindlichen Zellsuspension heraus und beginnt erst nach Rücklage der verbleibenden Probe in den Lagertank mit dem Auftauen. Dieses Prinzip der verteilten und platzsparenden Probenablage bietet zudem den Vorteil, direkt nach dem Einfrieren einen ersten Teilcontainer zu entnehmen, aufzutauen und die Überlebensrate zu erfassen. Man erhält sofort Auskunft darüber, ob die Lagerung überhaupt lohnt. Auch wenn die Lösung einfach erscheint, handelt es sich technologisch um einen bemerkenswerten Fortschritt. Jede Erwärmung einer Probe auf Temperaturen über -50 °C birgt gewaltige Risiken in sich, da im Temperaturintervall von -10 bis -130 °C die größeren Eiskristalle auf Kosten der kleineren immer noch wachsen, was zu irreversiblen Schädigungen der Zellen führt. Die thermische Energie (k*T) ist noch hoch genug zum Platzwechsel von Wassermolekülen von Eis- zu Eiskristall. Erst unter -130 °C hört dieser Prozess des migratorischen Kristallwachstums auf, was häufig in der Kryobankpraxis nicht beachtet wird.
Verwechslungssicherheit und Datenformate Kombination mit elektronischem Memory-Chip In Wells fraktionierbar
1oo oo o Zellen/Well 1 µl Durchmesser: 1 mm
Plasti ksubs trat
stapelbares C ombi-Subs trat
1GB elektronischer Speicherchip (flash memory)
Abb. 6. Beispiel für ein am IBMT entwickeltes Kryosubstrat, das aus herausbrechbaren Einzelcontainern besteht, die gestapelt werden können und mit einem elektronischen Memory-Chip im Kryotank (rechts unten) gelagert werden. Damit ist eine nahezu vollständige Verwechslungssicherheit gegeben. Zusätzlich ist aufgrund der Tieftemperaturtauglichkeit der elektronischen Chips die Kontrolle und Modifikation der Daten zu jeder Zeit möglich.
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Ein weiterer Schritt in Richtung Automatisierung und Datenmanagement war die Kombination eines elektronischen Memory-Chips mit dem Substrat zur Aufnahme der Proben. Eine Entwicklung des Fraunhofer-IBMT ist ein elektronischer Memory-Baustein, der in einem Temperaturintervall von +70 bis -196 °C nicht nur ausgelesen, sondern auch mit neuen Informationen beschrieben werden kann. Der innovative Ansatz des Datenmanagementkonzepts für Kryobanken besteht nun darin, den elektronischen Daten-Chip mit den Proben selbst als physische Einheit in dem tiefgekühlten Tank zu lagern. Gegenwärtig werden die Prototypen der notwendigen Elektronik zur Ankopplung der Substratchips an die externe Datenbank und ihre permanente Ansprechbarkeit aufgebaut. Der Vorteil dieser Lösung ist die Ergänzung der Daten an der Probe während der Lagerung, was vor allem aus medizinischer Sicht sehr interessant ist, da gleichzeitig der höchste Grad an Verwechslungssicherheit erreicht wird. Der größte Vorteil besteht in der verschlüsselten Doppelablage der Daten in der externen Datenbank und an der Probe selbst. Man erhält dadurch ein nahezu beliebig erweiterbares externes Gedächtnis und kann bei Bedarf die Proben mit dem Chip und damit der gesamten Information weltweit gekühlt verschicken. Allein das dürfte die Entwicklung einer industriellen Umsetzung der Biotechnologie in globaler Dimension stark befördern. Man muss sich das im medizinischen Bereich wie folgt vorstellen: Angenommen es wurde eine Zellsammlung eines Patienten in der geschilderten Art auf dem Substrat-Chip-Komposit abgelegt, z. B. adulte Stammzellen zur potentiellen Verwendung für eine Zelltherapie, und diese Zellprobe wird 30 Jahre nach der Ablage benötigt. Dann entnimmt man die Probe mit Memory-Chip aus der Kryobank und verschickt das Ganze komplett gekühlt unter -130 °C, wohin auch immer es gebraucht wird. Auf dem Memory-Chip befinden sich gegenwärtig bis zu einem GByte Informationen. Das sind nicht nur Informationen über die Probe selbst, sondern vor allem auch Angaben zu den Datenformaten und Datenmodellen, die es gestatten, den Chip auch in ferner Zukunft noch zu lesen. Hinzu kommen multimediale Elemente (z.B. Bilder) zur Einschätzung des Zellaussehens vor dem Einfrieren und viele andere Daten, wie beispielsweise die Rechtslage in mehreren Sprachen und relevante Informationen zur weiteren Behandlung sowie verbotene Verfahrensschritte, die die Probe gefährden könnten. Der elektronische Chip steuert, wie in der Kryobank auch, die weitere Behandlung der Probe und gibt Hinweise für das Auftauen sowie die Probenbehandlung. Natürlich werden über die Jahre neue Kenntnisse hinzukommen, die während der Lagerzeit in den Chip eingeschrieben werden. So ist die Probe immer im gesamten Informationsgehalt aktualisiert. Aus der Kombination von elektronischem Gedächtnis und der physischen Lebendprobe ergeben sich ganz neuartige Datenbank-Konzepte und –
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Daten auf dem Substrat-Chip Start Eingabe P roben-ID P robe suchen nein
gefunden
Ausgabe Probestammdaten
Auslagern Auslagern nein bestätigen Lagerplatz freigeben
Ausgabe aller Aliquoten zur Probe
Auswahl auszulagernder Aliquoten
Auszulagernde Aliquoten als ausgelagert markieren Auswahl tatsächlich ausgelagerter Aliquoten
ja
Korrigieren der Markierung der ausgelagerten Aliquoten
• • • • • • • • •
Code number Probenhistorie Probendaten Bilder/Videos Datenformat Quellcodes Hardwarebeschreibung Rechtslage Sprachvarianten ...
Ende
Abb. 7. Beispiel für ein Flussdiagramm, wie es im Memory-Chip gespeichert wird, so dass dieser die Abläufe und Geräte zum Einfrieren und Auftauen der Proben selbst steuert. Der Vorteil ist, dass Personal an jedem Ort der Welt von der Probe selbst informiert wird, wie die Kryoprobe zu behandeln ist und die notwendigen Verfahren ohne Training ausführen kann. Was alles noch auf dem elektronischen Speicher derzeit abgelegt wird, ist auf der rechten Seite des Schemas zusammengefasst. Weitere Informationen können anwendungsspezifisch hinzugefügt werden.
Architekturen. So wurde am IBMT in Kooperation mit der Firma EVOTEC eine Oracle-basierte Datenbank-Software entwickelt, deren Kernkomponente die Steuerung der Einfrier-/ Auftaugeräte selbst ist. Der Chip leitet das technische Personal fachkundig an und steuert, wo dies möglich ist, über neuartige flexible Schnittstellen die Geräte selbst und autonom. Auf diesem Weg wird die Kryolagerung zu einer wenig personal-, fachwissen- und kostenintensiven Angelegenheit. Stickstoff als Kühlmittel ist ohnehin wesentlich billiger und wartungsärmer im Vergleich zu den inzwischen angebotenen elektrischen Tiefkühltruhen. Als letztes Beispiel soll noch die Vermeidung der Bereifung tiefgekühlter Proben und der sukzessiven Vereisung der Lagerbehälter angesprochen werden. In der Luft der Lagerhallen und Labore befindet sich stets Wasserdampf. Dieser schlägt sich auf den kalten Substraten in Sekunden nieder und fällt als Eiskristalle in die geöffneten Kryobehälter bei jeder Öffnung, Entnahme und Einlagerung von Proben.
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Über die Jahre vereisen die Behälter so stark, dass einerseits die Probenentnahme und Identifikation schwierig wird, andererseits die Behälter von Zeit zu Zeit enteist werden müssen. Das ist äußerst riskant für die Proben. Parallel zu diesem Prozess sammeln sich Viren und Bakterien aus der Luft in dem beständig aufzufüllenden Stickstoffsee mit einer Temperatur von -196 °C und es bildet sich auf der Oberfläche des Stickstoffes ein See flüssigen Sauerstoffs, der bereits bei -183 °C flüssig wird, und ebenfalls über die Jahre entfernt werden sollte. Derzeit wird intensiv in der Arbeitsgruppe um Dipl.-Phys. U. Schön daran gearbeitet, eine einfache Schleusen- und Schutzhaubentechnik zu entwickeln, die es erlaubt, die Vereisung der Proben und den „fall out“ in die Kryotanks vollständig zu verhindern. Da feuchtigkeitsfreies Stickstoffgas vollständig transparent ist, lassen sich über spezielle Optiken aus dem Tankinneren übertragen. Durch tieftemperaturtaugliche Automaten kann nunmehr jede Probe im Tank ohne Öffnung desselben identifiziert werden.
Abb. 8. Jeder Zelltyp verlangt optimierte Einfrier- und Erwärmungsverläufe (hier beispielhaft für eine tierische Zelle gezeigt). Vieles in diesem Bereich ist noch empirisch. Mehr und mehr werden jedoch auch in diesem praktischen Feld biophysikalische und biochemische Gesichtspunkte zu neuen Verfahren mit höherer Überlebensrate der Zellen führen. (Bild: A. Katsen, S. Pflüger)
Nicht zuletzt arbeitet das IBMT mit einer Abteilung unter der Leitung von Prof. H. Zimmermann intensiv an der Verbesserung der Einfrierprotokolle, der Reduzierung oder auch Vermeidung von Kryoschutzzusätzen, die stets die Vitalität der Zellen belasten, und der Etablierung weiterer tieftemperaturtauglicher Elektronik. Eines der wichtigsten Themen ist die Kryokon-
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servierung von immer größeren Gewebestücken bei möglichst hoher Vitalität und Vermehrungsfähigkeit der Zellen. Hinzu kommt die Tieftemperaturlagerung von adulten Stammzellen tierischer wie humaner Herkunft. Die Fraunhofer-Gesellschaft wurde über das IBMT mit diesem Forschungs- und Entwicklungsfeld innerhalb weniger Jahre zu einem sehr begehrten Technologiepartner für die Wirtschaft, Klinika und Forschungseinrichtungen.
7. Modernste Kryobank im Saarland Auf der Basis dieser Entwicklung und aufgrund unbürokratischer und früher Entscheidungen des Saarlandes konnte das IBMT mit eigenen und Fremdmitteln eine nach den gegenwärtigen technischen und biologischmedizinischen Gesichtspunkten optimierte Kryoforschungs- und – demonstrationsbank mit industrieller Dimensionierung am Industriestandort Sulzbach im Saarland aufbauen. Mit einer geplanten Kapazität von mehr als 200 automatisch mit flüssigem Stickstoff als Kühlmittel versorgten Großraumkryotanks (Fassungsvermögen jeweils 1.400 Liter) und den Kombinationssubstraten aus fraktionierbaren Mikrowells mit tieftemperaturtauglichen elektronischen Memory-Chips ist sie prädestiniert für die Aufnahme der verschiedensten Sammlungen, von biotechnologisch interessanten Zelllinien, medizinischen Patientenproben bis hin zu Stammzellen. Mit der Kryohalle im Saarland verfügt Deutschland über eine bereits fertig installierte Kryokapazität und Forschungsplattform, wie sie andere Länder gerade erst planen.Mit den eingereichten Patentschriften ist das Gebiet auf gutem Weg zur industriellen Vermarktung. Lizenzverhandlungen laufen derzeit und lassen eine rasche Verbreitung erwarten. Im Rahmen von Forschungsprojekten und im direkten Auftrag der Industrie werden neue Kryosubstrate, Einfrier- und Auftauprozeduren von Proben, automatische Entnahmesysteme und Transportbehälter für Kurz- und Langenstreckentransport entwickelt, getestet und auf den Markt gebracht. Parallel dazu wird die tieftemperaturtaugliche Elektronik ausgebaut, getestet und in die adaptiven Datenbanksysteme integriert. Im Übrigen ist dieser Zweig der Elektronik auch für die Raumfahrt interessant, die ebenfalls Elektronik bei kosmisch niedrigen Temperaturen betreiben will. Die Kryohalle mit Zentrum für Kryobiophysik und Kryotechnologie ist zwei Jahre nach ihrer Gründung ein Anlaufpunkt für Nutzer, Entwickler und Forscher aus aller Welt.
Tieftemperaturkonservierung lebender Bioproben Abb. 9. Bildfolge, die das Auftreffen eines kleinen Tropfens auf eine auf -110 °C gekühlte Substratoberfläche zeigt. Vom Erreichen der Oberfläche (links oben) bis zum Erstarren (rechts unten) dauert es etwa 50 ms, in denen der Tropfen Bewegungen ausführt. Das Verfahren ist sehr definiert, leicht reproduzierbar und eignet sich zum Einfrieren von Zellsuspensionen. Gegenwärtig wird an einer Technologie im IBMT gearbeitet, die gefrorenen Tropfen samt den Zellen zu sortieren, anstatt diesen, die Zellen belastenden Vorgang bei Normaltemperatur auszuführen. Daraus ergeben sich neue Wege für die schonende Zellbehandlung in der Biotechnologie (Bild: S. Schelenz, R. Hagedorn)
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Abb. 10. Außen- und Innenansicht der Kryoforschungsbank des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik in Sulzbach im Saarland (Fotos: Müller)
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Fraunhofer-Kryotechnologieplattform
Kryobiophysik
Kryosubstrate
Kryoequipment
Kryobank-Design
Verständnis Optimierung Dokumentation der Einfrier- und Auftauprozesse
fraktionierbar miniaturisiert verwechslungssicher automatisierbar intelligent
Befüllsysteme Heiz-Kühltische Kryomikroskope Transportbehälter Kry otanks
Konzeption Automatisierung Datenbanken Probenverwaltung Sicherheit
Abb. 11. Gegenwärtige Forschungs- und Technologiefelder des IBMT im Bereich der Kryotechnologie und Kryobiophysik
8. Lebendsammlungen – Wirtschafts- und Forschungsressourcen von morgen Sammlungen, die heute angelegt werden, bilden morgen den Grundstock für die Forschung, den Erhaltung der Umwelt aber auch eine beachtliche wirtschaftliche Potenz. Es ist eine Verpflichtung an die uns folgenden Generationen, die Lebewesen, die wir vorgefunden haben und die sich in einem beständig ablaufenden Evolutionsprozess genetisch rascher, als wir am Phänotyp wahrnehmen, verändern, zu erfassen, zu konservieren und als lebende Ressource unseren Nachfahren zu übergeben. Dies gilt umso mehr für Organismen, die wir verändert haben. Führen wir diese Lagerung über Generationen aus, wird unsere Umwelt sicherer, die Biodiversität größer und überschaubarer sowie unser Lebensstandard haltbar und auf breitere Bevölkerungskreise dieser Erde ausdehnbar sein. Ohne Zweifel wird die Industrieentwicklung noch in diesem Jahrhundert in eine Recyclingdominierte Organisation übergehen.
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Abb. 12. Gerade heute profitieren wir von den Sammlungen biologischen Materials, die über Generationen angelegt wurden. Obwohl kein lebendes Material überliefert werden konnte, sind genetische Analysen, molekularbiologische Untersuchungen und Spurenanalysen chemischer Art in großem Umfang möglich. Um wie viel mehr werden Lebendsammlungen später retrospektive Analysen ermöglichen. (Konservierte Amphibien in der Kunst- und Naturalienkammer, Franckesche Stiftungen zu Halle an der Saale ©Klaus E. Göltz, Halle)
Das erste Erlöschen der bisher unbegrenzt verfügbaren Lagerstätten an Öl, Kohle und anderen Rohstoffen erzwingt dies. Es ist evident, dass wir uns zunächst an dem biologischen Vorbild des perfekten Recyclings aller Organismen bei konstanter globaler Biomasse orientieren werden. Die Biotechnologie wird daher der dominierende Industriezweig werden und unser gesamtes Leben bestimmen, wie dies gegenwärtig z. B. die Elektronik tut. Das Anlegen der dafür notwendigen Lebendsammlungen der verschiedensten Zellproben, Gewebeteile und auch von Kleinstorganismen im Stickstoff kann von der Fraunhofer-Gesellschaft allein nicht geleistet und getragen werden. Wir haben daher eine Initiative zur Übernahme von Kryotankpatenschaften ins Leben gerufen. Über eine einmalige Spende ist es möglich, einen Kryobehälter für die Kryobank „EurocryoSAAR“ zu finanzieren, der ausschließlich für die Anlage wissenschaftlicher Sammlungen genutzt wird. In diesen Behältern werden Sammlungen von der Fraunhofer-
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Gesellschaft in Partnerschaft mit Institutionen und Klinika weltweit anund abgelegt, bzw. aus aller Welt erworben, deren Ziel die Bioressourcenbildung der Zukunft in unserem Lande ist. Wer heute sammelt, wird morgen davon profitieren. Wir verfügen bereits jetzt über erste Tankspenden aus dieser Initiative zur Ablagerung von Proben.
9. Ausblick Dass eine Lagerhaltung vitaler Zellen beliebiger Herkunft für eine industrielle Umsetzung der Biotechnologie bereits heute unverzichtbar ist, wollte dieser Artikel deutlich machen. Die Kryokonservierung bietet jedoch auch für die Grundlagenforschung neue Ansatzpunkte und liefert Impulse, näher an das bisher ungelöste Geheimnis der Organisationsprinzipien des Lebens auf molekularer und zellulärer Ebene heran zu kommen. Ein großer Vorteil ist, dass beim Einfrieren die Lebensprozesse zum Stillstand kommen und die Multiphasensysteme der Zellen sich in einen Festkörper verwandeln. In diesem Zustand können sehr viele Messverfahren noch immer, teilweise sogar noch besser zur Charakterisierung von Zellen eingesetzt werden. So tritt auch bei Temperaturen bis zum flüssigen Stickstoff Fluoreszenz nach Anregung von Chromophoren auf. Vom IBMT wurde in einem BMBF-Projekt gezeigt, dass an Zellen im gefrorenen Zustand unter Schutzgasatmosphäre und ohne Zeitbegrenzung manipuliert werden kann, man diese sogar öffnen, Teile entnehmen oder einfügen und die Zellen wieder verschließen kann. Noch ist das keine praktikable Technologie, aber ein faszinierender Ansatz, mit einer Auflösung bis in den Nanometerbereich am lebenden und doch fixierten System zu arbeiten. Wenn es auch in naher Zukunft nicht möglich sein wird, Menschen oder größere Tiere einzufrieren, so gelingt es uns am IBMT inzwischen doch schon, Kleinstorganismen mit einem Nervensystem, Beinen und Muskeln aus der vollen Bewegung einzufrieren, zu lagern und zu beliebigen Zeitpunkten wieder aufzutauen und zum Leben zu erwecken. Wir arbeiten in einer Arbeitsgruppe um Herrn Dr. Obergrießer gegenwärtig intensiv an der Fragestellung, wie groß ein Tier sein kann, das wir nach dem Einfrieren wieder in den lebenden Ausgangszustand zurückversetzen können. Je größer, umso wertvollere Biosammlungen können wir anlegen.
Tieftemperaturkonservierung lebender Bioproben
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Abb. 13. Kryomanipulation an einer tiefgefrorenen Zelle. In vier Schritten wurde im Rahmen eines vom BMBF geförderten Projektes die Zelle im Umgebungseis freigelegt, dann die Zellmem-bran geöffnet, etwas Zytoplasma herausgearbeitet und dafür ein fluoreszierendes Mikropartikel eingefügt und die Zelle mit sich selbst strukturierenden Materialien wieder verschlossen. (Im Bild rechts unten als gelber Punkt erkennbar. Fotos: R. Hagedorn)
Kurzfristig wird die Kryokonservierung jedoch bei der Etablierung der autologen Zelltherapien in der Medizin und beim Tissue Engineering die wohl aussichtsreichste Anwendung finden. Wir stehen noch ganz am Anfang einer kombinatorischen Zellbiologie, d. h. der Kombination von Zellen der unterschiedlichsten Ausprägung. Schon jetzt beruhen viele Erfolge der in vitro-Kultivierung höherer Zellen auf der Co-Kultur mehrer Zelltypen. Auch den Ausgangspunkt zur gezielten Erzeugung von Geweben und vielleicht auch einmal in fernerer Zukunft von Organen bildet mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gruppierung von Zellen verschiedener Differenzierung und bestimmter Zellzustände. Die schonende Manipulation von Einzelzellen ist ein anderes Forschungsfeld des IBMT, doch auch hier bildet die Verfügbarkeit und Lagerhaltung vorcharakterisierter und sortierter Zellen eine fundamentale Rolle, was wiederum auf die Kryokonservierung zurückführt. Für die genannten Zwecke werden Kryobanken der verschiedensten Skalierung benötigt. Zum Teil existieren sie bereits und werden ausgebaut sowie modernisiert. Neue Banken werden hinzukommen. Ihnen allen gemein wird eine standardisierte Technologie sein. Die FraunhoferGesellschaft liefert entsprechend ihrem gesellschaftlichen Auftrag zur angewandten Forschung einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung dieser Technologieplattform mit dem Ziel einer weltweiten Verbreitung. Das IBMT steht als Partner auch für die Konzeption und die Planung von kleinen Kryobanken im niedergelassenen Sektor der Medizin, über institutionelle und Kryobanken für kleine Unternehmen bis hin zu industriellen Großbanken zur Verfügung. Schritt für Schritt gelingt es, mit dieser Tech-
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nik einen unikalen Zweig der Biotechnologie mit einem profitablen KernKnowhow in Deutschland zu etablieren.
Mikro-Elektromechanische-Systeme in der Medizintechnik - Projektkanon am Institut für Elektromechanische Konstruktionen (EMK) Thorsten Kern, Roland Werthschützky, Helmut F. Schlaak Institut für Elektromechanische Konstruktionen, TU Darmstadt
Zusammenfassung Es gibt medizintechnische Innovationen, die an das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit gelangen: Die bildgebenden Verfahren des Computertomographen oder der Magnetresonanztomographie gehören mit Sicherheit dazu. Auch Produkte aus der konservativen Medizin werden von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen: Aspirin ist ein quasi historisches Produkt dieser Sparte. Doch Medizintechnik besteht nicht nur aus großen Innovationen. In der Regel bedarf es vielmehr einer Unzahl kleiner Verbesserungen in diagnostischen und therapeutischen Systemen, welche eine sicherere Erkennung von Krankheiten und eine zuverlässigere Behandlung ermöglichen. Auf diesem Feld innovativer Kleinprodukte mit Schwerpunkt Sensor- und Sensor-Aktorsysteme forscht das Institut für EMK. Dieser Artikel gibt einen Überblick über unsere Projekte in der minimal-invasiven Chirurgie, der Kathetertechnologie, der Endoskopie sowie der Diagnostik auf Basis von Druckmessung bei unterschiedlichen Indikationen.
Abstract There are innovations which attain the conscience of a broad public. Magnetic resonance imaging and computer tomograpy are only two examples of these. Additionally products of the conservative medicine are known to a broad public too, Asprin is just one historical example. However medical technology is not a result of great innovations only. Usually scientific progress is made by an uncountable number of small improvements in diagnosis and therapy resulting in a more secure identification of diseases and their reliable treatment. In this field of innovative mini-products with an emphasis on sensor and sensor-actuator-systems the Institute for Electromechanical Design is concentrating its research activities. This article gives an overview about our projects in minimally-invasive surgery, cathetertechnology, endoscopy and diagnosis based on pressure measurement for varying indications.
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1. Einleitung Elektromechanische Systeme als Synergie zwischen Elektrotechnik, Informationstechnik und Mechanik sind Grundlage der modernen Werkzeuge und Instrumente in der Medizintechnik. Die Größe der diagnostizierten oder therapierten Strukturen stellen dabei höchste Anforderungen an die Präzision und somit die geringen Toleranzen der mechanischen Werkzeuge. Trotz makroskopischer Ausdehnungen der Instrumente sind daher aktive Elemente mit Strukturabmessungen im Mikrometer-Bereich notwendig. Als logische Folge ausgeprägter Forschungsaktivitäten in der Feinwerktechnik plaziert sich das Institut für EMK des Fachbereiches Elektrotechnik und Informationstechnik der TU-Darmstadt an genau diesem Übergang zwischen Mechatronik und Nanotechnologie, dem Arbeitsfeld der Mikro-Elektromechanischen Systeme (MEMS). Der Anwendungskanon erstreckt sich von Simulatoren und Assistenzsystemen für die minimal-invasive Chirurgie bis hin zu diagnostischen Systemen und neuartigen biokompatiblen Aktoren. Dieser Artikel bietet einen Einblick in das behandelte Spektrum medizintechnischer Aktivitäten.
2. Minimal-Invasive Chirurgie – Geschichte und Hintergründe Unter dem Oberbegriff minimal-invasive Chirurgie (MIC) wird jedes Verfahren gekennzeichnet, welches eine minimal mögliche Verletzung der umgebenden Gewebestrukturen auf dem Weg zu dem eigentlichen Operationsfeld verursacht. Minimal-invasiv bedeutet also nicht zwangsläufig „Schlüssellochchirurgie“, viele beschreibende Begriffe wie VideoTelechirurgie, Bildschirmchirurgie oder endoskopische Chirurgie sind jedoch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeflossen und beschreiben unscharf einzelne Teilaspekte des Spektrums der MIC. Allgemein wird unter MIC eine Gruppe von Verfahren verstanden, bei denen durch Kontrolle auf einem Bildschirm eine Operation mit langgestreckten Instrumenten (siehe Abb. 1 und 2) durchgeführt wird. Das Operationsfeld wird dabei durch ein Endoskop aufgenommen, welches im Wesentlichen eine Videokamera mit spezieller Optik ist. In einigen Fällen werden darüberhinaus flexible Endoskope eingesetzt, deren Optik auf einem Bündel aus Lichtwellenleitern beruht. Dadurch ist es möglich dem natürlichen Verlauf von Hohlorganen, insbesondere dem Verdauungstrakt, zu folgen.
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Das Spektrum minimal-invasiv durchgeführter Operationen erweitert sich stetig. Als klassische und als Referenz bezeichnet Operation gilt die Cholezystektomie (die Entfernung der Gallenblase) [1]. Darüber hinaus gelten als Standardverfahren exemplarisch die Appendektomie (Blinddarmentfernung) , diverse Formen der Knieathroskopie sowie die Splenektomie (Entfernung der Milz).
Abb. 1. Typische Arbeitssituation bei der Durchführung eines endoskopisch kontrollierten minimal-invasiven chirurgischen Eingriffes [1].
Abb. 2. Typisches Instrument der minimal-invasiven Chirurgie, - hier OP-Zange von Karl Storz.
Es ist zu beobachten, dass eine Vielzahl von etablierten offenen Operationen in den letzten 10 bis 15 Jahren durch minimal-invasive Eingriffe ersetzt wurden. Dies hat mehrere Gründe:
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− Geringe Verletzungen auf dem Weg zum Operationsgebiet − Weniger post-operative Verwachsungen − Kürzere Verweilzeiten im Krankenhaus − Häufig geringere Komplikationsraten − Kosmetische Vorteile durch kleiner Narben Mit Ausnahme der wirtschaftlichen positiven Bedeutung der kürzeren Liegezeiten ist interessant, dass alle Punkte primär Vorteile für die Patienten bieten und somit von diesen gefordert werden. Die Chirurgen, als Dienstleister, stellen sich darauf ein, obwohl konkrete praktische Gesichtspunkte auf den ersten Blick gegen MIC sprechen: − Gleichlange bis längere Operationsdauer verglichen mit offener Chirurgie − Raum für Notfallhandlungen durch kleine Zugangswege begrenzt − Ertasten der Gewebe zu Diagnose- und Orientierungszwecken beschränkt bzw. unmöglich − Hoher Trainingsbedarf der Fertigkeiten Alle Nachteile minimal-invasiver Eingriffe können durch zwei Ansätze kompensiert werden: − Bereitstellen von Trainingsmöglichkeiten um Notfallsituationen zu testen, sowie neue Verfahren zu erproben − Bereitstellen von Assistenzsystemen, um Orientierung im Raum zu verbessern und beengte Zugangswege und Arbeitsräume zu kompensieren.
3. Simulatoren in der MIC – Selbstverständliches wird wieder entdeckt Das Training von minimal-invasiven Operationen beschränkt sich aktuell auf künstliche Szenarien mit mechanischen Modellen, totem Gewebe sowie Operationen unter Aufsicht und Führung der Hände durch einen erfahrenen Arzt. Jede dieser Lösungen hat spezifische Nachteile. Es liegt nahe Simulatoren für z.B. laparoskopische Eingriffe (also Eingriffe im Bauchraum) zu entwerfen, wie sie beim Training zum Fliegen bereits lange üblich sind. Neben der realitätsnahen visuellen Darstellung des Operationsfeldes ist die realistische Manipulation mit den Werkzeugen von immenser Bedeutung. Dies erfordert die Vermittlung von Kräften an den Werkzeugen, wie sie bei dem Handling der Milz, dem Zerschneiden von Gewebe oder dem koagulieren von Gefäßen auftreten. Hierzu existieren bereits Lösungen, die aber in ihren mechanischen Eigenschaften den Anforderungen der Medizin nicht hinreichend genügen. Im Rahmen eines Forschungspro-
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jektes am Institut für EMK wurde eine Kinematik entworfen, welche zum Aufbringen von definierten Kräften in drei Raumrichtungen geeignet ist [2,3] (siehe Abb. 3). Im Rahmen von Folgeprojekten wird die Kinematik zu einem Therapiesystem für Schleudertraumapatienten erweitert. Abb. 3. MedSINN – Simulator für die minimal-invasive Chirurgie [3].
4. Schläuche und Drähte als Schienen – Kathetertechnologie ist Zukunft Eine Alternative zu den etablierten Verfahren der oben beschriebenen MIC haben sich in den letzten 10 Jahren die Eingriffe durch Katheter insbesondere in der allgemeinen Radiologie, der Neuro-Radiologie sowie der Kardiologie rasant entwickelt (1 Mio. Linksherz-Katheterisierungen in Deutschland pro Jahr (2002) [4]). Katheter sind Schläuche von bis zu 1,5 m Länge und einem Durchmesser zwischen 2 und 5 mm, die durch Arterien in den Körper eingeführt werden. Die Diagnostik und die Kontrolle der Bewegung erfolgt unter Röntgendurchleuchtung mit zweidimensionalen Bildern. Katheterisierungen dienen im einfachsten Fall zur Angiographie, der Darstellung von Gefäßen. Hierzu wird ein Kontrastmittel in den Katheter geleitet, welches sich in einem parallel zur Beigabe erstellten Röntgenfilm im Gefäß ausbreitet und dieses in seiner Struktur darstellt (siehe Abb. 4).
Abb. 4. Angiographie einer Ader im Modell und als reales Röntgenbild.
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Neben diesen rein diagnostischen Funktionen werden auch viele therapeutische Eingriffe durch Katheter durchgeführt. Zu den bekannteren gehören die Ballondilatation zur Weitung von Gefäßen und das Plazieren von Stents zur Stabilisierung von Gefäßwänden. Darüberhinaus können Löcher in der Vorhofscheidewand des Herzens durch Katheter verschlossen werden, Herzrasen und die dabei stattfinde Selbsterregung des Herzmuskels unterbrochen werden sowie Embolien durch lokale Gabe von Wirkmitteln direkt am Verschluss aufgelöst werden – alles nur über Schnitte an der Leiste mit einer Länge von wenigen Millimetern. Bevor ein Katheter zum Einsatz kommen kann wird ein Führungsdraht von minimal 0,33 mm Durchmesser zum Einsatzgebiet vorgeschoben. Der Führungsdraht dient dabei später als Schiene für den oder die verwendeten Katheter.
5. Tasten im Körper Doch das Einbringen des Führungsdrahtes erfordert großes Geschick und umfassende Kenntnis der Gefäßverläufe. Die zweidimensionale Röntgenprojektion gewährleistet nicht immer eine eindeutige Identifizierung von Gefäßabzweigungen. Darüber hinaus besteht eine Gefahr von Punktionen bereits vorgeschädigter oder zu dünner Gefäßwände durch den Führungsdraht. Eine Abhilfemöglichkeit wäre es, dass der behandelnde Arzt spüren könnte, mit welcher Kraft der Draht gegen einen Gefäßwand drückt. Durch die Länge des Drahtes, die Masse und die Reibung des Drahtes an den Gefäßwänden ist dies aktuell unmöglich.
Abb. 5. HapCath – Haptisches Assistenzsystem zur Navigation durch Gefäßsysteme.
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Ein System, welches die Kräfte an der Spitze des Führungsdrahtes messen und diese am Führungsdraht selber wieder darstellen würde ist in Abb. 5 dargestellt und wird am Institut entwickelt. Die Herausforderungen liegen dabei in der Messung der Kräfte an der Spitze von Drähten mit 0,33 mm Durchmesser (Abb. 6). Darüber hinaus gilt es, ein Konzept für eine Integration des Systems in den bei Katheterisierungen typischen Behandlungsablauf zu gewährleisten (Abb. 7). Weiterhin muss eine angepasste Aktorik und ein für den Anwendungsfall optimierter Regler ausgelegt werden. Zu allen Teilaspekten des Projektes laufen Arbeiten und sind Schutzrechte beantragt.
Abb. 6. Prinzipskizzen optischer Kraftsensoren für Führungsdrähte.
Abb. 7. Ergebnisse einer Designstudie zu dem Bedienelement von HapCath.
6. Miniaturroboter zur Dick- und Dünndarm-untersuchung Im Falle der optisch kontrollierten flexiblen Endoskopie besteht seit einiger Zeit der Wunsch ähnlich komplexe Eingriffe wie in der minimal-
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invasiven Chirurgie, z.B. Nähen einer Naht und Bergung von Körpern, durchzuführen. Die flexible Endoskopie kommt dabei innerhalb von Hohlorganen, insbesondere im Magen-Darm-Trakt, zur Anwendung. Eine Herausforderung stellt die Integration von Bauraum fordernden Aktoren und Konzepten zur Bewegung in wenigstens drei Freiheitsgraden dar. Ein Ansatz ist das in Abb. 8 dargestellte Bauprinzip einer Arbeitsplattform, welche z.B. im Magen-Darm-Trackt zur Entnahme von Material für diagnostische Zwecke bzw. zur Entfernung von gutartigen Tumoren Einsatz finden könnte. Grundlage für eine solche Plattform ist die Entwicklung miniaturisierter Antriebe und Kinematiken.
Abb. 8. Manipulator für Koloskopie mit kombinierter Möglichkeit zur Biopsie
Um eine Realisierung in der Medizintechnik und in nennenswerten Stückzahlen zu gewährleisten, müssen diese Aktoreinheiten insbesondere folgenden Anforderungen genügen: − Positioniergenauigkeit < 100 µm − Arbeitsraum >10 mm Kantenlänge − Fertigung aus wenigen, leicht sterilisierbaren Komponenten − Montagefreundlich Ein Ansatz stellen die am Institut verfolgten planaren Aktorprinzipien dar [5, 6], bei denen sowohl Stator als auch Translator auf einer in einem Fertigungsprozess in das Substrat abformbaren Struktur basieren. Der Translator besteht zur Realisation der drei Freiheitsgrade aus einer Parallelkinematik mit Festkörpergelenken (Abb. 9). Bemerkenswert an diesem Konzept ist die hohe Steifigkeit der Arbeitsplattform. Ziel ist es außerdem, die Montage auf das Zusammenfügen von Stator und Translator sowie den Einbau der aktiven Elemente, in der Regel Piezo-Stapelaktoren, zu beschränken. Darüberhinaus werden unter Berücksichtigung der nichtlinearen Materialeigenschaften der Gelenke und ihren parasitären Freiheitsgraden angepasste Entwurfskriterien entwickelt.
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Abb.9. Funktionsskizze für parallelkinematischen 3 DOF Mikromanipulator
7. Druckmessung – Bedeutung für den Menschen Die am häufigsten erfasste Messgröße am und im Menschen ist der Druck. Die Druckerfassung erfolgt gegenwärtig vor allem zur Diagnose. Zu den wichtigsten Druckmessungen zählen hier: Herzdruckmessung
rechte Herzseite linke Herzseite
Augendruckmessung
[mmHg] 5-60 150-270 12-25
Hirndruckmessung
Intraventrikulär Epidural
5-40 5-40
Magendruckmessung
Magen Speiseröhre
4 -10 20-60
Blasendruckmessung
Harnblase Harnröhre
4-80 15-80
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Zukünftig wird der Umfang der Druckmessungen stark zunehmen. Vor allem durch im menschlichen Körper integrierte Drucksensoren zur Langzeitüberwachung. Beispiele hierfür sind integrierte Drucksensoren zur Überwachung der Prozessparameter bei künstlichen Organen, z.B. künstliches Herz und Bauchspeicheldrüse, zur Hirn- und Augendruckregelung und zur Navigation von Kathetern im Gefäßsystem. Ein Forschungsschwerpunkt im Fachgebiet Mess- und Sensortechnik am Institut für EMK ist der Entwurf, Musterbau und Test von piezoresistiven Silizium-Drucksensoren [7]. Auf Grund ihrer durch die Anwendung der Mikrosystemtechnik möglichen Miniaturiserung eignen sich diese Sensoren besonders zur intrakorporalen Druckmessung. In den folgenden Abschnitten werden ausgewählte Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der medizinischen Druckmessung am Institut für EMK überblicksartig vorgestellt: 7.1. Schalldruck – Lungendiagnostik mit Anklopfen Beim Allgemeinmediziner ist das Abklopfen am Rücken und Horchen mit einem Stethoskop – Perkussion - eine etablierte und kostengünstige Methode zur ersten Einschätzung des Zustandes der Lunge. Durch die sich verändernde Dichte der Lunge bei z.B. asthmatischen Erkrankungen oder Lungenentzündungen verändern sich die akustischen Eigenschaften der Lungenflügel, das Klopfgeräusch wirkt dumpfer. Trotz der immensen Bedeutung dieses Verfahrens ist die Durchführung und die Diagnostik gegenwärtig rein subjektiv. Das Projekt [8] hatte zum Ziel, einen Nachweis der Möglichkeit zur technischen Objektivierung des Vorgangs zu erbringen. Hierzu wurde ein Aktor zur Schallerzeugung, ein Stethoskopsensor zur Schallmessung (s. Abb. 10) sowie eine Experimentierumgebung mit Lungenphantom und Aufnahmen für Schweinelungen entwickelt. Abb. 10. Anordnung des Aktors und des Sensors zur Messung der akustischen Transmissionseigenschaften des Thorax.
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Aus den Messungen an der isolierten Schweinelunge, ohne und mit eingebrachter Flüssigkeit als simulierte Entzündung, konnte ab einer Frequenz von ca. 100 Hz eine Erhöhung der Übertragungsfunktion nachgewiesen werden (Abb. 11). Neben dem Beweis des Nachweises von großflächigen Krankheitsherden in der Lunge durch Merkmalsextraktion aus der gemessenen Übertragungsfunktion ist es notwendig, reproduzierbare Ankoppelbedingungen zwischen Aktor und Mensch zu gewährleisten. Hierzu wurde ein Verfahren auf Basis der Impedanzmessung am Aktorkopf entwickelt, das es gewährleistet, ungünstige Kontaktsituationen, z.B. auf den Rippen, zu identifizieren.
Abb. 11. Übertragungsverhalten der isolierten Schweinelunge. Kurvenverläufe für gesunde Lunge und mit partieller Flüssigkeitsfüllung - simulierte Entzündungsherde.
Darüberhinaus ist für die Optimierung weiterer Aktoren und Sensoren für die Diagnostik durch Perkussion ein theoretisches Modell des Schallübertragungsweges durch den Körper notwendig. Das in diesem Projekt entwickelte und verifizierte Modell ist in Abb. 12 dargestellt. 7.2. Augeninnendruck – mit Luft schneller als ein Wimpernschlag In Deutschland sind rund zwei Prozent der Bevölkerung an einem grünen Star (Glaukom) erkrankt. Dies ist häufig mit einem erhöhten Augeninnendruck verbunden. Der erhöhte Augeninnendruck wirkt auf die Netzhaut und die Sehnerven, wobei die Nährstoffversorgung kollabiert. Ein nicht reversibles Absterben der Nerven ist die Folge. Geräte zur Augeninnendruckmessung werden als Tonometer bezeichnet. Es haben sich zwei verschiedene Verfahren etabliert: Kontaktverfahren nach Goldmann, wobei ein Stempel auf die Hornhaut (Cornea) aufgesetzt wird und die kontaktlose Messung über einen Druck-
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luftimpuls, der die Cornea des Auges verformt und aus deren Verformungsdynamik ein Rückschluss auf den Augeninnendruck gewonnen wird (Abb. 13). Das Kontaktverfahren nach Goldmann weist dabei den Nachteil eines mechanischen Kontaktes zwischen Gerät und Hornhaut auf. Zur Vermeidung des Liedschlussreflexes ist daher eine Anästhesie des Auges und somit die Anwesenheit eines Facharztes erforderlich. Abb. 12. Vergleich zwischen Anatomie und Netzwerkmodell der Schallübertragungsstrecke durch den Thorax
Abb. 13. Serie von Hochgeschwindigkeitsaufnahmen eines durch Luftstrahl applanierten Auges.
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Die Behandlung des Augeninnendrucks erfolgt in der Regel medikamentös. Hierzu ist die Aufnahme eines Ist-Zustandes sowie eine Verlaufskontrolle über den Zeitraum der Medikamenteinnahme erforderlich. Die Verlaufskontrolle ist aktuell ausschließlich in Facharztpraxen möglich und erfordert im Falle des kontaktlosen Tonometers zumindest die Bedienung durch geschultes Personal. Das Projekt [9] sieht die messtechnische Optimierung und Vollautomatisierung der Augeninnendruckmessung vor, so dass eine Drucküberwachung auch ohne Fachpersonal erfolgen kann. Das Gerät basiert dabei auf der kontaktlosen Augeninnendruckmessung und beinhaltet eine vollautomatische Positionierung der druckerzeugenden Einheit. Zur Qualifizierung der Geräte wird u. a. ein Augenphantom benötigt, welches die dynamischen Eigenschaften der Hornhaut bei unterschiedlichen Augeninnendrücken realistisch wiedergibt (Abb. 14). Abb. 14. Augenphantom zur Qualifizierung von Non-contact Tonometern
7.3. Zungendruck – Fehlstellungen vermeiden Auch im Bereich des Mundraumes ist es möglich Drücke zu messen. Relevant ist dies insbesondere bei Kindern, um eine Fehlentwicklung des Kiefers durch Sprach- oder Schluckfehler zu verhindern. Eine zentrale Rolle kommt hierbei der Zunge und ihrer Druckwirkung auf den Gaumen zu. Bisher war eine Aussage über diese Interaktion ausschließlich indirekt über bildgebende Verfahren wie MRT oder Ultraschall möglich. Diese Verfahren sind aber für eine quantifizierte und über längere Zeiträume durchgeführte Analyse der Drücke nicht geeignet. Ein am Institut und in Kooperation mit der Klinik für Zahmedizin der J.W. Goethe-Universität verfolgtes Forschungsprojekt [10] beinhaltet die Quantifizierung der wirkenden Drücke zwischen Zungenoberseite und Gaumenfläche im Bereich der Zungenspitze und dem Areal der Schneidezähne. Hierzu wurde eine Spange mit integrierten mikromechanischen Drucksensoren entwickelt, die an vier Positionen am Gaumen die auftretenden Drücke messen (Abb. 15).
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Abb. 15. Gaumenabdruck mit Spange zur Zungendruckmessung.
Die aktiven Komponenten der Spange sind dabei neben den Drucksensoren ein Mikrocontroller zur Signalverarbeitung, die Spannungsversorgung und eine Sendeeinheit. Der Energiebedarf des Systems ist für eine Messzeit von wenigstens 35 Minuten ausgelegt. Die aktiven Komponenten stellen Module dar, die in individuelle, aus Polycarbonat gefertigte Spangen eingesetzt werden. Eine Irritation des Patienten durch die Komponenten im Mund ist anfänglich zwar gegeben, aber nach kurzer Zeit setzt bereits eine Gewöhnung an die Elemente ein. Die von der Spange gesendeten Signale werden am Rechner mit den zu sprechenden Testsätzen korreliert (Abb. 16). Ziel und aktueller Forschungsgegenstand ist es, aus den Messungen unter kieferorthopädischen Aspekten weitere Erkenntnisse der Zungenmotorik, vor allem bezüglich pathologischer Befunde, zu erlangen. Abb. 16. Druckprofil beim Sprechen eines Testsatzes „Es zogen sechs Sänger zum säuselnden See“.
7.4. Blutdruck – wenn das Herz Hilfe braucht Einer der offensichtlichsten Fälle, in denen Druck nicht nur gemessen, sondern auch als direkter lebenserhaltender Parameter notwendig ist, ist der Bereich des Blutdrucks. Hier sind unterstützende Systeme für das Herz, als druckerzeugendes Organ, Gegenstand umfangreicher Forschungsarbeiten. Ein am Institut ursprünglich für taktile Displays entwickeltes Aktorprinzip mit neuartigen Polymeraktoren [11] ist prinzipiell dafür geeignet, solche Unterstützungssysteme ohne zusätzliche tragende und
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nicht an der Druckerzeugung beteiligten Strukturen zu entwickeln. Der Aktor basiert dabei auf einer Stapelanordnung von Graphit- und Silikonschichten, die sich beim Anlegen einer Spannung entsprechend den wirkenden elektrostatischen Kräften zwischen den Kondensatorplatten und den elastischen Eigenschaften des Silikons verformen (siehe Abb. 17). Relative Dickendehnungen von bis zu 30% sind erreichbar.
Abb. 17. Funktionsprinzip einer Einzelschicht und Schnittbild eines Stapels der Polymeraktoren
Durch die Wahl von biokompatiblen Silikonen ist eine nahezu beliebige Formgebung denkbar, wodurch eine Strömungsoptimierung und eine Trombenprävention bei der Anwendung als Coronarprothese gewährleistet werden kann. Alternativ kann ein solcher Aktor auch als Manschette um das Herz oder die Aorta platziert werden, wodurch ohne Eingriff in den Kreislauf eine unterstützende Wirkung durch von außen induzierte koordinierte Kontraktion der Gefäße durchgeführt werden kann (Abb. 18). Aktuell stellt die Fertigung der Aktoren noch eine Begrenzung der denkbaren Anwendungsfelder dar. Die Aktoren benötigen noch hohe Steuerspannungen zwischen 100 und 1000 V. Diese kann nur durch die Herstellung von noch dünneren Schichten und eines angespassten Elektrodenmaterials reduziert werden. Die hierfür zu optimierenden Fertigungstechnologien sind Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. 8. Schlussbetrachtung Es konnten hier nur die Aktuellsten der in der 40-jährigen Institutsgeschichte bearbeiteten medizintechnischen Themen vorgestellt werden. Ausgehend von einer soliden Komponentenentwicklung bietet das wissenschaftliche Umfeld der Technischen Universität Darmstadt einen idealen „Nährboden“ für interdisziplinäre mechatronische wie informationstechnische Projekte in der Medizin. Die vorhandene Instituts- und Fachbereichsstruktur bietet den technischen Background.
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Abb. 18. Mögliche Anwendung der Polymeraktoren zur Herzunterstützung.
Die medizinischen Partner für diese interdisziplinäre Zusammenarbeit sind mit den Universitätskliniken Heidelberg und Frankfurt sowie mit dem städtischen Klinikum Darmstadt selbst lediglich den sprichwörtlichen „Steinwurf“ entfernt. Literatur [1] Emmermann A et al. (1995) Chirurgische Operationslehre: Minimal-invasive Chirurgie, Band 7 Teil 2. Thieme, Stuttgart [2] Kern T et al. (2002) Virtuell operieren: Simulation und Darstellung von Kräften bei endoskopischen Eingriffen. themaForschung (2), TU Darmstadt [3] Kern T (2002) Entwicklung eines haptischen Displays mit Paralleler Kinematik für chirurgische Anwendungen. Diplomarbeit 1496, Institut für EMK, TU Darmstadt [4] Bruckenberger E (2003) Herzbericht 2002 mit Transplantationschirurgie. 15. Bericht der Arbeitsgruppe Krankenhauswesen der AOLG [5] Jungnickel U, Eicher E, Zeyher P, Schlaak HF (2003) Planare Schrittantriebe für miniaturisierte Positionierantriebe. Tagungsband 47. Int Wiss Koll Univ Ilmenau [6] Jungnickel U, Eicher E, Schlaak HF (2002) Miniaturised Micor-Positioning System für Large Displacements and Large Forces Based on an Inchworm Platform. Proc ACTUATOR 2002, 8th International Conference on New Actuators, Bremen, 684-687 [7] Blechschmidt R, Hohlfeld O, Sindlinger S, Werthschützky R (1999) Elektromechanische Sensoren für die Biomedizintechnik. themaForschung, Darmstadt, S 88-97 [8] Blechschmidt R (2003) Akustische Diagnostik der Lunge mit Hörschall. Dissertation, TU Darmstadt [9] Weber T (2003) Mess- und Positioniersysteme zur kontaktlosen Selbsttonometrie. TUD Schriftenreihe Wissenschaft und Technik 85: 193-197 [10] Müller R et al. (2003) Telemetrisches Meßsystem zur Bestimmung des Druckes der Zunge gegen den Gaumen. Z Biomedizinische Technik 48 (9): 226-229 [11] Jungmann M, Schlaak HF (2002) Miniaturised Electrostatic Tactile Display with High Structural Compliance. Proc Eurohaptics 2002, Edinburgh Weitere Informationen unter http://www.institut-emk.de
Tumortherapie mit Ionenstrahlen Gerhard Kraft Biophysik, GSI Darmstadt
Zusammenfassung Die Therapie mit schweren Ionen ist eine logische Fortsetzung der Konformitätsund Wirkungssteigerung der konventionellen Strahlentherapie mit anderen Mitteln. Schwere Ionen wie Kohlenstoff bieten die bestmögliche Dosisverteilung, kombiniert mit einer Wirkungssteigerung, die auf das Zielvolumen konzentriert bleibt. Die Produktion von Positronen-Emittern durch den Kohlenstoffstrahl gestattet es, den Therapie-Strahl nicht-invasiv im Patienten zu verfolgen und damit Bestrahlungsfehler zu vermeiden. Erste Ergebnisse der Kohlenstofftherapie an der GSI zeigen hervorragende Erfolge, ebenso wie ähnliche Bestrahlungen in Chiba, Japan. Deshalb sind weitere Kohlenstoff Therapie-Einheiten geplant und in Vorbereitung.
1. Einleitung Strahlentherapie trägt in zunehmendem Maß zu der Heilungsquote von Krebspatienten bei. Von 340 000 Neuerkrankungen pro Jahr in der Bundesrepublik Deutschland erreichen ca. 45 % eine tumorfreie 5 JahresÜberlebensrate. Den größten Anteil zu diesen 45 % stellt mit 22 % die Chirurgie, mit 12 % die Strahlentherapie und weitere 6 % die Kombination von beiden Therapien dar [1]. Die restlichen 5 % sind das Ergebnis erfolgreicher Chemotherapien. Am besten können die Tumoren geheilt werden, die bei der Diagnose noch nicht metastasiert sind, das heißt, die in der Form eines einzelnen lokalen Tumors vorliegen, da sie eine gute Chance einer lokalen Entfernung durch einen operativen Eingriff oder durch Bestrahlung bieten. Trotzdem können fast 20 % von Tumoren, die anfangs noch nicht metastasiert sind, nicht erfolgreich behandelt werden, da sie sehr nahe an Risiko Organen liegen. Dann ist eine totale chirurgische Resektion oft nicht möglich. Auch ist mit konventionellen Bestrahlungsmethoden die Dosisbelastung des normalen gesunden Gewebes zu hoch, um den Tumor durch eine hohe Strahlendosis komplett zu sterilisieren. Ausschlaggebend in diesen Fällen ist vor allem die Präzision der Dosis Appli-
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kation, d. h. die Steilheit der Dosis-Gradienten am Rand der Bestrahlung und die Dosisbelastung im Eingangskanal [2]. Diese Parameter lassen sich durch den Einsatz von Ionenstrahlen, d. h. von Protonen und schweren Ionen wie Kohlenstoff wesentlich verbessern. Wie bereits R. Wilson 1946 [3] erkannte, haben Ionen verglichen mit den konventionell genutzten Strahlen ein inverses Tiefendosisprofil und eine begrenzte Reichweite. Für die schweren Ionen wie Kohlenstoff ist die Seitenstreuung kleiner als bei Photonen und sie besitzen am Ende der Reichweite nicht nur eine erhöhte Dosis sondern dieser Dosisanteil ist überproportional biologisch wirksam. Damit können mit Kohlenstoff-Strahlen tiefliegende Tumoren mit großer Präzision und hoher biologischer Wirkung bestrahlt werden. Durch einen kleinen Prozentsatz von radioaktiven Reaktions-Produkten, wie 10C , 11C und 15O die vom Primärstrahl erzeugt werden, lässt sich die Lage des hochwirksamen Kohlenstoff-Strahls überwachen. Die Therapie mit Ionen Strahlen wurde in Berkeley 1957 mit Protonen begonnen. Seit 1975 wurden dort auch schwere Ionen eingesetzt, zunächst Argon, dann vor allem Neon. 1993 wurde eine Therapieanlage in Chiba, Japan in Betrieb genommen [4]. An der GSI in Darmstadt wurde in den Jahren 1993 – 1997 eine Kohlenstoff-Therapie aufgebaut, die alle physikalischen und strahlenbiologischen Eigenschaften optimal ausnutzt. Die klinischen Ergebnisse von 200 bisher bestrahlten Patienten sind erheblich besser als bei vergleichbaren konventionellen Bestrahlungen.
2. Physikalische Vorteile von Ionenstrahlen Ionenstrahlen haben eine andere Wechselwirkung mit dem durchdrungenen Gewebe als elektromagnetische Strahlung, sie haben deshalb auch ein anderes Tiefendosisprofil (Abb. 1). Für elektro-magnetische Strahlen fällt die Dosis nach einem anfänglichen Anstieg für größere Tiefen exponentiell ab. Für die Bestrahlung eines tiefliegenden Tumors bedeutet dies, dass die lokale Dosis vor dem Zielvolumen höher ist als im Tumor und dass eine erhebliche Dosis hinter dem Tumor deponiert wird. Diese Dosisbelastung im gesunden Gewebe ist der limitierende Faktor konventioneller Therapie [5]. Ionen haben ein inverses Tiefendosisprofil: die Dosis steigt mit der Eindringtiefe an, bis zu einem maximalen Wert, dem so genannten Bragg Maximum und fällt danach steil ab. Die Lage des Bragg Maximums ist von der Eingangsenergie der Ionen bestimmt: Höher energetische Ionen haben eine größere Reichweite.
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Abb. 1. Vergleich der Tiefendosisprofile von Photonen- und Teilchen-Strahlen. Nach einem anfänglichen Anstieg fällt für Photonen die Dosis exponentiell mit der Tiefe ab. Teilchen haben ein dazu inverses Dosisprofil: die Dosis steigt mit der Tiefe zu einem steilen Maximum an, das durch Energievariationen über den Tumor verschoben werden kann.
Mit einem energievariablen Beschleuniger lässt sich der Ort der maximalen Dosis über das Zielvolumen in der Tiefe verteilen. (In früheren Ionentherapien wurde dies mit passiven Energieabschwächern erreicht.) [6] Um den Tumor auch seitlich „auszuleuchten“ kann man den IonenStrahl magnetisch ablenken. In der Praxis teilt man den Tumor in Schichten gleicher Reichweite auf und fährt mit dem dünnen Ionenstrahl rasterförmig über jede Schicht. Der Weg innerhalb einer Schicht ist in einzelne Bildpunkte, Pixel aufgeteilt, die nacheinander angefahren werden (Abb. 2). In der Bestrahlungsplanung wird zuvor die Teilchenzahl für jeden dieser Punkte berechnet, die nötig ist, um insgesamt eine homogene Verteilung der biologischen Wirkung zu erzielen. Im Allgemeinen ist die Teilchenbelegung auf einer Reichweiten-Schicht extrem inhomogen, da einmal bei der Bestrahlung von tieferen Schichten die davor liegenden Schichten belastet werden. Zweitens hängt die biologische Wirksamkeit von der lokalen Zusammensetzung des Teilchenfeldes in Energie- und Ordnungszahl ab. Eine homogene Dosis produziert bei Teilchenstrahlen noch keinen homogenen Effekt. Die physikalische Dosis muss der unterschiedlichen Biologischen Wirksamkeit RBE angepasst werden. Beide Effekte werden bei
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der Bestimmung der lokalen Teilchenbedeckung mit eingerechnet und ergeben ein charakteristisches Muster für jeden Tumor. Das Prinzip einen Strahl über eine Fläche rasterförmig zu führen, ist sehr bekannt und in jedem Fernsehgerät verwirklicht. Dort wird mit einem Elektronenstrahl der Fernsehschirm zeilenweise abgerastert und die Intensität in jedem Bildpunkt so variiert, dass insgesamt ein vorgegebenes Bild entsteht. Das „Ionen-Fernsehen“ der Therapie ist dreidimensional und setzt die einzelnen „Bilder“ in der Tiefe hintereinander, so kann das irreguläre Volumen eines Tumors optimal mit einer hohen Dosis überdeckt werden, ohne dass das umliegende gesunde Gewebe stark geschädigt wird. In der Praxis der Patientenbestrahlungen wird der Tumor in bis zu hundert Schichten mit 10 bis 30 000 Bildpunkten zerlegt, die nacheinander ausgesteuert werden (Abb. 3). Abb. 3 zeigt die Schichten eines einzelnen Tumors, der bei GSI bestrahlt wurde. Durch vorgelagerte Gewebeteile von höherer Dichte, wie z. B. Knochen, müssen einige kleinere Stellen mit höherer Energie bestrahlt werden. Diese liegen am Anfang des Bestrahlungszyklus. Umgekehrt muss beim Durchgang des Ionenstrahls durch Gewebehöhlen, wie z. B. dem Ohrgang, die Energie herabgesetzt werden.
Abb. 2. Prinzip des Rasterscanns: Das Zielvolumen wird in Schichten gleicher Teilchenreichweite zerlegt. Mit zwei Magneten wird der Strahl rasterförmig über jede Schicht geführt. Der Weg längs des Rasters ist in Bildpunkte zerlegt, die nacheinander nach einem vorberechneten Muster bestrahlt werden. Bis zu 30 000 individuelle Bildpunkte ergeben schließlich eine exakte Bestrahlung, auch irregulärer Tumor-Volumina.
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Abb. 3. In diesem Bild sind die einzelnen Schichten des Zielvolumens dargestellt, die mit gleicher Teilchen-Energie bestrahlt werden. Rechts oben ist die gerade behandelte Schicht dargestellt; die Kreise entsprechen den Sollpositionen, die Punkte den gemessenen Schwerpunktskoordinaten des Strahles. Der Durchmesser des Strahls ist mit 6 Millimetern ca. 3-mal so groß wie die Kreise. Die dadurch entstehende Überlappung der einzelnen Strahlpositionen erzeugt eine gute Homogenität im Zielvolumen.
Dies entspricht den kleinen Flächen niedriger Energie am Ende des Bestrahlungszyklus. Dazwischen liegt der größere Teil des Bestrahlungsvolumens, dessen Komplexität sich in den äußeren Umrissen der Bestrahlungsflächen widerspiegelt.
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Die Bestrahlung eines komplexen Zielvolumens, z. B. im Kopf-HalsBereich dauert 5-10 Minuten. Eine volle Kohlenstoffbestrahlung besteht meistens aus zwei oder mehr Einstrahlrichtungen, die in 20 Tagen hintereinander jeden Tag - auch am Wochenende - bestrahlt werden. Bei einigen Patienten werden auch Ionenbestrahlungen als Verstärkung von konventioneller Bestrahlung eingesetzt. Dann werden z. B. 6 der 30 konventionellen Bestrahlungen durch Ionentherapie ersetzt.
3. Erhöhte biologische Wirksamkeit Bis jetzt wurden ca. 30 000 Patienten erfolgreich mit Protonen bestrahlt. Der Übergang von Protonen zu Kohlenstoffionen erhöht nicht nur die Präzision der Bestrahlung, sondern die biologische Wirkung ganz beträchtlich [7]. Für Ionen steigt der Energieverlust (und deshalb auch die Dosis in Abb. 1) am Ende der Reichweite an. Dies bedeutet, dass in jeder einzelnen Teilchenspur die Energieabgabe am Ende zunimmt. Im mikroskopischen Maßstab, in den Dimensionen des DNA Moleküls kann damit lokal soviel Energie deponiert werden, dass es zu lokalen Anhäufungen von Schadensereignissen in der DNA kommt. Diese Anhäufungen von DNA Schäden können von der Zelle nicht mehr repariert werden und führen zu unterschiedlichen Wegen des Ausscheidens der Zelle aus der Proliferation. Es ist also nicht nur die totale Energiedeposition für die biologische Wirkung maßgeblich, sondern die mikroskopische Verteilung im intrazellulären Bereich, muss einen gewissen Schwellwert erreichen um irreparable Schadensanhäufungen zu erzeugen (Abb. 4). Damit hängt die erhöhte biologische Wirksamkeit von zwei Parametern ab: der Ionisationsdichte, die zu lokalen Schadensanhäufungen führt und der Reparaturkapazität der jeweiligen Zellen. Dieses Ergebnis hat eine direkte Konsequenz für die Klinische Therapie, sowohl in der Wahl des Therapiestrahls, als auch in der Wahl der klinischen Indikation. Für den Ionenstrahl sollte die Ionisationsdichte im Eingangskanal noch unter dem kritischen Wert der Schadensanhäufung liegen, im Tumor jedoch deutlich darüber. Ausgedehnte Studien haben gezeigt, dass dies für Ionen um den Kohlenstoff der Fall ist. Zweitens ist bei den klinischen Indikationen eine deutliche Wirkungssteigerung vor allem bei besonders strahlenresistenten Tumoren zu erwarten, deren Reparatursystem in der Lage ist, die durch dünn ionisierende Strahlung hervorgerufene Schäden effektiv zu reparieren, das aber an den Schadensanhäufungen der Ionenstrahlen scheitert (Abb. 5). In Abb. 5 wird für einem Kohlenstoffstrahl Dosis und biologisch effektive Dosis verglichen.
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Abb. 4. Vergleich der mikroskopischen Struktur der Bahn von Kohlenstoffionen verschiedener Energien mit einem schematisch dargestellten DNA Molekül. Die primären Kohlenstoffionen erzeugen durch Stöße sog. Delta-Elektronen, die in weiteren Stößen die DNA-Bildungen zerreißen. Bei niedrigen Energien (links) werden die Elektronen so dicht erzeugt, dass es zu Anhäufungen von Schäden an der DNA kommt, die nicht mehr von der Zelle repariert werden können.
Am Ende der Teilchenreichweite steigt nicht nur die Dosis, sondern auch deren Wirksamkeit - RBE - stark an. Für leichtere Ionen, wie z. B. Protonen ist der Anstieg der Wirksamkeit auf die letzten Mikrometer beschränkt und deshalb klinisch nicht relevant. Für schwere Ionen, wie Neon oder Argon reicht der Bereich erhöhter Wirksamkeit im Eingangskanal in den Bereich gesunden Gewebes und führt damit zu unerwünschten Nebenwirkungen. Für Kohlenstoffionen überlappt der Bereich erhöhter RBE gut mit dem Bragg Maximum, so dass die erhöhte RBE nur am Ende der Reichweite wirksam wird. Mit dem Rasterscanverfahren kann dieser Bereich strikt auf den Tumor begrenzt werden und soll zu einer erhöhten Abtötung der Tumorzellen führen, bei gleichzeitiger Schonung des Normalgewebes. Die klinische Erfahrung hat diese Vorstellung voll bestätigt. Um die erhöhte biologische Wirksamkeit RBE in der Bestrahlung zu berücksichtigen, muss sie in die Planung für den Rasterscan integriert werden. Da die RBE von der inneren Bahnstruktur der einzelnen Teilchen abhängt, muss für jeden Punkt, der vom Rasterscanner angefahren wird, je nach Zusammensetzung des Teilchenfeldes die RBE berechnet werden. Dazu wurde an der GSI das Local Effect Model LEM entwickelt (8). In diesem Model wird auf Grund der Reparaturkapazität, wie sie von Röntgenexperimenten bekannt ist, sowie der Zellkerngröße und der radialen Dosisverteilung für die verschiedenen Teilchenfelder die lokale RBE berechnet und in die Planung punktweise eingefügt. Dabei können verschiedene Gewebe bei gleicher physikalischer Dosis unterschiedliche biologische Wirkung verspüren, da sie verschiedener Reparaturkapazitäten und damit eine andere RBE haben.
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Abb. 5. Vergleich der physikalischen und biologisch effektiven Dosis (oben) mit den Zellüberleben (Mitte) und der relativen biologischen Effektivität RBE (unten) für einen 270 MeV/u Kohlenstoffstrahl. Das Zellüberleben fällt zum Ende der Reichweite auf 10% steil ab. Dieser Abfall ist zum geringen Teil auf den Anstieg der physikalischen Dosis zurück zuführen. Der größere Effekt stammt aus der Zunahme der biologischen Wirksamkeit RBE, wie sie im unteren Bild gezeigt ist. Aus dem Produkt der physikalischen Dosis und der RBE ergibt sich die biologische effektive Dosis, die am Ende dreimal so groß ist wie die physikalische Dosis.
Abb. 6. Vergleich der physikalischen und biologischen effektiven Dosis für 3 Einzelfelder von drei Chondrosarkom-Patienten. Je nach Dosis und Tumortiefe ergibt sich ein anderer RBE Wert. Für die Haut der Patienten ist bei gleicher physikalischer Dosis die effektive Dosis nur halb so groß, da Haut für Späteffekte ein anderes Reparaturverhalten hat.
In Abb. 6 ist für drei Patienten, die an demselben Tumor erkrankt waren (Chondrosarkom) die biologisch-effektive Dosis für ein einzelnes Feld dargestellt. Abhängig von der Dosis und Tumortiefe ergeben sich Mittelwerte der RBE zwischen 3 und 5. Außerhalb des Tumorbereichs fällt die biologisch-effektive Dosis ab. Für die Haut des Patienten ergibt sich auf Grund der unterschiedlichen Reparatur-Kapazität eine deutlich niedrigere biologische Dosis bei gleicher physikalischer Dosis. In der Kohlenstoff Therapie der GSI wurde zum ersten Mal eine biologisch optimierte Therapieplanung durchgeführt und bei allen Patienten mit großem Erfolg angewendet.
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4. PET Verifikation Beim Durchdringen des Kohlenstoffstrahls durch den Körper entstehen durch Kernreaktion instabile, d. h. radioaktive Folgeprodukte. Klinisch interessant davon sind die leichteren Kohlenstoff-Kerne 10C und 11C , sowie das Sauerstoffisotop 15O . Diese Kerne zerfallen unter der Emission eines Positrons, das in zwei Gamma Quanten von 511 keV zerstrahlt. Durch die Messung dieser Gamma Quanten in einer Kamera, die für die Positronen Emissions Tomographie PET entwickelt wurde, lässt sich der Strahl im Körper des Patienten nachweisen [9] (Abb. 7). Zwar entspricht die gemessene Positronen-Verteilung nicht der Dosis Verteilung, aber aus dem gemessenen PET Bild lässt sich die Reichweite des Primärstrahls rekonstruieren. Dies ist eine wertvolle Information, da sie zeigt, ob die Reichweite korrekt berechnet wurde oder ob gesundes Normalgewebe, insbesondere von Risikoorganen, wie z. B. dem Hirnstamm mit betroffen wurde. In der Strahlentherapie der GSI werden bei allen Bestrahlungen die Positronen-Verteilungen gemessen und mit dem Bestrahlungsplan verglichen. Bei einigen Patienten zeigte sich im Laufe ihrer Therapie eine deutliche Veränderung der Reichweite, die durch das Auffüllen von Operationswunden mit Flüssigkeit bedingt war. Der Bestrahlungsplan wurde dann entsprechend korrigiert. Die PET Verifikation stellt somit eine neue Art der in vivo Qualitätssicherung dar, die vom FZR Dresden entwickelt und betrieben wird.
5.Klinische Ergebnisse Darmstädter Kohlenstoff Therapie Nach mehr als 10 Jahren Vorbereitungen durch strahlenbiologische Experimente und durch den Aufbau des Prototyps eines Rasterscanners wurde in der Zeit von 1993 – 1997 eine Therapie Einheit – in Zusammenarbeit mit der Radiologischen Klinik, dem DKFZ Heidelberg und dem FZR Dresden - an der GSI aufgebaut. In jährlich 3 Bestrahlungsblöcken von je 25 Tagen Dauer können jeweils bis zu 15 Patienten mit je einer täglichen Fraktion an 20 aufeinander folgenden Tagen bestrahlt werden. Jede Fraktion besteht aus einer Bestrahlung aus mindestens zwei, meist gegenüberliegenden Seiten (Abb. 8). Bis jetzt wurden ca. 200 Patienten bestrahlt, zunächst ausschließlich Tumoren im Kopf-Hals-Bereich, da der Kopf besonders gut mit den konventionellen stereotaktischen Methoden fixiert werden kann. Danach wurden die Indikationen auf Tumoren längs der Wirbelsäule bis in den Beckenbereich ausgedehnt. Tumoren im Brustbereich können wegen der Atembewegung nicht fixiert werden.
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Abb. 7. Vergleich der Dosis Profile (oben) mit simulierter (unten) und gemessener PET-Verifikation (Mitte). Bei der Bestrahlung eines Schädelbasis-Tumors ist es kritisch, keine Überreichweiten in Richtung Hirnstamm zu erzeugen. Das obere Bild zeigt die Dosis- Verteilung, das untere die daraus berechnete Verteilung der Positronen Emitter. Die Messung (mittleres Bild) zeigt keine Abweichung von der Simulation, die von einer Überreichweite hervorgerufen seien könnte. [9]
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Abb. 8. Vergleich der Kohlenstoff Dosis Verteilung (links) mit der bestmöglichen konventionellen IMRT Dosis Verteilung (rechts). Die Kohlenstoff Therapie spart den größten Teil des Normalgewebes aus und hat auch im Übergang vom Ziel Volumen zu Normalgewebe einen steileren Dosis Gradienten. Diese Präzision und die weitgehende Schonung des gesunden Gewebes bei der Kohlenstoff Therapie ist einmalig. Dies wird durch die hervorragenden klinischen Ergebnisse bestätigt.
Dort ist eine aktive Korrektur der Bestrahlungspositionen während der Bestrahlung erforderlich. Diese Technik wird z. Zt. in der GSI entwickelt. Bei fast allen bisher bestrahlten Patienten konnte das Tumorgeschehen lokal beherrscht werden. Die Tumorkontroll-Rate liegt nach 4 Jahren für Chondrosarkome bei 100%, für Chordome bei 87% und für andere Tumore bei ca. 70%. Das bedeutet eine signifikante Steigerung gegenüber konventioneller Bestrahlung. [10]
6. Perspektive und weltweite Einbindung der Ionentherapie Auf Grund der hervorragenden Erfolge der Kohlenstofftherapie bei der GSI wird jetzt von dem Universitätsklinikum eine Kohlenstoff-ProtonenTherapie-Anlage in Heidelberg gebaut (Abb. 9). Dort sollen ab dem Jahr 2006 etwa tausend Patienten pro Jahr behandelt werden.
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Abb. 9. Grundriss der Heidelberger Ionen Therapie HIT. Von den Ionenquellen wird das Synchrotron über einen Linearbeschleuniger Linac gespeist. Auf der Hochenergie-Seite des Synchrotrons liegen 3 Bestrahlungsplätze. Zwei mit einem horizontalen Strahl (H1, H2) und ein Gantry, bei dem durch eine drehbare Strahlführung der Strahl von allen Seiten auf den Patienten gelenkt werden kann.
Im europäischen Ausland sind weitere Projekte angelaufen. TERA, Italien wird ebenfalls mit kurzer Verzögerung gegenüber dem Heidelberg Projekt eine Kombianlage Kohlenstoff-Protonen in Mailand bauen. Austron, eine österreicherische Initiative, plant ein Schwerionen-TherapieZentrum in der Wiener Neustadt. In Lyon, Frankreich und in Schweden, sowie in der Slowakei gibt es Anfänge ähnlicher Projekte. In Japan ist seit 1993 in Chiba am nationalen Institut für Strahlenforschung NIRS eine Kohlenstoff Therapie Einheit noch ohne Rasterscan in Betrieb. Dort wurden 1.500 Patienten ebenfalls sehr erfolgreich bestrahlt [10]. In Hyogo ging eine zweite Kohlenstoffanlage 2002 in Betrieb; eine weitere Schwerionenanlage ist in Japan geplant. Die Patientenzahlen in Chiba und Darmstadt sind noch relativ gering gegenüber den ca. 30 Zentren weltweit, die mit Protonen mehr als 30.000 Patienten behandelten. Allerdings ist die Erfolgsquote bei den Ionenthera-
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pien so überzeugend, dass mehr und mehr Nachfrage nach den schweren Ionen besteht. Im Interesse der Patienten ist der Bau von der Schwerionentherapie eine erfreuliche Entwicklung, da sie höhere Heilungschancen verspricht. Die biologische Grundlagenforschung und die technische Entwicklung der Tumortherapie mit schweren Kohlenstoffionen war das zentrale Thema der Biophysik der GSI in den letzten 25 Jahren. Diese Arbeiten wurden mit zahlreichen Anerkennungen und Preisen gewürdigt, darunter der Schrödinger-Preis der HGF, der Röntgen-Preis der Universität Giessen, der K.H.-Beckurts-Preis, der Otto-Hahn-Preis der Stadt Frankfurt u. a. Im Oktober 2003 kaufte die Firma Siemens von der GSI exklusive Lizenzen und Know-how für den Bau weiterer Schwerionen-TherapieEinheiten. Bei dem geplanten Bau einer Klinikserie von 10 Einheiten kann man mit einer erheblichen Preisreduktion rechnen und die Schwerionentherapie für den Patienten und die Krankenkassen in den KostenBereich anderer Krebstherapien bringen. Die Entwicklung der Schwerionentherapie ist das größte biomedizinische Projekt in Europa und wird auch in Zukunft mit entsprechender Forschung durch die GSI begleitet werden. Literatur [1] De Vita VT (1983) Progress in Cancer Management. Cancer 51: 2401-2409 [2] Krämer M, Scholz M (2001) Treatment Planning of Heavy-Ion Radiotherapy: Calculation and Optimization of Biologically Effective Dose. Phys Med Biol 45: 3319-3330 [3] Wilson RR (1946) Radiological use of fast protons. Radiology 47: 487-491 [4] Sisterson J (2003) Particles - A newsletter for those interested in proton light ion and heavy charged particle radiotherapy, Vol. 31, Harvard University [5] Krämer M, Jäkel O, Haberer T, Kraft G, Schardt D, Weber U (2000) Treatment Planning for Heavy-Ion Radiotherapy: Physical Beam Model and Dose Optimization. Phys Med Biol 45: 3299-3317 [6] Chu WT, Ludewigt BA, Renner TR (1993) Instrumentation for Treatment of Cancer Using Proton and Light-Ion Beams. Rev Sci Instr 64: 20055-212 [7] Kraft G (1999) RBE and its Interpretation. Strahlenther Onkol 175, Suppl II: 44-47 [8] Scholz M, Kraft G (1994) Calculation of Heavy Ion Inactivation Probabilities Based on Track Structure, x-ray Sensitivity and Target Size. Radiat Prot Dosimetry 52: 29-33 [9] Enghardt W, Debus J, Haberer T, Hasch BG, Hinz R, Jäkel O, Krämer M, Lauckner K, Pawelke J (1999) The Application of PET of Quality Assurance of Heavy-Ion Tumor Therapy. Strahlenther Onkol 175, Suppl. II: 33-36 [10] Schultz-Ertner D, Nikoghosyan A, Thilmann C, Haberer T, Jäkel O, Karger C, Scholz M, Kraft G, Wannenmacher M, Debus J (2003): Carbon Ion Radiotherapy for Chordomas and Low Grade Chondrosarcomas of the Skull Base. Strahlenther Onkol 179: 598-605 [11] Tsujii H (1996) Preliminary Results of Phase I/II, Carbon Ion Therapy at NIRS. Int Part Therapy Meeting and XXIV. PTCOG Meeting, April 24-26, Detroit Michigan
Analyse und Repräsentation akustischer Signale im Hörsystem Gerald Langner Institut für Zoologie, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Sprachsignale enthalten Frequenzen bis über 10 kHz, der optimale Arbeitsbereich von Nervenzellen in unserem Hörsystem, die diese Information verarbeiten müssen, liegt aber unter 100 Hz. Eine wichtige Funktion des Hörsystems besteht daher offenbar darin, die hohen Frequenzen in niederfrequente oder sogar räumliche Information zu übertragen. Dementsprechend werden akustische Signale im Innenohr nicht nur nach Frequenzbereichen zerlegt, sondern auch durch zeitliche Intervalle von Nervenimpulsen repräsentiert. Durch die zentralnervöse Verarbeitung wird diese Information in Ortsinformation transformiert, d.h. Nervenzellen in neuronalen Karten im Mittelhirn und im Cortex signalisieren durch ihre relative räumliche Position die Frequenz- und Zeitinformation der repräsentierten Signale.
Abstract Speech is processed in the auditory system in the spectral and the temporal domain. Although a spectral analysis is performed in the cochlea, in addition temporal information about speech signals is coded in spike intervals in the auditory nerve and in the nucleus cochlearis. This temporal information is analyzed in the auditory brainstem and in the midbrain by coincidence of delayed and undelayed responses as basic processing elements. The results of this combined frequencytime analysis are mapped spatially and orthogonal to each other, in the auditory midbrain as well as in the cortex.
1. Periodizität, eine wichtige Eigenschaft von Kommunikationssignalen Eine zentrale Aufgabe des Gehörs von Mensch und Tier ist die Analyse von akustischen Kommunikationssignalen (Abb. 1). Viele wichtige Signalquellen, wie menschliche oder tierische Stimmbänder, Saiten, Membranen oder Resonanzröhren von Musikinstrumenten schwingen periodisch
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oder verstärken periodische Signale. Die Periodizität von Signalen weist in der Regel auf Lebewesen hin, die, mit oder ohne Absicht, Signale austauschen. Geräusche unbelebter Objekte, wie z.B. Wasser, Wind oder Gewitter sind typischerweise aperiodisch. Auch die meisten Musikinstrumente dienen der Erzeugung von periodischen Signalen und gehören daher nicht zufällig zu den Ausnahmen unter den unbelebten Schallquellen. Die Fourieranalyse -ein mathematisches Verfahren zur Zerlegung eines komplexen Signals in eine Summe von Frequenzen- zeigt, dass periodische Signale aus mehr oder weniger breitbandigen Spektren mit Grundfrequenzen und Obertönen bestehen, deren Frequenzen ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz sind. Sie werden deshalb auch harmonische Signale genannt. Es ist zu beachten, dass die Begriffe ‚Periodizität’ und ‚Frequenz’ hier in einem bestimmten Sinn gebraucht werden: Während ‚Periodizität’ ausdrückt, dass sich ein beliebiges Signal in bestimmten Zeitintervallen (Periode) regelmäßig wiederholt, wird der Begriff ‚Frequenz’ genutzt um die Häufigkeit einer sinusförmigen Schwingung pro Zeiteinheit anzusprechen. In der Sprache werden periodische Signale auch als stimmhaft bezeichnet (insbesondere Vokale), weil sie durch periodische Schwingungen der Stimmbänder erzeugt werden. Laute, die ohne Stimmeinsatz erzeugt werden (viele Konsonanten) heißen stimmlos. Die Komplexität des menschlichen Stimmapparates und seine neuronale und motorische Feinsteuerung erlaubt schnelle und präzise Modulationen und Variationen der generierten Signale. Die Identität von Vokalen und stimmhaften Konsonanten wird allerdings erst durch die verstellbaren Resonanzräume im Vokaltrakt festgelegt, die die Formanten, bzw. den Klang eines Vokals definieren. Alle Vokale lassen sich durch ihre niedrigsten zwei Formanten charakterisieren. Zum Beispiel liegen die Formanten des Vokals [a:] in der Regel bei 800 und 1250 Hz. Ausgebildete Opernsänger können mit dem zusätzlichen Sängerformanten bei 2500 Hz ein ganzes Orchester übertönen, weil in diesem Frequenzbereich nur wenige Obertöne von Musikinstrumenten liegen. Wegen der Periodizität der Stimmbandschwingungen ist die gesamte Information eines Vokals in der Impulsantwort des Vokaltraktes - einem zeitlichen Grundintervall von zumeist etwa 3 – 10 ms Dauer - enthalten (Grundfrequenz: 300 – 100 Hz). Da der Klang und damit auch die Identität eines Vokals durch die Formanten definiert ist, muss das auditorische System also eigentlich nur dieses kurze Intervall spektral und zeitlich analysieren. Weil es unwahrscheinlich ist, dass zwei Sprecher zum gleichen Zeitpunkt dieselbe Grundfrequenz haben, wäre eine „getriggerte“ und damit zeitlich mit der Grundfrequenz synchronisierte spektrale Analyse nützlich, die sich auf das jeweilige Grundintervall bezieht. Offenbar ist das auch die Lösung, die die Evolution gefunden hat [1].
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Abb. 1 Frequenz- und Zeitinformation von Sprachsignalen. Das Sonogramm zeigt die Analyse eines gesprochenen Wortes (‚Neuron’). Die Schwärzung zeigt die Amplitude des Schallsignals an. Dargestellt ist nur der wichtigste Spektralbereich bis 3 kHz. Nach 0,6 s wurde die Filtereinstellung geändert. Dadurch sind links die Grundfrequenz (~ 110 Hz) und die zugehörigen Obertöne als dunkle Linien erkennbar, rechts dagegen - in den dicht aufeinanderfolgenden vertikalen Linien die Vibration der Stimmbänder (110/s) als Modulation über den gesamten Spektralbereich.
Der raschen Amplitudenmodulation des Schalldrucks (Grundfrequenz), die durch die periodischen Schwingungen der Stimmbänder entstehen, überlagern sich weitere Modulationen, die durch Öffnen und Schließen des Mundes oder feinere Variationen der Schallabstrahlung des Vokaltraktes produziert werden. Diese Modulationen geschehen aber relativ langsam. Sie sind daher als rhythmische oder vibratorische Lautstärkeänderung wahrzunehmen. In allen Sprachen und auch bei vielen Tierlauten treten solche Modulationen gehäuft bei einer Frequenz von etwa 4 Hz auf. Die Sprachforschung hat gezeigt, wie wichtig dieser Modulationsbereich für das Verständnis von Sprache ist [2]. Leider liegen Echos in halliger Umgebung im selben Zeitbereich und können deshalb das Sprachverständnis insbesondere von Hörbehinderten stark beeinträchtigen. Auf der anderen Seite kann man zur Verbesserung des Sprachverständnisses diesen Modulationsbereich in intelligenten Hörgeräten verstärken. Perzeptuell gesehen gibt es also zwei Arten von Amplitudenmodulationen. Langsame Modulationen (1 – 100 Hz) werden als zeitliche Variationen, wie Rhythmus,
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Vibrato oder Rauhigkeit, und schnellere (20 – 1000 Hz) als Tonhöhen wahrgenommen. Dieser deutliche Unterschied bei der Wahrnehmung lässt sich auf unterschiedliche neuronale Verarbeitung zurückführen. Schnelle Modulationen werden schon im Mittelhirn weitgehend in einen Ortscode übertragen, während nur die langsameren sich auch im Hörcortex noch als zeitliche Fluktuationen der neuronalen Reaktionen nachweisen lassen [1]. Die Form der periodischen Welle, die sich bei dieser Überlagerung von Grund- und Obertönen ergibt, kann beliebig komplex sein. Schon von Helmholtz [21] wusste, dass aber die Tonhöhe solcher Signale unabhängig ist von den Phasen und Amplituden der Obertöne und damit auch von der Wellenform des Signals und dass die Tonhöhe des Gesamtsignals identisch ist mit der Tonhöhe der Grundfrequenz. Im Gegensatz zu von Helmholtz, der deshalb auch annahm, dass allein die Grundfrequenz für die Tonhöhe verantwortlich ist, weiß man heute, dass die Tonhöhe eines harmonischen Signals aber selbst bei fehlender Grundfrequenz unverändert bleibt. Sie bleibt in der Tat so lange gleich, wie einige benachbarte Obertöne sich zu einer Wellenform addieren, die - mit mathematischer Notwendigkeit - immer dieselbe Periode wie die Grundfrequenz hat. Schouten [3, 4] hat diese Tonhöhenwahrnehmung deshalb als Periodizitätstonhöhe bezeichnet. Etwas vereinfacht gesagt, bestimmt also das Frequenzspektrum den Klang eines Signals, während die Periodizität seiner Wellenform die Tonhöhe definiert. In diesem Sinne sind Frequenz und Tonhöhe unabhängige Größen, die auch weitgehend unabhängig vom Hörsystem verarbeitet werden, um schließlich im zentralnervösen Hörsystem räumlich orthogonal zueinander (also quasi unabhängig) abgebildet zu werden.
2. Die Frequenzanalyse im Innenohr Schall wird von der Ohrmuschel gebündelt, durch den Gehörgang auf das Trommelfell und von dort über die Kette der Gehörknöchelchen zum Innenohr (Cochlea) geleitet. Die Schwingungen des Steigbügels führen in der Cochlea zu den sogenannten Wanderwellen. Diese breiten sich über die Basilarmembran aus, auf der die Rezeptorzellen (Haarzellen) sitzen. Wegen der ortsabhängigen mechanischen Eigenschaften der Basilarmembran werden die Wanderwellen wie Brandungswellen abgebremst und brechen nach Aufsteigen aufgrund von Reibungskräften zusammen. Dies geschieht für hohe Frequenzen sehr rasch, für niedrige Frequenzen entsprechend langsamer. Diese Frequenzdispersion begründet die Fähigkeit des Ohres zur Frequenzanalyse. Hohe Frequenzen erreichen nur die Haarzellen an der Basis der Cochlea, während tiefe Frequenzen weit in die
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Cochlea laufen. Für die Entdeckung der Wanderwellen erhielt von Békésy 1961 den Nobelpreis. Aber schon Ohm (1789 - 1854) begründete die bis heute zumindest im Prinzip akzeptierte Vorstellung vom Ohr als Fourieranalysator. Lange Zeit hat man aber weitgehend ignoriert, dass die Cochlea eher wie eine Filterbank mit endlicher Auflösung arbeitet. Dementsprechend treten an ihrem Ausgang, d.h. im Hörnerven, frequenzbegrenzte und vor allem zeitabhängige Signale auf, was bei einer Fourieranalyse nicht der Fall wäre. Wenn das Ohr also kein idealer Fourieranalysator ist, so ist es doch als neuromechanische Filterbank optimal geeignet zur Kodierung von Transienten oder Impulsantworten. Diese werden von den Haarzellen der Cochlea in die Sprache des Nervensystems übersetzt, also in zeitliche Intervalle von Aktionspotentialen.
3. Die zeitliche Analyse im Hörsystem Die zeitliche Analyse im Hörsystem ist bisher von der Hörforschung stark vernachlässigt worden. Zwar ist schon lange bekannt, dass die Nervenimpulse des Hörnervs sehr wohl genaue zeitliche Information über Schallereignisse übertragen. Die vorherrschende Meinung war jedoch, dass dies vorwiegend der Richtungswahrnehmung dient. Die binaurale Verarbeitung erlaubt uns, die Zeitdifferenz, mit der Schallsignale unsere beiden Ohren erreichen, mit einer Präzision von 10 µs zu messen. Was die Verarbeitung und Erkennung von komplexen Signalen angeht, so waren und sind viele Hörforscher der Meinung, dass das zentrale Hörsystem vor allem mit der Weiterverarbeitung und Auswertung der Spektralanalyse des Innenohres beschäftigt ist. In den letzten Jahren setzte sich aber zunehmend die Ansicht durch, dass nach der Frequenzanalyse in der Cochlea eine zeitliche Analyse im zentralnervösen Hörsystem stattfindet, die speziell den periodischen Eigenschaften der akustischen Signale gewidmet ist. Im Frequenzbereich unter 5 kHz werden nicht nur die Periodizitäten der Summe der überlagerten Signale (Umhüllende), sondern sogar die einzelner Obertöne durch sogenannte phasengekoppelte oder synchrone Nervenimpulse übertragen. Auch ist die Frequenzauflösung unseres Gehörs in diesem für die Sprache besonders wichtigen Bereich wesentlich besser, als es die genau untersuchte Leistung der cochleären Frequenzanalyse erwarten lässt. Deshalb gehen die meisten Hörphysiologen heutzutage davon aus, dass die auditorische Frequenzanalyse durch eine zentralnervöse Auswertung der Phasenkopplung unterstützt wird.
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Abb. 2 Ein Korrelationsmodell des Hörsystems. Die Frequenzanalyse in der Cochlea ist vergleichbar mit einer Filterbank mit vielen parallelen Kanälen (blau). Im Nucleus cochlearis (CN) werden periodische Signale einerseits verzögert (DCN, dunkelgrün), andererseits aber kaum verzögert (VCN, hellgrün) weitergegeben. Koinzidenzneurone der nächsten Ebene (IC, gelb) reagieren bevorzugt, wenn die Verzögerungen durch die Periodizitäten eines Signals kompensiert werden. Sie sind deshalb nicht nur auf Frequenzen, sondern auch auf Periodizitäten abgestimmt.
Nur die ersten 3 – 5 Obertöne eines harmonischen Klanges werden aber wirklich gut aufgelöst und können getrennt verarbeitet werden [6]. In einem Übergangsbereich gibt es dann Nervenfasern, die in ihrer Aktivität aufgelöste Obertöne repräsentieren, während andere schon die überlagerten Schwingungen kodieren. In diesem Bereich kommt es zunehmend zu
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einer Überlappung der Obertöne auf der Basilarmembran, wobei die resultierenden komplexen Schwingungen (Schwebungen) der sich überlagernden Obertöne eine Periode haben, die der Grundfrequenz entspricht. Diese Modulationen der Schwingungsamplitude führt zu einer entsprechenden Modulation der Entladung im Hörnerv. Die einzelnen Fasern des Hörnervs übertragen also in ihren Impulsintervallen die zeitliche Information über aufgelöste Obertöne oder über die Periodizität der Grundfrequenz phasensynchron, und zwar in vielen parallelen Frequenzkanälen. Diese durch Intervallabstände von Aktionspotentialen zeitlich kodierte Information erreicht über den Hörnerven die erste Hörbahnstation im Hirnstamm, den Nucleus cochlearis (CN, Abb. 2). Die morphologisch bekannten Neuronentypen im Nucleus cochlearis haben sehr unterschiedliche Antwortcharakteristiken. Über ihre funktionelle Bedeutung wusste man bisher aber nur wenig. Eine Ausnahme bilden die Buschzellen im vorderen Teil des Nucleus cochlearis, die zur binauralen Verarbeitung beitragen (nicht dargestellt). Ein von uns entwickeltes Modell zur neuronalen Korrelation periodischer Signale setzt aber die Existenz genau solcher Reaktionstypen voraus, die darüber hinaus noch im Nucleus cochlearis vorhanden sind [1, 6, 7] (s. Voutsas et al. in diesem Band über eine entsprechende Computersimulation). Es handelt sich zunächst um On-Zellen (Octopuszellen und Sternzellen) im ventralen Teil des CN (VCN), die Amplitudenmodulationen mit präzisen synchronen Aktivierungen kodieren. Im Korrelationsmodell dienen sie der Synchronisation der Reaktion der anderen Zellen. Außerdem sorgen diese Zellen nach Umschaltung im Nucleus lemniscus lateralis (VNLL, in Abb. 2 nicht dargestellt; siehe unten) für eine zeitlich präzise Unterdrückung von bestimmter zeitlicher Aktivität im auditorischen Mittelhirn (Colliculus inferior, IC). Eine weitere Zellklasse ist die der sogenannten ‚Chopper’-Zellen (ein weiterer Typ von Sternzellen) im VCN. Auch diese Zellen reagieren auf periodische Signale mit synchronen Entladungen, die aber zusätzlich mit Intervallen im Millisekundenbereich oszillieren. Ihre Information übertragen diese Zellen direkt in den Colliculus inferior. Im Korrelationsmodel dienen die Oszillationsintervalle als Zeitreferenz. Die wichtigere Zeitreferenz liefert aber eine weitere wichtige Zellklasse im dorsalen Teil des Nucleus cochlearis (DCN). Getriggert durch Modulationen integrieren die Pauserzellen (Spindelzellen) Aktivitäten im Hörnerv, die die Obertöne harmonischer Signale repräsentieren. Ihre Reaktion erfolgt deshalb für verschiedene Spindelzellen mit unterschiedlicher Verzögerung, beinhaltet aber gleichzeitig immer Information über die spektrale Feinstruktur der Signale.
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Neuronale Periodizitätsanalyse
τm
Hörnerv
τm Triggerneuron
Integrator
Oszillator
Koinzidenzneuron
Periodizitätsgleichung: Abb. 3. Ein neuronales Netzwerk zur Analyse von periodischen Signalen. Ein Koinzidenzneuron (links unten) wird über periodische Signale durch zwei Eingänge informiert. Oszillatorneurone (orange) der ersten Hörbahnstation geben ihre Reaktionen nahezu ohne, Integratorneurone (blau) mit Verzögerungen weiter. Beide werden von einem Triggerneuron (grün) synchronisiert. Ist die Verzögerung gleich der Signalperiode, dann trifft die verzögerte Reaktion zusammen mit der unverzögerten ein, die bereits die nächste Modulationswelle ankündigt (rechts). Dies erklärt die Selektivität der Koinzidenzneurone für eine bestimmte Signalperiode oder Tonhöhe (blau).
Das auditorische Mittelhirn (IC) ist die zentrale Umschaltstation für praktisch alle akustischen Informationen auf dem Weg zum Hörcortex. Eine besonders wichtige Funktion ist die weitgehende (aber nicht vollständige) Umsetzung zeitlicher Information über periodische Modulationen in einen Ortscode (Periodizitätsanalyse [8, 11]). Neurone im IC reagieren sowohl auf bestimmte Frequenzen als auch auf bestimmte Modulationen (Abb. 4). Die funktionelle Erklärung dafür liefert das in Abb. 4 gezeigte Korrelationsmodell, in dem die Neurone des ICs als Koinzidenzneurone fungieren. Sie bekommen ihre Eingänge von unterschiedlichen Stern- und Spindelzellen und reagieren bei periodisch modulierten Signalen, wenn ihre Eingangsaktivitäten gleichzeitig auftreten.
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Abb. 4. Normalisierte Modulationsübertragungsfunktionen von BandpassNeuronen im IC. Im Gegensatz zu Neuronen auf der ersten Hörbahnstation (NC) sind viele Neurone im IC (hier bei der Katze) auf bestimmte Modulationsfrequenzen (BMF) abgestimmt [11]. Die Zahlen über den Kurven geben die Frequenz des Reintons an, auf den die Neurone aufgrund der periphereren Frequenzanalyse abgestimmt sind, die auch als Trägerfrequenz des sinusförmig amplitudenmodulierten Testsignals dienten, sowie die maximale Rate von Aktionspotentialen bei BMF.
Ein solches Koinzidenzverhalten ist typisch für Neurone, setzt aber in diesem Fall wegen der verzögerten Reaktion aus dem DCN voraus, dass die Verzögerungszeit der Pauser-Reaktion ein ganzzahliges Vielfaches der Modulationsperiode ist. Das entsprechende Koinzidenzneuron reagiert folglich nicht nur auf eine bestimmte Modulationsfrequenz, sondern auch auf Vielfache davon. Solche Filter nennt man Kammfilter. Sie sind aber in neurophysiologischen Experimenten nur am Anfang der Reaktion zu beobachten. Die Erklärung hierfür liefern die ebenfalls periodizitätssynchronen Inhibitionen aus dem sogenannten VNLL, der dem IC vorgeschaltet ist. Offenbar sind diese Inhibitionen geeignet, aus den Hochpassfunktionen der Koinzidenzzellen Bandpassfunktionen zu machen [9]. Unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Dauer der synchronisierten Inhibition aus dem VNLL kürzer als die Periode ist, auf die die Koinzidenzzellen abgestimmt sind. Sie haben deshalb bei dieser Periode keinen Einfluss auf
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die Koinzidenz, wohl aber bei allen kürzeren. Vom Kammfilter bleibt daher nur der ‚Zahn’ übrig, der die Grundfrequenz repräsentiert. Die wichtigste Funktion des VNLL ist demnach die Unterdrückung der Obertonreaktion. Die ersten zwei Obertöne entsprechen aber der Oktave und der Quinte des Grundtones. Es ist daher äußerst bemerkenswert, dass nach anatomischen [10, 11] und funktionellen Kartierungen [9] der VNLL eine helikale Struktur mit 7- 8 Windungen ist, wobei auf jeder Windung der Bereich einer Oktave abgebildet ist (Abb. 5). Ein solche Struktur war bisher nur aus der Musikpsychologie als sogenannte ‚Tonhöhenspirale’ bekannt.
4. Orthogonalität von Tonotopie und Periodotopie im Colliculus inferior Die räumliche Repräsentation von akustischer Information im IC ist recht komplex (Abb. 6). Vereinfacht und unter Vernachlässigung der ebenfalls vorhandenen akustischen Rauminformation, lässt sie sich folgendermaßen beschreiben: Auf ca. 30 parallelen neuronalen Schichten von Tausenden von Nervenzellen (Disc-Zellen) ist jeweils ein enger Bereich des Frequenzspektrums abgebildet [12]. Für den Psychoakustiker ist dabei von besonderem Interesse, dass diese Frequenzbereiche den sogenannten ‚Kritischen Bändern’ oder ‚Frequenzgruppen’ entsprechen, die bei Lautstärkewahrnehmung und akustischer Maskierung einen wichtige Rolle spielen. Die Frequenzselektivität der Neurone erklärt sich daraus, dass letztlich jedes Neuron einer Schicht über ein zwischengeschaltetes Neuron im Nucleus cochlearis mit einer bestimmten Haarzelle in der Cochlea verbunden ist. Tonotopie ist das grundlegende Ordnungsprinzip des auditorischen Systems. Die durch die Wanderwellenmechanik erzeugte Abstimmung der Haarzellen auf jeweils eine bestimmte Frequenz wird also an alle nachgeschalteten Zellen weitergegeben. Auf diese Weise werden tiefe Frequenzen auf Schichten im dorsalen ICC abgebildet und hohe Frequenzen auf ventralen Schichten. Aufgrund der zeitlichen Analyse signalisiert ein Koinzidenzneuron im Colliculus inferior aber nicht nur die Stärke bestimmter Obertöne, sondern gleichzeitig auch die Grundfrequenz eines periodischen Signals bzw. seine Tonhöhe. Die Reaktion des Koinzidenzneurons wird am stärksten, wenn beide Signalparameter gleichzeitig den richtigen Wert haben. Dementsprechend sind die Neurone in allen neuronalen Schichten des Colliculus inferior nicht nur tonotop, sondern auch periodotop angeordnet: Tonhöhe und Klang sind orthogonal zueinander abgebildet [7, 13, 14].
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Abb. 5 Die hypothetische Struktur des VNLL Anatomische Befunde und 2Deoxyglukose-Kartierungen und andere neurophysiologische Untersuchungen lassen vermuten, dass der VNLL - eine wichtige Eingangsstruktur des ICs - eine helikale Organisation aufweist. Neurone auf jeder Wendel der Helix sollten danach eine Oktave des Tonhöhenbereichs zwischen etwa 15 und 4000 Hz repräsentieren (Periodotopie) und entsprechenden Neuronen im IC als Inhibitoren zugeordnet sein. Wie an zwei Stellen angedeutet, ist die Helix nach innen mit Neuronen gefüllt, die die jeweilige Tonhöhe in verschiedenen Spektralbereichen repräsentieren (Tonotopie).
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Abb. 6. Orthogonale Repräsentation von Frequenz und Periodizität. Auf jeder der tatsächlich ca. 30 neuronalen Schichten des ICs ist ein enger Frequenzbereich (CF) und ein großer Periodizitätsbereich (BMF) topographisch abgebildet. Die blauen Neurone in der Mitte der obersten Schicht reagieren z.B. auf eine Frequenz von 2 kHz und die roten Neurone auf eine Periodizität oder Tonhöhe von 100 Hz. Der Kreuzungspunkt dieser beiden orthogonalen Repräsentationen signalisiert demnach einen bestimmten harmonischen Klang, z.B. den zweiten Formanten eines männlichen Sprechers.
Diese Orthogonalität von Tonotopie und Periodotopie ließ sich durch elektrophysiologische Ableitung mittels Mikroelektroden von einzelnen Nervenzellen und mit verschiedenen bildgebenden Verfahren, wie der 2Deoxyglukose-Technik, bei verschiedenen Versuchstieren nachweisen. In physiologisch orientierten Modellen des Gehörs wird diese Tatsache durch zwei Filterbänke berücksichtigt: eine für die Frequenzanalyse und eine Modulationsfilterbank für die Periodizitätsanalyse [15].
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Die Korrelation von Periodizitätsinformation trägt auch zur Dekodierung von Sprachsignalen bei: Aus dem räumlichen Erregungsmuster im Colliculus inferior lassen sich nämlich wichtige Aspekte der Sprachinformation, wie Formanten und Tonhöhe, ablesen. Als Ergebnis der cochleären Frequenzanalyse sind die Formanten eines Vokals tonotop, d.h. örtlich kodiert. Auch sind Neurone auf bestimmte Frequenzen abgestimmt und entsprechend räumlich angeordnet. Selbst Vokale, die gleichzeitig auftreten, werden im IC räumlich getrennt abgebildet, vorausgesetzt sie haben unterschiedliche Formanten oder Tonhöhen. Es ist bemerkenswert, dass die beiden neuronalen Achsen (Tonotopie und Periodotopie) einer logarithmischen Einteilung entsprechen. Das hat z.B. zur Folge, dass Vokale, die das gleiche Verhältnis zwischen Formantfrequenzen und Grundfrequenzen haben, dasselbe parallel verschobene Reaktionsmuster hervorrufen. In der Tat kann man Vokale unter Beibehaltung dieser Verhältnisse über einen sehr weiten Bereich transformieren, ohne dass sich für unsere Wahrnehmung ihre Zuordnung zu einer Vokalklasse ändert.
5. Repräsentation zeitlicher Information im Hörcortex Im Gegensatz zu den unteren Stationen des Hörsystems kann man beim Cortex in gewissem Sinn von nur zwei Dimensionen der Repräsentation reden. Es gibt insbesondere nur eine tonotop organisierte Eingangsschicht. Die Zellen in den anderen Cortexschichten verarbeiten die Information, die durch die Eingangsschicht in den Cortex eintritt, auf eine bisher nur in Ansätzen verstandene Weise weiter. Es ist aber bekannt, dass im primären Hörcortex sprachrelevante Rhythmen und Modulationen bis etwa 100 Hz durch synchrone Entladungen repräsentiert sind [16]. Diese zeitliche Repräsentation liefert auch eine plausible Erklärung für die mit diesen Modulationen verbundenen Empfindungen, denn nur cortikal repräsentierte Signaleigenschaften können uns auch bewusst werden. Bei schnellen Modulationen, wie den Grundfrequenzen unserer Stimme, können allenfalls noch die Zellen im Mittelhirn zeitlich folgen, nicht aber die Cortexzellen. Diese Modulationen haben deshalb für unsere bewusste Wahrnehmung, abgesehen von ihrem Anfang und ihrer Dauer, ihren zeitlichen Charakter verloren. Stattdessen lösen sie die Empfindung von Tonhöhen aus, die wir uns auf einer Tonleiter, also räumlich angeordnet, vorstellen. Dieselben physikalischen Gegebenheiten, nämlich periodische Amplitudenmodulationen, führen also je nach ihrer Repräsentation im Cortex (räumlich oder zeitlich) zu ganz unterschiedlichen Empfindungen.
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Die Frage, wie die auf raschen Modulationen beruhenden Tonhöhen im Cortex repräsentiert sind, konnte von uns inzwischen sowohl bei Versuchstieren als auch beim Menschen beantwortet werden. Bei Versuchstieren gelang der Nachweis elektrophysiologisch [17, 18], mit der C14-2Deoxyglukosemethode und durch ‚optische Ableitung‘ [19], die in einer hochempfindlichen Videoaufzeichnung von aktivitätsabhängigen Durchblutungsänderungen des Cortex besteht. Beim Menschen erfolgte der Nachweis mittels Magnetoencephalographie, d.h. durch die Messung von winzigen, von Hirnströmen induzierten und nur mit QuanteninterferenzElektroden messbaren Magnetfeldern [20]. Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass die topographischen Repräsentationen des auditorischen Mittelhirns zunächst anscheinend einfach auf die höheren Verarbeitungsstationen projiziert werden. Formanten und Tonhöhen von Vokalen werden also im Cortex wie im Mittelhirn orthogonal zueinander abgebildet.
6. Bedeutung der zeitlichen Analyse für die Musikwahrnehmung Es scheint, dass das menschliche Hörsystem eine natürliche Präferenz für harmonische Klänge und Relationen hat. Ein Beweis für diese Behauptung kann man in der Tatsache sehen, dass Tonleitern in allen Kulturen harmonische Elemente, wie Oktaven und Quinten, enthalten. Ein anderer Hinweis ist, dass es, von pathologischen Einzelfällen abgesehen, keiner musikalischen Erziehung bedarf, um die ästhetische Qualität von einfachen harmonischen Beziehungen zu erkennen. Es stellt sich die Frage, welches die Grundlage für diese Präferenz ist. Periodische Signale werden im Hörnerv durch eine Folge von periodischen Nervenimpulsen repräsentiert. Es ist leicht einzusehen, dass Signale mit Perioden, die in einem einfachen rationalen Verhältnis zueinander stehen, ein ähnliches Muster von Nervenimpulsen erzeugen müssen. Diese Ähnlichkeit wird durch die statistische Natur von Nervenimpulsen noch erhöht. Darüber hinaus liegt es in der Natur von Korrelationsmechanismen, auch auf Vielfache einer Grundperiode anzusprechen. Dementsprechend wurden von uns auch Koinzidenzneurone im IC gefunden, die auf harmonische Beziehungen reagierten. Nach von Helmholtz beruht die Konsonanz von gleichzeitig erklingenden Klängen oder Akkorden auf der Anzahl übereinstimmender Obertöne. Die zeitliche Analyse erlaubt darüber hinaus eine weitere Feststellung: Wenn sich zwei Obertöne unterscheiden, so kann ihre gleichzeitige Überlagerung zur Aktivierung derjenigen Koinzi-
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denzzellen im IC führen, die auf die Periodizität ihrer Differenzfrequenz abgestimmt sind. Das Ergebnis wäre ein weiterer Grundton mit einer tieferen Frequenz als die Originaltöne. Solche Schlüsselnoten bestimmter Akkorde wurden bereits 1745 vom deutschen Organisten Sorge entdeckt. 1767 wurden sie von einem italienischen Violonisten wiederentdeckt und nach ihm Tartini-Töne benannt. Ein weiteres Argument für die Rolle der Zeitverarbeitung ist die Tatsache, dass wir zwar Frequenzen bis maximal 20 kHz hören können, aber harmonische Beziehungen nur bis etwa 5 kHz erkennbar sind. Selbst die Grundtöne von Piccoloflöten überschreiten diese Grenze, die mit der Obergrenze für die zeitliche Repräsentation im Hörnerven zusammenfällt, nicht.
7. Schlussfolgerung Unsere neurophysiologischen Untersuchungen zeigen, dass es neben der Frequenzanalyse in der Cochlea des Innenohres eine zweite, zentralnervöse Analyse gibt, die Zeitinformationen im Hörnerv auswertet. Die zeitliche Analyse im Gehirn ergänzt die Frequenzanalyse im Innenohr und spielt eine wesentliche Rolle für die Tonhöhenwahrnehmung. Neuronale Verzögerungen und Oszillationen im Millisekundenbereich dienen dabei als Referenz für eine Korrelationsanalyse. Aufgrund dieser zeitlichen Analyse sind die Neurone in den neuronalen Schichten des auditorischen Mittelhirns und des Cortex nicht nur tonotop, sondern auch periodotop angeordnet: Tonhöhe und Klang sind orthogonal zueinander abgebildet. Literatur [1] Langner G (1992) Periodicity coding in the auditory system. Hearing Res 60: 115-142 [2] Kollmeier B, Koch R (1994) Speech enhancement based on physiological and psychoacoustical models of modulation perception and binaural interaction. J Acoust Soc Am 95: 1593-1602 [3] Schouten JF (1940) The perception of pitch. Philips Techn Rev 5: 286-294 [4] Schouten JF (1970) The residue revisited. In: Plomp R, Smoorenburg GF (eds) Frequency Analysis and Periodicity Detection in Hearing. Sijthoff, Leiden, pp 41-54 [5] Bernstein JG, Oxenham AJ (2003) Pitch discrimination of diotic and dichotic tone complexes: Harmonic resolvability or harmonic number? J Acoust Soc Am 113: 3323-3334 [6] Borst M, Palm G, Langner G (2004) Using a biological motivated neural network to extract phase information from natural acoustic signals. Biol Cybernetics 90 (2): 98104 [7] Langner G, Albert M, Briede T (2002) Temporal and spatial coding of periodicity information in the inferior colliculus of awake chinchilla (Chinchilla laniger). Hearing Res 168: 110-130
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Mit Stammzellen und Tissue Engineering zu Netzhautimplantaten Paul Gottlob Layer Institut für Zoologie, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Das Tissue Engineering befasst sich mit Verfahren der Gewebezucht und künstlichen Organbildung. Dieses zukunftsträchtige Feld der Biomedizintechnik vereinigt Aspekte der Bionik wie auch der Nanobiotechnologien. Es wird ein Überblick gegeben, wie Tissue Engineering zur Herstellung von künstlichen Implantaten, aber in Zukunft vor allem zu lebendem Ersatzgewebe führen kann, und wohin dieser riesige Markt in der Biomedizin mit Hilfe der Stammzellbiologie gehen könnte. Vorzüge und Nachteile von embryonalen Stammzellen werden mit denen von adulten verglichen. Am Beispiel der Erblindung werden zuerst elektronische, und dann biologische Ansätze zur Herstellung von Netzhautimplantaten vorgestellt. Während verschiedene Retina-Mikrochips technologisch hochinteressant sind, lässt nur das Tissue Engineering der menschlichen Retina langfristig auf eine echte Heilung hoffen. Um dieses Ziel der regenerativen Medizin zu erreichen, ist Grundlagenforschung an der embryonalen Retina von Huhn und Maus notwendig.
Abstract Tissue engineering is occupied with technologies to culture and artificially remodel tissues and whole organs. This innovative field of biomedical engineering merges aspects of bionics and nanobiotechnologies. This review describes how tissue engineering can lead to the production of artificial implants, and in the future even to living replacement tissues; moreover, it shows where this huge market of biomedicine with the application of stem cell biology is heading to. Advantages and pitfalls of using embryonic vs. adult stem cells are compared. Using blinding diseases as an example, I present electronic and biological approaches to produce retinal implants. While several retinal microchips are technologically advanced, in the long-run only methods of tissue engineering can lead to a functional “healing” of the blinded human retina. To reach this goal of regenerative medicine, basic research on the development and regeneration of avian and murine retinae is obligatory.
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1. Stammzellbiologie und Tissue Engineering gehören zusammen Wohl kein anderes Stichwort in der biomedizinischen Diskussion hat in den letzten Jahren so viel öffentliches Aufsehen erregt, wie das der regenerativen Medizin, welches eng mit dem der Stammzellbiologie verknüpft ist. Technologisch ist dieses junge Feld der Gesundheitsforschung nicht ohne das Thema des Tissue Engineering zu denken. Hinter diesen biotechnischen Feldern verbergen sich riesige medizinische Aufgaben und gleichzeitig immense ökonomische Möglichkeiten. Jährlich werden 400 Milliarden Dollar und damit etwa die Hälfte der gesamten Gesundheitskosten der USA für Patienten ausgegeben, die an Organausfall oder Gewebeverlust leiden. Der US-Markt für biomedizintechnisch regenerierte Organe und Gewebe könnte 80 Milliarden Dollar erreichen. Deshalb hat das Tissue Engineering die höchsten Zuwachsraten beim NIH (National Institute of Health, USA), und der Tissue Engineer ist laut Time Magazine ein absoluter Spitzenberuf der kommenden Jahre. Was ist Tissue Engineering, was kann damit erreicht werden, und was hat es mit Stammzellen zu tun? Tissue Engineering (zu Deutsch etwa „Biotechniken der Gewebezucht“) ist ein multidisziplinäres Fach, das Prinzipien der Biologie und des Ingenieurwesens vereinigt, um Verfahren zur Produktion von „LebendGewebeersatz“ zu entwickeln. Auf diese Weise sollen Gewebeimplantate bereitgestellt werden, mit denen die Funktion von erkranktem, beschädigtem oder verlorenem Gewebe, und – als Zukunftsvision - gar von ganzen Organen wiederhergestellt werden könnten. Tatsächlich gibt es fast kein Organ oder Gewebe, das hinsichtlich seiner künstlichen Nachbildung nicht schon bearbeitet wird. Schon bis zur Reife entwickelt sind Verfahren zum Hautersatz (nach Verbrennungen, Wundverschluss, Tumor-entfernung), für orthopädische Implantate (Knochen, Knorpelersatz) und zum Brustersatz. Neben vielen anderen sind Verfahren für eine Nervenregeneration bei Querschnittslähmung ebenso wie Implantate der Netzhaut in der Entwicklung. Somit ist das Tissue Engineering ein echter Teilbereich der Biomedizintechnik und kann, wenn man den Begriff nicht klassisch eng fasst, als Bionik verstanden werden. Zwei verschiedene Bereiche sind allerdings zu unterscheiden. Der künstliche Gewebeersatz (bioartifizielle Transplantate) geht auf die klassische Prothetik zurück. Biokompatible und bioresorbierbare Materialien, die von Material-wissenschaftlern entwickelt werden, spielen dabei eine bedeutende Rolle. Der langfristig noch bedeutendere Bereich dürften zellbiologische Implantate werden. Bei diesen Verfahren kommen lebende Zellen zum Einsatz, und nur bei diesen Verfahren kann auf eine echte Heilung gehofft werden. Drei Typen von zellbiologischen
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Implantaten werden unterschieden: beim Xenograft kommen tierische Spenderzellen (z.B. vom Schwein) zum Einsatz, das Allograft stützt sich hingegen auf menschliches Zellmaterial, das jedoch nicht vom Patienten stammt (Spenderzellen oder Zellen von menschlichen Föten). Nur beim Autograft wird versucht, Gewebe oder Stammzellen vom Patienten selbst einzusetzen. Langfristig muss das Autograft das Ziel von Gewebeersatzmethoden sein.
2. Ohne Stammzellen kein Lebendzellersatz Ob das Tissue Engineering von biohybriden Implantaten eine große Zukunft haben kann, wird von der Zugänglichkeit adäquater und vor allem ausreichender Mengen an Ausgangszellen abhängen. Damit berühren wir das Thema von Stammzellen zur Geweberegeneration (Abb. 1). Eine Stammzelle muss zwei Eigenschaften besitzen: sie muss zum einen unter Zellkulturbedingungen vermehrbar sein, d.h. es muss möglich sein, aus wenigen Zellen, die man z.B. vom Patienten oder von einem Embryo entnommen hat, große Mengen zu züchten. Große Mengen heißt eigentlich „unbegrenzte Vermehrbarkeit“, so wie man etwa Hefezellen bei Fermentationsprozessen „tonnenweise“ produzieren kann. Ein Anspruch, der sich mindestens für adulte Stammzellen bisher nur schwerlich erfüllen lässt. Dieses Zellmaterial kann dann Ausgangsbasis für ein nachzubildendes Gewebe oder gar ein Organ sein. Zweitens müssen die vermehrten Zellen dazu gebracht werden können, die für das gewünschte Ersatzgewebe notwendigen Zelltypen zu bilden. Der Entwicklungsbiologe sagt, die Stammzelle muss „pluripotent“ sein, soll heißen, sie muss die Fähigkeit zur gewebetypischen Differenzierung besitzen. Für einen Hautersatz etwa müssen verschiedene Hautzellen (z.B. Keratinozyten) zur Verfügung stehen, für ein Nervenimplantat wird man verschiedene Nerven- und Gliazellen benötigen.
3. Embryonale oder adulte Stammzellen? Inzwischen sind Stammzellbiologen, ja fast die ganze Bevölkerung gespalten in solche, die strikt auf embryonale, und solche, die auf die Zukunft der adulten Stammzellen bauen. Diese Spaltung ist fast so tief und unüberbrückbar wie die zwischen Hundehaltern und Hundegegnern. Dabei haben beide Arten von Stammzellen ihre Vorzüge und Nachteile.
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Paul Gottlob Layer „L ebendzellers atz “: Herkunft der Z ellen ? S tammz ellen zur Geweberegener ation
S tammz elle S tammz ellpr oliferation
?
Mass enproduktion
Differ enzierung
?? gezielte Differenzierung z.B. zu Muskel, Haut, Nerven
Abb. 1. Stammzellen – egal ob embryonale oder adulte – müssen zur Massenproduktion gut vermehrbar und anschließend gezielt differenzierbar sein, um beim Tissue Engineering als Ausgangszellen einsetzbar zu sein. Besonders bei adulten Stammzellen ist dies noch schwierig.
Embryonale Stammzellen (ES-Zellen) werden aus der inneren Zellmasse der Blastozyste gewonnen, also aus einem menschlichen Embryo wenige Tage nach der Befruchtung. ES-Zellen sind sozusagen zum heiligen Gral der Biomediziner aufgerückt. ES-Zellen zeigen in idealer Weise beide Eigenschaften, die wir oben für Stammzellen gefordert haben, und die sie für die medizinische Forschung höchst interessant machen: tatsächlich sind sie sehr leicht vermehrbar (de facto unbegrenzt) und sie sind pluripotent. ES-Zellen lassen sich in großer Zahl in einer Zellkulturschale heranziehen; d.h., ähnlich wie dies mit Krebszellen möglich ist, kann man sie unbegrenzt lange in Kultur halten und immer wieder vermehren. Ihre Pluripotenz bedeutet, dass aus ihnen je nach Wunsch Muskel-, Nerven-, Herz-, Leber-, Pankreaszellen, etc., also fast alle Zelltypen hergestellt werden können (gezielte Zelldifferenzierung). Die Einsatzmöglichkeiten scheinen schier unbegrenzt, z.B. könnten solche Zellen zur Heilung von Parkinson-, Alzheimer- oder Diabetes-Patienten eingesetzt werden (regenerative Medizin). Der Klumpfuß bei den ES-Zellen liegt scheinbar auf der Hand: woher sollen die ES-Zellen und damit all die menschlichen Blastozysten kommen, die für diese Forschung und gar für die Heilung vieler Patienten gebraucht würden (verbrauchende Embryonenforschung)? Und vor allem: müssen wir Blastozysten nicht als schutzwürdige Individuen betrachten, denen die Menschenrechte zustehen? Medizinische, logistische und ethische Fragen, wohin man auch schaut. Die öffentliche Diskussion in Deutschland hat hierzu allerdings ein allzu schiefes Bild vermittelt, denn
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es ist durchaus vorstellbar, dass die Versorgung über Zellbanken mit so genannten Stammzelllinien sichergestellt werden könnte. Eine Anzahl solcher Zelllinien sind weltweit schon vorhanden und können beliebig vermehrt und in Labors gehalten werden. Die größeren Probleme stellen sich eher auf der medizinischen Seite: wie geht man mit dem Abstoßungsproblem um, wie kann man die Gefahr der Tumorentwicklung aus Stammzellen sicher in den Griff bekommen? Dies sind wohl die gewichtigeren Gründe, warum viele Biomediziner gerne auf ES-Zellen verzichten möchten. Viele Stammzellbiologen setzen deshalb auf „adulte Stammzellen“, die man direkt aus einem Patienten isolieren will, um körpereigene Gewebe zu produzieren und zu implantieren (Tissue engineering). Dies ist aber noch Zukunftsmusik, denn bisher wissen wir noch wenig darüber, wo und wie man adulte Stammzellen isolieren kann. Über ihr Vorkommen in verschiedenen Organen des Menschen, aber insbesondere über ihre erfolgreiche Vermehrung, Züchtung und zelltypspezifische Differenzierung ist noch wenig bekannt. Bei den gegebenen Problemen bei Vermehrung, Reinheit der Zellen und ihrer chemischen Manipulierbarkeit sollte sich die Öffentlichkeit nicht durch manchmal vorschnelle Medienberichte hinweg täuschen lassen. Seriöse Experten rechnen damit, dass es mindestens noch zehn Jahre dauern wird, bis die Stammzellbiologie routinemäßig in der Medizin zum Einsatz kommt. Erst wenn man mit ES-Zellen richtig umgehen kann, wird man wohl mit adulten Stammzellen Fortschritte erzielen. Die zellbiologischen Techniken sind bei beiden Arten von Stammzellen, seien es ES- oder adulte Zellen, ähnlich. Generell wird das Ausgangsgewebe in seine Zellen zerlegt (Zellvereinzelung, Abb. 2). Einzelne Stammzellen werden vermehrt und bilden unter Rotation kleine Zellklümpchen („Spheres“ bzw „Sphäroide“ genannt), die sich dann effektiv vermehren. Durch Wiederholung dieser Prozedur wird sichergestellt, dass alle Zellen in einer solchen wachsenden Kugel einem Zellklon angehören, d.h. sie stammen von einer einzelnen Stammzelle ab. Sie werden nun wieder vereinzelt und durch Behandlung mit bestimmten Wachstumsfaktoren zu den gewünschten Zelltypen differenziert. Diese Zellen direkt in lädierte Körperregionen zu injizieren wird i.a. nicht zu einer Heilung führen können, obwohl es auch dafür schon positive Anzeichen gibt. Um einen implantierbaren Gewebeersatz zu erhalten, wird man i.a. das benötigte Gewebe in vitro (evtl. auf einem biokompatiblen Träger) vorzüchten müssen, um es dann zu implantieren. Bei der derzeitigen Euphorie in der Stammzellbiologie wird gerade das Problem der 3D-Gewebezüchtung unterschätzt (siehe unten).
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Adulte Stammzellen aus Retina von Säugern ?
Zellvereinzelung
Kultivierung in definiertem Medium FGF/EGF
Retina-Gewebe aus Augenperipherie
5-7 Tagen
Photorezeptoren
Zellvereinzelung + klonale Analyse
Bipolarzellen definiertes Medium
Müllerzellen + Serum
Neurosphäroide aus 1 Stammzelle
Abb. 2. Technik der Suche nach adulten Stammzellen, hier gezeigt für Zellen aus der Augenperipherie. Nach Vereinzelung der Zellen muss gezeigt werden, dass sich aus den Zellklonen gezielt verschiedene differenzierte Zelltypen bilden lassen. Mit adulten Stammzellen aus dem Patienten würde das Abstoßungsproblem vermieden.
3.1. Beispiel: Erblindung und die elektronische Sehprothese Beeinträchtigungen des Sehvermögens haben besondere medizinische Brisanz und werden vor allem durch Erkrankungen der Netzhaut ausgelöst (Abb. 3). Alle sechs Sekunden erblindet in Europa ein Mensch; im Alter über 70 Jahren leiden fast alle Menschen an irgendeiner Form von Sehschwäche. Die Maculadegeneration bleibt die häufigste Ursache von Erblindung, Retinitis Pigmentosa ist besonders dramatisch, weil sie schon bei 20-30-Jährigen zu vollständiger Erblindung führt. Allein in Deutschland haben mehr als 50.000 Menschen, die unter degenerativen Netzhauterkrankungen leiden, ihr Augenlicht verloren. Weltweit werden daher große Anstrengungen unternommen, Heilungsmöglichkeiten für Menschen mit defekter Retina zu finden. Es existiert jedoch bis heute keine Therapie, um die Erblindung zu verhindern. Bei praktisch allen Erblindungen kommt es zum Absterben der Photorezeptoren in der Netzhaut (vgl. Abb. 4). Kann ihre fehlende Funktion durch therapeutische Maßnahmen ersetzt bzw. wieder gewonnen werden? Ein spannender Ansatz verbirgt sich hinter der Entwicklung verschiedener elektronischer Mikrochips („Retina-Implant“), die nur durch rasante Fortschritte auf den Gebieten der Mikro- und Optoelektronik, aber auch der biomedizinischen Techniken erst angedacht werden konnten [5]. Beim so genannten
Mit Stammzellen und Tissue Engineering zu Netzhautimplantaten
Augenkrankheiten & Regenerative Medizin
Pigmentepithel
alle 6 Sekunden wird in Europa 1 Mensch blind
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Macula-Degeneration Netzhautablösung Retinitis pigmentosa Diabetische Retinopathie
• Katarakte (grauer Star) • Glaucome (grüner Star)
Abb. 3. Schematischer Aufbau des menschlichen Auges. Netzhautdegenerationen bis hin zu vollständiger Erblindung betreffen sehr viele Menschen. Kann die regenerative Medizin und Methoden des Tissue Engineerings hier helfen?
MPD-Array werden Mikrophotodioden unter die Netzhaut implantiert, die das einfallende Licht in Spannungsimpulse umwandeln, um so die Nervenzellen der Netzhaut zu reizen. Bei dem zweiten Verfahren, dem EPIRET, wird eine Mikrokontaktfolie auf der inneren Seite der Retina implantiert und durch Elektronik, die augenextern im Brillengestell untergebracht ist, angesteuert. Die Gewebeverträglichkeit und die Funktionsdauer solcher elektronischer Implantate sind im Tierversuch schon recht gut. Auf der größten weltweiten Tagung der Ophthalmologen im Mai 2004 in Fort Lauderdale/Florida [4] wurden die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet dargestellt und kritisch diskutiert. Inzwischen liegen erste Versuche an blinden Versuchstieren vor, die zeigen, dass durch solche Mikrochips optische Signale in elektrische umgesetzt werden und in den visuellen Zentren der Tiere ankommen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Wahrnehmungen eher unspezifischen Lichtblitzen gleichen; um ein echtes Bild der Außenwelt vermitteln zu können, werden wohl noch weitere Jahre vergehen müssen. 3.2. Die Heilung von Blinden: die Regeneration einer Netzhaut aus Stammzellen? Einen völlig anderen Weg beschreiten Ansätze des Tissue Engineerings, bei denen vollständiges Retinagewebe aus Stammzellen gezüchtet und im-
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plantiert werden soll. Denn nur auf biologischem Wege kann man auf eine echte Heilung hoffen. Unsere Forschungen an embryonalen Augen des Huhns, der Maus und des Zebrafischs, die wir am MPI für Entwicklungsbiologie in Tübingen begonnen und an der TU Darmstadt fortgeführt haben, verfolgen dieses Ziel. Um diese Forschungen verstehen zu können, muss zunächst Einiges über Struktur und Funktion der Netzhaut erläutert werden (Abb. 3, 4). Die Netzhaut, auch Retina genannt, ist bei allen Wirbeltieren bis hin zum Menschen ähnlich aufgebaut. Sie stellt für den Neuroent-wicklungsbiologen ein interessantes Modellsystem dar, denn sie ist ein integraler Teil des Zentralnervensystems, ist sehr leicht für Manipulationen von außen zugänglich, kann leicht als intaktes Gewebe isoliert werden, und ihr Aufbau ist – im Vergleich zu manch anderem Teil des Gehirns – relativ einfach. Insgesamt nur wenige Hauptzellen sind in drei Zellschichten regelmäßig angeordnet (vgl. Abb. 4):
Zellschichten & Verschaltungen in der Netzhaut
Abb. 4. Zellschichtung der Netzhaut einer Wüstenrennmaus (links) und schematische Schaltplan der Wirbeltierretina (rechts). Alle Zellkörper sind in drei Zellschichten angeordnet: Photorezeptoren außen (links, oben), Interneurone in der Mitte und Ganglienzellen innen (links, unten).
Die lichtempfindlichen Photorezeptoren finden sich in der äußeren Körnerschicht, Horizontal-, Bipolar- und Amakrinzellen in der inneren Körnerschicht und Ganglienzellen in der innersten Zellschicht. Radiale Gliazellen stützen die Retina in transversaler Richtung und sind physiologisch wichtig. Die Reizverarbeitung des Lichtes folgt demselben Weg, von den Photorezeptoren hin zu den Ganglienzellen, und von dieser letzten Verarbeitungsstation werden elektrische Potentiale über den optischen
Mit Stammzellen und Tissue Engineering zu Netzhautimplantaten
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beitungsstation werden elektrische Potentiale über den optischen Nerven an visuelle Gehirnzentren weitergeleitet. Synaptische Verbindungen zwischen den retinalen Zellen sind in zwei plexiformen Schichten lokalisiert. Die Retina ist von einer schwarzen Zellschicht, dem retinalen Pigmentepithel (RPE) umhüllt. Ist die Retina nun einfach oder eher kompliziert gebaut? Für den Tissue Engineer, der sie „biologisch nachbauen“ möchte, ist sie sicher kompliziert genug. Wie soll es denn möglich werden, ein so komplexes neuronales Netzwerk in einer Kulturschule zu züchten und dann einem erblindeten Menschen einzusetzen? Inzwischen scheinen wir auf gutem Wege zu sein, wobei der eine Forscher auf embryonale Stammzellen, der andere auf adulte Stammzellen, wieder andere auf eine Transdifferenzierung aus den pigmentierten Zellen oder aus den Müller´schen Radialgliazellen setzen (siehe www.arvo.org). Wie immer dann am Ende der Königsweg aussehen wird, ein grundlegendes Verständnis der Entwicklungsprozesse der Retina wird dabei unerlässlich sein. Forschungen an Zellkulturen (in vitroExperimente) sind hierbei besonders aufschlussreich. Für die Retina aus dem Hühnerembryo konnten wir eine mehr oder weniger vollständige de novo-Regeneration aus dispergierten Retinazellen im Zellkulturansatz erzielen [1, 2]. Je nach experimenteller Vorgehensweise kommt man zu zweierlei Typen von reaggregierten Zellkugeln („Sphäroide“, Abb. 5): Im einfachsten Fall bilden sich aus dispergierten Zellen in einer rotierenden Kulturschale in wenigen Tagen kleine Zellkugeln aus (Rosettensphäroide, Abb. 5 rechts). In ihnen sind alle Zelltypen und Schichten einer normalen Retina zu finden, die Anordnung der Schichten ist jedoch gegenüber der Normalretina invertiert. Am besten kann man sich an inneren Rosetten orientieren, einer einlagigen Zellschicht, die Photorezeptoren birgt. Von ihr ausgehend sind die anderen Zellschichten nach außen hin organisiert. An diesem System können Prinzipien der Retinaregeneration im Detail verstanden werden, um so die viel schwierigere Regeneration einer menschlichen Retina später zu meistern (vgl. unten). Die Rosetten bilden die eigentliche Grundstruktur, von denen das weitere Wachstum der Zellkugel abhängt, denn gleich nach Beginn der Kultur vereinigen sich wenige Stammzellen zu einer winzigen Rosette. Diese Zellen vermehren sich schnell, so dass die Rosette sich im Umfang erweitert, aber auch neue Tochterzellen nach außen abgegeben werden, um dort zur Bildung der inneren Schichten beizutragen. Die räumlich geordneten Zellen beginnen zu differenzieren, nehmen miteinander Kontakt auf und werden sogar am Ende funktionelle Synapsen ausbilden [3]. Den Rosettensphäroiden fehlt ein wesentliches Merkmal einer normalen Retina, denn ihre Schichtenabfolge ist invertiert. Durch entsprechende Kulturbedingungen ist es gelungen, die invertierte Struktur der Roset-
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tensphäroide zu korrigieren (Abb. 5, links). Zum einen sind es chemische Wachstumsfaktoren aus dem Pigmentepithel bzw. aus den Müller´schen Gliazellen, zum anderen auch die Anwesenheit einer ausreichenden Menge an Stammzellen, die in Abhängigkeit vom Entwicklungsalter der Retina sich mehr und mehr auf die Augenperipherie beschränken. Dieses Regenerationssystem einer kompletten Retina ist in der Neurobiologie einzigartig. Für keine andere geschichtete Hirnregion (z.B. Kortex, Cerebellum, Hippocampus) und auch für keine Retina einer anderen Tierart konnte eine ähnlich vollständige Regeneration aus Einzelzellen erreicht werden. Tissue Engineering an der Netzhaut - Retinosphäroide -
Abb. 5. Aus embryonalen Zellen der Retina des Huhns werden Zellkugeln (Retina-Sphäroide, links u. rechts) produziert, deren Zellaufbau der normalen Retina (Mitte) gleicht. Die invertierte Zellschichtung in Rosettensphäroiden (rechts) kann durch Zusatz von Wachstumsfaktoren vollkommen korrigiert werden (links). So entstehen Zellkugeln („Stratosphäroide“) mit einer völlig normalen Zellschichtung. Abk.: os, äußeres Segment der Photorezeptoren; onl, inl, äußere bzw. innere Körnerschicht; opl, ipl, äußere bzw. innere plexiforme Schicht; gcl, Ganglienzellschicht.
Lassen sich diese Erkenntnisse auch auf Säugetiere übertragen, um am Ende ein Tissue Engineering für die menschliche Retina zu ermöglichen? Wie sind die Aussichten, dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, wo liegen die Schwierigkeiten? Bei der Zucht von Rosettensphäroiden aus postnatalen Mäusen haben sich wesentliche Unterschiede zum Vogel gezeigt, was klar macht, dass die Regeneration einer Säugerretina viel schwieriger sein wird. Es wird also noch viel an Grundlagenforschung bedürfen, um eine menschliche Retina durch Tissue Engineering zu regenerieren. Dennoch haben die Arbeiten mit der Vogelretina uns auf diesem Weg wesentlich voran gebracht: wir wissen, welche Grundstrukturen zum Bau eines Reti-
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naregenerats notwendig sind, kennen die wichtigsten zellulären Spieler und sind essentiellen Wachstumsfaktoren auf die Spur gekommen. Diese grundlegenden Forschungen zur Retinogenese werden bei uns nicht nur am Vogel und dem Zebrafisch, sondern vermehrt an der Maus und dem Schwein fortgesetzt. Es macht uns indes Hoffnung, dass von anderen Arbeitsgruppen Stammzellen in adulten Säuger-Retinae in geringer Zahl gefunden wurden, die möglicherweise als Ausgangszellen für eine „Retinazucht“ in Frage kommen könnten (vgl. Abb. 2). Viel Beachtung finden derzeit Forschungen zum Stammzellpotenzial von Radialgliazellen und den Pigmentepithelzellen. Zusammenfassend geben die Forschungen zur Regeneration einer Retina Hoffnung, dass sich unter Einsatz von embryonalen oder adulten Stammzellen Retinagewebe züchten lässt, was dann erblindeten Patienten implantiert werden kann. Wie schon beim elektronischen Retina-Implant angedeutet, werden auch bei der Entwicklung biologischer Retinaimplantate noch Jahre vergehen, bis wir wissen, ob ein so implantiertes Gewebe sich funktionell integrieren lässt und korrekte visuelle Eindrücke vermitteln kann. So hoffen wir als Tissue Engineers für die Zukunft auf echte Heilung der Blinden, allerdings wird sie länger, als in der Bibel beschrieben, in Anspruch nehmen. Literatur [1] Layer PG, Rothermel A, Willbold E (2001) From stem cells towards neural layers: a lesson from re-aggregated embryonic retinal cells. NeuroReport 12: A39-46 [2] Layer PG, Robitzki A, Rothermel A, Willbold E (2002): Of layers and spheres: the reaggregate approach in tissue engineering. Trends Neurosci 25: 131-134 [3] Naruoka H, Kojima R, Ohmasa M, Layer PG, Saito T (2003). Transient muscarinic calcium mobilisation in transdifferentiating as in reaggregating embryonic chick retinae. Dev Brain Res 143 : 233-244 [4] www.arvo.org [5] www.neuro.uni-bonn.de/ri/ri_assoc.html.
Funktionelle Behandlung von Kreuzbandverletzungen als Beispiel für angewandte bionische Medizin Kurt-Alexander Riel Institut für Sportwissenschaften, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Anatomie und Funktion des vorderen Kreuzbandes (vKB), Verletzungsmechanismus und Diagnostik, biologisch-technische Gesichtspunkte der funktionellen Behandlung von Kreuzbandrissen mit anschließender beschleunigter Rehabilitation werden dargestellt. Trotz aller Fortschritte innerhalb von 100 Jahren Kreuzbandchirurgie sind die Ergebnisse nur in 80% so erfolgreich, dass volle Belastungsfähigkeit und uneingeschränkte Sportfähigkeit wiederhergestellt werden. Mit Navigation und mit Verwendung „bioaktiver“ Substanzen wird eine weitere Optimierung der Behandlungsergebnisse verfolgt.
Abstract On current clinical and basic science studies the anatomy and function of the anterior cruciate ligament (ACL), trauma patterns and the diagnostic findings especially on magnetic resonance imaging (MRI), as well as techniques for reconstruction of the torn ACL, and the following accelerated rehabilitation are demonstrated. In spite of great progress in ACL surgery over the past 100 years the long-term results of ACL reconstruction are only in 80% successful in terms of full weight bearing and doing sports. Navigation, computer assisted techniques, and evolving techniques for tissue-engineered grafts, allografts, and gene transfer may help to improve clinical results.
1. Einleitung Verletzungen des vorderen Kreuzbandes (vKB) gehören zu den häufigsten Bandverletzungen des Sportlers. Die jährliche Inzidenz wird mit einer Kreuzbandverletzung pro 1000 Sportler geschätzt. Neben dem individuellen Problem der Sportunfähigkeit wegen des locker gewordenen Kniegelenkes, ergibt sich aus der hohen Inzidenz auch eine sozioökonomische
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Relevanz, weil meist jüngere Erwerbstätige und Profisportler betroffen sind. Die Behandlung soll das lockere Knie wieder fest und sportfähig machen. Hierauf zielt die funktionelle Behandlung ab: operativer Ersatz des gerissenen vKB, sofortige Bewegung und Belastung sowie schneller Muskelaufbau. Ungeeignet für die funktionelle Behandlung sind die in früheren Jahren durchgeführten Kreuzbandnähte, Ersatzstabilisierungen außerhalb des Kniegelenkes und synthetische Materialien als Kreuzbandersatz. Mit konservativen Behandlungsmethoden wie Muskelaufbau lässt sich ein kreuzbandloses Kniegelenk nicht ausreichend stabilisieren. Die moderne Sporttraumatologie versucht das technische Problem der Stabilitätswiederherstellung nach dem Vorbild der Funktion des natürlichen Kreuzbandes im Sinne einer bionischen Medizin zu lösen.
2. Funktionelle Anatomie Der Oberschenkelknochen (das Femur) bildet zwei mit Knorpel überzogene Rollen (die Condyli femoris), zwischen denen eine Knochengrube (die Fossa intercondylaris) offen bleibt. Beide Femurrollen sitzen dem breiten, flachen Schienbeinkopf (der Tibia) auf. Die artikulierenden Gelenkkörper des Oberschenkels und des Schienbeinkopfes passen nicht zusammen. Es besteht Inkongruenz und Instabilität. Die Inkongruenz wird durch zwei keilförmige Zwischenknorpel, dem Innen- und Außenmeniskus, ausgeglichen. Die Instabilität erfordert eine intakte Bandführung des Kniegelenkes: Innen- und Außenband (Ligamentum collaterale mediale und laterale) sowie vorderes und hinteres Kreuzband (Ligamentum cruciatum anterius und posterius). Beide Kreuzbänder verlaufen in der Fossa intercondylaris (Abb. 1). Das vKB entspringt an der hinteren Innenseite der äußeren Oberschenkelrolle und zieht schräg nach vorne unten zum Schienbeinkopf (Area intercondylaris anterior). Das hintere Kreuzband (hKB) entspringt an der Innenseite der inneren Oberschenkelrolle und zieht schräg nach hinten unten zur Schienbeinrückfläche (Area intercondylaris posterior). Der Hauptteil des vKB besteht aus straffem Bindegewebe (Kollagen). Zwischen den straffen Kollagen liegen an den Übergängen zu den Knochen SharpeyFasern, ovale Knorpelzellen und zahlreiche Mechanorezeptoren und freie Nervenendigungen. Die Kreuzbänder werden aus einer körpernahen und körperfernen Schlagader (Arteria genus) ernährt. Funktion: Im gesamten Bewegungsumfang des Drehscharniergelenkes Knie, also beim Strecken und Beugen und mit zunehmender Beugung beim Drehen des Unterschenkels nach innen und außen, sind die Kreuzbänder nahezu isometrisch gespannt und gewährleisten eine feste Verbin-
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Abb. 1. Vorderansicht (links) und Rückansicht (rechts) eines rechten anatomischen Knie-präparates. Das Knie ist gebeugt und zeigt die Kreuzbänder in der Fossa intercondylaris. Das vKB ist mit 2 Pfeilen markiert. MC = mediale Femurrolle, LC = laterale Femurrolle.
dung der inkongruenten, an sich instabilen Gelenkknochen. Passive Stabilisierung des Kniegelenkes ist die Hauptfunktion des vKB [13], was das Rollgleiten der Femurrollen auf dem Schienbeinkopf sichert (Abb. 2). Im Kreuzband liegende Mechanorezeptoren (Vater-Pacini-Körperchen, Ruffini-Körperchen) und freie Nervenendigungen vermitteln ein blindes Erkennen der Gelenkstellung (Propriozeption) und steuern über Reflexe die Kniemuskeln und Haltung [5].
3. Unfallmechanismus und Diagnostik Beim Fußball, Skifahren und Basketball treten vKB-Verletzungen gehäuft auf. Typisch sind das Einfädeln mit dem Ski an der Torstange mit einem Flexions-Valgus-Außenrotationstrauma (bei gebeugtem Knie wird der Unterschenkel nach außen gezogen und gedreht); das Überkreuzen der Ski mit Flexions-Varus-Innenrotationstrauma (bei gebeugtem Knie wird der Unterschenkel nach innen gezogen und gedreht); Überbeugungstrauma,
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Abb. 2. Schematische Darstellung des Rollgleitens beim Beugen des Kniegelenkes. Ohne Kreuzband (links) rollt die Femurrolle vom Schienbeinkopf. Durch Halt des Kreuzbandes (rechts) rollt und gleitet die Femurrolle.
bei dem sich der Skifahrer mit voller Wucht aufs Gesäß setzt; im Fußball der Sturz nach vornüber mit Überstrecktrauma und Valgustrauma, bei dem der Mitspieler von außen gegen das gestreckte, am Boden feststehende Bein fällt; und das Verdrehtrauma bei missglückter Landung nach einem Sprung beim Basketball. Das Zerreißen des vKB hören manche Sportler als „Popp“. Nach 1 bis 2 Stunden schwillt wegen der starken Blutung aus dem Kreuzbandriss das Knie an. Der untersuchende Arzt prüft, ob das Knie einen Bluterguss hat, und wendet Translationsteste (Schubladentest, Lachman-Test, dynamische und statische Subluxationsteste) an, mit denen die Kompetenz der Kreuz- und Kollateralbänder beurteilt wird. Zur orthopädisch-traumatologischen Erstuntersuchung gehören Röntgenbilder, um knöcherne Verletzungen zu erkennen. Die Diagnostik wird durch die Kernspintomographie (Magnetresonanztomographie, MRT) weitergeführt (Abb. 3). Abb. 3. Kernspintomographie (MRT) und Gelenkspiegelung (Arthroskopie) zeigen das gerissene vordere Kreuzband. Ein massiver Bluterguss, im MRT hell, füllt das Kniegelenk.
In der Diagnostik der vKB-Verletzungen hat die MRT eine sehr hohe Treffsicherheit mit einer Sensitivität von 75 – 95% und Spezifität von 95 bis 100% . Die Kontinuitätsunterbrechung des vKB in der MRT ist für den Riss pathognomisch [2, 9, 10]. Die Erstversorgung verfolgt Schmerzbe-
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kämpfung und Beseitigung der Gangsstörung. In der weiteren Folge klagen die Sportler mit verletztem vKB über Unsicherheitsgefühl im Knie, über Wegknicken (giving way), über wiederholte kleinere Verrenkungen mit Knieschwellungen und besonders beklagen sie, dass ihnen aus vollem Lauf heraus ein rascher Richtungswechsel nicht mehr gelingt. In diesen Fällen ist die Indikation zur funktionellen Behandlung gegeben.
4. Funktionelle Behandlung Vor der ärztlichen Beratung eines kreuzbandverletzten Patienten sind Berufs- und Freizeitanamnese zu erheben. Weil das Knie ein bandgeführtes Gelenk ist, wird die Instabilität des kreuzbandlosen Kniegelenkes insbesondere vom Sporttreibenden und von Leuten, die beruflich viel auf den Beinen sind, als behindernd empfunden. Bei diesen hilft der früher oft angebotene Muskelaufbau zur Kniestabilisierung nicht, weil bei unachtsamem, unkontrolliertem Bewegungsablauf oder im Eifer des Gefechtes das Knie nicht hält. Das Knie knickt weg, schmerzhafte Knieschwellungen, Wiederverletzungen und schließlich schwerwiegende Folgeverletzungen treten auf. Spätfolge ist der völlige Verschleiß des Gelenkknorpels und des Kapselbandapparates. Es kommt zur Arthrose. Aus diesen Gründen wird zum Ersatz des gerissenen vKB mit freiem Sehnentransplantat geraten (Abb. 4). Der Eingriff erfolgt ambulant.
Abb. 4. Schema vKB-Ersatz: Mit Zielinstrumenten, hier der Firma Arthrex, werden die Bohrkanäle angelegt, das Sehnentransplantat mit Knochenblöcken ins Gelenk gezogen und mit Schrauben fixiert [Transtibial single incision ACL reconstruction Arthrex R].
Drei körpereigene Sehnentransplantate haben sich in den letzten Jahren als für den Kreuzbandersatz gleichwertig tauglich erwiesen: Die Knieschei-
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bensehne (Patellarsehne), Beugesehnen des Oberschenkels (Semitendinosus- und Grazilissehne) und die Strecksehne des Oberschenkels (Quadrizepssehne). Dagegen hat sich der synthetische Bandersatz (Gore-Tex, Dacron, Kohlefaser, Polypropylen [8] u.a.) wegen frühzeitiger Ermüdungsbrüche und wegen erheblicher Fremdkörperreaktionen nicht bewährt. Schwierigstes Ziel des Kreuzbandersatzes ist eine Wiederherstellung isometrischer Bandverhältnisse: in Bohrkanäle des Schienbeinkopfes und der äußeren Oberschenkelrolle wird während einer Kniegelenkspiegelung (Arthroskopie) das Sehnentransplantat möglichst an den natürlichen Ursprungs- und Ansatzpunkten des vKB eingezogen (funktionelle Isometrie) und mit resorbierbaren Schauben, fixiert (Abb. 5 bis 8). Hierzu kommen die Anatomie des vKB berücksichtigende entwickelte, von der Industrie angebotene Zielinstrumente zur Anwendung [4].
Abb. 5. Operationssitus. Über einen kleinen Hautschnitt wird das Transplantat gewonnen und mit Haltefäden armiert.
Abb. 6. Operationssitus. Die Zielinstrumente sind eingebracht. Die Bohrung im Schienbeinkopf wird über die Kniespiegelung (rechts) kontrolliert.
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Abb. 7. Arthroskopie. Das Transplantat ist mit Hilfe der Haltefäden eingezogen und wird mit einer Titanschraube fixiert.
Abb. 8. Röntgenbild (links) unmittelbar und MRT-Bild (rechts) 12 Monate nach Kreuzbandersatz. Die fixierenden Schrauben liegen regelrecht, das Transplantat hat eine nahezu normale MRT-Morphologie.
5. Rehabilitation Die Rekonstruktion aus Kniescheibensehne mit Knochenblöcken und Fixation mit Schrauben in den Bohrkanälen hat eine hohe Primärfestigkeit: Reißkraft der Sehne von 2000 N, Halt der Fixation von 900 N, bei Zugkräften von 250 N auf das Transplantat während der Kniestreckung gegen die Schwerkraft [8,10]. Eine Orthese, die als äußeres Schienengerüst das Kniegelenk führt, ist also nicht erforderlich. Gute Operationsergebnisse erfordern Rehabilitationsmaßnahmen des traumatisierten Kniegelenkes schon vor dem eigentlichen Kreuzbandersatz: Wiedergewinnung der Streckfähigkeit, schmerzfreie Beweglichkeit, Reizfreiheit und fehlende Schwellneigung des Kniegelenkes unter Belastung, Feststellen der tatsächlichen Instabilität und Sportunfähigkeit, schließlich Planung des operativen
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Eingriffes in Abstimmung mit beruflichen, sozialen, finanziellen und zeitlichen Gegebenheiten. Nach vKB-Ersatz ist ein individuell angepasstes, jedoch progressives Nachbehandlungsprotokoll angezeigt. Dieses hängt von der Transplantatwahl, Transplantatposition und seiner Fixation sowie von Zusatzeingriffen ab. Alter, Intellekt und Bewegungsgeschick des Sportlers müssen berücksichtigt werden. Bei einer hohen Primärfestigkeit ist eine beschleunigte Rehabilitation möglich. Das aktive und passive Bewegungsausmaß des Kniegelenkes soll rasch erreicht werden. Wenn der postoperative Schmerz nach wenigen Tagen nachgelassen hat und die Muskelkontrolle wiederhergestellt ist, kann das operierte Bein ohne Krücken belastet werden. Es folgen Trainingstherapien zur Stabilisierung der Beinachse, zur Gangschulung und zur Wiedergewinnung der fünf motorischen Hauptbeanspruchungsformen in der Reihenfolge: Beweglichkeit, Kraft, Koordination, Ausdauer und Schnelligkeit [12].
6. Ausblick: Allografts, bioaktive Substanze und Navigation Um körpereigenes Gewebe zu schonen, sucht die Kreuzbandchirurgie nach vKB-geeigneten Ersatzgeweben. Allografts, Sehnentransplantate von verstorbenen Menschen, werden ohne Fremdkörperreaktion als Kreuzbandersatz in das Kniegelenk nach einem etwas verlängerten Remodeling (Einheilen mit Festigkeit) integriert. Es werden heute „fresh frozen“, also unbehandelt tiefgefrorene (minus 80° C) Sehnengewebe verwendet. Ein Problem verbleibt. Viren, z.B. HIV, können den Tiefkühlprozess überleben. Das Risiko wird auf 1 : 600 000 geschätzt [1]. Da Organhandel in Deutschland verboten ist, stammen Allografts von klinikeigenen hirntoten Lebendspendern, die im Rahmen des üblichen Screenings auch auf HIV und Hepatitis getestet sind. Das Risiko für Virenübertragung ist dadurch um ein Vielfaches geringer. Erfahrungen mit Allografts zum vKB-Ersatz sind ermutigend. Der Bedarf ist bisher jedoch nicht zu decken, die Kosten sind sehr hoch, so dass Allografts als vKB-Ersatz nur selten verwendet werden können. Synthetische, biologische Scaffolds (Polyglykolid /Poyaktid) oder kollagene (small intestine submucosa) Scaffolds stellen Alternativen dar. Scaffolds dienen als Zellgrund und Matrixschiene, um ein völlig neues Kreuzband wachsen zu lassen. Der zusätzliche Einsatz von Zelltransplantation und Wachstumshormon (tissue engineering) verbessert die Entwicklung des Neokreuzbandes [6,7]. Exogenes genetisches Material kann effizient in Zellen des Bewegungsapparates eingeschleust werden. Ziel eines solchen Gentransfers in der Kreuzbandchirurgie ist ein
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verbessertes Belastungsverhalten und ein sichereres Einheilen des Transplantates [3]. Visuell-palpatorisch, instrumentierte (Fa. ArthrexR D-85757 Karlsfeld/München) Operationstechniken, navigierte (fluroskopisch Abb.) und computerassistierte Verfahren zur Bohrkanal- und Transplantatpositionierung sind entwickelt, um Fehlerpotentiale verursacht von menschlicher Hand zu verringern.
Abb. 9. Feingewebliches Bild eines Kreuzbandtransplantates [8]. Die Verbindung von Band und Knochen (Pseudosharpey Fasern) ähnelt dem natürlichen Kreuzband.
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7. Diskussion Der erfolgreiche vKB-Ersatz wird von zwei Konzepten bestimmt [8]: 1. das biologische Einheilungskonzept (remodeling): das dem Körper entnommene Sehnengewebe ist zunächst mausetot. Es wird an anderer Stelle als vKB-Ersatz eingepflanzt. Es muss sich vom Körper zum Leben wiedererwecken lassen. Es muss sich dem neuen Milieu anpassen und einheilen (Abb. 10). Es soll Zugbelastungen widerstehen und dennoch isometrisch bleiben (Gefahr der Bandelongation). Es soll schließlich Nerven, Blutgefäße und Reparaturpotenz besitzen [14]. 2. das technische Behandlungskonzept: Auffinden der individuellen Anatomiepunkte Ursprung und Ansatz, ein bisher noch nicht zufriedenstellend gelöstes Problem (Abb. 10).
Abb. 10. Fluroskopische Navigation wie sie der Autor einsetzt. Insbesondere der tief hinten liegende Ursprung des natürlichen Kreuzbandes findet sich sicherer.
Anpassen der Transplantatstärke an die Bedürfnisse des Patienten. Erzielen einer Primärfestigkeit. Einleiten und Führen von REHA- Maßnahmen, die Beweglichkeit, Kraft und Koordination sowie Ausdauer und Schnelligkeit
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am operierten Kniegelenk ohne Verzögerung und Komplikationen wiederherstellen. Schon die Einzelschritte zu bewältigen ist schwierig. Das Zusammenfügen beider Konzepte zu einem biologisch-technischen Optimum des vKB-Ersatzes wird nur in 80% verwirklicht. Angesichts der langfristig erzielten Ergebnisse nach KB-Ersatz müssen weitere Verbesserungen gefunden werden. Trotz objektiv wiederhergestellter, funktionell isometrischer Bandverhältnisse beim vKB-Ersatz, zeigen biomechanische Nachuntersuchungen oftmals, dass die gewünschte Stabilität nicht erreicht ist. Volle Belastungsfähigkeit und Sporttauglichkeit erreicht man nicht bei allen operierten Patienten. Bei schätzungsweise jährlich 25.000 vKBErsatzoperationen in Deutschland und einer Misserfolgsrate von 10%, wird die Indikation zum erneuten VKB-Erstaz in 2000 bis 3000 Fällen jährlich gestellt. Weitere Probleme sind Schäden an der Gewebeentnahmestelle (Entnahmemorbidität), Muskelschwächen, fortbestehender Knieschmerz, Bewegungsstörungen 2% (Arthrofibrose), Transplantatlockerungen, und die Entwicklung von Kniearthrosen trotz gelungenen vKB-Ersatzes [15]. Die vorgegebene optimierte Lösung der Natur hinsichtlich des vKB weiter zu analysieren, die gewonnenen Ergebnisse technisch und biologisch umzusetzen, sowie prospektiv kontrolliert Langzeitresultate nach orthopädisch-chirurgischem vKB-Ersatz wiederum mit der optimierten Naturlösung vKB zu vergleichen, sind Aufgaben der angewandten bionischen Medizin. Literatur [1] Bartlett R, Clatworthy M, Nguyen T (2001) Graft selection in reconstruction of the anterior cruciate ligamnent. J Bone Joint Surg Br 83 : 625-634 [2] Barry KP, Mesgarzadeh M, Triolo J, Moyer R, Tehranzedeh J, Bonakdarpour A (1996) Accuracy of MRI patterns in evaluating anterior cruciate ligament tears. Skeletal Radiol 25: 365-370 [3] Evans CH, Robbins PD (1999) Genetically augmented tissue engineering of the musculoskeletal system. Clin Orthop 199: 410-418 [4] Giffin JR, Harner CD (2001) Failed anterior cruciate ligament surgery: overview of the poblem. Am J Knee Surg 14: 185-192 [5] Hungervorst T, Brand A (1998) Current concepts review – Mechanoreceptors in joint function. J Bone Joint Surg Am 80: 1365-1378 [6] Ibarra C, Cao Y, Vacanti J, Kim T, Vacanti C (1996) Tissue engineering ligaments. Surg Forum 47: 612-615 [7] Lin VS, Lee MC, O´Neel S, McKean J, Sung KL (1999) Ligament tissue engineering using synthetic biodegradable fiber scaffolds. Tissue Eng 5: 443-452 [8] Riel K-A (1991) Kraftverteilung – load sharing – im Polypropylenband – verstärkten Sehnentransplantat beim vorderen Kreuzbandersatz. Experimentelle und klinische Erfahrungen. Habilitationsschrift, Technische Universität München
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Ion channels as functional components in sensors of biomedical information Gerhard Thiel, Anna Moroni (GT) Institut für Botanik, Technische Universität Darmstadt (AM) Dipartimento di Biologia and CNR–IBF, Unità di Milano
Abstract The membranes of eukaryotic and prokaryotic cells contain proteins which function as ion channels. The activity of these ion-conducting enzymes is regulated by a variety of physical and chemical factors. In this sense these proteins are ideal components for bio-sensing devices, because they are able to convert the presence of analytes into electrical signals. The present article presents some conceptional and technical aspects on the application of ion channels in bio-sensing. These aspects are discussed in the context of recent advances in the molecular understanding of ion channel structure and function.
1. Introduction An ideal biosensor for monitoring for example biomedical information would be a small molecule, which detects and responds to molecules of interest with high specificity and affinity. This sensing action is then transmitted by means of a measurable electrical signal. It has long been established that all living cells are in fact equipped with proteins, which function exactly according to this principle. The membranes of all eukaryotic and prokaryotic cells contain proteins or protein complexes, which facilitate the transport of electrical charge across membranes. These transport proteins are classified according to their mode of action into pumps, carriers and ion channels. In the context of engineering biosensors ion channels are by far the most interesting proteins, because they have transport capacities which are some orders of magnitudes higher than those of pumps and carriers. While pumps and carriers have characteristic turn over rates of about 1-10 s-1 and 102-103 s-1 respectively, ion channels have turn over numbers as high as 108 s-1. Specific techniques have been developed which are sufficiently sensitive to measure the current flux through
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Gerhard Thiel, Anna Moroni
an individual ion channel molecule. The combination of the ability to measure the activity of individual ion channels and the fact that the activity of ion channels is in their physiological context sensitive to a number of physiologically relevant molecules, has made them interesting to material scientists and bioengineers. The following chapter will describe the electrical and physiological properties of ion channels. Recent break-throughs in the understanding of the molecular structure and function relations in ion channels will be described. Finally we present progress in genetic engineering of ion channel proteins and examples of the possible use of channels as bio-sensors will be demonstrated.
2. Biosensing properties of ion channels Ion channels are involved in many key functions in the physiology of cells. They determine for example the rate of the heart beat and they facilitate growth and development in plants and animals [1-3]. Many ion channels serve directly as elements in the sensing of physiological cues. Others are intimately associated with receptor molecules or function as the final step in signal transduction cascades [2]. Thus in the physiological context ion channels function in the wider sense as biosensors in that they register very accurately and very specifically certain signals and convert this registration into electrical activity. We may illustrate these functional properties of ion channels in the context of a biosensor design with two examples, the regulation of heart beat and insulin secretion.
3. Heart beat and cyclic nucleotides: The spontaneous activity of the mammalian heart arises from specialized myocytes of the cardiac sinoatrial node, the so-called “pacemaker” region of the heart. Early studies have shown that specific ion channels, the fchannels (“funny”) in the cells of the sino-atrial node are major determinants in the control of heart rate and its modulation by neurotransmitters [4]. The f-channels which open upon hyperpolarization of the membrane potential pass mixed (Na+/K+) cation current (If) and always drive an inward cationic current inside the cell. This causes a depolarization of the cell membrane and initiates the cell to fire a new action potential. The diastolic depolarization therefore connects two subsequent action potentials providing the rhythmic activity of the sino-atrial node myocytes; this en-
Ion channels
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sures the automaticity of the heart beat. For this reason the f-channels have more recently been termed “pacemaker” channels [5]. The f-channels are also the sites at which the heart rate is modulated by neurotransmitters. The channels are activated directly by binding of the intracellular regulator cAMP. Binding of this regulator to the channel increases the channel open probability in a concentration dependent manner. This mechanism underlies cardiac rhythm modulation by both sympathetic (β-adrenergic) and parasympathetic (muscarinic) neurotransmitters, which act by increasing or decreasing the level of the intracellular messenger cAMP (for a review see [4,5]). Hence the f-channels can be seen as biosensor, which specifically measures the signaling molecule cAMP and transmits this into a modified electrical activity.
4. ATP and insulin secretion The role of pancreas cells is to secrete insulin. These cells are equipped with a specific type of ATP sensitive K+ channels. The presence of glucose in the blood causes strong metabolic activity in these cells with the consequence that the ATP level, the energy currency of cells, increases. The activity of the ATP sensitive K+ channels is such that their activity decreases when the concentration of ATP increases. This inhibition is selective and occurs specifically only with ATP. As a consequence of this channel inactivation the membrane of these cells depolarizes in turn activating other (depolarizing) voltage-activated Ca2+ channels. The resulting rise in the cytoplasmic Ca2+ concentration is the final trigger for the secretory release of insulin from these cells [2]. Hence, the respective K+ channels function in the pancreas cells as a biosensor, which “measures” an important metabolic factor and triggers by a change in its electrical activity, a biological process. In a similar manner this type of channel could be used as a part of a sensing device, which measures ATP; this could be important in medical analysis.
5. The activity of ion channels can be measured One of the features, which make ion channels an attractive component of biosensors, is that they have very high transport capacities. Typical ion channel proteins can transport as much as 108 ions per second [1]. Because of this high transport rate it is possible to measure ionic currents through single ion channel proteins. In principle there are two methods, which were
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developed to record currents through single ion channels. One of them is the patch clamp technique and the other is the planar lipid bilayer technique. The principle of the patch clamp technique [6, 7] is that a glass micropipette is pressed against a membrane containing one or more ion channel proteins. Following the application of slight negative pressure the glass micropipette and the membrane form a high electrical resistance. As a consequence the current conducted by the channel protein is much larger than that escaping through the glass/membrane interface. With resistances >1 GΩ at the glass/membrane interface the activity of even a single ion channels can be measured. Fig. 1 shows a typical current recording of a K+ channel at the membrane of a plant cell. The same type of current fluctuations would be measured with any ion channel in the membrane of eukaryotic cells (see for example [1]). It is characteristic of the activity of ion channels that they fluctuate in a stochastic manner between an open and a closed state. Under any given condition the channels spend characteristic mean times in the open and closed states. From straightforward statistical analysis the activity of a single channel can be recorded by analysis of, for example, the relative time the channel spends in the open state [7, 8] (for further details see also below). A Fig. 1. Patch clamp recording of single channel activity. A: Glass micropipette is sealed against the membrane of a cell. The activity of ion channels in the membrane can be recorded once the electrical resistance between the glass and the membrane is > 1 GΩ. B: Example of single channel fluctuations from a K+ channel in the plasma membrane of guard cells from bean plants. The channel fluctuates in a stochastic manner between the open and closed B state.
glass-micropipette cell
membrane channel protein
open
1 pA
closed
400 ms
From the statistical analysis of a single channel the behaviour of an ensemble of channels can be extrapolated. For the experimenter it is gener-
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ally easier to measure directly the mean behavior of many channels in the whole cell membrane or in a large membrane patch. Technically this can be easily achieved by breaking the membrane patch underneath the electrode and allowing electrical connection between the cell interior and the recording electrode. In this configuration, which is called whole cell configuration, the mean electrical behaviour of all channels in a cell is recorded. Fig. 4 shows a typical recording of membrane currents in a mammalian HEK293 cell. These cells were transfected with a gene for the plant inward rectifying K+ channel KAT1. In the example in Fig. 4 a HEK293 cell expressing this channel was clamped to different voltages over a range from +40mV to –140 mV. This gave rise to the typical current responses of the KAT1 channel showing no conductance at positive voltages and progressively increasing conductance with increasingly negative clamp voltages. +40 mV -40 mV
A -140 mV
1 µA 200 ms B 1
relative open probabilit y
0.5 V/ mV -100
0
+100
Fig. 2. A: Family of K+ currents recorded under voltage clamp. The plant inward rectifier KAT1 was heterologously expressed in mammalian HEK293 cells. Membrane currents (lower traces) were recorded with patch clamp technique in whole cell configuration upon stepping the membrane to voltages between +40mV and – 140mV (voltage protocol in upper trace). The channel behaves like an electronic rectifier. The channel passes current only at hyperpolarized (negative) voltages but not at depolarized (positive) voltages. B: The activation curve of the channel can be fitted with a Boltzmann function yielding a voltage dependent coefficient of 1.5
An alternative technique for measuring ion channel activity is the socalled planar lipid bilayer technique [9]. This technique is even more re-
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duced than the patch clamp method. For the measurements an artificial membrane, which mimics a biological membrane, is painted over a very small hole separating two pools each containing salt solutions (Fig. 3). With a few rather simple manipulations a single channel protein is inserted into this membrane. The current flows across this single channel protein can be recorded. The records of channel activity obtained with this method are the same as those recorded with the patch clamp method. However in contrast to the patch clamp technique this method is entirely in vitro. A cell environment is no longer required and the salt solutions on both sides of the channel are determined by the experimenter.
Fig. 3. Schematic drawing of single channel recordings with planar lipid bilayer technique. Two pools with saline solution are connected via a small hole with a diameter of about 200 µm. For channel reconstitution this hole is sealed with a lipid bilayer, which resembles a biological membrane. Ion channels can be incorporated into this bilayer after fusion of vesicles, which carry channel proteins in their membrane.
These two methods have in the past very well served the needs of physiologists and biophysicists, who were interested in the physiology of ion channels or in the function of these proteins. However, the measurements are rather time consuming and sensitive to any kind of mechanical and electrical interference. Often measurements are not long lasting. For any sensible use of ion channels as components of biosensors alternative techniques are required. At the moment it seems that methodological development in this particular area of channel recording is essential for making a success of the use of ion channels as biosensors. The goal is to miniaturize the recording system and to make recordings more stable. New
Ion channels
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promising electrical and optical techniques are under investigation, which may eventually reach this goal [10-14].
6. Ion channel activity assay The operation of an ion channel is in principle a stochastic switching between an open and a closed state. A regulation of channel activity is in most cases achieved by a modulation of the relative time at which the channel is in either the open or closed state. Fig. 4 shows examples of ion channel activity at two different pH values on one side of the channel. It can be seen that an acidification of the bathing solution results in a decease in channel activity. The reason for this is a prolongation of the time, which the channel spends in the closed state (Fig. 4B). The corresponding open state is in this case not much different for the two pH values. The same recordings of channel activity can be carried out at any pH value and a titration curve can be constructed for the activity of a particular channel as a function of the solution pH [15]. In principle this could be considered as the basis of a simple biosensor because, after calibration of channel activity the electrical signal can be used as a measure of the pH in the test solution. A
pH 7.6
open closed open
pH 5
closed
5 pA 200 ms
number of observations
B
200
50
pH 7.6
pH 5
τ= 40 ms
100
τ= 250 ms
25
0
0 20
100 t closed / ms
200
50
500
1000
t closed / ms
Fig. 4. Example traces of single channel recordings at tonoplast of Chara corallina. A: The patch was bated in solution with pH 7.6 and 5. Dwell time histograms of closed times in the respective two pH solutions. Fitting with single exponentials reveals time constants of 40 ms for pH 7.6 and 250 ms for pH 5.
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The pH dependency of ion channel activity is just one example to demonstrate the principle of ion channel function and the impact of regulatory factors on channel activity. What is shown here for pH occurs in principle with all regulatory factors relevant to different types of ion channels. Just to name a few, there are channels, which are sensitive to voltage [16, 17], temperature [18, 19], ATP [19, 20], cyclic nucleotides [21], etc. Indeed all these factors operate by altering ion channel activity; for example in the case of the ATP sensitive K+ channels the closed state of the channel increases with increasing concentrations of ATP. Another example is the aforementioned pacemaker channel of the heart, which is regulated in its electrical activity by neurotransmitters (Fig. 5). The effect of these neurotransmitters is not direct, but mediated by a decrease or increase in the concentration of the second messenger cAMP by different neurotransmitters respectively. It has been shown that the direct application of cAMP to membrane patches excised from nodal myocytes shifts the activation curve of the pacemaker current to more positive voltages due to a direct interaction of intracellular cAMP with channels according to a phosphorylation-independent mechanism [22]. In single channel measurements the direct action of cAMP decreases the latency to first channel opening, reflecting an increase in the open probability (Po) with no changes in single channel current [23]. This was the first description of an ion channel that could be modified both by voltage, as for the voltagegated channels and by the binding of cAMP, as the ligand for cyclic nucleotide-gated channels.
7. Ion channels and bio-engineering Nature already provides us with a number of channel proteins which are sensitive to one or another molecule of interest. However recent progress in understanding the molecular structure and function of ion channels has fostered the hope that the properties of channels can be modified by genetic engineering and tailored in order to reveal other functions. This work has only just started and applications in biosensor design have not yet been achieved. A few examples should however demonstrate the strategies for this work and indicate its potential. There are many ion channels in animal and plant cells, which are sensitive to the voltage across the membrane. The example in Fig. 2 depicts the activity of the K+ channel KAT1 from the plant Arabidopsis thaliana as a function of voltage. It is apparent that the activity of this channel increases with negative voltage. The probability that the channel is open at different voltages can be described by a Boltz-
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mann function showing in the present case that the activity increases by a factor of 1.5 for 60 mV change in voltage (Fig. 2B). This is a rather steep dependency on voltag. Other channels exhibit an even steeper dependency on voltage [1] and perform as voltage sensing device much better than their electronical counterparts [24].Intensive research on ion channels has shown that certain individual amino acids in the channel protein are important in the voltage sensing of these proteins [25, 26]. When the relevant amino acids, in this case charged amino acids, are neutralized by point mutation strategies, the respective channels have a reduced voltage sensitivity. In contrast addition of charged aa in the relevant positions of the protein can greatly enhance the sensitivity of these channels to voltage. A number of ion channels from animals and plants are sensitive to the pH either on the extracellular side or the cytosolic side of the membrane (see above). This sensitivity of channel activity to the proton concentration is yet another example of the physiological biosensing role of ion channels, because the pH in different compartments serves as an important regulator in physiological processes. As in the other examples before mentioned the activity of this type of channel can be titrated. From the titration curves the number of binding sites for protons and the pK values of these binding sites can be estimated [27]. The pK values give a good clue as to which of the titratable amino acids is involved in this process. Together with the molecular sequence of the respective channel protein and the known topology of the protein structure the relevant sites of a channel can be identified. The pH sensitive sites in many channels have thus been identified. Molecular genetic modification of these sites in the channels results in predicted modification in the pH sensitivity of these channels [28, 29]. We have mentioned before the voltage-sensitive cation channels which determine the rate of the heat beat and which can be modified by neurotransmitters via the cellular messengers such as cyclic AMP. The channel responsible for this action (named HCN channel) has now been cloned and the site, which interacts with the cyclic nucleotide identified [30-32]. HCN channels have the typical structure of voltage-gated potassium channels: six transmembrane domains (S1-S6), a positively charged S4 segment acting as part of the voltage sensor, and the GYG pore sequence found in most of the known potassium selective channels. HCN channels also have, at the cytoplasmic C terminus, the cyclic nucleotide-binding region (CNBD). This region bears a strong resemblance to the CNBD of cycleo nucleotide gated (CNG) channels and is related to those regions that bind cAMP in the catabolic gene activator protein of bacteria and the eukaryotic cyclic nucleotide-dependent protein kinases [33].
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If current control
control
control
Fig. 5. If controls cardiac pacemaking. A cell isolated from the pacemaking region, the sinoatrial node, of the rabbit heart investigated with patch clamp technique in the whole cell mode. The upper traces reports the free running voltage of the sinoatrianl node under control conditions and in the presence of the neurotransmitters achetylcoline and isoprenaline. The lower traces show the current response of the slow activating If channels under control conditions and in the presence of the neurotransmitters achetylcoline and isoprenaline. Isoprenaline increases If by shifting the activation curve of the channel to positive values. Acetylcholine has the opposite effects. Data from Di Francesco, University of Milano.
The presence of a CNBD in the C terminus is responsible for direct activation of the channel by the binding of this second messenger. Values for K1/2 and Hill coefficient for cAMP binding are: 0.2 µM and 0.85, respectively. Upon modification of the relevant site the channels loses its sensitivity to the messenger. Constructing truncation mutants in which the CNBD region was partly or fully removed from the C terminal sequence
Ion channels
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resulted in channels that, when heterologously expressed in mammalian cells did not respond to the addition of cAMP [34]. A carboxy terminal fragment of HCN channels containing the CNBD has recently been crystallized and its X-ray structure, bound to cAMP and cGMP resolved [35], suggesting a model for ligand-dependent channel modulation. The pacemaker channels are controlled not only by cAMP but also by membrane voltage and other metabolic effectors, such as intracellular pH, which directly modulate the channel in the physiological range. In these cases, it has also been shown that single mutations in the amino acid sequence can lead to dramatic changes in channel behavior. Mutations in the S4 domain of a pacemaker channel altered its voltage dependence, shifting the activation curve by about -50 mV [36, 37]. Finally, mutating a single histidine residue in one of the cytoplasmic linkers of the channel, resulted in channels that were no longer sensitive to shifts in intracellular pH [38]. Work on the design of ion channels for specific or improved sensing purposes is still in its early days. However, in some cases it has already been possible to genetically modify ion channel proteins from bacteria. In the case of the channel forming α-haemolysin toxin from Staphyloccus bacteria the channel was modified by altering the amino acid sequence in the channel pore or by linking a protein including a receptor to the channel protein. Following genetic modification the channel proteins acquired new sensing functions. The electrical behavior of such channels could be used to measure the concentrations of molecules of interest such as DNA, metal ions, ligands of interest [39-42].
8. Viral channels as toolbox Typical ion channel proteins from eukaryotes are very large and complex. This confounds the design of biosensors because structure/function relations of these channels are often difficult to understand and manipulate. A detailed understanding of the structure/function relations of the channel protein however is a prerequisite for any intelligent design strategy. Large proteins also impose a hurdle in the synthesis of channel proteins. The production of recombinant channels with bacteria or yeast is a complicated and time consuming process. A promising alternative to ion channels from eukaryotes as basic units of biosensors is offered by channel proteins encoded by viruses [43-46]. Recent work has shown that many viruses contain in their genome messages for proteins, which function as ion channels. A general and particular feature of these channel proteins is that they are very small compared to the eukaryotic counterparts. While a typical ion
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channel from a eukaryote is made of up to 1000 amino acids, the viral channels require only a minimum of about 100 amino acids for making a functional channel [44]. This small size is already a size which may be produced completely synthetically in the near future.
9. The viral K+ channel Kcv is a very small homolouge of eukaryotic K+ channels The Kcv protein, which is encoded by the virus PBCV1, is a 94 amino acids long peptide, which shares some of the overall molecular architecture of K+ channels from pro- and eukaryotes [47]. The hydropathy analysis of the Kcv primary amino acid sequence suggests two transmembrane domains (M1 and M2). These are separated by a 44 a loop, which harbours the signature sequence TXXTVGFG common to all K+ channels [47]. In the surroundings of this motif Kcv displays a high degree of similarity to the pore domains of many pro- and eukaryote K+ channel proteins. A unique feature of the viral K+ channel proteins in comparison to other pro- and eukaryote K+ channels is the reduction of the cytoplasmic N- and C-termini. The derived aa structure of Kcv predicts that the cytoplasmic Cterminus is virtually absent and the N-terminus is only 12 aa long [47, 48]. With this minimal structure Kcv is the smallest K+ channel known so far. Essentially the entire Kcv protein is no more than the “pore module” of all K+ channels comprising the three functional elements M1- pore -M2 [49]. Kcv can be successfully expressed in heterologous systems such as mammalian cell lines or Xenopus oocytes [47-50]. In these expression systems the viral channels exhibits the major hallmarks of more complex channels from eukaryotes: the channel is cation selective, blocked by typical inhibitors of K+ channels and has some voltage dependency. Also a regulation of the channel via pH and phosphorylation seems to be present. Taken together the available data suggest that this channel functions like a basic K+ channel.
Ion channels PBCV-1-Kcv
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MA-1D-Kcv
I/ µ A
I/ µA 4
K+ - Cs
K+- Cs
+
K+ + Cs
K++ Cs +
-100
+100
V/mV
+
25 +
-100
+100
V/mV
-2 -25
Fig. 6. Current voltage relations of two variants of the viral K+ channel Kcv in absence and presence of 10 mM Cs2+ (+Cs+) in test solution with 50 mM KCl. The variants Kcv from virus PBCV-1 and MA-1D differ in only 5 amino acids, but when expressed in Xenopus oocytes one channel is very sensitive to voltage dependent block by Cc+ (MA-1D Kcv), while the other one (PBCV-1 Kcv) is not.
10. Just a few changes in the primary amino acid structure result in dramatic changes in the performance of the Kcv channel protein Current research on the viral K+ channels is focused on the understanding of the relation between the structure of the channel and its function. The protein is either mutated at sites of interest or naturally occurring variants of the channel from related virus species are examined. These data are very promising with respect to the goal of modifying channel activity. For example it turns out that one channel variant of Kcv differs in only 5 amino acids. This small difference in the primary amino acid structure however results in very dramatic differences in the electrical performance of these channels. While for example the reference channel PBCV-1-Kcv is sensitive to a block by Cs+ the other MA-1D-Kcv is not (Fig. 6). And while one channel is active preferentially at positive voltages the other has an opposite voltage dependency [51]. The important information from these types of experiments is that small viral channels seem to show a significant
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amount of plasticity in the sense that small changes in the channel structure may lead to significant changes in the specific performance of these proteins.
11. Outlook Research on ion channels still has a long way to go before these proteins can really be used as electrical switches in biosensors. However, the successful use of these proteins in the electrical circuitry of all living cells proves that it is in principle possible to accomplish this. The development in miniaturizing the recoding equipment with which ion channel activity is monitored and the breathtaking progress in understanding the relation between protein structure and the function of ion channels is very promising for the future development. Newly discovered proteins such as viral channel proteins may in this context provide interesting tool for creating biosensors. In combination with new genetic approaches such as directed evolution, new proteins, which exhibit features desired for biosensors of interest, may be found. References [1] Hille B (2001) Ion channels of excitable membranes. 3rd ed, Sinauer Associates, Sunderland [2] Ashcroft FM (2000) Ion channels and disease. Academic Press, San Diego [3] Very AA, Sentenac H (2002) Cation channels in the Arabidopsis plasma membrane. Trends Plant Sci 7: 168-175 [4] DiFrancesco D (1993) Pacemaker mechanisms in cardiac tissue. Ann Rev Physiol 55: 455-472 [5] Santoro B, Tibbs GR (1999) The HCN gene family: molecular basis of the hyperpolarization-activated pacemaker channels” Ann NY Acad Sci 868: 741-64 [6] Neher E, Sakmann B (1992) The patch clamp technique. Sci Am 266: 44-51 [7] Hamill OP, Marty A, Neher E, Sakmann B, Sigworth FJ (1981) Improved patch-clamp techniques for high-resolution current recording from cells and cell-free membrane patches. Pflugers Arch 391: 85-100 [8] Colquhoun D, Hawkes AG (1981) On the stochastic properties of single ion channels. Proc R Soc London B 211: 205-235 [9] Miller C (1985) Ion channel reconstitution. Plenum Press, New York [10] Fertig N, George M, Klau M, Meyer C, Tilke A, Sobotta C, Blick RH, Behrends JC (2003) Microstructured apertures in planar glass substrates for ion channel research. Receptors Channels 9: 29-40 [11] Borisenko V, Lougheed T, Hesse J, Fureder-Kitzmuller E, Fertig N, Behrends JC, Woolley GA, Schutz GJ (2003) Simultaneous optical and electrical recording of single gramicidin channels. Biophys J 84: 612-622
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Neuronale Mechanismen der Entstehung von Tinnitus Elisabeth Wallhäusser-Franke, Gerald Langner Institut für Zoologie, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Das Phantomgeräusch Tinnitus ist eine Hörempfindung, die nicht durch ein akustisches Signal ausgelöst wird. Unsere Untersuchungen legen nahe, dass eine dem Tinnitus entsprechende Nervenzellaktivität durch Selbstaktivierung der Hörgebiete im Gehirn entsteht. Vermutlich handelt es sich dabei um neuronale Mechanismen wie Hemmung und nichtlineare Rückkopplung, die normalerweise die Dynamik und Selektivität des Hörsystems steuern. Diese Mechanismen werden unter anderem zur Kompensation eines Hörschadens genutzt, und offenbar geschieht ihre notwendige Feinabstimmung durch die Aktivierung emotions- und aufmerksamkeitssteuernder Gehirngebiete. Wird die Rückkopplung unter Stresseinfluss übermäßig stark, könnte es in den Hörgebieten des Großhirns zur Überkompensation des Hörschadens und damit zu einem Tinnitus zu kommen.
Abstract Although tinnitus is a sensation arising within the auditory system and not from an acoustic signal, people with tinnitus perceive it as a real, and often annoying sound. The commonly suspected cause, pathologic activation of hair cells in the inner ear, could not be confirmed as the source of tinnitus-related hyperactivity. On the contrary, our results indicate that it is suppression of hair cell activity that may indirectly induce a tinnitus, and that neuronal activation corresponding to tinnitus originates within the central auditory system. Mechanisms used for dynamic control and selection of signals, as inhibition and non-linear feedback, which are involved in the compensation of hearing deficits may be responsible. Feedback is thought to be under control of brain structures controlling emotions and attention. In situations of stress, feedback could become excessively strong, which in auditory cortex may lead to overcompensation for the loss of input activity caused by the hearing impairment resulting in tinnitus.
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1. Was ist Tinnitus? Zahlreiche Menschen hören ein Geräusch, das andere nicht wahrnehmen können. Solch ein Phantomgeräusch, das besonders in stiller Umgebung laut und störend sein kann, bezeichnet man als Tinnitus. Im schlimmsten Fall wird der damit verbundene Verlust der Stille zu einer fast unerträglichen psychischen Belastung, die mit Konzentrationsproblemen, Schlafstörungen, Depressionen oder gar Angstzuständen einhergeht. Tinnitus wird als Pfeifen, Rauschen oder als ein mit Tönen überlagertes Rauschen beschrieben. Er kann tief- oder hochfrequent sein, ist auf einem oder beiden Ohren zu hören oder wird im Kopf lokalisiert. Zusätzlich kann seine Lautstärke im Lauf der Zeit erheblich variieren. Man unterscheidet zwischen subjektivem und objektivem Tinnitus. Der seltene objektive Tinnitus liegt vor, wenn eine körpereigene physikalische Schallquelle die Ursache des Geräusches ist. Dabei handelt es sich meist um Muskelkontraktionen im Mittelohr oder um durch Gefäßanomalien bedingte Strömungsturbulenzen im Kopfbereich. Diese stellen physikalische Schallereignisse dar und können daher von einem Außenstehenden mit Hilfe entsprechender Verstärker gehört werden. Ist ihre Ursache erst einmal gefunden, so lassen sich durch gezielte Behandlungen meist auch die Geräusche beseitigen. In der Regel versteht man unter Tinnitus aber den weitaus häufigeren subjektiven Tinnitus, mit dem sich dieser Artikel befasst. Subjektiver Tinnitus kann sowohl als Begleiterscheinung verschiedener Krankheitsbilder wie auch als Nebenwirkung einiger Medikamente auftreten. Häufig entsteht er allerdings nach plötzlichen Verschlechterungen des Hörvermögens, etwa durch Knall oder Hörsturz, oder er wird erstmalig in oder nach Stresssituationen bemerkt. Oftmals können sich Betroffene jedoch nicht an entsprechende Vorfälle und einen definierten Beginn ihres Tinnitus erinnern. Tinnitus tritt in etwa 70% der Fälle zusammen mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Hörschaden auf, weshalb die Häufigkeit seines Auftretens mit zunehmendem Lebensalter steigt.
2. Wo entsteht Tinnitus? Die als Tinnitus wahrgenommene neuronale Aktivität könnte prinzipiell auf allen Stufen der Hörbahn (s. Abb. 1) entstehen. Weil sich die neurophysiologischen Leistungen der verschiedenen Kerngebiete der Hörbahn leicht unterscheiden, kommen abhängig vom Entstehungsort unterschiedliche Mechanismen als Tinnitusursache in Frage. Aus diesem Grund ist die
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Lokalisation des Ortes der Tinnitusentstehung ein wichtiger Ausgangspunkt für eine Untersuchung der neuronalen Tinnitusmechanismen.
Abb. 1. Vereinfachte Darstellung des Hörsystems. Aufsteigende (dunkle) und absteigende (helle) Bahnen sind getrennt und nur jeweils auf einer Hirnhälfte dargestellt, sie sind jedoch auf beiden vorhanden. Die eingehende Schallinformation wird in den Haarzellen des Innenohrs in Nervenimpulse umgesetzt und über serielle und parallele Verarbeitungsstufen aufsteigend (afferent) zum Kortex geleitet. Zusätzlich existieren Rückprojektionen im absteigenden oder efferenten Hörsystem. Die gesamte Aktivität, die im Innenohr entsteht, muss die Hörbahnstationen des Nucleus cochlearis im Hirnstamm und des Colliculus inferior im Mittelhirn passieren, bevor sie zum Hörkortex weitergeleitet wird. Die efferenten Verbindungen, die über Zwischenstationen vom Hörkortex bis zu den Haarzellen im Innenohr reichen, sind für die Regelung des Informationsflusses durch Verstellung der Empfindlichkeit in einzelnen Hörbahnstationen und auch im Innenohr wichtig
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Es ist nicht möglich, den Ursprung von Tinnitus anhand der Aussagen von Betroffenen zu lokalisieren, da eine Hörwahrnehmung unter Umständen auch ohne Beteiligung des Innenohrs entsteht. Beispiele hierfür sind akustische Wahrnehmungen in Träumen und Halluzinationen. Ebenso kann elektrische Reizung von Hörgebieten im Großhirn, z.B. im Verlauf von Gehirnoperationen, akustische Wahrnehmungen auslösen. Darüber hinaus kann durch elektrische Stimulation im Innenohr (Cochlea-Prothese), oder nach Zerstörung des Hörnerven - auch im Hirnstamm (Hirnstammimplantat) eine weitreichende Wiederherstellung des Hörvermögens erzielt werden. Außerdem ist es nicht selbstverständlich, dass ein objektiv vorhandenes Geräusch, das die Hörgebiete im Hirnstamm aktiviert, auch den Hörkortex erreicht und damit bewusst gehört wird. Oft werden Dauergeräusche, wie auch ständig vorhandene Körpergeräusche, vor Erreichen des Hörkortex vollständig ausgeblendet. Der Effekt der Gewöhnung oder Adaptation an solche Geräusche und damit deren ‚Überhören’ ist jedem aus eigener Anschauung bekannt. In Abb. 3 ist zu sehen, dass auch bei Wüstenrennmäusen ein Dauerton zwar immer die Hörgebiete im Hirnstamm und Mittelhirn aktiviert, aber nicht unbedingt den Hörkortex. Im Gehirn werden Hörinformationen demnach nicht einfach vom Ohr zum Großhirn durchgeschaltet, sondern sie können unterdrückt werden oder sogar neu entstehen. Bisher hat sich die Forschung vor allem auf das Innenohr und den Hörnerven als möglichen Entstehungsort von Tinnitus konzentriert. Weil die äußeren Haarzellen im Innenohr eine aktive Verstärkerfunktion haben und deshalb zu spontanen Schwingungen neigen, lag es nahe, sie als Tinnitusgeneratoren in Betracht zu ziehen. Solche spontanen Schwingungen erreichen auch das Trommelfell, so dass sie von empfindlichen Mikrophonen objektiv gemessen werden können (otoakustische Emissionen). Diese Schwingungen könnten von den inneren Haarzellen im Innenohr registriert und als Aktivierung über den Hörnerven an das Gehirn weitergegeben werden. Die mit den otoakustischen Emissionen verbundenen Geräusche mögen zwar länger anhalten, werden aber erstaunlicherweise allenfalls anfänglich von den Betroffenen wahrgenommen. Sie werden wie andere körpereigene Geräusche rasch ausgeblendet und scheiden deshalb als Ursache von Tinnitus aus. Außerdem findet man solche Schwingungen nur in Bereichen eines guten Hörvermögens, d.h. in Bereichen mit intakten Haarzellen, weshalb sich Hörschäden unter anderem durch den Nachweis otoakustischer Emissionen ausschließen lassen. Tinnitus tritt jedoch gerade in Frequenzbereichen auf, in denen der Informationseingang aus dem Innenohr durch defekte Haarzellen herabgesetzt ist [1]. Weiterhin spricht gegen die Haarzellen als mögliche Tinnitusgeneratoren, dass bisher keine erhöhte Aktivierung im Innenohr oder Hörnerven nachgewiesen werden konnte.
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Auch stellten sich Versuche, Tinnituspatienten durch operative Durchtrennung des Hörnerven zu kurieren, als Fehlschläge heraus. Bei dieser Operation wurde die Verbindung zwischen dem Innenohr und dem zentralen Hörsystem im Gehirn gekappt und damit auch die Übertragung von Nervensignalen. Trotzdem blieb bei vielen Patienten der Tinnitus bestehen oder kehrte nach kurzer Zeit zurück [2, 3]. Auch im Versuchstier wurde nach Tinnitusauslösung statt der erwarteten erhöhten nur verminderte Aktivität im Hörnerven gemessen. Daher wurde alternativ postuliert, dass ein Hörschaden eventuell zu erhöhter Synchronisation zwischen einzelnen Hörnervenfasern führen könne, was vom zentralen Hörsystem als akustisches Signal interpretiert würde [4]. Aber auch diese Hypothese konnte bisher experimentell nicht bestätigt werden. Obwohl die aufgeführten Beobachtungen dagegen sprechen, den Motor der Tinnitusaktivität im Innenohr zu suchen, wird mangels alternativer Erklärungen vielfach an der Hypothese einer Tinnitusentstehung durch eine krankhafte Aktivierung von Haarzellen festgehalten. So basieren selbst einige der heute noch praktizierten Behandlungsmethoden auf dieser Vorstellung. Da Tinnitus bewusst wahrgenommen wird und die Aktivierung des Hörkortex in der Regel Voraussetzung für eine bewusste Hörwahrnehmung ist, sollte dieser unabhängig vom Entstehungsort eines Tinnitus auf jeden Fall aktiviert sein. Entsprechend konnte eine erhöhte Aktivität im Hörkortex von Tinnituspatienten durch Verfahren nachgewiesen werden, mit denen man die Gehirnaktivität beim Menschen sichtbar machen kann. So zeigte sich bei Patienten, welche die Lautstärke ihres Tinnitus durch Kieferbewegungen beeinflussen konnten, eine mit zunehmender Lautstärke ansteigende Aktivierung [5]. Weitere Autoren fanden bei Tinnituspatienten eine Veränderung [6] oder Aktivierung in verschiedenen Bereichen des Hörkortex [7, 8]. Diese Studien erlauben zwar keine Aussage über einen möglichen Entstehungsort der Tinnitusaktivität, da immer nur ein Hörgebiet untersucht wurde, sie zeigen aber, dass erwartungsgemäß die Tinnituswahrnehmung mit erhöhter, objektiv nachweisbarer Aktivität von Nervenzellen einhergeht. Tinnitus tritt beim Menschen meist zusammen mit einem Hörschaden und gelegentlich selbst bei hochgradiger Taubheit auf. Auch experimentelle Methoden der Tinnitusauslösung im Tiermodell sind immer mit einem Hörschaden verbunden. Dies legt nahe, dass gerade eine Verminderung der Aktivität im Hörnerven eine Rolle bei der Tinnitusentstehung spielen könnte. Die dem Tinnitus zugrundeliegende erhöhte Aktivierung von Nervenzellen im Hörkortex würde nach diesen Überlegungen erst sekundär als Reaktion auf den Hörschaden im zentralen Hörsystem entstehen. Zu dieser Hypothese passt, dass ein Hörschaden nicht immer oder unter Umständen
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erst längere Zeit nach Auftreten eines Hörschadens zu Tinnitus führt, allein also offenbar für eine Tinnitusauslösung nicht ausreicht.
3. Wie lässt sich ein subjektiver Tinnitus objektiv nachweisen? Im Wesentlichen gibt es zwei gesicherte Erkenntnisse über Tinnitus: Er wird von den Betroffenen als Geräusch wahrgenommen, und beim Auftreten von Tinnitus kommt es beim Menschen zur Aktivierung des Hörkortex. Deshalb erfordert ein physiologisches Tiermodell für Tinnitus zum einen den Nachweis einer Verhaltensreaktion auf ein nur subjektiv wahrnehmbares Geräusch und zum anderen den Nachweis einer Aktivierung des Hörkortex als Indiz für eine bewusste Wahrnehmung. Ein Meilenstein für die Tinnitusforschung war daher der Nachweis von Tinnitus bei Tieren [10]. Aspirin in hohen Dosen löst beim Menschen Tinnitus aus [9], und eine abgewandelte Form, Natriumsalicylat (im folgenden Salicylat genannt), führt verlässlich zu Veränderungen im Hörsystem verschiedener Tierarten. Im Verhaltensversuch konnte gezeigt werden, dass auch Tiere nach Salicylatgaben Tinnitus haben. Da hohe Salicylatdosen neben einem vorübergehenden Tinnitus immer auch einen vorübergehenden Hörschaden auslösen, muss man bei Veränderungen im Hörsystem zwischen den Auswirkungen eines Tinnitus und denen eines Hörschadens unterscheiden. Salicylat reduziert dosisabhängig die Funktion der sogenannten äußeren Haarzellen im Innenohr. Normalerweise kontrahieren diese beim Auftreten eines Schallereignisses und verstärken die auf die inneren Haarzellen einwirkenden mechanischen Kräfte, was wiederum zu verstärkter elektrischer Aktivität im Hörnerven führt. Durch Ausschaltung der äußeren Haarzellen fällt die aktive Verstärkung im Innenohr aus, und die Empfindlichkeit des Gehörs reduziert sich um 30-40 dB. Dies entspricht dem nach Salicylat maximal auftretenden Hörverlust. Mehrfach wurde nach Salicylatgabe eine Verminderung der Spontanaktivität in den Hörnervenfasern beschrieben. Diese nimmt umso mehr ab, je höher die eingesetzte Salicylatdosis ist [11]. Auch diese Beobachtung spricht dafür, dass es durch Salicylat zu einem verminderten Eingang von Nervenzellimpulsen aus dem Ohr in das zentrale Hörsystem kommt. Dies erklärt aber nicht, wo und wie die erhöhte Nervenzellaktivität entstehen könnte, die einem Tinnitus entspricht. Ein Knalltrauma löst in der Regel ebenfalls einen Tinnitus aus. Zwar gibt es Mechanismen, die das Hörsystem vor Schäden durch laute Beschallung ein wenig schützen, diese sind bei plötzlich auftretenden Schallimpul-
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sen jedoch weitgehend unwirksam. Pistolen- oder Gewehrschüsse und Explosionen von Feuerwerkskörpern gehören daher zu den häufigsten Ursachen für nur zum Teil reversible Hörschäden.
Abb. 2. Aktivitätsreduktion durch Salicylat. Die Aufnahme von radioaktiv markierter Deoxyglukose (2-DG) ist ein Maß neuronaler Aktivierung. Die Abbildung zeigt Röntgenbilder von Hirnschnitten (hell– gering, dunkel – stark aktiviert). Die Aktivierung reduziert sich mit steigender Salicylatdosis (0 – 350 mg/kg Körpergewicht) in dem Hörgebiet des Hirnstamms, das direkte aktivierende Eingänge aus dem Innenohr erhält (Nucleus cochlearis, NC, untere Reihe) und im Mittelhirnkern (Colliculus inferior, IC, obere Reihe). Diese Reduktion ist vermutlich auf den durch Salicylat ausgelösten Hörschaden zurückzuführen, der die im NC und IC ankommende Aktivität unterdrückt
Oft kommt es zusätzlich sofort nach einem Knalltrauma zu Tinnitus. Da die durch den Knall auftretenden Schäden an den Haarzellen die Eingangsaktivität in das zentrale Hörsystem reduzieren, kommt das Innenohr auch hier nicht als Tinnitusgenerator in Frage. Um subjektiven Tinnitus objektiv nachweisen zu können, haben wir zunächst Hörschäden bei Wüstenrennmäusen (Meriones unguiculatus) durch Salicylat beziehungsweise Abfeuern einer Spielzeugpistole induziert. Als Untersuchungsmethoden wählten wir die autoradiographische 14C-2Deoxyglucose (2-DG)-Technik und den Nachweis des c-fos-Proteins über eine Antikörperreaktion. Beide Methoden erlauben den gleichzeitigen Nachweis von möglichen Aktivierungen in allen Gebieten des Hörsystems [12-16]. Neurone decken ihren Energiebedarf hauptsächlich über die Aufnahme von Glukose. 2-DG wird wie normale Glukose aufgenommen, da
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sie jedoch nur langsam abgebaut werden kann, reichert sie sich in aktiven Nervenzellen an. Daher lässt sich mit der 2-DG-Methode die regionale Aktivität des gesamten Gehirns mit hoher Auflösung auf Röntgenfilmen nachweisen.
Abb. 3. Kortikale Aktivierung nach Tinnitusauslösung. In der Abbildung wurden mehrere Röntgenbilder von Schnitten durch das Großhirn so übereinandergelegt, dass man von der Seite auf den Hörkortex mit seinen Feldern AI und AAF blickt. Im unteren Teil der Abbildung sind Röntgenbilder durch den Colliculus inferior (IC) derselben Gehirne zu sehen. Nach Tinnitusauslösung durch Salicylat (350 mg/kg Körpergewicht) oder 5 Stunden nach dem Knalltrauma ist der Hörkortex stark aktiviert (dunkel). Im Gegensatz dazu ist die Aktivierung des IC im Vergleich zu den Kontrolltieren deutlich niedriger (hell). Bei den Kontrollen, die physiologische Kochsalzlösung bekommen hatten, wie auch nach Stimulation mit einem 4-kHz-Sinus-Dauerton (65 dB SPL) ist hingegen der IC, jedoch nicht der Hörkortex aktiviert. Dies zeigt auch, dass gerade Dauergeräusche nicht immer zu einer Aktivierung des Hörkortex führen
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Mit der c-fos-Methode wird über einen Antikörper das c-fos-Protein nachgewiesen (immunhistochemischer Nachweis). Dieses Protein wird erst nach anhaltender Aktivierung, speziell nach Stimulation mit neuartigen Reizen in den Zellkernen von Nervenzellen gebildet. Es weist auf molekulare Prozesse hin, die über eine kurzfristige Aktivierung hinausgehend zu anhaltenden Veränderungen von Nervenzellen führen. Solche Veränderungen, kollektiv als neuronale Plastizität bezeichnet, werden als Korrelate von Lernprozessen auf der Nervenzellebene angenommen. Daher wird das c-fos Protein als Indikator für plastische Veränderungen in Nervenzellen angesehen. Mit den verwendeten Techniken lässt sich zum Beispiel eine im Innenohr entstehende Aktivierung von der ersten Station der Hörbahn im Hirnstamm bis zum Hörkortex hindurch verfolgen (s. Abb. 2 und 3). So konnten wir zeigen, dass leise Eigengeräusche in stiller Umgebung zu leicht erhöhter, diffus verteilter Aktivität in den Hörgebieten im Hirnstamm (NC) und Mittelhirn (IC) und gelegentlich auch im Hörkortex führen (Abb. 2: 0mg/kg, Abb. 3: Kontrolle). In Abbildung 3 ist ein Fall dargestellt, bei dem die Beschallung mit einem leisen Dauerton zwar zu einer Aktivierung im Mittelhirn (IC) aber nicht im Hörkortex (Felder AI, AAF) führt. Dies interpretieren wir als Ausblendung eines uninteressanten Dauergeräusches aus der Wahrnehmung. Da Tinnitus bewusst wahrgenommen wird, waren wir nicht überrascht, nach Tinnitusauslösung Aktivität im Hörkortex zu finden. Im Gegensatz dazu konnten wir nach Salicylat jedoch in den Hörgebieten des Hirnstamms oder des Mittelhirns keine erhöhte 2-DG-Aufnahme feststellen. Im Gegenteil, die radioaktive Markierung dieser Gebiete reduzierte sich sogar mit zunehmender Salicylatdosis (Abb. 2). Da der in Abb. 2 dargestellte Hirnstammkern (NC) direkte, aktivierende Eingänge aus dem Ohr empfängt, lässt seine reduzierte Aktivierung auch auf herabgesetzte Aktivität im Innenohr schließen. Die Reduktion der Aktivität im Mittelhirn (IC), einer obligatorischen Verarbeitungsstation auf dem Weg akustischer Information vom Innenohr zum Hörkortex, trat zuerst im tiefer gelegenen Teil auf. Die hier lokalisierten Nervenzellen reagieren bevorzugt auf hochfrequente Töne. Erst bei der höchsten eingesetzten Dosis war die Aktivität im ganzen Gebiet reduziert und betraf somit den gesamten Hörbereich. Dies entspricht unseren elektrophysiologischen Befunden, die mittels evozierter Hirnstammpotentiale gemessenen Hörschwellen verschlechterten sich nach Salicylat zuerst im hochfrequenten und später im gesamten Hörbereich. Im Unterschied zu Hirnstamm und Mittelhirn waren aber verschiedene Bereiche des Hörkortex (Felder AI und AAF in Abb. 3) aktiviert. Dabei fielen Muster fokussierter 2-DG-Aufnahme auf, die in ähnlicher Weise nach Stimulation mit Tönen oder schmalbandigem Rauschen beobachtet wer-
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den. Dies deutet darauf hin, dass der bei den Wüstenrennmäusen durch Salicylat induzierte Tinnitus, ebenso wie der beim Menschen nach Einnahme hoher Aspirindosen auftretende Tinnitus [9], tonalen Charakter hat. Auch nach einem Knalltrauma war die Aktivität im Mittelhirn (IC) noch Stunden später unterdrückt, während im Hörkortex Aktivierung auftrat. Beide Methoden der experimentellen Tinnitusauslösung führen demnach zu einer Verminderung der aus dem Innenohr stammenden Eingangsaktivität in das zentrale Hörsystem, während eine erhöhte und damit auf Tinnitus deutende Aktivierung erst im Hörkortex entsteht. Die Ergebnisse der 2-DG-Untersuchungen werden durch die Resultate einer zweiten Versuchsreihe unterstützt, bei welcher das c-fos-Protein als Indikator für aktivitätsabhängige plastische Veränderungen eingesetzt wurde. Im Vergleich zu Kontrollen fand sich sowohl nach Salicylat als auch nach Knalltrauma eine stark erhöhte Anzahl von Nervenzellen, die das Protein produziert hatten (Abb. 4). Nach Salicylat beschränkte sich das Auftreten dieser markierten Neurone auf den Kortex, während kurz nach einem Knall eine vermehrte Anzahl c-fos bildender Neurone auch in anderen Gebieten des Hörsystems entdeckt wurde. Jedoch nur im Hörkortex und in dem Teilgebiet des Nucleus cochlearis, das direkte Eingänge aus dem Hörkortex bekommt, kam es einige Stunden nach dem Knall zu einem erneuten Anstieg c-fos-haltiger Nervenzellen. Ein weiterer, für die Erklärung der Tinnitusentstehung wichtiger Befund der c-fos-Studie war die Aktivierung von Gehirngebieten, die nicht zum Hörsystem, sondern zu den emotions- und aufmerksamkeitssteuernden Systemen des Gehirns gehören. Besonders fiel die Häufung der c-fos enthaltenden Nervenzellen in der zum limbischen System gehörenden Amygdala und dort speziell in der zentralen Untereinheit (zentrale Amygdala – CeA, Abb. 4) auf. Die Amygdala ist für die emotionale Tönung von Sinnesinformationen und angepasste Reaktionen auf emotionsgeladene Reize zuständig, und ihre zentrale Untereinheit wird besonders stark durch Stressoren aktiviert. Ein weiteres Gebiet mit einer auffälligen Häufung c-foshaltiger Nervenzellen war der Locus coeruleus im Hirnstamm. Dieses Gebiet besteht aus nur wenigen Nervenzellen, beeinflusst aber durch seine extensiven Verbindungen eine Vielzahl von Gehirngebieten und entscheidet über den Wachheitsgrad wie auch die generelle Aufmerksamkeit. Die Resultate der verschiedenen Versuche lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Gegenüber Kontrollen war die Aktivität in Gebieten der aufsteigenden Hörbahn nach Tinnitusauslösung regelmäßig und deutlich reduziert. Trotzdem war bei denselben Tieren der Hörkortex stark aktiviert. Insbesondere zeigte nach Tinnitusauslösung der Teil des Nucleus cochlearis nie Aktivierung, der direkten Eingang aus dem Hörnerven bekommt und deshalb bei Beschallung immer aktiv ist. Aus diesem Grund
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kann auch ausgeschlossen werden, dass die gefundene Aktivierung des Hörkortex aus dem Innenohr stammt. Demnach deutet alles darauf hin, dass sie im zentralen Hörsystem selbst entsteht. Da diese Aktivierung nicht von einem akustischen Signal ausgeht, aber wegen der kortikalen Aktivierung einen Höreindruck hervorrufen müsste, kann es sich nur um ein Tinnituskorrelat handeln.
Abb. 4. Aktivierung von Hörkortex und Amygdala nach Tinnitusauslösung. Die Ergebnisse der c-fos-Studie bestätigen die der 2-DG-Studie: Der Hörkortex ist stark aktiviert, obwohl vorgeschaltete Stationen des Hörsystems keine Aktivierung aufweisen. Auch in limbischen Gebieten, wie hier für die Amygdala gezeigt, finden sich nach Tinnitusauslösung viele Neurone, die das c-fos-Protein gebildet haben. Sowohl im Hörkortex wie auch in der Amygdala werden nach Injektionen von 350 mg Salicylat pro kg Körpergewicht mehr immunreaktive Neurone beobachtet als nach dem Knalltrauma. AI, AAF – Felder des Hörkortex, CeA – zentraler Kern der Amygdala, LA – laterale Amygdala
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4. Wie entsteht die Tinnitusaktivität? Der Anstieg zentraler Aktivierung ohne entsprechende Eingangsaktivität aus der Peripherie könnte durch eine Verschiebung des Gleichgewichtes zwischen Aktivierung und Hemmung zustande kommen. So reduzierten sich nach lauter Beschallung hemmende Einflüsse im Mittelhirn und Hörkortex. Ein Wegfall an Hemmung könnte, trotz insgesamt geringerer, spontaner Eingangsaktivität zu einer resultierenden Netto-Aktivierung führen. Ob dieser Mechanismus jedoch allein ausreicht um Tinnitus zu erklären, erscheint fraglich. Insbesondere würde man in diesem Fall schon auf frühen Stufen des Hörsystems, etwa im Mittelhirn (IC) eine erhöhte Aktivierung erwarten. Das Auftreten erhöhter Aktivität wird jedoch erst im Hörkortex beobachtet, was andeutet, dass weitere Mechanismen eine Rolle spielen. Auf allen Ebenen des Hörsystems gibt es massive Projektionen auf vorhergehende Gebiete der Hörbahn (efferentes System, s. Abb.1). Besonders wichtig – vermutlich auch für die Entstehung von Tinnitus - scheint die Rückkopplung zwischen Kortex und Thalamus zu sein. Die wahrscheinlich nicht-linearen Rückkopplungen dienen normalerweise der Filterung aufsteigender Hörinformationen, um wichtige Signale zu verstärken und unwichtige auszublenden. Bedeutend in diesem Zusammenhang sind auch die Einflüsse des Emotions- und des Aufmerksamkeitssystems auf die Hörzentren, die untereinander ebenfalls über zahlreiche Rückkopplungsschleifen verbunden sind. Das Emotionssystem und hier speziell die Amygdala bewerten Sinnesinformationen und steuern adäquate Reaktionen. So begünstigt eine Aktivierung der Amygdala bestimmte Verhaltensmuster und über ihren Einfluss auf das Hormonsystem kann es zu einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen in den Blutkreislauf kommen. Außerdem fördert eine Aktivierung der Amygdala Lernprozesse im Kortex. Von einem weiteren Gebiet, das nach experimenteller Tinnitusauslösung immer verstärkt aktiv war, dem Locus coeruleus, ist bekannt, dass er die generelle Aufmerksamkeit und den Wachheitszustand reguliert. Besonders wichtig im Zusammenhang mit Tinnitus ist es, dass die Empfindlichkeit des Hörsystems, speziell die des Hörkortex, über Rückkopplungen aus diesen Systemen verstellt werden kann. Dies gewährleistet angepasste oder aber – wie bei Tinnitus - auch übermäßige neuronale Reaktionen auf vermeintlich gefährliche Reize [17]. Um zu prüfen, ob der Hörkortex möglicherweise durch Emotions- und Aufmerksamkeitsgebiete beeinflusst wurde, haben wir für verschiedene Hirnareale eine Korrelationsanalyse mit Werten aus der c-fos Studie durchgeführt. Zwischen den Hauptfeldern des Hörkortex, AI und AAF, be-
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stand nur eine mittlere Korrelation, während die Korrelation jedes dieser Felder mit je einem der Kerngebiete der Amygdala wesentlich stärker war. Die hohe Korrelation zwischen Hörkortex und Amygdala (r>0,9) bei gleichzeitig niedriger Korrelation mit der Aktivierung in den Hörzentren von Hirnstamm und Mittelhirn (r<0,5) ist ein starker Hinweis auf eine Entstehung von Tinnitus im zentralnervösen Hörsystem [18].
5. Spielen Lernvorgänge für die Manifestierung von Tinnitus eine Rolle? Das Gehirn ist ein lernfähiges Organ, das ständig neue Informationen speichert. Dies spiegelt sich auf der Ebene der Nervenzellen in Veränderungen wieder, die allgemein als neuronale Plastizität bezeichnet werden. Besonders lernfähig (plastisch) reagieren Nervenzellen im Kortex und dies insbesondere auf bedeutungsvolle Reize. Das vermehrte Vorkommen des cfos-Proteins - einem Indikator neuronaler Plastizität - im Hörkortex und in der Amygdala nach tinnitusauslösenden Behandlungen zeigt, dass in der Tat neuronale Lernprozesse für die Manifestierung von Tinnitus eine Rolle spielen könnten [16]. Auch bei Tinnituspatienten scheinen Veränderungen im Hörkortex stattzufinden. Hier vergrößern sich offenbar solche Bereiche, die für die Frequenz des Phantomgeräusches zuständig sind. Das Ausmaß der Vergrößerung scheint mit der Lautstärke des Tinnitus korreliert zu sein [6]. Allerdings ist beim Menschen eine Korrelation zwischen Tinnitus und plastischen Veränderungen schlechter nachzuweisen als im Tiermodell, da der Kortex ohnehin ständig plastischen Veränderungen unterliegt. Nur im Tiermodell kann Tinnitus gezielt ausgelöst und die Aktivierung des Gehirns kurzfristig nach diesem Ereignis untersucht werden. Man nimmt an, dass neuronale Plastizität in erster Linie eine positive Anpassung des Gehirns an neue Herausforderungen darstellt und unerlässlich für das Erlernen neuer Gedächtnisinhalte ist. In jüngerer Zeit mehren sich allerdings Befunde, dass dieser Vorgang nicht nur positive sondern durchaus auch negative Konsequenzen haben kann. Vor allem beim Ausfall von Informationseingang aus den Sinnesorganen kommt es häufig zu Phantomwahrnehmungen. In dieser Hinsicht am besten untersucht ist das somatosensorische System, da nach Amputation von Gliedmassen oft behandlungsbedürftige Phantomschmerzen auftreten. Hierbei werden Schmerzen empfunden, die vermeintlich aus dem amputierten Arm oder Bein kommen. In einer Vielzahl von Untersuchungen konnte als Ursache jedoch eine veränderte Informationsverarbeitung im Gehirn, insbesondere im Kortex für diese Wahrnehmung verantwortlich gemacht werden [19].
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Auch bei Tinnitus liegt meist eine Störung des Informationseinganges aus dem Sinnesorgan vor, da etwa 70% der Betroffenen einen Hörschaden haben. Eine Hörminderung führt allerdings nicht zwangsläufig zu Tinnitus, sondern dieser scheint bevorzugt dann aufzutreten, wenn der Hörverlust mit starkem Stress einhergeht. Eine solche Situation findet man nach plötzlicher Auslösung eines Hörschadens durch Knall oder Hörsturz vor. Der für die Tinnitusentstehung relevante Stress mag durch den plötzlichen Hörverlust selbst erzeugt werden wie beim Knall oder Hörsturz, er kann aber auch unabhängig vom Hörschaden auftreten. So berichten viele Betroffene, dass sie ihren Tinnitus erstmals während oder kurz nach extremen Stresssituationen hörten, ein Hörschaden dagegen oft schon längere Zeit vorlag. Aus diesen Berichten und unseren experimentellen Befunden schließen wir, dass Stress und die Aktivierung stressverarbeitender Zentren im Gehirn, wie der zentralen Amygdala, für die Entstehung eines Tinnitus ebenso wichtig sind wie eine durch den Hörschaden veränderte Balance zwischen Aktivierung und Hemmung im Hörsystem. Ein enger zeitlicher Zusammenhang beider Faktoren scheint die Entstehung eines Tinnitus zu begünstigen. Aufgrund dieser Beobachtungen haben wir ein Modell zur zentralen Entstehung von Tinnitus entwickelt.
6. Modell zur zentralen Tinnitusentstehung Die experimentelle Tinnitusauslösung geschieht immer über einen Hörschaden. Dieser unterdrückt nach unseren Befunden im geschädigten Frequenzbereich zunächst die Spontanaktivität der Haarzellen des Innenohrs und des Hörnerven. Durch Filtermechanismen wird dann auf den folgenden Verarbeitungsebenen im Gehirn die Aktivität des unterdrückten Bereichs kompensatorisch angehoben. Im Hörgebiet des Mittelhirns (IC) führt ein Hörschaden zu einer Verschiebung der Gewichtung aktivierender und hemmender Eingänge, durch die besonders Unregelmäßigkeiten in der Eingangsaktivität hervorgehoben werden. Solche Unregelmäßigkeiten oder ‚Kanten’ treten vor allem in den Randbereichen eines Hörschadens auf. Dieses Prinzip der Kantenüberhöhung stellt einen lange bekannten, fundamentalen Mechanismus der Verarbeitung in unseren Sinnessystemen dar, der die Wahrnehmung biologisch relevanter Information begünstigt. Ein Wegfall von Hemmung könnte zu einer leicht erhöhten Aktivierung führen und damit zu einem Signal, das zu den nachgeschalteten Gebieten des Hörsystems weitergeleitet wird (s. Abb. 1). Im Weiteren werden dann durch Rückkopplung im Hörkortex insbesondere Flanken und Spitzen im Bereich des Hörschadens weiter verstärkt und innerhalb kürzester Zeit
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dominant. Hierfür relevante Rückkopplungsschleifen existieren innerhalb des Hörkortex, zwischen dem Hörkortex und dem vorgeschalteten Hörgebiet im Thalamus wie auch mit den Emotions- und Aufmerksamkeitssytemen (Abb. 1 und 5). Hierbei spielt nach unseren Befunden die Rückkopplung zwischen dem Hörkortex und der zum Emotionssystem gehörenden Amygdala eine, wenn nicht die entscheidende Rolle. Die Bewertung von Sinnesreizen erfolgt nicht im Kortex sondern in der Amygdala. Werden Signale als wichtig oder bedrohlich empfunden, ziehen sie vermehrt Aufmerksamkeit auf sich.
Abb. 5. Modell zur zentralen Tinnitusentstehung. Die im Hörsystem (Mitte) bis zum Kortex aufsteigenden neuronalen Informationen stehen unter Kontrolle von aufmerksamkeits- und emotionssteuernden Hirngebieten (limbisches System, Locus coeruleus, oben). Zwischen dem Thalamus, dem Kortex und dem limbischen System bestehen ausgeprägte Rückkopplungsschleifen. In der unteren Reihe sind die Spektren der Verarbeitungsstationen dargestellt. Nach der Modellannahme können bei einem Übermaß von Emotion und Aufmerksamkeit (z.B. bei Stress) die nicht-linearen Rückkopplungsschleifen im Hörsystem eine periphere Hörstörung überkompensieren. Die dabei auftretenden Aktivitäten entstehen im Gehirn und werden als Tinnitus wahrgenommen
Die Amygdala wird besonders beim Auftreten negativ gefärbter Reize aktiv und spielt unter anderem bei mit Angst verbundenen Lernprozessen eine wichtige Rolle [17]. Eine Aktivierung der Amygdala aktiviert Rück-
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kopplungsschleifen zum Kortex, was wiederum dazu führt, dass nach einiger Zeit der Hörkortex verstärkt auf diese Signale antwortet [20]. Da neuronale Plastizität im Hörkortex eine Rolle spielt, kann eine verstärkte Aktivierung von Nervenzellgruppen im Kortex dauerhaft bestehen bleiben, auch wenn sich negative Emotionen und Stress und damit die Aktivierung der Amygdala wieder auf das normale Maß reduziert haben. In (vermeintlichen) Gefahrensituationen und auch unter Stress wird außerdem der Pegel der generellen Aufmerksamkeit erhöht. Der Locus coeruleus, ein für die Steuerung der generellen Aufmerksamkeit wichtiges Gebiet übt einen modulatorischen Einfluss auf die Nervenzellaktivität in weiten Bereichen des Gehirns aus, so auch auf das Hörsystem und die Amygdala. Dieser Einfluss könnte die Empfindlichkeit in den Hörzentren und damit die Intensität der Tinnituswahrnehmung ebenfalls erhöhen. Wahrscheinlich wirken diese Einflüsse synergistisch und so wird aus einem anfänglich schwachen Signal durch positive Rückkopplung innerhalb des Hörsystems und durch Interaktion mit dem Emotions- und Aufmerksamkeitssystem ein starkes und dauerhaftes Tinnitussignal (Abb. 5).
7. Simulation des Tinnitusmodells Die Stichhaltigkeit unserer Modellvorstellung zur zentralen Tinnitusentstehung haben wir in einer Computersimulation überprüft (Abb. 6). Für die Simulation wurden vier Verarbeitungsschichten des Hörsystems mit jeweils 100 ‚Nervenzellen‘ implementiert. Die Eingangsschicht bestand aus einer Schicht, die eine vereinfachte Repräsentation des Hörnerven darstellte. Wie im Hörsystem lag auch in diesem künstlichen Nervenzellnetzwerk eine geordnete Abbildung von Frequenzen vor. Das heißt ‚Nervenzellen’ auf einer Seite der Schicht antworteten am besten auf tiefe Frequenzen. Von hier aus stieg die Frequenzcharakteristik systematisch an, so dass ‚Nervenzellen’ auf der gegenüberliegenden Seite am besten auf die höchsten Frequenzen reagierten. In der Simulation wurde berücksichtigt, dass die Haarzellen des Innenohrs selbst bei Stille spontan aktiv sind. Diese Spontanaktivität war im Bereich des ‚eingebauten‘ Hörschadens teilweise unterdrückt, wie dies auch im Hörsystem beobachtet wird. Drei sich anschließende, hierarchisch organisierte Schichten stellten Kerngebiete des Hörsystems dar. Die Funktion der zweiten Ebene, die dem Mittelhirnkern IC entspricht, beschränkte sich auf eine Verschärfung der Frequenzabstimmung durch Hemmung vom Typ der lateralen Inhibition. Zwischen der kortikalen, vierten Ebene und der dritten Ebene im Thalamus wurde eine nicht-lineare positive Rückkopplung eingeführt. Sowohl
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die Stärke der Hemmung als auch die Stärke der Rückkopplung konnten in der Simulation variiert werden. Im Gehirn wird die Stärke der Rückkopplung nach unserer Modellvorstellung durch die Emotions- und Aufmerksamkeitssysteme kontrolliert. In der Simulation führt die Hemmung auf den unteren Ebenen nur zu einer leichten Anhebung an den Abbruchkanten des Hörschadens (Kantenüberhöhung), während die Rückkopplung die Flanken und Spitzen im Bereich des Hörschadens so weit verstärkt, dass schon nach kurzer Zeit auf der vierten, dem Hörkortex entsprechenden Ebene extreme Werte erreicht werden. Auch bei einem leichten Hörschaden, d.h. einer geringen Verminderung der Haarzellaktivität, entsteht in der Simulation eine starke, lokal begrenzte Aktivierung des Kortex. Eine ähn liche Reaktion von Nervenzellen würde als Reaktion auf einen akustischen Pfeifton entstehen.
Abb. 6. Computersimulation. Die Abbildung zeigt die der Computersimulation zugrunde liegende Idee. Ein Hörschaden im Innenohr wird als Aktivitätsreduktion in das zentrale Hörsystem übertragen. Die Kurven auf der rechten Seite stellen die relativen Aktivierungen auf den einzelnen Ebenen des Modells dar. Die unterste (gestrichelte) Kurve zeigt den auf wenige Frequenzen begrenzten Höreinbruch, an dessen tieffrequenter Flanke im Hörkortex der Tinnitus entsteht. Die weiteren Kurven entlang einer hypothetischen Frequenzachse entstehen durch die hörschadenbedingte veränderte Übertragung und unter dem Einfluss von Hemmung und nicht-linearer Rückkopplung. In der obersten Kurve ist deutlich ein Maximum, entsprechend einem Tinnitus mit tonalem Charakter zu erkennen.
Die in der Simulation auftretende Aktivierung entspricht demnach einem typischen Tinnituspfeifen. Filterung und die kompensatorische Anhebung im geschädigten Hörbereich geschieht nach unserem Modell im Rahmen der normalen Verarbeitung, stellt also keine Veränderung oder gar Störung des Hörsystems dar. Erst im Kortex führt die positive Rückkopplung zu einer deutlich erhöhten Aktivität. Je stärker die Rückkopplung ist, um so
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schneller entsteht der Tinnitus, und um so mehr dominiert er die generelle Kortexaktivierung. Auch dieser Mechanismus entspricht der normalen Funktion des Hörsystems. Nach diesem Modell liegt also bei Tinnitus keine zentralnervöse Funktionsstörung vor. Während der Verlust an Hemmung schon früher mit Tinnitusentstehung in Verbindung gebracht worden war [21, 22], ist nach dem gegenwärtigen Modell vor allem die Stärke der kortikalen Rückkopplung für die Entstehung der Tinnitusaktivität verantwortlich. 8. Zusammenfassung Nach unseren Ergebnissen und den darauf aufbauenden Modellvorstellungen entsteht Tinnitus durch den Versuch des Gehirns, eine oft nur geringe Hörstörung zu kompensieren. Im Tiermodell lässt sich eine Hörstörung im Hirnstamm als Unterdrückung von Aktivität nachweisen. Dort wird aber keine erhöhte Aktivierung gefunden, die einem Tinnitus entsprechen könnte. Zur Kompensation eines Höreinbruchs können Mechanismen genutzt werden, die für die Verstärkung und Filterung von wichtigen Signalen vorgesehen sind: Hemmung und Rückkopplung. Letztere steht unter direkter Kontrolle der emotionssteuernden Hirnstrukturen, die besonders stark bei Stress aktiviert werden. Bei einem Übermaß an Rückkopplung kommt es nach unserer Modellvorstellung im Hörkortex zur Überkompensation der Hörstörung und damit zu einem Tinnitus. Literatur [1] McFadden D, Plattsmier HS (1984) Aspirin abolishes spontaneous oto-acoustic emissions. J Acoust Soc Am 76: 443–448 [2] Wazen JJ, Foyt D, Sisti M (1997) Selective cochlear neurectomy for debilitating tinnitus. Annals of Otology, Rhinology & Laryngology 106: 568–570 [3] Douek EE (1987) Tinnitus following surgery. In: Feldmann H (Hrsg) Third Int Tinnitus Seminar. Harsch Verlag, Karlsruhe [4] Eggermont JJ (1990) On the pathophysiology of tinnitus: a review and a peripheral model. Hearing Res 48: 111-124 [5] Lockwood AH, Salvi ML, Coad BA, Towsley MA, Wack DS, Murphy MS (1998) The functional neuroanatomy of tinnitus. Neurology 50: 114–120 [6] Mühlnickel W, Elbert T, Taub E, Flor H (1998) Reorganization of auditory cortex in tinnitus. Proc Natl Acad Sci USA 95: 10340-10343 [7] Andersson J, Lyttkens L, Hirvelä C, Furmark T, Tillfors M, Frederikson M (2000) Regional cerebral blood flow during tinnitus: a PET case study with lidocaine and auditory stimulation. Acta Otolaryngologica 120: 967-972 [8] Arnold W, Bartenstein P, Oestreicher E, Römer W, Schwaiger M (1996) Focal metabolic activation in the predominant left auditory cortex in patients suffering from tinni18 tus: A PET study with [ F]deoxyglucose. J Oto-Rhino-Laryngology 58: 195-199
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3. Biomechanik Magnetrezeption bei Brieftauben (G. FLEISSNER, B. STAHL) ........................................................... 501 Mechanical stress as the main factor in skull design of the fossil reptile Proterosuchus (Archosauria) (T. ROSSMANN, U. WITZEL, H. PREUSCHOFT) .............................. 517 Biodynamische Modellierung des Menschen – Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden auf das biologische System Mensch (S. RÜTZEL, H.P. WÖLFEL) .......................................................... 529 Neue Prüfkonzepte für Primärstabilität und Dauerfestigkeit mandibulärer Osteosynthesesysteme sowie für mathematische Modelle des Kausystems (H. SCHIEFERSTEIN, S. EICHHORN, E. STEINHAUSER, R. SADER, H.-F. ZEILHOFER) ........................................................................ 543 Prinzipien und Merkmale gelungener Bewegungen (J. WIEMEYER) ............................................................................ 561 Langfristige Verankerung künstlicher Gelenke - kann das gut gehen? (U. WITZEL) ................................................................................ 575
Magnetrezeption bei Brieftauben Gerta Fleissner, Branko Stahl (GF) Zoologisches Institut, Goethe-Universität Frankfurt a.M. (BS) Fachbereich Material- und Geowissenschaften, TU Darmstadt
Zusammenfassung In sechs Feldern der Oberschnabelhaut der Brieftaube befinden sich sensorische Nervenendigungen mit zweierlei eisenhaltigen Komponenten, die die Basis für die primären Rezeptorprozesse bei der Magnetfeldwahrnehmung darstellen könnten. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung wird in einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Neurobiologen und Geo-Materialwissenschaftlern versucht, mit Hilfe von ortsauflösenden physikalischen und immunhistologischen Methoden die quantitativen und qualitativen Beziehungen dieser komplexen Strukturkomponenten zueinander und zur perzipierenden Membran aufzuklären, um eine magnetische Funktionalität nachzuweisen. Damit könnte es zum ersten Mal gelingen, am Beispiel der Brieftaube ein magnetfeldempfindliches Organ im Tierreich zu identifizieren. Dieses ist die Grundlage für die Orientierung anhand von Magnetfeldparametern.
Abstract Six dendritic fields in the upper beak skin of homing pigeons with magnetitecontaining terminals are investigated as a putative structural basis for primary transduction processes of magnetite-based magnetoreception. A team of neurobiologists and geo-materials scientists tries to analyze the quantitative and qualitative relationships between the complex subcelluar components and the receptor membrane by means of high resolution microscopy including immunocytochemistry, crystallography and element scanning, in order to explore the functional meaning of these structures for magnetoreception. The pigeon model may provide a first sound candidate for a magnetoreceptor in animals as basis for orientation by parameters of the Earth magnetic field.
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Gerta Fleissner, Branko Stahl
1. Einführung 1.1. Der Magnetsinn im Tierreich Das Erdmagnetfeld ist eine universell verfügbare Quelle für Orientierungsinformationen. Universell bedeutet die Unabhängigkeit dieser Information von Tages- oder Jahreszeiten, von Wetter- und Lichtbedingungen, ja sie steht sogar Bewohnern der Tiefsee zur Verfügung, wo andere Orientierungshilfen spärlich sind. Magnetische Orientierung setzt bei Lebewesen einen Magnetsinn voraus. Die Magnetfeldrezeption, d.h. die Fähigkeit sich nach bestimmten Parametern des Erdmagnetfeldes räumlich und zeitlich zu orientieren, stellt seit der experimentellen Bestätigung in Verhaltensversuchen mit allen Klassen von Wirbeltieren und verschiedenen Wirbellosen in den letzten 5 Jahrzehnten nach wie vor ein grundlegendes Problem der Neurobiologie und Biophysik dar. Anhand des Verhaltens konnte gezeigt werden, dass das Magnetfeld sowohl als "Kompass" zur Richtungsbestimmung wie auch als "Karte" zur Standortbestimmung genutzt werden kann [1]. Dennoch fehlt bisher der Nachweis eines Magnetsinnesorgans im Tierreich. So weit verbreitet der Magnetsinn im Tierreich auch ist, so wenig weiß man über die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen und beteiligten Sinnessysteme [2]. Aufgrund von Untersuchungen an verschiedenen Modellorganismen wurden Hypothesen über grundlegende Prinzipien der Magnetperzeption entwickelt. Folgende Ansichten beherrschen derzeit die Paradigmenwahl für diese Untersuchungen:
Elektromagnetische Induktion Bei aquatisch lebenden Tieren könnten die bei Bewegungen im Magnetfeld ausgelösten induktiven Änderungen über Elektrorezeptoren, z.B. im Seitenliniensystem, wahrgenommen werden und so der Kompassorientierung dieser Tiere dienen [3]. So gut belegt auch die elektrorezeptiven Verhaltensreaktionen (Kommunikation: [4]; Elektrolokation: [5] und ihre neurobiologischen Grundlagen bei verschiedenen Fischen, Amphibien und Säugetieren sind Übersicht: [6], so fehlen doch bisher schlüssige Belege für einen Einsatz dieser Elektrorezeptoren für die Magnetfeldwahrnehmung Paulin 1995[7].
Magnetfeldinduzierte Modulation chemischer Reaktionen Durch ein Magnetfeld wird die Hyperfeinwechselwirkung der Elektronenund Kernmomente beeinflusst [8]. Dieser Effekt wurde von Schulten and
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Windemuth [9] in ein Magnetrezeptormodell für die Kompassorientierung von Tieren eingebracht. Am besten ausgearbeitet ist diese theoretische Vorstellung für die Biradikalreaktionen an Photopigmenten, die damit die Basis für einen photopigment-basierten Kompass liefern könnten: Die Sehpigmente ändern ihre Molekülstruktur in Abhängigkeit vom Magnetfeld (Hyperfeinwechselwirkung). Das Tier "sieht" möglicherweise die Inklination des Erdmagnetfeldes [10] und kann sie als Kompassinformation nutzen. Erste Versuche mit Rotkehlchen haben gezeigt, dass ihre Kompassorientierung von der Wellenlänge des Lichtes abhängt [11] und dass hierfür nur ein Auge notwendig ist [12]. Auch bei anderen Tieren wurden spektrale Abhängigkeiten der Magnetfeldorientierung berichtet [13]. Die Augen, das Pineal und andere extraretinale Photorezeptoren wurden als mögliche Rezeptororte diskutiert (Übersicht [2]). Allerdings gibt es auch hier bisher keinerlei schlüssige Nachweise für die neurobiologischen Grundlagen eines solchen Magnetkompasses.
Biogenes Magnetit Nach der Entdeckung von magnetotaktischen Bakterien [14] wurde allgemein angenommen, dass ferrimagnetisches Magnetit ein Schlüsselmineral auch in Magnetrezeptoren der Tiere sei [15, 16]. Das dabei vorgeschlagene Prinzip entspricht dem des klassischen Magnetkompasses: ein permanentmagnetisches Teilchen richte sich durch Drehung entlang der Magnetfeldlinien der Erde aus. Diese Drehung wäre an das umgebende Gewebe gekoppelt und würde ein Rezeptorpotential zur Detektion der Feldrichtung und der Inklination auslösen. Eine alternative Vorstellung geht von biogenen, superparamagnetischen Magnetit-Nanokristallen aus, die in mechanosensitiven Nervenendigungen als tröpfchenartige µ-Cluster in Ketten aufgereiht vorliegen könnten. Diese ferrofluidartigen Komponenten würden durch das Erdmagnetfeld intensitäts- und richtungsabhängig deformiert. Solche Konfigurationsänderungen könnten wegen der Anheftung der Cluster an die Zellmembran zu Änderungen der Durchlässigkeit von mechanosensitiven Membrankanälen und damit zu Rezeptorpotentialen führen [17, 18]. Für alle drei Hypothesen gibt es unterstützende Hinweise aus Verhaltensexperimenten. Dabei scheinen die beiden ersten Hypothesen Mechanismen des Magnetkompasses zu erklären, während die dritte Vorstellung als einzige die Möglichkeit eröffnet, dass die Feldstärke als ein Indikator des Standortes des Tieres zusätzlich zu Richtung und Inklination für die Richtungswahl wahrgenommen werden könnte. Allerdings gibt es aus der Neurobiologie bisher zu allen Theorien nur spärliche Hinweise zur Verifizierung und Abklärung der tatsächlichen biologischen Bedeutung. In
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keinem der Modellorganismen sind periphere Rezeptorstrukturen und/oder zentralnervöse Representationen [19] sicher identifiziert worden, und damit auch keine rezeptorphysiologischen Untersuchungen erfolgt, um zwischen diesen Hypothesen zum Magnetsinn zu unterscheiden. Vermutlich gibt es keinen universellen Mechanismus der Magnetfeldwahrnehmung, sondern artspezifische, alterspezifische und vor allem funktionsabhängige Unterschiede. Die mögliche Verquickung mit anderen Sinneseindrücken macht die Sachlage zusätzlich schwierig. So zeigen umfangreiche Verhaltensversuche mit Grottenolmen [20] und anderen Urodelen [21] Orientierungsleistungen, die multimodal kontrolliert werden (zusätzlich Licht und Schallreize) und sich im Laufe ihrer Ontogenie je nach Habitat und sogar entsprechend der individuellen Erfahrung verändern [21]. 1.2. Das Modell Brieftaube In der Arbeitsgruppe Wiltschko (Zoologisches Institut, Uni Frankfurt a.M.) sind in den letzten Jahren im Rahmen von Dissertationen Befunde erhoben worden, die klar belegen, dass Tauben bei ihrer Navigation von einem über 20 km entfernten Auflassort zurück zum Heimatschlag während der Startphase die aktuellen Intensitätswerte des Magnetfelds bewerten [22, 23]. Unabhängig von den lokalen Kenntnissen und klaren (bekannten) optischen Landmarken, weichen die Tiere individuell von der Idealrichtung zum Schlag ab, wenn das Magnetfeld sich ändert: Bereits infolge der ständigen Schwankungen der Magnetfeldintensität am Auflassort um ca. 20 bis 150 nT verändert sich die Abflugrichtung der einzelnen Taube signifikant [22]. Es konnte gezeigt werden, dass die Tauben auch die täglichen Variationen des Magnetfeldes nicht verrechnen und bei dem schwächeren Feld um die Mittagszeit regelmäßig eine Richtung wählen, die bei einem weiter südlich gelegenen Auflassort ideal für den Heimflug gewesen wäre [23]. In vielen anderen Untersuchungen an Tauben sind leider nur die "Leistungen" von Schwärmen, nicht die von einzelnen Tauben, bewertet, und die aktuellen Parameter des Magnetfeldes nicht durchgehend registriert worden. Zum weiteren Verständnis sind verschiedene Navigationsaufgaben zu berücksichtigen: Zugvögel z.B. folgen, anders als Brieftauben, einer angeborenen Zugrichtung, die inkl. ihrer Richtungsänderungen von inneren Uhren gesteuert ist. Diese Programmierung kann im Laborexperiment gestört werden (z.B. Versuche mit Zugvögeln bezüglich der Photorezeptorbasierten Magnetfeldwahrnehmung: [12, 24]). Erst beim Zielort spielt hier dann offensichtlich die sensorische Verarbeitung von Landmarken, magnetischer Orientierung etc. eine Rolle [1]. Es ist damit wahrscheinlich, dass auch bei Vögeln unterschiedliche Mechanismen der Magnetfeldwahrneh-
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mung realisiert sind. In der neueren Literatur ebbt der teilweise erbittert geführte Streit über "den" einen universellen Mechanismus [25] ab und wird zunehmend ersetzt durch die Hypothese, dass sich zwei oder auch mehr Sinnesorgane diese komplexe Aufgabe der Magnetrezeption teilen. Dabei könnte es z.B. nach Phillips [26] auch sein "…that the lightdependent magnetic compass is used to align a second magnetoreception mechanism involving permanent magnetic material, possibly magnetite, in a consistent alignment relative to the magnetic field".
2. Die Magnetfeldrezeption unter magnetischen Gesichtspunkten Eine Empfindlichkeit für Parameter des Erdmagnetfelds beinhaltet potentiell zweierlei Information: die der Richtung und die der Feldstärke. Bei einer mittleren Feldstärke von rund 50 µT und einer Nord-SüdOrientierung mit einer Inklination von 66 Grad gegen die Horizontale (im Frankfurter Raum) ist davon auszugehen, dass einer magnetischen Orientierung die Abweichungen von diesen mittleren Größen zugrunde liegen. In der natürlichen Umgebung treten Änderungen der Feldrichtung und stärke immer gemeinsam auf, z.B. bei magnetischen Anomalien, so dass eine Trennung beider Aspekte im Freilandversuch nicht möglich ist. Legt man die Ergebnisse aus Verhaltensexperimenten im Labor zugrunde, so ergeben sich folgende Eigenschaften bzw. messtechnische Herausforderungen an die Magnetfeldrezeption: (a) Der physikalische Mechanismus zur Magnetfeldwahrnehmung scheint lediglich die Orientierung der Feldlinien im Raum zu erfassen, aber nicht die Richtung, in die der magnetische Feldvektor zeigt. (b) Die berichteten Empfindlichkeiten auf magnetische Feldstärkeänderungen liegen unterhalb von 1% der Erdfeldstärke. Aus dem Punkt (a) folgt, dass eine Ausrichtung einer Magnetnadel wie beim klassischen Magnetkompass bei Tieren scheinbar nicht als Rezeptor realisiert ist, wenn auch ein solcher Mechanismus bei magnetotaktischen Bakterien vorkommt. Die Einbuße an Information bietet der Natur zum einen den Vorteil einer größeren Auswahl von möglichen magnetophysikalischen Effekten, die für den Rezeptorprozess nutzbar sind. Zum anderen haben diese alternativen Prozesse ihre eigenen charakteristischen Empfindlichkeits- und Zeitskalen, wodurch eine Signal-RauschUnterdrückung eventuell leichter zu realisieren ist. Die dynamischen Aspekte der Magnetfeldwahrnehmung sind bisher in der Literatur nicht
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grundlegend diskutiert worden und sollten bei der Betrachtung der gängigen (quasi-) statischen Modelle nicht vergessen werden. Der Verlust der Richtungsinformation des Erdmagnetfeldes kann zum Teil durch die Bestimmung der magnetischen Inklination (Inklinationskompass) kompensiert werden. Als physikalische Messprozesse kommen z.B. die oben genannten magneto-optischen und ferrofluidartigen Systeme in Frage. Aus dem Punkt (b) ergeben sich unter magnetischen Gesichtspunkten weitreichende Konsequenzen. Daher ist es geboten, die Quantifizierung der magnetischen Feldstärke und -richtungsempfindlichkeit getrennt in zukünftigen Experimenten, z.B. Elektrophysiologie oder Dressur in wohldefinierten und überwachten Magnetfeldlandschaften, auf eine gesichterte Grundlage zu stellen. Eine Empfindlichkeit der Magnetrezeption auf Feldstärkeänderungen, d.h. ohne Richtungsänderung der Feldlinien, unterhalb von 1% der Erdfeldstärke würde zweierlei bedeuten: (1) Es muss bei dem Rezeptormechanismus eine entsprechende differentielle Empfindlichkeit bei einem Arbeitpunkt von 50 µT, der Erdfeldstärke, gegeben sein. (2) Die Empfindlichkeit darf nicht durch eine Hysterese des magnetischen Messprozesses gestört werden, d.h. die magnetische Hysterese muss kleiner sein als die kleinste wahrnehmbare Feldstärkeänderung in dem genannten Arbeitspunkt. Ähnliche Aussagen lassen sich im Übrigen auch bezüglich einer Empfindlichkeit gegenüber der Orientierung der magnetischen Feldlinien formulieren, da eine solche Messung einer Zerlegung des Feldvektors in 3 unabhängige, z.B. paarweise senkrecht aufeinander stehende Raumkomponenten gleich kommt, deren relative Längen bzw. Längenänderungen (= Feldstärkeänderungen) verglichen werden. Aus magnetischer Sicht sind die messtechnischen Anforderungen aus Punkt (b) nur äußerst schwer von einem biokompatiblen Messprinzip zu erfüllen. Unterpunkt (1) legt nahe, dass ein magnetischer Verstärkungsmechanismus realisiert ist, Unterpunkt (2) erfordert möglicherweise extrem weichmagnetische Materialien, wie man sie technisch bisher nicht kennt bzw. die man bisher noch nicht auf diese extreme Empfindlichkeit hin untersucht hat. Als letztes ist noch eine Anmerkung zum Vektorcharakter der magnetischen Feldstärke zu machen. Der Verlauf der Magnetfeldlinien stellt eine räumliche Anisotropie dar, die sich in magnetfeldempfindlichen histologischen Strukturen widerspiegeln muss. In anderen Worten: ein physikalischer Prozess, der Magnetfelder misst, hat grundsätzlich eine räumliche Ausrichtung, d.h. zeichnet ebenfalls eine Richtung oder eine Orientierung im Raum aus.
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3. Struktur möglicher Magnetsinnesorgane Trotz der Fülle an Verhaltensbefunden bei Tieren, die offensichtlich Parameter des Erdmagnetfelds zur Orientierung nutzen – sei es als Wegweiser, Landkarte oder zeitlicher Trigger – fehlen bisher schlüssige Nachweise von Strukturen, die die Magnetrezeption ermöglichen. Die Befunde zu den magnetithaltigen Dendriten im Oberschnabel der Brieftaube sind bisher die einzigen, an denen sowohl die kristallographischen Nachweise von Magnetit [27], als auch die Einbindung in neuronale Strukturen [18] gezeigt werden konnten. Innerhalb der Dendriten könnte eine spezifische Subzellulärstruktur mit zwei eisenhaltigen Komponenten – Magnetitcluster und eisenhaltige Plättchen – eine hochempfindliche Magnetfeldwahrnehmung ermöglichen. Nur Einzelaspekte dieser Strukturen im Taubenschnabel sind bisher an anderen Organismen beschrieben worden. 3.1. Magnetosomen der Bakterien Am auffälligsten ist die morphologische Ähnlichkeit der Eisenplättchen im Taubenschnabel mit den Magnetosomen der sogenannten magnetotaktischen Bakterien [14]. Die kettenförmigen bakteriellen Magnetosomen sind aus Magnetit-Nanokristallen (ca. 100 nm) mit magnetisch eindomäniger Struktur (SD: single domain) aufgebaut. Damit richten sich die Bakterien wie eine Kompassnadel passiv im Magnetfeld aus, nicht mit einer taktischen Bewegung im engeren Sinne des Wortes. Das Verhalten der Bakterien im Erdmagnetfeld ist also nicht mit der Funktion von Nervenendigungen bzw. Sinnesorganen von Tieren gleichzusetzen. Die ähnlich geformten eisenhaltigen Platten im Taubenschnabel bestehen aus einem noch nicht sicher identifizierten, von Magnetit verschiedenen Mineral [18]. Über die magnetischen Eigenschaften ist bisher nichts bekannt. Offensichtliche Unterschiede zu den bakteriellen Strukturen bestehen in einer unterschiedlichen Morphologie (Platten), einem anderen Material und der komplexeren Anordnung auch in Bezug auf hier vorhandene Magnetitcluster. Zusätzlich zu den morphologischen Aspekten spielt die Umhüllung der bakteriellen Magnetosomen vermutlich eine wichtige Rolle für die Biosynthese und die chemische Stabilität (Isolation gegenüber dem Cytoplasma) und die Anordnung innerhalb des Bakteriums [28]. Über die biochemische Charakterisierung dieser Hüllen [29] erhofft man sich auch relevante Hinweise für die Art der Einbettung der Eisenplatten und Magnetitcluster im Taubenschnabel. Dies sollte auch die genetische und enzymatische Steuerung ihrer Biogenese betreffen. Hierzu ist jedoch zurzeit nichts bekannt.
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3.2. Eisenkristalle bei Fischen Im olfaktorischen System von Forellen wurden mögliche Magnet-Rezeptorzellen beschrieben [16]. Die hier gefundenen Eisenanreicherungen bilden Ketten aus ungefähr 1 µm großen „Kristallen“, die den Ketten in den Magnetbakterien sehr ähnlich sehen. Allerdings fehlt für diese Strukturen im Fisch der Nachweis, dass es sich um Magnetit in neuronalem Gewebe handelt. Ebenso fehlen Messungen der möglichen magnetischen Eigenschaften. 3.3. Magnetit im ZNS der Säugetiere Im (Zentral-) Nervensystem und anderen Organsystemen von diversen Organismen wurde vielfach biogenes Magnetit gefunden (z.B. [30]). Es scheint sich hierbei jedoch durchweg um unspezifische Anreicherungen von Metaboliten des Eisenstoffwechsels zu handeln, wie sie bei besonders stark durchbluteten Geweben, z.B. bei neoplastischen Veränderungen, vorkommen. Diese Funde von Magnetit stammen ausnahmslos aus Gewebsextrakten der betreffenden Organe. Eine nachweislich spezifische (nicht zufällige) Einbindung in bestimmte Nervenendigungen oder zugehörige Rezeptorzellen ist bisher nicht gezeigt worden. 3.4. Magnetit bei Invertebraten Auch in Invertebraten sind Magnetitkristalle in Gewebsextrakten festgestellt worden, nicht aber ihre Lokalisierung in neuronalem Gewebe (z.B. [31]). Magnetit und andere Schwermetallverbindungen konnten als Bestandteile zur Verbesserung der mechanischen Eigenschaften (Härte bei hoher Bruchzähigkeit) in stark beanspruchten Strukturen wie z.B. den Mundwerkzeugen von Skorpionen [32] nachgewiesen werden. Aber weder die Feinstruktur noch Biogenese dieser Einlagerungen kann mit der Magnetrezeption in Verbindung gebracht werden. 3.5. Vesikel in Mechanorezeptoren Vesikel, wie sie in den magnetithaltigen Taubenschnabeldendriten vorkommen [18], sind bei dermalen Mechanorezeptoren in den Vibrissen von Wasserratten beschrieben worden und scheinen dort die Steifheit bzw. Elastizität des reizleitenden Apparats zu regulieren [33].
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4. Rezeptorphysiologische Prozesse bei der Magnetfeldrezeption Bisher ist es in keinem Fall gelungen, von mutmaßlichen Rezeptorzellen eines Magnetsinnesorgans direkt primäre Rezeptorpotentiale abzuleiten und dann, durch entsprechende Markierungen, die Identität dieser Strukturen zu belegen. Allerdings konnten in mehreren Organismen an peripheren Nerven Aktionspotentiale gefunden werden, deren Entladunsgfrequenz sich mit dem angelegten Magnetfeld ändert: bei Fischen [34], bei Vögeln [35, 36] und bei Schnecken [37]. Die erfolgreichen Versuche bei Vertebraten betreffen ausnahmslos das trigeminale System (bei Fischen: [34]; bei Vögeln: [36, 38]). Diese Befunde legen nahe, dass die Tiere die Magnetfeldänderungen als mechanischen Reiz wahrnehmen. Bei Urodelen wurde an diesem trigeminalen System bereits erfolgreich von Elektrorezeptoren und Mechanorezeptoren abgeleitet [39, 40, 41]. Deshalb liegt es auch bei diesen Tieren nahe, hier nach Rezeptoren für die im Verhaltensversuch getestete Magnetfeldwahrnehmung zu suchen. Damit ist es auch nicht erstaunlich, dass nach Magnetfeldreizungen in den Projektionsgebieten des N. ophthlamicus des N. trigeminus "Stressreaktionen" histologisch durch c-fos-Markierungen gefunden wurden [19]. In keiner der bisher veröffentlichten Arbeiten zum Magnetsinn gibt es verlässliche Angaben zur Natur, Intensität und Dynamik der applizierten Magnetfeldreize, insbesondere wenn mit Permanentmagneten gearbeitet wurde. Die notwenige Basis zur Abschätzung der relativen Bedeutung einzelner Feldparameter oder auch der Relevanz der unterschiedlichen Rezeptorhypothesen bei den gleichen Modellorganismen fehlt somit. Daten zu perzipierten Magnetfeldänderungen zeigen allerdings stets, dass nur kleine und langsame Reize verarbeitet werden können [38]. Auch die Latenzen zwischen Reiz und Erregungsbeginn sind erstaunlich lang (1-15 min bei Schneckenneuronen: [37]. Bei Brieftauben konnten wir nun in der Oberschnabelhaut erstmalig mutmaßliche sensorische Strukturen nachweisen [18], die in den freien Nervenendigungen der Ramus ophthalmicus des medianen Astes des N. trigeminus liegen [42]. Der weitere experimentelle Zugang zu diesen nun bekannten Strukturen könnte sich aus der Tatsache ergeben, dass dieser Teil des Nervensystems bezüglich seiner Funktion bei der Elektrorezeption z.B. von Fischen und Amphibien gut untersucht ist (eine Übersicht in: [6]). Die neuronale Verschaltung und Informationsübertragung der sensorischen Eingänge des trigeminalen Systems ist bei Vögeln seit langem bekannt (Taube: [43]) und auch in jüngerer Zeit durch Tracing und Läsionsexperimente (Hühnchen: [42]) bestätigt worden.
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Ein weiterer Hinweis auf die Plausibilität und Relevanz unseres auf Magnetteilchen gestützten Modells des Magnetrezeptors im Taubenschnabel stammt aus der aktuellen Forschung im interdisziplinären Bereich von Biologie und Nanotechnologie. Es wurde hier eine Methode entwickelt, künstlich hergestellte und mit Liganden funktionalisierte magnetische Partikel an Schlüsselmoleküle der Zellmembran zu koppeln, um dann mittels Magnetfeldern unter dem Mikroskop eine Deformation zu erzielen [44, 45]. Mit Hilfe dieses lokalen mechanischen Reizes konnte nachgewiesen werden, dass die Mechanorezeption nicht allein auf einfachsten spannungsabhängigen Alles-oder-Nichts-Ionenkanälen beruht, sondern dass eine Kaskade Liganden-gekoppelter Prozesse notwendig ist. Die mechanorezeptive Zelle muss als komplexes Reaktionsgefüge aus Membrankanälen, Kopplungselementen und der "Matrix" des intrazellulären Gerüsts angesehen werden [46, 47].
5. Die Modellstruktur im Taubenschnabel (Abb. 1) Nach vielen Jahren vergeblicher Versuche in vielen internationalen Arbeitsgruppen, Strukturen aufzuzeigen, die als Magnetfeldrezeptor dienen könnten, ist es uns gelungen, im Taubenoberschnabel sechs Dendritenfelder zu beschreiben, die Magnetit und eine weitere eisenhaltige Komponente in einer hochspezialisierten subzellulären Umgebung enthalten [18]. Ein wesentlicher Schritt bei der Entdeckung dieser Strukturen war die konsequente Beachtung der Löslichkeit von Magnetit in schwachen Säuren. In den gemeinsamen Untersuchungen mit der Arbeitsgruppe des Geophysikers Petersen (München) konnte zunächst gezeigt werden, dass in diesen Terminalen superparamagnetische Nanokristalle zu tröpfchenartigen Clustern zusammengefasst vorliegen [27]. Nach theoretischer Modellierung verformen sich diese Cluster in Abhängigkeit von der Erdfeldstärke [48]; [17]. Angeheftet an die Zellmembran könnten mechano-sensitive Membrankanäle diese Deformationen in primäre Rezeptorpotentiale übertragen. Allerdings wäre ein solcher Rezeptor, der nur diese Clusterdeformationen berücksichtigt, zu unempfindlich, um die bisherigen Verhaltensexperimente zu erklären. Zwei weitere Strukturdetails weisen auf einen sich selbst verstärkenden Prozess hin: (1) Die Magnetitcluster treten nicht einzeln sondern in Ketten aus ca. 10-12 Gliedern auf. In Modellexperimenten mit Ferrofluiden konnte gezeigt werden, das Konfigurationsänderungen einer Clusterkette möglicherweise bei schwächeren Feldänderungen zu beobachten sind als die Deformationen der Einzelcluster [17, 49]. (2) Nicht-kristalline Eisenplättchen bilden ein magnetisches Element,
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das die Magnetfeldlinien möglicherweise auf die Bereiche der Cluster konzentriert. Damit sind Verstärkungsfaktoren von 1000 bis 10000 denkbar, also in der Größenordnung, wie sie die Verhaltensexperimente nahe legen.
6. Subzelluläre Komponenten und Struktur der Magnetithaltigen Dendriten Unsere bisherigen Arbeiten haben mittels Antikörpern gegen Neurofilamente klar gezeigt, dass diese beiden Eisenkomponenten in Nervenendigungen liegen [18]. Die bisherigen elektronenmikroskopischen Untersuchungen waren gekennzeichnet durch die Notwendigkeit, an demselben Schnitt sowohl kristallographisch Magnetit als auch, mittels EDXMessungen, die molekulare Zusammensetzung der erkennbaren subzellulären Komponenten nachzuweisen [27]. Diese Schnittserien sind in der Literatur die bisher einzigen Nachweise von Magnetit in Nervengewebe [18]. Erste Rekonstruktionen der Dendritenfelder deuten darauf hin, dass die magnetithaltigen Terminalen in unterschiedlichen Raumrichtungen angeordnet und dementsprechend von verschiedenen Endverzweigungen des N. ophthalmicus innerviert sind (Fleissner et al. in Vorbereitung). Dies entspricht der geforderten strukturellen Anisotropie, die mit einer Messung des magnetischen Feldvektors einhergehen muss. Die von uns gefundenen mutmaßlichen Magnetrezeptorstrukturen im Taubenschnabel [18] sind Endigungen eines speziellen Astes des N. trigeminus [42]. Eine Verifizierung ihrer tatsächlichen Bedeutung als Sensoren des Erdmagnetfeldes könnte mit Hilfe elektrophysiologischer Ableitungen in der Schnabelhaut - von den peripheren Terminalen selbst -, an den ableitenden Nerven oder/und der ersten afferenten Repräsentation im Zentralnervensystem (Trigeminuskern als Eingangsstation im Stammhirn) erfolgen. Für zukünftige elektrophysiologische Arbeiten über den Magnetsinn der Brieftaube scheint die Analyse der im Nerv kodierten Magnetfeldinformationen am ehesten - sei es an den afferenten Nerven oder auch nach Erregungsumschaltung auf das erste Folgeneuron - im Eingangskern des Stammhirns (Trigeminuskerne) möglich zu sein. Wir erwarten auch für die Magnetrezeptoren eine getrennte somatosensorische Repräsentation, die sich klar von den übrigen Sinnesmodalitäten unterscheidet – nicht nur im Eingangskern sondern eventuell auch in den höheren Zentren quasi als magnetosensorische Bahn. Spätestens im Zwischenhirn sollte auch das neuronale Äquivalent zu den multimodalen Eingängen bei der Orientierung sichtbar werden.
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Abb. 1. Magnetfeldrezeptor der Brieftaube
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Mechanical stress as the main factor in skull design of the fossil reptile Proterosuchus (Archosauria) Torsten Rossmann, Ulrich Witzel, Holger Preuschoft (TR) Biotechnik-Zentrum, Technische Universität Darmstadt (UW)Fakultät für Maschinenbau, Ruhr-Universität Bochum (HP) Institut für Anatomie, Ruhr-Universität Bochum
Abstract Biomechanical methods reveal construction principles in natural structures. To understand the process of shaping in the skeleton of vertebrates we assume that mechanical constraints are one of the most important factors. We begin by testing this hypothesis with simple models, which are analyzed using the Finite-ElementMethod (FEM) with only minor basic rules for support and force initiation. The aim of this study of the crocodile-like fossil Proterosuchus is to obtain a simplified model, which is, in shape and internal structure, as close as possible to the natural counterpart. Our results of the virtual 2D- and 3D-model allow us to predict the origin of natural structures. This leads to a possible reconstruction of the soft tissues in the skull of Proterosuchus.
1. Introduction Non-invasive techniques such as computer tomography scans become more and more popular to investigate the structure of fossil and recent vertebrates [1, 2]. Based on these studies analyses with engineering methods are made on hard and soft tissues to visualize varying fields of mechanical stress and strain. Mostly applied in this context is the Finite-ElementMethod (FEM), classically used by engineers to optimize industrial products and industrial processes [3, 4]. Nearly all studies using these techniques analysed and simulated mechanical stress and their stress vectors on natural and pre-existing structures [5, 6]. Usually, the given shape of FEM modelled skeletal elements is interpreted in relation to applied forces [7]. Our approach was to test the opposite way. We simulated the effect of forces by support, biting and muscle contraction on a two-dimensional and
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three-dimensional homogeneous and solid design space, which is affected by the conditions supposed to be in the skull of Proterosuchus. Using FEM we have got various developing stages, which show the progression from an easily structured element up to a complex three-dimensional one, which is very similar in comparison to the real fossil skull. Our models and their interpretation confirms the assumption, the development of skull shape followed the necessity to sustain mechanical stress [8, 9].
2. Methods 2.1. Engineering biology Our first approach is made by simple application of well-established knowledge of engineering mechanics to biological structures, in this case the skull with the result of estimation of bite and muscle forces, bending moments and torque. In those parts of the skull of Proterosuchus presumably not covered by muscles or connective tissue, the strength of the skull depends exclusively on the distribution of bone material. We started from the assumption that bone can be treated like a homogeneous material possessing the same strength and elastic properties at all places [10, 11]. Biting by living vertebrates is done regularly on parts of the tooth-row alone, or on the tip of the beak. In spite of this, the loads on our models are applied simultaneously along the entire tooth row, in the direction of the tooth roots. Experience has shown that the application of simultaneously acting bite forces does not change the pattern of stress flows in principle, but rather yields a more complete information. The assumed direction of bite forces along the tooth roots admittedly is hypothetical (Fig. 1c), based on the anchoring of the teeth to the jaws, but in agreement with available empirical data [10, 11]. Our model is based on the hypothesis of an efficient functionality of all biting structures. In a first step we only concerned effects on hard tissues (bone) supposing the efficiency-principle in nature which should show an maximum effort of stiffing structure under a process of weight-reducing loss of unloaded material (Wolff’s law, [8]).
2.2. Material Basis of our calculations was the complete skull of Proterosuchus fergusi in the collection of the Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Historische Geologie, Munich (No. 1934-VIII-514) and the published reconstructions of the Proterosuchus skull in general [10, 14].
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Fig. 1. Skull of Proterosuchus fergusi. a, BSPHG 1934-VIII-514; scale equals 5cm. b, Reconstruction of the antorbital region (after Welman [14]). c, Reconstruction of force flow. Thickness of arrows indicates amount of forces. ao, antorbital opening; Bm, bite forces of the maxillary; Bpm, bite forces of the premaxilla; G, weight; J, bearing force at the quadrate; K, sustaining force for the head; m, maxillary; M, muscle forces: Mpa, M. pterygoideus anterior; Mps, M. pseudotemporalis et externus; Mpp, M. pterygoideus posterior; n, narial opening; pm, premaxillary; S, bearing force at the occipital condyle
2.3. FEM For our analytical and synthetical study we used the Finite-ElementMethod (FEM). Instead to speak only about an analysis we tried to use FEM in a synthetical way and therefore did not use the common expression FEA (Finite-Element-Analysis, [5-7]). As a control of deductions, or as confirmation of details, the three-dimensional FEM program ANSYS
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5.5.3 has been used. The program yielded the decisive information about the distribution of those stresses, which are acting on a vertebrate skull in biting.
2.4. Design space We investigated the flow of forces within a solid block of homogeneous substance, which is exposed to ‘bite forces’ that are balanced by supports similar to the origin of the mandibular adductor muscles. We generated a form, which can be (and has been) compared with the actual shape of vertebrate skulls. Our generated form comprises not only the compressionand deformation-resistant skeletal, but also the tension-creating or tensionsustaining soft parts. The skeletal structure so created reflects the functional necessities to be fulfilled by the skull, and is very similar to the shape of the real skull.
2.5. ‘Evolutionary’ procedure With only a few a-priori-conditions (existence of two orbits), and the position and shape of the dental arcade as the independent variable, we have computed the stress flow within an otherwised unstructured ‘volume’ representing the entire skull in reptiles. If the general form of the skull, which is its ratio between length, height and width, is given, the stress flow depends first on the shape and form of the tooth row, second on its position in relation to the braincase, and third from the size of the braincase. Length, height and width defined in our analysis the dimensions of the ‘mantle volume’ or three-dimensional envelop around the volume provided for the stress flow. Essential for our approach was proceeding in a series of steps. The shaping of each consecutive model for each step depended upon the result of the former. The models, for which we investigated the distribution of internal forces, are simple solid bodies, which were given the shape characteristics of a complete skull of Proterosuchus. In later stages, we changed the models according to force patterns, which were found by calculation. Finite elements subject to only low forces were eliminated, and a new model without these elements was constructed. This new model showed somewhat different patterns of force distribution, which may require further reshaping. The whole process is comparable to the ontogenetic growth process, which deposits bone only at places where stresses are present, and resorbs bone, where the stresses are below a threshold [12].
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3. Description Most authors interpreted Proterosuchus as an amphibious and a carnivorous reptile [13, 14], which reached approximately three meters in length. Its remains are known from many completely preserved skeletons and isolated skulls found in Lower Triassic sediments of South Africa [15] and China [16] (Fig. 1a). Taxonomically, Proterosuchus belongs to a family of its own - Proterosuchidae - one of the oldest known members of the archosaurs [17]. The morphology of the skull and the postcranial skeleton of Proterosuchus resembles extant long-snouted crocodilians in general. We tested the physical constraints for the skull construction of Proterosuchus in comparison with the described postulations on its biology. In one point Proterosuchus clearly differs from any recent known crocodilian: its downward sloping tip of the snout (Fig. 1). This characteristic is also found in other extinct reptiles: the „stem reptile” Labidosaurus [18], the strange diapsid Clarazia [19], many rhynchosaurs like Mesosuchus [20], almost any phytosaurs [21] and some fossil crocodilians [22] (some pholidosaurids, the teleosaur Steneosaurus megarhinus, the sebecosuchian Bretesuchus, a new gavialid). Additionally, we can see this feature in minor expression in the living gar (Lepisosteus, Atractosteus) as well as in some pathologic individuals from kept crocodiles. Most of the former are vertebrates with greatly elongated snouts. Hypotheses on the function of this enigmatic structure based on speculations of the feeding behaviour seen in the living gar, which grips its prey in a typical side stroke mainly with the tip of its snout [23]. Our approach was to find out which kind of load on the skull of Proterosuchus could be simulated in relation to an efficient functionality of all biting structures especially the hanging tip of the snout (Fig. 1c). Secondly, we used our technical experience to generate a model of the Proterosuchus skull. Aim was to get structural results for interpreting what this kind of construction could do (options) and – even more important – what it can not do (limitation). We simulated load on a two-dimensional and a three-dimensional model each as a solid and homogeneous design area respectively space, which abstract the Proterosuchus skull. In the post-processing operation of this method we obtained the general information about the stress distribution in the total plane or volume with the possibility of an optional utilization.
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Fig. 2. Results of the 2-D calculation on a design area with FEM. a, First result after loading the “alveolar” row. b, A gap occurs between “maxilla” and “premaxilla”. The large region above left shows the tendency to get a convex dorsal outline. c, Vector plot. d, Final step with “nasal” aperture, as well as an adapted gap and new outline. ↔ means tensile stress; >−< means compressive stress
2-D-Model As a result of our calculations a loaded working model of the most anterior snout in front of an antorbital fenestration shows that the region of the “premaxilla” is bent upward against the “maxilla” (Fig. 2a). A gap occurs between “maxilla” and “premaxilla”, where a region of enormous tensile stresses is located (Fig. 2b). Shape and orientation of the gap are changed in subsequent steps (Fig. 2c,d). Our postulated tension chord for stress compensation generates a dorsal part loaded by compressive strain, that means a structure with a tendency to form a “nasal” aperture (Fig. 2b,d).
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Especially the vector plot (Fig. 2c) with an adapted curved gap localizes this breaking-through. The final result of this model in two-dimensional calculation is shown in Fig. 2d representing the evolution of the “nasal” aperture, the “premaxilla-maxilla”-gap and the modified surrounding of the “preorbital” region. The dorsal part of the “premaxilla” changes from the rectangular enveloping line of the 2-D model to a convex silhouette.
3-D-Model In the 3-D model (Fig. 3) the loaded “alveolar row” generates a compressive strain distribution, which we analyzed in 50 cross sections (Fig. 4a,b). To compensate the bending moments and the tensile forces on the ventral side of the skull model, we used as a given value muscle forces exerted by adductors (Fig. 1c). Additionally, tension chords with considerable amounts of collageneous fibre material between the premaxilla and the maxilla are assumed for Proterosuchus by analogy to the situation in the recent gar and long-snouted crocodiles like Gavialis. The cross section in Fig. 3c represents the area of the mandibular joints on the quadrates as the two most posterior bearing points. A third bearing position is localized in the central “condyle”, which extends forward into the “basioccipital” (cross section in Fig. 3d). Also visible is the tendency to build a canal between both dorsolateral sides, which could be interpreted as the auditory canals and the upper temporal openings. Fig. 3e shows a large central cavity, the “braincase”, including the development of the “basisphenoid”. Two remarkable lines with high compressive stresses occur on the dorsolateral sides of the “skull” table and require stiffened structures like bony thickenings or short crests. The cross-section in Fig. 3f gives the insight into the lateral fenestration as well as in the two massive pillars below (“quadratojugals” and “jugals”), whose support the construction. Additionally, a cavity develops ventromedially, which extends far anteriorly as a canal or as an “interpalatinal fenestra” respectively. Fig. 3g and Fig. 3h are examples for the structure of the snout with the “alveolar” rows, the central canal, the steep lateral walls and the “interpalatinal fenestra”. After removing all finite elements loaded by less than a threshold value we assembled each cross section virtually and in reality, which could be seen in the design of an artificial skull (Fig. 4). The typical skull design occurs with a snout converges anteriorly and with steep lateral walls. A broad preorbital base as well as high and steep lateral walls in front of the orbits may be one option to prevent critical bending moments [24, 25], especially for long-snouted constructions. The large stress – free volume of lateral and medial cavities in the posterior part of the skull model leads to a lightweight construction.
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Fig. 3. Results of the 3-D calculation on a design space with FEM. a, Starting block. b, Design space with adapted shape. Remark the typical snout form, which prevents critical bending moments in the preorbital region. c-h, Cross-sections of b from c to h in anterior direction. c, Mandibular bearing position. d, Region of the third bearing position (centre) with canals (e.g. “auditory” canal) and dorsolateral openings (“upper temporal fenestra”). e, Postorbital region with large central cavity (“braincase”). f, Region of large lateral fenestrations, ventromedial cavity (canal and “interpalatinal fenestra”) and ventrolateral pillars (“jugal”). g,h, Posterior (g) and anterior (h) region of the snout with steep lateral walls, “alveolar” row, “interpalatinal fenestra” and narrow central canal
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In our model a separation between the different lateral fenestrations such as the antorbital opening, the orbit and the lower temporal fenestra does not occur. Reason for this was the practical limit in our study to generate small structures such as thin shells and bars. In addition we have to consider supplementary forces for their development. Finally, we achieved with only minor force conditions a structural configuration and a “skull” shape in general, which is remarkably similar to the skull of Proterosuchus (Fig. 1, 4). Supplementary information of calculations in other reptiles and primates, from which we also have taken the proportions of the dental arcade and the general outline of the investigated skull model [26, 27], supports our results.
Fig. 4. The generated artificial skull of Proterosuchus. a,b, Virtual design as a result of 50 cross sections, c,d, Skull model in reality. a,c in dorsolateral view and b,d in posterolateral view
4. Discussion The FEM calculations offer the tool to understand the evolution of the fossil skulls with regard to mechanical strain. The most important presupposition is the designing of correct and simple models on the base of solid and homogeneous design spaces.
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Magnitude application and direction of acting forces allow well-founded hypotheses about distribution and mechanical characteristics of hard and soft structures in the skull of Proterosuchus (Fig. 1c). Its necessary bite forces are generated by strong adductor muscles, which could be reconstructed in an arrangement similar to crocodilians. Most of the muscle mass is located in the posterior part of the skull. The stress-induced muscle forces are compensated by the interaction of the bony structure of the skull and the supporting forces of the bearing points. In front of the orbits the M. pterygoideus anterior reached far anteriorly. In a constructional point of view it functions as an active part of the tension chord system. Such a system has to be postulated to stabilize long-snouted forms especially with a hanging tip. In addition passive parts with a large amount of collageneous fibres may be integrated into the tension chord system [27]. The models allowed us to speculate on the maximum load of the premaxilla-maxilla region due to its functional options. The construction of the antorbital region in Proterosuchus allowed bending movements in a sagittal and frontal plane to a lesser degree. Such a movability of the antorbital region, stabilized by the tendon chord system, would increase the option to grip large and heavy prey with the snout tip without damaging the long-snouted construction by struggling and weight, because of reduction of the bending moments to less than the critical point. Because of inducing high resistant forces in water [28], it seems improbably that Proterosuchus used its high snout by catching prey in a side stroke as seen in Lepisosteus. Three biological options result from the constructional constraints: 1. Proterosuchus makes a side stroke by turning its head that the small dorsal side faces outwards to minimize resistant forces. 2. Proterosuchus feeds mainly terrestrial with gripping its prey in a longitudinal stroke. 3. As real animals do, it used all options to catch prey, maybe in a combination of the former. Regarding the controversy about the construction of the skull of Allosaurus [7, 29, 30] and its mechanical and biological options, the best way could be to design a skull. A study starting with a solid design space exposed to postulated forces and stresses arrive at a virtual model similar to the real skull of Allosaurus.
Acknowledgements We wish to thank P. Wellnhofer and H. Mayr for allowing us to study the Munich specimen and J. Welman for valuable information on Proterosuchus, and P. Andermann (TUD) for critically reading the manuscript.
Mechanical stress as the main factor in skull design
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Biodynamische Modellierung des Menschen – Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden auf das biologische System Mensch Sebastian Rützel, Horst Peter Wölfel Fachgebiet Maschinendynamik, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Das Ziel biodynamischer Modelle ist die Simulation des menschlichen Schwingungsverhaltens. Die experimentellen und numerischen Menschmodelle liefern mechanische Größen, die die Grundlage für die Beurteilung von Ganzkörperschwingungen und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Komfortempfinden des Menschen darstellen. Es werden zwei Ansätze, der phänomenologische und der anatomiebasierte, vorgestellt. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Verwendungszwecke werden anhand eines Hardware-Schwingungsdummys und eines Software-Dummys, einem dynamischen Finite-Elemente-Modell, veranschaulicht.
Abstract The goal of biodynamic models is to simulate the vibration response of the human body. The experimental and numeric human models supply mechanical quantities which serve as the starting points for the evaluation of whole body vibrations and their effects on the health and comfort sensations of humans. Two approaches are introduced: the phenomenological and the anatomical approach. The various procedures and intended purposes are illustrated with a hardware vibration dummy and a software dummy, a dynamic finite element model.
1. Strukturdynamik – was ist das? Die Strukturdynamik befasst sich mit dem Schwingungsverhalten von Strukturen. Unter Strukturen werden in einem technischen Kontext Maschinen oder Bauwerke verstanden. In aller Regel ist man bemüht, Schwingungen zu vermeiden oder wenigstens zu vermindern. Wenn es nicht möglich ist, auf die Quellen der Schwingungserregung, wie z.B. ein
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Sebastian Rützel, Horst Peter Wölfel
Erdbeben, Einfluss zu nehmen, ist die Struktur optimal gegen Schwingungen auszulegen.
2. Schwingungen in der Natur – Ansätze für die Bionik Ausgangspunkt ist die Analyse der Schwingungsoptimierung von biologischen Systemen. Ein gutes Beispiel ist der Specht: Beobachtungen zeigen, dass ein Specht ca. 600 Klopfserien pro Tag, was ca. 6000 Stößen am Tag entspricht, durchführt. Dabei erfährt der Schnabel eine Aufschlaggeschwindigkeit von 6 m/s und eine Aufschlagverzögerung von 1000 g [1]. Es stellt sich die Frage: Wie hält der Specht, besser gesagt das Gehirn, diese großen Belastungen aus? Hat die Natur hier eine Optimierung des Schwingungsverhaltens vorgesehen? Wenn ja, wie funktioniert sie? Interessant ist also: Lässt sich die von der Natur gefundene Optimierung auf technische Systeme übertragen?
3. Biodynamik – Schwingungsverhalten des Menschen Der Mensch ist im Alltag einer Vielzahl von Schwingungen ausgesetzt. Doch ist der Mensch auf die unterschiedlichen Expositionen ausgelegt? Gesundheitsschäden durch Schwingungseinwirkung, speziell im Bereich der Lendenwirbelsäule, die besonders häufig bei Fahrern von Nutzfahrzeugen und Arbeitsmaschinen auftreten, deuten darauf hin, dass der Mensch nicht über eine Optimierung verfügt. Allerdings muss hier sehr genau zwischen selbsterzeugter und fremderzeugter Schwingungseinwirkung differenziert werden. Untersuchungen von Nigg et al. [2] zeigen, dass der Mensch recht gut für selbsterzeugte Ganzkörperschwingungen (GKS) ausgelegt ist (Abb. 1). Sehr hohe Beschleunigungen, die beim Laufen und Gehen im Schienbein auftreten, werden auf dem Übertragungsweg zum Kopf erheblich minimiert. Wirken fremderzeugte Schwingungen vom Fahrzeug auf den sitzenden Menschen ein, ist schon eine Beschleunigung von 5 m/s2 über mehrere Jahre gesundheitsgefährdend. Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Folge von Ganzkörperschwingungen am Arbeitsplatz sind seit 1995 als Berufskrankheit (2110 BeKV) anerkannt. Hieraus ergibt sich ein Erkenntnisbedarf über den Zusammenhang zwischen Schwingungseinwirkung und Schädigung. Ziel der Untersuchungen muss die Entwicklung geeigneter Schutzmaßnahmen, d.h. die Auslegung schwingungsoptimierter Fahrer-Arbeitsplätze, sein. Für den PKW-Bereich spielt der Gesundheitsaspekt wegen der geringeren Schwingungseinwirkung keine entscheidende Rolle.
Biodynamische Modellierung des Menschen
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Abb. 1. Selbst- und fremderzeugte Ganzkörperschwingungen nach [2]
Hier ist der Zusammenhang zwischen Schwingungseinwirkung und Komfort von Interesse. Neben Untersuchungen am Menschen und deren statistischen Auswertung sind biodynamische Modelle des Menschen ein zentrales Instrument zur Erforschung des menschlichen Schwingungsverhaltens. 3.1. Modellierung des Menschen – aber wie? Bei der Modellierung des Menschen ergibt sich eine Vielzahl von Herausforderungen, da der Mensch eine komplexe Struktur darstellt. − Zum Menschen existieren keine Baupläne oder CAD-Daten. Wie kann die Geometrie ermittelt werden? − Welche Materialgesetze beschreiben das Verhalten der einzelnen Komponenten? Wie ändert sich das Verhalten bei dynamischer Belastung? Wie lassen sich Parameter für die entsprechenden Gesetze bestimmen? − Wie kann das Verhalten von Muskeln, die als aktive Elemente das Schwingungsverhalten beeinflussen, in einem Modell umgesetzt werden? − Wie lassen sich experimentelle Größen am lebenden Menschen (in vivo), evtl. im Inneren des Menschen, ermitteln? − Wie kann die individuelle Variabilität des Menschen abgebildet werden?
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3.2. Biodynamische Modelle des Menschen Bezüglich der Modellierung müssen zwei Ansätze unterschieden werden: der phänomenologische und der anatomiebasierte Ansatz. Der phänomenologische Ansatz verfolgt das Ziel, ein oder mehrere Charakteristika des menschlichen Schwingungsverhaltens wieder zu geben. Solche Charakteristika können z.B. auf Beobachtungen beruhen, bei denen der Mensch Reaktionen auf Schwingungsanregungen in einem speziellen Frequenzbereich zeigt. Dupuis et al. [3] haben Beschwerdesymptome einzelner Organe für bestimmte Erregerfrequenzen zusammen getragen. Tabelle 1. Beschwerdesymptome einzelner Organe nach [3] Frequenzen [Hz]
Beschwerdesymptome einzelner Organe
<0,5
Kinetosie (Übelkeit)
4-9
Atembeschwerden, allgemeines Unbehagen
4-10
Unterleibschmerzen
5-7
Schmerzen im Brustkorb
6-8
Unterkieferresonanz
8-12
Rückenschmerzen
10-18
Harn- und Stuhldrang
12-16
Rachen- und Kehlkopfstörungen
13-20
Kopfschmerzen, Sprech- und Sehstörungen, erhöhte Muskelspannung
Versuche zur Modellierung einzelner Körperpartien in Form von MasseFeder-Dämpfer-Systemen, die die einzelnen in der Tabelle aufgelisteten Charakteristika treffen sollen, wurden vielfach unternommen. Abb. 2 zeigt ein aus Einzelkomponenten zusammen gesetztes Modell. Die Schwierigkeit solcher Modelle ist leicht ersichtlich: Das „Gesamtsystem Mensch“ ist komplexer als die Summe der einzelnen Teilsysteme des Menschen. Somit scheidet dieser Weg für die Simulation von Ganzkörperschwingungen aus. Ein sinnvoller Ansatz für phänomenologische Modelle ist die Verwendung von charakteristischen Messgrößen, die das globale Schwingungsverhalten beschreiben. Abb. 3 zeigt einen Ablaufplan für die Erstellung phänomenologischer Modelle.
Biodynamische Modellierung des Menschen
Abb. 2. Phänomenologisches Modell auf Basis von Teilsystemen [4]
Abb. 3. Vorgehen für phänomenologische Modelle
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Probanden werden einer spezifischen Anregung ausgesetzt. Messtechnisch wird die Eingangsimpedanz, definiert als der Quotient vom komplexer Kraft und komplexer Geschwindigkeit am Gesäß [5], I (Ω ) =
FG (Ω )
Q& G (Ω )
=
Kraft am Gesäß Geschwindigkeit
(1)
gemäß Abb. 4 ermittelt. Ebenso ist die Kopfübertragungsfunktion bestimmbar, die wie folgt definiert ist: h KG (Ω ) =
Q K (Ω ) Q G (Ω )
=
Verschiebung Kopf Verschiebung Gesäß
Abb. 4. Messung der Eingangsimpedanz und Kopfübertragungsfunktion
(2)
qqKK
qqGG fG Eingangsdaten für eine System- und eine anschließende Parameteridentifikation sind die gemessenen Größen. Die Verifikation des identifizierten Modells erfolgt über den Vergleich mit den Messergebnissen. Entsprechend dieses Vorgehens wurden am Fachgebiet Maschinendynamik der TU Darmstadt mehrere Schwingungsdummies als HardwareModelle realisiert. Abb. 5 zeigt die Modelle MEMOSIK® I [6] und MEMOSIK® III [7].
Biodynamische Modellierung des Menschen
q 1
m 1
q 2
m2
q 3
m3
q S
m0
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q K
Abb. 5. Schwingungsdummies MEMOSIK® I [6] und III [7]
Solche Modelle sind recht einfach und übersichtlich, allerdings sind sie nicht eindeutig. Zudem beschreiben sie nur die vorgegebene biodynamische Charakteristik, wie z.B. die Eingangsimpedanz und / oder die Kopfübertragungsfunktion. Eine Extrapolation auf andere Größen ist generell nicht möglich. Anatomiebasierte Modelle bieten die Möglichkeit, unbekannte sowie der Messung nicht zugängliche Größen zu berechnen. Solche Größen können beispielsweise die Beanspruchungen der Lendenwirbelsäule oder die Schwingungen des Magens, in Abb. 6 eingezeichnet sein. Die Modelle selbst wurden anhand von bekannten messbaren Größen validiert. Die Modellgeometrie wird aus der Anatomie abgeleitet, die Modellparameter werden aus physiologischen Messergebnissen identifiziert.
Abb. 6. Ansatz für anatomiebasierte Modelle
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3.2.1. Das numerische Ganzkörpermodell CASIMIR Das Menschmodell CASIMIR ist ein dynamisches dreidimensionales Finite-Elemente-Modell mit ca. 20.000 Freiheitsgraden [6]. Das Grundmodell basiert auf der Anthropometrie eines 50%-Manns, d.h. eine fiktive männliche Versuchsperson, die von Gewicht und Größe genau in der Mitte der männlichen Bevölkerung liegt, wird als Modell abgebildet. Die Haltung wird als aufrecht sitzend definiert. Als Rechenverfahren ist die Berechnung im Zeitbereich sowie im Frequenzbereich, linearisiert um einen Arbeitspunkt, möglich. Kernstück des Menschmodells CASIMIR ist die detaillierte Abbildung der Rücken- und Bauchmuskulatur sowie der Lendenwirbelsäule, wie Abb. 7 verdeutlicht.
Abb. 7. Aufbau des numerischen Ganzkörpermodells CASIMIR
Die beiden Hauptbestandteile der Wirbelsäule sind die Wirbelkörper und die Bandscheiben (siehe Abb. 8). Erstere bestehen aus kompaktem Knochenmaterial, das den inneren spongiösen Knochen röhrenförmig umgibt. Die Spongiosa ist trabekelartig aufgebaut und weist anisotropes Materialverhalten auf. Die äußere Schicht der Bandscheibe, der Annulus, wird von Kollagenfasern durchzogen und kann als anisotropes Material beschrieben werden. Der im Inneren liegende Nucleus kann als Festkörper mit hyperelastischem, also nichtlinearem Materialverhalten oder als nahezu inkompressibles Fluid modelliert werden. Wirbelkörper und Bandscheibe werden durch eine knorpelige Endplatte getrennt. Bei den Wirbelfortsätzen (posteriore Elemente) handelt sich um ein Mischmaterial aus Kompakta und Spongiosa. Unter mechanischer Betrachtung sind Muskeln aktive Elemente, d.h. die Kraft im Muskel hängt von Steuerungsgrößen ab, die entweder vom Menschen bewusst oder als Reflex, also unbewusst ausgelöst werden.
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Abb. 8. Aufbau der unteren Lendenwirbelsäule und deren modelltechnische Umsetzung
Mit Hilfe der Elektromyographie (EMG) lassen sich auf der Haut elektrische Spannungen messen, die Rückschlüsse auf die Aktivität von oberflächennahen Muskeln zulassen. Eine Aufteilung der EMG-Aktivität auf einzelne Muskeln ist im Allgemeinen schwierig. Für die Simulation von Ganzkörperschwingungen wird ein semiaktives Muskelmodell eingesetzt, das eine konstante Aktivierung der Rücken- und Bauchmuskulatur entsprechend der Haltung verwendet. Es wird davon ausgegangen, dass die Muskelaktivierung nicht auf die Schwingungsanregung reagiert. Die Muskulatur im Rücken- und Bauchbereich wird als neun fächerartig verlaufende Muskelpaare mit 102 Muskelsträngen abgebildet. Für realitätsnahe Berechnungsergebnisse ist eine Individualisierung von CASIMIR notwendig. Hier ist eine Anpassung an verschiedene Perzentile denkbar, aber letztlich sollen durch das FE-Modell Aussagen für das Individuum möglich sein. Unter dem Blickwinkel von Ganzkörperschwingungen wurden folgende Parameter als maßgebliche anthropometrische Maße identifiziert [10], [11]: Körperhöhe, Sitzhöhe, Brustkorbtiefe, Taillenumfang, Brustkorbbreite, Beckenbreite und Körpermasse.
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Abb. 9. Schematische Darstellung der Rückenmuskulatur [9] und deren modelltechnische Umsetzung
Neben der Anthropometrie erfährt auch die Haltung eine Variation, da v.a. in Arbeitsmaschinen nicht von einer aufrechten Haltung auszugehen ist. Die Beschreibung der Haltung erfolgt über die Definition von sieben Gelenkwinkeln, wie Abb. 10 verdeutlicht.
Abb. 10. Individualisierung der Anthropometrie, Variation der Haltung
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Abb. 11. Mit dem Menschmodell berechenbare Größen
Welche mechanischen Größen lassen sich nun mit der numerischen Simulation ermitteln? Die Auflistung benennt die in Abb. 11 schematisch eingezeichneten Berechnungsgrößen. − Bewegungen der einzelnen Körperteile (Verschiebungen, Beschleunigungen) (durchgezogen, dunkel) − Kräfte zwischen den Körperteilen, Muskelkräfte (gepunktet) − Kontaktkräfte Gesäß-Sitz, Rücken-Lehne, Eingangsimpedanz, Übertragungsfunktionen (gestrichelt) − Beanspruchungen der Lendenwirbelsäule (durchgezogen, hell) Gegenwärtig ist das Menschmodell CASIMIR an Ganzkörperschwingungen und Teilsystemen validiert. Obwohl damit ein zufrieden stellender Stand erreicht ist, bleibt noch ein weiter Weg zum Ziel: die hinreichend genaue numerische Simulation der Bewegungen und Beanspruchungen sowie die Analyse der Auswirkungen auf Gesundheit und Komfort eines Individuums unter Schwingungseinwirkung! Für weitere Verbesserungen hinsichtlich der Modellierung sind experimentelle Untersuchungen an Probanden notwendig, um speziell das Schwingungsverhalten bei horizontalen Erregungsrichtungen und den Einfluss der Muskelaktivität im niederfrequenten Bereich zu bestimmen. Aus Versuchen an Segmenten der Lendenwirbelsäule werden detaillierte Erkenntnisse über Dehnungen und Spannungen erwartet, die Rückschlüsse über die Beanspruchbarkeit zulassen, um so mögliche Schadensverläufe nachvollziehen oder prognostizieren lassen. Außerdem ist eine realitätsnähere Abbildung der Schnittstelle zwischen Mensch und Sitz wünschenswert. Dies bedeutet eine Detaillierung im Bereich von Gesäß und Rücken. Als Verifikationsgröße liegen statische Sitzdruckverteilungen vor [12]. Dynamische Sitzdruckverteilungen decken bislang erst einen recht eingeschränkten Frequenzbereich ab.
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3.2.2. Das Hardware-Schwingungsdummy MEMOSIK® Das Ziel von Schwingungsdummies ist der Ersatz des Menschen als Versuchsperson durch ein „mechanisches Gerät“, das die gleichen Schwingungseigenschaften aufweist. Ein solches Ersatzsystem ist von Vorteil, da zum einen Sitzprüfungen mit Probanden aufwendig sind und zum anderen Komfortbewertungen durch Testfahrer subjektiv und nur bedingt reproduzierbar sind. Schwingungsdummies sollen zur Bestimmung von Kenngrößen zur objektiven und reproduzierbaren Bewertung der Schwingungseinwirkung und des Schwingungskomforts verwendbar sein. Außerdem kann mit ihnen eine realitätsnahe Belastung bei Dauerfestigkeitsprüfungen an Sitzen durchgeführt werden. Sie können auch zur Unterstützung von Probanden und Testfahrern eingesetzt werden. Die ersten drei Generationen des Schwingungsdummies MEMOSIK® waren als passive Strukturen ausgelegt. Die Grenzen passiver Schwingungsdummies werden bei Betrachtung der Abhängigkeit der Schwingungseigenschaften von der Anthropometrie deutlich. Abb. 12 zeigt die Abhängigkeit der Eingangsimpedanz von der Körpermasse. Hier sind Betrag und Phase der Impedanz von drei (leicht m05, mittel m50, schwer m95) männlichen Perzentilgruppen dargestellt. Darüber hinaus zeigt die Eingangsimpedanz bzw. Kopfübertragungsfunktion eine Abhängigkeit vom Geschlecht, von der Intensität der Anregung und der Haltung [13]. Weitere Differenzierungen wie nach Altersklassen, ethnischen Gruppen u.a. wären denkbar und anzustreben.
Abb. 12. Eingangsimpedanz in Abhängigkeit der Masse
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Eine Lösung der skizzierten Einschränkungen ergibt sich in der Verwendung einer aktiven Struktur [14]: Durch die Einstellung der Regelparameter lässt sich das Schwingungsverhalten an beliebige Impedanzverläufe anpassen. Außerdem wird durch die Verwendung einer Struktur mit einem Freiheitsgrad eine geringere Anzahl an mechanischen Komponenten notwendig. In Abb. 13 sind der schematische Aufbau des Dummies und der realisierte Prototyp für einen mittelschweren Mann (m50) dargestellt.
Abb. 13. Aktiver Schwingungsdummy MEMOSIK® IV
Mit dem Schwingungsdummy lassen sich Sitzübertragungsfunktionen (in Abb. 14 gestrichelt) bestimmen. Das ordnungsgemäße Verhalten des Dummies zeigt die Übertragungsfunktion, die nahezu auf der vorgegebenen Zielfunktion liegt.
Abb. 14. Übertragungsfunktion m50, Sitzübertragungsfunktion
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Erweiterungen sind vornehmlich für das horizontale Schwingungsverhalten erstrebenswert, was aber zunächst messtechnische Untersuchungen an Probanden voraussetzt. Literatur [1] Becher F (1953) Untersuchungen an Spechten zur Frage der funktionellen Anpassungen an die mechanische Belastung. Z Naturforsch 8b [2] Nigg BM, Herzog W (1994) Biomechanics of the musculo-skeletal system. Wiley & Sons, Chichester, New York [3] Dupuis H, Zerlett G (1984) Beanspruchungen des Menschen durch mechanische Schwingungen. Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e.V. [4] Brüel, Kjær (1989) B&K Literatur Humanschwingungen. Nærum [5] DIN 45676 (2003) Mechanische Eingangsimpedanz und Übertragungsfunktion des menschlichen Körpers [6] Knoblauch J (1993) Entwicklung und Bau eines physikalischen Schwingungsmodells des sitzenden Menschen. Dissertation, Shaker Verlag, Aachen [7] Cullmann A, Wölfel HP (1998) Komfortbewertung und Sitzprüfung mittels des Schwingungsdummys MEMOSIK. Fachtagung Fahrzeugsitze, Haus der Technik Essen, 29./ 30. September 1998 [8] Buck B (1997) Ein Modell für das Schwingungsverhalten des sitzenden Menschen mit detaillierter Abbildung der Wirbelsäule und Muskulatur im Lendenbereich. Dissertation, Shaker Verlag, Aachen [9] Netter FH (1989) Atlas der Anatomie des Menschen, Novartis [10] Pankoke S (2003) Numerische Simulation des räumlichen Ganzkörperschwingungsverhaltens des sitzenden Menschen unter Berücksichtigung der individuellen Anthropometrie und Haltung. Dissertation, Fortschritts-Berichte, VDI-Reihe 12 Nr. 522, Düsseldorf [11] Hofmann J, Pankoke S, Wölfel HP (2003) Individualisierbares FE-Modell des sitzenden Menschen zur Berechnung der Beanspruchungen bei dynamischer Anregung – Ganzkörpermodell und Submodell LWS (Schlußbericht). Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Fb 994), Wirtschaftsverlag NW / Verlag für neue Wissenschaften GmbH, Dortmund Berlin Dresden [12] Hinz B, Gericke L, Keitel J, Menzel G, Seidel H (2002) Untersuchungen der Druckverteilungen an der Kontaktstelle Mensch – Sitz in Abhängigkeit von Sitzen, Haltungen und Körpermassen. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 56 [13] Wölfel HP, Rützel S, Pankoke S (2003) Der Einsatz von Menschmodellen zur Schwingungsoptimierung des Systems Mensch – Sitz – Fahrzeug und zur Bewertung der Schwingungseinwirkung auf den Menschen. VDI-Berichte, Nr. 1768 [14] Cullmann A (2002) Ein aktiver Schwingungsdummy des sitzenden Menschen. Dissertation, Fortschritts-Berichte, VDI-Reihe 12 Nr. 492, Düsseldorf
Neue Prüfkonzepte für Primärstabilität und Dauerfestigkeit mandibulärer Osteosynthesesysteme sowie für mathematische Modelle des Kausystems H. Schieferstein, S. Eichhorn, E. Steinhauser, R. Sader, H.-F. Zeilhofer Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (HS, SE, ES) Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie, Abteilung Biomechanik (RS, HZ) Hightech-Forschungs-Zentrum
Zusammenfassung Zur Prüfung mathematischer Modelle des Kauapparates sowie der Primärstabilität und des Ermüdungsverhaltens entsprechender Osteosynthesesysteme wurden viele verschiedene Methoden publiziert. Im Gegensatz zur unteren Extremität sind wesentliche biomechanische interne Einflussgrößen des Kausystems, wie funktionelle Lasten, unzureichend erforscht und nachgewiesen. Folglich wurden bisher keine Normen zur Prüfung von Osteosynthese- und Rekonstruktionsplatten am Unterkiefer formuliert. Hier wird als Zwischenergebnis von sechs Jahren intensiver theoretischer und praktischer Forschungsarbeit ein multifunktioneller Prüfaufbau anhand relevanter klinischer Beispiele vorgestellt.
Abstract For the validation of mathematical models of the masticatory system on one hand, and tests regarding the primary stability and fatigue behaviour of osteosyntheses on the other hand, many methods have been published. In contrast to the lower extremity, relevant internal biomechanical parameters, functional loads e.g., have been investigated on insufficiently and not at all proven for the masticatory system. Therefore, there are no proposals for test standards for mandibular osteosynthesis and reconstruction plates until now. As a interim result of six years of intensive theoretical and practical research, this paper presents a multifunctional test bed accompanied by relevant clinical examples.
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H. Schieferstein, S. Eichhorn, E. Steinhauser, R. Sader, H.-F. Zeilhofer
1. Einleitung Der Anteil der Unterkieferfrakturen an Gesichtsschädelverletzungen liegt bei ca. 65 % bis 70 %, die Mandibula ist in etwa der Hälfte der Fälle isoliert betroffen. Häufigste Ursachen sind Verkehrsunfälle und Gewaltdelikte. Es folgen Stürze und Sportunfälle, wobei Fahrradunfälle eine deutlich steigende Tendenz zeigen [12, 38]. Die erfolgreiche operative Versorgung dieser Frakturen erfordert eine exakte anatomische Reposition der Knochenfragmente, deren funktionsstabile Fixierung unter Erhaltung der Blutzirkulation sowie die Möglichkeit der frühzeitigen aktiven Mobilisierung zur Verminderung funktioneller Einschränkungen. In den letzten Jahren hat sich in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie die Verwendung von Osteosyntheseplatten und -schrauben aus Reintitan durchgesetzt. Ferner finden bioresorbierbare Materialien Einsatz, daneben steht die Einführung neuer Systeme aus Formgedächtnislegierungen bevor. Überprüfung und Optimierung bestehender und neuer Verfahren erfordern gründliche biomechanische, theoretische wie experimentelle, Untersuchungen. Die bis heute verwendeten biomechanischen Experimentalmodelle mussten dazu grundlegend überarbeitet und konsequent weiterentwickelt werden. Dagegen findet im Bereich der unteren Extremität künstlicher Gelenkersatz seit einem halben Jahrhundert Einsatz, demzufolge sind hier Forschungen und Erkenntnisse bezüglich der Implantatbelastungen weit entwickelt. Dauerfestigkeitsnachweise und andere Bauteilprüfungen sind weitestgehend standardisiert (DIN/ISO-Normen). Im Bereich der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie liegen solche Standards nicht vor. Ziel dieses Projektes war es, ein experimentelles Werkzeug zu schaffen, das die Definition charakteristischer Belastungssituationen und die Verifikation mathematischer Modelle ermöglicht. Für eine zeitgemäße Produktentwicklung sind neben Simulationen zusätzlich entwicklungsbegleitende Bauteilprüfungen von zentraler Bedeutung.
2. Stand der Technik In den letzten fünf bis zehn Dekaden wurden Anstrengungen unternommen, Implantate für das Kausystem zu entwickeln und zu verbessern. Eine Vielzahl verschiedener experimenteller Aufbauten und mathematischer Modelle wurden publiziert. Diese Ansätze unterscheiden sich im Versuchsaufbau, greifen auf verschiedene biologische oder technische Substrate zu, wodurch sie sich von den Gegebenheiten in situ in einzelnen Aspekten stark entfernen. Besonders die Geometrie des "Knochens" und die
Neue Prüfkonzepte mandibulärer Osteosynthesesysteme
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mit davon abhängende Belastung und Beanspruchung stellt die mechanische Vergleichbarkeit in Frage. Die Identifikation der mechanischen Unterkieferbelastung bei speziellen Kau- oder Sprechbewegungen und damit die Definition sinnvoller Lastkollektive für entwicklungsbegleitende Bauteilprüfungen aus Messungen in vivo war bisher im Gegensatz zur Lokalisation Hüftgelenk [4] nicht durchführbar: Die Bewegungen der unteren Extremität sind eingehend erforscht mittels Bewegungsanalyse und Bodenreaktionskraftmessung, die Anzahl der beim Setzen, Aufstehen, Gehen, sogar Stolpern auftretenden Einzelbewegungen sind statistisch erfasst. Die entsprechenden Modelle (Mehr-Körper-Simulation) lassen Rückschlüsse auf die Belastungen im Bein bzw. auf Knochen und Gelenke zu. Der Auslegung und realitätsnahen Prüfung (für Hüftgelenktotalersatz beispielsweise DIN ISO 7206 ff.) stehen somit adäquate Parameter zur Verfügung. Mathematische Modelle des Kausystems [3, 11, 13, 16, 19-22, 39] stehen teils in Einklang und teils im Widerspruch zu klinischen Beobachtungen. So müssen Betrag und Richtung angreifender Muskelkräfte sowie Gelenkreaktionskräfte immer angenommen werden. Die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Muskelanteile und das Weglassen verändern folglich die Ergebnisse. Wichtige Unterschiede, wie die Anzahl der Muskeln, die zumindest zu quantitativen Abweichungen führen, sind ersichtlich. Experimentelle Untersuchungen an Versuchsaufbauten [2, 5, 14-18, 25, 36, 36, 45, 49, 50, 52-55, 57] abstrahieren je nach Fragestellungen und weichen folglich erheblich und von der Physiologie ab. Dabei werden auch stabilisierend wirkende Lasten (funktionelle Muskelkräfte, die frakturkomprimierend wirken) vernachlässigt bzw. unzulässigerweise angenommen. Physiologischere Modelle können über- bzw. unterdimensionierte Implantate und die einhergehenden Komplikationen vermeiden helfen. Experimentelle Untersuchungen am Kausystem von Probanden [8, 9, 20, 26, 30-32, 34, 37, 40-43, 56], z.B. Bisskraftmessungen, können nur mit Einschränkungen die Eingangsgrößen für Experiment und/oder Simulation liefern, da u.a. Bewegungsanalysen durch Weichteilbewegung verfälscht wird und EMG als Maß für Muskelaktivität umstritten ist. Die Zusammenführung von mathematischen und experimentellen Modellen soll dem Rechnung tragen.
3. Entwicklung eines multifunktionalen Prüfaufbaus Nach eingehender Recherche und entsprechend der Bedürfnisse aus Sonderforschungsbereich 438 (siehe Kap. 9) und Klinik wurde ein Sonder-
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prüfstand neuentwickelt. Dieser sollte eine Synthese früherer Aufbauten darstellen und zusätzliche Einsatzmöglichkeiten aufweisen: − Bauteilprüfungen sollen in realistischer Belastungskonfiguration durchgeführt werden. Die Physiologie soll, inkl. pathologischer Situationen. sowohl vereinfacht als auch komplex experimentell nachgestellt werden können. − Als topologische Grundlage soll menschlicher Knochen fungieren (Anpassen der Implantate vorkonditioniert diese!). Anm.: Kunststoffmodelle und Abgüsse erfüllen diese Funktion. − Die Primärstabilität soll statisch und das Ermüdungsverhalten dynamisch prüfbar sein. − Mathematische Modelle wie diagnostische Daten sollen als Steuergrößen bzw. Versuchsparameter anwendbar sein. − Messungen jeglicher Art sollen einerseits eine hohe Güte, andererseits einen vertretbaren Aufwand bedeuten. Am Objekt (Unterkiefer, ggf. mit Implantaten) soll rückwirkungsfrei, also kontaktfrei, gemessen werden. − Die Technik zu Messungen und Betrieb soll auch technisch weniger versierten Benutzern zugänglich sein. Der Umbau muss mit laborüblichen Werkzeugen durchführbar sein. Die Bedienung der Messgeräte und des Rechners zur Sollwertausgabe und Messwerteerfassung muss ohne Programmierkenntnisse möglich sein. 3.1. Konzept und Realisierung Antriebe: Wegen der Vorgabe möglicher Dauerversuche (z.B. 106 Lastspiele) fiel die Entscheidung auf hydraulische Antriebe, die optional kraftoder weggeregelt betrieben werden können. Gestell: Antriebe, Messtechnik und Prüfling sind durch das verwendete Baukastensystem mit geringem zeitlichem und materiellem Aufwand an die geforderte Versuchssituation anpassbar. Sensorik: Außer für die Regelungsaufgabe ist auch für die Versuchsauswertung eine Kraftmessung an jedem einzelnen Antrieb nötig. Aus praktischen und ökonomischen Gründen werden Standardkraftaufnehmer verwendet. Für spezielle hausinterne Fragestellungen und zum Vergleich eigener Versuche mit mathematischen Simulationen (die Reaktionskräfte der Kiefergelenke einbeziehend, z.B. [33]) ist eine entsprechende Messung gefordert. Handhabung, Verlässlichkeit und Robustheit entschieden für piezoelektrische Sensoren (ein Dreikomponentensensor je Kiefergelenk). Messwerteerfassung: Echtzeitrechner, oder solche die eine speziell angepasste Architektur aufweisen, sind für verhältnismäßig langsame Vor-
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gänge, wie sie in der Biomechanik vorkommen, über- bzw. fehldimensioniert. Hier wird klar differenziert zu Messaufgaben, die beispielsweise bei der Crash-Analyse von Kraftfahrzeugen oder bei Strömungsanalysen von Triebwerken anfallen. Im Sinne der Möglichkeit, Rechner und Messtechnik mit eigenen personellen und technischen Mitteln modifizieren zu können, fiel die Wahl auf einen Standard-PC und auf bewährte Hard- und Software [10, 29] zur Realisierung der Programmierung und analogdigital-Wandleraufgaben. Versuchssteuerung: Der Benutzer wählt in der Programmoberfläche lediglich die gewünschten (Kraft-Zeit-) Profile aus und gibt entsprechenden Parameter (oberer und unterer Grenzwert, Frequenz und Zyklenzahl) vor [10, 47]. Der Versuch wird mit einem Mausklick gestartet. Da die Verläufe als reine Zahlentabelle eingelesen werden, sind beliebige Kurven – also auch solche diagnostischen Ursprungs – einsetzbar.
Abb. 1. Benutzeroberfläche des Programms zur Steuerung und Messwerteerfassung [47]
Messungen am Unterkiefer: Das Objekt wird sowohl statischen oder wiederholten kraftgesteuerten Belastungen als auch Bewegungen unterzogen. Der Kiefer ist unversehrt bzw. operativ versorgt. Daraus ergibt sich die Aufgabe als Messung von kleinen Verformungen (Submillimeterbe-
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reich) bis zu Auslenkungen (Zentimeterbereich). Je nach dem, ob lokale Effekte (Veränderung eines Frakturspaltes) oder eine (Starrkörper-) Bewegung von Interesse ist, wird das Objekt dabei ganz oder teilweise verfolgt. Das Bewegungserfassungssystem arbeitet dabei ohne aktive Marker, d.h. das Objekt muss nicht mit LED o.ä. verkabelt werden, es genügen - je nach Untergrund - mit einem Folienschreiber aufgebrachte Punkte. Die Kameras sind lichtstark, dadurch entfällt der Einsatz von Scheinwerfern, der beim Einsatz sowohl von biologischem Material als auch Kunststoff aus Gründen der Wärmeentwicklung als problematisch anzusehen ist, da eine Veränderung der Werkstoffeigenschaften und damit eine Verschlechterung der Reproduzierbarkeit zu erwarten wäre.
Abb. 2. Gesamtlösung (Versuchsaufbau inklusive Bewegungserfassungssystem) [47]
Abb. 2 zeigt die Gesamtlösung: Schaltschrank mit PC für Steuerung und Messwerteerfassung (l.); Gestell mit Antrieben, Objekt und Kameras (Mitte); PC zur Auswertung der Videodaten (r.). Abb. 3 zeigt im Detail die an den (oben im Bild) angebrachten Dreikomponentenkraftsensoren angebrachten künstlichen Gelenke: diese sind in alle Richtungen stufenlos verstellbar. So wird der Einsatz verschiedenster Kunststoffmodelle bzw. Präparate ermöglicht, sowie die physiologische Freiheiten laterale Translation
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(e), transversale (d) und sagittale (f) Rotation. Ferner sind die Einstellmöglichkeiten gegeben, die durch Größenunterschiede der Prüflinge oder zum nachstellen spezieller physiologischer oder pathologischer Situationen erforderlich sind: Interkondylardistanz (a) und Interkondylarwinkel in Horizontalebene (b) und Frontalebene (c).
Abb. 3. Stufenlos verstellbares Kiefergelenk [47]
Modellbildung und Umsetzung: Mit dem Ziel der Parameteridentifikation (Kraft, Bahnen und Wege mit zeitlichen Ableitungen, Geometrie von Gelenk und Gesamtkiefer, etc.) muss das Kausystem modellhaft beschrieben werden. Zunächst muss das Modell auf eine Ebene der sowohl mathematischen als auch experimentellen Machbarkeit vereinfacht werden, wobei die Möglichkeit für spätere Erweiterung der Komplexität stets offengehalten werden muss. Also wird zunächst nur der Unterkiefer mit den wichtigsten Nachbarsystemen behandelt. Übereinstimmend mit der Mehrzahl zuvor besprochener Modelle werden bei den Experimenten folgende Vereinfachungen gemacht: Die Mundbodenmuskulatur ist bei Vorgängen, die naturgemäß die Hauptbelastungen, wie Beißen und Schließen, auf die Mandibula bringen, inaktiv [23, 41] und wird zunächst nicht im Modell umgesetzt. Als Schließer fungieren Musculi masseter und temporalis [41]. Diese greifen vertikal sehr benach-
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bart an, ihre Leistung ist unbekannt, sie werden auf einen Muskelzug reduziert. Dabei sind linker und rechter Zug über Rollen miteinander verbunden, um dem Objekt ein Auspendeln zu ermöglichen und um Zwangskräfte zu vermeiden. Abb. 4 stellt einen komplexen Versuch dar. Es sind mehrere Muskeln nachgestellt: Musculi temporalis (T), pterygoideus lateralis (PL), pterygoideus medialis (PM), masseter. Die Gelenkkräfte (G) und Zahnkräfte (Z) sind aus Darstellungsgründen schwach sichtbar. Im Versuch können nun nach Vorgaben aus der Literatur [21, 22, 28] oder aus der Klinik die einzelnen Muskeln hinsichtlich Betrag und Richtung verändert werden. Auf diese Weise können einzelne mathematische Modelle validiert werden.
Abb. 4. Prinzip eines komplexen Versuches ([51], mod.)
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3.2. Spezifische Standardisierungen und physiologische Versuchsparameter Um reproduzierbare Bedingungen zu schaffen, kommen Kunststoffmodelle zum Einsatz. Auf dem Markt werden verschiedene Modelle angeboten, die meisten bestehen aus porösem PU-Kunststoff, der ein akzeptables Modell für die Knochenstruktur im Inneren darstellt. Manche verfügen über einen etwa 1 mm dicken Überzug härteren Kunststoffs. Je nach Anwendungszweck werden die Modelle mit oder ohne Zähne ausgeliefert. Im Gegensatz zum Femur werden bis dato keine Modelle aus mehreren Komponenten angeboten, die einerseits eine natürliche Form andererseits realistische mechanische Eigenschaften aufweisen (Vgl. „composite femur", Sawbones). Der Vorteil liegt im Vorhandensein natürlicher Grobgeometrie und Oberflächenbeschaffenheit, einschließlich der auch klinisch zum Bruch führenden Sollbruchstellen, beispielsweise das Foramen mentale oder das sich stark im Querschnitt verjüngende Collum. Die Oberfläche erfordert bei der Prüfung von Osteosyntheseplatten eine plastische Anpassung. Anhand anatomischer Landmarks kann jeder Kiefer hinsichtlich „Mundöffnung" und Protrusion definiert montiert werden [47]. Anlehnend an den Großteil eingangs erwähnter mathematischer und experimenteller Untersuchungen wird die Muskulatur als eine von oben kommende, in der Mitte des Masseteransatzes ansetzende, Schlinge umgesetzt. Zur Einleitung von Kräften dienen bis zu fünf (eine je Antrieb, Umleitung nach Bedarf über kugelgelagerte korrosionsfeste Rollen) Schlingen. Die Gelenkköpfe der Modelle werden durch die nach oben ziehende Muskel- und die nach unten ziehende Zahnbelastungsschlinge in die als halbe Hohlzylinder konstruierten Gelenkpfannen gedrückt. Umlenkrollen und Kraftmessdosen sind am Gestell fixiert, können jedoch nach Bedarf verstellt werden (Abb. 5 r.u.).
4. Stabilitätsvergleich von Osteosynthesesystemen (Reintitan vs. Formgedächtnismaterial) Zur Versorgung von Frakturen des Corpus mandibulae werden bisher Osteosyntheseplatten verwendet. Diese sind aus Reintitan und werden mittels Schrauben befestigt. Alternativ kommen einerseits resorbierbare (Platten, Schrauben, etc.), oder künftig solche aus Formgedächtnismaterialien zum Einsatz. Nichtresorbierbare Implantate stellen in der Regel einen Grund zum wiederholten Eingriff (Explantation) dar. Eine Ausnahme hierbei machen Rekonstruktionsplatten zur Überbrückung eines Defektes, der nicht durch ein Transplantat ausgeglichen wird, oder spezielle Implantate
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wie neuartige Klammern aus Formgedächtnismaterial (Staples). Diese finden bisher vornehmlich im Gesichtsbereich Anwendung [27]. Das Anwendungs- und Funktionsprinzip der Staples wird an anderer Stelle beschrieben [1, 46-48], neben dem Formgedächtniseffekt ist die Superelastizität ein wichtiges Merkmal dieses Materials, da es u.U. eine Fraktur zuverlässigerer als herkömmliche Implantate komprimieren kann. Die Unterkiefer wurden mit drei verschiedenen Belastungen beaufschlagt: Backenzähne links (bezogen auf die links vorliegende Fraktur: ipsilateral), Mitte der Schneidezähne (incisal) und Backenzähne rechts (bezogen auf die links vorliegende Fraktur: contralateral). Dazu wurden die Kunststoffkiefer an der Frakturlokalisation um 20% des Querschnittes von der Zahnseite her kommend angesägt. Der Bruchverlauf wurde unter Arretierung in einem Spannwerkzeug mit minimalen Abweichungen erzeugt. Die Konditionierung der Platten erfolgte anhand von Biegeschablonen, bevor sie mittels der Implantatspezifischen Schrauben appliziert wurde. Die Dislokation wurde dreidimensional ermittelt. Dazu wurden zwei Quader bekannter Kantenlänge parallel am Objekt fixiert. Der gelenknahe Quader spannte für die Kameras des Bewegungserfassungssystems ein kartesisches Koordinatensystem auf, in welchem sich unter der Belastung der distal gelegene Quader wegen Dislokation der Fragmente zueinander verschiebt. Die Bilddaten der beiden Kameras ermöglichten die 3D-Analyse der Rotation des distalen Quaders um die Hauptachsen des proximaleren Quaders (vgl. Messung gemäß Shetty et al. [49]).
Abb. 5. Mit Miniplatten im Eckzahnbereich (Pos. 3) versorgter Unterkiefer [47]
Abb. 5 zeigt ein versorgtes Kiefermodell: links unten und rechts oben die zur 3D-Analyse erforderlichen Quader, dazwischen zwei Miniplatten,
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orthogonal dazu darunter die Fraktur. Die drei Seilschlingen zeigen die optional links, rechts oder mittig eingebrachte Zahnbelastung an. Aus den Bilddaten werden in zwei Schritten [1, 47] die Relativwinkel G, B und T (Gapping um z-Achse, Bending um y-Achse und Torsion um x-Achse) der Fragmente errechnet und daraus der Instabilitätsfaktor nach Shetty et al. [49] ermittelt.
5. Ergebnisse Die mit zwei Standardvierlochminiplatten (kurz: Platten) an Regio 3 versorgten Modelle zeigten eine höhere Stabilität als die mit zwei Staples versorgten. Daher wurden drei parallel angebrachte Staples mit zwei Platten verglichen. Die contralaterale Lasteinleitung führte zu größeren Auslenkungen der Fragmente, als dies bei ipsilateraler und incisaler Lasteinleitung der Fall war.
Abb. 6. Untersuchungen ohne (l.) und mit (r.) Einbeziehung der Musculi pterygoidei mediales [47]
Insgesamt zeigten sich bei der Rotation (T) um die Sagittalachse deutlichere Effekte als bei Rotationen um die vertikale (G) oder transversale (B) Achse. Da bereits bei geringen Prüflasten erhebliche rotatorische Auslenkungen zwischen den Fragmenten festzustellen waren, wurde der Musculus pterygoideus medialis in den Versuchsaufbau mit einbezogen. Abb. 6
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zeigt die mit Musculi pterygoidei mediales (links) geringeren Ausschläge als ohne Mm. pt. med. (rechts) bei einer incisalen Prüflast von 40 N. Bei incisaler Lasteinleitung war die torsionale Auslenkung (Platten: -10%; Staples: -6%) geringer deutlich, ebenso wie bei contralateraler Lasteinleitung (Platten: -9%; Staples: -4%). Dagegen wurden bei ipsilateraler Lasteinleitung (Platten: +11%; Staples: +5%) höhere Werte ermittelt. Die Biegung wurde durch den simulierten Musculus pterygoideus medialis weniger als die Torsion beeinflusst. Eine schematische Darstellung der Belastungskonfiguration verdeutlicht dies an Abb. 7: Die in der Transversalebene diagonal wirkenden Kräfte der Musculi pterygoidei mediales können die rotationsprovozierende Prüflast (dunkler Pfeil) ausbalancieren.
Abb. 7. Schema der Lasteinleitung ([51], mod.)
Die Versuche am Plastikmodell mit zwei Standardvierlochminiplatten oder drei Staples brachten vergleichbare Auslenkungen (Bending und Torsion). Mit Ausnahme des Gappings, hier bewegten sich die Messwerte im Bereich der Messgenauigkeit des verwendeten Verfahrens.
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Tabelle 1. Winkelauslenkungen bei 40 N (ipsilateral/incisal/contralateral) Lasteinleitung Auslenkung [°] 2 Platten Bending 3 Staples 2 Platten Torsion 3 Staples
ipsilateral MW (N=6) 3, 7 3, 4 5, 8 6, 3
Abw. 0, 9 0, 5 0, 7 0, 2
incisal MW (N=6) 3, 3 2, 9 6, 0 5, 2
Abw. 0, 3 0, 4 0, 9 0, 3
contralateral MW (N=6) Abw. 4, 3 1, 0 5, 0 0, 4 3, 9 0, 9 4, 3 0, 9
Tabelle 1 zeigt, dass bei einer Belastung mit 40 N an der jeweiligen Stelle unter den Versuchsbedingungen (keine Berücksichtigung des Musculus pterygoideus medialis) drei Staples eine ähnliche Verbundstabilität aufweisen wie zwei Standardvierlochminiplatten. Die Reproduzierbarkeit der Vorversuche (Tab. 2) konnte in den Hauptversuchen erhöht werden. Tabelle 2. Mittelwertabweichung bei einer Last von 40 N MW-Abweichung bis 5% bis 10% bis 20% bis 30% über 30% Anzahl 11 9 12 4 0
6. Diskussion Der Zusammenhang zwischen Lastlokalisation und Stabilität des verwendeten Osteosynthesematerials unterliegt im Wesentlichen 2 Haupteffekten: erstens zeigt der Staple ein grundsätzlich anderes Materialverhalten als eine Platte aus Reintitan (während die Titanplatte anfangs rigider ist, hat der Staple eine geringere Federkennlinie, aber gleichzeitig wurde bei unseren Versuchen die (irreversible) Plastizitätsgrenze nicht erreicht), wodurch der Verbund Substrat-Implantat-Substrat in vitro schädigungsresistenter gegen Überlastung war; zweitens liegen geringen Unwägbarkeiten in der bisherigen Methode der Fraktur. Im Gegensatz zu den Untersuchungen von Kroon et al. [25], Strackee et al. [54], Tams et al. [55] können am Mandibulator nicht nur statische, sondern auch dynamische Versuche durchgeführt werden. Ferner wurde eine kontakt- und damit rückwirkungsfreie Messung mittels videogestütztem Erfassungssystems realisiert. Bisher werden verschiedene simplifizierte Modelle benutzt, um die Primärstabilität von Osteosynthesematerial zu beurteilen. Die bestehen meist aus zwei Probekörpern einfacher Geometrie (Quader, Zylinder…), die durch das zu prüfende Material verbunden und in einer Standardprüfmaschine einem einaxialen Test unterzogen werden. Die Autoren [25, 54, 55] geben in der Auswertung dann die Steifigkeit des Verbundes gegen Bie-
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gung und Torsion an. Unrealistisch ist dabei die Tatsache, dass die eigentlichen Proben (Osteosynthese- oder Rekonstruktionsplatten) bei der Montage nicht plastisch verformt werden müssen. Der Chirurg nennt diesen Vorgang Adaption. Hierzu soll er vom Hersteller des Implantates speziell zur Verfügung gestelltes Werkzeug nutzen, um die eben ausgelieferte Platte an die Topologie und Geometrie des Knochens in einem einzigen Vorgang anzuformen. In der Praxis wird das Werkzeug jedoch nicht benutzt, da der Chirurg mehrere Versuche benötigt, um eine optimale Passform zu erreichen. Solche wiederholten plastischen Umformvorgänge verursachen jedoch Effekte wie Eigenspannungen und Gitterfehler, sodass das Implantat in situ nicht mehr die eigentliche Tragfähigkeit besitzen kann.
7. Zusammenfassung Für die plastische, traumatologische und Tumor-Chirurgie des Unterkiefers steht eine Vielzahl möglicher operativer Versorgungsmöglichkeiten zur Verfügung, dennoch wird dieses Gebiet intensiv erforscht, um verschiedene Operationsmethoden, neue Werkstoffe und Implantatgestaltungen nutzbar zu machen. Hinsichtlich der experimentellen Bewertung entsprechender Implantate wurden bisher recht einfache und uneinheitliche Prüfmethoden publiziert; theoretische Betrachtungen, wie sie heute vermehrt zum Einsatz kommen, entbehren verlässlicher Eingangsdaten. Es besteht also Bedarf an einheitlichen Prüfprotokollen, sowie an der Zusammenführung von Modell und Experiment. Ein spezieller Prüfstand für die Fragstellungen des menschlichen Kausystems, bzw. diesbezügliche Modelle und Implantate, wurde hier entwickelt, vorgestellt und angewendet. An den Kiefergelenken wurden die Reaktionskräfte bei definierten Öffnungs- und Lastfällen gemessen. Unter Berücksichtigung der zunächst vereinfachenden Anordnung entsprechen diese Ergebnisse den theoretischen Ergebnissen von Koolstra et al. und Korioth et al.. Unter Zugrundelegung der Folgerung, dass spezielle Gelenksituationen eine kritische Belastung des Gelenkbereiches bewirken, wurden in den Versuchen zu plattenlosen Osteosynthesen am Kiefergelenk [38] und Platten- bzw. Staples-Osteosynthese am Corpus Mandibulae [1, 46, 48] einige worst cases identifiziert. Am Humanpräparat wurden sowohl experimentell als auch in einer numerischen Simulation definierte Belastungssituationen hergestellt [6]. Trotz gewisser Beschränkungen wird gezeigt, dass sich experimentelle und numerische Methoden ergänzen und so adäquate Werkzeuge zur wechselseitigen Optimierung darstellen. Die Weiterführung mit weiteren biologischen Proben hat den Erfahrungsschatz
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vergrößert und die Qualität von Simulation und Experiment verbessert [7]. Die Robustheit der Konstruktion hat sich bereits in multidirektionalen Dauerprüfungen (106 Zyklen) von Rekonstruktionsplatten bewährt.
8. Ausblick Als Steuerparameter für weitere experimentelle Untersuchungen unter Einbeziehung der Kinematik sind Bewegungsanalysen geplant. Anhand gegebener Bisskräfte und Wege der muskelsimulierenden Antriebe (als Steuergrößen) können die simulierten "Muskelkräfte" gemessen und mit theoretischen Betrachtungen verglichen werden. Bei einer experimentellen Realisierung kauähnlicher Bewegungen unter Belastung der Bezahnung werden so neue Erkenntnisse über die beim Kauen auftretenden Muskelaktivitäten erwartet.
Danksagung Die Autoren danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Personal- und Sachmittel im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 438 (Mathematische Modellierung, Simulation und Verifikation in materialorientierten Prozessen und intelligenten Systemen).
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Prinzipien und Merkmale gelungener Bewegungen Josef Wiemeyer Institut für Sportwissenschaften, Technische Universität Darmstadt
Zusammenfassung Gelungene Bewegungen im Sport faszinieren seit jeher die Menschen. Für die bewegungswissenschaftliche Forschung stellt sich die Frage, wie ein so komplexes System von Freiheitsgraden wie das menschliche Bewegungssystem auf so elegante, ökonomische und effiziente Weise koordiniert werden kann. Als Antwort auf diese Frage werden verschiedene Optimierungsfunktionen, Ökonomie- und Effizienzkriterien sowie biomechanische Prinzipien diskutiert. Die verschiedenen Optimierungsfunktionen und Ökonomie- bzw. Effizienzkriterien haben den Vorteil, dass auf ihrer Grundlage Simulationen möglich sind. Biomechanische Prinzipien sind allgemeine Grundsätze, die als Richtlinien für zweckmäßige Bewegungen dienen können.
Abstract Successful movements have always fascinated man. Movement research addresses the question how such a complex system of degrees of freedom like the human motor system can be coordinated in such an elegant, economic and efficient way. As possible answers to this question on the one hand several optimising functions and criteria of economy or efficiency are discussed. These criteria and functions have the advantage that simulations are possible based on them. Biomechanical principles on the other hand are general guidelines for biomechanically useful movements.
1. Einleitung Bewegungen im Sport sind durch vielfältige Zielsetzungen geprägt [1]. Es kann z.B. darum gehen, ein bestimmtes Spielziel zu erreichen (Tor- oder Korberfolg), eine bestimmte Zeit oder Weite zu erreichen oder technische und künstlerische Anforderungen zu erfüllen. Dies geschieht meistens in Konkurrenz zu anderen Sportlerinnen und Sportlern. Sportbewegungen
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üben – insbesondere in den kompositorischen Sportarten (z.B. Geräteturnen, Eiskunstlauf, Rhythmische Sportgymnastik, Tanzen) – eine hohe Faszination aus, sowohl auf diejenigen, die diese Bewegungen ausführen, als auch auf diejenigen, die diese Bewegung betrachten. Diese Faszination ist sicherlich einerseits auf die Spannung des Wettkampfs an sich zurückzuführen, andererseits scheinen aber gerade gelungene Bewegungen die Menschen ganz besonders in ihren Bann zu ziehen. In diesem Beitrag soll deshalb versucht werden, sich dem Phänomen gelungener Bewegungen wissenschaftlich zu nähern. Wir gehen dabei wie folgt vor: Zunächst werden die qualitativen Merkmale gelungener Bewegungen aufgezeigt. Auf der Basis dieser phänomenologischen Beschreibung wird dann über Ansätze berichtet, die versuchen, gelungene Bewegungen quantitativ zu fassen: Optimierungsfunktionen sowie Ökonomie- und Effizienzkriterien. Am Schluss soll die Frage behandelt werden, welche Prinzipien hinter gelungenen Bewegungen stehen.
2. Qualitative Merkmale gelungener Bewegungen Wenn man sich mit der Frage beschäftigt, welche Merkmale optimierte Bewegungen haben, so sieht man sich zunächst mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert. Das menschliche Bewegungssystem weist eine Vielzahl von Freiheitsgraden, d.h. unabhängigen Bewegungsmöglichkeiten, auf: − 238 Gelenkfreiheitsgrade: 1 bis 3 rotatorische Freiheitsgrade pro Gelenk (relativ geringe translatorische Freiheitsgrade) − Muskelfreiheitsgrade: ca. 800 Skelettmuskeln − Neuronale Freiheitsgrade: z.B. ca. 1014 Neuronen – allein in der Großhirnrinde (Cortex) − Biochemische Freiheitsgrade: zahlreiche Reaktionen des Energie- und Baustoffwechsels − Elastische Freiheitsgrade: Sehnen, Bänder, Gelenkkapseln etc. − Dynamische Freiheitsgrade – durch die Wechselwirkungen der verschiedenen bewegten Körpersegmente − Intentionale Freiheitsgrade: zahlreiche mögliche Zwecke, Ziele und Sinnbezüge Man könnte dieser Aufzählung sicherlich noch weitere Dimensionen hinzufügen. Damit ist man mit dem Problem konfrontiert, angesichts dieses vieldimensionalen Arbeitsraumes das oder die Kriterien zu finden, welche eine gelungene Bewegung kennzeichnen bzw. an denen sich der Organis-
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563
mus bei der Bewegungsoptimierung orientiert. Gelungene Bewegungen im Sport werden u.a. mit den folgenden Etiketten versehen: flüssig, rhythmisch, schnell und/oder präzise, (scheinbar) ohne Mühe, extensiv geübt (überlernt), routinisiert, automatisiert, effektiv, ökonomisch, effizient, ästhetisch. Bewegungsfluss, Bewegungsrhythmus, Bewegungsschnelligkeit und Bewegungspräzision sind qualitative Merkmale, die „von außen“ wahrnehmbar sind. Gegenüber misslungenen Bewegungen, die stockend, mit kaum erkennbarer Gliederung von Spannung und Entspannung und mangelnder Schnelligkeit und Präzision ausgeführt werden, wirken gelungene Bewegungen fließend, rhythmisch, schnell und präzise. Gelungene Bewegungen wurden tausende Male geübt, sie sind also hochgradig überlernt, routinisiert und automatisiert und gelingen (scheinbar) ohne Mühe. Gelungene Bewegungen erreichen ihr Ziel (Effektivität), benötigen geringe Energieaufwände (Ökonomie) und basieren auf einem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis (Effizienz). Viele gelungene Bewegungen sind darüber hinaus ein ästhetischer Genuss. Wie kann man diese Merkmale gelungener Bewegungen quantifizieren? In der Biomechanik wurden verschiedene Kriterien vorgeschlagen, die eine optimierte Bewegung kennzeichnen bzw. den Optimierungsprozess leiten können (Überblick: [5], [9]). Im Rahmen dieses Beitrags sollen zwei Gruppen von Ansätzen vorgestellt werden: − Optimierungsfunktionen [5] und − Ökonomie- und Effizienzkriterien [9].
3. Optimierungsfunktionen Optimierungsfunktionen setzen zunächst an der Bewegung selbst an. Wenn Bewegungen besonders flüssig sind, dann ändern sich offensichtlich Beschleunigungen nur geringfügig. Um die Änderung von Beschleunigungen zu erfassen, muss man die dritte Ableitung des Ortes über die Zeit bilden. Man erhält dann den „Ruck“ (engl. jerk): Optimierte Bewegungen weisen also einen geringen „Ruck“ auf. Operationalisiert wird dieser „Ruck“ in dem „minimum-jerk model“ durch die zeitliche Integration der dritten Ableitungen des Ortes (Koordinaten X und Y) über die Zeit t [4]: 3 ⎧ ⎪⎛ d X C = 1 / 2 ∫ ⎨⎜⎜ 3 dt 0 ⎪ ⎩⎝ tf
2
⎞ ⎛ d 3Y ⎟⎟ + ⎜⎜ 3 ⎠ ⎝ dt
⎞ ⎟⎟ ⎠
2
⎫ ⎪ ⎬dt ⎪ ⎭
(1)
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Diese auf die Kinematik beschränkte Sichtweise ist zu einfach, berücksichtigt nicht die spezifischen Massenverhältnisse beim Bewegen und wird durch experimentelle Daten nicht gestützt [5]. Deshalb schlägt Kawato [5] als Alternative ein „minimum torque change model“ vor, in dem die Summe der m (Gelenk)DrehmomentVeränderungen (dMi) der Antriebseinheiten („actuators“) über die Bewegungszeit tf integriert wird. tf
C = 1/ 2∫
∑ m
0 i =1
⎛ dM i ⎞ ⎜ ⎟ ⎝ dt ⎠
2
dt
(2)
Dieses Modell ist wesentlich differenzierter, damit aber auch komplexer und schwieriger zu simulieren. Es kann aber experimentelle Daten besser erklären. Allerdings verfügt der Organismus nicht über Sensoren für Drehmomentänderungen, er kann allenfalls – über kinästhetische Sensoren – Muskellänge, Muskel- bzw. Sehnenspannungen und Gelenkstellungen bzw. -bewegungen registrieren. Um eine vom Organismus direkt erfassbare Optimierungsgröße zu haben, wird das „minimum muscle tension change model“ eingeführt: tf
C = 1/ 2∫
∑ n
0 i =1
⎛ dFi ⎞ ⎜ ⎟ ⎝ dt ⎠
2
dt
(3)
In dieser Gleichung werden die Spannungsänderungen aller n Muskeln über die Zeit aufsummiert und integriert. Damit nimmt die Komplexität des Modells weiter zu, da u.a. die Geometrie der einzelnen Muskeln differenziert berücksichtigt werden muss. Ein letzter Schritt betrifft nun die Überlegung, dass letztlich das Zentralnervensystem Bewegungen kontrolliert. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen propagiert Kawato [5] ein „minimum motor command change model“, in dem über die Bewegungszeit die Summe der m Bewegungsbefehlsänderungen („motor commands“, dM) integriert wird. tf
C = 1/ 2∫
∑ m
0 i =1
⎛ dM i ⎞ ⎜ ⎟ ⎝ dt ⎠
2
dt
(4)
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4. Ökonomie- und Effizienzkriterien Während für Kawato [5] primär der Optimierungsprozess, d.h. die Frage nach welchen Kriterien bei Armbewegungen die Bewegungsbahn optimiert wird, im Vordergrund steht, stellt Simon [9] die Frage nach dem Produkt dieses Optimierungsprozesses: Welche Merkmale zeichnen eine optimierte Bewegung aus? Eine mögliche Vorgehensweise besteht darin, die mechanische Arbeit der Körpersegmente zu ermitteln, insbesondere die Hubarbeit sowie die translatorische und rotatorische Beschleunigungsarbeit. Hier stehen verschiedene Konzepte zur Verfügung: Der „Pseudowork“-Ansatz von Norman et al. [6] bestimmt die jeweilige Arbeitsform als Beträge der Energieänderung (∆E) der n Segmente, die getrennt über die Zeit T berechnet werden, und integriert die Summe dann: Wseg =
∑∑ ( ∆Ekin T
n
trans
t =1 i =1
+ ∆Ekinrot + ∆Epot )
(5)
Da dieser Ansatz die Segmentarbeit überschätzt, weil positive und negative Arbeit gleichermaßen aufsummiert wird, schlägt Winter [12] vor, die mechanische Arbeit der Segmente zunächst ohne Betragsstriche innerhalb und zwischen den Segmenten zu summieren und nur die Beträge der Gesamtsegmentsummen über die Bewegungszeit T zu summieren: Wseg =
∑ ∑ (∆Ekin T
n
trans
t =1 i =1
+ ∆Ekinrot + ∆Epot )
(6)
Dieser Ansatz führt wiederum zu Unterschätzung der mechanischen Arbeit, da negative Arbeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Segmenten die Summe reduziert. Deshalb wurde von Pierrynowski et al. [7] eine modifizierte Gleichung vorgeschlagen, die den Energietransfer innerhalb der Segmente zulässt: Wseg =
∑∑ (∆Ekin T
n
trans
t =1 i =1
+ ∆Ekinrot + ∆Epot )
(7)
Dabei wird segmentweise die Gesamtarbeit berechnet, wobei sich die Arbeitsformen innerhalb der Segmente ausgleichen können, und die Beträge der Segmentarbeit werden über die Segmente und die Bewegungszeit aufsummiert.
566
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Da diese Gleichung aber nicht berücksichtigt, dass exzentrische und konzentrische Arbeit metabolisch nicht gleichwertig sind, schlagen Williams und Cavanagh [13] die folgende Gleichung vor, die positive und negative Arbeit getrennt berücksichtigt: Wges eff = (1 − a i ) ⋅ (1 − bi ) ⋅ W pos +
ckWneg
(8)
dl
Dabei sind die Parameter ai, bi, ck und dl Koeffizienten, die verschiedene mechanische Randbedingungen des Energietransfers abbilden sollen (vgl. ausführlich [ 13]). Effizienzkriterien (Symbol: η; syn. Wirkungsgrad) beziehen Kosten und Nutzen auf einander (s. Gleichung 9; [9]). In der Biomechanik werden z.B. die folgenden Formalisierungen benutzt: η=
Nutzen Aufwand
(9)
mechanisch e Arbeit η = 1 physio log ischer Energiever brauch
(9a)
Nutzarbeit η = 2 Gesamtarbe it
(9b)
Während η1 kennzeichnet, wieviel Prozent des physiologischen Energieverbrauchs in mechanischer Arbeit resultiert, kennzeichnet η2, welcher Prozentsatz der Gesamtarbeit als Nutzarbeit eingesetzt werden kann.
5. Simulationen auf der Grundlage der Optimierungsfunktionen und Segmentarbeit Wir haben zwei der oben dargestellten Kriterien mit Hilfe Genetischer Algorithmen simuliert: Jerk-Kriterium und Pseudowork [11]. Die folgenden Randbedingungen wurden festgelegt:
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Zielposition
Ausgangsstellung -2
+1
-2
...
-1
+2
+3
Codierung von Veränderungen der Gelenkwinkel durch ein Chromosom Abb. 1. Bewegungsaufgabe und Codierung.
− Die Bewegung soll physiologisch möglich sein, ihr Ziel annäherungsweise erreichen und einen optimalen Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf aufweisen. − Das Körpermodell besteht aus drei starren Segmenten: Unterarm, Oberarm und Rumpf mit angelegtem zweitem Arm und Kopf (s. Abb. 1). − Das biomechanische Körpermodell (Längen, Segmentmassen, Massenträgheitsmomente) orientiert sich am Hanavan-Modell, das den menschlichen Körper durch regelmäßige Körper wie Kegelstümpfe (Arme und Beine), Zylinder (Rumpf) und Kugeln (Hände) approximiert (vgl. [14]). − Als Optimierungs- bzw. Bewertungskriterium wurden das „Minimum jerk model“ und das „Pseudowork“-Modell gewählt. − Die Veränderung der drei Körperwinkel Hüftwinkel, Schulterwinkel und Ellbogenwinkel werden durch die Chromosomen codiert. Als Ergebnis erwarten wir eine eingipflige, glockenförmige Geschwindigkeits-Zeit-Kurve des Handgelenks (vgl. z.B. [5]). In den Simulationen (Einzelheiten: [11]) sollte u.a. das Konvergenzverhalten des GA in Abhängigkeit von unterschiedlichen GA-Parametereinstellungen (Kreuzungszahl, Mutationszahl, Kreuzmutationszahl) untersucht werden. Die drei Simulationen erbrachten qualitativ vergleichbare Resultate. Deshalb werden jeweils die Mittelwerte der drei Simulationsserien analysiert. In Abbildung 2 ist in einem Oberflächendiagramm die Fitness der besten Chromosomen in Abhängigkeit von Kreuzungszahl und Mutationszahl (Anzahl der Mutatio-
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nen auf nicht-gekreuzten Chromosomen) dargestellt. Dabei bedeutet ein großer Fitnesswert eine schlechte Anpassung und ein niedriger Fitnesswert eine gute Anpassung. Bei dieser Darstellung ist eine deutliche Verbesserung der Fitnesswerte mit zunehmender Kreuzungszahl zu erkennen. Besonders auffällig sind die durchgängig sehr guten Fitnesswerte bei einer Kreuzungszahl von 15. Der Wert 15 bedeutet, dass aus 15 Kreuzungen 30 Chromosomen hervorgehen, was wiederum bedeutet, dass in jedem dieser 30 Chromosomen ein Teil des besten Chromosoms der Vorgängerpopulation steckt. Die Eigenschaften des besten Chromosoms werden also – bei einer Individuenzahl von 50 pro Population – über mehr als 50% der Population verteilt. Außerdem scheint die Fitness der Chromosomen in dieser Darstellung nicht systematisch von der Anzahl der Mutationen abhängig zu sein. Tendenziell führen geringere Mutationszahlen zu besseren, d.h. niedrigeren Fitnesswerten.
8000 7000 6000
Fitness
5000 4000 3000 2000 1000 300
15
225
10
150
5
75
0
Mutationen
Kreuzungen
Abb. 2. Fitnesswerte des jeweils besten Chromosoms in Abhängigkeit von Kreuzungszahl und Mutationszahl.
Insgesamt ergaben sich die folgenden Resultate [11]: − Kreuzungen spielen die entscheidende Rolle im Konvergenzprozess des simulierten GA. Eine relativ hohe Anzahl von Kreuzungen ist die Voraussetzung für ein gutes Konvergenzverhalten des GA.
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− Mutationen haben nur einen moderierenden Effekt, d.h. sie sorgen dafür, dass lokale Extrema überwunden werden und weiter nach dem globalen Extremem gesucht wird. Eine zu hohe Anzahl an Mutationen führt tendenziell dazu, dass der Konvergenzprozess destabilisiert und die Lösungsfindung be- bzw. verhindert wird. − Hinsichtlich der Optimierung von zweidimensionalen ballistischen Bewegungen hat sich die kombinierte Fitnessfunktion aus Euklidischer Distanz und Minimum-Jerk im Simulationstest als geeignet erwiesen.
6. Biomechanische Prinzipien Ein biomechanisches Prinzip ist ein „allgemeiner Grundsatz der Handlungsorientierung für biomechanisch zweckmäßige Lösungen von Bewegungsaufgaben innerhalb einer biomechanisch gleichartigen Klasse (mechanisch darstellbares Ziel/ mechanische Bedingungen) von Bewegungsaufgaben” [8]. Diese Prinzipien wurden zunächst von Hochmuth [3] eingeführt und dann von Wiemann [10] ergänzt und von Hasenbusch [2] systematisiert. Für gelungene Bewegungen sind drei Prinzipien von besonderer Bedeutung: − Prinzip der Anfangskraft − Prinzip des optimalen Beschleunigungsweges − Prinzip der Koordination von Teilimpulsen 6.1. Prinzip der Anfangskraft Das Prinzip der Anfangskraft lässt sich sehr gut an einem Vertikalsprung verdeutlichen (s. Abb. 3). In Abb. 3 ist zu erkennen: − Wenn man nur auf einer Kraftmessplattform steht, wird eine horizontale Linie registriert, die der Gewichtskraft entspricht (graue Linie in Abb.3). − Wenn man in die Hocke geht, erfolgt zunächst eine Entlastung, d.h. ein Absinken der Bodenreaktionskraft unter die Gewichtskraftlinie und danach eine Belastung, d.h. ein Ansteigen der Bodenreaktionskraft über die Gewichtskraftlinie hinaus. Dies bedeutet, dass der Körper zunächst nach unten beschleunigt wird, um in der zweiten Phase wieder abgebremst zu werden. Brems- und Beschleunigungskraftstoß haben einander auf, d.h. vor und nach der Tiefbewegung findet keine Vertikalbewegung statt. − Wenn man nun aus einer gebeugten Stellung heraus eine Absprungbewegung ausführt („Squat Jump“), entsteht die dünne schwarze Kurve in
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Abb. 3. Die Kraft steigt schnell über die Gewichtskraft an und erreicht ihr Maximum, um dann kurz vor Verlassen des Bodens auf Null zu fallen. Die Fläche zwischen der Bodenreaktionskraftkurve und der Gewichtskraftkurve entspricht dem vertikalen Kraftstoß, der aussagt, wie hoch der Sprung sein wird.
Kraft [N]
Gewichtskraft (Stehen) Sprung ohne Ausholen
Tiefbewegung (Hocke) Sprung mit Ausholen
2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 Zeit
Abb. 3. Kraftkurven beim Stehen, Tiefgehen und bei verschiedenen Vertikalsprüngen
− Wenn man zunächst eine Ausholbewegung macht, d.h. unmittelbar vor dem Sprung in die Knie geht und dann flüssig in die eigentliche Sprungbewegung übergeht („Countermovement Jump“) entsteht die dunkelgraue gestrichelte Kurve in Abb. 3. Zunächst fällt die Bodenreaktionskraft – wie beim isolierten Tiefgehen – ab, um dann steil anzusteigen und – wie beim Sprung ohne Ausholbewegung – letztlich wieder auf Null zu fallen. Der Gewinn an Absprungimpuls ist deutlich zu erkennen: Die horizontal schraffierte Fläche stellt den Gewinn, die vertikal schraffierte Fläche den Verlust an Vertikalimpuls dar. Insgesamt ergibt sich – klar erkennbar – ein Netto-Gewinn. Damit erreicht ein Sprung mit Ausholbewegung eine größere Höhe als ein Sprung ohne Ausholbewegung. Allerdings ist der Gewinn an Sprunghöhe durch eine Ausholbewegung an zwei Bedingungen geknüpft: Das Verhältnis (κ) zwischen Bremskraftstoß und Beschleunigungskraftstoß muss optimal sein (ca. 0.3 bis 0.4) und die
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Ausholbewegung muss flüssig, d.h. ohne Pause in die eigentliche Sprungbewegung übergehen. Dies hat die folgenden Gründe: − Ein zu großer Bremsstoß (κ>0.4) würde bedeuten, dass insgesamt zu viel Kraft für das Abbremsen der Ausholbewegung aufgebracht werden müsste. Damit reduziert sich der Beschleunigungsstoß, da das Kraftpotenzial eines Muskels nicht unbegrenzt ist. − Ein zu kleiner Bremsstoß (κ < 0.3) bedeutet, dass die Ausholbewegung zu wenig akzentuiert ausgeführt wird, so dass der Beschleunigungsstoß nicht wirksam vergrößert werden kann. − Wenn zwischen der Ausholbewegung und der eigentlichen Sprungbewegung eine Pause – z.B. von einigen Sekunden – gemacht wird, stellen sich letztlich wieder die Verhältnisse ein wie beim Sprung ohne Ausholbewegung, d.h. der Sprung beginnt aus der ruhigen Kauerstellung („Squat Jump“ s. Abb. 3). Die Bodenreaktionskraft ist wieder auf Gewichtskraftniveau gestiegen, und die Kraftentfaltung beginnt auf diesem Niveau. Es werden praktisch die beiden Kraftkurven für das Tiefgehen und den Sprung ohne Ausholbewegung hinter einander geschaltet. Die zusätzliche Kraftgewinn durch flüssigen Übergang bleibt aus. Physiologisch stecken hinter dem Prinzip der Anfangskraft der Muskeldehnungsreflex und die Speicherung elastischer Energie im MuskelSehnen-Komplex. Da Reflexe und die damit zusammenhängende Speicherung elastischer Energie kurzfristige Prozesse sind, erklärt sich der „Zeitdruck“, der sich in der Forderung nach einem flüssigen Übergang niederschlägt.
6.2. Prinzip des optimalen Beschleunigungsweges Das Prinzip des optimalen Beschleunigungsweges, das eng mit dem Prinzip der Anfangskraft zusammenhängt, besagt, dass die Länge des Beschleunigungsweges an die individuellen koordinativen und konditionellen Voraussetzungen des Menschen angepasst werden muss. So hat es z.B. keinen Sinn, eine fünfte Drehung im Hammerwurf oder eine zweieinhalbfache Drehung im Diskuswurf auszuführen, wenn die koordinativen und konditionellen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Nur wenn die am Wurfgerät verrichtete Beschleunigungsarbeit WGesamt, die sich aus Kraft F und Weg s zusammensetzt (WGesamt = F·s), insgesamt steigt, wird dem Wurfgerät eine größere Geschwindigkeit erteilt. Wenn die mittlere Kraft aber sinkt, ergibt sich aus der Verlängerung des Beschleunigungsweges unter Umständen ein Verlust an Beschleunigungsarbeit und damit am Netto-Impuls (s. Tabelle 1).
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Tabelle 1. Beispiel-Rechnungen zum Prinzip des optimalen Beschleunigungsweges bei Kugelstoß Weg s [m] 2,2 2,5 2,5
WegändeMittl. rung [%] Kraft F[N] 100% 323,0 +14% 323,0 +14% 275,7
Kraftänderung [%] 100% ±0% –15%
Arbeit W=F·s[Nm] 710,50 807,39 689,21
Nettoarbeit [%] 100% 114% 97%
Aus Tabelle 1 kann man entnehmen, dass die Nettoarbeit beim Kugelstoß ansteigt, wenn man den Beschleunigungsweg – bei konstanter mittlerer Kraft – verlängert. Wenn man aber durch die Verlängerung des Beschleunigungsweges eine überproportionale Verringerung der mittleren Kraft verursacht, reduziert sich sogar die resultierende Nettoarbeit. Eine Reduktion der mittleren Kraft durch eine Verlängerung des Beschleunigungsweges – in welchem Ausmaß auch immer – ist bei Wurf- und Sprungbewegungen durchaus plausibel: − Grundsätzlich verlängert sich mit dem Weg auch die Zeit für die Beschleunigung. Damit ergibt sich eine Reduktion der Kraft, da die Geschwindigkeitsänderung ∆v durch die Zeit ∆t dividiert wird: F = m·a = m·(∆v/∆t) (Ausnahme: überproportionaler Anstieg von ∆v). − Bei Sprüngen zieht die Verlängerung des vertikalen Beschleunigungsweges (durch akzentuiertes Tiefgehen) sehr ungünstige Lastverhältnisse (große Lastarme durch kleine Gelenkwinkel) nach sich, und die Verlängerung des horizontalen Beschleunigungsweges (durch längeren Anlaufweg) ist auch sinnlos, da die für die Sprungbewegung optimalen (nicht maximalen) Geschwindigkeiten bereits relativ frühzeitig erreicht werden. 6.3. Prinzip der Koordination von Teilimpulsen Dieses Prinzip soll am Beispiel des Speerwurfs verdeutlicht werden. In Abb. 4 ist deutlich zu erkennen, dass beim Speerwurf – wie bei allen Würfen – die Geschwindigkeiten von Hüfte, Schulter, Ellbogen, Handgelenk und Speer nacheinander ihr Maximum erreichen. Die Höhe der Geschwindigkeitsmaxima steigt dabei kontinuierlich an. Der Speer hat letztlich – ganz im Sinne des Bewegungsziels – die höchste Geschwindigkeit. Für dieses Prinzip gibt es eine Reihe von biomechanischen und physiologischen Begründungen, z.B. die Impulsübertragung von proximal nach distal und das durch die sukzessive Speicherung elastischer Energie ausgenutzte Prinzip der Anfangskraft. Insgesamt ist es zweckmäßig und unver-
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zichtbar, die oben dargestellten biomechanischen Prinzipien auszunutzen, um eine gelungene Bewegung auszuführen.
30 25 Speer
v [m/s]
20
Handgelenk Ellbogengelenk
15
Schultergelenk
10
Hüftgelenk
5 0 Zeit
Abb. 4. Geschwindigkeiten von Hüfte, Schulter, Ellbogen, Handgelenk und Speer beim Speerwurf.
7. Zusammenfassung und Ausblick Im Rahmen dieses Beitrags wurde analysiert, welche qualitativen und quantitativen Merkmale gelungene Bewegungen auszeichnen. Außerdem wurde gezeigt, dass spezifische Optimierungsfunktionen, Ökonomie- und Effizienzkriterien zu einer Verbesserung führen können. Gelungene Bewegungen sind meistens ökonomischer und effizienter als misslungene Bewegungen. Sie „gehorchen“ darüber hinaus auch den biomechanischen Prinzipien. Im Rahmen von einfachen Simulationen auf der Grundlage Genetischer Algorithmen ist eine Simulation ausgewählter Kriterien möglich. Hier liegt ein interessantes Anwendungsfeld für unkonventionelle Modellierungen (Genetische und evolutionäre Algorithmen, Fuzzy-Logik und neokonnektionistische Paradigmen) insbesondere dann, wenn aufgrund der Komplexität der Randbedingungen deterministische bzw. analytisch lösbare Modellierungen nicht möglich sind.
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Josef Wiemeyer
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Langfristige Verankerung künstlicher Gelenke – kann das gut gehen? Ulrich Witzel Forschungsgebiet Biomechanik, Ruhr-Universität Bochum
Zusammenfassung Schmerzhafte Gelenkdefekte, insbesondere an den großen Gelenken, werden mit Endoprothesen in der Regel erfolgreich operativ versorgt. Diese technischen Systeme besitzen aber im Gegensatz zu biologischen Strukturen keine regenerativen Eigenschaften und ihre Verschleißrate ist weitaus größer. Damit ist die Funktionsdauer der Endoprothesen relativ zur Lebenserwartung des Menschen begrenzt. Zusätzlich liegt ein Verbundsystem zwischen unbelebter und belebter Materie vor. Der lebende Knochen reagiert auf die Form, die Oberflächenbeschaffenheit und das Material des Implantats und vor allen Dingen auf die mechanischen Spannungen an der Implantat-Knochengrenze. Diese Spannungen müssen nach dem Wolffschen Transformationsgesetz der Knochen im Rahmen eines physiologischen Niveaus liegen, um nach erfolgreicher Primärstabilität durch einen Kraftformschluss eine dauerhafte Sekundärstabilität des Implantats im knöchernen Lager zu garantieren. Mit der Methode der finiten Elemente (FEM) ist es möglich geworden, nach einer virtuellen Implantation Berechnungen der mechanischen Spannungen in einem knöchernen Implantatlager durchzuführen und Spannungsverteilungen in beliebigen Schnitten des dreidimensionalen KnochenStrukturmodells auszuwerten. Ebenfalls können Relativbewegungen zwischen Implantatbauteilen und in der Implantat-Knochengrenze bestimmt und bewertet werden. Damit werden präoperative Implantatoptimierungen und Prognosen knöcherner Reaktionen auf neu entwickelte Endoprothesen ermöglicht.
Abstract Painful defects of joints especially of the main joints of the body are normally successful treated in surgery by endoprostheses. In contrast to the biological structures these technical systems have no regenerative capacities and their rate of abrasion is higher. Compared to the life expectancy of man the adequate functioning of endoprosthesis is limited. The endoprosthesis forms, together with the living tissue, a compound system of none living and living substances. The living bone reacts to the shape, the structure of the surface, the material of the implant and above all to the area, in which the contact between prosthesis and bone takes
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place. According to Wolff´s law these stresses have to reach a “physiological” value to guarantee a durable secondary stability after a successful primary stabilisation. This primary stability is provided by “Kraftformschluss” that is a form closure in combination with connection by adherence. Using the finite element method allows to calculate the mechanical stresses in a bony socket of an implant and to analyse the stress distribution at any cross section of the 3D-model of the implant plus bony structure. Micromovements between components of an implant and between the implant and its bony bearing can be identified and evaluated. By this procedure a preoperative optimising of implants and the bony reactions of a newly developed endoprosthesis can be predicted.
1. Anatomie und Physiologie der Gelenke Die Gelenkausbildungen des menschlichen Skeletts stellen bewundernswerte biologische Konstruktionen dar, die meistens ein langes Leben lang ihre Funktion unter höchsten Beanspruchungen erfüllen. Sie sind über Sehnen, Bänder und Kapseln straff geführt, erlauben komplizierte Bewegungen mit den notwendigen Freiheitsgraden und sind teilweise durch dynamische Belastungen und Zuggurtungseffekte bis zum vierfachen Körpergewicht belastet. Dabei treten auf Grund der knorpelbedeckten artikulierenden Gelenkflächen in Anwesenheit von Gelenkflüssigkeit sehr kleine Reibungsbeiwerte und damit auch selbst bei geringen Winkelgeschwindigkeiten minimale Reibmomente mit geringstem Abrieb auf. Ein Vorgang, der bei hochwertigen technischen Gleitlagern nur bei aufwändigen magnetischen oder hydrostatischen Lagern erreicht werden kann, oder bei hydrodynamischen Gleitlagern, die dann jedoch eine hohe Winkelgeschwindigkeit bei großen Drehzahlen notwendig haben. Das Vorbild der Natur, hier im Bereich der Gelenke, wird daher zur Zeit im Rahmen der Bionik intensiv erforscht, um Ideen für technische Gelenke zu gewinnen, die einfach, d.h. preiswert sind und eine lange Lebensdauer bei geringst möglicher Wartung garantieren. Ein Handicap bleibt uns Ingenieuren jedoch bei allen Erfolgen: im Gegensatz zu einem biologischen System verliert ein einfaches technisches Lager vom Zeitpunkt seiner Inbetriebnahme ständig an Qualität bis es schließlich versagt und eventuell ausgetauscht werden muss. Ein biologisches Lager besitzt regenerative Eigenschaften und vermag seine Gelenkflüssigkeit ständig zu erneuern und betreibt nach einem speziellen System einen vorteilhaften Zellaustausch, der in vielen Fällen bei günstigen Voraussetzungen über einhundert Jahre Einsatzdauer gewährleistet. Hinsichtlich der Kinematik gehört das Kniegelenk zum interessantesten großen Gelenk, das seine Steuerung und Stabilität in erster Linie den bei-
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den Kreuzbändern und den beiden Seitenbändern nebst Gelenkkapsel verdankt. Es besitzt im Normalzustand drei Freiheitsgrade: Rotation um die Querachse bei gleichzeitiger Möglichkeit einer a-p Translation (von vorne nach hinten und umgekehrt), die eine Roll-Gleitbewegung der Kondylen des Oberschenkelknochens auf einem kurzen Plateau des Unterschenkelknochens erlaubt und bei Kniebeugung eine Rotation um die Knochenlängsachse. Dagegen stellt sich das gestreckte Kniegelenk translations- und rotationsstabil ein, um einen sicheren Aufstand während dieser Gangphase zu gewährleisten. Aus Bewegungsgründen sind die sich berührenden Gelenkknorpelflächen hochgradig inkongruent: medial, also zur Innenseite, artikulieren eine stark konvexe mit einer leicht konkaven Fläche und lateral, also zur Außenseite des jeweiligen Knies, berühren sich eine stark konvexe Kondylenfläche mit einer konvexen Gleitfläche des Schienbeinplateaus [1] (Abb. 1). Es ergeben sich in beiden Fällen theoretisch Punktberührungen, die bei Belastung unendlich hohe Flächenpressungen ergeben würden. Daher sieht die Natur bei allen Gelenken Kongruenzhilfen vor, die die jeweilige Flächenpressung auf einen physiologisch gut ertragbaren Wert reduziert. Im Falle des Kniegelenks sind das medial und lateral je ein C-förmiger leicht beweglicher Meniskus (Abb. 1).
Abb. 1. Kniegelenk, links: Sagittalschnitt durch das laterale Plateau, rechts: Tibiaaufsicht mit den beiden Menisken; die Kreuzbänder sind geschnitten. m = medial, lat = lateral, v =ventral, d = dorsal
Sein schädigungsfreier Erhalt ist somit essentiell für ein dauerhaft funktionsfähiges Kniegelenk [2]. Die sich ständig erneuernde Gelenkflüssigkeit, die zum einen für das außerordentlich günstige Gleiten bei sämtlichen Bewegungen sorgt und zum anderen den Gelenkknorpel und die zentralen Areale der Menisken ernährt, wird während der Kniebeugung von vorde-
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ren Flüssigkeitstaschen durch das Kniegelenk in eine hintere Tasche gepresst und bei Kniestreckung in umgekehrter Richtung. Eine Perforation der hinteren Tasche mit einer Leckage in eine Bakerzyste im Bereich der unteren Kniekehle vermehrt die Produktion von Gelenkflüssigkeit bei gleichzeitigem Qualitätsverlust [3]. Das Hüftgelenk (Abb. 2 links) stellt mit seinem annähernd kugelförmigen Kopf ein weiteres großes Gelenk mit drei Freiheitsgraden dar. Es ergeben sich Rotationsmöglichkeiten um drei Achsen. Die Inkongruenz zeigt sich in einer relativ zu kleinen Hüftpfanne, in die der Hüftkopf erst unter einer Gelenkbelastung elastisch eingepresst wird [4]. Dabei wird vorhandene Gelenkflüssigkeit unter einen hydrostatischen Druck gesetzt und mit einer Schmierwirkung für den Kopf ausgepresst [5]. Elastische Band- und Knochenstrukturen machen diese geringe Bewegung bei nachlassender Belastung wieder rückgängig. Eine Kongruenzhilfe stellt das ringförmige Labrum dar, das die Hüftpfanne umgibt. Im Gegensatz zu einem technischen Kugelgelenk mit einer hohen örtlichen Flächenpressung (Abb. 2 Mitte) ergibt sich in einem menschlichen Hüftgelenk trotz hoher Belastung eine gleichmäßige geringe, dem Knorpel angepasste Flächenpressung (Abb. 2 rechts) [5]. Auch hier sollten Bionikforscher Anregungen finden.
Abb. 2. Hüftgelenk, links: Transversalschnitt, Knorpelschicht hell getönt, Labrum dunkel getönt; Mitte: punktuelle technische Druckverteilung in einem Lager mit Spiel, rechts: gleichmäßige biologische Druckverteilung mit hydraulischem Druck
Eine verblüffende Lösung hat die Natur für das Schultergelenk gefunden (Abb. 3). Ein halbkugelähnlicher Kopf sitzt dem Oberarmschaft auf und artikuliert in einer sehr kleinen birnenförmigen nicht kongruenten Gelenkpfanne. Als Kongruenzhilfe und Gleitflächenerweiterung dient wiederum ein die Pfanne umgebendes Labrum. Das Schultergelenk besitzt mit drei Rotationsmöglichkeiten und einer vertikalen Einstellbarkeit vier Freiheitsgrade. Die Gelenkstabilität wird ähnlich wie beim Kniegelenk ausschließlich durch Sehnen, Bänder und einer Gelenkkapsel realisiert. Eine
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Belastung des gebeugten Unterarms, zum Beispiel bedingt durch das Tragen eines sehr schweren Kastens, stabilisiert den Gelenkkopf auf Grund der Sehnenführung nach oben, statt ihn gefährlich nach unten zu ziehen. Die Gelenkflüssigkeit wird beim seitlichen Anheben des Arms aus einer unteren Kapselfalte durch das Gelenk in ein oberes Reservoir gepresst.
Abb. 3. Schultergelenk, Frontalschnitt, hängender Arm. Links: Abduktion 0 Grad, rechts: Abduktion 90 Grad
Generell sind die gelenknahen Knochenstrukturen gegenüber den schlanken Mittelteilen, den Diaphysen, im Hinblick auf die notwendigen Gelenkflächen aufgeweitet und mit weichen spongiösen Knochen gefüllt. In Schnitten dieser Regionen kann man Knochenbälkchen und Lamellen beobachten, die, wie man auch rechnerisch belegen kann, in Richtung der Spannungsvektoren ausgerichtet sind. Mit diesem Prinzip ergibt sich ein masseminimierter biologischer Leichtbau, der auch inzwischen bei Konstruktionen im Land- und Luftfahrzeugbau Eingang gefunden hat. Die anatomischen, physiologischen und biomechanischen Betrachtungen der Gelenke zeigen, dass andauernde statische und überphysiologische Belastungen zu Gelenkschäden führen müssen. Diese können aus Minderernährung und Überlastungsrissen des Knorpels, aus Nekrosen subchondraler Knochenlamellen (Absterben des Knochens unmittelbar unter der Knorpelschicht) und Impressionen bestehen und natürlich auch aus reinen Knochenfrakturen. Zusätzlich gibt es erkrankungsbedingte und degenerative Gelenkschäden. Das Endstadium eines pathologisch veränderten schmerzhaften Gelenks führt zu einer Gelenkversteifung oder einer Arthroplastik entweder mit körpereigenen Stoffen oder unter Verwendung anorganischer Stoffe als Gelenkersatz.
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2. Endoprothesen Erste Überlegungen und Versuche zum Einsatz künstlicher Gelenke wurden 1890 von Gluck und 1946 von Judet angestellt, scheiterten jedoch wegen fehlender Biokompatibilität oder untauglicher mechanischer Eigenschaften. Erst 1955 konnten Moore und Thompson erste Implantationserfolge aufweisen. 1963 entwickelte M. E. Müller eine glatte Geradschaftprothese, die mit geringen Modifikationen von unterschiedlichen Herstellern bis heute als preiswertestes Implantat unter Verwendung von Knochenzement eingesetzt wird. In den Jahren um 1980 zeigten sich bei oberflächenstrukturierten Prothesenschäften, die besonders gut formschlüssig einheilen sollten, Implantatbrüche durch Kerbwirkung und ein Phänomen einer distalen, also tiefen, gelenkfernen Krafteinleitung mit entsprechenden knöchernen Reaktionen. Dies rief Verwunderung hervor, da doch gelenknahe Prothesenkragen und Querschnittsvergrößerungen eine im Oberschenkelknochen hochliegende und damit physiologische Krafteinleitung bewirken sollten. 1984 konnten wir durch ein einfaches spannungsoptisches Experiment sichtbar machen (Abb.4), dass in Analogie zu einem eingeheilten Prothesenschaft ein in doppelbrechenden Kunststoff eingeklebter Stahlstab mit Kragen eine tiefe Krafteinleitung hervorrief. Unter dem Kragen zeigten sich auf Grund fehlender Isochromaten (Abb. 4) keine Druckspannungen und darunter bis zur Schaftmitte nur äußerst geringe Spannungen [6]. Der Kraftübertritt erfolgte erst im unteren Drittel der Schaftlänge. Daher forderten wir, wie es heute Standard ist, im oberen Bereich der Prothese Mikro- oder Makrostrukturen oder auch bioaktive Beschichtungen und distal polierte schlanke oder nahezu zylindrische Schaftenden, die damit nicht stoff- oder formschlüssig einheilen können und so zur Spannungsübertragung in günstiger Weise ausfallen. Die Schaftenden stellen somit lediglich eine axiale Führung und eine Momentenstütze dar. Abb. 4. Biomechanik eingeheilter Stifte und Schäfte. Spannungsoptischer Grundlagenversuch von 1984, links: Isochromatenverteilung, spannungsloser oberer Bereich, der Pfeil zeigt das Prothesenende an, rechts: Umzeichnung der Isochromatenordnungen
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Eine hüftgelenknahe Krafteinleitung in den Oberschenkelknochen ahmt das natürliche Vorbild nach und erhält damit eine physiologische Spannung σ0, die nach dem Wolffschen Transformationsgesetz der Knochen [7] (Abb. 5) auch das örtliche Knochenvolumen v0 mit der physiologischen Dichte ρ0 erhält. Eine Verringerung der Knochenspannung, wie sie bei alten Prothesensystemen im oberen Bereich zu beobachten war, führt zum Knochenabbau, der Atrophie und damit zur Auslockerung der Prothese. Im Falle eines Prothesenwechsels, der heute im Mittel nach 15 Jahren ansteht, ist es somit außerordentlich hilfreich, wenn möglichst viel Knochensubstanz für das nächste Implantat vorliegt. Knochenzementfreie System sind in dieser Hinsicht besonders effektiv. Aber auch für einzementierte Komponenten gibt es klare Indikationen, da eine sofortige postoperative Belastung ohne Einheilungszeit möglich ist. Zurzeit verfolgen wir eine zementierte Müller Geradschaftprothese mit einer zementfreien Hüftpfanne, die inzwischen 22 Jahre als künstliches Hüftgelenk dient. Abb. 5. Visualisierung des Wolffschen Transformationsgesetzes, vo = physiologisches Knochenvolumen, δo = phys. Knochendichte, σo = phys. mechanische Spannung, to = Startzeit, 01 = Abnahme, 1 = Zunahme
3. Primär- und Sekundärstabilität Erfolgreiche zementlose Endoprothesenverankerungen werden hinsichtlich ihrer Primärstabilität durch bestmögliche formschlüssige Prothesenimplantationen und effektive biologische Grenzflächeneigenschaften erreicht. Diese Eigenschaften sind durch das Implantatmaterial, die Oberflächenstruktur und biochemische Grenzflächenbeeinflussungen gegeben.
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Schließlich spielt die weitgehende Unterdrückung relativer Bewegungen zwischen Implantat und knöchernem Implantatlager eine wichtige Rolle, da sich sonst bindegewebige Einscheidungen mit alsbaldigen Komplikationen ergeben. Der unmittelbar postoperative Formschluss und insbesondere der Kraftformschluss kann chirurgisch gut realisiert werden. Hierzu dienen u.a. übermaßbedingte elastische und elastisch-plastische Kräfte senkrecht zu den Wirkflächen. Damit wird zusätzlich zum Formschluss ein Kraftschluss erzielt. Über die Langzeitfunktion einer Endoprothese entscheidet nach erfolgreicher Primärfixation neben der Verschleißsituation und den obigen Parametern insbesondere die funktionelle Spannungsverteilung an der Implantatoberfläche und im angrenzenden Knochen, also in der Grenzfläche zwischen Implantatwerkstoff und Biosystem. Nach dem Wolffschen Transformationsgesetz ist in dieser Grenzzone eine physiologische Spannung unabdingbar, um eine dauerhafte Integration herzustellen und zu erhalten. Wird diese Spannung durch den Implantateinfluss verringert oder örtlich gänzlich aufgehoben, so atrophiert die tragende Knochenstruktur und es kommt zu Instabilitäten, Auslockerungen und notwendigen Reoperationen [8]. Zu diesem Sachverhalt können 3D-Berechnungen hinsichtlich Relativbewegung und Spannungsverteilung mit dem FEM-Programmsystem ANSYS durchgeführt werden. Die Berechnungen erfolgen auf einem Großrechner des Rechenzentrums der Ruhr-Universität Bochum. Eine Perspektive dieser Methode besteht darin, präoperative biomechanische Implantatoptimierungen vorzunehmen und mögliche knöcherne Reaktionen virtuell studieren zu können.
4. Prothesenkonstruktionen und ihre Berechnung Das sichere präoperative Wissen um die Spannungsverteilung im lebenden Knochen im Nahfeld einer belasteten Prothese ist bei einer Prothesenauswahl und Bewertung und insbesondere bei Prothesenneukonstruktionen von entscheidender Bedeutung. Zu diesem Zweck führen wir mit beliebigen Implantaten virtuelle Implantationen in dreidimensionalen CT basierten Knochenmodellen durch, belasten rechnerisch und bestimmen mit Hilfe der Methode der finiten Elemente die Spannungsverteilungen im knöchernen Prothesenlager bevor ein Implantat hergestellt ist, eine reale Operation durchgeführt werden konnte oder eine eventuelle knöcherne Integration radiologisch dokumentierbar ist. Diese Methode erlaubt folglich eine allgemeine präoperative biomechanische Implantatoptimierung und macht es möglich, knöcherne Reaktionen
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virtuell zu studieren. Eine individuelle Vorgehensweise ist zurzeit wegen des hohen Berechnungsaufwands noch nicht möglich.
Abb. 6. Druckspannungsuntersuchung im proximalen Femur mit Hilfe der Methode der finiten Elemente, links: Elastizitätsmodul-Verteilung, Mitte: Druckspannungsverteilung in der Kortikalis, rechts: Druckspannungsverteilung in der Spongiosa
Als Referenz dient für die virtuellen Implantationen die jeweilige physiologisch belastete und intakte Knochenstruktur mit einer genauen Verteilung von unterschiedlichen Kortikalis-Bereichen (Elastizitätsmoduli von 10.000 und 17.000 N/mm2), von unterschiedlichen Spongiosa-Bereichen (E = 500 und 2.000 N/mm2) und von Markraum (E = 1 N/mm2). Abb. 6 (links) zeigt diese Strukturverteilung am Beispiel des Oberschenkelknochens, die aus CT-Daten gewonnen wurde. Nach der linear elastischen dreidimensionalen Berechnung mit der Methode der finiten Elemente unter isotropen Materialbedingungen sind die Spannungsverteilungen in beliebigen Schnitten durch den virtuellen Implantationsbereich mit beliebigen Spannungsaufspreizungen, z.B. für eine Kortikalisanalyse oder eine Spongiosaanalyse, darstellbar (Abb. 6 Mitte, rechts). D.h.: für die Sichtbarmachung der Spannungsverteilung im harten Knochen, der Kortikalis, wird eine farbliche Spannungskodierung für den Bereich von 0,20 N/mm2 (Zugspannung) bis –2,04 N/mm2 (Druckspannung) für die geringsten Spannungen gewählt. Der höchste Druckspannungsbereich erstreckt sich von – 17,76 N/mm2 bis –20 N/mm2. Da der weiche Knochen, die Spongiosa, un-
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ter der Gelenkbelastung weit geringere Spannungen führt, wird mit einer Spannungsaufspreizung von 0,5 bis 0,11 (Zugspannung) begonnen und mit einem Bereich zwischen –2,61 und –3,0 abgeschlossen. In dieser Analyse werden die bekannten Spannungskonzentrationen in der oberen medialen (inneren) Kortikalis sichtbar sowie der Spannungspfad durch die Kopf/Schenkelhals-Spongiosa. Hier orientiert sich die Spongiosa entsprechend des vektoriellen Spannungsverlaufs in Form von gerichteten Knochentrabekeln. Nach der virtuellen Implantation einer Schaftprothese aus einer Titanlegierung (Abb. 7 links, Mitte) in das Femurmodell verändert sich nach simulierter vollständiger Einheilung die Spannungsverteilung im Knochen erheblich (Abb. 7 rechts).
Abb. 7. Virtuell implantierte Schaftprothese, links: FE-Modell, Mitte: Elastizitätsmodul-Verteilung, rechts: Druckspannungsverteilung
Man sieht die dominante Spannungsführung des Implantats und die drastische Spannungsreduktion im proximalen (oberen) Femur, wie es bereits die Abb. 4 im grundlegenden spannungsoptischen Experiment zeigte. Nach dem Wolffschen Transformationsgesetz (Abb. 5) muss hier also mit einer Knochenschwächung oder sogar mit einem weitgehenden Knochenabbau gerechnet werden. Im Falle einer angestrebten Prothesenoptimierung mit dem Resultat einer physiologischen Spannungsverteilung ist es auch vorteilhaft, Querschnitte entlang der Protheseneinbettung zu untersuchen (Abb. 8). Zur Zeit analysieren wir Kurzprothesen, die eine günstige proximale Krafteinleitung bewirken sollen (Abb. 9).
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Abb. 8. Druckspannungsverteilung im Schaftbereich der Prothese, links: Querschnitt in Höhe des Trochanter minor, rechts: Querschnitt im distalen Bereich der Prothese
Ein künstliches Hüftgelenk besitzt in der Regel auch eine Beckenkomponente in Form einer Pressfit-Pfanne oder einer Schraubpfanne, zwei zementlose Systeme, die mittels Kraftformschluss ihre Primärfestigkeit erhalten und schließlich dauerhaft einheilen. Auch für Hüftpfannen wurde anfänglich eine Integrationsmöglichkeit mit Hilfe von Knochenzement entwickelt.
Abb. 9. Virtuell implantierte Kurzschaftprothese, links: FE-Modell, rechts: EModulverteilung
Für biomechanische Untersuchungen haben wir ebenfalls ein physiologisches Referenzmodell in Form eines halben Beckens mit Acetabulum
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(natürliche Hüftpfanne) nach anatomischem Vorbild entwickelt, in das jede künstliche Gelenkpfanne virtuell implantiert werden kann (Abb. 10) [9].
Abb. 10. 3D FE-Modell einer linken Beckenhälfte im Schnitt durch die künstliche Hüftpfanne
Zunächst konnten wir interessante Berechnungen unter natürlicher Belastung über ein simuliertes proximales Femur einschließlich der Nachbildung von Gelenkknorpel durchführen. Ein Blick seitlich in das Acetabulum mit einem rechnerisch ausgeblendeten Hüftkopf zeigt die erwartete Kraftübertragung über die Facies lunata, die mondförmige Kontaktfläche, unter Aussparung des Pfannenbodens (dunkel kodierter Spannungsbereich) und der Incisura acetabuli (der vorne unten liegenden Pfannenöffnung) ebenfalls dunkel gekennzeichnet. Der Haupttraganteil liegt im Bereich des Pfannendachs, der durch die beiden Druckspannungsbereiche von –1,5 bis –2,5 N/mm2 gekennzeichnet ist (Abb. 11 links). Zusätzlich gibt es zwei kleinere ausgewiesene Traganteile im Bereich des vorderen und hinteren Horns der Kontaktfläche unten neben der Incisura. Dieses Dreipunkttragsystem ist stabil und offensichtlich durch die Steifigkeiten der drei im Acetabulum zusammen laufenden Knochenstrukturen: Darmbein, Schambein und Sitzbein (Abb. 12) vorgegeben. Wie beim Femur ist auch das dreidimensionale Becken zur Spannungsanalyse des Acetabulum beliebig rechnerisch zu schneiden. In Abb. 11 (Mitte) ist ein Schnitt vom Hüftkopfmittelpunkt zum Iliosacralgelenk (Verbindungsstelle zwischen einer Beckenhälfte mit dem Kreuzbein, auf dem die Wirbelsäule ruht) geführt. Erstmals ist hier (Abb. 11 Mitte) in einem homogen und isotrop vorgege-
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benen Knochenmaterial die Synthese einer kortikal eingescheideten spongiösen Struktur (dunklere Spannungsbereiche für die kortikale Haut nach medial und lateral und eine hellere Kodierung für die Spongiosa) und eine im Pfannendach liegende Sklerosierung (Knochenverdichtung als Folge einer örtlichen Druckspannungserhöhung nach dem Wolffschen Transformationsgesetz) gelungen. Diesen Sklerosierungsbereich, ebenfalls im reinen Frontalschnitt (Abb. 11 rechts) als gelbe Markierung zu sehen, erkennt man auch in Röntgenaufnahmen des Beckens. Er wird mit dem Begriff „sourcil“ (Augenbraue) bezeichnet [4].
Abb. 11. Spannungsverteilung in der natürlichen Hüftpfanne, links: Einsicht in das Acetabulum, Mitte: Frontalschnitt, rechts: Schnitt in Richtung des Kreuzbeingelenks
Dieses Berechnungsergebnis zeigt auf beeindruckende Weise den Vorteil einer Leichtbau-Sandwichkonstruktion (in diesem Fall für eine punktuelle Krafteinleitung), wie sie von der Natur praktiziert wird mit der Anregung, im Sinne der Bionik eine technische Applikation vorzunehmen.
Abb. 12. Stabile Dreipunkteinheilung, 1: Darmbein, 2: Schambein, 3: Sitzbein
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Wird in dieses untersuchte Acetabulum-Modell eine künstliche Gelenkpfanne virtuell implantiert, so sind, wie bei der Schaftimplantation, im knöchernen Implantatlager die auftretenden Spannungen berechenbar und Abweichungen zum physiologischen Fall und damit die möglichen knöchernen Veränderungen prognostizierbar.
Abb. 13. Druckspannungsverteilung nach der virtuellen Implantation einer Schraubpfanne
In Abb. 13 ist eine Schraubpfanne implantiert. Die neue Spannungsverteilung führt zum Knochenumbau, die auch bei bereits implantierten Schraubpfannen röntgenologisch spätestens nach einem Jahr zu beobachten sind. Bei Neuentwicklungen kann so bereits vor jeder realen Implantation die vermutliche Prothesenwirkung studiert werden [10]. Von entscheidender Bedeutung ist auch die weitgehende Unterdrückung der Relativbewegungen zwischen Implantat und Knochenlager. Die dreidimensionale FE-Berechnung erlaubt sowohl die numerische Beurteilung der Bewegungssituation als auch die bildliche Darstellung in Schnitten. Die Abb. 14 zeigt z.B. die Spaltbildung unter Belastung zwischen KeramikHüftkopf und PE-Gleitfläche, zwischen Gleitfläche und Titanschale und schließlich auch zwischen der Pfanne und den Gewindezähnen im knöchernen Kontaktbereich. Jede untersuchte Pfanne zeigt spezielle Bewegungsmuster und insbesondere Drehtendenzen [11]. Analysen von Konstruktionsvarianten hinsichtlich ihrer Grenzflächenbewegungen tragen dazu bei, optimale Implantate zu entwickeln.
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Abb. 14. Verformung einer belasteten Schraubpfanne, links: Spaltbildung zwischen Prothesenkopf und PE-Gleitfläche, Spaltbildung zwischen PE-Gleitfläche und Titanschale, Spaltbildung zwischen Titanschale und Knochen, rechts: Detail im Bereich der Zähne, sichtbare Tendenz zur Linksdrehung der Schraubpfanne
Die knöcherne Einheilung einer zementlos implantierten Pfanne richtet sich tendenziell nach der Tragfähigkeit des Acetabulums (vgl. Abb. 12) und dem damit verbundenen Spannungsfluss. Die drei tragfähigen Kontaktbereiche bestimmen somit auch die Einheilungszonen des Implantats. Bei unseren Untersuchungen wurde im Mittel bei unterschiedlichsten Pfannen eine Einheilungsrate von 32 % der möglichen Implantatoberfläche gefunden. Ein Beispiel für die Einheilungszonen einer Schraubpfanne zeigt die Abb. 15 [12].
Abb. 15. Einheilungszonen einer Schraubpfanne, links: Explantat mit knöchernen Marken, Mitte: polseitige Aufsicht auf die hell markierten Einheilungszonen in 3Punkt-Anordnung, rechts: seitliche Ansicht
Bei Schraubpfannen tritt häufig das intraoperativ auftretende hohe Einschraubmoment negativ in Erscheinung, da die Gewindegänge vorwiegend das harte Knochengewebe verdrängen und nicht zerspanen. Hier konnte
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auf Grund zerspanungstechnischer Erfahrungen eine räumliche Schneide entwickelt werden, die beim Einschrauben ein wirkliches Schneiden erbringt, die Späne in Spannuten ablegt (Abb. 16 links) und das Einschraubmoment zwischen 30 und 50% (abhängig vom Drehwinkel) reduziert (Abb. 16 rechts). Die endgültig ausgeführte Schraubpfanne ist so konstruiert, dass einerseits eine Reduzierung des Einschraubmoments erreicht wird und andererseits ein Kraftformschluss erzeugt werden kann, der eine sehr gute Primärfestigkeit ergibt. Für die Entwicklung und Bewertung von künstlichen Kniegelenken, den Knieendoprothesen, hilft natürlich ebenfalls wie bei den diskutierten Hüftendoprothesen eine möglichst präoperative Information über die prothesennahe Spannungsverteilung im lebenden Knochen. Sie entscheidet auch bei diesem Gelenk über die Sekundärfestigkeit des Knochenlagers und damit über die Sekundärstabilität der Prothese und ihr Langzeitverhalten im Körper. Da der Gelenkersatz, abgesehen von schwerwiegenden traumatischen Ereignissen mit Verletzungen der knöchernen Strukturen des Kniegelenks, im Wesentlichen durch den vollständigen Knorpelverschleiss einhergehend mit großen Schmerzen bedingt ist, sollten die Implantatkomponenten auch nur einen gelenknahen Raum beanspruchen. Möglichst wenig Knochensubstanz sollte geopfert werden, um Rückzugsmöglichkeiten für notwendige weitere Implantationen offen zu halten. Natürlich ist es eine besondere Herausforderung, Knieendoprothesen in ihrem Volumen zu minimieren und gleichzeitig einen belastungsstabilen Sitz primär, also unmittelbar nach der Operation, und sekundär nach dem Einheilungsprozess zu erreichen.
Abb. 16. Patentierte selbstschneidende Schraubpfanne, links: Spanbildung, rechts: Verkleinerung des Einschraubmoments relativ zu einem bestehenden Implantat mit Verdrängungswirkung
Detaillierte Ausführungen zu unterschiedliche Knieprothesenkonstruktionen und ihren Berechnungen sind in [13] veröffentlicht und sollen hier
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nicht wiederholt werden. Über die Biomechanik der Schulter und die Konstruktion und Berechnung von Schultergelenkprothesen wird von uns zurzeit gearbeitet.
5. Ausblick Künstliche Gelenke haben seit 50 Jahren in vielen Fällen zur Linderung von großen Beschwerden beigetragen, aber es hat auch wie bei jeder Entwicklung Fehlschläge gegeben. Zudem ist bis heute trotz enormer Fortschritte ihre Funktionsfähigkeit zeitlich begrenzt. Während unserer zwanzigjährigen Beschäftigung mit Prothesenkonstruktionen wird uns die Unerreichbarkeit natürlicher Strukturen und ihrer regenerativen Potenz immer bewusster. Biologische Problemfälle werden langfristig sicher nur mit biologischen Mitteln dauerhaft zu beheben sein. Technische Lösungen in der heutigen Zeit sollten jedoch zukünftig nicht mehr nur als Idee mit empirischer Entwicklung gefunden werden, sondern sie sollten weitgehend präoperativ, also vorausschauend virtuell und praktisch erprobt und optimiert werden. Bei der virtuellen Erprobung fordern wir die Einbeziehung der lebenden Implantatlager in das zu untersuchende biologische und technische Verbundsystem, um bereits eine präoperative Prognose über die Effektivität eines Implantatsystems abgeben zu können. Literatur [1] Rauber A, Kopsch F (1987) Anatomie des Menschen Band 1: Bewegungsapparat. Thieme, Stuttgart [2] Witzel U (1992) Knorpel- und Knochendefekte des Kniegelenks als Folge pathologisch oder traumatisch bedingter Artikulationsstörungen. In: Ittel TH et al. (Hrsg) Aktuelle Aspekte der Osteologie. Springer, Berlin [3] Krudwig W, Witzel U (1994) Die Bakerzyste – ein präarthrotischer Faktor? Unfallchirurgie 5 [4] Kummer B (1985) Einführung in die Biomechanik des Hüftgelenks. Springer, Berlin [5] Witzel U (1996) Biomechanik des Hüftgelenks. Orthopädie Technik 9 [6] Witzel U (1984) Dreidimensionale Spannungsanalyse von Hüfttotalendoprotheseneinbettungen und Synthese einer Gleitlagerprothese als neuartige Verbundprothese. VDIBerichte Nr. 514 [7] Wolff J (1892) Das Gesetz der Transformation der Knochen. Hirschwald, Berlin [8] Witzel U, Rieger W, Effenberger H (2004): 3-D Finite Elemente Analyse zementfreier Hüftpfannen. In: Effenberger H (Hrsg) Pressfitpfannen. Eigenverlag, Grieskirchen [9] Witzel U, Effenberger H, Rieger W (2004) Dreidimensionale Spannungsanalyse bei Schraubpfannen. In: Effenberger H (Hrsg) Schraubpfannen. Eigenverlag, Grieskirchen [10] Witzel U (2001) Mechanische Integration von Schraubpfannen. Thieme, Stuttgart
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[11] Effenberger H, Witzel U, Lintner F, Rieger W (2001) Stress analysis of threaded cups. International Orthopaedics 25 [12] Witzel U (2002) Die knöcherne Integration von Schraubpfannen. In: Perka C, Zippel H (Hrsg) Pfannenrevisionseingriffe nach Hüft – TEP, Standards und Alternativen. Einhorn-Presse Verlag [13] Witzel U (2000) Biomechanische und tribologische Aspekte der Kniegelenkendoprothetik. In: Elert, Hassenpflug (Hrsg) Praxis der Knieendoprothetik. Springer, Berlin
Autorenverzeichnis Prof. Dr.-Ing. Jürgen Adamy Fachgebiet Regelungstheorie und Robotik, Institut für Automatisierungstechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Landgraf-Georg-Straße 4, 64283 Darmstadt
[email protected] Dr.-Ing. Thilo Bein Fachgebiet für Systemzuverlässigkeit im Maschinenbau, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Magdalenenstraße 4, 64289 Darmstadt Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit, Bartningstraße 47, 64289 Darmstadt
[email protected] Matthias Breitenfeld, cand.-Ing. Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Björn Briegert Fachgebiet Konstruktives Gestalten und Baukonstruktion, Institut für Massivbau, Fachbereich Bauingenieurwesen und Geodäsie, Technische Universität Darmstadt, Alexanderstraße 35, 64283 Darmstadt Dipl.-Ing. Stefan Eichhorn Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie, Abteilung Biomechanik, Connollystr. 32, 80809 München
[email protected], www.mrio.de Prof. Dr. phil. Peter Euler Institut für Allgemeine Pädagogik, Fachbereich Humanwissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 1, 64289 Darmstadt
[email protected] Prof. em. Dr. mont. Dr. h.c. Dipl.-Ing. Hans Eckart Exner Fachgebiet Physikalische Metallkunde, Fachbereich Material- und Geowissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 23, 64287 Darmstadt
[email protected] Dr. Gerta Fleissner Zoologisches Institut, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Siesmayerstraße 70, 60054 Frankfurt am Main
[email protected]
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. rer. nat. Günter R. Fuhr Fraunhofer Institut Biomedizinische Technik, Ensheimer Straße 44, 66386 St. Ingbert www.ibmt.fraunhofer.de Prof. Dr. phil. Petra Gehring Institut für Philosophie, Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Residenzschloss, 64283 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Glesner Fachgebiet Mikroelektronische Systeme, Institut für Datentechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Karlstraße 15, 64283 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka Fachgebiet für Systemzuverlässigkeit im Maschinenbau, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Magdalenenstraße 4, 64289 Darmstadt. Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit, Bartningstraße 47, 64289 Darmstadt
[email protected]. Prof. Dr. Bernd Hill Institut für Technik und ihre Didaktik, Westfälische Wilhelms Universität Münster, Wilhelm-Klemm Str. 10, 48149 Münster
[email protected] Dr.-Ing. Thomas Hollstein Fachgebiet Mikroelektronische Systeme, Institut für Datentechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Karlstraße 15, 64283 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Biol. Tatjana Hubel Fachgebiet Strömungslehre und Aerodynamik, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Dr. rer. nat. Roland Kempf, MA Fachgebiet Regelungstheorie und Robotik, Institut für Automatisierungstechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Landgraf-Georg-Straße 4, 64283 Darmstadt
[email protected]
Autorenverzeichnis
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Dipl.-Ing. Thorsten Kern Institut für Elektromechanische Konstruktionen, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Merckstraße 25, 64283 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Biol. Wolfgang Kilkowski Biotechnik-Zentrum, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Biol. Bernhard Köhler AG Michael Gudo, Naturmuseum und Forschungsinstitut Senckenberg, Senkkenberganlage 25, 60325 Frankfurt am Main
[email protected] Prof. Dr. rer. nat. Gerhard Kraft Institut für Kernphysik, Fachbereich Physik, Technische Universität Darmstadt Bereich Biophysik, Gesellschaft für Schwerionenforschung, Planckstraße 1, 64291 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. nat. Gerald Langner Abteilung Neuroakustik, Institut für Zoologie, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt, Schnittspahnstraße 3, 64287 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. nat. Paul Gottlob Layer Abteilung Entwicklungsbiologie und Neurogenetik, Institut für Zoologie, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt, Schnittspahnstraße 3, 64287 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Inform. Tobias Limberger Fachgebiet Telekooperation, Fachbereich Informatik, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 10, 64289 Darmstadt
[email protected] PD Dr. rer. nat. Harald Luksch Zentrum Bionik, Institut für Biologie II, RWTH Aachen, Kopernikusstraße 16, 52506 Aachen
[email protected] Dr.-Ing. Stefan Menzel Fachgebiet Konstruktives Gestalten und Baukonstruktion, Institut für Massivbau, Technische Universität Darmstadt, Alexanderstraße 35, 64283 Darmstadt
[email protected]
596
Autorenverzeichnis
Dr. Anna Moroni Dipartimento di Biologia and CNR–IBF, Unità di Milano,Via Celoria 26, I20133 Milano and 3INFM (Italien) Prof. Dr. rer. nat. Max Mühlhäuser Fachgebiet Telekooperation, Fachbereich Informatik, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 10, 64289 Darmstadt
[email protected] Dr.-Ing. Clemens Müller Fachgebiet Physikalische Metallkunde, Institut für Materialwissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 23, 64287 Darmstadt
[email protected] Prof. em. Dr. rer. nat. Werner Nachtigall BioKon Standort Saarbrücken, Universität des Saarlandes, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken
[email protected] Prof. Dr. phil. Alfred Nordmann Institut für Philosophie, Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtewissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Residenzschloss, 64283 Darmstadt
[email protected] Dr. rer. nat. Jürgen Nuffer Fachgebiet für Systemzuverlässigkeit im Maschinenbau, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Magdalenenstraße 4, 64289 Darmstadt, Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit, Bartningstraße 47, 64289 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Phys. Dipl.-ET Michael Ochse Abteilung Neuroakustik, Institut für Zoologie, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt, Schnittspahnstraße 3, 64287 Darmstadt
[email protected] Prof. em. Dr. rer. nat. Holger Preuschoft Abteilung für Funktionelle Morphologie, Institut für Anatomie der RuhrUniversität Bochum, Aeskulapweg 18, 44801 Bochum-Querenburg Prof. Dr. Kurt-Alexander Riel Lehrbeauftragter am Institut für Sportwissenschaften, Technische Universität Darmstadt Praxis für Unfall, Sport- & Orthopädische Chirurgie, Adolf-Kolping-Str. 30, 64521 Groß-Gerau
[email protected], www.sportchirurgie.de
Autorenverzeichnis
597
Prof. Dr. rer. nat. Torsten Rossmann (Herausgeber) Biotechnik-Zentrum, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected], www.tu-darmstadt.de/bitz Dipl.-Ing. Sebastian Rützel Fachgebiet Maschinendynamik, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt. Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] PD Dr. med. Dr. med. dent. Robert Sader Hightech-Forschungs-Zentrum, Ismaninger Str. 22, 81675 München
[email protected], www.hfz.info Prof. Dipl.-Ing. Stefan Schäfer Fachgebiet Konstruktives Gestalten und Baukonstruktion, Institut für Massivbau, Technische Universität Darmstadt, Alexanderstraße 35, 64283 Darmstadt
[email protected] Dr.- Ing. Heinrich Schieferstein Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie, Abteilung Biomechanik, Connollystr. 32, 80809 München
[email protected], www.mrio.de Prof. Dr.-Ing. Helmut F. Schlaak Institut für Elektromechanische Konstruktionen, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Merckstraße 25, 64283 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Ing. Doris Schmidt Fachgebiet Fahrzeugtechnik, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Dr.-Ing. Harald Schmidt Fachgebiet Physikalische Metallkunde, Institut für Materialwissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 23, 64287 Darmstadt. Dr. rer. nat. Jan C. Schmidt Zentrum für Interdisziplinäre Technikforschung, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 1, 64289 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. pol. Dr. h.c. Günter Specht Fachgebiet Technologiemanagement und Marketing, Institut für Betriebswirtschaftslehre, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 1, 64289 Darmstadt
[email protected]
598
Autorenverzeichnis
Dr. rer. nat. Branko Stahl Fachbereich Material- und Geowissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 23, 64287 Darmstadt Dr.-Ing. Erwin Steinhauser Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Klinik für Orthopädie und Sportorthopädie, Abteilung Biomechanik, Connollystr. 32, 80809 München
[email protected], www.mrio.de Dipl. tech. Math. Univ.L. Maximilian Stelzer Fachgebiet Simulation und Systemoptimierung, Fachbereich Informatik, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 10, 64289 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. nat. Oskar von Stryk Fachgebiet Simulation und Systemoptimierung, Fachbereich Informatik, Technische Universität Darmstadt, Hochschulstraße 10, 64289 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. nat. Gerhard Thiel Institut für Botanik, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt, Schnittspahnstraße 3, 64287 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr.-Ing. Cameron Tropea (Herausgeber) Fachgebiet Strömungslehre und Aerodynamik, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Aike Ulrich, cand.-Ing. Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Dipl.-Ing. Kyriakos Voutsas Fachgebiet Regelungstheorie und Robotik, Institut für Automatisierungstechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Landgraf-Georg-Straße 4, 64283 Darmstadt
[email protected] Dr. rer. nat. Elisabeth Wallhäusser-Franke Abteilung Neuroakustik, Institut für Zoologie, Fachbereich Biologie, Technische Universität Darmstadt. Schnittspahnstraße 3, 64287 Darmstadt.
[email protected]
Autorenverzeichnis
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Hao Wang Fachgebiet Mikroelektronische Systeme, Institut für Datentechnik, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Karlstraße 15, 64283 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr.-Ing. Roland Werthschützky Institut für Elektromechanische Konstruktionen, Fachbereich Elektro- und Informationstechnik, Technische Universität Darmstadt, Merckstraße 25, 64283 Darmstadt
[email protected] Prof. Dr. rer. medic. Josef Wiemeyer Institut für Sportwissenschaften, Fachbereich Humanwissenschaften, Technische Universität Darmstadt, Magdalenestraße 27, 64289 Darmstadt
[email protected] Dr.-Ing. Ulrich Witzel Forschungsgebiet Biomechanik, Lehrstuhl für Maschinenelemente und Konstruktionslehre, Fakultät für Maschinenbau, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, D-44801 Bochum
[email protected] Prof. Dr.-Ing. Horst Peter Wölfel Fachgebiet Maschinendynamik, Fachbereich Maschinenbau, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected] Prof. Ulrich Wohlgemuth Fachbereich Design, Fachhochschule Magdeburg-Stendal, Breitscheidstraße 2, 39114 Magdeburg
[email protected] Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans-Florian Zeilhofer Hightech-Forschungs-Zentrum, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Ismaninger Str. 22, 81675 München
[email protected], www.hfz.info Dipl.-Biol. Martin Zeuch Biotechnik-Zentrum, Technische Universität Darmstadt, Petersenstraße 30, 64287 Darmstadt
[email protected]